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German Pages [451] Year 2017
Romanica Mainzer Studien zur romanischen Literatur- und Kulturwissenschaft
Band 3
Herausgegeben von Stephan Leopold, V8ronique Porra und Dietrich Scholler
Christiane Conrad von Heydendorff
Zurück zum Realen Tendenzen in der italienischen Gegenwartsliteratur
V& R unipress Mainz University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2509-5730 ISBN 978-3-7370-0793-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Verçffentlichungen der Mainz University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der InneruniversitÐren Forschungsfçrderung der Johannes Gutenberg-UniversitÐt Mainz. 2018, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: »Madonna con la pistola«, / »Madonna mit einer Pistole«, / »Madonna with a Pistol«, mural by Banksy (street artist).
Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I . .
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2. Der Januskopf des Realismus – Probleme und Vorüberlegungen . . . 2.1 Literatur zwischen objektiv wissenschaftlicher Darstellung und subjektivem Blickwinkel – das 19. Jahrhundert in Frankreich und Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Realismen im italienischen Novecento zwischen Erlebnis, Zeugnis und Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Reziprozität von Realismus und Antirealismus – ein Modell .
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1. Die Postmoderne und ihr Ende – ein Blick auf die Zeit . . . . . . 1.1 Postmoderne und Postmodernismus – ein Abriss mit Schwerpunkt Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Umbruch – Fakten und Faktoren aus Politik und Zeitgeist 1.3 Der New Realism in der Philosophie – ein versöhnlicher Kompromiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Zurück zum Realen? Tendenzen in der italienischen Gegenwartsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Realismus ist das (Un)Mögliche – Aktuelle Stimmen aus Literatur und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das literarische Panorama um die Jahrhundertwende . . . . 3.3 Die Wechselwirkung von Alten und Neuen Medien: Literatur zwischen Intermedialität, Transmedialität und Mimesis . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Teil II 4. Diskontinuierliches Erzählen bei Niccolk Ammaniti: Von der Pulp-Literatur zu einem Schreiben unter realistischen Vorzeichen . . 4.1 Der ›Kannibalismus‹ in der Literatur oder die ›Verdauung‹ der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Nuancen der Darstellung einer Welt der Gewalt zwischen Pulp und Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Ambivalente Gewaltdarstellung in Fango: Ammanitis Nähe zum Verismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Das Decrescendo expliziter Gewaltdarstellung von Ti prendo e ti porto via zu Io non ho paura . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Darstellende und dargestellte Strukturen in Come Dio comanda . 4.3.1 Zum dramatischen Modus des Texts . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Gottvater, Sohn und heilige Medien – Macht- oder ›Medizin‹diskurs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 (Anti-)Helden: ›Sympathieträger‹ in der Tradition des Lumpenproletariats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 ›Anarchische Christusfiguren‹ – das Prekariat als Fortschreibung von Pasolinis Subproletariat . . . . . . . . . 4.4.2 Das isolierte Kind in der Welt der Erwachsenen: Cristiano in der Tradition des Pin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Mario Desiatis moderner Meridionalismus oder das Portrait einer Region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der Meridionalismus in seiner Entwicklung vom 19. bis 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Il paese delle spose infelici: Annalisa d’Efebo als Allegorie Apuliens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Foto di classe: Typologie und Topologie des Südens . . . . . . 5.3.1 Typisierung auf dokumentierter Basis: Dialog mit vergangenen und aktuellen Quellen . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Erinnerungsorte lokaler Identität im Zeitalter der Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Zur Funktionalisierung und Semantisierung der dargestellten Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
6. Roberto Savianos Gomorra: Hybrider Realismus im Zeichen eines wiedererstarkten Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Chimaira des Genres und die plurale Ordnung des unsichtbaren Plots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Rolle der ›Selbst-Erzählung‹: Das Ich zwischen Pluralität und Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Konstruktion und Entwicklung des Ich-Erzählers in Gomorra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Chorales Stellvertretererzählen: Zur Absorption der Nebenfiguren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Zur Funktion von Intertextualität und Intermedialität in Gomorra 6.3.1 Zolas Le Ventre de Paris als Hypotext für Gomorra . . . . . . 6.3.1.1 Körper (in) der Stadt – Stadtkörper . . . . . . . . . . 6.3.1.2 Zur Bedeutung von Blick und Imagination: Die Deskription bei Zola und Saviano . . . . . . . . . . . 6.3.1.3 Die Determination durch das milieu: Einlösung und Widerspruch einer Tradition . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Korrektive Nachbildung Pasolinis: Savianos Poetik der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Savianos Don Peppino Diana-Kommentar : Die Macht des Wortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4 Extratextuelle Transzendenz: inszenierte versus realisierte Fiktion in »Hollywood« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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281 288 300 308 323 332 339 342 355 365 373 381 389 399
Schlussbemerkung zur Rückkehr realistischer Tendenzen in der italienischen Gegenwartsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung
Die vorliegende Publikation wurde 2017 als Dissertationsschrift am Fachbereich 05 Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz angenommen. Ihren Ursprung nahm sie in intensiven Recherchen an der Universit/ degli studi di Pavia, die mir das Stipendium In Memoriam di Viviana Cessi am Collegio Nuovo ermöglichte. An dieser Stelle möchte ich allen Personen danken, die mir während der Entstehung und bis zum Erscheinen dieser Arbeit zur Seite gestanden haben: Zunächst danke ich sehr herzlich Herrn Prof. Dr. Dietrich Scholler, der neben der fachlichen Betreuung stets auch entsprechende Arbeitsbedingungen geschaffen hat, sowie Herrn Prof. Dr. Olaf Müller, der als Zweitgutachter jederzeit für Beratung und Gespräche zur Verfügung stand. Außerdem geht mein Dank an den Gutachterausschuss: Herrn Prof. Dr. Stephan Leopold, Frau Prof. Dr. Antje Lobin und Frau Prof. Dr. V8ronique Porra. Für zahlreiche fachliche Gespräche und Ideen sowie die persönliche Unterstützung möchte ich mich herzlich bei Frau Dr. Helga Thomaßen bedanken. Frau Prof. Dr. Uta Störmer-Caysa und Frau Dr. Anna Campanile gebührt ein wichtiger Platz in dieser Danksagung, da sie mich bereits während meines Studiums betreuten, förderten und an mich glaubten. Auch meine Kolleginnen und Freundinnen Vanessa Schlüter und Isabella Vergata standen mir stets mit Anregungen und fruchtbaren Diskussionen zur Seite. Für Hinweise und Inspiration aus dem Bereich der französischen Literatur bedanke ich mich bei Herrn Dr. Thorsten Schüller. Unterstützung aus Italien bekam ich von Roberta Lipari. Ein ganz besonderer Dank gilt Simona Turini für das fachkundige und engagierte Lektorat, das maßgeblich zum Gelingen der Arbeit beigetragen hat. Zu guter Letzt möchte ich hier meine Geschwister Catherine und Christophe nennen sowie die mir in enger familiärer Freundschaft verbundene Familie Machek, vor allem Nina, die mir auch in der Entfernung stets nahe sind. Diesen Letzteren soll das Buch gewidmet sein. Christiane Conrad von Heydendorff
Einleitung
Bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts verflucht Luigi Pirandellos Figur Mattia Pascal in der Premessa seconda (filosofia) a mo’ di scusa den Astronom Kopernikus, sowohl hinsichtlich der Literatur wie auch allgemein. Was Kopernikus mit seinem Ärger zu tun habe, wirft sein Gesprächspartner Don Eligio ein und bekommt zur Antwort, dass sich die Welt vor Kopernikus noch nicht gedreht habe. E d#lli! Ma se ha sempre girato! Non H vero. L’uomo non lo sapeva, e dunque era come se non girasse. Per tanti, anche adesso, non gira. L’ho detto l’altro giorno a un vecchio contadino, e sapete come m’ha risposto? ch’era una buona scusa per gli ubriachi.1
Die hier aufgerufene Diskussion, die Ontologie und Epistemologie in den Fokus stellt, bringt das Thema der Unmöglichkeit unitärer Wahrnehmbarkeit der Realität, das Postulat eines übergreifenden Wahrheitsbegriffs und somit auch die Zweifel an einer entsprechenden Darstellbarkeit selbiger in die italienische Literaturproduktion und -diskussion ein. An der Grenze vom 19. zum 20. Jahrhundert stehend bricht Pirandello, dessen frühe Werke noch dem Verismus anverwandt sind, mit realistischen Darstellungsmustern und Denkweisen. Das kommende Jahrhundert wird – mit kurzfristiger Zäsur durch realistische Tendenzen nach dem Zweiten Weltkrieg – von einer ständig wachsenden Skepsis gegenüber der Wahrnehmung von Wirklichkeit, der Vorstellung von Wahrheit, dem starken Subjekt und der Darstellbarkeit dieser Konzepte in der Literatur geprägt sein. Ausgehend von Standpunkten der Moderne und Spätmoderne gipfeln diese Tendenzen in postmodernistischen Strategien intertextueller und intermedialer Narrationsverfahren, die eine wirkliche Welt nicht mehr oder nur medial gefiltert sehen wollen und jedes Herangehen, das einem realistischen Ansatz nahe kommt, als naiv und absurd empfinden. Die Postmoderne, eine Epoche, die selbst lange in 1 Luigi Pirandello: »Il fu Mattia Pascal«, In: ders.: Tutti i romanzi. Vl. I. Hg. v. Giovanna Macchia. Milano: Mondadori 31979, S. 319–586, hier. S. 322f.
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Einleitung
der Diskussion stand und sich nur schwer fassen ließ, scheint in ihrer Benennung sowie in ihren Praktiken ein Paradox zu sein, das die Zeit zum Stehen bringt. Nach einer langen Kette, ausgehend von der Antike und dem Mittelalter, sind wir über die Frühe Neuzeit schlussendlich in der Moderne angekommen, die – in ihrer Benennung – bereits ein ewiges ›Jetzt‹ postuliert. Die Postmoderne, die sich mit der Abgrenzung zur Moderne durch das Präfix ›Post‹ einerseits wieder etwas Neuem zuwendet, schafft die ›Zukunft‹ in der Untersagung einer möglichen Entwicklung außerhalb ihrer selbst endgültig ab. Denn ›Nach dem Jetzt‹ – was eine mögliche Übersetzung von Postmoderne ist – scheint es kein neues, anderes ›Jetzt‹ mehr geben zu können und zu dürfen.2 Zudem ist es ein der Postmoderne eingeschriebenes Charakteristikum, alles zu schlucken und zu vereinnahmen, was der literarische Markt zu bieten hat. Das kommerzielle Lesepublikum nimmt jedoch eine Veränderung im zeitgenössischen Schreiben wahr und verbalisiert diese auch. Während frühe Werke von Niccolk Ammaniti wie Branchie (1994) und Fango (1994) noch als surreal und grotesk bezeichnet werden,3 gibt es bereits zu Ti prendo e ti porto via (1999) geteilte Meinungen. Einerseits weisen die Rezipienten noch auf einen zynischen Stil hin, andererseits werden aber auch erste Reaktionen sichtbar, die auf einen stilistischen Bruch in der Literatur in Richtung Realismus schließen lassen.4 Eindeutig realistische Tendenzen verorten die Leser in Werken wie Io non ho paura (2001) und Come Dio comanda (2006).5 Viele Literaturkritiker und auch 2 Carla Benedetti greift die Idee der Moderne als »eterno presente« auf und bezeichnet in der Folge die Postmoderne als »paradosso« und als »l’incarnazione linguistica di un doppio legame«, das sie generell an die Spätmoderne koppelt, die sie nicht in völliger Loslösung von der Postmoderne sieht. Damit stellt sie das Gesamtkonzept der Postmoderne infrage, was in der vorliegenden Arbeit so nicht geschehen soll, auch wenn gewisse Grenzen aufgezeigt und diskutiert werden. Vgl. Carla Benedetti: L’ombra lunga dell’autore. Indagine su una figura cancellata. Milano: Feltrinelli 1999, S. 29f. 3 Als »Grottesco, allucinato, paradossale, inverosimile: un po’ fiaba pop, un po’ pulp, un po’ parodia« bezeichnet ein Leser Ammanitis Branchie. [IQ, Kom. 1]. Im Weiteren Verlauf der Arbeit werden sämtliche Internetquellen mit der Sigle [IQ] gekennzeichnet und sind in der Bibliographie unter der Kategorie ›Internetquellen‹ zu finden. Die URL sowie das Datum letzten Zugriffs befinden sich ebenfalls dort. 4 Als »un po’ cinica e diretta« bezeichnet eine Rezension Ammanitis Stil in Ti prendo e ti porto via. [IQ, Kom. 2]. Ein weiterer Leser schreibt: »Un romanzo intenso, a tratti grottesco ma allo stesso tempo reale«. [IQ, Kom. 3]. 5 »Un capolavoro di racconto sulla verit/, sulla realt/, sul mondo crudele e spitato [sic] di adulti Poveri [sic], visto attraverso gli occhi di un ragazzino. Storia inventata, certo, ma a tratti vera, piF vera del vero«, liest man in einem Kommentar zu Io non ho paura vom 25. 08. 2009, [IQ, Kom. 4]. Aussagekräftig ist auch der Kommentar eines Lesers zu Come Dio comanda, einem Werk, in dem der Rezipient gleichzeitig die ›reality‹ der Fernsehwelt und das Reale der Wirklichkeit herausliest: »Ammaniti racconta delle storie estreme che incontriamo ogni giorno nei giornali e nella televisione, nella cronaca, nei telefilm, nei reality, e che quindi pensiamo di capire bene. Ci mostra invece che non H cos'. Ci fa vedere quant’H diversa la realt/ vera da quella che pensiamo di conoscere. Soltanto i protagonisti sanno quello che succede
Einleitung
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Autoren selbst tun sich hingegen schwer, diesen neuen Tendenzen Rechnung zu tragen. Ein Standardwerk postmoderner Kulturtheorie, Fredric Jamesons Postmodernism, or, the Cultural Logic of Late Capitalism (1991),6 kommt erst 2007 in italienischer Übersetzung auf den Markt und passt sich in die laufende Debatte ein. Remo Ceserani und Benedetto Vecchio, die die Übersetzung in einem Artikel der Zeitschrift Il manifesto diskutieren, positionieren sich in ihren Ausführungen stark gegen Romano Luperini, der zwei Jahre zuvor bereits seine Schrift La fine del postmoderno publiziert hatte. Mit Blick auf den amerikanischen Buchmarkt führen Ceserani und Vecchio an: »Ma [Luperini] non sembrava tener conto, per esempio, dell’opera di un grande scrittore americano come Don DeLillo, il quale si H lucidamente impegnato a rappresentare, con una scrittura nitida (tutt’altro che giocosa e disimpegnata) i cambiamenti profondi della postmodernit/«.7 Ceserani und Vecchio stellen also fest, dass DeLillos spätere Werke – wie etwa Falling Man (2007) – ihren spielerischen Charakter verlieren und durchaus engagierte Züge aufweisen, werten dies aber schlicht als Wiedergabe von tief greifenden Veränderungen der Postmodernität.8 Sie liegen damit auf einer Linie mit Fredric Jameson, der in besagter Übersetzung in einer Einführung zur italienischen Version eine Epoche nach der Postmodernität als utopisch ansieht: […] sarebbe utopico o reazionario evocare qualcosa come una post-postmodernit/. Siamo tuttora profondamente immersi nel capitalismo – nonostante l’11 settembre – ed H probabile che vi resteremo ancora a lungo, per quanti nuovi stili possa generare questa struttura economica (e per quanti nuovi tipi di strategie e programmi politici – persino stili politici – si possano sperimentare entro i suoi limiti fondamentali).9
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veramente, e ognuno conosce la sua parte della verit/. Il racconto si sposta tra le menti dei personaggi in continuazione e cos' ci fa sentire gli eventi in modo molto vivace. Delle realt/ difficili da capire diventano normali e persino accettabili.« [IQ, Kom. 5]. Einzelne Kapitel erschienen bereits ab 1984. Remo Ceserani / Benedetto Vecchio: »A proposito dell’autore di Postmodernismo, ovvero la logica culturale del tardo capitalismo«, Il manifesto (29. 12. 2007), [IQ]. Federico Bertoni hingegen bezeichnet DeLillo als »antropologo del presente« und untersucht sein Werk im Rahmen eines neuen Realismus. Vgl. ders.: Realismo e letteratura. Una storia possibile. Torino: Einaudi 2007, S. 345 und 319ff. Er stellt zusammenfassend fest: »C’H insomma qualcosa, nella scrittura di DeLillo, che spezza la circolarit/ semiotica di un mondo prigioniero dei segni e delle rappresentazioni di se stesso. Perch8 a dispetto di ogni dubbio, inganno, mascherata simbolica o inversione ontologica, la realt/ esiste: esiste da qualche parte, anche se avvolta in una ragnatela di immagini, codici, informazioni; ed esiste come una cosa perduta, scomparsa, verso cui tendere e lottare, qualcosa che si sporge oltre il bordo estremo dell’oblio e del non detto e che tocca solo alla scrittura (ri)conquistare.« Ebd., S. 350. Fredric Jameson: »Prefazione all’edizione italiana«, In: ders.: Postmodernismo: ovvero la logica culturale del tardo capitalismo. Übers. v. Massimiliano Manganelli. 1. digitale Ausg. Roma: Fazzi 2015 [2007], Kindle Pos. 38.
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Einleitung
Es zeichnet sich hier die Tendenz ab, kulturelle, historische und ökonomischpolitische Entwicklungen mit künstlerisch-literarischen nicht nur in eine Relation zu stellen (was sicher nötig ist), sondern völlig gleichzusetzen, was zu einer extremen Diskursverengung im künstlerisch-literarischen Rahmen sowie zu dem bereits angeführten Stillstand führt. Alberto Asor Rosa hingegen bemerkt in seinem Artikel »Ritorno in provincia. Le cento Italie dei giovani scrittori« einen Bruch im Feld der zeitgenössischen italienischen Literatur.10 Nicht umsonst klingt sein Untertitel ›Die hundert Italien der jungen Autoren‹ nebulös. Asor Rosa verweist hier auf die Vielzahl aktuell schreibender Autoren in Italien, angefangen von Camilleri über Carlotto, Genna oder Saviano bis hin zu Siti und Brizzi, die zu verschieden sind, um sie in einem Diskurs zu erfassen.11 In der vorliegenden Arbeit soll mit Asor Rosa davon ausgegangen werden, dass dem aktuellen Buchmarkt Italiens mit einem einzigen Diskurs, nämlich dem postmodernistischen, nicht mehr ausreichend beizukommen ist. Eine Subsumierung aller gegenwärtigen Tendenzen der Literatur unter dem Begriff Postmodernismus wird weder den Werken noch dem Terminus gerecht, der von Beginn an dazu neigte, als Passepartout rezipiert zu werden.12 Im Fokus der Untersuchung werden Autoren stehen, die narrative Darstellungsmuster nutzen, die heute als Authentizitätsmarker wahrgenommen werden und dementsprechend an Erzählmuster älterer Realismen anknüpfen oder aber neue Formen 10 »Ora, a me pare che la generazione dei trentenni […] rappresenti oggi uno stacco abbastanza preciso rispetto persino alla generazione immediatamente precedente […] ed esprimeva in qualche modo un’ambizione auto-identitaria […], che in precedenza non esisteva, o esisteva di meno«. Alberto Asor Rosa: »Ritorno in provincia. Le cento Italie dei giovani scrittori«, La Repubblica (15. 12. 2009), zugänglich unter Rassegna Stampa Oblique (1.-31. 12. 2009), S. 28– 29, hier S. 28, Spalte 2, [IQ]. 11 Ebd. 12 Wohl die erste und bekannteste Kritik, die die Postmoderne als Dachkonzept für eine Vielzahl von Phänomenen sah, ist diejenige von Umberto Eco in seiner »Postille a ›Il nome della rosa‹ (1983)«, in der er schreibt: »Malauguratamente ›postmoderno‹ H un termine buono a tout faire. Ho l’impressione che oggi lo si applichi a tutto cik che piace a chi lo usa.« Ders.: »Postille a ›Il nome della rosa‹«, In: ders.: Il nome della rosa. Milano: Bompiani 2000, S. 505–533, hier S. 528. Aber auch im Jahr 2007 bringt Alfonso Berardinelli eine ähnlich Kritik an, wenn er schreibt: »E tuttavia il termine [postmoderno] appare singolarmente usurato: forse perch8 il suo contenuto concettuale H da un lato piuttosto complesso […] e dall’altro troppo elementare […]. Dalla fine degli anni settanta, quando il dibattito ha cominciato a dilagare e il termine ›postmoderno‹ ha avuto una diffusione epidemica, i risultati raggiunti non sono perk molto brillanti. La confusione sulle varie accezioni del termine rimane, perch8 il postmoderno H fin troppe cose nello stesso tempo. E d’altra parte l’uso effettivo che si fa di questa nozione-segnale H di una semplicit/ disarmante: postmoderno definisce tutto cik che H avvenuto dopo il declino del Sessantotto. […] Si tratta di una categoria [il termine e l’idea di postmoderno] quanto mai scorrevole e ospitale: accetta tutto, non respinge nulla.« Etwas weiter im Kapitel fügt er an: »Il postmoderno H un ›cos' H se vi pare‹. C’H dentro tutto, contiene di tutto.« Siehe ders.: Casi critici. Dal postmoderno alla mutazione. Macerata: Quodlibet 2007, S. 19 und S. 25.
Einleitung
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realistischen Schreibens entwickeln. Inwiefern gibt es eine Rückkehr zum Realen und wie sieht diese aus?13 Bewusst soll dabei realistisches Schreiben nicht absolut gesetzt, sondern lediglich als Tendenz verstanden werden. Die Darstellung der Wirklichkeit oder aber literarische Darstellung zumindest möglicher und wahrscheinlicher Wirklichkeit hat selbstredend eine lange Tradition und war innerhalb dieser in Deutung und Umsetzung vielfach Diskussionen und Entwicklungen ausgesetzt. Bereits bei Aristoteles stand Nachahmung, also Mimesis, im Zentrum der Kunst, als eine dem Menschen angeborene Art und Weise des Erkenntnisgewinns.14 Dabei war für Aristoteles ganz klar, dass nicht einfach die geschichtliche Wirklichkeit wiederzugeben sei, sondern Inhalte so dargestellt werden müssen, wie sie sich aus einer inneren Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit heraus ergeben.15 In seiner Exilschrift Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur legt Erich Auerbach den Ausgangspunkt späterer Realismen in den gegensätzlichen Stilen des homerischen Werks und des Alten Testaments fest.16 Seine Grundgedanken ergeben sich aus Überlegungen zum MimesisGedanken Platons als dritter Stufe nach der Wahrheit sowie Dantes Ansinnen, in der Commedia »wahre Wirklichkeit« wiederzugeben.17 Auerbach postuliert zwei Einbrüche in der Lehre der Höhenlagen, die er für realistische Darstellungen als grundlegend erachtet. Der erste Einbruch »war die Geschichte Christi, mit ihrer rücksichtslosen Mischung von alltäglich Wirklichem und höchster, erhabener Tragik, die die antike Stilregel überwältigte«.18 Der moderne Realismus habe dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine »vollständige Lösung von jener Lehre verwirklicht«.19 Auerbach hebt weitsichtig die diversen Bedingungen der Ausformung von Realismen hervor, die somit »ganz verschiedene Ergebnisse gezeitigt haben«.20 Dem Realismusbegriff der vorliegenden Arbeit sollen folgende Prämissen zugrunde liegen: Realistische Literatur ist ›ernste‹ Literatur, die den Anspruch hat, eine aktuelle extratextuelle Welt in ihrem Sein im Rückgriff auf tatsächlich passierte Geschehnisse oder in einer wahrscheinlichen Ausformung möglicher Begebenheiten zur Darstellung zu bringen, Kritik zu üben und eventuell in 13 Hier soll bewusst der Begriff des Realen nicht im lacanianischen Sinne verstanden werden, wie es vielfach ›modern‹ geworden ist. 14 Vgl. Aristoteles: Werke: in deutscher Übersetzung. 5. Poetik. Hg. v. Hellmut Flashar. Übers. u. erläut. v. Arbogast Schmitt. Berlin: Akademie Verlag 2008, Kap. 4, S. 6. 15 Vgl. ebd., Kap. 9, S. 13. 16 Vgl. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tübingen [u. a.]: Francke 91994, S. 26. 17 Vgl. ebd., S. 515. 18 Ebd., S. 516. 19 Ebd., S. 515. 20 Ebd., S. 516.
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Einleitung
einem gewissem Rahmen Einfluss zu nehmen. Es wohnt ihr mithin zumindest teilweise ein aufklärerisch-didaktischer Gestus inne, der sie zu engagierter Literatur macht. Zur Umsetzung der genannten Anliegen bedient sich realistische Literatur narrativer Instrumente, die im gegenwärtigen Kontext in der Lage sind, durch das Medium Schrift Authentizität zu vermitteln und eine in der textuellen Welt und deren Rezeption funktionierende Illusion von Realität hervorzurufen. Das heißt, dass realistische Literatur einen Pakt mit dem Leser schließt, der Referenzialität verspricht, sich dabei aber das Spektrum künstlerischer Freiheiten und rhetorischer Strategien offenhält, um ihr Anliegen zu vermitteln. Realistische Literatur bleibt Literatur und damit Kunst, die sich nicht nur, aber auch auf sich selbst beziehen darf, um Darstellungsweisen zu optimieren, einen Erkenntnisfortschritt zu erzielen oder poetologische Grundlagen zu formulieren. Die vorliegende Arbeit ist in zwei Teile untergliedert, die jeweils in einem Dreischritt vorgehen. In einer ersten Annäherung an das Thema soll zunächst die Postmoderne beziehungsweise der Postmodernismus mit seinen wichtigsten Charakteristika resümierend und mit besonderem Blick auf die italienische Variante dargestellt werden (Kap. 1.1), um dann das Augenmerk auf mögliche Auslöser eines Umbruchs sowie erste Reaktionen auf selbigen zu lenken (Kap. 1.2). Von Interesse sind dabei auch aktuelle Positionen aus der Philosophie, die seit dem Jahr 2012 offen einen neuen Realismus diskutiert und – ebenso wie Luperini bereits sieben Jahre zuvor – eine Wende postuliert. Es werden die für die vorliegende Arbeit interessanten Punkte aus Schriften von Maurizio Ferraris und Umberto Eco, die sich beide um einen moderaten beziehungsweise negativen Realismus bemühen, vorgestellt und zusammengeführt (Kap. 1.3), um sie später in ein für aktuelle Literatur tragfähiges Modell, das realistische Strömungen berücksichtigt, einzugliedern. Um die Möglichkeiten eines neuen Realismus nach und im Erbe des Gedankenguts der Postmoderne auszuloten, werden daraufhin zunächst alte Realismen aus dem 19. und 20. Jahrhundert in aller Kürze nachgezeichnet. Ausgehend von einem wissenschaftlichen Wortwechsel zwischen Rainer Warning und David Nelting werden zunächst Stimmen von Autoren aus dem 19. Jahrhundert, dem französischen Naturalismus und Realismus sowie dem italienischen Verismus Gehör finden, um das scheinbare ›Paradox‹ realistischen Schreibens auszuräumen (Kap. 2.1). Im Folgenden werden in knapper Form realistische Tendenzen des 20. Jahrhunderts in Italien besprochen (Kap. 2.2), um dann die gewonnenen Ergebnisse in einem Modell, das davon ausgeht, dass realistisches Schreiben in einem reziproken Akt an antirealistische Tendenzen gekoppelt ist, zu vereinen (Kap. 2.3). Dieses Modell ist als maßgebliche Basis der vorliegenden Arbeit zu betrachten. In einem weiteren Schritt kommen sodann Stimmen aus der gegenwärtigen
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Literatur und Kritik zu Wort, die das Thema eines neuen Realismus kontrovers diskutieren und Herangehensweisen und Möglichkeiten des Schreibens postulieren (Kap. 3.1). Besonders rückt dabei eine Verschiebung der Wahrnehmung von Fiktion und Wirklichkeit in den Blick. Herrscht zunächst das Gefühl vor, dass eine fiktionale Welt die sogenannte wirkliche Welt vereinnahmt hat, und Letztere sich in Simulakren aufhebt, so wird dieser Eindruck spätestens Ende der 90er Jahre von seinem Gegenteil abgelöst. Die Wirklichkeit bahnt sich ihren Weg zurück in die Wahrnehmung der Gesellschaft und scheint nunmehr häufig die Fiktion noch zu übertreffen. Mit dieser Annahme als Ausgangspunkt wird ein Panorama gegenwärtiger Literatur aufgerollt, das überblicksmäßig eine Reihe von Autoren und Werken vorstellt, die in dieser neuen Tradition realistischen Schreibens zu verorten sind (Kap. 3.2). Dabei wird ein Paradigma der Themen, die von aktuellem Interesse sind, aufgefächert. Das vorgestellte Panorama muss naturgemäß selektiv bleiben. Besonders hervorzuheben ist die vielfach hohe Präsenz der Neuen Medien in und um die erzählten Geschichten herum. Dieses Phänomen wird gemeinhin unter Konzepten wie Intermedialität oder Transmedialität geführt, was in einem ersten unreflektierten Schritt dazu führen könnte, die aufgeführten Werke wiederum in einen rein postmodernistischen Kontext einzuordnen, hat doch der Postmodernismus eben diese Strategien weitgehend für sich vereinnahmt. Um einer solchen Tendenz entgegenzuwirken, wird die immer weiter zunehmende Präsenz Neuer Medien und deren Auswirkung auf die Literatur kontrovers diskutiert und die Annahme präsentiert, dass medialer Fortschritt immer schon eng mit realistischen Schreibtendenzen verbunden war (Kap. 3.3). Positionen von Daniele Giglioli und Antonio Scurati, die die Absenz direkter Erfahrung und Traumata konstatieren, werden Ansätzen von Giulio Ferroni gegenübergestellt, die besonders durch den Rückgriff auf ein Modell des Kommunikationswissenschaftlers Klaus Merten gestützt und dieser Arbeit zugrunde gelegt werden sollen. Dieses Modell sieht zwar eine Parallelschaltung einer fiktiven (virtuellen) und realen Wirklichkeit vor, die somit einer gewissen Viabilität unterworfen ist, lehnt jedoch das Konzept des Simulakrums dezidiert ab. Das Kapitel reißt die Frage an, inwiefern die starke mediale Präsenz noch als reine Selbstreflexion zu werten ist oder doch bereits referenzielle Züge aufweist und sich damit aus einem genuin postmodernen Kontext herausschreibt. Im zweiten Teil der Arbeit stehen exemplarisch drei Autoren mit ihren Werken im Mittelpunkt einer umfassenderen Analyse: Niccolk Ammaniti, Mario Desiati und Roberto Saviano. Diese Auswahl erfolgte aufgrund mehrerer Kriterien. Zum einen sollte eine ausreichend große Zeitspanne umfasst werden, die die Beobachtung der Entwicklungen ausgehend von der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts zu den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts ermöglicht. So schreibt und publiziert Ammaniti seit Anfang der 90er Jahre, Mario Desiati
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debütiert zur Jahrtausendwende und Roberto Saviano betritt die literarische Bühne im Jahr 2006. Zum anderen war eine gewisse Relevanz der Autoren in der Rezeption auf dem italienischen Buchmarkt wie im Verlagswesen erwünscht. Alle drei Autoren sind mehrfach prämiert und werden im In- wie Ausland rezipiert. Während Ammaniti und Saviano einen größeren Bekanntheitsgrad errungen haben mögen, zeichnet sich Desiati durch seinen Einfluss auf das italienische Verlagswesen zusätzlich aus. Das letzte Kriterium, das erfüllt werden sollte, war, dass neben einer Verbindung durch einen realistischen Anspruch und Ausdruck im Werk, auch eine gewisse Diversität unter den Texten gegeben sein sollte, um den verschiedenen Tendenzen des italienischen Buchpanoramas gerecht zu werden. Stets soll bei den vorgenommenen Analysen der Blick sowohl in die Vergangenheit schweifen, um Brückenschläge zu alten Realismen festmachen zu können, als auch die Aufmerksamkeit auf Marker und Narrationsverfahren neuen realistischen Schreibens gerichtet werden, die sich in den noch der Postmoderne verhafteten und doch schon aus selbiger herauslösenden Zeitgeist einfügen. Da die in der vorliegenden Arbeit vorgestellten Autoren in der deutschen Romanistik bisher nur eine recht überschaubare Bearbeitung und Analyse erfahren haben, wird jedem der drei Teile eine Einführung zu Person und Werk vorangestellt. Die Erzählungen und Romane Niccolk Ammanitis sollen als Schreiben des Übergangs gelesen werden, das sich trotz Erhalt einiger Elemente seiner postmodernistischen Wurzeln nach und nach von diesem Kontext emanzipiert und neue Wege für einen kritischen Realismus sucht. Zunächst wird dafür die italienische Version der Literatur des Pulp vorgestellt und in ihrer Sonderrolle als Vorläufer eines neuen Realismus verortet (Kap. 4.1). Danach werden unter besonderer Berücksichtigung des stets präsenten Themas der Gewalt in Ammanitis Werk, Quantität und Qualität selbiger in den Werken Fango, Ti prendo e ti porto via und Io non ho paura behandelt (Kap. 4.2). Die vorgestellte These ist hier, dass bereits im Pulp-affinsten Band Fango eindeutige Bruchstellen zu vermerken sind und in den beiden Folgeromanen eine nachvollziehbare Abschwächung amüsanter Gewaltdarstellungen zugunsten von Reflexionsangeboten stattfindet, die pathologisch veranlagte Figuren und problematische Themen der Gegenwartsgesellschaft in den Vordergrund rücken. Das Kapitel 4.3 analysiert den Roman Come Dio comanda zunächst unter Gesichtspunkten, die auf pulpistischpostmodernistische Muster und Strukturen zu verweisen scheinen: ein dramatischer Aufbau, der auf den ersten Blick den Konstruktcharakter unterstreicht sowie die starke Fokussierung auf katholische und mediale Strukturen der ›Macht‹, die sogar einen Konterdiskurs21 zum Realismus auf den Plan zu rufen scheint. Es soll jedoch gezeigt werden, dass die meisten der inhaltlichen 21 Der Begriff wird hier lediglich als ›gegenläufiger‹ Diskurs verstanden.
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wie narrativen Elemente einer Umfunktionalisierung zugunsten mimetischen Schreibens unterliegen. In einem letzten Schritt soll vor allem das Personal in seiner Stellung in der Gesellschaft, zum Teil aber auch das Ambiente aus Come Dio comanda an die als Vorläuferautoren zu bezeichnenden Literaten Pier Paolo Pasolini und Italo Calvino rückgekoppelt werden (Kap. 4.4). Mario Desiatis Schreiben wird – inspiriert durch Alberto Asor Rosa – als moderner Meridionalismus interpretiert. Die Geschichte des Meridionalismus in Politik, Theorie und Literatur wird zunächst in Form eines überschaubaren Abrisses zugrunde gelegt, die die aktuelle Relevanz des Themenkomplexes transparent machen soll (Kap. 5.1). Der Anschluss an frühere meridionalistische Autoren und Theoretiker, aber auch die Hinzunahme aktueller Quellen ist im Schaffen Desiatis besonders deutlich. In Kapitel 5.2 wird im Rückgriff auf bereits bei Carlo Levi vorhandene Topoi des Südens die Figur der Annalisa D’Efebo in Il paese delle spose infelici als Allegorie Apuliens gelesen, die in ihrem Leben, ihrer Schönheit, vor allem aber auch in ihrem Unglück repräsentativ für die Region steht und traditionelle und aktuelle Spezifika wie Probleme personifiziert. Foto di classe hingegen wird als ein Typologie und Topologie des Südens zeichnendes Werk betrachtet, das einen wesentlich konkreter aufklärerischen und didaktischen Anstrich aufweist als der Vorgängerroman (Kap. 5.3). Strukturell wie inhaltlich knüpft es mit einigen Veränderungen an Vorgehensweisen Rocco Scotellaros an, der bereits als Autor aus dem Süden den mezzogiorno literarisch festhielt. Die zur Darstellung kommenden Erinnerungsorte in Foto di classe sind nicht nur kulturwissenschaftlich gesehen interessant, sondern in ihrer nachweislich referenziellen Natur auch für neues realistisches Schreiben relevant und werden unter dieser Prämisse beleuchtet. Die ausführlichen Deskriptionen im Bereich natürlicher wie industrieller Landschaften und Orte reihen sich nicht nur in weitreichende Traditionen ein, sondern sind auch eine Methode, die ›Welt zu lesen‹ und eine neue Südfrage zu formulieren. Die literarische Herangehensweise Roberto Savianos bewegt sich intentional von Beginn an in einem dem Postmodernismus zuwiderlaufenden Vorgehen. Sein starker Anspruch auf referenzielles Schreiben mit aufklärerischem Gestus, das auf Erkenntnis und Veränderung angelegt ist, lassen vonseiten seiner Kritiker Zweifel daran aufkommen, ob er nicht ›nur‹ als Intellektueller statt als Schriftsteller zu werten sei. Zudem wird der Erfolg seines in dieser Analyse im Mittelpunkt stehenden Werks Gomorra häufig dem Umstand zugeschrieben, dass der Autor am 23. September des Erscheinungsjahres auf einem Platz in seinem Heimatort Casal di Principe in Beisein des linksgerichteten Politikers Fausto Bertinotti öffentlich auftrat, mehrere ortsansässige Mafiabosse einzeln namentlich aufrief, anklagte und die Bevölkerung zum Widerstand aufforder-
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te.22 Auch wenn Saviano bereits zuvor durch Italien gereist war und sein Buch vorgestellt hatte, so war dies doch der bislang spektakulärste Auftritt, der das Werk endgültig mit der in ihm erzählten extratextuellen Wirklichkeit verband. In der Folge kam es nach Morddrohungen seitens der Camorra zu durch den Staat ergriffenen Schutzmaßnahmen; seit dem 13. Oktober 2006 lebt der Autor mit persönlicher Eskorte.23 Im Jahr 2008 sah er sich aufgrund der anhaltenden Bedrohungen gezwungen, Italien zu verlassen.24 Es ist der Beginn der Ikonisierung des Schriftstellers im Antimafia-Kampf. Einer Verbindung zwischen seinen öffentlichen Auftritten und dem Erfolg von Gomorra kann und soll hier nicht gänzlich widersprochen werden. Eine Reduktion allein auf diese Umstände jedoch ist keine vertretbare Erklärung, da die ersten Verkaufszahlen die Annahmen und Voraussagen für den Vertrieb bereits kurz nach dem Erscheinen des Romans übertrafen und das Werk schon vor dem Auftritt in Casal di Principe einer massiven Nachfrage in den Büchereien begegnete und in der Tabellenspitze landete.25 Gomorra soll hier dezidiert als literarisches Werk gelesen werden, das einen hybriden Realismus im Zeichen eines wiedererstarkten Subjekts nach der Postmoderne ins Feld führt. Zunächst werden Genre und Plot des Werkes, die von Anbeginn im Fokus der Diskussion standen, besprochen (6.1). Sodann soll die Konstruktion des starken Ich-Protagonisten, der in seiner scheinbaren Pluralität postmodernistisch wirken könnte, nachvollzogen und in seiner Funktion als Authentizitätsmarker und Medium von Erkenntnis vorgeführt werden (Kap. 6.2). Welche Rolle spielt die ›Selbst‹erzählung im Kontext realistischen Schreibens und inwiefern kommen auch andere Figuren ›zu Wort‹? Von besonderem Interesse ist in Gomorra außerdem die auffällige Präsenz intertextueller und intermedialer Verfahrensweisen, die vielfach im Werk zur Anwendung kommen. Um diese entsprechend bewerten zu können, wird zunächst ein Überblick über Vorgehen und Intention postmodernistischer Intertextualität geschaffen; erst die Postmoderne hat schließlich dieses Phänomen zu ihrem Hauptprinzip erkoren. Entgegen des Postulats einer Oberflächenstruktur wird in der vorliegenden Analyse angenommen, dass zitationistische Verfahren 22 Der Auftritt fand im Rahmen der »Quattro giornate di mobilitazione anticamorra« statt, organisiert und eröffnet von Mario Clemente Mastella. Vgl. Alessandro Trocino: Popstar della cultura. La resistibile ascesa di Roberto Saviano, Giovanni Allevi, Carlo Petrini, Beppe Grillo, Mauro Corona e Andrea Camilleri. Con una pref. di Antonio Pascale. Roma: Fazio Ed. 2011, S. 27. Es existiert eine qualitativ schlechte Audioaufnahme, die auf Youtube abrufbar ist. Vgl. Roberto Saviano: »Il discorso di Saviano a Casal di Principe nel 2006«, Youtube (23. 04. 2011), [IQ]. 23 Vgl. Trocino 2011, S. 28. 24 Vgl. Gerardo Adinolfi: Dentro l’inchiesta. L’Italia nelle indagini dei reporter. Pref. di Sandro Provvisionato. Roma: Edizioni della sera 2010, S. 169. 25 Vgl. Trocino 2011, S. 25f.
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nicht spielerisch-selbstreflexiv, sondern konstruktiv zum Einsatz kommen und erneut Tiefenstrukturen hervorrufen (Kap. 6.3).26 So wird mit der Genette’schen Terminologie angenommen, dass Zolas Le Ventre de Paris als Hypotext zu Gomorra gelesen werden kann. Es kommen – so der Analyseansatz – ähnliche Strukturen und Verfahrensweisen im Ansinnen der Darstellung von aktueller Lebenswelt und im Kontext einer Kapitalismuskritik zur Anwendung. In einem ähnlichen Rahmen und unter zusätzlicher Ausformulierung poetologischer Prämissen wird Savianos Rückgriff auf Pier Paolo Pasolinis »Romanzo delle stragi« im Kapitel »Cemento armato« als eine korrektive Nachbildung gelesen, die den Autor in seiner Anklage legitimieren soll. Dieses Ansinnen – so die These – führt sich in dem Meta-Kommentar zu Leben und Werk des Priesters Don Peppino Diana fort, der es erlaubt, die ›Macht des Wortes‹ zu aktualisieren. Vollendung findet diese Poetik des neuen Realismus durch das Kapitel »Hollywood«, das – so soll gezeigt werden – in einer extratextuellen Transzendenz nicht nur das Vorgehen des Autors legitimiert, sondern auch eine Überwindung bei gleichzeitiger Verarbeitung postmodernistischer Narrative ausgestaltet.
26 Der Begriff der Tiefenstruktur konturiert sich in der vorliegenden Arbeit in der Inversion des von Gerhard Regn erstellten Konzepts der Oberflächenstruktur in postmodernistischen Texten. Bezüglich der Ästhetik der Tiefenlosigkeit im zitationellen Flickenteppich müsse, so Regn, die »Intertextualität […] dergestalt zugeschnitten werden, daß die Welt der Texte – bildlich gesprochen – zu einer semantisch ›flachen‹ Welt wird, daß die Signifikatenebene also aussagearm und damit marginalisiert erscheint.« Ders.: »Postmoderne und Poetik der Oberfläche«, In: Klaus W. Hempfer [Hg.]: Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne. Stuttgart: Steiner, S. 52–74, hier S. 64f. Tiefenstruktur unterstellt in der vorliegenden Arbeit also ein Zurück zur Sinnhaftigkeit und Aussagekraft. Bestenfalls öffnet sich durch den Verweis auf andere Texte trichterartig ein Zugang zu anderen Texten, die das im Mittelpunkt stehende Thema zusätzlich ›vertiefen‹.
Teil I
1.
Die Postmoderne und ihr Ende – ein Blick auf die Zeit
Il fenomeno letterario del ›pulp‹ nacque, a met/ degli anni Novanta, come testimonianza letteraria […] di un mondo ormai ridotto a slogan, pubblicit/, tette ma anche violenza, gratuita e spettacolare. Con un linguaggio sempre piF aggressivo e vacuo. Da quel linguaggio eravamo portati e veicolati verso un nuovo millennio. Con l’idea che stesse iniziando una festa. Una grande festa. La festa non ci fu. Malgrado Jovanotti. La realt/ superk il sarcasmo della letteratura che ne deformava i difetti e tutto cadde nel baratro dell’incertezza contornata da sfavillanti colori.27
Seit mindestens einem Jahrzehnt wird in Italien über das Ende der Postmoderne spekuliert. Zu Beginn waren es wenige und leise Stimmen, mit den Jahren erstarkte die Diskussion und konnte nicht mehr ignoriert werden. Etwas veränderte sich in Zeitgeist, Gesellschaft, Politik und Philosophie. Dass sich derartige Veränderungen immer in der Literatur widerspiegeln – sei es parallel, im Vorgriff oder als Methode der Verarbeitung – mag das vorangestellte Zitat aus Aldo Noves Mi chiamo Roberta versinnbildlichen. Ein literarisches Phänomen wird zum Zeugen erklärt (»testimonianza letteraria«) und zwar nicht nur auf der Metaebene. Der Abschnitt illustriert das in mehrfacher Hinsicht. Zunächst beschreibt er die postmoderne Welt auf ihrem Höhepunkt als auf Slogan und Werbung reduziert und von Sprache dominiert, die dennoch das neue Jahrtausend als eine Art Fest erwartet, ein Überbleibsel des Wohlstands und der Euphorie der 80er Jahre.28 In der Folge werden die Enttäuschung um das Aus27 Aldo Nove: Mi chiamo Roberta. Ho 40 anni, guadagno 250 euro al mese…. Torino: Einaudi 2006, S. 42, (Aus dem Vorwort zu »Storia di Riccardo«). 28 Andreas Huyssen spricht in Bezug auf die frühe Postmoderne von zeitlicher Einbildungskraft, die emphatisch auf Zunkunft und ›new frontiers‹ ausgerichtet sei. Ähnliches scheint hier zu greifen. Vgl. ders.: »Postmoderne – eine amerikanische Internationale?«, In: Andreas
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Die Postmoderne und ihr Ende – ein Blick auf die Zeit
bleiben des Fests und das Erwachen aus einem Traum signalisiert und auch graphisch im Text markiert. Der visuelle Einschnitt fällt mit dem gedanklichen Abschreiben postmoderner Erwartungen zusammen (»Una grande festa. La festa non ci fu.«). Das Erstarken der Realität, einem Konzept, das in der Postmoderne an und für sich ad absurdum geführt und von der Vorstellung der Welt als Konstrukt und Simulakrum abgelöst worden war, wird erneut zunehmend spürbar. Die Wirklichkeit holt den Menschen ein und ironische wie sarkastische Formen, die in der literarischen Verarbeitung der Postmoderne vorherrschen, werden in ihrer Unzulänglichkeit offenbar (»la realt/ superk il sarcasmo della letteratura«).29 »Tutta una cultura che ha dominato negli anni Ottanta e Novanta – quella del nichilismo morbido e del pensiero debole – ha rivelato in questi ultimi anni tutta la sua inadeguatezza a leggere e a fronteggiare il presente«30 – so formuliert es Romano Luperini und führt aus: »Abbiamo bisogno di scrittori e di pensatori che si siano confrontati con la contraddizione, abbiano preso di petto la realt/, non si siano tirati indietro rispetto all’assunzione di una responsabilit/ etico-politica.«31 Um ein Verständnis dafür zu entwickeln, inwiefern und aus welchen Gründen es zu diesem Bruch und dem Wunsch nach einer neuen Auseinandersetzung mit der Realität kommt, muss in einem ersten Schritt ein Blick auf die Zeit der Postmoderne mit Schwerpunkt auf die italienische Variante geworfen werden.
1.1
Postmoderne und Postmodernismus – ein Abriss mit Schwerpunkt Italien
Die Postmoderne mit ihren Ideen hatte in Italien Remo Ceserani zufolge zunächst keinen leichten Stand. Das Land stieg nur langsam und lethargisch in die Strömung ein. Während in den USA, in England, Frankreich oder Deutschland bereits ein weitreichendes Angebot zur Postmoderne und ihren verschiedenen Aspekten verfügbar war, war sie in der italienischen Kritik weit weniger spürbar.32 Eine Gruppe von Philosophen und Semiotikern brachte der Bewegung
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Huyssen / Klaus R. Scherpe [Hg.]: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek: Rowohlt 1989, S. 13–61, hier S. 19. Inwiefern bereits der Umschwung von Ironie zu Sarkasmus das Ende postmodernistischen Schreibens einläutet, wird in Kapitel 4.1 erläutert. Romano Luperini: La fine del postmoderno. Napoli: Guida 2005, S. 78. Ebd. Vgl. Remo Ceserani: Raccontare il postmoderno. Torino: Boringhieri 1997, S. 147. Ausführlich schreibt er dazu auch in »Modernity and Postmodernity : A Cultural Change Seen from the Italian Perspective«, Italica 71/3 (1994), S. 369–384, hier S. 373ff. Er nimmt an, dass das Fehlen eines eigenen Stils der Postmoderne in Italien, das von jeher einen starken Bezug zum Klassizismus hatte, zu dieser Verweigerungshaltung führt. Auch Raffaele Donnarumma
Postmoderne und Postmodernismus – ein Abriss mit Schwerpunkt Italien
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durchaus Interesse entgegen und lud Jacques Derrida, Richard Rorty oder JeanFranÅois Lyotard zu ihren Seminaren ein, generell aber schien es – so Ceserani – als wolle Italien nichts mit der Postmoderne zu tun haben, die es fürchtete, auch wenn es in ihr lebte.33 Diese letzte Aussage Ceseranis führt vor Augen, warum Romano Luperini und Raffaele Donnarumma so sehr insistieren, Begrifflichkeiten wie Postmoderne (postmoderno), Postmodernität (postmodernit/) und Postmodernismus (postmodernismo) klar voneinander abzugrenzen.34 Beide nehmen eine ähnliche Einteilung vor. Donnarumma sieht die Postmodernität als historische Epoche, die er ganz allgemein ab Mitte der 50er Jahre ansetzt und für noch nicht beendet hält (Stand 2006).35 Der Postmodernismus ist die artistischkulturelle Produktion in den Vereinigten Staaten zwischen 1965 und 1990, die den historischen Umbruch interpretiert und formgebend ist. Die Postmoderne versteht er als kulturelle Epoche mit einer Vielzahl an Haltungen und ohne gemeinsame Poetiken, die auf die von der Postmodernität gestellten Probleme antwortet.36 Bei Luperini fallen die Begriffe Postmodernität und Postmoderne zusammen. Er versteht sie als Bezeichnung eines historischen Zeitabschnitts, während der Postmodernismus als ideologische und künstlerische Bewegung anzusehen ist.37 Diese Einteilung wird im Folgenden zugrunde gelegt. Die Postmoderne, die laut Luperini ebenso gut ›Zeitalter der Globalisierung‹ heißen könnte, beginnt in Italien in der zweiten Hälfte der 70er Jahre und fällt mit dem Spätkapitalismus, dem Triumph von Informatik und Elektronik, der Produktion immaterieller Güter sowie dem Verlust der Zentralität von Fabrik und Arbeiterklasse zusammen. Künstlerisch gesehen ist hier auch das Ende des Experimentalismus und der Neoavantgarden anzusetzen.38 Zeitgeschichte und
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hebt den Sonderstatus Italiens bezüglich der Postmoderne heraus. Vgl. Ders.: »Postmoderno italiano. Un’introduzione«, In: Franca Pellegrini / Simonetta Tarantino [Hg.]: Il romanzo contemporaneo. Voci italiani. Leicester : Troubador Publ. 2006, S. 1–27. Giuseppe Genna erklärt noch weit radikaler, dass »del Postmodernismo l’Italia non ha recepito nulla.« Vgl. ders. im Interview in Raffaele Donnarumma / Gilda Policastro: »Ritorno alla realt/? Otto interviste a narratori italiani«, Allegoria 57 (2008), S. 9–25, hier S. 12. Vgl. Ceserani 1997, S. 147f. »E tuttavia, nell’insieme, gli storici italiani della cultura e della letteratura non vogliono avere nulla a che fare con la postmodernit/, che temono e disprezzano, anche se ci vivono dentro.« Vgl. Romano Luperini: Tramonto e resistenza della critica. Macerata: Quodlibet 2013, S. 234 und Donnarumma 2006, S. 1. Ebenso handhabt es Huyssen in seinem Beitrag 1989, S. 13. Diese Unterteilung orientiert sich sicher an Fredric Jameson, der jedoch in seinem Vorwort zur italienischen Ausgabe angibt, dass seine zum Standardwerk gewordene Schrift Postmodernism: or the Cultural Logic of Late Capitalism von 1984 noch zu einiger Verwirrung führte, da der Titel nicht explizit eben jene Trennung zwischen Stil und historischem Zeitabschnitt widerspiegele. Vgl. Fredric Jameson 2015, Kindle Pos. 31–34. Vgl. Donnarumma 2006, S. 1. Ebd. Vgl. Luperini 2013, S. 234. Ebd. Diese These wird auch von Jameson in dem im Jahr 2007 entstandenen Vorwort zur
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Die Postmoderne und ihr Ende – ein Blick auf die Zeit
deren literarische Umsetzung können also kongruent zueinander verlaufen, müssen dies aber nicht zwangsläufig. Man kann – bildlich gesprochen – von ausgefransten Rändern ausgehen, von zeitlichen Verschiebungen zwischen politischen, sozialen oder ökonomischen Veränderungen und ihrer Verarbeitung in der Literatur. Trotz anfänglicher Verzögerung hat jedoch auch Italien die Postmoderne miterlebt, die sich in postmodernistischen Tendenzen niederschlägt: »In realt/ una letteratura postmoderna in Italia c’H stata e c’H, solo che si nasconde, preferisce non presentarsi come tale, per non urtare suscettibilit/, e viene mascherata dietro una serie di cortine ideologiche e critiche.«39 Postmodernistisches Gedankengut findet Eingang in die italienische Lebensund Schreibweise. In der Politik ist es sicher Silvio Berlusconi, der das Maximum postmoderner Darstellungsmöglichkeiten nutzt, die zu Anfang mit Nove zitierte Werbe- und Bildwelt ausgestaltet und für sich fruchtbar macht. Der Einfluss des Fernsehens, das in Italien eine besonders große Rolle spielt, macht sich spätestens seit den 1980er Jahren auch im Bereich der Politik massiv bemerkbar und wird zur Zielscheibe zahlreicher Untersuchungen.40 Diese zunehmend stärkere Präsenz der bewegten Bilder des Fernsehens, die den italienischen Alltag begleiten und mit der Zeit konservativere Informationsquellen wie die Zeitung zurückdrängen,41 bereiten die als ohne vergleichbare Vorläufer empfundene, medial dominierte Wahlkampagne Berlusconis von 1994 vor und leiten die Ära des massenmedial hyperkompatiblen Politikers ein, der nach und nach die italienischen Medien kontrollieren wird.42 Hanna Serkowska weist darauf hin, dass die Massenmedien dem, dem sie zur Verfügung stehen, unbegrenzte Macht verleihen.43 Die Symbiose zwischen Fernsehwelt und Politik, und damit der Lebenswelt Italiens, wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts kontinuierlich enger. Politik wird zur Show, zu einem Spektakel44 und bezüglich des italienischen Alltags repräsentiert die Fernsehwelt in einer kollektiven Phantasie die
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italienischen Ausgebabe seines Postmodernism noch einmal unterstrichen: Vgl. Jameson 2015, Kindle Pos. 57ff. Interessant ist auch die Herangehensweise von Berardinelli, der die Postmoderne als die Form ansieht, »che l’egemonia americana ha dato a tutta la cultura occidentale dopo il 1945.« Vgl. ders. 2007, S. 22. Vgl. Ceserani 1997, S. 166. Ein recht rezentes Werk dazu, Videocrazia e teatralizzazione della politica nell’era berlusconiana, ist 2014 in Berlin beim Verlag Frank& Timme von Vittorio Prada vorgelegt worden. Vgl. Prada 2014, S. 24ff. Ebd., S. 109f. »La campagna elettorale del 1994 viene oggi ricordata per essere stata dominata da un approccio mediatico senza precedenti. Gli spots rimasti maggiormente impressi nella memoria collettiva sono quelli mandati in onda per promuovere Forza Italia.« Hanna Serkowska stellt das im Rückbezug auf Umberto Ecos Schrift A passo di gambero (Milano: Bompiani 2006) fest. Vgl. dies.: »La letteratura versus la televisione: il caso di Nove e Covacich«, Cahier d’8tudes italiennes 11 (2010), S: 215–223, hier S. 222. Vgl. Mario B. Mignone: Italy Today. A Country in Transition. New York [u. a.]: Lang 1995, S. 52ff.
Postmoderne und Postmodernismus – ein Abriss mit Schwerpunkt Italien
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(scheinbare) Abkürzung auf dem Karriereweg, den Zugang zu sonst unmöglichen oder zumindest zu weit entfernt liegenden Traumprojekten.45 Hier scheint der zum Slogan der Postmoderne gewordene feyerabendsche Begriff des anything goes mitzuschwingen.46 Die Grundlagen dieser Tendenzen der Abkehr von der außerbildlichen Wirklichkeit und der darauffolgenden Suche nach Lebenszielen in virtuellen Zweitwelten klingt auch in anderen Entwicklungen an. Philosophisch gesehen ist die Postmoderne die Zeit der Frage- und Anführungszeichen. In der Annahme, dass der antike Objektivismus (»l’oggettivismo antico«) der Grund für den schlimmsten Dogmatismus und damit ein Akt inakzeptabler Gewalt oder kindlicher Ahnungslosigkeit sei – da man so als wirklich behandle, was im besten Falle ›wirklich‹ sei – werden die Kategorien des Realen und der Wahrheit gedämpft bis ausgeschaltet.47 Das schwache Denken und die Erwartung eines endlich menschlichen Menschen (Vattimo),48 die Kritik des Logozentrismus (Derrida),49 das Ende der großen Erzählungen (Lyotard),50
45 Vgl. Prada 2014, S. 128. 46 Die Grundthese Paul Feyerabends ist, dass »der Anarchismus zum Fortschritt in jedem Sinne beiträgt, den man sich aussuchen mag.« Der Gedanke einer festgelegten Methode oder einer feststehenden Theorie der Vernünftigkeit beruht seiner Ansicht nach auf einer »allzu naiven Anschauung vom Menschen und seinen sozialen Verhältnissen«. Vgl. ders.: Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 44f., [Hervorhebung im Original]. Das ursprünglich noch auf Forschungszuwachs ausgelegte Konzept verwässert im Laufe seiner Rezeption und unterliegt dem allgemein aufkommenden Beliebigkeitsverdacht postmodernistischer Ideen und Theorien. 47 Vgl. Maurizio Ferraris: Manifesto del nuovo realismo. Roma / Bari: Laterza 2012, S. 8f. 48 Vattimo kritisiert das ›Starke‹ und ›Normative‹ in den Begrifflichkeiten des Denkens und Seins in der Philosophie und fordert (gemeinsam mit Pier Aldo Rovatti): »la razionalit/ deve, al proprio interno, depotenziarsi, cedere terreno, non aver timore di indietreggiare verso la supposta zona d’ombra, non restare paralizzata dalla perdita del riferimento luminoso, unico e stabile, cartesiano.« Dies.: »Premessa«, In: dies. [Hg.]: Il pensiero debole. Milano: Feltrinelli 2010, S. 7–11, hier S. 10. Vattimo formuliert als Grundprinzipien des pensiero debole: Wahrheit unterliegt keinem noetischen Erfassen, sondern verifiziert sich in unterschiedlichen Prozessen. Kontrollen und Vereinbarungen spielen sich in einem als »spazio della libert/« benannten Horizont ab, der ein ›rhetorischer‹ Horizont ist. Wahrheit ergibt sich aus Interpretation, »perch8 H solo nel processo interpretativo inteso anzitutto in riferimento al senso aristotelico di hermeneia, espressione, formulazione, che la verit/ si costituisce«. In all dem ›lebt‹ das ›Sein‹ in der rhetorischen Wahrheit das Extrem seines Untergangs und seiner ›Schwäche‹. Vgl. ders.: »Dialettica, differenza, pensiero debole«, In: ders./ Pier Aldo Rovatti [Hg.]: Il pensiero debole. Milano: Feltrinelli 2010, S. 12–28, hier S. 25f. 49 Jacques Derrida kritisiert die Geschichte der Metaphysik des Abendlandes von Platon bis Hegel, die trotz aller Unterschiede den Ursprung der Wahrheit stets dem Logos zugewiesen habe: »l’histoire de la v8rit8, de la v8rit8 de la v8rit8, a toujours 8t8, / la diff8rence prHs d’une diversion m8taphorique dont il nous faudra rendre compte, l’abaissement de l’8criture et son refoulement hors de la parole ›pleine‹«. Er vertieft: »Et le signe doit Þtre l’unit8 d’une h8t8rog8n8it8, puisque le signifi8 (sens ou chose, noHme ou r8alit8) n’est pas en soi un signifiant, une trace: en tout cas n’est pas constitu8 dans son sens par son rapport / la trace
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das Ende der Geschichte (Fukuyama)51 und die Erwartung eines neuen Zeitalters, das von der Auflösung der Kontradiktionen gezeichnet ist, sind zentrale Themen, auch in Italien. Das Primat der Sprache und der Welt als Text im Erbe des linguistic turn finden sich im unendlichen und ironisierenden Gebrauch des Zitats in der Literatur wieder.52 Die Grenze zwischen hoher und niederer Kultur beziehungsweise Literatur wird eingerissen.53 Tiefenproblematiken der Moderne werden durch Strukturen der Oberfläche (Jameson / Hassan / Regn) abgelöst.54 Der Ernst moderner literarischer Aufarbeitung wird durch ludische Narrationen ersetzt, die der Geschichte wieder mehr Raum geben. Umberto Eco
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possible.« Siehe ders.: De la grammatologie. Paris: Pditions de Minuit 1997, S. 11f. u. S. 31, [Hervorhebung im Original]. Nach Jean-FranÅois Lyotard formuliert sich die Postmodernde in ihrer Zuspitzung darin, dass man den großen Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt: »En simplifiant / l’extrÞme, on tient pour ›postmoderne‹ l’incr8dulit8 / l’8gard des m8tar8cits. […] La fonction narrative perd ses foncteurs, le grand h8ros, les grand p8rils, les grands p8riples et le grand but.« Und weiter führt er diesbezüglich aus: »Dans la soci8t8 et la culture contemporaine, soci8t8 post-industrielle, culture postmoderne, la question de la l8gitimation du savoir se pose en d’autre termes. Le grand r8cit a perdu sa cr8dibilit8, quel que soit le mode d’unification qui lui est assign8: r8cit de l’8mancipation. On peut voir dans ce d8clin des r8cits un effet de l’essor de techniques et des technologies / partir de la deuxiHme guerre mondiale, qui a d8plac8 l’accent sur les moyens de l’action plutit que sur ses fins; ou bien celui du red8ploiement du capitalisme lib8ral avanc8 aprHs son repli sous la protection du keyn8isme pendant les ann8es 1930–1960, renouveau qui / 8limin8 l’alternative communiste et qui a valoris8 la jouissance individuelle des biens et des services.« Siehe ders.: La condition postmoderne. Paris: Pditions de Minuit 2005, S. 7 und S. 63. Francis Fukuyma formuliert den Triumpf des Westens und der westlichen Idee als »the total exhaustion of viable systematic alternatives to Western liberalism. […] What we may be witnessing is not just the end of the Cold War, or the passing of a particular period of postwar history, but the end of history as such: that is, the end point of mankind’s ideological evolution and the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government.« Siehe ders.: »The End of History?«, The National Interest 6 (1989), S. 3–18, hier S. 3f. Vgl. Luperini 2013, S. 234. Bezüglich des postmodernen Zitationismus, der die Intertextualität grundlegend als Stilmittel für die laufende Epoche verbucht, äußert sich Ceserani folgendermaßen: »La novit/, evidentemente, sta in altro; sta, anzitutto, in una diversa funzionalit/ dell’intera pratica intertestuale, che viene spregiudicatamente collegata con la piF ampia pratica dei rapporti fra codici e interfacce; in secondo luogo essa si inserisce in un processo, di tipo epistemologico, che ha schiacciato e ridotto il ›mondo‹ a testo, lo ha testualizzato, ha interposto fra testo e mondo una serie di intertesti che lo rendono forse piF enigmatico e incomprensibile, forse, paradossalmente, solo dopo lunghi esercizi interpretativi, ›leggibile‹«. Vgl. ders. 1997, S. 137. Vgl hierzu Huyssen 1989, S. 24. Vgl. Ihab Hassan, der in diesem Kontext vom Begriff der »surface« spricht. In: ders.: The Dismemberment of Orpheus: Toward a Postmodern Literature. Madison, Wisc. [u. a.]: Univ. of Wisconsin Press 21982, S. 267f. Außerdem Regn 1992, S. 52–74, und Fredric Jameson: »Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus«, In: Andreas Huyssen / Klaus R. Scherpe [Hg.]: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Hamburg: RoRoRo 1989, S. 45–102, hier S. 50 sowie Luperini 2013, S. 234.
Postmoderne und Postmodernismus – ein Abriss mit Schwerpunkt Italien
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spricht von einer Wiederkehr der Handlung (»intreccio«) und des Lesevergnügens (»piacevolezza«).55 Die Problematik um das Konzept des Individuums, das sich in der Idee eines fragmentierten Subjekts oder gar in dessen Tod niederschlägt, wird »entweder als neue ethische Norm« wahrgenommen oder »einfach als empirische Tatsache aufgefasst«, was Jameson ganz allgemein als »Schwinden des Affekts« begreifen will.56 Exemplarische Autoren der postmodernistischen Anfangszeit sind sicher Italo Calvino (Se una notte d’inverno un viaggiatore, 1973, Palomar, 1983) und Umberto Eco (Il nome della rosa, 1980).57 Irina Rajewsky teilt im Folgenden die Autoren des italienischen Postmodernismus in zwei Gruppen ein, deren Mitglieder teils unter dem umstrittenen Titel giovani scrittori geführt wurden, teils im Umfeld der Pulp Fiction schrieben. Die erste Gruppe, deren Texte in den 80er Jahren publiziert wurden, zeichnet sich durch eine Abwendung sowohl von radikalen Form- und Sprachexperimenten, wie sie die italienische Neoavantgarde (Gruppo 63) betrieben hat, als auch von sozialem und politischem Engagement und Regionalismus, die dem Neorealismus eingeschrieben waren, aus. Stattdessen ist ihnen ein zumeist »nüchtern distanzierter Blick auf die Konsumund Mediengesellschaft« eigen.58 Ihre Schriften, die eine durch den immer schnelleren Informationsfluss kleiner werdende Welt zum Gegenstand haben, hatten es sich zum Ziel gesetzt, der Narration und Lesbarkeit größeren Raum zu geben. Es entwickelte sich eine Literatur, die häufig sehr selbstreflexiv, ironisch und stark intertextuell markiert war. Zu dieser Gruppe zählt Rajewsky Autoren wie Pier Vittorio Tondelli, Andrea De Carlo, Daniele Del Giudice, Aldo Busi, Stefano Benni und Antonio Tabucchi.59 In den 90er Jahren formierte sich eine zweite Gruppierung, die wiederum als giovani scrittori bezeichnet wurde, um die Autoren Enrico Brizzi, Niccolk Ammaniti, Aldo Nove, Isabella Santacroce, Tiziano Scarpa, Silvia Ballestra und Giuseppe Culicchia.60 Ein Teil dieser Autoren der 90er Jahre schrieb eine Reihe von Texten, die im Erbe von Quentin Taran55 Vgl. Eco 2000, S. 528. 56 Fredric Jameson 1989, S. 59f. Luperini spricht im Rückgriff auf Glucksmann von der Postmoderne als Phase der Anästhesie in Bezug auf das kollektive Leben und im speziellen hinsichtlich der Intellektuellen, die ihre legislatorische und mediatische Funktion verloren und sich zu untergebenen Experten, Beratern oder gar Entertainern reduziert haben. Vgl. ders. 2005, S. 12. 57 Irina Rajewsky weist auf den Referenzcharakter der beiden Autoren und ihrer Werke für die darauffolgende Generation hin. Nicht zuletzt die Publikumswirksamkeit sei von großer Bedeutung gewesen. Vgl. dies.: Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne. Von den giovani scrittori der 80er zum pulp der 90er Jahre. Tübingen: Narr 2003, S. 83. Remo Ceserani hingegen sieht Calvino nicht unter den postmodernen Autoren, für ihn gehört er strikt zur Moderne. Vgl. ders. 1994, S. 378. 58 Vgl. Rajewsky 2003, S. 82. 59 Vgl. ebd., S. 80ff. 60 Vgl. ebd., S. 199f.
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Die Postmoderne und ihr Ende – ein Blick auf die Zeit
tinos Film Pulp Fiction zu stehen schienen und zur literarischen Bewegung der letteratura pulp beziehungsweise den Cannibali führten.61 Besonders hervorzuheben sind hier Ammaniti und Nove.62 »Im Gegensatz zu den Autoren der 80er Jahre, die ihre Kindheit und Jugend noch in einem Übergangsstadium von einer schwach zu einer stark medialisierten Gesellschaft durchlebt hatten, waren die giovani scrittori der 90er Jahre schon in ihrer Jugend mit einer stark medialisierten Welt und einer veränderten, ›postmodernen‹ Realität konfrontiert«63 und verarbeiteten dies entsprechend in ihren Werken.64 Auch Romano Luperini teilt die literarische Postmoderne in zwei Phasen mit folgender Betitelung ein: Zum einen nennt er den rhetorischen Postmodernismus (»postmodernismo retorico«), den er als Recycling von Stilen, literarischer Sprache und Formen der Vergangenheit versteht. Neben dem als Vaterfigur angeführten Umberto Eco sieht er hier Aldo Busi, Antonio Tabucchi, Franco Cordelli, Pier Vittorio Tondelli, Antonio Moresco, Maurizio Cucchi und Giuseppe Conte.65 Zum anderen führt er den mimetischen Postmodernismus (»postmodernismo mimetico«) ins Feld, der eine leere, chaotische Realität ohne Richtung präsentiert und für den der oben bereits aufgeführte Tondelli eine Art Archetypus ist.66 Zur zweiten Gruppe sind außerdem Tiziano Scarpa, Aldo Nove, Simona Vinci, Niccolk Ammaniti und Gabriele Frasca zu zählen. Tondelli wird zum verbindenden Glied.67 Spannend ist zu beobachten, dass bereits in den 90er Jahren des vergangenen Jahrtausends die absolute Verneinung von Referenzialität und Realität wieder in Auflösung scheint. Ein »mimetischer« Postmodernismus scheint einen Wider61 Genauere Ausführungen zur italienischen Literatur der Pulp Fiction und den Cannibali sowie deren Stellung in der Entwicklung von postmodernistischer zu realistischer Literatur werden in Kapitel 4.1 der vorliegenden Arbeit vorgenommen. 62 Vgl. Rajewsky 2003, S. 199f. 63 Vgl. ebd., S. 201. 64 Dietrich Scholler konstatiert, dass der »breit gefächerte Medienverband ein Dispositiv bildet, das die scrittura der jüngsten, medienerprobten Generation ganz entscheidend konditioniert«. Zudem wird die »Lebenswelt der elektronischen Medien für erzählwürdig befunden«. Scholler sieht das als Bereicherung, nicht als Verdrängung der Literatur. Vgl. ders. »Digitale Rückkoppelung: zur Darstellung der neuen Medien in Giuseppe Calicetis ›Tagebuchcollage‹ Pubblico / Privato 0.1, mit einem methodischen Vorspann zu Problemen der Intermedialität«, PhiN-Beiheft 2 (2004), S. 184–213, hier S. 184f., [IQ]. 65 Vgl. Luperini 2005, S. 72. 66 Elisabetta Mondello hat dazu 2007 (Milano: Il saggiatore) eine Monographie mit dem Titel In principio fu Tondello. Letteratura, merci, televisione nella narrativa degli anni novanta publiziert. Auch Alberto Asor Rosa hebt die Sonderstellung Tondellis heraus, den er als »autore della svolta« bezeichnet. Vgl. ders.: Storia europea della letteratura italiana III. La letteratura della nazione. Torino: Einaudi 2009, S. 602f. 67 Vgl. Luperini 2005, S. 72. Tabucchi wird in der Regel zu den herausragendsten Vertretern postmodernistischer Literatur gezählt, eine Position, die an anderer Stelle zu diskutieren wäre. Auch verwundert es, dass in den meisten Werken zu postmodernistischen Autoren Alessandro Baricco keine Beachtung findet, der zum einen populär und vielgelesen ist und in dessen Werk durchaus postmodernistische Charakteristika vorherrschen.
Der Umbruch – Fakten und Faktoren aus Politik und Zeitgeist
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spruch oder zumindest eine innere Spannung hervorzurufen. So proklamiert Luperini für diese zweite von ihm festgelegte Gruppe postmodernistischer Autoren: »Il modello H Tondelli, ma il riferimento H la realt/.«68 Und so ist anzunehmen, dass postmodernistisches Schreiben einerseits seinen Gipfel im Verlauf der 1990er Jahre erreicht, hier gleichzeitig aber auch bricht und sich so Wege für ein neues Herangehen ebnen, das auf veränderte Weise der Realität verbunden ist. Gerade Niccolk Ammaniti und Aldo Nove werden es sein, die aus der ›alten‹ Gruppe der giovani autori neue literarische Ansätze mitbegründen. Welche extratextuellen Umstände jedoch zu diesen Veränderungen im literarischen Feld geführt haben und in welchem Zeitraum sie zu veranschlagen sind, gilt es im Folgenden herauszuarbeiten.
1.2
Der Umbruch – Fakten und Faktoren aus Politik und Zeitgeist
Als Schlusspunkt des Postmodernismus und Anbruch einer neuen, noch nicht endgültig benannten Epoche, wird häufig der 11. September 2001 mit dem Attentat auf die amerikanischen Zwillingstürme angenommen.69 Bei genauerem Hinsehen wird man bemerken, dass dieser Tag wohl eher als spektakulärer Grenzstein eines sich bereits länger ankündigenden Umschwungs zu sehen ist. Im englischsprachigen Raum stellt Hal Foster im Jahr 1996 fest, dass der Postmodernismus, als eine Art fashion behandelt, aus der Mode gekommen sei (»treated as a fashion, postmodernism became demod8«). Der Begriff sei von den Medien entleert worden und Jamesons Version des Postmodernismus doch zu totalisierend.70 1997 schreibt Alfonso Berardinelli einen kurzen Artikel über »La fine del postmoderno« in der Zeitschrift Lo straniero.71 Im darauffolgenden Jahr scheint der Tod von Jean-FranÅois Lyotard, der mit seinem Werk La condition postmoderne den Begriff in die Philosophie eingeführt hatte, der kulturellen Debatte zu einem Modebegriff zu verhelfen, der nunmehr 20 Jahre alt ist und ohne allzu große Nostalgie betrachtet wird.72 2004 fragt die Zeitschrift 68 Luperini 2005, S. 72. 69 Vgl. z. B. Davide Dalmas: »Postmoderno, nuova epica, ritorno alla realt/. Questioni e problemi del romanzo italiano contemporaneo«, CoSMo 1 (2012), S. 121–127, hier S. 122, außerdem Luperini 2005, S. 20 sowie Donnarumma / Policastro 2008, S. 9–25. Außerdem erschien im Mai 2002 ein Band mit Materialien und Diskussionen, die in den sieben Monaten nach dem Anschlag zu diesem Thema produziert wurden, herausgegeben von Antonio Moresco und Dario Voltoni: Scrivere sul fronte occidentale. Dopo l’11 settembre. Milano: Feltrinelli 2002. 70 Vgl. Hal Foster The Return of the Real. Cambridge / Mass. [u. a.]: MIT Press 1996, S. 206. 71 Alfonso Berardinelli: »La fine del postmoderno«, Lo straniero 2 (1997/1998), S. 80–97. 72 Vgl. Dalmas 2012, S. 121.
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Die Postmoderne und ihr Ende – ein Blick auf die Zeit
Tirature »Che fine ha fatto il postmoderno?«73 und Stefano Calabrese schreibt 2005 im literarisch-kritischen Bereich über »il romanzo dopo il postmoderno«.74 Ebenfalls 2004 weisen Susanne Kollmann und Kathrin Schödel in ihrem auf den Ergebnissen der fünften Erlanger Graduiertenkonferenz, die im November 2002 unter dem Titel Post/Moderne De/Konstruktion stattfand, beruhenden Band auf die seit längerem sichtbare, der Postmoderne inhärente Tendenz hin, sich selbst ad absurdum zu führen. Die Abkehr vom Glauben an die Existenz einer Sinninstanz sowie der von postmoderner Seite vorgebrachte Zweifel an der menschlichen Vernunft und Erkenntnisfähigkeit fordern den Vorwurf einer »moralischen und ethischen Beliebigkeit« in notwendiger Konsequenz heraus.75 Daniele Balicco erklärt, das Interesse an der Postmoderne als führender Kategorie der Gegenwart habe sich spätestens zu Beginn des neuen Jahrhunderts erschöpft.76 Der Prozess der Entthronung postmodernistischer Tendenzen scheint bereits in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts einzusetzen und sich in die erste Dekade des neuen Jahrhunderts hineinzuziehen. Doch welche Faktoren führten zu dieser Entwicklung und wie äußerten sie sich? Luperini bemerkt die Skepsis, mit der Jameson 2002 von der »Ontology of the present«77 schreibt und Grundzüge der Wiederaufnahme moderner und spätmoderner Motive registriert.78 Er kritisiert dessen Vorgehen und seinen Aufruf zur absoluten Verdrängung moderner Themen.79 Jameson halte sich weiterhin in den abstrakten Himmeln einer längst überholten dekonstruktiven Philosophie auf. Man müsse sich hingegen mit der Insuffizienz der Logik des Nebeneinanders, der Differenz und des Vermischten, aber auch der Oberfläche und Leichtigkeit auseinandersetzen, die die Postmoderne charakterisieren, ebenso wie mit dem Wiedererscheinen von profunderer, kontrastiver oder kontrapunktischer Logik.80 Penso che di fronte alla riproposizione ormai evidente di temi neomoderni o tardomodernisti non ci si possa limitare a un appello all’utopia e alla decostruzione di concetti e termini. Si tratta piuttosto di capire perch8 nascono questi fenomeni e quale 73 Tirature. Che fine ha fatto il postmoderno? A cura di Vittorio Spinazzola. Milano: Mondadori 2004. 74 Stefano Calabrese: www.letteratura.global: il romanzo dopo il postmoderno. Torino: Einaudi 2005. 75 Vgl. Susanne Kollmann / Kathrin Schödel [Hg]: PostModerne De/Konstruktion. Ethik, Politik und Kultur am Ende einer Epoche. Münster : LitVerlag 2004, S. 12. 76 Vgl. Daniele Balicco: »Frederic Jameson. Postmodernism, or the Cultural Logic of Late Capitalismo, 1991«, Allegoria 56 (2007), S. 201–212, S. 202. 77 Luperini bezieht sich auf folgendes Werk: Fredric Jameson: A Singular Modernity. Essay on the Ontology of the Present. London [u. a.]: Verso 2002. 78 Vgl. Luperini 2005, S. 7. 79 Luperini bezieht sich auf folgende Stelle von Jamesons Essay : »What we all need is a wholesale discplacement of the thematics of modernity by the desire called Utopia.« Vgl. Jameson 2002, S. 215. 80 Vgl. Luperini 2005, S. 7.
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significano [sic] assumono nella situazione attuale. E cik che manca, nel libro di Jameson, H appunto un’analisi del momento storico apertosi con la prima Guerra del Golfo e affermatosi poi pienamente con l’attacco alle Torri Gemelle e con la seconda Guerra del Golfo. Invece di analizzare la realt/ concreta il marxista Jameson […] preferisce inerpicarsi nei cieli astratti di una filosofia decostruttiva ormai ben datata.81
Die von Luperini angeführte Analyse der historisch-politischen Lage setzt mit den Veränderungen seit Beginn der 90er Jahre an: die Golfkriege, die ›Invasion‹ Europas durch ›hungernde Völker‹, der internationale Terrorismus, die Gründung erster großer Antiglobalisierungsbewegungen, die Zerstörung des World Trade Center, der Afghanistankrieg. Es kündigt sich eine neue Phase der Anschläge, Ängste und des wachsenden Prekariats an.82 Die Südfrage drängt sich mit erneuter Brisanz in den Mittelpunkt politischer und theoretischer Diskussionen.83 Von dem von Gianni Vattimo angekündigten neuen Menschen fehlt jede Spur und genauso wenig lässt sich die Zeit als konfliktfrei bezeichnen. David Forgacs analysiert die innenpolitische Situation Italiens seit dem Zerfall der ersten Republik und dem Machtantritt Berlusconis. Er nimmt mediale Entwicklungen in den Fokus, die diesen möglich machten, betrachtet aber auch Faktoren, die von außen an das Land herangetragen werden und Krisenpotenzial in sich tragen wie etwa Immigrantenströme nach den Balkankriegen, verschärfte Grenzkontrollen nach dem Übereinkommen der Schengen-Staaten sowie die Ereignisse von 9/11.84 Er schließt seine Überlegungen: »This, then, is some of what has changed since 1995. It is hard not to feel, looking back, that those were easier times. We are living in harder and angrier times.«85 Der heitere Nihilismus bietet in einem solchen Klima keine Lösung mehr.86 Der Luxus der Leichtigkeit und Verantwortungslosigkeit wird auch der westlichen Welt nicht mehr zugestanden, die sich massiven Konfrontationen mit ihr fremden Lebensweisen, Ideologien und Religionen stellen muss.87 Sie trifft auf ›Welten‹, deren Metageschichten durchaus noch lebendig sind. Die absoluten Spitzen der Globalisierung zergliedern somit die Utopie der Postmoderne, die sich ursprünglich genau 81 Vgl. ebd., S. 7f. 82 Weitere Ausführungen zu der sich neu bildenden Klasse des Prekariats folgen in Kapitel 4.4 der vorliegenden Arbeit. 83 Ausführliche Informationen dazu finden sich in Kapitel 5.1 der vorliegenden Arbeit. 84 David Forgacs: »Intellectuals and subaltern groups between structure and discourse. The Difficult Politics of Cultural Studies«, In: New Perspectives in Italian Cultural Studies. Vol. 1. Definitions, Theory, and Accented Practices. Hg. v. Graziella Parati. Madison / Teaneck: Fairleigh Diccinson University Press 2012, S. 3–18, hier S. 7ff. 85 Ebd., S. 9. 86 Vgl. Luperini 2005, S. 12. Vgl. außerdem Chiara Conterno / Daniele Darra [u. a.]: »Il trauma nella letteratura contemporanea. Percorsi possibili«; LEA 2 (2013), S. 219–230, hier S. 220. 87 Es ist natürlich nicht das erste Mal in der Geschichte, dass die westliche Gesellschaft sich mit als überbordend empfundenen Fremdeinflüssen auseinandersetzen muss – man denke an die Nachkriegszeit nach 1945 – doch fällt es in diesem Kontext trotzdem stark ins Gewicht.
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Die Postmoderne und ihr Ende – ein Blick auf die Zeit
in diesem Phänomen verwurzelt sah. Berardinelli führt in diesem Kontext an, dass die Globalisierung nun einmal nicht dazu geführt habe, dass das Recht auf Überleben globalisiert worden sei und sie schütze auch nicht vor dem Verhungern. Er postuliert dezidiert das Ende der Postmoderne sowie die Notwendigkeit dieses Endes: Dal postmoderno stiamo uscendo. Tutto finisce, anche la moda della fine. C’H sempre qualcosa che verr/ dopo. Cos' anche al postmoderno seguir/ qualcosa. Anche il postmoderno finir/, sta per finire, anzi H finito. Infatti H durato fin troppo a lungo. Ormai abbiamo capito, sappiamo che cos’H, esistono molti libri che lo definiscono, lo storicizzano, ne fanno il bilancio. Gi/ questa iperconsapevolezza dimostra una certa usura. Del resto il postmoderno H sempre stato un concetto debole.88
Nun muss es erneut möglich sein, kontrastive Gedanken zu entwickeln, und zwar durchaus im Rückgriff auf Kategorien der Moderne. »La storia H come l’inconscio: tutto vi si sedimenta, niente mai H perduto del tutto. La ›rimozione totale‹ auspicata da Jameson non H possibile«.89 Einen Rückgriff auf moderne Themen begreift Luperini nicht als Regression oder »restyling« der Postmoderne, sondern als Anzeichen dafür, dass eine Phase der Stagnation zu Ende geht.90 Die Folgen des Golfkrieges und des unlimitierten amerikanischen Imperialismus ergießen sich über die Welt. Die Konsequenzen, die aus den immer heftiger von Hunger und Krisen gebeutelten Länden wie Albanien, Ex-Jugoslawien, dem mittleren Orient oder Afrika heraus erwachsen, treffen Italien vor allem in Form von massiven Flüchtlingsströmen und führen zu einem erneuten Anwachsen des Rassismus. Eines der bekanntesten Ereignisse mag das Einlaufen der mit über 10.000 Menschen völlig überbesetzten Vlora in Bari im Jahr 1991 sein. Mario Desiati, seinerzeit 13 Jahre alt, vergleicht das Erlebte mit einem historischen Wendepunkt, den er dem deutschen Mauerfall gleichsetzt.91 Generell wüten um Europa herum immer mehr Krisen- und Kampfgebiete und werden schließlich in die Gemeinschaft hineingetragen. Terroranschläge ziehen sich vom Fall des World Trade Centers über das Attentat von Madrid bis hin zu Charlie Hebdo in den heutigen Tagen. Der islamische Fundamentalismus und Amerikas Theorie von Präventivschlägen erschüttern die Welt und rütteln den Okzident aus seiner Ignoranz der letzten Jahrzehnte wach.92 Dietmar J. Wetzel stellt fest, dass angesichts der sozialen und politischen Lage die Ethik im Diskurs der letzten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine »nicht übersehbare 88 89 90 91
Berardinelli 2007, S. 31f. Vgl. Luperini 2005, S. 13. Vgl. ebd. Vgl. Mario Desiati in Stefania Ulivi: »Da volontario a scrittore: Noi pugliesi alla prova«, Corriere della Sera (31. 10. 2012), [IQ]. 92 Vgl. Luperini 2005, S. 19.
Der Umbruch – Fakten und Faktoren aus Politik und Zeitgeist
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Konjunktur« erfahren hat, die die Postmoderne an ihre Grenzen bringt.93 Der Postmodernismus mit seiner Entzauberung und seinen manieristischen Spielereien und Ablösung vom Engagement liegt – so Luperini, der hier der Ansicht Berardinellis folgt – schon lange im Sterben, ist tot, definitiv mit den Zwillingstürmen von New York zusammengebrochen. Aber in Italien scheint das niemand gemerkt zu haben.94 Wenige Jahre später werden dieses Ende und der Wunsch nach etwas Neuem jedoch immer spürbarer. Wissenschaft und Philosophie beschäftigen sich eingehend mit neuen Phänomenen. Dem Ausruf einer Rückkehr zur Greifbarkeit der Fakten, zu einer neuen Faktualität, die mit dem Ende der Postmoderne ersehnt wurde, die die Krise aller epistemologischen und philosophischen Fundamente gepredigt hatte, scheint vor allem das Bedürfnis nach Sicherheit und Wahrheit innezuwohnen.95 Die realen Notwendigkeiten, die realen Lebenden, vor allem aber die realen Toten, die nicht auf Interpretation reduziert werden können, haben ihre Rechte geltend gemacht und die Meinung bestätigt, dass der Realismus – genau wie sein Gegenteil – nicht nur auf die Erkenntnis Auswirkungen hat, sondern auch auf Ethik und Politik.96 Wie stark die Realität auch medialisiert sein mag, sie tritt doch mit ihren Ecken und Kanten immer wieder hervor. Als unbestreitbaren Schlusspunkt jeder Diskussion um Interpretationen oder Fakten, hier wieder im Rückblick auf den 11. September und das Bild des falling man, führt Luca Somigli den Tod an: Eppure questa proliferazione di interpretazione dell’uomo che cadde non cancella – e anzi forse proprio per la sua quasi ossessionante qualit/ mette in risalto – l’esito finale di quel disperato volo, l’impatto di un corpo fisico, carne ed ossa, contro il selciato decine di piani piF sotto. Possiamo davvero mettere fra parentesi la materialit/ di quel corpo nel momento in cui le sue innumerevoli rappresentazioni ci interpellano? […] ð qui che mi pare che si collochi il limite della teoria della »derealizzazione del mondo«: l’atto di mettere in relazione un’immagine ad un referente reale, materiale nel senso che abbiamo appena visto, H una scelta etica, oltre che epistemologica, che implica il riconoscimento del trauma subito dall’altro anche nel momento in cui esso non ci tocchi direttamente.97
93 Dietmar J. Wetzel: »Vom Anderen des Politischen. Über ›postmoderne Ethik‹ und ihre Grenzen«, In: Susanne Kollmann / Kathrin Schödel [Hg.]: PostModerne De/Konstruktion. Ethik, Politik und Kultur am Ende einer Epoche. Münster : LitVerlag 2004, S. 29–44, hier S. 34f. 94 Vgl. Luperini 2005, S. 128. 95 Vgl. Alberto Casadei: Letteratura e controvalori. Critica e scrittura nell’era del web. Roma: Donzelli 2014, S. 35. 96 Vgl. Ferraris 2012, S. XI. 97 Luca Somigli: »Negli archivi e per le strade: considerazioni meta-critiche sul ›ritorno alla realt/‹ nella narrativa contemporanea«, In: ders. [Hg.]: Negli archivi e per le strade. Il ritorno alla realt/ nella narrativa di inizio millennio. Roma: Aracne 2013, S. I–XXII, hier S. XII.
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Die Postmoderne und ihr Ende – ein Blick auf die Zeit
Es ist diese Materialität, die der Körper mit sich bringt, wenn er hungert, bei Verletzungen oder letzten Endes im Tod, die wieder greifbar wird. Auch Donnarumma bemerkt, dass man beim Sturz der Zwillingstürme nicht nicht an die 3000 Toten denken könne und konstatiert: »la verit/ resta comunque un [sic] neccessit/ antropologica di cui H difficile sbarazzarsi.«98 Es sind Grundbedürfnisse, die ins Zentrum rücken. Den Tod als ein Phänomen der Grenzerfahrung zu betrachten, ist bestimmt nichts Neues. Jedoch wird er in einer krisengebeutelten Zeit, die den Tod nicht nur in seiner natürlichen Form durch Alter und Krankheit herbeigeführt sieht, sondern vor allem gewaltsam durch Kriege oder Hunger, mit Sicherheit wieder eine aktualisierte Relevanz erhalten. Umberto Eco spricht in Bezug auf den Tod von einer »fondamentale esperienza di un limite di fronte al quale il nostro linguaggio sfuma nel silenzio«.99 Mit dem Wissen um die Existenz dieser Limitierung kommt man nicht umhin, nach weiteren Grenzen zu suchen.100 Dem Tod in seiner alltäglichen Banalität wie spezifischen Grausamkeit, vor allem aber durch seinen Grenzcharakter, kommt somit am Wendepunkt von Postmodernismus zu einem neuen Realismus eine besondere Rolle zu. Diskussionen um Grenze, Sein oder Schein gehören seit jeher in das Feld der Philosophie, die spätestens seit 2011 und 2012 dezidiert das Ihre zum Thema »New Realism« beiträgt und das Klima spürbar prägt.
1.3
Der New Realism in der Philosophie – ein versöhnlicher Kompromiss
Probabilmente, il postmoderno si H esaurito da un bel po’, ma, come per la morte di Dio, ci va del tempo perch8 l’umanit/ se ne renda conto.101
»Ein Gespenst geht um – und nicht nur in Europa. Das Gespenst des ›New Realism‹«. So eröffnet Henning Klüver im Rückgriff auf das Kommunistische Manifest seinen Artikel »Ich bin, also denke ich« in der Süddeutschen Zeitung am 13. Januar 2014.102 Die Diskussion um einen neuen Realismus – fährt er fort – wird heute quer über den Erdball geführt, »vom Argentinier Jos8 Luis Jerez über den Mexikaner Manuel de Landa und den Amerikaner Graham Harman bis hin 98 Raffaele Donnarumma: Ipermodernit/. Dove va la narrativa contemporanea. Bologna: Il Mulino 2014, S. 177. 99 Umberto Eco: »Di un realismo negativo«, In: Mario De Caro / Maurizio Ferraris [Hg.]: Bentornata realt/. Il nuovo realismo in discussione. Torino: Einaudi 2012, S. 92–112, hier S. 106. 100 Vgl. ebd. 101 Maurizio Ferraris: »Nuovo realismo FAQ«, Njema 2 (2011), S. 1–14, hier S. 12, [IQ]. 102 Henning Klüver : »Ich bin, also denke ich«, Süddeutsche Zeitung (03. 01. 2014), [IQ].
Der New Realism in der Philosophie – ein versöhnlicher Kompromiss
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zum Deutschen Markus Gabriel«, am reichsten aber sei die Debatte in Italien.103 Tatsächlich hat diese neue philosophische Bewegung deutsch-italienische Wurzeln. Es ist die Kooperation von Maurizio Ferraris und Markus Gabriel, die den Neuen Realismus in der Philosophie aus der Taufe hebt und die Geburtsstunde auf den 23. Juni 2011 um 13:30 festlegt.104 Bei dem Treffen zur Planung eines anstehenden Kongresses kommt der Titel »New Realism« zustande, mit der einfachen Begründung, dass es immer eine Pendelbewegung des pensiero gebe, in diesem Falle ausgehend von der antirealistisch geprägten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den Schwerpunkten Hermeneutik, Postmoderne, linguistic turn zum beginnenden neuen Jahrtausend mit den Konzepten Ontologie, kognitives Wissen und Ästhetik als Theorie der Wahrnehmung.105 Gabriels und Ferraris grundlegende Werke erscheinen etwa zeitgleich: Ferraris Manifesto del nuovo realismo im März und Gabriels Il senso dell’esistenza im Mai 2012. Es folgen Sammelbände wie Der neue Realismus (2014) oder Bentornata realt/ (2012) unter der Herausgeberschaft von Markus Gabriel, Maurizio Ferraris und Mario De Caro. In Italien ist es schließlich Umberto Eco, der mit seinem Konzept des »Di un realismo negativo« (2012) und dem Verweis auf seine bereits in den 1990er erschienene Schrift I limiti dell’interpretazione den Brückenschlag vom alten zum neuen Jahrtausend schafft. Die Ansätze der beiden italienischen Stimmen sollen hier im Fokus stehen.106 Maurizio Ferraris definiert in seinem Manifest den Neuen Realismus als die Kenntnisnahme eines Wendepunktes.107 Trotz des Beharrens auf Ironie und Entzauberung habe sich der Postmodernismus als eine Art magischer Antirealismus (»antirealismo magico«) entpuppt, als eine Doktrin, die dem Geist eine unangefochtene Herrschaft über den Lauf der Welt zuerkennt. Gegen diesen Geist sei mit der Jahrhundertwende ein neuer Realismus angetreten.108 Die Postmoderne, die nach Ferraris einen Angriff auf die Wirklichkeit darstellt, zieht sich nun zurück, nicht, weil sie nicht funktioniert hat, sondern weil sie besonders gut umgesetzt worden ist.109 Sie hat, anders als andere Strömungen und Sekten 103 104 105 106
Ebd. Ferraris 2012, S. XI. Ebd. Weitere Werke zu diesem Thema, die hier keine Beachtung finden werden, sind zum Beispiel: Pier Aldo Rovatti: Inattualit/ del pensiero debole (2011), Emiliano Bazzanella: La filosofia e il suo consumo. Il nuovo New Realism (2012), Gianni Vattimo: Della realt/ (2012), Gian Paolo Terravecchia: Una filosofia realista. (2012), Stefano Poggi [Hg.]: Il realismo della ragione. Kant dai lumi alla filosofia contemporanea (2012) und Giovanni Gurisatti: Scacco alla realt/. Estetica e dialettica della derealizzazione mediatica. (2012) u. v. W. 107 »Quello che chiamo nuovo ›realismo‹ H infatti anzitutto la presa d’atto di una svolta.« Ferraris 2012, S. XI. 108 Vgl. ebd., S. 26f. 109 Vgl. ebd., S. 6.
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und unendlich viel mehr als die Versuche Platons in Syrakus, aber auch als der Marxismus, eine volle politische und soziale Verwirklichung erfahren und in den letzten Jahren eine bittere Wahrheit gelehrt. Und zwar, dass tatsächlich im Erbe Nietzsches die Interpretationen das Primat über die Tatsachen gewonnen haben und sich die Überwindung der Objektivität durch den Mythos vollzogen hat.110 Doch das – so Ferraris – hat nicht die von den Gelehrten prophezeiten emanzipatorischen Ergebnisse gehabt. Das Fabelwerden der wahren Welt hat nicht stattgefunden, oder anders: »Il mondo vero certo H diventato una favola, anzi […] H diventato un reality, ma l’esito H stato il populismo mediatico, un sistema nel quale (purch8 si abbia il potere) si puk pretendere di far credere qualsiasi cosa.«111 Die so geartete Situation bezeichnet Ferraris als »Realitysmo«, als das Endergebnis von Ironisierung, Entsublimisierung und Entobjektivierung.112 Ferraris Realismus möchte zu einer Philosophie der Wahrnehmung zurückkehren. Er steht im Zeichen einer moderaten Wiederbelebung der Ontologie und einer Überwindung Kants. Gleichzeitig jedoch wird Letzterer zum wichtigen Bezugspunkt, wie Ferraris Schlüsselbegriffe des neuen Denkens evident werden lassen: Ontologie, Kritik und Aufklärung.113 Bezüglich der Ontologie spricht er von etwas, das Widerstand leistet, von einer Unveränderlichkeit (»l’inemendabilit/«), die ein wichtiger Charakterzug der Wirklichkeit ist.114 Umberto Eco steht zwar dem ›Neuen‹ des diskutierten Realismus skeptisch gegenüber – hatte er doch die ›Grenzen der Interpretation‹ bereits in den 1990er Jahren festge-
110 In gewisser Weise nimmt Ferraris an dieser Stelle eine Situation vorweg, die im öffentlichen Bewusstsein erst um den Jahreswechsel zwischen 2016 und 2017 sichtbar wird, als das Oxford Dictionary das Konzept »post-truth«, als »an adjective defined as ›relating to or denoting circumstances in which objective facts are less influential in shaping public opinion than appeals to emotion and personal belief‹« zum Wort des Jahres 2016 erklärt. Vgl. ebd., [LW]. Lexika und Wörterbücher werden im Weiteren Verlauf der Arbeit in den Fußnoten stets mit der Sigle [LW] gekennzeichnet und finden sich in der Bibliographie in der entsprechenden Kategorie. 111 Ferraris 2012, S. 6. Eine literarische Umsetzung zu diesem Gedanken findet in Roberto Savianos Werk Gomorra im Kapitel »Hollywood« statt; zu einer Analyse dazu siehe in der vorliegenden Arbeit Kap. 6.3.4. 112 Vgl. Ferraris 2012. S. 24ff. Interessant ist, dass Ferraris diese Entwicklungen nicht als rein postmodernes Produkt betrachtet, sondern die extrem alten Wurzeln solcher Denkweisen vor Augen führt. Er schreibt: »In quanto tale, il realitysmo non H dunque un semplice prodotto postmoderno. Ha un cuore antico quanto il desiderio di illusione proprio dell’essere umano, e quanto il gusto di mistificazione e le sue convenienze. […] Di per s8, H soltanto una variante del solipsismo, dell’idea che il mondo esterno non esista, che sia una mera rappresentazione, magari a nostra disposizione.« Vgl. ebd. 113 Vgl. ebd., S. 28f. 114 »A un certo punto c’H qualcosa che resiste. ð quello che chiamo ›inemendabilit/‹, il carattere salente del reale. Che puk essere certo una limitazione ma che, allo stesso tempo, ci fornisce proprio quel punto d’appoggio che permette di distinguere il sogno dalla realt/ e la scienza dalla magia.« Ferraris 2012, S. 30.
Der New Realism in der Philosophie – ein versöhnlicher Kompromiss
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stellt115 – sieht aber grundsätzlich, ähnlich wie Ferraris etwas, was er als »zoccolo duro dell’essere« bezeichnet, etwas Widerständiges.116 Mit I limiti dell’interpretazione geht er davon aus, dass: perch8 ci sono interpretazioni ci deve essere qualcosa da interpretare – e se pure ogni interpretazione non fosse altro che l’interpretazione di una interpretazione precedente, ogni interpretazione precedente assumerebbe, dal momento in cui viene identificata e offerta a una nuova interpretazione, alla natura di un fatto – e che in ogni caso il regressus ad infinitum dovrebbe a un certo punto arrestarsi a cik da cui era partito e che Peirce chiamava l’Oggetto dinamico.117
Ferraris drückt es ähnlich aus: »Dunque, anche gli amici delle interpretazioni dovrebbero ammettere che, contrariamente alla tesi secondo cui non ci sono fatti, solo interpretazioni, le interpretazioni hanno senso solo se si riferiscono a dei fatti.«118 Beide, Ferraris und Eco, sind also darum bemüht, das nietzscheanische Primat der Interpretation zumindest aufzuweichen. So fordert Ferraris einen minimalistischen Realismus mit der Ontologie als Grenze in Absetzung zu Ansätzen von naiven Realismen.119 Gleichzeitig geht es ihm um eine Aussöhnung mit konstruktivistischen Ansätzen, die er in moderater Form durchaus befürwortet. Ein moderater Konstruktivismus kollidiere nicht mit realistischen Anschauungen. Außer der Anerkennung eines positiven ontologischen Bereichs erlaube dieses Manöver, die Inkonsequenz zu vermeiden, die aus der Nichtunterscheidung von Gegenständen und der Vermengung von Ontologie und Epistemologie herrühre, womit man sich eine ganze Menge »fashionable nonsense« erspare.120 Auch hier agiert Eco in gewisser Weise ähnlich. Bei allen Zugeständnissen an die Pluralität von Sinn und Interpretation in einem konstruktivistischen oder relativistischen Weltbild zeigt er Grenzen der Interpretation auf. Es gebe schlicht Dinge, die man nicht sagen könne: »Il mondo puk non avere un senso, ma ha dei sensi; forse non dei sensi obbligati, ma certo dei sensi vietati. Ci sono cose che non si possono dire.«121 Als Beispiel führt er an, dass auch die Postmodernisten die physische Präsenz eines Tisches nicht leugnen würden. Allerdings würden sie sagen, dass der Tisch erst zum Objekt von Wissen und Diskurs wird, wenn man ihn als Auflagefläche für einen chirurgischen Eingriff interpretiert oder als Küchentisch, als Katheder im Hörsaal, als ein Objekt mit vier Beinen, bestehend aus einer Anhäufung von Atomen, das etwa in 115 116 117 118 119 120 121
Vgl. Eco 2012, S. 93. Vgl. ebd., S. 106. Ebd., S. 97. Ferraris 2011, [IQ]. Vgl. Ferraris 2012, S. 64f. Vgl. ebd., S. 75f., [Hervorhebung im Original]. Eco 2012, S. 107, [Hervorhebung im Original].
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Die Postmoderne und ihr Ende – ein Blick auf die Zeit
der Lage ist, jemanden nach einem Schiffbruch vor dem Ertrinken zu retten. Die Vielzahl der Interpretationen dieses Tischs ende jedoch, wenn jemand behaupten wolle, man könne auf ihm auf der Autobahn nach Mailand von Turin nach Agognate radeln. Hier erreiche man an die Grenzen der möglichen Interpretation.122 Eco stellt fest: »se non si puk mai dire definitivamente se una interpretazione sia giusta, si puk sempre dire quando H sbagliata. Ci sono interpretazioni che l’oggetto da interpretare non ammette.«123 Bezüglich der Kritik an beziehungsweise der Kritikfähigkeit der eigenen Zeit führt Ferraris den Realismus als Voraussetzung ins Feld, während dem Antirealismus die Nachgiebigkeit angeboren sei: das Märchen, das man Kindern erzähle, damit sie einschlafen.124 Ein kritisches Herangehen an derzeitige Missstände – im politischen wie sozialen Bereich – wird also erst auf einer realistischen Grundlage des Wissens möglich,125 eine Überlegung, die indirekt weiter zu den Ansätzen Immanuel Kants führt. Zu Kant hat Ferraris ein gespaltenes Verhältnis. Zum einen sieht er ihn als starken Begründer dessen, was letztendlich im absoluten Konstruktivismus gipfelt und somit zu einem der Grundpfeiler der Postmoderne wird: Il problema H […] che Kant intendeva che fossero necessari concetti per avere una qualsiasi esperienza, ossia che serva un concetto anche per scivolare su una lastra di ghiaccio. Il che non H solo falso in s8, ma d# avvio a un processo che conduce a un costruzionismo assoluto.126
Zum anderen aber wünscht Ferraris sich ein Heraustreten aus dem tiefen Schatten (»ombra profonda«) von Schriftstellern und Denkern wie Joseph Marie 122 123 124 125
Ebd., S. 97f. Ebd., S. 105. Ferraris 2012, S. 30. An anderer Stelle führt Ferraris aus: »Non solo la realt/ e la verit/ hanno una cruciale rilevanza morale. Si puk dire di piF: l’argomento decisivo per il realismo non H teorico ma morale. Se si abbandona il realismo ogni revisionismo, e soprattutto ogni negazionismo, diventa possibile. E non H solo una questione delle performance del populismo mediatico, piF o meno tristi e comiche, ma tragedie immani, di guerre e di stermini, di sopraffazioni spaventose che non solo non sono state vendicate (perch8 i morti sono morti) ma possono essere revocate in dubbio da chi arriva a chiedere, come le accerti? Che cos’H la ›verit/‹, e se ne lava le mani. Scompare anche la memoria, scompare tutto. Ecco cosa si perde quando si perde la realt/.« Und weiter unterstreicht er : »Torno a dirlo: se nella mia proposta di nuovo realismo insisto cos' tanto sulla differenza tra ontologia ed epistemologia H perch8 un difetto fondamentale della filosofia da Kant al postmoderno H stato proprio il collasso tra l’essere e sapere, tra quello che c’H e quello che sappiamo a proposito di quello che c’H.« Siehe ders. 2011, S. 4 u. S. 11, [IQ]. 126 Ebd., S. 34. In der Zeitschrift Noema führt Ferraris aus: »Dunque il costruzionismo postmoderno si pone al termine di una lunga e nobile genealogia che va da Kant a Goodman e Foucault passando attraverso Nietzsche e il pragmatismo. Ma acquista una particolare rilevanza nel contesto di una iper-politicizzazione e iper-letterarizzazion della teoria, a cui si aggiunge la crescente rilevanza dei media.« Vgl. ders. 2011, S. 2, [IQ].
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de Maistre, Donoso Cort8s und Friedrich Nietzsche. Ihnen habe die Postmoderne Recht gegeben und gegenüber daraus entstandenen Denkströmungen müsse man sich im Sinne eines neu formulierten kantschen sapere aude zu emanzipieren wissen, was auch heute noch bedeute, dass man Stellung beziehen und Vertrauen in die Menschheit haben müsse.127 Diesem Wissen, das in nietzscheanischer Anschauung ein Herrschaftsinstrument und ein Ausdruck des Willens zur Macht ist, gelte es unter neuen Maximen wieder entgegenzugehen. Man müsse zuerst definieren, was man unter Wahrheit versteht, um dann zu erkennen, dass man Wahrheit ohne Gewalt und Gewalt ohne Wahrheit haben kann, was bedeutet, dass sich aus dem Verzicht auf Wahrheit nicht der Verzicht auf Gewalt und der Frieden auf Erden ableitet, sondern nur der Aberglaube. Wenn die Formulierung der Verbindung von Gewalt und Wahrheit eine Wahrheit ist, so Ferraris, dann ist das schwache Denken somit eben für diese Gewalt verantwortlich zu machen, die es verdammt.128 Sowohl Eco als auch Ferraris suchen Wege, realistische Ansätze mit postmodernistischen Theorien auszusöhnen und anzunähern. Beide drücken sich mit den Begriffen des minimalistischen Realismus und negativen beziehungsweise moderaten Realismus vorsichtig aus. Doch beinhalten auch beide Herangehensweisen einen positiven Zugang zu möglichen Wahrheitskonzeptionen, Zukunftsvisionen und aufklärerischem Gedankengut, die sich von bisherigen, als naiv abgestempelten Realismen distanzieren wollen. Eco vertritt die Ansicht: »La forma modesta del realismo negativo non ci garantisce che noi possiamo domani possedere la verit/, ovvero sapere definitivamente what is the case, ma ci incoraggia a cercare cik che in qualche modo sta davanti a noi«.129 Dass Eco seine Theorien zu den Grenzen des bis dato hochgehaltenen Primats der Interpretation bereits in den 90er Jahren verfasst hat, unterstützt hier nur die These, dass die Ablösung postmodernistischer Tendenzen bereits vor dem 11. September zu verorten ist, der lediglich als Grenzpfeiler, als Erinnerungsstütze, in die Geschichtsbücher Eingang finden wird.130 Was einen neuen Realismus im literarischen Bereich angeht, wird zunächst unter Betrachtung der oben vorgeführten Problematik zu reflektieren sein, inwiefern nach der Postmoderne – oder besser nach der Etablierung postmodernistischer Theorien – realistische Darstellung in der Literatur, der nicht der Makel der Naivität anhängt, möglich ist. Dafür kommt man in einem ersten 127 128 129 130
Vgl. Ferraris 2012, S. 31f. Vgl. ebd., S. 89ff. Eco 2012, S. 112, [Kurisiverung im Original]. Auch Ferraris macht darauf aufmerksam, dass er sich schon Ende der 90er Jahre vom »progetto del postmoderno« entfernt habe und verweist auf seine Werke Estetica razionale (1997), Il mondo esterno (2001) und Ricostruire la decostruzione (2010). Vgl. ders. 2011, S. 11, [IQ].
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Die Postmoderne und ihr Ende – ein Blick auf die Zeit
Schritt nicht umhin, einen Blick auf alte Realismen zu werfen, im Besonderen auf die im 19. Jahrhundert verbreiteten Strömungen, die den Naturalismus und Realismus in Frankreich und den Verismus in Italien umfassen, da hier der Grundstein des heutigen Realismusverständnisses gelegt wurde.
2.
Der Januskopf des Realismus – Probleme und Vorüberlegungen
Möchte man sich im literarischen Bereich mit Realismus beschäftigen – sei es mit alten Formen oder neuen Varianten – bekommt man ein Problem, denn dem Begriff des Realismus hängt spätestens seit der Verbreitung postmodernistischer Theorien ein Makel an. David Nelting, der sich 2009 mit der »doppelten Wirklichkeitsmodellierung in Germinie Lacerteux und Giacinta« beschäftigt, stellt fest: Der Roman des 19. Jahrhunderts ist dominant realistisch. Macht man eine solche Aussage heute, dann läßt der Vorwurf retrograder Naivität sicher nicht auf sich warten. Denn im Fokus der aktuellen Diskussion über jene Literatur, die man einmal die realistische genannt hat, stehen derzeit andere Dinge: die Phantasie, das Imaginäre, die Transgression.131
Nelting bezieht sich bei seiner Aussage vornehmlich auf Thomas Stöbers Werk aus dem Jahr 2006 Vitalistische Energetik und literarische Transgression im französischen Realismus – Naturalismus sowie auf Rainer Warning, dessen 1999 erschienener Band den Titel Die Phantasie der Realisten trägt.132 Dieser Titel, so Warning, scheint zusammenzuzwingen, was nicht zusammen passt: »Mit dem Realismus des 19. Jahrhunderts, so will es ein noch immer verbreitetes Klischee, öffnet sich der Roman auf eine unverfälschte, mit wissenschaftlicher Objektivität rivalisierende Darstellung der zeitgenössischen Wirklichkeit, […]«.133 Über Jahrzehnte hinweg sei eine Realismus-Diskussion geführt worden, die unvermerkt einen historischen Wirklichkeitsbegriff normativ gesetzt und die einzelnen Autoren daran bemessen habe.134 Literarische Texte und so auch realistische seien selbstredend einem je historischen Wissen verpflichtet, aber sie 131 David Nelting: »Positivismus und Poetik. Überlegungen zur doppelten Wirklichkeitsmodellierung in Germinie Lacerteux und Giacinta«, Romanistisches Jahrbuch. 59 (2009), S. 238–261, hier S. 238. 132 Vgl. Nelting 2009, S. 238, Fußnote 2. 133 Rainer Warning: Die Phantasie der Realisten. München: Fink 1999, S. 7. 134 Vgl. ebd.
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Der Januskopf des Realismus – Probleme und Vorüberlegungen
bilden es nicht ab, sondern seien vielmehr imaginative Reaktion. Diese literarische Inszenierung sei gleichzeitig schon Transgression der diskursiven Verfasstheit und diese Transgression bedeute bei aller Einbettung in Wissensdiskurse auch eine gleichzeitige Ausbettung aus selbigen.135 Nelting hingegen sieht im »altbekannte[n] historische[n] Selbstverständnis der Realisten« mit Auerbach, der in Warnings »Mimesis als Mimikry : Die Realisten vor dem Spiegel« in die Kritik gerät,136 noch eine tragfähige Basis seiner Untersuchungen.137 Dass Phantasie und Realismus Konzepte sind, die einander unvereinbar gegenüberstehen, ist eine Ansicht, die sich in der Rezeption der Texte ergeben hat, den Schriften aber nicht zwangsläufig genuin eingeschrieben ist und häufig der Autorintention gar zuwiderläuft. In einem Kontext, in dem Begrifflichkeiten wie Wirklichkeit, Wahrheit und Realismus ohnehin Brennpunktthemen und nicht ohne Anführungszeichen zu nennen sind, scheint eine Rezeption der Konzepte des 19. Jahrhunderts bisweilen etwas einseitig zu verlaufen und im ständig gleichen Fahrwasser zu verweilen, wodurch Allgemeinplätze entstanden sind.138 Im Folgenden sollen Annahmen und Herangehensweisen der Autoren des 19. Jahrhunderts kurz aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden, die den Januskopf des Realismus, der stets zwischen exakter Weltwiedergabe und medialisierter Subjektivität schwebt, offenlegen. Dass es sich bei den verschiedenen Realismen des 19. Jahrhunderts (Realismus, Naturalismus und Verismus) durchaus um zu unterscheidende Strömungen handelt, die in sich teils disparat und teils kongruent sind, wird in diesem Kontext bewusst beiseitegelassen, da das generelle Problem, das sich ihnen stellt, allen gemeinsam ist. In einem weiteren Schritt wird das Wiederaufkommen realistischer Tendenzen im Italien des 20. Jahrhunderts mit ihren Besonderheiten thematisiert, um im Folgenden die bis dahin erlangten Erkenntnisse in einem Modell zu verschmelzen, das realistische Darstellung in der Literatur auch für gegenwärtige Strömungen fruchtbar machen soll.
135 Vgl. ebd., S. 8. 136 Warning führt an, dass literaturwissenschaftliche Darstellungen des Realismus dessen innere Widersprüchlichkeit nicht deshalb bloßgelegt hätten, um das Konzept zu problematisieren, sondern um diese Widersprüchlichkeit unkenntlich zu machen. Ausdrücklich bezieht er sich hier auf Erich Auerbachs Mimesis, dem er zusätzlich vorwirft, sich nicht hinreichend mit dem Konzept von Mimesis bei Platon und Aristoteles auseinandergesetzt zu haben. Vgl. ders. 1999, S. 10ff. Nelting sieht marginale Schwächen der auerbachschen Ausarbeitungen, hält aber eine umfassende Korrektur für unnötig. Vgl. ders. 2009, S. 238, Fußnote 3. 137 Nelting 2009, S. 238f. 138 Zu verschiedenen »luoghi comuni« äußert sich Pierluigi Pellini im Kapitel »Due ›ismi‹ screditati« in seinem Werk: Naturalismo e verismo. Zola, Verga e la poetica del romanzo. Milano: Mondadori 2010, S. 3–6.
Literatur zwischen wissenschaftlicher Darstellung und subjektivem Blickwinkel
2.1
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Literatur zwischen objektiv wissenschaftlicher Darstellung und subjektivem Blickwinkel – das 19. Jahrhundert in Frankreich und Italien
Realistische, naturalistische oder veristische Literatur ist thematisch gesellschaftlich aktuellen Interessen und Problemen ihrer Zeit verbunden. So kommen im Zuge neuer Erkenntnisse der Wissenschaft, Medizin und Philosophie Menschen in ihrer Abhängigkeit von Anlage, Trieb und Umwelt zur Darstellung, pathologische Fälle, generell Kranke, Geistesgestörte, Alkoholiker oder Prostituierte rücken in den Mittelpunkt der künstlerischen Darstellung. Aber auch gesellschaftliche Strukturen aus Politik und Wirtschaft geraten in den literarischen Blick und in die Kritik, wie zum Beispiel der Obrigkeitsstaat, Militarismus und Kapitalismus, eine zunehmende Zentrierung auf die Großstadt (Paris) in Frankreich oder aber auch das Abgeschlagene und die ländliche Armut des Südens in Italien, dessen literarische Darstellung in einer Unterkategorie realistischen Schreibens als Meridionalismus zu benennen ist.139 Obwohl zur Genüge Zeit vorhanden war, über Verfahren und Konventionen realistischer Darstellung und deren »zeichenvermittelnden, konstruierenden Charakter« aufzuklären und die Methoden zu reflektieren, »ist das geläufige Realismusverständnis noch immer von Begriffen wie Wirklichkeitsnähe, Wahrscheinlichkeit, Nachahmung, Wiederspiegelung usw. geprägt«, Vorstellungen also, die sich im Laufe der literarischen Produktion wie Rezeption ab 1850 gebildet und institutionalisiert haben.140 Spricht man von Realismus, so ist der automatisierte Assoziationsweg erstmal der ins 19. Jahrhundert, in die Zeit, in der Strömungen wie der Realismus, Naturalismus und Verismus einem Schreiben der verosimiltudine Namen und Methode verliehen haben. Es sind Anliegen und Aussagen von Autoren wie Pmile Zola, Gustave Flaubert und Guy de Maupassant in Frankreich und Luigi Capuana oder Giovanni Verga in Italien, die bis heute prägend sind und so sollen sie zunächst auch in der vorliegenden Arbeit prioritär analysiert werden. Herangezogen werden dafür in der Hauptsache theoretische Schriften, Korrespondenzen und Vorworte. Das zumeist in den Fokus gestellte Merkmal der Realismen des 19. Jahrhunderts ist der Anspruch auf Exaktheit und Wissenschaftlichkeit, besonders des Naturalismus, der sich in die Entwicklungen der damaligen Zeit, die unter dem Einfluss des Positivismus standen, einschreibt. Das führte dazu, dass es laut 139 Weitere Ausführungen zum Meridionalismus erfolgen im Kapitel 5.1 der vorliegenden Arbeit. 140 Vgl. Rudolf Helmstetter : »Medialer (und medealer) Realismus oder Die Schwierigkeiten des Zentaurs beim aufs Pferd steigen«, In: Daniela Gretz [Hg.]: Medialer Realismus. Freiburg i. Br. [u. a.]: Rombach 2011, S. 17–62, hier S. 24.
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Der Januskopf des Realismus – Probleme und Vorüberlegungen
Zola, so vermerkt er in seinem Werk Le roman exp8rimental, in dem er Studien und Kritiken zu Werken seiner Zeit verfasst, für den naturalistischen Roman drei Charakteristika gibt: Die exakte Reproduktion des Lebens, die die Absenz jedweder romanesken Elemente einschließt, die Angleichung des Helden an den normalen Menschen und das Verschwinden des Autors hinter der Handlung.141 Zola bewundert die Form der Exaktheit, die er bei Flaubert findet, die aufgrund präziser Arbeit nach Notizen stattgefunden und von deren Richtigkeit man sich selbst überzeugt hat.142 Für seinen Roman Th8rHse Raquin konstatiert er im Vorwort zur zweiten Ausgabe, dass er hoffe, man beginne zu verstehen, dass er hauptsächlich ein wissenschaftliches Ziel gehabt habe.143 Maupassant formuliert den Anspruch, dass die Schule der Realisten oder Naturalisten sich vorgenommen habe »[de] montrer la verit8, rien que la verit8 et toute la verit8.«144 Der Roman scheint in diesem Jahrhundert zum Werkzeug geworden, das der Untersuchung des Menschen und der Natur dient. Und so spricht auch Giovanni Verga, der dafür bekannt ist, verhältnismäßig wenige theoretische Schriften hinterlassen zu haben, in einem poetologischen Brief an Salvatore Farina, der der Novelle L’amante di Gramigna in den Vita dei Campi vorangestellt ist, bezüglich seiner Arbeit von einem »documento umano«.145 Bei allem Anspruch auf Exaktheit, Wahrheit und Wissenschaftlichkeit, dem sich die Autoren des 19. Jahrhunderts verpflichtet sahen, lief jedoch bereits bei ihnen das Bewusstsein um den subjektiven Filter zwischen Darstellung und Dargestelltem sowie dem Akt des Darstellens stets bewusst mit. So schreibt Zola 1866 in Mes haines: Le but de l’art, pour M. Taine, est donc de fixer l’objet, de le rendre visible et int8ressant en le grandissant, en exag8rant une de ses parties saillantes. Pour arriver / ce r8sultat, on comprend qu’on ne peut imiter l’objet dans sa r8alit8; il suffit de le copier, en maintenant un certain rapport entre ses diverses proportions, rapport que l’on modifie pour faire pr8dominer le caractHre essentiel. […] La d8finition de M. Taine contente mes besoins de r8alit8, mes besoins de personnalit8; elle laisse l’artiste ind8pendant sans r8glementer ses instincts, sans lui imposer les lois d’une typique, id8e contraire / la libert8 fatale des manifestations humaines. Ainsi, il est 141 »la reproduction exacte de la vie, l’absence de toute 8l8ment romanesque«, »Fatalement, le romancier tue les h8ros, s’il n’accepte que le train ordinaire de l’existence commune« und »Le romancier naturaliste affecte de dispara%tre complHtement derriHre l’action qu’il racconte.« Siehe Pmile Zola: »Le roman exp8rimental«, In: ders.: Œuvres complHtes. T. IX. La critique naturaliste 1881. Hg. v. Henri Mitterand. Paris: Nouveau Monde Ed. 2004, S. 317– 507, hier S. 502ff. 142 »Il [Flaubert] ne procHde que sur des notes pr8cises, dont il a pu v8rifier lui-mÞme l’exactitude.« Siehe ebd., S. 505. 143 »On commence, j’espHre, / comprendre que mon but a 8t8 un but scientifique avant tout.« Vgl. Pmile Zola: Th8rHse Raquin. Paris: Gallimard 1979, S. 24. 144 Guy de Maupassant: Œuvres complHtes. Pierre et Jean. Paris: Conard 1929, S. IX. 145 Giovanni Verga: »L’amante di Gramigna«, In: ders.: Tutte le novelle. Hg. v. Carla Riccardi. Milano: Mondadori 1979, S. 202.
Literatur zwischen wissenschaftlicher Darstellung und subjektivem Blickwinkel
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bien convenu que l’artiste se place devant la nature, qu’il la copie en l’interpr8tant, qu’il est plus ou moins r8el selon ses yeux; en un mot, qu’il a pour mission de nous rendre les objets tels qu’il les voit, appuyant sur tel d8tail, cr8ant / nouveau. J’exprimerai toute ma pens8e en disant qu’une œuvre d’art est un coin de la cr8ation vu / travers un temp8rament.146
Das vorliegende Zitat beinhaltet drei wichtige Aussagen. Erstens die Beobachtung, dass das zu erzählende Objekt sichtbar und interessant gemacht werden muss, indem es ›vergrößert‹ wird und charakteristische Wesenszüge hervorgehoben werden, ein Vorgang, der an das Zeichnen von Karikaturen erinnert, nicht etwa an eine porträtierende Eins-zu-eins Wiedergabe. Zweitens sticht die Hervorhebung ins Auge, dass sowohl den Bedürfnissen der Realität, vor allem aber auch denen des Künstlers Rechnung getragen werden muss, dessen Instinkte nicht reglementiert werden dürfen. Dies führt wiederum drittens zu der Feststellung, dass der Künstler seinen Platz vor der Natur einnimmt, die er interpretierend kopiert und die er nur mehr oder minder reell vor Augen hat. Seine Mission ist es, unter Einbezug von dokumentierten Details etwas Neues zu kreieren, zu erfinden und im Kunstwerk einen Teil der Welt, gesehen und dargestellt durch sein Temperament, dem Betrachter oder Leser zugänglich zu machen. Zola formuliert das auch bezüglich Balzacs Meisterwerken, in denen »son imagination [celle de Balzac] s’est content8e de cr8er du vrai«.147 Das Subjektive als Filter vor der darzustellenden Natur ebenso wie die Phantasie oder Imagination, die für eine neue Kreation von Nöten sind, stehen hier zu jeder Zeit neben dem Anspruch der exakten Weltwiedergabe. Ähnlich stellt es Guy de Maupassant dar, der den Autor seinerzeit herkömmlicher Romane, die dem Leser durch außergewöhnliche Abenteuer gefallen oder rühren sollten, von dem realistischen oder naturalistischen Autor abgrenzt, der durch den persönlichen Blick auf die Welt selbige durch Reproduktion dem Leser kommunizieren will: Son but [celui du romancier qui veut donner une image exacte de la vie] n’est point de nous raconter une histoire, de nous amuser ou de nous attendrir, mais de nous forcer / penser, / comprendre le sens profond et cach8 des 8v8nements. A force d’avoir vu et m8dit8 il regarde l’univers, les choses, les faits et les hommes d’une certaine faÅon qui lui est propre et qui r8sulte de l’ensemble de ses observations r8fl8chies. C’est cette 146 Pmile Zola: »Mes haines«, In: ders.: Œuvres complHtes. T. I. Les d8buts 1858–1865. Hg. v. Henri Mitterand. Paris: Nouveau Monde Ed. 2002, S. 709–864, hier S. 834. Ähnlich formuliert Zola es in seinem Schreiben an ValabrHgue 1864: »Nous voyons la cr8ation, dans une œuvre, / travers un homme, / travers un temp8rament, une personnalit8. L’image qui se produit sur cet 8cran de nouvelle espHce est la reproduction des choses et des personnes plac8es au-del/, et cette reproduction qui ne saurait Þtre fidHle changera autant de fois qu’un nouvel 8cran viendra s’interposer entre notre œil et la cr8ation…« Ders. zitiert in Robert Abirached: »Pr8face«, In: Pmile Zola: Th8rHse Raquin. Paris: Gallimard 1979, S. 7–20, hier S. 11. 147 Zola 2004, S. 503, [Hervorhebung der Verfasserin].
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Der Januskopf des Realismus – Probleme und Vorüberlegungen
vision personnelle du monde qu’il cherche / nous communiquer en la reproduisant dans un livre.148
Es ist also herauszustellen, dass »Wirklichkeitsrepräsentation, wie immer sie sich auch konkretisieren mag, sich nicht auf die Realität als solche bezieht, sondern nur auf Vorstellungen von Wirklichkeit«,149 auf eine persönliche Vision und Sichtweise. Das war auch dem 19. Jahrhundert schon klar. Federico Bertoni stellt mit Blick auf Aussagen Flauberts und Maupassants heraus: »Siamo al punto in cui il paradigma dell’oggettivit/, fondamento epistemologico del realismo, incomincia a invertirsi e a scomporsi nel relativismo, nella soggettivit/ della percezione e nelle derive del ›temperamento‹«.150 Der unverfälschte Blick und die wissenschaftliche Objektivität standen demnach genauso wenig unreflektiert im Raum wie Phantasie und Imagination zugunsten dokumentarischer Arbeit ausgeschaltet wurden, im Gegenteil, beide, die an Wissenschaft orientierte Methode und die künstlerisch-subjektive Vorstellungskraft waren konstitutive Bestandteile und gingen Hand in Hand. Erkennbar ist das auch in Luigi Capuanas Aussage, die Wahrheitspflicht und Invention in einem Satz verschränkt: »Non ci sar/ mai n8 un romanziere naturalista, n8 un novelliere verista il quale abbia tanto coraggio da inventar nulla che rassomigli, da lontano, alle continue e terribili assurdit/ della vita reale.«151 Der realistische Autor als Künstler wird jedoch auch nie versuchen, lediglich eine Art Photographie der Wirklichkeit zu liefern, so Maupassant, sondern stets danach streben, eine vollständige, eine ergreifende, eine schlüssige Vision der Realität zu kreiren, die die Wirklichkeit in gewisser Weise sogar noch übertrifft:152 »Faire vrai consiste donc / donner l’illusion complHte du vrai, suivant la logique ordinaire des faits, et non / les transcrire servilement dans le pÞle-mÞle de leur succession«.153 Auch Capuana spricht von einer kondensierten und konzentrierten narrativen Darstellung und schließt mit den Worten: »Nella realt/ non H cos'; ed ecco in che modo l’arte riesce ad essere una natura piF elevata, piF purificata, idealizzata«.154 Stärker noch in seiner Kritik spricht Maupassant von »enfantillage«, wenn es darum geht, an eine allgemeingültige Realität zu glauben, »puisque nous portons chacun la nitre [realit8] dans notre pens8e et dans nos organes.«155 Ebenso 148 149 150 151 152 153 154 155
Maupassant 1929, S. XI. Nelting 2009, S. 239. Bertoni 2007, S. 254. Luigi Capuana: Per l’arte. Hg. v. Riccardo Scrivano. Napoli: Edizioni Scientifiche Italiane 1994, S. 36. Vgl. Maupassant 1929, S. XIV. Ebd. Luigi Capuana: Gli »ismi«contemporanei. Verismo, Simbolismo, Idealismo, Cosmopolitismo ed altri saggi di critica letteraria ed artistica. Hg. v. Giorgio Luti. Milano: Fratelli Fabbri 1973, S. 32. Maupassant 1929, S. XV.
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thematisiert er die Diversität und Disparatheit der Dinge, die automatisch dazu führe, dass der Künstler auswählen müsse, was er erzählen wolle und mit den Details und Charakteristika arbeite, die seinem Thema zuträglich seien.156 In Folge all dessen sei der realistische Künstler vielmehr als Illusionist zu bezeichnen.157 Dies sind Reflexionen, die jeden Vorwurf der Naivität von sich weisen und das künstlerisch imaginäre Moment realistischer Literatur stark fokussieren. In seiner als theoretisches Hauptwerk des französischen Naturalismus verstandenen Schrift Le roman exp8rimental wehrt sich Zola explizit gegen den Vorwurf rein photographischer Weltwiedergabe in seiner Literatur : Eh bien! avec l’application de la m8thode exp8rimentale au roman, toute querelle cesse. L’id8e d’exp8rience entra%ne avec elle l’id8e de modification. Nous partons bien des faits vrais, […]; mais pour montrer le m8canisme des faits, il faut que nous produisions et que nous dirigions les ph8nomHnes; c’est l/ notre part d’invention, de g8nie dans l’œuvre.158
Auch Capuana, der als wichtigster Theoretiker der italienischen Variante realistischen Schreibens im 19. Jahrhundert gehandelt wird, empört sich in seiner als Manifest des italienischen Verismus anzusehenden Schrift Per l’arte darüber, dass nicht nur das gemeine Volk, sondern auch die gebildetere Schicht annehme, dass nach und nach das Wissen, wie man einen Roman konstruiere, verloren gehe und die zeitgenössischen Autoren weniger Imagination und Phantasie verwendeten als etwa noch Dumas der Ältere und EugHne Sue. Der folgende Textausschnitt illustriert das eindrücklich: […] mi pare, scusate, una enormit/ inconcepibile. Dunque essi credono sul serio che lo Zola, il Verga e tutti gli altri non facciano che accozzare, riordinare alla meglio le loro osservazioni personali dirette, insomma una specie d’ignobile processo verbale di cui 156 Vgl. ebd. Zola spricht in einem Brief an Henry C8ard vom 22. März 1885 von Verknappungen und Verkürzungen und daher Vereinfachungen seines Germinal: »Chaque chapitre, chaque compartiment de la composition s’est trouv8 tellement resserr8 qu’il a fallu tout voir en raccourci. De l/, une simplification constante des personnages.« Siehe ders.: »Correspondance«, In: ders.: Œuvres complHtes. T. XII. Souffrance et r8volte 1884–1885. Hg. v. Henri Mitterand. Paris: Nouveau Monde Ed. 2005, S. 871–903, hier S. 895. 157 Maupassant 1929, S. XV. Bertoni arbeitet ähnliche Aussagen der alten Realisten heraus und bringt diese in Verbindung mit der Malerei. Er stellt fest: »Se davvero il realismo, nella coscienza stessa dei suoi interpreti, tende a diventare una forma di illusionismo verbale, si spiega ancor meglio quel predominio del modello pittorico cos& evidente nella letteratura ottocentesca, nel segno di un’arte che fonda appunto le sue credenziali mimetiche – lo abbiamo visto – in una riproduzione allusiva della realt/ empirica.« Ders. 2007, S. 247. Auch Barbara Vinken diskutiert die Romane und Erzählungen des 19. Jahrhunderts im Rahmen einer Medienkonkurrenz zwischen »Kunst oder Literatur, Bild oder Buchstabe«. Vgl. dies.: »Effekte des Realen: Bildmedien und Literatur im Realismus (G. Flaubert: L’Pducation sentimentale)«, In: Claudia Benthien / Brigitte Weingart [u. a.] [Hg.]: Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. De Gruyter 2014, S. 393–407, hier S. 397f. 158 Zola 2004, S. 328.
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spesso leggiamo anticipatamente i sunti, i frammenti, gli accenni nella spicciola cronaca cittadina dei giornali quotidiani? Dunque essi credono sul serio che per la rappresentazione cos' portentosamente viva dell’Assommoir e dei Malavoglia gli autori non abbiano dovuto adoperare, per lo meno, tanto sforzo di fantasia e d’immaginazione quanto il Dumas nel suo Mille e una notte francese da lui intitolato il Conte di Montecristo, o Eugenio Sue nelle complicate avventure dei suoi Misteri di Parigi? Dunque essi prendono gli scrittori cos' detti naturalisti o veristi proprio sulla parola, e pensano che i malaugurati documenti umani (la materia prima, la materia greggia delle nuove opere d’arte) siano assolutamente tutto, e che debba esser bastato allo Zola lo studiare e il prender delle note intorno all’alcoolismo degli operai parigini, e al Verga il vivere per qualche mese, durante la villeggiatura, fra i pescatori di Aci-Trezza, perch8 tutti e due abbian potuto poi scrivere la storia della Gervasia e del Coupeau, e i casi di Padron ’Ntoni e di tutta la famiglia dei Malavoglia? Andiamo, via! Non la mando giF!159
Auch wenn Capuana den Künstler und Schriftsteller als »scienzato« betrachtet, so macht er doch danach sofort einen Schritt zurück und spricht vom »scienzato dimezzato«, der gegenüber dem tatsächlichen Wissenschaftler im Nachteil sei.160 Letzterer könne nach seiner Entdeckung und Erfindung des Neuen die durchgeführte Prozedur beliebig oft wiederholen und zweckgebunden einsetzen, da sie außerhalb von ihm stattfinde: »Il suo fatto avviene fuori di lui; H il suo schiavo.«161 Der Künstler und Schriftsteller hingegen investiere sein Blut und seinen Geist in sein Werk. Über Blut und Geist schlage sich dann die »riflessione positiva« im Kunstwerk nieder. Nichtsdestotrotz bleiben, so Capuana, Phantasie und Imagination zu jeder Zeit die wichtigsten Komponenten der Literatur, in seinen Worten: »Vuol forse dire intanto che l’opera d’arte moderna non sia piF un’opera d’arte? No. La fantasia, l’immaginazione rimangono, come prima, i sostanziali elementi d’essa; se non che si combinano un po’ diversamente.«162 Irene Albers stellt in Bezug auf Zola fest, dass der Autor der mortifizierenden realistischen Reproduktion des Wahren überhaupt erst ein Eigenleben gebe. Es gehe dabei nicht allein um die Kreation im Sinne imaginativer Schöpfung, sondern in romantischer Tradition um die Kreation von Leben aus toter Materie, um die Imitation des Schöpfers durch den Künstler,163 eine Aussage, die auch für die anderen Autoren der Realismen des 19. Jahrhunderts anzunehmen ist. Zola formuliert schließlich selbst, was für Literatur strictu senso, für den Schrift-
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Capuana 1994, S. 42. Ebd., S. 44f. Ebd., S. 45. Ebd., S. 43. Wenig später führt er weiter aus: »Per rappresentare, per fare del vivo, ci vogliono sempre quelle due divine faccolt/: la fantasia, l’immaginazione, che potrebbe anche darsi un’identica cosa.« Vgl. ebd., S. 45. 163 Vgl. Irene Albers: Sehen und Wissen. Das Photographische im Romanwerk Pmile Zolas. München: Fink 2002, S. 102.
Literatur zwischen wissenschaftlicher Darstellung und subjektivem Blickwinkel
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steller, gemeinhin gilt: »Nous mentons tous plus ou moins«,164 schreibt er an Henry C8ard am 22. März 1885 und er führt weiter aus: »Or […] je crois encore que je mens pour mon compte dans le sens de la v8rit8. J’ai l’hypertrophie du d8tail vrai, le saut dans les 8toiles sur le tremplin de l’observation exacte. La v8rit8 monte d’un coup d’aile jusqu’au symbole«.165 Der angenommene Konflikt, das Paradox des Realismus, lässt sich also in sich aufheben, wenn man – heute wie damals – den realistischen Autoren zugesteht, sich der Subjektivität ihres Blicks auf die Welt wie der Medialität von Sprache und somit des Umstands, dass »die Wiedergabe der Realität niemals nur Mimesis, sondern auch Poiesis bedeutet«,166 bewusst zu sein und ihnen in ihrer Literatur, bei aller wirklichkeitserzeugenden Illusion, nicht die Literarizität abspricht. Warning führt in seinem Band Die Phantasie der Realisten etwas zusammen, was tatsächlich ursprünglich sehr wohl zusammengehört hat; etwas, das nicht nur möglich, sondern sogar nötig war beziehungsweise ist. Ganz richtig bemerkt er, dass alle Realisten mit der Romantik großgeworden sind, deren wesentliche Vorgaben nicht nur die »Totalität des Dargestellten und seine Geschichtlichkeit, sondern eben auch seine imaginäre Durchdringung« sind. Und weiter stellt er fest: Der Realismus mag romantische Totalität aus christlichen Konnotationen lösen und in perspektivische Vielfalt auffächern, er mag den Vergangenheitsbezug romantischer Geschichtsdarstellung ersetzen durch einen Gegenwartsbezug, er mag die Fiktionsschwelle senken bis hin zu dem Punkt, da die dargestellte Welt sich als metonymische Verlängerung der Erfahrungswirklichkeit präsentiert – all dies ändert nichts daran, daß auch er dem Imaginären Raum gibt.167
Die meisten Vertreter realistischen Schreibens würden ihm wohl zustimmen, sich aber über die späte Erkenntnis wundern. Gabrielle Chamarat und PierreJean Dufief weisen in der »Pr8sentation« des Bandes Le R8alisme et ses paradoxes darauf hin, dass man bereits vor 1845 von der »fantaisie r8aliste« gesprochen hat.168 Was in der letztendlichen Benennung der künstlerischen Strömungen des Realismus anklingt – das ist hervorzuheben – ist die Zielintention der Wirkung der Darstellung, es ist der erwünschte Effekt, der benannt wird.169 Die imma164 165 166 167 168
Zola 2005, S. 895. Ebd. Albers 2002, S. 104. Warning 1999, S. 33. Vgl.: Gabrielle Chamarat / Pierre-Jean Dufief: Le R8alisme et ses paradoxes (1850–1900). M8langes offerts / Jean-Louis CabanHs. Paris: Garnier 2014, S. 15. 169 Hier ist nicht der Realitätseffekt im Sinne Roland Barthes gemeint, sondern das Gesamtergebnis, das sich natürlich aber aus eben diesen Details, die Realität evozieren, zusammensetzt.
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Der Januskopf des Realismus – Probleme und Vorüberlegungen
nente Illusion und Subjektivität wurden nie bestritten; sie scheinen nur zum Teil in der Rezeption in den Hintergrund geraten und damit der Vergessenheit anheimgegeben worden zu sein. Und so kann man unter Berücksichtigung zuvor gemachter Überlegungen Nelting recht geben, wenn er konstatiert, dass die Frage nach dem Realismus – jenseits kurzschlüssiger Widerspiegelungskonzepte – nach wie vor den poetologischen Kern der weitesten Bereiche der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen imstande ist.170 Ebenso kann die Bezeichnung für heutige neue Varianten durchaus als Referenz dienen. Die einseitige Rezeption des janusgesichtigen Realismus, der von jeher scheinbare Gegensätze vereint, mag an den Mitteln liegen, derer sich selbiger in seiner künstlerischen Darstellung bedient, um die Illusion von Wirklichkeit zu erzeugen. Neben detailreichen Beschreibungen, denen nach Barthes die Bezeichnung des effet de r8el zugeschrieben wird, ist das vor allem das absolute Zurücktreten der Erzählinstanz, also einer Komponente, die Subjektivität ins Werk einbringen und sichtbar machen würde. So schreibt Flaubert an Louise Colet im Dezember 1952: »L’auteur, dans son œuvre, doit Þtre comme Dieu dans l’univers, pr8sent partout, et visible nulle part.«171 Ähnlich drückt Zola es aus: Le romancier affecte de dispara%tre complHtement derriHre l’action qu’il raconte. Il est le metteur en scHne cach8 du drame. Jamais il ne se montre au bout d’une phrase. On ne l’entend ni rire ni pleurer avec ses personnages, pas plus qu’il ne se permet de juger leurs actes. […] Quant au romancier, il se tient / l’8cart, surtout par un motif d’art, pour laisser / son œuvre son unit8 impersonnelle, son caractHre de procHs-verbal 8crit / jamais sur le marbre.172
Besonders griffig arbeitet wiederum Maupassant das Paradox des Realismus im 19. Jahrhundert heraus. Während es immer wir sind, die im Körper des dargestellten Königs, des Mörders, des Räubers, des Gentlemans oder des Freudenmädchens stecken, indem wir die Persönlichkeit hinsichtlich Alter, Geschlecht und sozialer Situation anpassen – so schreibt er – ist es nötig, den Leser dieses persönliche Ich nicht erkennen zu lassen: »L’adresse consiste / ne pas laisser reconna%tre ce moi par le lecteur sous tous les masques divers qui nous servent / le cacher.«173 Verga formuliert sowohl die Objektivitätsillusion durch das Fehlen einer subjektiven Erzählinstanz wie auch die perfektionierte Kreation durch Imagination, die an die Natur zumindest heranreicht, folgendermaßen: 170 Vgl. Nelting 2009, S. 238. 171 Gustav Flaubert: Correspondance II (juillet 1851 – d8cembre 1858). Paris: Gallimard 1980, S. 204. Exakt diesen Satz wiederholt Flaubert fünf Jahre später in einem Schreiben an Mademoiselle Leroyer de Chantepie mit Bezug auf sein Werk Madame Bovary. Vgl. ebd., S. 691. 172 Zola 2004, S. 504. 173 Maupassant 1929, S. XIXf.
Literatur zwischen wissenschaftlicher Darstellung und subjektivem Blickwinkel
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Intanto io credo che il trionfo del romanzo […] si raggiunger/ allorch8 l’affinit/ e la coesione di ogni sua parte sar/ cos' completa che il processo della creazione rimarr/ un mistero, come lo svolgersi delle passioni umane; e che l’armonia delle sue forme sar/ cos' perfetta, la sincerit/ della sua realt/ cos' evidente, il suo modo e la sua ragione di essere cos' necessarie, che la mano dell’artista rimarr/ assolutamente invisibile, e il romanzo avr/ l’impronta dell’avvenimento reale, e l’opera d’arte sembrer/ essersi fatta da s8, aver maturato ed esser sorta spontanea come un fatto naturale, senza serbare alcun punto di contatto col suo autore;174
Diese narrativen Darstellungsmittel realistischen Schreibens im 19. Jahrhundert, die eine pseudoobjektive Illusion anstreben, mögen zu der Annahme geführt haben, dass die Autoren tatsächlich an ein hundertprozentiges Widerspiegelungskonzept in der Literatur glaubten. Setzt man den Zieleffekt mit dem Weg dorthin gleich, so wird immer eine gewisse Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis bestehen, ein Umstand, den Capuana in seinem Werk Gli »ismi« contemporanei herausarbeitet und als Transgression offenlegt. Häufig sei das, was an einem Buch gefalle, dass Wiederentdecken von Gefühlen tatsächlicher Personen, die hervorragend nachgezeichnet seien, ma ritrovando invece dentro quella scrittura, fra quelle righe qualche cosa di noi, qualche cosa che H in noi come H anche nelle persone finte dello scrittore, qualche cosa anzi che H in noi ed H anche nello scrittore. E di tutti i libri oggettivi, ontologici, positivisti del Verga, dello Zola, del Bourget, dell’Hervieu, […] per una fatale incosciente trasgressione alle loro teorie pseudoscientifiche, essi avranno messo un po’ d’anima loro.175
Während also der in ihrer Wissenschaftlichkeit vom Positivismus geprägten Literatur des 19. Jahrhunderts nichtsdestotrotz von Beginn an Phantasie, Imagination und Transgression eingeschrieben sind, entsteht der Realismus des 20. Jahrhunderts unter anderen Vorzeichen. Und doch muss er sich ähnlichen Problemen stellen. Michael Cassac spricht im Vorwort des von ihm herausgegebenen Sammelbandes Litt8rature et cin8ma n8or8alistes davon, dass die Poetik der extremen Kontiguität mit dem Realen, die das Wort und das Bild als Beweis anführen wolle, manipulative Werke hervorbringe »comme toutes les œuvres / leur maniHre.«176 Wie sich dieses erneute Aufbrechen realistischen Schreibens zu Kriegsende und in der Nachkriegszeit zeigt, soll im Folgenden nachgezeichnet werden.
174 Verga 1979, S. 203. 175 Capuana 1973, S. 27. 176 Vgl. Michael Cassac: »Introduction«, In: ders.: Litt8rature et cin8ma n8orealistes. R8alisme, r8el et repr8sentation. Paris [u. a.]: L’Harmattan 2006, S. 9–19, S. 14.
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2.2
Der Januskopf des Realismus – Probleme und Vorüberlegungen
Realismen im italienischen Novecento zwischen Erlebnis, Zeugnis und Widerstand
In der italienischen Moderne des 20. Jahrhunderts avanciert »historische Referenz aufs Neue zu einem Hauptanliegen fiktionaler Narration«.177 Nicht vorrangig eine Entwicklung im wissenschaftlichen Bereich oder eine Strömung der Philosophie begründet jedoch das Aufkommen neuen realistischen Schreibens, sondern hauptsächlich der Zweite Weltkrieg mit seinen Folgen: »ð solo nel 1941, dopo l’entrata in guerra dell’Italia e il riaprirsi di una nuova crisi di consenso nei confronti del fascismo, che la sinistra italian [sic] rialzer/ la testa. E il dibattito sul realismo potr# ricominciare.«178 Es sind verstärkt ethische und politische Interessen, die im Kreise der italienischen Resistenza aufkommen, die die Bewegung ins Leben rufen.179 Es geht um »unmittelbar menschliches Erleben« und damit »gewinnt das konkrete Erlebnis- und Erfahrungssubstrat ganz besondere referentielle Qualität«.180 Der Begriff neorealismo taucht jedoch bereits kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs auf und etikettiert den Roman RubH von Giuseppe Antonio Borgese, der zusammen mit Carlo Bernari, Alberto Moravia, Vasco Pratolini, Ignazio Silone und Elio Vittorini zu den Vorläufern beziehungsweise der frühen Generation neuer realistischer Schriftsteller gezählt wird.181 Zur Kerngruppe neorealistischen Schreibens gehören Cesare Pavese, Beppe Fenoglio sowie Carlo Levi. Weitere bedeutende Autoren realistischen Schreibens dieser Zeit sind Primo Levi, Italo Calvino mit seinem Erstlingswerk Il sentiero dei nidi di ragno
177 David Nelting: »Im Nebel der Geschichte: Erfahrung und Referenz im italienischen Neorealismus (Italo Calvino, Beppe Fenoglio)«, In: Axel Rüth / Michael Schwarze [Hg.]: Erfahrung und Referenz. Erzählte Geschichte im 20. Jahrhundert. Paderborn: Fink 2016, S. 109–126, hier S. 109. 178 Roberto M. Dainotto: »Documento, realismo e reale«, In: Antonio Vitti [Hg.]: Ripensare il neorealismo: cinema, letteratura e mondo. Pesaro: Metauro 2008, S. 99–119, hier S. 110. 179 Vgl. Giorgio Luti: »Le d8bat sur le n8or8alisme dans les revues litt8raires de l’aprHs-guerre«, In : Michael Cassac [Hg.]: Litt8rature et cin8ma n8orealistes. R8alisme, R8el et Repr8sentation. Paris [u. a.]: L’Harmattan 2006, S. 21–44, hier S. 22. Es soll hiermit nicht gesagt werden, dass nicht auch im 19. Jahrhundert bereits ein ethisches oder politisches Anliegen zu verzeichnen war. Hier jedoch steht es vermehrt im Mittelpunkt. 180 Nelting 2016, S. 110. 181 Vgl. Antonio Vitti: »Ripensare il neorealismo: cinema, letteratura e mondo«, In: ders. [Hg.]: Ripensare il neorealismo: cinema, letteratura e mondo. Pesaro: Metauro 2008, S. 9– 15, hier S. 9. Luigi Fontanella veranschlagt eine frühe Verwendung des Begriffs für Gli indifferenti von Alberto Moravia und Gente in Aspromonte von Corrado Alvaro. Vgl. ders.: »Neorealismo e neorealismi italiani: alcuni appunti«, In: Antonio Vitti [Hg.]: Ripensare il neorealismo: cinema, letteratura e mondo. Pesaro: Metauro 2008, S. 127–131, hier S. 128. Auch Raffaele Cavaluzzi nimmt diese Vorläufer an. Vgl. ders.: »Neorealismo: Dimensioni spazio culturali di un’utopia della realt/«, Italianistica 31 (2002), S. 71–75, hier S. 71.
Realismen im italienischen Novecento zwischen Erlebnis, Zeugnis und Widerstand
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sowie Pier Paolo Pasolinis frühe Romane, die jedoch eine gewisse Sonderstellung einnehmen.182 Schreibanlass im Neorealismus sind in der Regel Widerstand, Verarbeitung des unbegreiflichen Ereignisses des Krieges und dessen Folgen sowie das besondere Bedürfnis, eine italienische Identität zu konstruieren und zu stabilisieren.183 Einige Werke sind im Kontext dieser neu zu schaffenden Einheit wiederum bemüht, den ärmlichen Süden des Landes zu erzählen, ein Thema, das während des Faschismus zurückgedrängt worden war. So blühen meridionalistische Darstellungen wieder auf, zum Beispiel in den Werken Ignazio Silones, Elio Vittorinis, Carlo Levis oder Rocco Scotellaros, die die Kriegsgeschehnisse im Verhältnis eher peripher betrachten.184 Das neorealistische Zusammenspiel verschiedener Stimmen kam in einer vielfachen Entdeckung der diversen ›Italien‹, die einander so nicht kannten, zustande.185 Die Resistenza, so Calvino, verschweißt Land und Leute und macht das Entstehen seines Erstlingsromans Il sentiero dei nidi di ragno, der die Zeit des italienischen Widerstands aus der kindlichen Perspektive des Protagonisten Pin wiedergibt, möglich. In seinem Vorwort formuliert er : »Lo scenario quotidiano di tutta la mia vita era diventato interamente straordinario e romanzesco«.186 Das Leben dieser Zeit wird sozusagen zur Fabel und diese wiederum im Roman verarbeitet, ein Umstand, der für verschiedene Autoren zutreffen mag. Bei Calvino aber schlägt sich das ›Fabel‹hafte in besonderer Form im Schreiben nieder, das bei allem realistischen Anspruch stets ein gewisses märchenhaft-phantastisches Substrat mit sich führt.187 182 Eine Periodisierung des neorealismo nimmt Romano Luperini vor. Er spricht von einem »realismo politico all’interno del ›nuovo realismo‹« mit Bezug auf die Werke der 30er Jahre, von einem »realismo mitico-simbolico«, der sich an den rezenten Dramen der italienischen Geschichte inspiriert in Bezug auf die Schriften von 1940–48, und von einem »realismo socialista« in den Jahren 1949–55. Siehe dazu ders.: L’autocoscienza del moderno. Napoli: Liguore 2006, Kap. 4. »Il neorealismo: riflettendo sulle date«, S. 53–63, hier besonders S. 63. Auf einige Eigenschaften des realistischen Schreibens Pasolinis wird in den Kapiteln 4.4 sowie 6.3 der vorliegenden Arbeit noch einmal eingegangen. 183 Zur Verbindung zwischen Literatur und nationaler Identität vgl. Luperini 2006, Kap. 3 »Letteratura e identit/ nazionale«, S. 35–52, hier besonders S. 41. 184 Eine umfassendere Analyse dazu wird es auch mit Blick auf jüngere Entwicklungen im Kapitel 5 der vorliegenden Arbeit geben. 185 Italo Calvino: »Presentazione«, In: ders.: Il sentiero dei nidi di ragno. Milano: Mondadori 1993, S. V–XXV, hier S. VIII. 186 Ebd., S. IX. 187 In Il sentiero dei nidi di ragno mag das auch der Jugendlichkeit des Protagonisten geschuldet sein. Ganz allgemein aber stellt Salvatore Battaglia fest: »Il realismo per Calvino H un punto di partenza per un diverso traguardo. ð necessario e indispensabile, per la sua struttura mentale e stilistica, ma non gli H sufficiente. Egli ha bisogno di partire da una pista ferma e solida; ma H come una rincorsa per favorire lo slancio dell’immaginazione. Questo rapporto fra l’avvio realistico dell’azione narrativa e il suo trasferimento nel piano della
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Formal sind die Werke häufig über die verschiedenen dialektalen Varianten und Jargons verbunden, die in die Texte eingeflochten wurden und ohne die der neorealismo nicht möglich gewesen wäre.188 Sprache, Stil und Rhythmus spielen eine Schlüsselrolle im Neorealismus, der sich einerseits vom Verismus und Naturalismus abgrenzen will, andrerseits aber durchaus ähnliche darstellerische Ziele verfolgt: »la rappresentazione immediata, oggettiva, come linguaggio e come immagini.«189 Auch hier wird von Calvino sofort wieder eine Gegentendenz gesetzt, wenn er sich zu der Darstellung von Figuren äußert, die sich folgendermaßen auszeichnet: »tratti esasperati e grotteschi, smorfie contorte, oscuri drammi visceral-collettivi.« Der Expressionismus, den die italienische Literatur nach dem Ersten Weltkrieg verpasst habe, trete hier nun zutage. Der wahre Name des Neorealismus müsse daher wohl fast eher Neo-Expressionismus sein.190 In Bezug auf seinen Sentiero schreibt Calvino: Le deformazioni della lente espressionistica si proiettano in questo libro sui volti che erano stati i miei cari compagni. Mi studiavo di renderli contraffatti, irriconoscibili, »negativi«, perch8 solo nella »negativit/« trovavo un senso poetico. E nello stesso tempo provavo rimorso, verso la realt/ tanto piF variegata e calda e indefinibile, verso le persone vere, che conoscevo come tanto umanamente piF ricche e migliori, un rimorso che mi sarei portato dietro per anni.191
Erneut begegnet man dem Janusgesicht des Realismus, der sich immer in zwei Richtungen orientiert und zwischen Anspruch auf wirklichkeitsnahe Darstellung und subjektivem Künstlertum oszilliert. Daher mag es verwundern, dass dem Neorealismus häufig eine Art Kontenutismus unterstellt wird, der das künstlerisch-sprachliche Ansinnen in den Hintergrund treten lässt.192 Generell steht die auf Inhaltsebene angestrebte Realität in der Kritik. Vittoria Borsk sieht die Problematik der Nachkriegszeit darin, dass durch die Katastrophen des Zweiten Weltkrieges »die Wirklichkeit kein verbürgtes Konzept« mehr hat, was sich auch in der Literatur niederschlägt: »die Welt erscheint undurchdringlich«. Gerade aber in undurchdringlichen Formen der Darstellung
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fantasia, H una delle costanti piF personali di Calvino e forse la piF produttiva«. Ders. I facsimili della realt/. Palermo: Sellerio 1991, S. 227. Calvino 1993, S. VIII. Ebd., S. X. Ebd., S. XI. Ebd. Fontanella zum Beispiel schreibt: »La letteratura – in particolare la narrativa – s’incanalava nella cronaca nuda e diretta della realt/, vista e presentata nei suoi risvolti piF duri e dolorosi, nella convinzione che i fatti presentati avessero in se stessi una loro forza estetica senza la mediazione d’una forma letteraria precostituita. Naturalmente quest’ultimo aspetto avrebbe rappresentato, per alcuni critici, anche il lato piF vulnerabile del neorealismo, secondo i quali mancava l’elaborazione teorica d’una vera progettazione linguistica e stilistica.« Ders 2008, S. 128.
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sehen Schriftsteller wie Italo Calvino, Elio Vittorini und Cesare Pavese die »Möglichkeit, nahe an einem Realen zu sein, das nunmehr fremd geworden ist.«193 Das Problem ist wieder die epistemische Instabilität des Referenzbegriffs der ›Realität‹.194 Bezüglich dieses fremden Realen schreibt Borsk weiter, dass der Neorealismus zu einem Kompromiss mit der Wirklichkeit gekommen sei, er arbeite nämlich an der Wahrnehmung des Mediums, an der Visualität, weswegen der Weg zum Realen auch zu einer Ästhetik führe.195 Cassac sieht in der Bewegung das Zusammenlaufen der verschiedenen sozialen Optionen, Ideologien und Ästhetiken in einem neuen Bewusstsein von Wirklichkeit, das sich in die semiotische Literatur und das Kino der Nachkriegsliteratur einschreibt.196 Das Ziel des Ganzen: eine neue Sichtbarkeit. Es geht also primär, so Borsk, nicht um die Darstellung der Realität, sondern um deren Wahrnehmung.197 Nelting entdeckt etwa in Calvinos Poetik erzählter Erfahrung eine Art ›Medialisierung‹ der Erkenntnis sowie Erfahrung und deren Darstellung, da der Autor in Lektüre und tatsächlicher Lebenserfahrung nicht zwei, sondern ein ›Universum‹ sehe und jede Erfahrung an einen erlesenen Wissenshorizont rückkopple. Calvino löse sich damit »auf ganz entscheidende Weise vom einlinigen Bezug auf das Erleben historischer Faktizität«.198 Tatsächlich ist diese Beobachtung von Interesse, wenn auch nicht, um eine Ausbettung des frühen Calvinos aus dem realistischen Schreiben vorzunehmen, sondern vielmehr mit Blick auf eine Verbindung zwischen medialer Rezeption und literarischer Darstellung von Realität, die in der vorliegenden Arbeit als zusammenhängend und einander befruchtend verstanden werden.199 Eine ganz spezifische Art der Wahrnehmung der Ereignisse wird sichtbar, wenn nicht allein die ›außen‹ wirkende Resistenza zu Wort kommt, sondern die direkten Opfer des Holocaust. Es kommt hier das Element der Zeugenschaft, der testimonianza, festgehalten in Form autobiographischen Schreibens ins Spiel, das der allgemein als problematisch empfundenen Darstellbarkeit von Wirk193 Vittoria Borsk: »Materialität und Unbestimmtheit(en). Offenheit zum Leben«, In: Claudia Öhlschläger [Hg.]: Realismus nach den europäischen Avantgarden: Ästhetik, Poetologie und Kognition in Film und Literatur der Nachkriegszeit. Bielefeld: Transcript 2012, S. 261– 289, hier S. 263f. 194 Vgl. Bertoni 2007, S. 301. 195 Vgl. Borsk 2012, S. 264f. Hier sieht Borsk auch die immer wieder diskutierte Nähe zwischen Kino und Literatur im neorealismo begründet. 196 Vgl. Cassac 2006, S. 10. 197 Vgl. Borsk 2012, S. 264f. 198 Vgl. Nelting 2016, S. 113. Er bezieht sich auf folgende Aussage Calvinos: »Le letture e l’esperienza di vita non sono due universi ma uno. Ogni esperienza di vita per essere interpretata chiama certe letture e si fonde con esse.« Calvino 1993, S. XVI. 199 Vgl. dazu die theoretischen Ausführungen in Kap. 3.3 sowie weiterführende theoretische Gedanken wie die Analyse jüngerer praktischer Umsetzungen in Kapitel 6.3.4 der vorliegenden Arbeit.
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Der Januskopf des Realismus – Probleme und Vorüberlegungen
lichkeit, die hier allein formal ein ›subjektives‹ Gesicht erhält, noch das Problem der Erinnerung eines Einzelnen hinzufügt. Brigitta Elisa Simbürger fasst zusammen, dass in der Forschung darüber Einvernehmen bestehe, dass, was vom Holocaust erinnert werde, davon abhängig sei, wie es erinnert werde. Weitgehend herrsche Konsens darüber, dass für autobiographische Holocaust-Literatur die gleichen Parameter gelten wie für jede autobiographische Literatur. Das Erlebte sei unwiederholbar vergangen und damit nicht mimetisch abzubilden oder faktengetreu wiederzugeben, da Erinnerung per se immer an Sprache gekoppelt sei.200 Ob dem nun so ist, kann an dieser Stelle weder verifiziert noch negiert werden, doch sicher ist, dass eine derartige Literatur funktioniert und Schule gemacht hat.201 Primo Levis Werk Se questo H un uomo, das die einjährige Ausschwitzerfahrung des Autors aufzeichnet, ist sicher das prominenteste Beispiel in dieser Kategorie aus dem italienischen 20. Jahrhundert. Das Schreiben bedeutet hier nicht nur Aufarbeitung der Zeit, sondern wird zum Überlebensziel. Der Wille, Zeugnis abzulegen und die eigene Geschichte offenzulegen wird zum Motor von Leben und Literatur : Il bisogno di raccontare agli »altri«, di fare gli »altri« partecipi, aveva assunto fra noi [i sopravvissuti], prima della liberazione e dopo, il carattere di un impulso immediato e violento, tanto da rivaleggiare con gli altri bisogni elementari; il libro [Se questo H un uomo] H stato scritto per soddisfare a questo bisogno; in primo luogo quindi a scopo di liberazione interiore.202
Levi sticht aus der eigentlichen neorealistischen Bewegung heraus, vielleicht weil, so formuliert es Mladen Machiedo in einem Interview, sein »documentarismo oggettivo non si conformava al romanticismo della Resistenza«.203 Zudem kommt hier eine fast als kommunikativ zu wertende Komponente mit ins Spiel, da die Anderen, (»gli ›altri‹«), neben der autobiographisch erzählenden Instanz, eine prominente Rolle einnehmen. Hier wird die Heterogenität der Literatur der Nachkriegszeit sichtbar, die den Fächer von ›expressionistisch-romantischem‹ Realismus zu subjektiver Autobiographie im Zeugenmodus aufspannt. In jedem Fall wird die Literatur der Zeit in der Rezeption als neue realistische Bewegung 200 Brigitta Elisa Simbürger: Faktizität und Fiktionalität: Autobiografische Schriften zur Shoa. Berlin: Metropol Verlag 2009, S. 61. 201 Die Erfolgsgeschichte des Werks begann zeitverzögert. Zunächst wurde es vom Verlag Einaudi sogar abgelehnt und erschien in nur geringer Auflage (2500 Exemplare) bei De Silva. Eine zweite Auflage wurde zunächst verweigert. Erst 1955 fand Levi bei Einaudi Gehör, der sich im Rahmen einer Ausstellung zur Deportation für das Werk interessierte. Heute hat das Buch die Auflage von einer halben Million überschritten. Vgl.: Marco Belpoliti: »Anmerkung zur Rezeptionsgeschichte von Ist das ein Mensch?«, In: ders. [Hg.]: Primo Levi. Gespräche und Interviews. München / Wien: Hanser 1999, S. 87–94, hier S. 87ff. 202 Primo Levi: Se questo H un uomo. Torino: Einaudi 1976, S. 8. 203 Mladen Machiedo: »La parola sopravviver/. Intervista a Primo Levi« (traduzione di Sanja Roic´), Italianistica ultraiectina 8 (2014), S. 247–252, hier S. 49.
Realismen im italienischen Novecento zwischen Erlebnis, Zeugnis und Widerstand
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wahrgenommen. Diese Bewegung konzentriert sich in einer divulgatorischen Kraft und der Wiederentdeckung der alltäglichen Realität, die sich menschengerecht und kritisch gegenüber der Literatur der »prosa d’arte«204 und einer Poetik der Absenz von Geschichte präsentiert.205 Der Krieg und die Nachkriegszeit zwingen den Literaten in irgendeiner Form Stellung zu beziehen.206 Roberto Dainotto spricht davon, dass es einen Moment gegeben habe, in dem das Wort »dopoguerra« schon in sich die neue Bedeutung von »impegno di guerra partigiana« in sich getragen habe.207 Der Intellektuelle muss aus seinem bequemen Unterschlupf hervorkommen, in den ihn der korporatistische Faschismus verbannt hat. So könnte man in einer knappen Zusammenfassung sagen, dass der Neorealismus der 40er und 50er Jahre einem diffusen Wiedererwachen bürgerlicher Courage, einem Gemütszustand, der die Intellektuellen des Landes verband, glich.208 Besonders in dieser Tradition wird Pier Paolo Pasolini interessant, der sich als Literat wie Intellektueller einen Namen gemacht hat. Von Anbeginn seines Schaffens, das zwischen Kunst und cronaca oszilliert, ist er eine der kontroversesten Figuren der italienischen Literatur. Bewusst provokativ mischt er sich in die Brennpunktthemen seiner Zeit ein und wird schließlich zum corsaro.209 Pasolini literarisch einzuordnen ist schwierig. Seine Ragazzi di vita (1955) werden häufig als Höhe- und Endpunkt neorealistischen Schaffens betrachtet. Das Werk, das durch Thema, Struktur und vor allem durch die Sprache210 realistische Unmittelbarkeit evozieren will, kann in seiner einer-
204 Bei der prosa d’arte oder Kunstprosa handelt es sich um eine literarische Kurzform in Prosa, die in Überwindung und Absetzung des frammentismo vociano (Zeitschrift La Voce, 1909– 1916) durch die heterogene Gruppe der rondisti (Zeitschrift La Ronda, 1919–1923) entstanden ist. Die prosa d’arte ist ein polemischer Aufruf zur Ordnung (»ritorno all’ordine«), der sich gegen die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts richtet, in einer Zeit, die vom Chaos beherrscht war. Sie ist stark an einen Klassizismus angelehnt, der in Leopardi und Manzoni seine Vorbilder sieht. Im Hinblick auf die Form strebt sie Geschlossenheit und auf Sprache Perfektion an. Thematisch bewegt sich diese Kunstprosa in einem improvisierten und gezielt nicht autobiografischen Bereich, der intellektuelle Exkurse in essayistischer Form zu städtischen oder ländlichen Orten zulässt, die an eine Darstellung der Moral von Menschen, Dingen oder Tieren gebunden sind. Vgl. dazu Carla Gubert: Un Mondo di cartone. Nascita e poetica della prosa d’arte nel Novecento. Fossombrone (Pesaro): Metauro 2003, S. 22ff. 205 Vgl. Vitti 2008, S. 12. 206 Vgl. ebd. 207 Vgl. Dainotto 2008, S. 99f. 208 Vgl. Fontanella 2008, S. 129. 209 Die wichtigsten der gesellschafts- und literaturkritischen Schriften sowie politischen Texte, die Pasolini in den 70er Jahren für den Corriere della Sera geschrieben hat, wurden postum in dem Band Scritti corsari zusammengefügt und veröffentlicht. 210 Besonders die sprachliche Reproduktion, die eher als Produktion zu sehen ist, ist in Pasolinis Werk augenfällig. Mit Miriam Swennen kann man hier von einer »illusione linguistica« sprechen, die der gebürtig bürgerliche Norditaliener hier kreiert. Vgl. dies.: »Il
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Der Januskopf des Realismus – Probleme und Vorüberlegungen
seits simplen, andererseits nahezu manieristisch-symbolistischen Darstellung der Jungen aus dem Subproletariat, die in einem Zustand jenseits von Gut und Böse existierten, als Grenzwerk zwischen zwei Epochen gesehen werden. Pasolini geht mit dem eigentlichen Neorealismus hart ins Gericht. Hinter diesem habe keine Erkenntnisform gesteckt, sondern reiner Praktizismus im sozialen und dokumentarischen Streben: »non c’H un’idea della realt/, ma solo un suo semplice gusto.«211 Er selbst geht von einer Literatur und allgemein von einer Kunst aus, die nicht nur darstellen, sondern auch verändern kann.212 Für ihn ist, mehr in der Linie des Aristoteles als Platons, Mimesis ein performativer Akt des Einfühlens in Andere, der sich von einem rein repräsentativen Realismus abheben will. Für Pasolini steht die körperliche Teilhabe an der physischen, sensuellen Welt im Vordergrund.213 Emanuela Patti spricht von einer »doppia natura di auctor / actor [che] sintetizzava inoltre quel rapporto dialettico ricercato dallo scrittore impegnato del dopoguerra, conteso […] tra teoria e prassi, tra ruolo trascendentale e partecipazione fisica nella realt/«.214 Joseph Francese fasst den Kern von Pasolinis Werk in seiner bewussten Abweichung von der ›Norm‹ folgendermaßen zusammen: In modo abbastanza conseguente, si attacck violentemente al valore d’uso della propria arte, […]. Dunque, per Pasolini il nodo da sciogliere consisteva nel proporre e nel realizzare un’arte n8 realistica n8 nonrealistica, un’arte che fosse un’innovazione del codice linguistico e nel contempo refrattaria alla susseguente integrazione con esso […]. A Pasolini era necessario creare opere d’arte innovative e nel medesimo tempo rifiutare qualsiasi integrazione nell’ideologia dominante.215
Es ist also zu konstatieren, dass – mag Realismus auch aus unterschiedlichen Situationen erwachsen – immer etwas zu untersuchen, zu klären oder ans Licht zu bringen, zu verstehen und dann in künstlerischer Form dem Rezipienten zu kommunizieren ist, sei es durch literarische Studien, reproduzierende Aufarbeitung von Erlebnissen oder gar Widerstand. Vor allem die Wahrnehmung von Wirklichkeit und Wiedergabe der Realität, die spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg – mehr noch als zu Beginn des Jahrhunderts bereits angedeutet – in ihrer Einheit zu zerbrechen beginnt, sind dabei wichtige Komponenten, die in ihrem Anspruch jedoch nie absolut gesetzt werden und werden dürfen. Ihre
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realismo poetico di Pier Paolo Pasolini: Ragazzi di vita«, Carte italiane 1/4 (1983), S. 37–52, hier S. 38. Vgl. Pier Paolo Pasolini: Passione e ideologia (1948–1958). Milano: Garzanti 1973, S. 325. Vgl. Joseph Francese: Il realismo impopolare di Pier Paolo Pasolini. Foggia: Bastogi 1991, S. 67. Vgl. Emanuela Patti: »Pasolini, intellettuale mimetico«, Studi pasoliniani 7 (2013), S. 89– 100, S. 90. Ebd., S. 91. Francese 1991, S. 68f.
Die Reziprozität von Realismus und Antirealismus – ein Modell
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Unvollständigkeit und Imperfektion aufgrund von subjektiver Anschauung ist immer schon eingeschrieben und mitgedacht. Lawrence R. Schehr bringt es in seinem Werk Subversion of Verisimiltude auf den Punkt, wenn er unser Verständnis des Realen als Reales als »a bringing to light of what is hidden« sieht. Er führt weiter aus: and this is accomplished through perception, insight, analysis, ratiocination, and method, all processes associates with reality fiction and not coincidentally, with detective fiction that takes clues, traces and tracks and reconstitutes an event that had been invisible to all but is perpetrator. These analytical and logical processes are necessarily always incomplete and imperfect; in attempting to tell the truth, the realist narrator is also telling the reader that the real cannot be fully told, no matter how thoroughly one tries to do so. No analytical tools will ever allow for a full telling of tale. Some things resist.216
Besonders die letzte Aussage, das »[s]ome things resist«, auf das vollständige Wiedergeben der Realität bezogen, erinnert an den »zoccolo duro dell’essere« Ecos oder an die Aussage Ferraris, dass etwas Widerstand leistet, was er als »l’inemendabilit/« bezeichnet, dort allerdings mit Blick auf konstruktivistische Theorien in einem postmodernistischen Ansatz, in dem ontologische Realität verloren zu gehen droht. Im Laufe der Geschichte sind also in Literatur und Philosophie mit der Zeit beide Denkrichtungen, die, die realistische Darstellung und ontologisches Denken scheinbar absolut setzen und die, die selbiges verneinen wollten, an ihre Grenzen gestoßen. Vom 19. bis ins 21. Jahrhundert wurden die verschiedenen Anschauungen und Denkrichtungen wie Darstellungsmöglichkeiten durchgespielt und vielfach ›ausprobiert‹ und haben sich jeweils in ihrer unbeschränkten Umsetzung als defizitär erwiesen. Nichtsdestotrotz oszilliert die Literatur nach wie vor zwischen diesen beiden Polen, dem realistischen und dem antirealistischen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es nötig, beide Standpunkte neu zu überdenken, in Relation zu setzen und für aktuelle Literatur und deren Analyse fruchtbar zu machen.
2.3
Die Reziprozität von Realismus und Antirealismus – ein Modell
Um zu klären, was Realismus generell und im aktuellen Zeitgeist darstellen und leisten kann, ist es nötig, sich noch einmal beide Pole, realistische und antirealistische Literatur, vor Augen zu führen und unter Berücksichtigung der 216 Lawrence R. Schehr : Subversions of Verisimilitude. Reading Narrative from Balzac to Sartre. New York: Fordham University press 2009, S. 5f.
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herausgearbeiteten Spezifika in ein Verhältnis zu setzen. Mit Ferraris Ansatz ist zu konstatieren, dass philosophische Denkweisen einer Pendelbewegung unterliegen, die von realistischen Formen zu antirealistischen Tendenzen und von dort wieder zurückführen.217 Dieser aus der Philosophie kommende Gedanke scheint sich ebenso auf Annahmen in der Literatur übertragen zu lassen. Man muss zu dem Schluss kommen, dass beide genannte Richtungen Teile eines Ganzen sind, die sich gegenseitig aufrufen und in ihrer Disparatheit erst möglich machen, da sie den jeweils nötigen Gegenpol in sich tragen und in der gegenseitigen Abgrenzung die Spezifika erst sichtbar machen. Realismus und Antirealismus schließen sich daher nicht aus, sondern bilden zwei Seiten einer Medaille.218 Eine gewisse Verwandtschaft lässt sich den beiden Richtungen mit Blick auf das 19. Jahrhundert ohnehin unterstellen, in dem nicht nur der Realismus, sondern auch die Phantastik einen Höhepunkt erlebt. Tzvetan Todorov stellt diese Wechselwirkung in seiner Introduction / la litt8rature fantastique heraus: »C’est donc la cat8gorie du r8el qui a fourni sa base / notre d8finition du fantastique«.219 Und er spezifiziert dieses Wechselspiel, das aus einer Art bestätigender Absage besteht: »la litt8rature fantastique met pr8cis8ment en question l’existence d’une opposition irr8ductible entre r8el et irr8el. Mais pour nier une opposition, il faut d’abord en reconna%tre les termes; pour accomplir un sacrifice, il faut savoir quoi sacrifier.«220 Auch die von Warning herausgestellte Nähe bei gleichzeitiger Verneinung von Ähnlichkeit zwischen Romantik und Realismus – Romantik als schwerpunktmäßig Phantasie und Imagination verbunden, die sie dem nachfolgenden Realismus sozusagen in Teilen vererbt – stützen das Bild einer gegenseitigen Abhängigkeit. Es ergibt sich eine Reziprozität der beiden Darstellungsrichtungen, die somit nur in Abhängigkeit voneinander existieren. Negiert man die eine, verschwindet automatisch die andere und man verbleibt in einer Art Vakuum. Allerdings ist weiterhin zu beachten, dass die beiden Extreme der Pole, also absoluter Realismus oder Antirealismus, niemals in vollem Umfang zu erreichen sind. Sie ähneln in ihrer Art eher dem mathe-
217 Ein Gedanke, der sich mit Erich Auerbach stützen lässt, der Formen realistischen Schreibens sehr früh annimmt und deren unter unterschiedlichen Bedingungen zustande gekommene Formen aufführt und würdigt. Vgl. ders. 1994, S. 515f. 218 Interessante Gedanken dazu entwickeln Christine Baron 2010 und Jean BessiHre: »Pgalit8 de la mimesis et de l’antimimesis. Quelque notes sur le paradoxe de l’institution de l’œuvre«, In: Christine Baron / Manfred Engel [Hg.]: Realism / Anti-Realism in 20th-Century Literature. Amsterdam [u. a.]: Rodopi 2010, S. 41–56. 219 Tzvetan Todorov : Introduction / la litt8rature fantastique. Paris: Pditions du Seuil 1970, S. 175. 220 Ebd., S. 176.
Die Reziprozität von Realismus und Antirealismus – ein Modell
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matischen plus / minus Unendlich, das angestrebt wird, aber doch im Bereich des Unvorstellbaren verbleibt.221 Ausgangspunkt ist in jedem Fall eine wie auch immer geartete Welt, die dargestellt werden soll. Die Darstellung erfolgt aufgrund einer literarischen Basis. Mimesis und Poiesis sind jeweils im Gestaltungsprozess der Werke zu berücksichtigen. Poiesis, also das bewusst Gemachte unter Einsatz literarischrhetorischer Erzählmodi, bedeutet nicht generell eine Abwendung von realistischem Erzählen. Ein gewisser Anteil Mimesis, im Sinne der Nachahmung der Alltagswelt, wird auch in antirealistischer Literatur stets zu finden sein. Weiterhin ist festzuhalten, dass die darzustellende Welt aufgrund eines subjektiven Schleiers nie in einem Eins-zu-eins Verhältnis nachgezeichnet werden kann und zudem durch den sprachlichen Mantel der Darstellung immer auch medialen Charakter hat. Auch die völlige Loslösung von einer wie auch immer aufgefassten Realität wird – wie bereits angedeutet – nicht funktionieren, in welchem Maße sie auch als konstruiert, textuell oder heterogen angesehen werden mag, da sich Literatur immer mit der (Lebens)Wirklichkeit befasst. Auch wenn die Welt kein ›verbürgtes Konzept‹ mehr bietet oder die Wahrnehmung der wirklichen Welt in ihrer ›Konkurrenz‹ zu Simulakren in Frage gestellt wird: Es bleibt doch indiskutabel, dass für das Brechen von Konzepten als Grundlage für eine Kopie oder Interpretation immer eine Vorlage benötigt wird.222 Daraus erwächst ein ähnliches Abhängigkeitsverhältnis wie für die Pole literarischer Darstellungsmodi. Es ist also zu konstatieren, dass man in beiden Richtungen, in der Pendelbewegung gegen Realismus und Antirealismus, an »some thing [that] resists«, an den »zoccolo duro dell’essere«, an die »inemmendabilit/« stößt. Im Rahmen einer möglichen literarischen Darstellung ergibt sich somit ein Kontinuum, das von vornehmlich realistischer Weltwiedergabe zu erwünscht antirealistischer, extrem selbstreflexiver oder phantastischer Literatur reicht und entsprechende Mischformen in der Mitte des Spektrums einschließt.223 Ein derart gestaltetes Panorama wirft allerdings die Frage auf, als was man realis221 Bertoni stellt bezüglich eines ›radikalen‹ Realismus bzw. Antirealismus sehr richtig fest: »Se un testo non puk essere totalmente realista, allora il realismo non esiste, H una millenaria impostura di cui sarebbe finalmente caso di sbarazzarsi. Basta poco, di qui, per giungere all’estremismo uguale e contrario, a quell’antirealismo dogmatico che recide qualunque rapporto tra la letteratura e il mondo, che rinchiude l’opera in un circuito riflessivo e puramente testuale, nell’assunzione (strutturalista, e poi decostruzionista) che il n’y a pas de hors-texte.« Siehe ders. 2007, S. 100f. Ähnlich formuliert es Eckhard Höfner, hier mit Blick auf den Realismus. Vgl. ders.: Literarität und Realität. Aspekte des Realismusbegriffs in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Heidelberg: Winter 1980, S. 37. 222 Siehe dazu Ausführungen von Eco und Ferraris in Kap. 1.3 der vorliegenden Arbeit. 223 Laura Pugno sieht das ähnlich, sie sagt: »Non c’H documento puro, non c’H narrazione pura, c’H un cursore che si sposta su un continuum.« Siehe dies. im Interview in Donnarumma / Policastro 2008, S. 22.
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tische oder auch phantastische Literatur begreifen soll. Bertoni stellt heraus, dass es keine in Stein gemeißelte Reduktion einer Wahrheit in die Arena der sich entgegenstehenden Thesen und Dogmen zu werfen gelte: »Il fatto H che il realismo non H un oggetto specifico, n8 un dato che si possa etichettare una volta per tutte con un designatore rigido.«224 Mehr als als eigenständige Strömungen erscheinen diese Antipoden als ein untergelegtes System, das im Laufe der Zeit die verschiedenen Epochen, Schulen oder Bewegungen in vielfältiger Weise formt und mitgestaltet. Einen vergleichbaren Ansatz formuliert Roberto Bigazzi, der Realismus allgemein nicht als eigenständige Epoche oder zeitlich beschränkt begreift, sondern als eine ›Zutat‹, als wesentliches Element von Literatur allgemein: Insomma, nella zona a cavallo tra Otto e Novecento, il realismo, nel suo aspetto sociale e in quello storico, prende posto tra gli ingredienti del modernismo, fornendo materiali importanti. Insisto sull’›ingrediente‹: il realismo non H un movimento con un inizio e una fine (e per questo i critici sono sempre imbarazzati quando lo trattano) ma un ingrediente fondamentale della narrativa, il cui dosaggio varia a seconda dei periodi. Nell’Ottocento, questo dosaggio sale fino quasi a essere totalizzante, a formare un movimento, e pone una serie di problemi che dovranno essere dibattuti anche dagli scrittori di primo Novecento, quando, secondo le storie letterarie, il realismo dovrebbe essere ormai tramontato. Ma non puk tramontare quello che H un elemento essenziale della natura della narrativa.225
So gesehen kommt man zu einer engen und einer weiten Bedeutungsebene des Begriffs Realismus. Je nachdem, wie viel des »ingrediente« in den Texten einer spezifischen Zeit enthalten ist, kommt es zu einer Epochenbezeichnung, die den Realismus im Namen aufnimmt oder nicht. Der Ausdruck »ingrediente« ruft bildhaft einen Fundus verschiedener Elemente auf, die das Gesamtergebnis in die eine oder andere Richtung beeinflussen. Diese Elemente sind mit Roland Barthes als effets de r8el zu sehen, wobei der barthsche Begriff um einige Komponenten zu erweitern ist. Zum einen um den Punkt, dass es nicht nur effets de r8el sondern im Gegenzug natürlich auch effets d’anti-r8el gibt und geben muss.226 Je nach Häufigkeit und Gewichtung der entsprechenden Effekte würde ein Werk so im Kontinuum von realistischer bis antirealistischer Literatur wie auf einer Skala zu verorten sein.227 Zum anderen sollen unter effets de r8el (oder 224 Bertoni 2007, S. 313. 225 Roberto Bigazzi: »Realismi e nuovi realismi«, In: Romano Luperini / Franco Marchese [u. a.] [Hg.]: Lo sguardo sul mondo. Il realismo nella letteratura, nel teatro e nel cinema. Palermo: Palumbo 2011, S. 10. 226 Hier könnten bereits bestehende Ansätze wie das des brechtschen Verfremdungseffekts von Interesse sein. 227 Natürlich ist letztlich der Grad an Realismus nicht tatsächlich messbar, es geht hier lediglich um eine Schematisierung ›konkurrierender‹ Begrifflichkeiten.
Die Reziprozität von Realismus und Antirealismus – ein Modell
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anti-r8el) nicht mehr vor allem die ›funktionslosen Details‹228 in Beschreibungen gelten, sondern jedes Element der Erzählung, jede Darstellungsweise, die Wahl des Genres oder die Führung des Blickwinkels, die die Erzählung in die eine oder andere Richtung bewegt, das heißt, jede Erzählstrategie, die der Authentifizierung oder dem Illusionsbruch in irgendeiner Form dienlich ist, sei es auf Makrooder Mikroebene des Textes, sei es bezüglich Form oder Inhalt. Hier soll mit Bertoni vom dictum gesprochen werden, um die thematisch-referenzielle Ebene zu umreißen (worüber wird geschrieben) und vom modus, um die stilistischformalen Elemente zu erfassen (wie wird geschrieben).229 Dabei ist davon auszugehen, dass die effets de r8el oder anti-r8el sich im Laufe der Zeit, je nach historischer, politischer, sozialer und technischer Entwicklung, verändert haben und weiter verändern werden. Das bedeutet, dass es eine zusätzliche Zeitachse geben muss, auf der jeweils für eine entsprechende Zeitspanne ein Paradigma der Effekte zu verzeichnen ist. Denn, um mit Nelting zu sprechen: »Realistischer Wirklichkeitsbezug tritt, ganz allgemein gesagt, nicht als Wiedergabe von Wirklichkeit auf, sondern als Wirklichkeitsmodellierung vor der Optik der zeitgenössisch maßgeblichen Wirklichkeitsvorstellungen.«230 Unter dieser Prämisse macht auch eine allgemeingültige Festlegung des Mimesis-Begriffs im Rahmen realistischen Schreibens keinen Sinn mehr, da dieser – wie man schon bei Platon sieht – an eben jene in der Zeit wandelbaren Vorstellungen von
228 Roland Barthes macht den entstehenden Realitätseffekt vor allem an »une sorte de luxe« fest, an den »d8tails ›inutiles‹«, die nur einen indirekt funktionalen Charakter haben und in gewissem Sinn nicht auf einen tatsächlichen Referenten verweisen sollen, sondern hauptsächlich dazu führen, dass eben jene Effekte von Realität zustande kommen. Er schreibt: »le baromHtre de Flaubert, la petite porte de Michelet ne disent finalement rien d’autre que ceci: nous sommes le r8el«. Vgl. Roland Barthes: »L’effet de r8el«, In: ders.: Œuvres complHtes. T. III. Livres, textes, entretiens 1968–1971. Nouv. 8d. rev., corr. et pr8sent8e par Pric Marty. [Paris]: Pditions du Seuil 2002, S. 25–32, hier S. 26 u. S. 32. 229 Bertoni stellt vier Kategorien realistischen Schreibens zusammen, von denen hier jedoch nur die ersten zwei Berücksichtigung finden sollen. Vgl. ders. 2007, S. 315f. 230 Nelting 2009, S. 239, [Hervorhebung der Verfasserin]. Ähnlich formuliert es Casadei: »Il realismo, in ogni ambito artistico e specificamente in quello letterario, H una condizione variabile, non uno stato permanente. Il grado di realismo attribuibile a un’opera si modifica nel tempo, sulla base dei nuovi contesti socio-culturali nei quali essa viene recipita.«, siehe ders. 2014, S. 149. Bertoni bezeichnet diese sich verschiebende kulturell-zeitliche Achse als das eigentliche Paradox des Realismus: »ð forse il paradosso originario del realismo, la radice prima della sua deriva semantica: il fatto di essere ancorato, per statuto, a un termine di riferimento culturalmente mutevole, soggetto a continui assestamenti e ridefinizioni epistemiche. Se la cultura modernista sembra avere attuato una ›degradazione ontologica della realt/ oggettiva‹, sfociando in un’apparente ›assenza del mondo nella letteratura‹, H perch8 si H spostato il baricentro, perch8 si H invertita la gerarchia dei fenomeni, perch8 quella che passava per essere la realt/ (fisica, biologica, ambientale, sociale) H diventata materiale letterariamente inerte, soppianta da una ben piF essenziale e decisiva realt/ interiore.« Ders. 2007, S. 266.
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Der Januskopf des Realismus – Probleme und Vorüberlegungen
Wirklichkeit und Wahrheit gekoppelt ist.231 Diese müssen – wie auch die Realismusmarker – jeweils unter den aktuellen Gegebenheiten ins Auge gefasst werden. Aufgrund dieser Vorüberlegungen und dem daraus resultierenden Schema soll im Folgenden ein Blick auf die italienische Gegenwartsliteratur geworfen werden, um Möglichkeiten und mögliche Affinitäten zu realistischem Schreiben zu erkennen und zu analysieren. Dies wird in einem ersten Schritt in einer theoretischen und überblickshaften Herangehensweise geschehen, bevor im weiterführenden Teil der Arbeit ausgewählte Werke ins Zentrum der Betrachtung rücken.
231 Platon stellt im Grunde den Wahrheitsbegriff, die Zugänglichkeit des Ursprünglichen in Frage, nicht das Konzept der Mimesis. Vgl. ders.: Politeia / Der Staat. Bearb. v. Dietrich Kurz. Übers. v. Friedrich Schleiermacher. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, Buch X, besonders: 1.22 »Die Unkenntnis der Dichter«, S. 803ff.
3.
Zurück zum Realen? Tendenzen in der italienischen Gegenwartsliteratur
Im Jahr 2010 beschreibt Vittorio Spinazzola Roberto Savianos Erstlingsroman Gomorra (2006) als: »L’evento librario piF importante di questa alba del nuovo millennio«.232 Ein zentraler Streitpunkt um das Werk herum entbrennt um dessen Genrezugehörigkeit, die zwischen fiction und non-fiction, zwischen Erzählung und Essayistik oder journalistischer Recherche zu oszillieren scheint.233 Damit führt es in jedem Fall einen betont realistischen Anspruch ins Feld: »Gomorra ha operato un grande rilancio della realisticit/ nel campo della scrittura prosastica«,234 führt Spinazzola weiter aus. Das Werk des neapolitanischen Schriftstellers ist nicht das einzige Symptom, das auf ein wiederaufkommendes Interesse für repräsentative Formen der Begegnung, des Zusammenpralls von Ich und Welt in artikulierter Choralität hinweist.235 Jedoch steht der Umstand, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Realismus ideologisch stigmatisiert worden ist,236 einem Wiederaufleben solcher Literatur im Weg. Stimmen beider Seiten, der Verfechter und Gegner eines neuen realistischen Ansatzes, sollen im Folgenden zu Wort kommen.
232 Vittorio Spinazzola: »La riscoperta dell’Italia«, Tirature ’10 (2010), Il New Italian Realism, S. 10–15, hier S. 10. 233 Ausführungen dazu werden in Kapitel 6.1 der vorliegenden Arbeit vorgenommen. 234 Spinazzola 2010, S. 10. 235 Eine chorale Erzählweise ist idealtypisch für naturalistisches und veristisches Erzählen und wurde Zola und vor allem Verga attestiert. Grob gesprochen versteht man darunter das Zurücktreten einer starken Erzählstimme zugunsten der Polyphonie der Masse oder eines Kollektivs. Pellini beschreibt das folgendermaßen: »L’eclissi del narratore lascia spazio all’esistenza autonoma dei personaggi, che invadono la scena con la loro lingua, i loro gesti, la loro ideologia, senza che un’istanza superiore ne possa giudicare le azioni. Il ›coro‹ dell’Assomoir e dei Malavoglia H soluzione tecnica straordinaria;« Vgl. ders. 2010, S. 139. Dass sich chorales Erzählen bei Saviano anders als bei seinen Vorgängern realisiert, wird noch zu analysieren sein. Vgl. dazu Kap. 6.2.2 der vorliegenden Arbeit. 236 Vgl. ebd.
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Zurück zum Realen? Tendenzen in der italienischen Gegenwartsliteratur
3.1
Der Realismus ist das (Un)Mögliche237 – Aktuelle Stimmen aus Literatur und Kritik
ð finito il postmoderno? Stiamo assistendo, in letteratura e al cinema, a un ritorno alla realt/, dopo decenni di ripiegamenti metalinguistici e ironie manieristiche? Che spazio possono avere le forme del realismo di fronte all’irrealismo dei media? Sta nascendo un nuovo impegno?238
Diese Frage stellt im Jahr 2008 die Zeitschrift Allegoria und widmet dem Thema eine ganze Ausgabe. In acht Interviews befragt sie Autoren der Gegenwart nach ihrer Ansicht zu den spürbaren Veränderungen in der Literatur. Laut Cristina Savettieri stellt die von Donnarumma, Policastro und Taviani angeregte Diskussion die zweite von drei Phasen der Debatte in Literatur und Zeitgeist um das Ende der Postmoderne und einen neuen Realismus in Italien dar. Die erste Phase ist bereits mit Carla Benedettis Werken Pasolini contro Calvino (1998) und L’ombra lunga dell’autore (1999) anzusetzen. Im ersten Werk diskutiert Benedetti anhand von Calvino und Pasolini zwei mögliche Entwicklungen im Rahmen der vorherrschenden postmodernistischen Tendenzen und damit aktuelle Diskurse, denen sie Calvino mit seinen spielerisch-ironischen und selbstbezüglichen Zügen völlig untergeordnet sieht und denen Pasolinis Werk, das einen Anspruch auf eine starke Funktion mit Referenz auf das reale Leben nie aufgibt, zuwiderläuft. Sie empfindet die gegenwärtige Literaturszene als von Ideologien blockiert und nekrophil. Ihr zweites Werk wendet sich dezidiert gegen das barthsche Konzept vom Tod des Autors aus den späten 60er Jahren, das seine volle Entfaltung und sein Epizentrum in den 70er Jahren in Frankreich findet, angekurbelt durch die prominenten Theorien von Derrida, Kristeva, Sollers und Lacan, die ein Dogma kreieren, von dem man sich bis heute nicht zu befreien gewusst hat.239 Die in diesem Kontext aufgekommenen Theorien zur Intertextualität sieht sie als Pendant zum Tod des Autors, die dessen Abwesenheit bestätigen und so für eine Weile tatsächlich zu seinem ›Untergang‹ werden. Allerdings, so ihre These, ist die Funktion des Autors in der aktuellen Literatur stark wie nie zuvor.240 Die zweite Phase der Debatte öffnet sich nach dem Attentat am 11. September in den USA und wird weitgehend von dem bereits zitierten Luperini, aber auch von Donnarumma bestritten. Hier ist aber auch der Band Scrivere sul fronte occidentale. Dopo l’11 settembre (2002) von Antonio Moresco und Dario Voltoni zu verorten. Die dritte Phase hat die bereits vorgestellte 237 Der Titel inspiriert sich an Walter Sitis Essay Il realismo H l’impossibile. Roma: Nottetempo 2013. 238 Allegoria 57. Ritorno alla Realt/? (2008). 239 Vgl. Benedetti 1999, S. 12f. 240 Vgl. ebd., S. 14. Darauf wird in kurzer Ausführung noch einmal in Kap. 6.2 der vorliegenden Arbeit eingegangen.
Der Realismus ist das (Un)Mögliche – Aktuelle Stimmen aus Literatur und Kritik
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philosophische Strömung um Maurizio Ferraris zum Nukleus.241 Während die Diskussion in der Philosophie ohne generell an der Möglichkeit eines neuen Realismus zu zweifeln ihren Weg angetreten und seither eine breite Öffentlichkeit erfahren hat, ist doch zu vermerken, dass die Literatur das Phänomen antizipiert hat, wenn auch hier zunächst keine starke Stimme – wie etwa Ferraris oder Gabriel – im Mittelpunkt stand. Marcello Fois hat für diese Antizipation eine Formulierung und Erklärung gefunden, er stellt fest: »I fenomeni letterari sono spesso carsici, quasi mai conseguenze. Al contrario, quando sono veri e non mere invenzioni merceologiche, tendono ad anticipare qualcosa che le societ/ non sono ancora pronte ad affrontare.«242 Im offenen Dialog sind die Meinungen sowohl unter Kritikern wie unter Autoren geteilt. Viele Schriftsteller fürchten das Etikett des Realismus, den sie mit dem positivistischen Naturalismus in Verbindung bringen, der als naiv und überholt gilt.243 La Repubblica schreibt von einem neuen Neorealismus, der jedoch mit Angst verbunden zu sein scheint: »La parola H quasi sussurrata, come se fosse tabF.«244 Walter Siti, der ein Essay zur Diskussion um den neuen Realismus verfasst hat, gibt an, dass er immer noch glaube, dass der Mensch ein »singe malfaisant« sei und daran erfreue er sich: »il realismo H l’impossibile come la revoluzione.«245 Siti rekurriert auf alte Vorwürfe, die Realismus mit Dogmatismus, einer Technik der Macht und dem Imperialismus gleichsetzen.246 Er spricht zudem mit Verwunderung von Zolas Aussage, dass alle (die Schriftsteller, Naturalisten und Realisten eingeschlossen) mehr oder minder lügen würden.247 Siti bezeichnet das als »confessione sorprendente«,248 was auf seine recht einseitige Realismusrezeption schließen lässt. Außerdem, so fährt er fort, solle man sich aufgrund der Allgemeinplätze des Realismus nicht beunruhigen, insofern es naive Techniken seien und Techniken wiederum seien neutral.249 Diese letzte Beobachtung reiht sich in das zuvor erstellte Schema ein, das mit dem erweiterten Begriff der effets de r8el arbeitet, also von Techniken und Effekten ausgeht, die je nach Pendelbewegung das eine oder andere Ziel erreichen wollen und in ihrer jeweiligen Ausformung dem aktuellen Zeitgeist unterliegen. Auch die Kritik Sitis, dass die 241 Vgl. Cristina Savettieri: »Le finzioni di Mauro Covacich«, Arabeschi 1/1 (2013), S. 27–38, hier S. 37, Endnote 1, [IQ]. 242 Marcello Fois im Interview in Donnarumma / Policastro 2008, S. 10f. 243 Gianluigi Simonetti: »Il realismo della irrealt/. Attraversare il postmoderno«, CoSMo 1 (2012), S. 113–120, hier S. 114. 244 Simonetta Fiori: »Il nuovo neorealismo. I romanzi riscoprono il paese profondo«, La Repubblica (13. 01. 2010), [IQ]. 245 Siti 2013, S. 77. 246 Ebd., S. 76f. 247 Vgl. Zitation Zola im Kap. 1.2.1. 248 Vgl. Siti 2013, S. 51. 249 Ebd., S. 78.
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realistische Technik eine unendliche Abfolge von Darstellungen immer versteckterer und verbotenerer Bereiche sei, die sich dabei immer ausgeklügelterer und illusionistischerer Finessen bediene, fügt sich – aus Sicht der vorliegenden Arbeit – umstandslos in die gegebenen Parameter ein und wird so neutralisiert. Bei allem Skeptizismus, ein gewisses ethisch-engagiertes Interesse seitens der Autoren gilt es dennoch zu verzeichnen. Mauro Covacich konstatiert in Scrivere sul fronte occidentale, dass allem Anschein nach die Bedingungen für eine postzynische Phase gegeben seien. Der Moment nahe, in dem die Schriftsteller erneut auf die Straße gehen und aufhören würden, das Leben als bereits gelebt anzusehen. Es habe keinen Sinn mehr, die eigene papierne Einzimmerwohnung zu sezieren, und von außen nach innen zu analysieren, vielleicht habe es nie einen Sinn gehabt.250 Covacich stellt sich damit explizit gegen ein Schreiben, das sich lediglich im Kontext des Selbstbezugs verortet. In der Zeitschrift Allegoria vermerkt er das offensichtlich erhöhte Verlangen einiger Autoren, sich direkt mit der Welt auseinanderzusetzen. Er spricht vom Mut vieler Kollegen, sich mit »narrazioni piF ›totali‹«zu exponieren.251 Giuseppe Genna wiederum stellt sich generell hart gegen den Realismus: Non conosco una scrittura che sia realistica. Faccio un esempio: la vulgata per cui il naturalismo di Zola sarebbe realismo H esilarante – ci troviamo di fronte a un costruttore di miti, che utilizza protocolli desunti dalla sorgente pittura impressionistica […] e ancora si pensa a una scrittura realistica. Perfino il romanzo primonovecentesco […] non desume la propria psicologia da una psicologia reale: la forgia e costruisce l’interiore del mondo borghese. Il realismo oggi sarebbe incarnato da chi? Dal cinismo di Roth che fa ricordare a un morto post mortem in Everyman? Da Houellebecq che sembra mostrare la possibilit/ di un’identificazione per mimesi e che termina il suo ultimo romanzo, La possibilit/ di un’isola, con uno strepitoso viaggio di un futuro clone tra umani ridotti a branchi di primati? La letteratura H sempre fantastica.252
Allerdings zitiert Genna hier, in der großen Linie der Mainstreamdiskussion, die bekannten ›Probleme‹ und ›Paradoxe‹ des Realismus. Dass Literatur sich immer auf Phantasie gründet und mit künstlerischen Mitteln erschaffen worden ist, stellten – wie nachgewiesen werden konnte – auch die alten Realisten nicht in Frage. Aldo Nove kommt den Aussagen in Luperinis La fine del postmoderno nahe, wenn er von einem Rückgriff auf die Moderne spricht:
250 Vgl. Mauro Covacich: »L’orecchio immerso«, In: Antonio Moresco / Dario Voltoni [Hg.]: Scrivere sul fronte occidentale. Dopo l’11 settembre. Milano: Feltrinelli 2002, S. 86–89, hier S. 88. 251 Vgl. Mauro Covacich im Interview in Donnarumma / Policastro 2008, S. 10. 252 Giuseppe Genna im Interview in Donnarumma / Policastro 2008, S. 13. Nicola Lagioia formuliert es ähnlich, wenn er sagt: »Ogni romanzo che ha qualcosa da dire si occupa della realt/.« Siehe ebd., S. 16.
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La fine del postmoderno H, in realt/, una ripresa lisergica del moderno e della storia, in un’assenza di dimensioni e appiattita sul presente. Il fiume di Eraclito ma merceologico. ð cambiato tutto e tutto cambia. La realt/ H un nodo epistemologico e sociale irrisolto: come ritornarvi se non sappiamo cos’H, o meglio, sappiamo che ci H data come finzione collettiva?253
In der letzten Aussage finden sich starke Verhaftungen in die postmodernistische Geisteshaltung, die ein paar Sätze weiter sogar noch expliziter gemacht werden: »Dopo Freud, dopo lo strutturalismo e dopo Lacan parlare di realismo in buona fede mi sembra impossibile senza accettare che si tratta della convenzione di un’altra fiction.«254 Benedetti hingegen versucht sich von bestehenden Denkmustern zu lösen. Wenn sie von Fiktion spricht, denkt sie nicht an die Opposition von Realität und Fiktion, Realität und Schauspiel oder Realität und Virtualität. Sie sieht auch in diesen Konzepten mentale Schemata, von denen man sich entfernen muss: »Tutto il cosiddetto ›pensiero critico‹ novecentesco […] ha avvicinato le cose alla luce di queste opposizioni – e ha fallito.«255 Realität hingegen, so Benedetti, ist das Gefühl für die Komplexität (»sentimento del complesso«), das Zusammenspiel mit dem Anderen, das ›Verwachsensein‹ mit dem Anderen, der Körper dessen, der spricht oder sieht. Realität liegt im Chaos all der Dinge, von denen man glaubt, sie seien zu vernachlässigen; sie postuliert: »La realt/ H il ›prendere dentro tutto‹ (l’espressione di Moresco). E se non hai il coraggio di prendere dentro tutto sei nella finzione – e cadi nella retorica.«256 Laura Pugno findet auf die Frage nach dem Realismus in Bezug auf die eigene Literatur und auch im Allgemeinen eine Antwort auf das postmodernistische Problem des Realismus, das an die herausgearbeiteten Passagen aus den Schriften der französischen und italienischen Realisten des 19. Jahrhunderts erinnert: Il mio realismo lo vado a verificare nella tenuta del testo, nella coerenza di un mondo narrativo credibile. Per il resto, ho scritto testi piF o meno »realistici«, e altri di letteratura fantastica, o d’anticipazione. Che comunque sono radicati fortemente nel presente: per me il realismo H questo, essere nel nostro presente (e nel futuro). La realt/ non H indipendente dall’organizzazione della nostra mente e dei nostri sensi. Dobbiamo averne consapevolezza, non possiamo credere a una realt/ assoluta. Questa non consapevolezza – scientifica, epistemologica – non ci H piF concessa.257
Neben dem Ausschluss eines wissenschaftlichen Realismus und dem Hinweis auf die Abhängigkeit von Realität und Realitätswahrnehmung von den 253 Aldo Nove im Interview in Donnarumma / Policastro 2008, S. 19. 254 Ebd. 255 Carla Benedetti: »Il pieno«, In: Antonio Moresco / Dario Voltoni [Hg.]: Scrivere sul fronte occidentale. Dopo l’11 settembre. Milano: Feltrinelli 2002, S. 12–18, hier S. 14. 256 Ebd. 257 Laura Pugno im Interview in Donnarumma / Policastro 2008, S. 22.
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menschlichen Sinnen nennt sie Charakteristika von Literatur, die im Weiteren eine Rolle spielen werden, wie zum Beispiel die starke Verwurzelung der Geschichten in der Gegenwart. Auch Vito Santoro beginnt in der Einleitung seines Sammelbandes Notizie della post-realt/ mit den Worten: »ð indubbio che il primato, di inizio millennio, del romanzo realista tradizionale sia strettamente collegata al diffuso bisogno da parte degli scrittori di ›narrare il proprio tempo‹, anche nel tentativo di recuperare una funzione civile da tempo smarrita.«258 An diese Verwurzelung in der eigenen Zeit mag die Fragestellung des von Donnarumma und seinen Kollegen gestellten Interviews anschließen, wenn sie als Ausgangspunkt für neues realistisches Schreiben den 11. September annehmen. Hier treffen sie allerdings bei fast allen Autoren auf eine negative Antwort. Sie sehen ihr Schreiben generell nicht mit diesem Ereignis verbunden. Am anschaulichsten drückt es wohl Marcello Fois aus. Er versteht den 11. September vornehmlich als einen Wendepunkt auf amerikanischem Boden. Auswirkungen auch außerhalb der USA seien aufgrund ihrer starken Wirtschaftsmacht möglich, generell aber sei Europa zu alt. Während Europa bereits mehrere 11. September erlebt habe und hierin nur wieder ein Zeugnis dafür finde, wie weit das ›Tier‹ Mensch zu gehen in der Lage sei, bedeute der Vorfall für Amerika das Ende der Kinderzeit.259 Wiederum also zeigt sich, dass zumindest als gesamtglobaler Wendepunkt der 11. September nicht taugt. In Amerika hat das krude Reale, so Benedetti, den virtuell-konsumistischen Kapitalismus, der das Leben entmaterialisiert, kollabieren lassen.260 In Italien scheinen andere Themen einen Umbruch herbeizuführen. Siti, der sich einerseits ausdrücklich gegen einen neuen Realismus ausspricht, geht an dieser Stelle auch mit postmodernistischen Ansichten hart ins Gericht: L’andazzo, a dir la verit/, H stato generale in Occidente: si era tanto insistito sulla fine della storia, sul suicidio della realt/ e sulle ludiche fantasmagorie postmoderne, che i due aerei infilati nelle Torri Gemelle hanno avuto l’effetto di una sveglia. ›To‹ il mondo esiste ancora, gli uomini si sgrugnano tra loro, i cambiamenti epocali non sono una teoria.261
In Italien, so Siti, zeigt sich die wiederaufkeimende Realität in vier verschiedenen Bereichen: 1) in der Wirtschaftskrise und hohen Jugendarbeitslosigkeit, 2) im Wiederaufkommen des historischen Romans, der sich vor allem mit dem Nationalsozialismus und dem organisierten Verbrechen beschäftigt, 3) in einem neuen autobiographischen Impuls mit vordergründig persönlicher Idiosyn258 Vito Santoro: »Introduzione«, In: ders. [Hg.]: Notizie della post-realt/. Caratteri e figure della narrative degli anni Zero. Macerata: Quodlibet 2010, S. 9–12, hier S. 9. 259 Marcello Fois im Interview in Donnarumma / Policastro 2008, S. 10. 260 Benedetti 2002, S. 16. 261 Siti 2013, S. 65.
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krasie und 4) in der Rückkehr zum traditionell mimetischen Roman mit psychologischer Tiefe. Siti zufolge sind diese Tendenzen jedoch als einem neuen Realismus konträre Phänomene anzusehen.262 Warum das so ist, geht jedoch aus seiner essayistischen Schrift nicht hervor. Alberto Asor Rosa schlägt drei neue Linien zeitgenössischer italienischen Literatur vor : eine erste, die sich durch journalistisch-dokumentarische Themen und Sprache auszeichnet und deren Hauptvertreter Roberto Saviano mit Gomorra (2006) ist, ein Werk, das ein Genre aus der Taufe hebt, »in cui l’intreccio di realt/ e d’immaginario H spinto al piF alto livello«. Eine zweite, die entschieden auf eine allegorisch-imaginäre Ebene abhebt und ihren bekanntesten Exponenten in Paolo Giordanos La solitudine dei numeri primi (2008) findet. Eine dritte Tendenz sieht er in einer heterogenen Gruppe junger Autoren, wie Mario Desiati, Nicola Lagioia, Rosella Postorino und einigen weiteren, deren Werke als Protagonisten das antike Italien hätten, das ländliche Italien, die Dörfer, die Provinz, die desolaten Peripherien der Metropolen. Diese Autoren entdecken eine jahrhundertealte Erkenntnis wieder, nämlich, dass Gleichzeitigkeit nicht mit der Gegenwart gleichzusetzen ist (»la contemporaneit/ non H il presente«). »Che strano!«, merkt Asor Rosa an: »Non eravamo in tempi di globalizzazione e di cosmopolitismo?«263 In jedem Fall gibt es Rufe nach einer Veränderung in der Literatur. Piersandro Pallavicini wünscht sich Romane, die sich erneut und auf neue Weise mit der Geschichte und der Welt befassen und nicht weiterhin auf längst ausgetretenen Wegen wandeln. Er fragt nach [r]omanzi che non esitino a mettere in campo la storia e la scienza, che non abbiano paura di raccontare di politico, di etica. Di arte e di sesso. E che lo facciano senza l’orrendo guardiano del politicamente corretto, che lo facciano cioH col coraggio di mandare a quel paese il conformismo, il messaggio giusto, […] Romanzi totalmente sinceri. […] Se devo essere proprio sincero, sono stufo di leggere compitini di letteratini o romanzi finto-shock copiati dai telegiornali. Ne ho le tasche piene.264
Der von Asor Rosa angeführte Autor Roberto Saviano hat sich eben jenen Romanen der Aufrichtigkeit verschrieben. Für seine Literatur sind Authentizität und Wahrheit sowie die Verwurzelung der Literatur in der Realität eine unumgängliche Konstante. Zudem stellt er sich explizit gegen postmodernistische Literatur, wenn er schreibt: 262 Vgl. ebd., S. 65f. 263 Asor Rosa (31. 12. 2009), S. 28, Spalte 2, [IQ]. Auf den Zeitaspekt in Desiatis Werk sowie in den Texten anderer meridionalistischer Autoren wird verschiedentlich in Kap. 5 der vorliegenden Arbeit eingegangen. 264 Piersandro Pallavicini: »Romanzi polimaterici, anzi: eterocellulari«, In: Antonio Moresco / Dario Voltoni [Hg.]: Scrivere sul fronte occidentale. Dopo l’11 settembre. Milano: Feltrinelli 2002, S. 54–64, hier S. 61.
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Non mi interessa la letteratura come vizio, non mi interessa la letteratura come pensiero debole, non mi riguardano belle storie incapaci di mettere le mani nel sangue del mio tempo, e di fissare in volto il marciume della politica e il tanfo degli affari. Esiste una letteratura diversa che puk avere grandi qualit/ e riscuotere numerosi consensi. Ma non mi riguarda.265
In einer Besprechung zu Savianos Werk Gomorra spricht Nicola Lagioia bezüglich der gegenwärtigen Gesellschaft von einem postmodernen Albtraum, in dem es kaum mehr möglich ist, die Realität von ihren Scheinbildern zu trennen, das Leben von seinen Trugbildern, Gutes von Bösem.266 Er schließt seinen Artikel mit dem Gedanken, dass es wahr ist: »viviamo in un mondo di abbacinante ambiguit/ ma la realt/ non H ancora il suo perfetto simulacro, […]. C’H bisogno di gente capace di leggere, tra le righe di un linguaggio ormai comune, i punti di discontinuit/. S', c’H bisogno di persone come Roberto Saviano«.267 Das Gefühl einer Übermacht von Simulakren gegenüberzustehen ist es, was die Wahrnehmung von Realität und damit das Bewusstsein um die Wirklichkeit radikal mindert. Der Eindruck, »that a fictional world is taking over the so-called ›real‹ one […]«268 ist mit der Entwicklung und Verbreitung der Massenmedien extrem angewachsen. Gegen Ende des Jahrtausends werden aber auch Stimmen laut, die sich gegen die Vorstellung einer simulakrenhaften, entleerten Welt wehren. Carla Benedetti hält fest: La realt/ non H svuotata di realt/. La virtualit/ non esiste. Questi sono i nostri labirinti mentali, anche loro disegni tracciati su di un foglio bianco. I non luoghi non esistono. Ogni luogo H pieno. Tutto H pieno. Bisogner/ far apparire questo pieno, oppure non avr/ senso far nulla.269
Wie sich das Bewusstsein um die Wirklichkeit und die Darstellung des Realen erneut in der Literatur niederschlägt, soll im Folgenden in Ausschnitten panoramatisch wiedergegeben werden. Im Anschluss wird kurz die hervorstechende Rolle der Medien und ihre Wechselwirkung mit der Literatur zu betrachten sein.
265 Roberto Saviano: La bellezza e l’inferno. Scritti 2004–2009. Milano: Mondadori 2009, S. 242. 266 Vgl. Nicola Lagioia: »Saviano prima di Gomorra«, La Reppublica XL (03. 07. 2006), [IQ]. 267 Ebd. Bezüglich des Themas einer ›simulakrenhaften Welt‹ werden weitere Ausführungen in den Kap. 3.3 sowie 6.3.4 der vorliegenden Arbeit vorgenommen. 268 Elisabeth Deeds Ermath: »The Crisis of Realism in Postmodern Time«, In: George Levine [Hg.]: Realism and Representation. Essays on the Problem of Realism in Relation to Science, Literature, and Culture. Madison: University of Wisconsin Press 1993, S. 214–224, hier S. 216. 269 Benedetti 2002, S. 18.
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Im Jahr 2001 schreibt Stella Cervasio in La Repubblica: »In questi giorni perk la realt/ ha superato la finzione, come spesso accade.«270 Der Bezugspunkt ist eine Kontroverse um das im selben Jahr erschienene Buch Certi bambini von Diego De Silva, das von Rosario erzählt, einem Jungen, der im eindeutig identifizierbaren, jedoch nicht genannten Neapel aufwächst, und zwischen den Mächten des Guten (Pflege seiner Großmutter sowie Hilfe im Frauenhaus) und des Bösen (kriminellen, mafiösen Organisationen) zerrieben wird, um schließlich als Baby-Killer zu enden, der sich das Blut von den Händen leckt, um die Spuren eines Mordes zu vertuschen. Die Geschichte vermittle Gewalt, zu viel Gewalt, so eines der Argumente in der Diskussion um den Roman. Und auch der Autor und gebürtige Neapolitaner De Silva bestreitet das nicht: »Mentre lo scrivevo [il libro], a certi passaggi ero costretto a fermarmi, perch8 sentivo che era troppo forte«, beschreibt er seine eigene Arbeit. Nichtsdestotrotz gibt er an, dass seine Geschichte in der Realität verwurzelt ist.271 Entstanden ist das Werk bereits Ende der 90er Jahre: »Certi bambini H un romanzo che ho scritto alla fine degli anni Novanta ed era partito da una notizia che appresi in tribunale«, erklärt De Silva. Es ist die Zeit, in der in mafiösen Kreisen die letzten Dämme brechen und vermehrt Kinder bewusst für kriminelle Machenschaften eingesetzt werden.272 Die Fiktion ist nicht stärker als das reale Geschehen, sie gibt dieses nur ausschnittsweise und beispielhaft wieder, wie Cervasio am Bespiel des realen Falls von Erika darlegt, dem Mädchen aus Novi Ligure, das Ende Februar 2001 seine Familie ermordete.273 Im Interview mit La Repubblica gibt De Silva an: »Il mondo di Rosario in realt/ H vicinissimo a noi, basta andare a Ponticelli per trovare decine di ragazzi come lui. Ma d’improvviso ci accorgiamo che le cose peggiori ci accadono addirittura sul pianerottolo, in famiglie come quella di Erika.«274 De Silvas Buch steht beispielhaft für einige Themen, die den Nerv des italienischen Alltags treffen. Im Fokus stehen die Allmacht krimineller Orga270 Stella Cervasio: »Quanto mai attuale l’opera dello scrittore salernitano sul caso di un babyassassino«, La Reppublica (01. 03. 2001), [IQ]. Dieses Gefühl wurde – bei aller Ablehnung von 9/11 doch mit diesem Datum geboren bzw. in Zusammenhang in ähnlicher Form geäußert. »L’abbiamo detto e sentito dire, e poi ripetuto e sentito ripetere: l’11 settembre scorso, il piF grande happening televisivo dalla storia ha mostrato quello che Hollywood non ha mai immaginato potesse accadere, la realt/ ha superato la piF cinica e scaltrita fantascienza.« Siehe Gian Mario Villalta: »Dalla mia postazione alla periferia dell’impero«, In: Antonio Moresco / Dario Voltoni [Hg.]: Scrivere sul fronte occidentale. Dopo l’11 settembre. Milano: Feltrinelli 2002, S. 205–215, hier S. 205. 271 Vgl. Cervasio (01. 03. 2001), [IQ]. 272 Vgl. Diego De Silva im Interview mit Rai Cultura / Letteratura: »Certi Bambini«, letteratu ra.rai.it, [IQ]. 273 Der Fall ging 2001 und auch in den folgenden Jahren durch die Presse. 274 Vgl. De Silva im Interview mit Rai Cultura / Letteratura, [IQ].
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nisationen und das Kind zwischen Gut und Böse, das seinen Blickpunkt leiht. Certi bambini (2001) »hat einem Genre den Weg geebnet, welches das Neapel der Camorra zu einem der ertragreichsten Motive der italienischen Literatur gemacht hat«.275 Die Camorra (wie im Allgemeinen die verschiedenen Gruppierungen der Mafia) ist eines der heute in der Literatur und im Film häufig behandelten Themen. Das ist nicht neu, der Zugang jedoch hat sich verändert. Bekannte, in Hollywood vermarktete Titel in Buch und Film wie The Godfather oder Scarface haben die Mafiosi als Helden stilisiert oder ihnen, wie in der Serie The Sopranos, einen komischen Zug gegeben (der Mafiaboss in Psychotherapie). De Silva hingegen will das zeigen, was er als »educazione mafiosa« und als letzte Grenzüberschreitung seitens der Mafia benennt, den Raub der Kindheit.276 Es ist ein ernster Zugang zu dem Thema, dem Spielerisches oder Beschönigendes fremd ist. Im Jahr 2002 folgt Giancarlo De Cataldos Romanzo Criminale, ein viel rezipiertes und diskutiertes Werk, das wiederum im Gerichtssaal seine Wurzeln findet. Es erzählt die Geschichte der banda della Magliana, einer mafiösen Verbrecherorganisation, die in Rom operiert. De Cataldo gibt an, seine Geschichten in einer »ambientazione realistica« anzusiedeln; sein Ziel ist es, eine »verit/ umana« zu erzählen.277 Die Namen seiner Protagonisten sind zwar fiktiv, jedoch aufgrund der klaren Beschreibung den wirklichen Personen in den meisten Fällen zuzuordnen. De Cataldos Werke sind stets im Realen verwurzelt. Das Böse zu erzählen, die ästhetisch-literarische Auseinandersetzung mit ›der dunklen Seite‹, die eine invasive Präsenz im Leben der Menschen darstellt, ist für ihn eine Möglichkeit, genau diesem Abgrund zu entgehen.278 2013 folgt in Zusammenarbeit mit Carlo Bonini Suburra, eine Art Fortsetzung von Romanzo criminale, dessen Darstellungsweise beschrieben wird als »spessore realistico che descrive una grande citt/ tragicamente ›consegnata‹ al malaffare politico, economico e criminale«.279 Das Werk verschmilzt sozusagen im Nachhinein mit der Realität, denn: Das japanische Samuraischwert des kriminellen Protago275 Maria Cerino: »Diego De Silva: ›Io, la Camorra sostenibile e il gomorrismo‹«, Cafebabel italiano (02. 10. 2009), [IQ]. 276 »Era la rottura dell’ultimo argine [da parte della mafia]: I bambini non si toccano«, gibt De Silva im Interview mit Rai Cultura / Letteratura an. Vgl. ebd., [IQ]. 277 Vgl. Giancarlo De Cataldo in Rai Cultura / Letteratura: »Romanzo criminale: il fascino del Male«, [IQ]. 278 Giancarlo De Cataldo in Rai Cultura / Letteratura: »De Cataldo: perch8 racconto il male«, [IQ]. Von De Cataldo folgen Werke in vergleichbarem Stil wie etwa Nelle mani giuste (Torino: Einaudi 2007), das die Untersuchungen zu den Mani pulite und das Ende der Ersten Republik erzählt und rezenteren Datums Suburra (Torino: Einaudi 2013), das er zusammen mit Carlo Bonini schreibt und veröffentlicht. 279 Massimo Razzi: »Suburra: tra fiction e realt/, ›Mafia Capitale‹ era gi/ in un libro«, La Repubblica (19. 12. 2014), [IQ].
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nisten De Cataldos und Boninis wird später tatsächlich im Haus von Massimo Carminati aufgefunden.280 Die Darstellungen der Mafia finden in Radikalität und Anspruch auf Exaktheit ihren Höhepunkt mit Roberto Savianos Gomorra (2006).281 Der kindliche Protagonist steht nicht nur bei De Silva im Fokus. Auch die Werke Niccolk Ammanitis, die unter realistischen Vorzeichen stehen, zeichnen sich durch jugendliche Protagonisten aus. In seinem ebenfalls 2001 erschienenen Io non ho paura ist es Michele, der dem Leser aus Kinderaugen die dunkle Seite des Südens näherbringt und dabei erwachsen wird.282 In Come Dio comanda (2006) nimmt die Geschichte des jungen Cristiano, der unter dürftigen sozialen Umständen im Mailänder Hinterland aufwächst, den meisten Raum ein. In diesem Roman treten Themen wie das Prekariat, die immer höhere Arbeitslosigkeit, aufkommender Rassismus, verschiedene Gesellschaftsschichten mit besonderem Blick auf das, was Pasolini als Subproletariat bezeichnet hätte, das Versagen sozialer Einrichtungen sowie die Psychologie einzelner Schicksale ins Blickfeld. Zudem fällt die Omnipräsenz des Fernsehers auf, der zur Wissensund Erklärungsinstanz avanciert ist und wieder destruiert wird.283 Besonders die Probleme und Unsicherheiten auf dem Arbeitsmarkt finden sich auch bei weiteren Autoren im Fokus. Es zeichnet sich hier eine Verbindungslinie zu dem eingangs zitierten Werk Aldo Noves Mi chiamo Roberta (2006) ab. Der Autor, der ebenso wie Ammaniti ehemals zu den wichtigsten Mitgliedern des Pulp und der Cannibali gehört hat, zeigt in seinem Dokudrama aus aufgearbeiteten Interviews das Bild junger Menschen und Personen mittleren Alters, die aus unterschiedlichsten Gründen im Prekariat leben. Aber nicht nur die Jugend oder die Unterschicht leidet unter der schlechten Arbeitssituation, auch der alternde Manager, der seinen Job und somit seine Zukunft verloren hat, findet mit seiner Geschichte in Il luned' comincia sempre di domenica pomeriggio (2009) von Massimo Lolli seinen Platz auf dem Buchmarkt. Ein besonderer Fall ist Michela Murgia mit ihrem Il mondo deve sapere (2006), einem Roman, der zunächst als Blog erschienen ist. Die Autorin erzählt aus eigener Erfahrung von der Arbeitswelt in einem modernen Callcenter in Italien, einem multinationalen ursprünglich amerikanischen Konzern, und beschreibt 280 Vgl. ebd. Razzi zitiert in seinem Artikel: »Certo, quando esce la notizia che in casa di Massimo Carminati hanno trovato un ›katana‹, la spada rituale dei samurai, il primo pensiero che ti viene H che la realt/ supera la fantasia. O meglio che le logiche interne (e fantastiche) di un romanzo che racconta cose attinenti alla cronaca finiscono, a volte, per coincidere con i fatti«. 281 Eine übergreifende Analyse wird in Kap. 6 der vorliegenden Arbeit vorgenommen. 282 In der Tradition dieses Werks steht auch Mario Missirolis Senza coda, das ebenfalls die kriminelle Welt durch Kinderaugen zeigt und seinen Protagonisten in einer eindeutigen Replik »io ho paura« sagen lässt. Vgl. ders.: Senza coda. Roma: Fanucci 2005. 283 Es folgen Ausführungen in Kapitel 4.
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Zustände, die zwischen berlusconismo und Scientology oszillieren.284 In tagebuchartiger Form und mit dezidiertem Aufklärungswillen beschreibt sie einen infernalischen Monat beim Telemarketing. Das Prekariat ist auch eines der Haupthemen im Werk Mario Desiatis, der neben der Arbeitslosigkeit auch widrige Arbeitsbedingungen und so als Brennpunkt seiner Werke das Thema der Fabrik, insbesondere der Stahlfabrik Ilva, aufleben lässt.285 Fabrik und Adoleszenz sind ebenfalls Themen, die in Silvia Avallones Acciaio (2010) im Fokus stehen. Die Freundschaft zwischen den Mädchen Anna und Francesca wird vor dem Hintergrund des allgegenwärtigen Schattens des Hochofens und der minutiös beschriebenen Stahlfabrik, in der Annas Bruder arbeitet und stirbt, erzählt. Ein weiterer thematischer Strang kettet sich an das Thema der Immigration und Flüchtlingsgeschichten, zum einen betrachtet aus autochthoner Sicht und zum anderen vom Blickwinkel der Einwanderer oder Flüchtlinge ausgehend. Die letztere Herangehensweise wird unter dem Begriff der letteratura migrante, letteratura meticcia oder letteratura transculturale gefasst. Den Beginn einer solchen Literatur in Italien setzen Kritiker mit dem Tod des jungen Afrikaners Jerry Essan Maslo im Juni 1989 fest,286 der die Erzählung des Autors Tahar Ben Jelloun und des italienischen Journalisten Egisto Volterrani »Villa Literno« in der Sammlung Dove lo stato non c’H (1991) inspiriert hat. Gerade in den letzten Jahren stößt transkulturelle italophone Literatur auch in der Forschung auf vermehrtes Interesse und die Kritik bemerkt, dass »eine neue Atmosphäre in die Literatur in italienischer Sprache Einzug gehalten hat, die nicht mehr von postmoderner spielerischer Beliebigkeit, sondern von ethischem Ernst geprägt
284 Der Roman wurde mittlerweile sogar für die Theaterbühne adaptiert. Vgl. die offizielle Hompage des Teatro Stabile di Napoli, [HP]. Hompages von Persönlichkeiten oder Institutionen werden im weiteren Verlauf der Arbeit stets mit der Sigle [HP] gekennzeichnet und finden sich inklusive der URL und dem Datum letzten Zugriffs in der Bibliographie in der entsprechenden Kategorie. 285 Die Ilva, eine Stahlfabrik der RIVA-Gruppe, früher als Italsider bekannt, ist seit über 100 Jahren aktiv und einer der wichtigsten Stahlproduzenten in Italien. Im Jahr 2013 etwa wurden insgesamt 5,7 Millionen Tonnen Stahl produziert. Der wichtigste und größte Standort der Ilva ist in Tarent (Apulien). Hier werden etwa 55 % der Gesamtmasse des produzierten Stahl hergestellt. Vgl. dazu die offizielle Hompage der Gruppo Ilva, [HP]. Ausführungen dazu in Kap. 5 der vorliegenden Arbeit. 286 Vgl. die offizielle Homepage des Portale Integrazione Migranti, [HP]. Es ist auf die besondere Rolle Italiens hinzuweisen, dass im Vergleich zu Frankreich etwa keine richtige Kolonialgeschichte aufzuweisen hat. Zum einen hat die transkulturelle italophone Literatur daher eine viel jüngere Tradition und zum anderen auch eine andersartige Relation zum sprachgebenden Land. Vgl. dazu Francesca Macchioni: »Intervista von Julio Monteiro Martins«, Agarana. Arte e tecnica del narrare, [IQ] und Armando Gnisci: Creolizzare l’Europa: letteratura e migrazione. Roma: Meltemi editore 2003.
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ist«.287 Eines der bekanntesten Werke mag das des Senegalesen Pap Khouma Io, venditore di elefanti (1990) sein. Zwanzig Jahre später erscheint vom selben Autor Noi italiani neri: storia di ordinario razzismo, das von schwarzen Italienern, Kindern gemischter Paare oder solcher, deren Eltern bereits seit Jahrzehnten in Italien leben, erzählt. Dabei werden bewusst Strategien des investigativen Journalismus mit fiktiven Narrationsmustern vermischt. Das Thema eingewanderter, aber mittlerweile alteingesessener albanischer Minderheiten in Mittel- und Süditalien steht im Fokus des Erzählens von Carmine Abate, dem es im Werk Il ballo tondo (2005) gelingt, sowohl das Thema der Migration zu verarbeiten als auch die eigene Region zur Darstellung kommen zu lassen. Kalabrien zwischen Antike und Moderne, zwischen Mythos und Realität durchzieht systematisch Abates Werk. Der Wille, ›seinen Süden‹ zu erzählen,288 rückt ihn – ähnlich wie Desiati – in die Nähe meridionalistischen Schreibens. In Desiatis Literatur fließen einige der bereits genannten Tendenzen zusammen. So etwa der Blick auf das Regionale, die Fabrik und das Prekariat. Zuletzt beschäftigt er sich auch mit der Einwanderung und zwar aus kindlicher Perspektive. Er erzählt die Geschichte der Vlora, nicht nur mit jugendlichen Protagonisten, sondern auch für jugendliche Leser. Mare di zucchero erscheint im September 2014 und gibt die Geschichten von Ervin und Luca wieder, die sich aufgrund des Flüchtlingsdramas für einen Tag kennenlernen und dann nie wieder sehen. Interessant ist, dass sowohl das erträumte und gelobte Land, das Ervin mit seiner Flucht nach Italien zu erreichen hofft, als auch die ersten Erfahrungen und Eindrücke Lucas bei der Ankunft der Albaner in Bari über Fernsehbilder vermittelt werden. Das Werk spiegelt damit eine Tendenz, die in der gegenwärtigen Literatur häufig zu verzeichnen ist.289 Die bewegten, bunten Bilder sind omnipräsent, sie stehen in Desiatis Buch neben den Erzählungen von Familien und Bekannten und prägen das Bild der Wirklichkeit der heranwachsenden Jungen. Das mediale und somit sekundäre Ereignis, nicht das selbst Erlebte, scheint im Mittelpunkt zu stehen und erinnert damit an Aussagen Antonio Scuratis oder Daniele Gigliolis, die von einer Absenz des Erlebnisses und des Traumas sprechen.290 Das Trauma, das wir in unserer 287 Martha Kleinhans / Richard Schwaderer [Hg]: Transkulturelle italophone Literatur / Letteratura italofona trasculturale. Würzburg: Königshausen & Neumann 2013, S. 17. 288 Vgl. Antonio Corbisiero: »›Vi racconto il mio Sud‹. Lo scrittore Carmine Abate ospite degli Stati generali della letteratura di Pollica«, La citt/ di Salerno (01. 10. 2016), [IQ]. 289 Mediale Einflüsse sind sowohl in Form von Systemerwähnung als auch von Systeminterferenz auszumachen. Besonders stark treten beide Komponenten etwa bei Ammaniti auf, während bei dem hier angesprochenen Werk von Desiati die Systemerwähnung überwiegen mag. Die Verwendung der Termini folgt hier Scholler, der eine Präzisierung von Rajeswkys Begrifflichkeiten vorschlägt. Vgl. Scholler 2004, S. 188f., [IQ]. 290 Vgl. Antonio Scurati: La letteratura dell’inesperienza. Scrivere romanzi al tempo della televisione. Milano: Bompiani 2006 und Daniele Giglioli: Senza trauma. Scrittura dell’es-
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Wohlstandsgesellschaft nicht mehr tatsächlich ›selbst erleben‹ können – so wird es vielfach postuliert – ist uns nur noch in der Imagination, in absentia zugänglich: »Guerre ed epidemie, calamit/ e disastri vanno bene anche nella realt/, sempre che, beninteso, capitino ad altri e a patto che tra quegli altri e noi ci sia il filtro rassicurante dello schermo, cinematografico, televisivo o del personal computer.«291 Scurati spricht von der verlorenen Beziehung zwischen Ereignis und Literatur (verstanden als ein Zusammenspiel schriftlicher Operationen und Lektüre), die sich nicht auf der generellen Unvereinbarkeit beider Pole begründe, sondern darin, dass beide identisch seien.292 Man erlebt also, in den Augen Scuratis und Gigliolis, Geschehnisse nur noch indirekt und auf mediale Weise. In Desiatis Werk aber kommt es zudem – wenn auch zeitverschoben – zu einem realen Kontakt mit den Ereignissen und dem Aufeinandertreffen der beiden Realitäten, dem gegenseitigen Austausch zwischen den Jungen, die – jeder auf seine Weise – die Erlebnisse der Zeit erinnern, wie auch der Autor selbst sich erinnert.293 Inwieweit in unserer westlichen, medienregierten Welt die Literatur durch selbige beeinflusst und inwiefern mediales Wachstum Erleben und Erzählen unmöglich zu machen scheinen und es dann doch wieder bedingen und befruchten, steht im folgenden Kapitel im Fokus.
tremo e narrativa del nuovo millennio. Macerata: Quodlibet 2013. Der Begriff des Traumas und des Erlebnisses scheinen in den Werken relativ gleichgeschaltet. Giglioli definiert: »Trauma, ovvero esperienza veramente vissuta, significativa, degna di essere trasmessa, commentata, condivisa«. Vgl. ders. 2013, S. 8. 291 Vgl. ebd., S. 8f. 292 Vgl. Scurati 2006, S. 8f. Später spezifiziert er noch einmal: »Oggi, le letture e le esperienze di vita sono destinate a rimanere due universi ma riunificati non perch8 siano ben distinti tra loro, cos' nettamente distinti da rimanere separati, ma, al contrario, proprio indistinguibili. Quando i confini tra realt/ e finzione si vanno sfocando, le letture e le esperienze di vita finiscono per configurare due universi perfettamente equivalenti, identici nel loro appartenere entrambi all’inconsistenza dell’immaginario, e dunque negati alla possibilit/ di stabilire tra di essi un rapporto autentico, di interpretazione reciproca o di qualsiasi altro tipo.« Vgl. ebd., S. 32. 293 Bei der Vorstellung des Buches in einer Schule kommt es zu folgendem Dialog zwischen Schüler und Autor : »Perch8 ha voluto raccontare dello sbarco degli albanesi negli anni Novanta e non degli sbarchi piF recenti sulle coste di Lampedusa?« ha chiesto un’alunna con la sua voce pulita, dopo essersi presentata. Mario Desiati non ha risposto di getto, ha guardato nel vuoto per qualche secondo e, come in preda a una nostalgia struggente, si H lasciato sfuggire: »Perch8 io c’ero!«. Vgl. Mario Desiati in Recensioni infeltrite: »Un mare…di libri!«, L’ Infeltrita, [IQ].
Literatur zwischen Intermedialität, Transmedialität und Mimesis
3.3
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Die Wechselwirkung von Alten und Neuen Medien: Literatur zwischen Intermedialität, Transmedialität und Mimesis
Realismus oder realistische Darstellung in der Literatur sind durch massive mediale Einflüsse in ihrer Existenzweise bedroht. So präsentiert sich die Situation zumindest auf den ersten Blick. Alles, was wir wahrnehmen, ist bereits medial gefiltert, der unverfälschte Blick – neben dem sowieso subjektiven Schleier – durch die Wiedergabe durch Zeitung, Fernsehen und Internet verstellt. Zudem scheint nicht nur die direkte Wahrnehmung ausgeschaltet, auch die Welt, das Reale in seiner ursprünglich einmal gedachten Form, schwindet. Diese Beschreibung trifft den Kern vieler aktueller Diskussionen. Scurati spricht davon, dass, während Calvino und die Neorealisten noch versuchten, ihre Welt nach der Katastrophe in literarische Worte zu fassen (»Come trasformare in opera letteraria quel mondo che era per noi il mondo«), sich das Problem heute neu formuliere: »Oggi il problema si riformula cos': come trasformare in opera letteraria quel mondo che H per noi l’assenza di un mondo. Il mondo non c’H, e per questo diventa urgente raccontarlo«.294 Giglioli ergänzt einige Jahre später : In dem Zeitalter, das Scurati als das der Vollendung der Nicht-Erfahrung bezeichnet hat, zerrinnt die Realität zwischen den Fingern derer, die sie erzählen wollen. Sie ist gefangen wie in einer Meerenge, zwischen der Skylla des Relativismus (jedem seine eigene Wahrheit) und der Charybdis des Klischees, des Allgemeinplatzes und der Wiederholung.295 Die literarische und künstlerische Moderne habe sich von tatsächlichen Traumata genährt, von der Industrialisierung, der Urbanisierung, der Säkularisierung, technischer Modernisierung, den Weltkriegen, den Massenvernichtungswaffen. Das Trauma der heutigen Zeit sei ein fantasmatisches, das nur über seine ständige Einberufung präsent sei. Giglioli postuliert: La televisione H stata il nostro Vietnam, un bombardamento di immagini che non generano esperienza ma la requisiscono, rendendola impossibile da descrivere senza il ricorso a immagini che nulla hanno a che fare non l’esistenza quotidiana. […] Non siamo stanchi, siamo in coma. Ogni notizia H una bomba.296
Die Welt im Zeitalter der globalen Kommunikation bringt ein Leben ohne Horizont der Welt mit sich, ohne eine Welt am Horizont. Daher sei es natürlich, dass
294 Scurati 2006, S. 20. 295 Vgl. Giglioli 2013, S. 15. Eine Rückkehr zur Wirklichkeit sieht Giglioli nicht, höchstens eine Rückkehr zum lacanianischen Realen. Vgl. ebd., S. 16f. 296 Ebd., S. 17f. Laut Giglioli reagiert die Literatur auf diese Situation mit einem Schreiben des Exzesses und der Extreme. Zu Autoren dieser Art zählt er nicht nur die Cannibali, sondern auch das Werk Carlo De Cataldos oder Roberto Savianos. Vgl. ebd., S. 11f.
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Zurück zum Realen? Tendenzen in der italienischen Gegenwartsliteratur
es der literarischen Narration an Inhalt fehle.297 Dreh- und Angelpunkt sind immer wieder die Medien. Dauerhaft wird ein ›Zuviel‹ an globalen Nachrichten über Ereignisse, die von anderen erlebt wurden, in eine Gesellschaft der NichtErfahrung übermittelt. Diese scheint so in einer konstruierten Welt der relativen Wahrheiten zu leben und Fakten und Fiktionen nicht mehr unterscheiden zu können, da die Welt selbst sich in ihren Simulakren aufhebt. Wie soll in einem solchen Umfeld literarischer Realismus fußfassen? Ein Blick auf die Geschichte der verschiedenen Realismen macht jedoch sichtbar, dass mediale Entwicklung und realistische Schreibweise immer schon auf das Engste verknüpft waren. Literarischer Realismus entsteht nicht nur erstaunlich oft in großer zeitlicher Nähe zu den verschiedenen medialen Entwicklungen und Aufschwüngen, sondern unterliegt auch entsprechend häufig Wechselwirkungen, beziehungsweise: Realismus macht sich diese zunutze.298 Das zeigt sich in parallelen oder oppositionären Entwicklungen, führt zu unterschiedlichen Formen der Intermedialität oder schließlich auch zur Transmedialität. Rudolf Helmstetter stellt fest: Daß literarischer Realismus als Programm, als Postulat, als ästhetisches Leitkonzept gerade in dem historischen Moment auftaucht, als die ganze Welt ohnehin schon in Wort und Bild in Gestalt eines neuen Leitmediums präsentiert und periodisch-permanent vergegenwärtigt wird, ist keine zufällige Koinzidenz.299
Helmstetters Beschreibung scheint nicht weit von unserer aktuellen Welt entfernt und doch bezieht er sich mit seiner Aussage auf das 19. Jahrhundert. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist nicht nur die Blütezeit des französischen Naturalismus und italienischen Verismus, auch der europäische Journalismus wird professionalisiert und expandiert. Möglich wurde dies durch Innovationen im Druck, sodass die Auflagenzahl erhöht werden konnte, die Formate größer wurden, der Seitenumfang wuchs und der Inhalt vielfältiger wurde.300 »Um die Jahrhundertmitte hatten die Leser wöchentlich in jeder Zeitungsausgabe drei297 Vgl. Scurati 2006, S. 23. 298 Scholler, der in der starken Wechselwirkung zwischen neuen Medien und Literatur eine »sekundäre Literalität« entstehen sieht, fächert den generellen Zusammenhang zwischen neuen Technologien (! Medien) und der Literatur auf. Er beginnt bei der Einführung der Schrift vor 3500 Jahren (die »die Eigenarten primär oraler Kommunikation überflüssig macht«) und führt über die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert (»primäre Literalität«) bis hin zum »Aufkommen des elektronischen Schreibens«, das zu eben jener »sekundären Literalität« führt. Vgl. ders. 2004, 191ff., [IQ]. Somit wird klar, dass Schreiben jedweder Art (realistisch oder antirealistisch) im ursprünglichsten Sinne schon immer der Entwicklung von Technologien und damit Medien unterlag. 299 Helmstetter 2011, S. 31, [Hervorhebung im Original]. 300 Vgl. Jürgen Wilke: »Journalismus. Die Professionalisierung des Journalismus.«, EGO (17. 06. 2013), [IQ].
Literatur zwischen Intermedialität, Transmedialität und Mimesis
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ßig- bis sechzigmal so viel zu lesen wie diejenigen zwei Jahrhunderte zuvor«.301 Man kann somit von einem massiven Anwachsen medialer Präsenz im Alltag sprechen. Das verhinderte jedoch nicht das Aufkommen und die Verbreitung realistisch-naturalistischer Tendenzen in der Literatur, im Gegenteil, es ist eine bemerkenswerte Nähe zum Journalismus erkennbar. Martin Kött schreibt dazu: »Der naturalistische Roman und die journalistische Reportage sind seit den 1860er Jahren dem gleichen Ideal verpflichtet: einer möglichst originalgetreuen Abbildung der sozialen Realität und einer durch das erkennende Subjekt verbürgten Wahrheit.«302 Clotilde Bertoni stellt fest: »Soprattutto per il naturalismo la stampa H un determinante retroterra: arricchisce i suoi ›documenti umani‹, sostiene il suo rifiuto degli intrecci studiati, la sua attenzione alle zone infime o scandalose dell’esperienza.«303 Weiterhin ist auf die Erfindung der Photographie (1839) hinzuweisen, »jenem Medium also, das die Quintessenz realistischer Darstellung bedeutete«, die die realistische Literatur sicher befruchtet, keineswegs aber unterbunden hat.304 Im 20. Jahrhundert fallen realistische Formen in der Literatur mit einer Blütezeit des italienischen Films zusammen. Nach einer ersten Hochphase des Kinos vor dem Ersten Weltkrieg305 und einem Abflauen selbiger während des Ersten und bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges nahm das Interesse am Kino in den darauffolgenden Jahren wieder zu.306 Zu einem Durchbruch kam es Ende des Zweiten Weltkrieges mit dem Aufkommen neorealistischer Verarbeitungsten-
301 Ebd. 302 Martin Kött: Das Interview in der französischen Presse. Tübingen: Niemeyer 2004, S. 139. 303 Clotilde Bertoni: Letteratura e giornalismo. Roma: Carocci 2009, S. 15. Sie zeigt die Nähe zwischen Journalismus und Naturalismus anhand der Beispiele von Pmile Zola und Matilde Serao auf. Vgl. ebd., S. 15ff. 304 Sabina Becker widmet dem Thema des literarischen Realismus und der Photographie einen interessanten Band. Vgl. dies.: Literatur im Jahrhundert des Auges: Realismus und Fotografie im bürgerlichen Zeitalter. München: Ed. text& kritik 2010. Außerdem erschien in Zusammenarbeit mit Barbara Korte ein Sammelband zu Photographie und Literatur, der in den einleitenden Kapiteln noch einmal eben jenes Thema reflektiert. Siehe diess.: Visuelle Evidenz: Fotografie im Reflex von Literatur und Film. Berlin: De Gruyter 2011. 305 Vgl. Irmbert Schenk: Film und Kino in Italien. Studien zur italienischen Filmgeschichte. Marburg: Schüren Verlag 2014, S. 14ff. In Bezug auf diese Zeit bemerkt Schenk: »Zu betrachten ist also die extreme Faszination, die dieses italienische Filmgenre ab 1908 auf die Publika in Italien und der ganzen Welt ausübt. Sie liegt neben der Neuerung der epischvisuellen Breite der Erzählung nicht zuletzt in deren realistischer Erscheinung, vorzugsweise in den Außenaufnahmen. […]: Das neue Massenmedium bildet massenhaft ›wirkliche‹ Menschen in ›wirklichen‹ Räumen und Dekorationen ab.« Ebd., S. 23. 306 Ab 1918 spätestens nimmt man einen Niedergang des italienischen Kinos zugunsten der Vormachstellung der amerikanischen Kinematographie an. Nichtsdestotrotz gibt es eine »zentrale Spur durch das italienische Kino«, die bis in die fünfziger und sechziger Jahre zu verfolgen ist. Vgl. Schenk 2014, S. 51f.
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denzen, als das Kino die Literatur nahezu übertrumpfte.307 Eine Beeinflussung aufseiten der Literatur durch den Film ist auch hier spürbar, allerdings je nach Einsatz der Mittel zu verschiedenen Zwecken. So etwa konstatiert David Nelting, dass Vittorinis Uomini o no versuche, seine Leser durch »cinematographische Erzähldispositive perzeptiv und affektiv unmittelbar in eine erzählte Wirklichkeit zu versetzen«,308 während er für Calvinos erzählerische Modellierung der Wirklichkeit im Sentiero annimmt, dass sie in einer »unhintergehbaren Medialisierung« münden, mit der sich der Autor bereits wieder aus neorealistischen Tendenzen herausschreibe.309 Die Aufnahme medialer Strukturen in Texten kann also verschiedene Effekte mit sich bringen, authentifizierende wie illusionsbrechende, je nach deren Einsatz.310 In den 60er Jahren entsteht in Amerika in Konkurrenz zur zeitgenössischen Presse und in einem Zwischenraum zwischen Journalismus und Literatur der New Journalism311 und das Genre der Nonfiction Novel, die einerseits dem Realismus des 19. Jahrhunderts nahestehen,312 andererseits im Klima der erneut stark anwachsenden Massenmedien verwurzelt sind. Die amerikanische Realität unterliegt in dieser Zeit einem spürbaren Wandel, stimuliert durch die Wahl Kennedys und entfesselt durch das Attentat an selbigem. Die amerikanische 307 Zum italienischen Kino des Neorealismus siehe Ausführungen von Christopher Wagstaff: Italian Neorealist Cinema. An Aesthetic Approach. Toronto [u. a.]: University of Toronto Press 2007 und Gian Piero Brunetta: Il cinema neorealista italiano. Da »Roma Citt/ aperta« a »I soliti ignoti«. Roma / Bari: Laterza 2009. 308 David Nelting: »›…un gioco di specchi‹ – Unmittelbarkeit und Medialisierung in der Erzählpoetik des frühen Italo Calvino«, GRM 60 (2010), S. 203–220, hier S. 213. Nelting bezieht sich auf Verfahren der raschen Schnittfolge und des Aktionsreichtums. Vgl. ebd. 309 Nelting 2010, S. 219. Nelting analysiert hier prioritär den Blickpunkt der Figur des Lupo Rosso, der – nach Nelting – das Werk in den Kontext eines Agentencomics, wie er in den 30er Jahren verbreitet war, setzt. Vgl. ebd., S. 218f. 310 Zu den verschiedenen Effekten von Intermedialität werden im weiteren Verlauf dieses Kapitels sowie im Folgekapitel weitere Ausführungen vorgenommen. 311 Der Begriff des New Journalism kommt bereits im 19. Jahrhundert zum ersten Mal auf. In der angloamerikanischen Forschung wird der Begriff jedoch, sofern er nicht explizit auf die Gruppe um Tom Wolfe angewandt wird, durch »Literary Journalism« ersetzt. Diese Arbeit folgt dem Ansatz von Hannes Haas, der den New Journalism über das Konzept, dem sich die Mitglieder jener New Yorker Journalistengruppe verschrieben hatten, definiert. Vgl. dazu: ders.: »Fiktion, Fakt & Fake. Geschichte, Merkmale und Protagonisten des New Journalism in den USA«, In: Joan Kristin Bleicher / Bernhard Pörksen [Hg.]: Grenzgänger. Formen des New Journalism. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 43–73, hier S. 44ff. 312 Tom Wolfe schreibt: »If you follow the progress of the New Journalism closeley through the 1960’s you see an interesting thing happening. You see journalists learning the techniques of realism – particularly of the sort found in Fielding, Smollett, Balzac, Dickens and Gogol – from scratch. By trial and error, by ›instinct‹ rather than theory, journalists began to discover the devices that gave the realistic novel ist unique power, variously known as is ›immediacy‹, is ›concrete reality‹ is ›emotional involvement‹, is ›gripping‹ or ›absorbing‹ quality.« Vgl. ders.: The new Journalism. With an Antology. Hg. v. Tom Wolfe / E. W. Johnson. New York [u. a.]: Harper& Row 1973, S. 31.
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Psyche leidet unter der Gleichzeitigkeit von politischer, nationaler und individueller Gewalt, die sich auch in den damals neuen Medien niederschlägt:313 Massmedia journalism was now present as an added force, making its versions of these events part of the national consciousness. The individual American found himself daily confronted by realities that were as actual as they seemd fictive […]. Both novelists and reporters found themselves faced with situations demanding responses, situations for wich they soon realized their tools were inadequate.314
Das Gefühl, dass die tatsächliche Realität entgleitet und durch eine mediale beeinflusst beziehungsweise gar konstruiert oder ersetzt wird, reicht also weiter zurück als man annehmen mag. Die etablierten Printmedien und das Fernsehen, so John Hellmann, erzeugen gebündelte und vorverpackte Fiktionen von Ereignissen, die zur nationalen Realität werden. Ansätze dieser Entwicklung sieht Hellmann aber schon Jahrzehnte vorher, als Walter Lippmann die Tendenz der Printmedien diskutierte, Stereotypen zu erzeugen und zu verewigen. Eine zusätzliche Verschärfung der Situation ergab sich durch das verstärkte Aufkommen des Films.315 Diese Entwicklung in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, die aus medienwissenschaftlicher Sicht in das Zeitalter der Informationsgesellschaft führt (Daniel Bell, 1976), wird definiert durch »den Überfluss an oder die Zunahme und Vernetzung von Informationen«.316 Dieser ständige Zuwachs an Informationsmöglichkeiten (begrifflich erkennbar an der »Informationslawine« oder dem »information overload«) führt zu einer Überforderung der Gesellschaft, käme es nicht zu reflexiven Mechanismen. Klaus Merten spricht von einer Paradoxie: »Die Überforderung durch ein Zuviel an Informationen lässt sich nur durch eine weitere Überforderung, durch ein Nochmehr an Information – freilich besonderer Art – reduzieren«, nämlich durch die Entstehung von Metamedien.317 Oder eben, so könnte man annehmen, durch neue Formen realistischen Schreibens, die einen tiefer führenden Wahrheitsgehalt318 versprechen. Helmstetter formuliert: 313 Vgl. John Hellmann: Fables of Fact. The New Journalism as New Fiction. Urbana, Ill. [u. a.]: Univ. of Illinois Press 1981, S. 2. 314 Ebd. 315 Ebd., S. 4. Hellmann führt weiter aus: »for most Americans in the 1960’s, perhaps the central reality was that everyday life now involved implausible characters and events delivered into home by media. The realm of the believable had become an extremely doubtful concept.« Vgl. ebd., S. 9. 316 Klaus Merten: »Zur Ausdifferenzierung der Mediengesellschaft. Wirklichkeitsmanagement als Suche nach Wahrheit«, In: Klaus Arnold / Christoph Neuberger [Hg.]: Alte Medien – neue Medien. Theorieperspektiven, Medienprofile, Einsatzfelder. Festschrift für Jan Tonnenmacher. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 21–39, hier S. 22. 317 Ebd., S. 23. Unter Metamedien versteht Merten zum Beispiel Bibliographien von Bibliographien oder Verzeichnisse von Suchmaschinen. Vgl. ebd. 318 Dieser sollte im New Journalism durch folgendes Programm erreicht werden: »Erzählung
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Die realistische Programmatik ist motiviert vom Bedürfnis oder Wunsch nach Reduktionshilfe und Komplexitäts-Schirmen, nach Evidenz oder Konsistenz, gelingender Selektivität und plausibler Perspektivik hinsichtlich der medial konstituierten Wirklichkeit, die den empirisch-konkreten Erfahrungshorizont sprengt, die Informationsverarbeitungsroutinen, die gewohnten Weisen der Welterzeugung überfordert.319
Und tatsächlich lässt sich als Reaktion auf oder zumindest parallel zu medialer Weiterentwicklung häufig das Aufkommen eines erzählenden Genres mit hohem Authentizitätsanspruch konstatieren. Ab den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ist eine weitere, rasante quantitative Steigerung im Bereich der Medien erkennbar. Der Wandel beschleunigt sich wie noch nie zuvor.320 Der mediale Konsum ist nicht länger die Ausnahme, sondern wird zur »zweiten Natur: consuetudo est altera Natura«.321 »Wir leben in der Mediengesellschaft«, proklamiert Klaus Merten.322 Es ist genau der Zeitraum, für den die vorliegende Arbeit den beginnenden Umbruch von postmodernistischen zu neuen realistischen Formen in der Literatur annimmt. Die Mediengesellschaft ist nach Merten erreicht, »wenn sich neben der ›realen‹ Wirklichkeit eine fiktionale Wirklichkeit derart etabliert hat, dass beide gleichberechtigt sind und in ihrem Zusammenwirken eine aktuelle, handlungsleitende Wirklichkeit erzeugen«.323 Auch Merten spricht also – wie Scurati – von einer Äquivalenz zwischen einer realen und einer fiktiven Welt. Aber Merten bleibt nicht an diesem Punkt stehen. Er entwickelt ein Schema, in dem aus dem, was er reale Wirklichkeit und fiktionale Wirklichkeit nennt, nämlich die der Medien, die aktuelle Wirklichkeit zusammenschmilzt.324 Giulio Ferroni spricht davon, dass die Virtualität sicher nicht eine Potenzierung des Geistes mit sich bringt (»potenziamento dello spirito«) genausowenig wie sie zu einer Erleichterung der ›Schwere des Realen‹ führt (»alleggerimento della pesantezza del reale«). Körper und Geist dessen, der in der Virtualität reist, bleibt trotz allem der Körper und Geist eines lebendigen Wesens, das in einer Welt lebt, die vielleicht nicht mehr leicht und eindeutig identifizierbar
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statt Wiedergabe, Intuition statt Analyse, Menschen statt Dinge, Stil statt Statistik.« Vgl. Hannes Haas / Gianluca Wallisch: »Literarischer Journalismus oder journalistische Literatur? Ein Beitrag zu Konzept, Vertretern und Philosophie des ›New Journalism‹«, Publizistik 3 (1991), S. 298–314, hier S. 298. Helmstetter 2011, S. 31. Vgl. Klaus Arnold / Christoph Neuberger : »Einführung«, In: dies. [Hg.]: Alte Medien – neue Medien. Theorieperspektiven, Medienprofile, Einsatzfelder. Festschrift für Jan Tonnenmacher. Wiebaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 11–19, hier S. 11. Scholler 2004, S. 186. Merten 2005, S. 21. Ebd., S. 24. Vgl. ebd., S. 24f.
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ist, dennoch aber diesseits jener virtuellen Räume liegt und unabdingbar ist. Ferroni fasst zusammen: Insomma la realt/ virtuale non modifica la finitudine della realt/ naturale e sociale: si fa piuttosto strada dentro di essa […]. Intorno alla virtualit/ permarranno sempre scarti e residui che riguarderanno la vita corporea, la necessit/ e gli imprevisti biologici di coloro che vorranno immergersi in essa;325
Helmstetter selbst schließt den Bogen vom medienzeitgeschichtlichen Hintergrund des literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts zur heutigen Medienwirklichkeit und erkennt ihr jeweils ein vergleichbares Nähe-Distanz-Verhältnis (»die ganze Welt in Wort und Bild«) zu, »auch wenn seither noch etliche Medien dazugekommen sind« und das heute zu einer »trivialen Erfahrung« geworden ist.326 In unserer gegenwärtigen Welt fällt die Verschränkung von realer und fiktionaler Wirklichkeit nach Merten kaum mehr auf. Das schnelle Anwachsen medialer Informationswege wie die Zunahme von Virtualität im Lebensalltag schlägt sich in der Literatur auf verschiedene Weise nieder. So zeigen sich in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts vermehrt nicht nur die dem Postmodernistischen eigene Intertextualität in der Literatur, sondern in zunehmendem Maße auch verschiedenen Formen der Intermedialität. Rajewsky verfolgt in ihrer Dissertation konsequent den Einfluss audiovisueller Medien auf literarische Texte und zeigt, wie Intermedialität in Form eines dichten Verweisgeflechts formal und inhaltlich immer weiter in literarische Texte eindringt.327 Besonders in Hinblick auf die von ihr als zweiten Grundtypus definierte intermediale Systemerwähnung, dem ›Als ob‹ filmischer Präsenz im Text, stellt sie eine zweifache Funktion von Intermedialität heraus, die zudem über zwei Ebenen läuft. Um den ›Als ob‹-Effekt von audiovisuellen Medien im Text zu erhalten, geht es zunächst um eine authentifizierende Illusionsbildung, die auf das System (also fremd- bzw. altermedial) bezogen ist.328 Diese kann wiederum Auswirkung auf die gesamte ›realitäts‹bezogene Illusionsbildung des Textes haben, kann in diese eingehen, sie durchbrechen, also erneut illusionsbildend oder -durchbrechend sein.329 Ihre Ergebnisse in den Einzelstudien reichen von der Hervorhebung der Künstlichkeit der Texte bis zur ansatzweise mimetischen Nachbildung einer medial verfassten Welt, in der der Konstruktcharakter nur noch bedingt im Vordergrund steht.330 Obwohl Rajewsky wieder 325 Giulio Ferroni: Dopo la fine. Una letteratura possibile. Roma: Donzelli 2010, S. 151f. 326 Helmstetter 2011, S. 37. 327 Sie analysiert dieses Phänomen zunächst allgemein, um es dann anhand von Texten aus den 80er Jahren (Tabucchi und De Carlo) und 90er Jahren (Brizzi, Ammaniti, nove) exempelhaft durchzuspielen. Vgl. Rajewsky 2003. 328 Vgl. ebd., S. 71. 329 Vgl. ebd. 330 Eine umfassendere Analyse diesbezüglich wird im Kapitel 4 vorgenommen.
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eine zunehmende Referenzialität in den Texten bemerkt, stellt sie die von ihr untersuchten Werke ohne weiter zu hinterfragen in einen rein postmodernistischen Kontext.331 Ähnlich wie bei Luperinis Zuordnung der Werke aus den 90er Jahren unter dem Namen »postmodernismo mimetico« scheint hier eine Spannung zu entstehen, die es zu diskutieren gilt. Simone Castaldi findet in den zitierten Versatzstücken intermedialer Beimischungen in literarischen Texten eine ganz eindeutig mimetische Komponente und meint, man könne die Hypothese einer Art Naturalismus der Jahrtausendwende formulieren, in der nicht mehr die Dialektik der Beziehung zwischen Subjekt und natürlicher oder sozialer Ordnung wichtig ist, sondern in auffälliger Weise zwischen Subjekt und kultureller Gegebenheit und in besonderer Weise zwischen Subjekt und der Welt der Massenmedien.332 In seinen Augen ändern sich die realistischen Kanones und es entsteht ein neuer Sinn von Realismus, gerade weil sich in der Zeit und auf Basis der Postmoderne die Parameter der Erkennbarkeit der Welt verändert haben. Intertextualität und Intermedialität präsentieren sich somit nicht mehr als bewusste Wahl innerhalb einer Poetik, sondern als Voraussetzung, Literatur machen zu können, also als mimetischer Spender. Daher überlappen sich zum Beispiel in den Werken von Autoren wie Niccolk Ammaniti oder Aldo Nove die Grenzen zwischen Realismus-Effekten und selbstbezüglicher Intertextualität.333 Themen wie das Gedächtnis der Waren und Massenproduktion, Snacks, Fernsehshows, Popmusik und Fastfoodketten stellten eben genau die Realität einer spätkapitalistischen Gesellschaft dar.334 Insgesamt ist hervorzuheben, dass beide Stimmen sich noch auf Texte aus den 90er Jahren beziehen. Eine weiterführende Untersuchung dazu soll in Kapitel 4.1 vorgenommen werden. Was in diesem Schmelztiegel der Wirklichkeit, wie er durch Scurati, Giglioli und auch Merten gezeichnet wurde, nun tatsächlich – wie in der Postmoderne 331 Sabine Schrader merkt in ihrer Rezension zu Rajewskys Werk an, dass der Begriff Postmoderne, wie das Schwerpunktthema der Intermedialität, ein »termine ombrello« sei und im Titel vorkomme, jedoch nicht wirklich zur Disposition stünde und somit letzten Endes auch das Verhältnis von Intermedialität und Postmoderne unklar bliebe. Vgl. dies.: »Irina O. Rajewsky (2002): Intermedialität. Tübingen / Basel: A. Francke (= UTB). Irina O. Rajewsky (2003): Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne: von den giovani scrittori der 80er zum pulp der 90er Jahre. Tübingen: Narr«, PhiN 27 (2004). S. 92–98, hier S. 97, [IQ]. 332 Vgl. Simone Castaldi: »Tra pulp e avanguardia: realismo nella narrativa italiana degli anni Novanta«, Italica 84 2/3 (2007), S. 368–381, hier S. 374f. Castaldi bezieht sich in seinem Artikel auf Werke von Aldo Nove, Niccolk Ammaniti, Giuseppe Caliceti, Tiziano Scarpa, Rossana Campo, Silvia Ballestra Giulio Mozzi und Andrea Pinketts. 333 Vgl. ebd., S. 375f. 334 Vgl. ebd. Bezüglich der Verwendung der Termini Intertextualität und Intermedialität ist zu vermerken, dass Castaldi in seinem Aufsatz keine entsprechend detaillierte Ausformulierung und Unterscheidung vornimmt, die bei Rajewsky selbstredend konstitutiver Teil der Gesamtarbeit ist.
Literatur zwischen Intermedialität, Transmedialität und Mimesis
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erkannt und zum Grundprinzip erhoben – Probleme bereitet, ist der Wahrheitsbegriff, der immer schwerer zugänglich wird. Merten formuliert: Die Wahrheit steht also keineswegs durchgängig zur Disposition, sondern sie differenziert sich in unterschiedlichen Bereichen unterschiedlich aus. […] Die steigende Komplexität der Wahrheitsfindung bzw. Wahrheitssicherung wird durch Einführung eines reflexiven Mechanismus gelöst.335
Diese reflexiven Mechanismen führen auf eine weitere Ebene in die metamediale Gesellschaft, in der der Rezipient laufend »Wirklichkeitsmanagement« betreibt, »indem er faktische und fiktionale Komponenten austariert«.336 Merten folgert daraus, dass Rezipienten weniger als früher an der Berichterstattung über die Welt interessiert sind, da sie durch deren Komplexität überfordert werden und an ihrem Wahrheitsgehalt zweifeln müssen. Helmstetter beschreibt die Situation folgendermaßen: Der »Einfluß« der Massenmedien, ihr zwangloser »Anschlusszwang« hat […] eine Strukturanalogie mit den Mythen. Das moderne Äquivalent der Frage »Glaubten die Griechen an ihre Mythen?« lautet: Glauben Massenmediengesellschaften an ihre Wirklichkeit?337
Möglich sind nach Merten noch zwei Orientierungsformen: Zum einen die an sogenannten Meinungsführern338 und zum anderen durch die Beobachtung der Wirkungen, die die medialen Nachrichten und Konstruktionen haben. In letzterem Fall spricht Merten von einem Typus tertiärer Wirklichkeit durch viable, also funktionale Abbildung, die jedoch in jedem Fall von der Kopie abzugrenzen ist.339 Die Wirklichkeit existiert noch, auch wenn die Wahrnehmung stark von der mächtigen medialen Präsenz geprägt ist. Es ist dies jedoch wiederum ein Umstand, der nicht nur die aktuelle Literatur nicht daran gehindert hat, neue Formen realistischen Schreibens hervorzubringen. Einige der Autoren jüngerer Generation nutzen die heutige mediale Vielfalt auch bewusst und explizit aus, um ihre literarischen Werke und damit ihre Anliegen transmedial fortzuführen. Besonders exponiert sich in dieser Hinsicht Roberto Saviano, der Online-Zeitschriften, Fernsehen, Radio, Blogs und Soziale Netzwerke in seine Arbeit miteinbezieht. Er formuliert bezüglich der Rolle der Medien: Ormai non temo piF di servirmi di ogni mezzo – tv, web, radio, musica, cinema, teatro –, perch8 credo che i media, se usato senza cinismo e senza facile furbizia, siano esatta335 336 337 338
Vgl. Merten 2005, S. 28. Ebd. Helmstetter 2011, S. 43. Dies erklärt populäre Phänome wie man sie in den Fällen von Edward Snowden oder Roberto Saviano vorfindet. 339 Vgl. Merten 2005, S. 29f.
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mente quel che significa il loro nome. Mezzi che consentono di rompere una coltre di indifferenza, di amplificare quel che spesso gi/ da solo dovrebbe urlare al cielo.340
Abschließend bleibt die Frage zu stellen, was Literatur, das Buch als weiteres, traditionelles Medium, das sich in seiner Machart und durch Verschwisterung mit weiteren Systemen in der heutigen Zeit immer mehr den neuen Medien angliedert, nun tatsächlich noch im Besonderen zu bieten hat. Es kopiert filmische und audiovisuelle Methoden, adaptiert das Zapping des Fernsehens und führt seine Inhalte in transmedialen Akten fort. Welchen Mehrwert stellt es dar? Ferroni findet die Antwort in einer sich der Schnelligkeit und Simultaneität des Virtuellen entgegenstellenden ›Langsamkeit‹ des Lesens. Die Lektüre eines literarischen Textes führt zu einem wahrhaftigeren Kontakt mit ›anderen‹ Welten, es erlaubt uns ein Übersteigen dessen, in das wir tagtäglich involviert sind: unser Leben in der realen Welt. Es scheint, als sei vor allem die literarische Lektüre noch in der Lage, die verloren gegangenen Verhältnisse von Nähe und Distanz sowie Zeit und Raum durch die Langsamkeit des Lesens noch einmal neu auszutarieren und uns somit die Möglichkeit zu geben, die Welt, in der wir leben, wiederzuerkennen und uns mit ihr zu messen.341 Wie sich diese Welten dem Leser in den heutigen Werken gegenwärtiger Literatur präsentieren, wird in Teil II der Arbeit exemplarisch analysiert.
Zwischenfazit Die Postmoderne wie der Postmodernismus setzen in Italien verhältnismäßig spät ein, finden aber sowohl im politisch-ökonomischen Bereich mit Berlusconi sowie im philosophisch-literarischen Feld in der Tradition von Vattimo, Eco, Calvino und Tondelli eine starke Umsetzung. Seit den 80er Jahren ist die Literatur dominant postmodernistischen Tendenzen unterworfen und wird von Luperini mit »postmoderno retorico« betitelt. Seine Bezeichnung des »postmoderno mimetico« für die Texte der 90er Jahre lässt schon einen beginnenden Bruch mit traditionellen Schreibweisen erahnen. Auch einige Stimmen aus der Kritik (Foster, Berardinelli, Spinazzola, Santoro, Luperini) postulieren seit den späten 90er Jahren und um die Jahrtausendwende das Ende der Postmoderne. Dabei werden die verschiedenen Krisenherde (Balkankriege, Golfkriege, Flüchtlingskatastrophen, internationale Terrorismus, Schwächen in Ökonomie und auf dem Arbeitsmarkt) als Auslöser einer wieder erstarkenden Ethik ins Feld geführt. Der Luxus der Leichtigkeit und Verantwortungslosigkeit wird auch der westlichen Welt nicht mehr zugestanden, die massiv mit fremden Kulturen, 340 Saviano 2009, S. 16, [Hervorhebung im Original]. 341 Vgl. Ferroni 2010, S. 157.
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Religionen und den daraus erwachsenden Krisen in Kontakt kommt. Der Angriff auf das World Trade Center eignet sich jedoch im italienischen Kontext nicht als auslösendes Moment einer Wende. Die Postmoderne mit ihren Ideen scheint sich erschöpft zu haben und zumindest als Alleinstellungsmerkmal der Epoche unbrauchbar geworden zu sein. Trotzdem bereiten Konzepte, die sich in den vergangenen zwei Dekaden gefestigt haben, wie das schwache Denken oder die Welt in Form von Simulakren, Schwierigkeiten, wenn es darum geht, sich aus alten Mustern zu lösen und neue Denk- und Schreibweisen zuzulassen. Dennoch wird in einer deutsch-italienischen Kooperation ab 2012 in der Philosophie ein Neuer Realismus (Gabriel, Ferraris) aus der Taufe gehoben. Es ist die schlichte Idee, dass der pensiero stets einer Pendelbewegung von realistischen zu antirealistischen Strömungen unterliegt, die zunächst das neue Herangehen an philosophische Untersuchungen legitimiert. Schnell erfahren diese Ideen eine breite Öffentlichkeitswirkung und stehen stark in der Diskussion. Die Ansichten Ecos, der zwar das ›Neue‹ dieser Tendenz nicht sehen will, dennoch aber mit seinem Konzept des negativen Realismus zur Debatte beiträgt, verschränken sich einigermaßen auffällig mit den Gedanken von Ferraris. Beide postulieren einen moderaten Realismus, der eine Annäherung von Ontologie und Konstruktivismus beinhaltet, dabei aber das Primat der nietzscheanischen Interpretationen infrage stellt. Es handelt sich um einen versöhnlichen Kompromiss, der beiden Seiten Rechnung zu tragen sucht. Ferraris, dessen Ideen sich in einer ambigen Haltung zu Kant auffächern, fordert zudem einen neuen positiven Zugang zur Zukunft in Form eines aktualisierten sapere aude. Trotz dieser Bejahung des New Realism in der Philosophie wird die Idee eines neuen Realismus in der Literatur nur zögerlich aufgenommen. Entgegen steht solchen Tendenzen stets der Vorwurf ›retrograder Naivität‹. Realistische Darstellung ist gedanklich nach wie vor an positivistische Theorien gekoppelt, die als überholt gelten. Im Rückgriff auf Aussagen realistischer, naturalistischer und veristischer Autoren aus dem 19. Jahrhundert konnte jedoch herausgearbeitet werden, dass bereits diese den subjektiven Schleier in ihren Werken stets mitgedacht haben. Phantasie und Imagination sind in den verschiedenen Realismen genauso als Werkzeuge zum Verfassen literarischer Werke zu sehen wie in ähnlichen Tendenzen vorher oder in der Gegenwart. Poiesis und Mimesis sind als gleichwertig zu betrachten. Das Paradox des literarischen Realismus, der sich stets janusköpfig präsentiert, lässt sich auflösen, wenn man neben dem Anspruch auf an Wissenschaft orientierter Genauigkeit der Literatur den künstlerischen Aspekt mitdenkt und sich vor Augen führt, dass bereits das 19. Jahrhundert die Illusion des textuellen Realitätseffekt sowie den subjektiven Schleier der einzelnen Verfasser der Schriften erkannt hat. Nicht Wissenschaft oder Philosophie, sondern Widerstand und Aufarbeitung stehen im Mittelpunkt der realistischen Tendenzen des 20. Jahrhunderts, deren
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Fächer sich von expressionistisch-romantischem Realismus zu subjektiver Autobiographie im Zeugenmodus aufspannt. Bis heute besonders interessante Figuren der Zeit sind Italo Calvino, dessen Werke von Beginn an ein ›fabel‹haftes Substrat mitverspinnen, Primo Levi, der nicht nur Zeuge ist, sondern den Leser zum Teilhaber macht und Pier Paolo Pasolini, dessen Literatur aus Körperlichkeit und Handlung besteht, und in der Lage sein soll, sich auf die Welt auszuwirken. Nicht nur Wirklichkeitsdarstellung, sondern vor allem auch die Wahrnehmung selbiger rückt in dieser Zeit in den Fokus. Das Trauma des Krieges, der die Welt in Trümmer gelegt hat, scheint auch verbürgte Konzepte von Wahrheit zerschlagen zu haben. Dennoch scheuen sich die Autoren der Zeit nicht, mit sprachlicher Ästhetik, die Wirklichkeitsillusion hervorbringen soll, sich einer fremd gewordenen Welt literarisch zu nähern. Realistische Darstellung scheint generell immer aus einer Untersuchungs- und Kommunikationssituation zu erwachsen, sie will ›Licht ins Dunkle‹ bringen und ist fast immer mit Engagement verbunden. Indem man die wichtigsten Punkte der älteren Realismen unter der Berücksichtigung der philosophischen Ansätze von Ferraris und Eco verschmelzen lässt, kommt man zu einem Modell, das davon ausgeht, dass Realismus und Antirealismus – sei es im philosophischen Denken oder in der literarischen Darstellung – in einem sich gegenseitig bedingenden Verhältnis stehen. Sie sind zwei Seiten einer Medaille und damit reziprok. Pensiero und künstlerisch-literarische Strömungen unterliegen eben jener von Ferraris postulierten Pendelbewegung, die stets von realistischen zu antirealistischen Tendenzen und wieder zurückführt. Ihre extremen Pole (das absolut Reale oder Irreale) sind nie erreichbar, sondern gleichen dem mathematischen plus / minus Unendlich. Den Bezugspunkt bietet dabei eine wie auch immer gedachte Welt, die sich weder durch die in Trümmer gelegte Einheit und Wahrheit der Lebenswirklichkeit (Nachkriegszeit), noch durch fraktale, simulakrenähnlichen Vorstellungen von Realität (Postmoderne) nicht ganz wegdenken lässt. Interpretationen brauchen immer eine Grundlage, einen Ausgangspunkt (Eco / Ferraris). Die Art der Darstellung, in mimetischer oder illusionsbrechender Weise, geschieht anhand verschiedener Effekte (effets de r8el oder anti-r8el). Diese werden in der Tradition Roland Barthes benannt, jedoch dahingehend erweitert, dass sie jedwede narrative Strukturen auf Makro- oder Mikroebene umfassen, die der jeweiligen Zielintention dienlich sind. Dictum (worüber geschrieben wird) und modus (wie geschrieben wird) sind die beiden Kategorien, die es zu füllen gilt. Da Themen und Effekte durch die Zeit veränderlich sind, kommt es über die Jahrhunderte zu einem breit gefächerten Paradigma. Realismus und Antirealismus werden mit Bigazzi als »ingrediente« und nicht nur im engen Sinn als Strömungen verstanden. Je nach Quantität des Vorkommens realistischer Elemente schlägt sich diese Tendenz dann in der jeweiligen Epochenbezeichnung nieder. Die Au-
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thentizitätsmarker der aktuellen Zeit ausfindig zu machen und in dem Modell zu verorten, wird Aufgabe des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit sein. Auch wenn aus den Stimmen der Kritik sowie zeitgenössischer Autoren kontroverse Ansichten zu einem neuen literarischen Realismus herauszuhören sind, ist dieser nicht mehr völlig wegzureden. Er manifestiert sich im verstärkten Interesse, die eigene Zeit zu beschreiben und deren Probleme zu thematisieren. Das inhaltliche Panorama, das aktuelle dictum, kreist dabei schwerpunktmäßig um kriminelle, mafiöse Machenschaften, die prekäre Arbeitssituation mit Schwerpunkt auf die Südfrage und das Thema der Emigration. Häufig sind es jugendliche Protagonisten, die im Mittelpunkt stehen und ihren Blickpunkt leihen. Als Autoren zu nennen sind unter anderem De Silva, Ammaniti, Nove, Saviano, De Cataldo, Bononi, Desiati, Abate, Lolli und Avallone. Besonders auffällig ist die hohe Präsenz der (Neuen) Medien in den einzelnen Werken in Form von Systemerwähnung wie Systemreferenz. Sie sind nicht lediglich als erzählerische Muster sichtbar, sondern avancieren zu Wissens- und Erklärungsinstanzen, geraten jedoch teilweise auch in die Kritik. Sie schienen auf den ersten Blick Theorien von Scurati und Giglioli zu bestätigen, die eine Absenz von Trauma und direkter Erfahrung postulieren. Es stand zur Debatte, ob und wie neues realistisches Schreiben den ›Irrealismus‹ und das ›Mediale‹ der Medien überwinden kann. Allerdings ist mit einem Blick auf die (Literatur)Geschichte zu vermerken, dass eine Weiterentwicklung der Medien häufig mit der Herausbildung literarischer Tendenzen mit realistischem Anspruch Hand in Hand geht. Bespielhaft wurde dieses Phänomen vorgeführt anhand des Journalismus und der Photographie im 19. Jahrhundert, dem Aufblühen des Films in der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts und dem Aufkommen des New Journalism in den 60er Jahren in Amerika. In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts avanciert die Informationsgesellschaft zur Mediengesellschaft. Mit Merten und Ferroni soll hier jedoch trotzdem von einem Modell ausgegangen werden, das sich dem Konzept der Simulakren und der Absenz von Erfahrung widersetzt und die wirkliche Welt lediglich in einem wechselseitigen Austausch mit der fiktiven, virtuellen Welt begreift, die so zur aktuellen Lebenswirklichkeit verschmilzt. Dieses Konzept ist in seinen Charakteristika dem zwischen Ontologie und Konstruktivismus vermittelnden philosophischen Ansatz von Ferraris verwandt. In der Literatur schlägt sich ein hohes mediales Aufkommen in der extratextuellen Welt selbstredend in den Texten nieder, kommt aber unterschiedlich zum Einsatz. Neben selbstreferenziellen, illusionsbrechenden Verfahren ist auch von einer neuen mimetischen Herangehensweise auszugehen, die sich aus postmodernistischen Konzepten herausschreibt. Rajewsky bemerkt in ihrer Studie zur Intermedialität in Werken der 90er Jahre eine neue Referenzialität, subsummiert aber ohne weitere Differenzierung die von ihr untersuchten Au-
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toren unter postmodernistische Tendenzen. Castaldi hingegen versteht intermediale Konzepte als mimetische Spender und als eine Voraussetzung, um Literatur ›machen‹ zu können. Die an dieser Stelle angerissene Diskussion wird in Teil II der Arbeit immer wieder aufgegriffen werden. In der Krise steht mit stetigem Zuwachs medialer Informationen mit Sicherheit der Wahrheitsbegriff. Die Rezipienten müssen mithilfe metareflexiver Instrumente immer mehr austarieren, was ›wahr‹ ist und unterstehen somit einem ständigen Verifizierungszwang. Dies führt unter anderem dazu, dass sich sogenannte Meinungsführer immer größerer Beliebtheit erfreuen. Zu diesen kann etwa Saviano gezählt werden, der sich jedoch schlicht die mediale Vielfalt zunutze macht und sein Anliegen in transmedialen Akten fortführt. Für ihn sind Medien – die alten wie die neuen – ganz im ursprünglichen Sinn Mittel zur Kommunikation, die nur des rechten Einsatzes bedürfen. Das ›Alte‹ Medium ›Buch‹, dass vielfach Charakteristika der Neuen Medien zu adaptieren sucht, zeichnet sich letztendlich gerade durch die erzwungene Langsamkeit beim Lesen durch ein höheres Erlebens- und Reflexionspotenzial aus (Ferroni) und macht seinen Status damit noch einmal geltend. Die einzelnen Formen sollen im Folgenden anhand exemplarischer Autoren vorgeführt werden.
Teil II
4.
Diskontinuierliches Erzählen bei Niccolò Ammaniti: Von der Pulp-Literatur zu einem Schreiben unter realistischen Vorzeichen
Der Autor Niccolk Ammaniti, geboren am 25. September 1966 in Rom, lebt mit seiner Ehefrau, der Film- und TV-Schauspielerin Lorenza Indovina, in Maremma.342 Seine Werke haben einen großen Rezeptionskreis. Sie wurden bislang in 40 Sprachen übersetzt und erreichten eine Auflage von 5 Millionen Exemplaren.343 Ammanitis Texte stechen aus dem italienischen Buchpanorama heraus, haben einen auffällig eigenen Stil und auf den ersten Blick scheint der Autor keine erkennbare literarische ›Abstammung‹ zu haben.344 Paolo Di Paolo beschreibt ihn als ›Alien‹, als ›gescheiterten Biologen‹ mit dem Talent, Geschichten zu erzählen.345 Der Autor selbst gibt an, seine frühen Wurzeln fänden sich in seiner Lektüre von Italo Calvinos Fabeln, die ihn an Fernsehserien erinnerten: Sono stato fortunato. Crescendo con testi quali le Fiabe italiane di Italo Calvino, sono diventato un grande ascoltatore, prima di appassionarmi alla lettura. Le favole funzionavano come le serie televisive: ogni sera mi leggevano una storia breve, di forte impatto. La televisione era noiosa, avevo tutto il giorno libero, e non esistevano i social network. Ero come un topo in laboratorio, a cui mettevano di fronte il cibo (la letteratura) e mangiavo. Se avessi vent’anni adesso non leggerei neanche un libro.346
342 Vgl. Bernhard Huss: »Niccolk Ammaniti«, In: Munzinger Online / KLfG – Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur, [LW]. 343 Vgl. Munzinger Online / Personen – Internationales Biographisches Archiv, [LW]. 344 Paolo Di Paolo fragt in einem Artikel in La Stampa: »Da dove viene uno scrittore come Niccolk Ammaniti? Fra i pochi a non avere parentele, ascendenze riconoscibili: stava stretto fra quei ›cannibali‹ (GioventF cannibale, 1996) che sarebbero poi, in gran parte, persi per strada. Sta stretto nel ›genere‹; non ha alcun rapporto con una certa ›letterariet/‹ ottonovecentesca, tanto meno italiana.« Ders.: »Anna la ragazzina coraggio di Ammaniti. La tredicenne cerca coraggiosamente il piccolo rapito in una Sicilia di pocchi selvaggi sopravvissuti«, La Stampa (05. 10. 2015), [IQ]. 345 Ebd. 346 Ammaniti in Annarita Briganti: »Ammaniti: ›Non abbiate paura di leggere, i libri aiutano a vivere meglio‹«, La Repubblica (30. 10. 2013), [IQ].
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Diskontinuierliches Erzählen bei Niccolò Ammaniti
Die Frage, wie er tatsächlich zum Schriftsteller geworden sei, beantwortet er mit dem Zusammenspiel aus schon immer währender heimlicher Passion und dem Moment, in dem man ihn fürs Schreiben tatsächlich bezahlt habe.347 Ammanitis Œuvre ist sehr vielfältig; es umfasst Kurzgeschichten, Romane, Essays, bewegt sich im Bereich des Films und des Videospiels und sympathisiert mit dem Comic. Bei einem Blick auf sein Gesamtwerk wird schnell klar : Seine Poetik ist ambig. Sie bewegt sich in einer Zwischenwelt von Pulp-Ästhetik und neuartigem Realismus. Ammanitis erste kleinere Veröffentlichung ist die 1993 erschienene Erzählung »La figlia di Shiva«, Teil der Anthologie La giungla sotto l’asfalto bei Ediesse. Bereits diese Splatter-Geschichte, in der das makabre Ende einer übergewichtigen amerikanischen Touristin in Indien thematisiert wird, die explodiert, nachdem sie ungewollt an einem Initiationsritus teilgenommen und die Tränen der Shiva getrunken hat, scheint den Autor in die Richtung des Pulp und der späteren Cannibali zu treiben.348 Ebenfalls bei Ediesse debütiert Ammaniti im Jahr 1994 mit seinem ersten Roman Branchie. Erzählt wird die Geschichte des noch jungen, aber todkranken Marco Donati, der eine besondere Leidenschaft für Aquarien hegt. Durch einen rätselhaften Brief aus Rom nach Neu-Delhi gelockt, ficht er in einem Schloss gegen die Gefolgsleute eines skrupellosen Schönheitschirurgen namens Subotnik, der Marcos Mutter plastisch völlig umgestaltet hat. Sie war es, die ihrem Sohn den Brief geschrieben hatte, in der Hoffnung, dessen kranke Lunge auf illegale Weise durch die gesunde eines indischen Jungen ersetzen lassen zu können. Nach einer hyperbolischen Kampfdarbietung voller Blut und Organteile kann Subotnik besiegt werden und erlebt eine Metamorphose zum Guten. Er setzt seine Arbeit in der Poliklinik in Rom fort und tauscht Marcos Lungen operativ durch die titelgebenden Kiemen aus, die Marco ein Leben im Aquarium ermöglichen. Die Geschichte trägt teils märchenhafte Züge, teils bereits starke Elemente der Pulp-Ästhetik. Vorangestellt sind dem Werk Regieanweisungen und Aufzählungen der Figuren des Romans nach Art des Theaters. Die nur geringe Auflage ist innerhalb kürzester Zeit ausverkauft und lässt den Roman zu einem Kultwerk seiner Generation
347 »Ammaniti, com’H diventato lettore? No, quando mi hanno fatto dei contratti e mi hanno pagato (risate plateali). Le cose diventano sensate quando gli altri ne riconoscono il valore. Io con la scrittura ho sempre avuto la sensazione che fosse la mia strada, ma senza dirlo a nessuno, timidamente. Poi arriva un momento in cui vuoi condividerlo con altri: qui ci vuole la famosa ›botta di culo‹, che qualcuno vi riconosca del talento.« Siehe Chiara Calcavecchia: »Niccolk Ammaniti e il suo ultimo romanzo ambientato in Sicilia«, Cafebabel italiano (09. 04. 2016), [IQ]. 348 Vgl. Maria Luisa Carlino / Silvia Casini / Chiara Scipioni [Hg.]: L’esordio narrativo di Niccolk Ammaniti. Oblique Studio 2014, S. 6, [IQ]. Hier findet man einen guten Überblick über das frühere Werk des Autors.
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werden.349 Branchie erscheint als eine Art Zufallsprodukt und hätte – der von Ammaniti selbstinszenierten Legende zufolge – ursprünglich die universitäre Abschlussarbeit des Studenten im Fach Biologie zum Thema Rilascio di Acetilcolinesterasi in neuroblastoma werden sollen. Dieses Studium hat der Autor jedoch nie zu Ende geführt. In einer Art Vorwort der Neuauflage von 1997 bei Einaudi (Stile Libero) erklärt er seinen Lesern: »La tesi, dopo una decina di pagine, smetteva bruscamente di parlare di neuroni, sinapsi e neuromediatori e raccontava una storia di pesci e di fogne e di malvagi chirurghi estetici. Branchie nasce come un tumore (maligno?) di una tesi in biologia«.350 Im Jahr 1996 ist Ammaniti mit der gemeinsam mit Luisa Brancaccio geschriebenen Erzählung »Seratina« in der Anthologie GioventF Cannibale vertreten und bekommt somit das Etikett des Kannibalen, das ihm eine ganze Weile anhaften wird. Zudem kommt seine Pulp-Sammlung Fango auf den Markt, deren erste und längste Erzählung, »L’ultimo capodanno dell’umanit/«, unter der Regie von Marco Risi verfilmt wird. Hierdurch wird Ammaniti der Kinowelt ein Begriff. Fango ist – so Filippo La Porta – das Manifest des italienischen Pulp.351 Fango besteht aus sechs Erzählungen, in denen sich – so der Klappentext – eine minutiöse Schilderung der Realität mit entfesselter Phantasie vermischt. Auf den schon genannten »L’ultimo capodanno dell’umanit/«, der aus einer Alltagsbeschreibung römischer Wohnviertel zur absurden Apokalypse in einer Freakshow mutiert, folgt »Rispetto«, die knappe Schilderung einer brutalen Vergewaltigung. »Ti sogno con terrore« ist ein kurzer Psychothriller um einen Stricknadelkiller, »Lo Zoologo« eine Zombiegeschichte, die Einblicke in die sozialen Strukturen der Gesellschaft zulässt. Die titelgebende Geschichte »Fango« stellt das organisierte Verbrechen mit Blick auf den Drogenhandel auf absurd-komische Weise dar. Der Band schließt mit der zweigeteilten Geschichte »Carta e Ferro« ab, die auf surreale Weise die Räumung der Wohnung einer alten Dame, die mit toten Katzen lebt, sowie die Romanze eines Mannes mit einer Cyborg-Prostituierten schildert. Auf dieses schillernde Werk folgen weitere Erzählungen in Anthologien wie etwa »Alba tragica« in Tutti i denti del mostro sono perfetti (Mondadori, 1997) herausgegeben von Valerio Evangelisti und Giuseppe Lippi und »Enchanted Music & Light Records« (gemeinsam mit Jaime D’Alessandro) in Fagiano Jonathan Livingston. Manifesto contro la new age (Minimum Fax, 1998). Zudem
349 Giulia Adamo: »Riflessione sulle opere di due scrittori contemporanei: Niccolk Ammaniti e Diego de Silva«, The Italianist 2 (2007), S. 166–184, hier S. 167. 350 Niccolk Ammaniti: »Ai miei lettori«, In: ders.: Branchie. Torino: Einaudi 1997, S. V–VI, hier S. V. 351 Filippo La Porta: »Niccolk Ammaniti«, In: ders.: La nuova narrativa italiana. Travestimenti e stili di fine secolo. Torino: Bollati Boringhieri 1999, S. 266–267, hier S. 266.
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schreibt der Autor ein Nachwort zu Notte del drive-in von Joe R. Lansdale (Einaudi, 1998). Im Jahr 1999 kommt Ammanitis erster Roman Branchie unter der Regie Francesco Ranieri Martinottis in die Kinos. Etwa zeitgleich veröffentlicht er seinen zweiten Roman Ti prendo e ti porto via. Protagonist ist der junge, schüchterne Pietro Moroni, der in einer schwierigen Familie im Süden Italiens aufwächst. Erstmals zentriert Ammaniti seine Geschichte dezidiert um einen Jungen in der Adoleszenz mit erkennbar in einer maroden Gesellschaft verwurzelten Problemen. Der Autor verbindet in diesem Werk an einem imaginären, aber sehr realistisch präsentierten Ort namens Ischiano Scalo zwei Geschichten unterschiedlicher Paare, die mit der Zeit immer mehr verwoben werden: die zur Verliebtheit tendierende Freundschaft zwischen Pietro Moroni aus ärmlichen Verhältnissen und der bessergestellten Gloria Celani und die des heruntergekommenen Playboys Graziano Biglia in der sonderbaren Romanze mit der farblosen Lehrerin Flora Palmieri. Flora wird erst durch Graziano aus ihrem einsamen, auf die Pflege der todkranken Mutter beschränkten Leben gerissen und geht an dieser Begegnung zugrunde. Zum scheinbar Schuldigen wird der junge Pietro. Nach diesem ersten tatsächlichen Ausflug in ein längeres romaneskes Werk im Print erscheint in der Onlinezeitschrift caffeeuropa.it in der Reihe La nostra gente die Erzählung »Astuzia da chirurgo«. Im Jahr 2000 kommt unter der Herausgeberschaft Daniele Brollis eine weitere Erzählung in der Reihe Supergiallo Mondadori auf den Markt, »L’amico di Jeffrey Dahmer H l’amico mio« in Italia odia. Außerdem schreibt Ammaniti ein Drehbuch für ein Videospiel, das zu einem Kurzfilm mit dem Titel Gone Bad wird. Stets sind die Genregrenzen in seinen Werken schwebend und oszillieren vor allem zwischen den verschiedenen Medien. Der nationale wie im Anschluss internationale Durchbruch gelingt Ammaniti 2001 mit dem knappen Roman Io non ho paura (Einaudi Stile Libero), mit dem er den Premio Viareggio gewinnt. Der Autor widmet sich mit diesem Werk dezidiert einer schwierigen Vater-Sohn-Beziehung, einer Problematik, die in Ti prendo e ti porto via durch die mit Problemen durchsetzte Familiensituation des Protagonisten angerissen, hier jedoch detailliert ausgeführt wird. Der neunjährige Michele Amitrano entdeckt, dass sein Vater einen gleichaltrigen Jungen entführt und in ein schwarzes Loch gesteckt hat, um von dessen Eltern Geld zu erpressen. Die Figur des Vaters löst die märchenhafte Gestalt des schwarzen Mannes aus Kinderphantasien ab. Durch den Entschluss, den neu gewonnenen Freund vor dem Tod zu retten, kommt es zu einer Emanzipation Micheles von seinem Vater. Der literarische Erfolg profitiert noch einmal durch die Popularität der Verfilmung des Werkes durch Gabriele Salvatores im Jahr 2003. Etwa zur gleichen Zeit erscheint zu einem für diese Art von Geschichten relevanten
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Thema Nel nome del figlio. Es handelt sich um ein literarisch illustriertes Essay, das Pubertät und Erwachsenwerden thematisiert und das Ammaniti gemeinsam mit seinem Vater Massimo geschrieben hat, einem international prominenten Psychopathologen und Psychoanalytiker sowie Professor für allgemeine Psychopathologie und Entwicklungspsychopathologie an der Sapienza Universit/ di Roma.352 Auch diese Nähe zur Psychoanalyse wird in seinem Werk immer wieder spürbar. Nur wenig später publiziert das Onlinemagazin Rolling Stone Italia den Text Il libro italiano dei morti als Fortsetzungsroman. Alex Infascelli greift das Thema des Werkes im Jahr 2004 für seine Verfilmung Il siero della vanit/ auf. In Zusammenarbeit mit Daniele Brolli und Davide Fabbri schreibt Ammaniti drei weitere Erzählungen, die unter dem Titel Fa un po’ male bei Einaudi (2004) veröffentlicht werden. Mit 13 weiteren Autoren bestreitet er das Projekt Il mio nome H nessuno. Global Novel (Einaudi, 2005) und steuert im selben Jahr der Anthologie Crimini (Einaudi, 2005) die Erzählung »Il mio tesoro« bei. Im Jahr 2007 gewinnt Ammaniti mit dem bei Mondadori 2006 erschienenen Roman Come Dio comanda den Premio Strega. Nur ein Jahr später wird das Buch zum Film, erneut unter der Regie von Gabriele Salvatores. Come Dio comanda thematisiert das prekäre Gegenwartsitalien, wird aber wiederum von einer schwierigen Vater-Sohn Beziehung getragen und steht damit in einer sich entwickelnden Traditionslinie zu Ti prendo e ti porto via und Io non ho paura. Der Roman stellt ein düsteres, jedoch realistisches Bild des aktuellen Italien mit seinen Problemen dar und soll in der vorliegenden Arbeit im Fokus der Analyse stehen. Im Jahr 2009 publiziert Ammaniti den Roman Che la festa cominci, mit dem er zu einer Art karnevalesker Pulp-Ästhetik zurückzukehren scheint. Im Herzen Roms organisiert der Immobilienhai Sas/ Chiatti in seiner neuen Residenz in der Villa Ada ein Fest, das in der Geschichte der Republik legendär werden soll. Alles, was Rang und Namen hat, die gesamte Medien-, Sport- und Politprominenz des Landes, ist eingeladen. Gestört wird die Feier vom dilettantischen Anschlagsplan einer Satanistensekte, die festliche Szenen in apokalyptische Szenarien verwandelt. Zum Schluss bleibt nichts als die Reste einer oberflächlichen und ausgelaugten Zivilisation, die nicht einmal die eigenen Ruinen ernst nehmen kann. 2010 folgt der Roman Io e te, der unter der homonymen Verfilmung von Bernardo Bertolucci Bekanntheit erlangt und wiederum die fragile Geschichte einer Adoleszenz – diesmal steht die Beziehung zwischen Sohn und Mutter bzw. Sohn und Schwester im Fokus – vorführt. Wieder geht es um psychologische, soziale und körperliche Probleme Heranwachsender und deren 352 Vgl. die Homepage von Prof. Massimo Ammaniti an der Sapienza – Universit/ di Roma, [HP].
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Diskontinuierliches Erzählen bei Niccolò Ammaniti
Schwierigkeit, sich in die Gesellschaft einzufügen. Die beiden Werke könnten unterschiedlicher nicht sein und betonen einmal mehr das weite Spektrum, vor allem aber auch die Diskontinuität im Werk Niccolk Ammanitis. Im Jahr 2012 kehrt der Autor mit der Sammlung Il momento H delicato (Einaudi Stile Libero) zu den Kurzgeschichten zurück. 2014 wagt er sich an ein völlig neues Genre, einen Dokumentarfilm mit dem Titel The Good Life, der das Leben italienischer Immigranten in Indien vorführt. Trotz der markanten stilistischen Wende bleibt Ammaniti ursprünglichen Interessen treu: Bereits seine Debüterzählungen spielten in Indien. Im Jahr 2015 erscheint ein weiterer Roman aus Sicht eines Jugendlichen. Das erste Mal kreiert Ammaniti einen weiblichen Protagonisten, Anna, die ihre Geschichte in einer Art futuristischem oder auch – so Marco Missiroli – chirurgischem Realismus erzählt.353 Niccolk Ammaniti, so stellt Roberto Andk im Gespräch mit dem Autor fest, »H uno scrittore che parla del suo paese. Tutti gli scrittori alla fine devono parlare del proprio paese, anche quando scrivono di realt/ parallele piF o meno possibili.«354 Beide Interviewpartner stellen mehrfach die Exaktheit literarischer Darstellung heraus, die der eines Kartographen ähnele, selbst dann, wenn imaginäre Welten gezeichnet würden.355 Ammanitis Werk inspiriert sich an der Realität seines Landes, es arbeitet sich daran ab. Es ist eine – wenn auch diskontinuierliche – Entwicklung auszumachen, bei der sich schwerpunktmäßig zwei Seiten des Autors manifestieren. Marco Belpoliti stellt fest: »In realt/, ci sono due Ammaniti: quello dei suoi libri migliori, narratore d’infanzia, malinconico e fatato, e l’altro che invece fa il verso a se stesso, non si prende sul serio e inventa storie fumettistiche con tecnica eccellente, e tuttavia non va da nessuna parte: […]«.356 Ammaniti selbst resümiert die Entwicklung seiner Werke folgendermaßen: L’impressione H che finch8 l’aspetto grottesco era predominante, come in Fango, il mio stile, in cui si poteva riconoscere il coacervo dei miei interessi paralleli, il fumetto, il cinema, l’horror, andava bene. Anche in Io non ho paura l’aspetto un po’ fiabesco funzionava, forse perch8 applicato agli anni 70. Invece H come se, per raccontare l’Italia di oggi, l’unico registro possibile fosse il realismo assoluto. In Come Dio comanda c’H un aspetto quasi favolistico, piF che grottesco, e questo non H piaciuto, come se fosse una mancanza di seriet/ e non una cifra stilistica. Io sono cresciuto con certi linguaggi, fanno parte di me e anche quando racconto la realt/, non posso farne a meno.357 353 Vgl. Marco Missiroli: »Anna, libera e coraggiosa. L’ultima eroina di Ammaniti«, Corriere della Sera (29. 10. 2015), [IQ]. 354 Ammaniti in Calcavecchia (09. 04. 2016), [IQ], [Hervorhebung im Original]. 355 Ebd. »L’intervistatore e l’intervistato evidenziano piF volte che la scrittura ha l’esattezza di un cartografo, pur disegnando mondi fantastici.« 356 Marco Belpoliti: »Niccolk Ammaniti, Che la festa cominci«, Nazione Indiana (14. 11. 2009), [IQ]. 357 Cristina Taglietti: »Intervista. Lo scrittore vincitore del premio Strega racconta come na-
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Von Interesse sind hier vor allem zwei Aspekte: Zum einen die Beobachtung, dass das Groteske auch gewählt werden kann, um die Realität darzustellen. Hier wird der Wandel von der Welt, die Fiktion scheint und der Welt, die die Fiktion übertrifft, wieder spürbar. Zum anderen, dass eben jene stilistische Wahl, die auf das Groteske zur Darstellung der Wirklichkeit gefallen ist, funktioniert, um das gegenwärtige Italien darzustellen. Es wird hier zum Realitätsmarker, zum effet de r8el. Im Rahmen der Werke der Pulp-Ästhetik – so die Annahme – stellt es noch den Exzess paralleler Fernsehwelten dar, die Hauptthema der Erzählungen der 90er Jahre sind. Das Schreiben der pulpisti, das der jungen Cannibali, wird zum Bindeglied zwischen altem und neuem Jahrtausend, zwischen der Literatur der Postmoderne und Tendenzen eines neuen Realismus. Diese Tendenzen erwachsen aus einer Art der Literatur, der bereits zuvor entsprechende Grundlagen innezuwohnen scheinen. Im Folgenden sollen unter diesen Gesichtspunkten ihre Wurzeln sowie das Ansinnen der jungen Schriftsteller Italiens der 90er Jahre in den wichtigsten Aspekten betrachtet werden, um anschließend anhand von Analysen ausgewählter Passagen der Werke – im Mittelpunkt der Analyse wird stets Ammaniti stehen – den Paradigmenwechsel aufzuzeigen. Der Roman Come Dio comanda wird abschließend exemplarisch als Werk mit neuen realistischen Tendenzen vorgestellt, das nur noch Residuen der Pulp-Ästhetik in sich trägt.
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Die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts stehen im Zeichen des Umbruchs, nicht nur politisch und gesellschaftlich, sondern auch literarisch. Dieser Umbruch – von einigen auch als Ende der Literatur bezeichnet358 – geht nicht leise und unauffällig vonstatten, sondern mit einem (stilistischen) Schlag und großen Verkaufserfolg. Die Rede ist vom Erscheinen der von Daniele Brolli edierten Anthologie mit dem ursprünglichen Titel Spaghetti Splatter,359 die 1996 erst kurz scono i suoi romanzi. E risponde ai detrattori Ammaniti«, Corriere della Sera (16. 07. 2007), [IQ]. 358 Severino Cesari: »Dopo i cannibali«, Carmilla (04. 06. 2002), [IQ]. 359 Dieser ursprüngliche Titel verortet die Erzählungen zunächst im Bereich der Horror-Literatur, die als Unterkategorie den Splatter umfasst. Der englische Begriff splatter heißt übersetzt ›Spritzer‹ und bezeichnet sowohl ein Genre als auch generell eine Art der Gewaltdarstellung, in der viel Blut fließt. Das Filmgenre des Splatter entstand in den 60er und 70er Jahren mit den sich lockernden Zensurbestimmungen. Als Begründer gilt Hershell Gordon Lewis mit seinem Film Blood Feast (1963), der die Grenzen bisheriger Gewaltdarstellungen durchbrach und explizite Demontierung menschlicher Körper zeigte. Vgl. Max Wieseler : Die Evolution des Horrorgenres in Serien. Die moderne Horrorserie am Beispiel von »The Walking Dead«. Hamburg: Diplomica Verlag 2013, S. 15. Georg Seeßlen
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vor ihrer Publikation den Titel GioventF cannibale360 erhielt und darunter bekannt wurde: Comunque sia, accadde quello che non era mai accaduto: che una antologia (una antologia!) di racconti (di racconti! il genere meno letto in Italia […]) venisse amata e odiata, impugnata come una bandiera, vendesse negli anni quasi cinquantamila copie, dopo aver riempito di prodotti succedanei (interviste, polemiche, stroncature, recensioni) tutti i giornali: e che in definitiva, per dirlo in una parola, diventasse un marchio.361
Es folgen noch im selben Jahr Erzählsammlungen wie Woobinda e altre storie senza lieto fine von Aldo Nove und Fango von Niccolk Ammaniti. Die jungen Schriftsteller dieser Werke weisen inhaltlich eine besondere Vorliebe für Gewalt und Grausamkeit, für blutige Szenen und eine häufig pathologische Form der Sexualität auf, Darstellungen, die auf linguistischer Ebene von verschiedenen Registern und Stilen durchsetzt sind, welche ihren Ursprung in der Welt der Werbung, des Fernsehens und des Kinos nehmen.362 Diese neue Generation von Schriftstellern – genannt seien neben Aldo Nove und Niccolk Ammaniti auch Silvia Ballestra, Enrico Brizzi, Giuseppe Culicchia, Isabella Santacroce und Simona Vinci – werden in Kategorisierungsversuchen als Autoren der Pulp-Ästhetik, Schriftsteller des Exzesses, Cannibali, Narrative invaders oder neo-neoavanguardisti betitelt. Generell geht das Jahr 1996 als Jahr des Pulp in die italienische Literaturgeschichtsschreibung ein.363 Dieser Begriff – das hebt Rajewsky hervor – sei jedoch nie umfänglich definiert worden. Ein vereinfachtes
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und Fernand Jung verweisen zudem auf den Traum des Zerreißens und Zerstückelns von Körpern, der das Subgenre auszeichnet. Vgl. dies.: Horror. Geschichte und Mythologie des Horrorfilms. Marburg: Schüren 2006, S. 800. Der Band ist in drei Teilen organisiert: Atrocit/ quotidiane mit den Beiträgen »Seratina« von Niccolk Ammaniti und Luisa Brancaccio, »E Roma piange« von Alda Teodorani, »Il mondo dell’amore« von Aldo Nove, »Cappuccetto splatter« von Daniele Luttazzi, »Diamonds are not forever« von Andrea G. Pinketts; der Bereich Adolescenza feroce umfasst die Texte »Diario in estate« von Massimiliano Governi, »Treccine bionde« von Matteo Curtoni, »Cose che io non so« von Matteo Galiazzo und Teil 3, Malinconie di sangue besteht aus »Il rumore« von Stefano Massaron, »Giorno di paga in via Ferretto« von Paolo Caredda. Ebd. Der Name der Anthologie geht auf die Zeitschrift Cannibale aus dem Jahr 1977 zurück, die ihrerseits auf einer Idee Stefano Tamburinis gründete und von Andrea Pazienza erneut ins Leben gerufen worden war. Vgl. Maria Luisa Carlino [u. a.] [Hg.] 2014, S. 3, [IQ]. Vgl. Agnieszka Firlej »La letteratura ›pulp‹ ossia ›Giovani cannibali‹, il ›Neonoir‹, la ›Scuola dei Duri‹ o il ›Gruppo 13‹? Le polemiche sui confini del nuovo genere letterario«, Studia Romanica Posnaniensia 37/1 (2010), S. 85–98, hier S. 88. Eine interessante These bezüglich des Plurilingualismus des Pulp ist, dass dieser in der italienischen Tradition weit zurückreichende Wurzeln habe. Kate Litherland sieht diesen Sprachmix in einer Linie von Dantes Commedia über die Commedia dell’arte und deren Residuen in Goldoni bis hin zu Vertretern des 20. Jahrhunderts wie Dario Fo, Vasalli, Ballestrini und vor allem Pasolini. Vgl. dies.: Pulp: youth language, popular culture and literature in 1990s Italian fiction. ProQuest 2006, S. 96f., [IQ]. Rajewsky 2003, S. 276.
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Rezept der Pulp-Ästhetik als ›Gewalt plus Humor‹ oder aber die Reduktion auf das Charakteristikum der Exzessivität werde ihm nicht gerecht,364 wenn es auch tragende Aspekte spiegelt. Die Autoren dieser Generation scheinen in einem Gefühl des dopo zu leben, was die Bezeichnung einer neuen Avantgarde im alten Sinne einer Vorhut bekräftigt. Marino Sinibaldi spricht von einem posthumen Zustand.365 Gleichzeitig werden die Cannibali oder Autoren des Pulp als dritte366 und letzte Generation der Postmoderne gesehen, also als eine Art Nachhut.367 Attilio Manzi sieht in ihnen das Ende der Postmoderne.368 Alberto Casadei bezeichnet den italienischen Pulp als janusköpfig. Einerseits stelle er allzu offensichtlich auf banale und groteske Weise das Morbide der Gesellschaft und Kultur dar. Andererseits bringe er in den besten Fällen eine Distanzierung von der Logik der Selbstbezüglichkeit und Selbstreproduktion der kommerziellen Literatur der 80er Jahre mit sich, die den Roman hauptsächlich als eine Organisation vorgefertigten Wissens konzipiert habe.369 Diese Bewegung am Scheitelpunkt einer literarischen Entwicklung soll im Folgenden kurz vorgestellt werden. Die unter verschiedenen Namen vereinten Autoren des Exzesses werden im Großen und Ganzen in der Tradition des amerikanischen Films Pulp Fiction von Quentin Tarantino aus dem Jahr 1994 gesehen. In einem Rückblick auf die Filmgeschichte schreibt Michael Green, dass es für viele aus der Generation X eine Zeit vor und nach Pulp Fiction gebe. Die Generation X sei die erste Generation gewesen, die sich ihrer Postmodernität tatsächlich vollumfänglich bewusst gewesen sei. Von aktueller Popkultur besessen, war sie bestens gerüstet für einen Film wie Pulp Fiction, der eine Sprache sprach, die instinktiv verstanden
364 Vgl. ebd., S. 278. 365 »La letteratura alla fine del secolo sembra ancora una volta alle prese con questioni di vita e di morte. La sua morte, frequentemente evocata quando si accenna a futuri multimediali e virtuali, a ipertesti la cui interattivit/ lascia svaporare la nozione stessa di autore, a uno scenario non solo tecnologico in cui H destinata a mutare in modo radicale quella rete di creazioni e comunicazione nella quale si intrecciano scritture e letture. Anzi, spesso si ragiona come se quella consumazione fosse gi/ avvenuta, la letteratura vivesse ormai una condizione postuma, tutti noi scrivessimo e leggessimo ›dopo la sua fine‹«. Marino Sinibaldi: Pulp. La letteratura nell’era della simultaneit/. Roma: Donzelli 1997, S. 9. 366 Vgl. Bruno Pischedda: »Postmoderni di terza generazione«, Tirature (1998). Una modernit/ da raccontare: La narrativa italiana degli anni novanta, S. 41–45. 367 Vgl. Paolo Di Stefano: »Scrittori cannibali, addio«, Colloquio con Romano Luperini, [IQ]. 368 Vgl. Attilio Manzi: »Una fiaba per il terzo millennio: Branchie di Niccolk Ammaniti«, In: Hans Felten / David Nelting [Hg.]: … una veritade ascosa sotto bella menzogna. Zur italienischen Erzählliteratur der Gegenwart. Frankfurt am Main [u. a.]: Lang 2000, S. 175–185, hier S. 175. 369 Vgl. Alberto Casadei: Stile e tradizione nel romanzo italiano contemporaneo. Bologna: Il mulino 2007, S. 70.
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wurde. Green fasst zusammen: »Pulp Fiction didn’t define us so much as it revealed us.«370 Pulp Fiction sprengte die Genregrenzen der bisherigen crime fiction. Auf Szenen extremer Gewalt folgen humorvolle Passagen mit langen Dialogen, »die in ihrer Absurdität, Alltäglichkeit und Komik […] grotesk und unangemessen wirken«.371 Gewalt hat einen theatralischen Charakter, der den Fokus »auf das Moment des Unerwarteten, auf den Überraschungseffekt« legt.372 Quentin Tarantino und sein Co-Autor Roger Avery schufen Figuren, deren Identitäten sich weitgehend aus Fernseh- und Kinofilmen speisten, die sie gesehen hatten und die der Realität somit vollständig enthoben zu sein schienen.373 Trotzdem konstatiert Green eine gewisse Nähe zur damaligen Realität sowie eine politische Relevanz des Films, der sich generell als »happily apolitical« präsentiert.374 Green verweist etwa auf die Rassenproblematik im gewählten Schauplatz, dem wirklichen L. A. der frühen 90er Jahre, das als Epizentrum des Rassenkrieges galt.375 Dementsprechend stimmt es nur anteilig, dass Tarantinos Film »von vornherein dem Bestreben eines sinnhaltigen ›über die Welt Redens‹ enthoben« ist.376 Allerdings geht mit »der Verweisdichte des Films […] eine unverhohlene Zurschaustellung der ›Künstlichkeit‹« und damit der Selbstbezüglichkeit einher.377 Sinibaldi spricht bezüglich Tarantinos Stil in Pulp Fiction von der Dominanz eines »naturalismo ipertrofico e iperromanzesco, una sorta di realismo fuori misura, cos' enfatizzato da trapassare nel suo contrario e convivere con un astrazione stilizzata ai limiti del manierismo o della parodia, che di continuo ironizza sui linguaggi che mette in scena«.378 Tarantino exemplifiziere den Kollaps der kulturellen Hierarchien zwischen highbrow und lowbrow, zwischen Original und Kopie und scheine vor allem in der Darstellung der »hectic postmodern« den Nerv der Zeit und eben eine Wiedergabe der postmodernen Gesellschaft zu treffen.379 Sinibaldi setzt Merkmale wie die verschiedenen Sichtweisen und die Zurschaustellung der Gemachtheit, die eine gewisse Relativität des Pulp auslöst, in den philosophischen Kontext des pensiero debole. Er betont den Pastichecharakter, das Recycling oder Remake, die Montage, die zu einer absoluten Horizontalität führen und neben einer nicht weniger wichtigen 370 Michael Green: »Cinema, Race and the Zeitgeist: On Pulp Fiction Twenty Years later«, Senses of Cinema 2 (2014), [IQ]. 371 Rajewsky 2003, S. 287f. 372 Vgl. Ebd. S. 288. 373 Vgl. Green 2014. 374 Ebd. 375 Vgl. ebd. 376 Rajewsky 2003, S. 281. 377 Ebd., S. 283. 378 Sinibaldi 1997, S. 40. 379 Ebd., [Hervorhebung im Original].
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Schnelligkeit der wechselnden Filmszenen stehen. Und doch schließt er zusammenfassend wieder an die Möglichkeit eines neuen Realismus an, denn es scheint, dass Tarantinos Film […] vuol dare conto – ecco, se c’H, il nuovo realismo – di un mondo e una realt/ in continuo spostamento, duttili e flessibili, incerti e complessi, destinati piF che alla grande, impossibile Trasformazione (Rivoluzione, l’hanno chiamata generazioni intere) a una continua, imprevedibile ridefinizione.380
Im Mai 1996 organisiert Alessandro Baricco eine Tagung zum Thema »Narrare dopo Pulp Fiction« in der Scuola di scrittura creativa Holden in Turin.381 Der Film wird zu einem Wendepunkt stilisiert, der Begriff des Pulp wird zu einer Modeerscheinung.382 Und doch ist Tarantinos Film nicht die eigentliche und einzige Wurzel der literarischen Bewegung in Italien, sondern lediglich die berühmteste. Als weiterer Vorläufer der jungen literarischen Kannibalen wird der Roman Pulp von Charles Bukowski gehandelt,383 der 1994 kurz vor dem Tod des Autors veröffentlicht wurde, jedoch nicht den gleichen Bekanntheitsgrad errang wie Tarantinos Film. Bukowski machte die später auch bei den pulpisti zu beobachtende »Fäkaliensprache [sic] poesiefähig«.384 Das Munziger Lexikon definiert sein Schreiben als »kompromißlose[n] Naturalismus, in dem er das Abseitige und Niedere thematisierte und von kaputten Leuten in einer kaputten Welt berichtete«.385 Neben Tarantinos Film und Bukowskis Roman sind leicht konsumierbare Veröffentlichungen, die als pulp magazines bezeichnet wurden, als terminologische Wegbereiter zu sehen.386 Dass die Wurzeln des italienischen Pulp schwerpunktmäßig im Film Tarantinos liegen, ist eine Annahme, der Agnieszka Firlej und Olaf Grabienski widersprechen. Firlej verweist auf frühe italienische Grundlagen des Phänomens: Buzzati, Sciascia und Gadda etwa hätten schon vergleichbare Elemente aus dem
380 Ebd., S. 43f. 381 Vgl. Massimo Arcangeli: Giovani scrittori, scritture giovani. Ribelli, sognatori, cannibali, bad girls. Roma: Carocci 2008, S. 123. 382 Vgl. Rajewsky 2003, S. 269. 383 Laut Firlej ist Bukowski der erste, der diesen Terminus verwendet. Vgl. dies. 2010, S. 86. Pulp. Ausgeträumt ist der letzte Roman, den Charles Bukowski vor seinem Tod geschrieben hat. Charles Bukowski: Pulp. Santa Rosa (Ca): Black Sparrow 1994. Er ist um den PseudoDetektiv Nick Belane zentriert, einem abgestumpften und zweifelnden Säufer aus Los Angeles, dem die meisten Ereignisse eher ›passieren‹ als dass er sie gezielt herbeiführt. Mehr schlecht als recht stolpert er durch seinen mysteriösen Fall und zur Darstellung kommt vor allem ein kaputtes Leben in einer ›abgedrehten‹ Welt. 384 Vgl. den Nachruf zum Tod Charles Bukowskis o. A.: »Gestorben. Charles Bukowski«, Der Spiegel (14. 03. 1994), [IQ]. 385 Munzinger Online / Personen – Internationales Biographisches Archiv, [LW]. 386 Ebd.
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fumetto nero oder fantascienza in ihren Werken verwendet.387 Ebenso könnte man auf italienische Filmproduktionen der 70er Jahre verweisen, die »im Zeichen einer transgressiven Ästhetik des Grauens« standen und »in den Mischformen zwischen giallo und Horrorfilm eine obsessive Beziehung zwischen Sexualität und Gewalt« herstellten.388 Grabienski macht erneut auf Ammanitis Erzählsammlung Fango aufmerksam, die gemeinsam mit Noves Werk Woobinda als Pulp-affinste Literatur gewertet wird und stellt heraus: »Es wäre jedoch voreilig, die Erzählung als Adaption von Tarantinos Film zu betrachten«,389 denn: trotz des späteren Erscheinungsdatums gibt Ammaniti an, Fango geschrieben zu haben, bevor er Pulp Fiction gesehen habe.390 »In diesem Sinne kann man Fango – und hier liegt die Parallele zu Pulp Fiction – als ein Produkt der vielfältigen Wirkungsgeschichte US-Amerikanischer ›hard-boiled‹-Literatur verstehen.«391 Pulp-Literatur – so scheint es auf den ersten Blick – zeichnet sich vordergründig durch eine Abneigung gegen die Kultur des Moralismus aus392 sowie durch die Komik, mit der sie Grauen und Gewalt beschreibt. Ihre Welt ist – so Firlej – mithin eine gespaltene, die man mit Bezug auf Kristeva als eine Aufspannung zwischen Ekel und Lachen, Apokalypse und Karneval begreifen kann.393 Das Lachen sorgt für eine Distanz zwischen Erzählung und Leser, der so vor der Grausamkeit, der er ›beiwohnt‹, geschützt ist und wohlbehalten in die Realität zurückkehren kann.394 Der Leser wird sozusagen anästhesiert. Rajewsky spricht bei diesem Phänomen von einer ›Ästhetik des Aufpralls‹, die eine Homologisierung der Erlebnisbereiche der dargestellten Figuren und des Rezipienten verhindere und diesen immer wieder in eine Distanz zum Geschehen versetze.395 Nichtsdestotrotz scheint der Literatur der Kannibalen bereits wieder ein untergründiger Ernst innezuwohnen. Die Autoren widmen sich häufig der Be387 Firlej 2010, S. 88f. 388 Seeßlen / Jung 2006, S. 270. 389 Olaf Grabienski: »›Cazzo che elettroshock!‹. Die Erzählungen Niccolk Ammanitis«, In: Felice Balletta / Angela Barwig [Hg.]: Italienische Erzählliteratur der Achtziger und Neunziger Jahre. Zeitgenössische Autorinnen und Autoren in Einzelmonographien. Frankfurt am Main: Lang 2003, S. 431–441, hier S. 436. In diesem Kontext geht es um die titelgebende Erzählung »Fango«, die laut Grabienski in ihrer Anlage dem Film Pulp Fiction nahestehe. 390 Ebd. 391 Ebd. 392 Darauf geht Daniele Brolli ausführlich in seinem Vorwort zur Anthologie GioventF cannibale ein. Vgl. ders.: »Le favole cambiano«, In: Niccolk Ammaniti [u. a.]: GioventF cannibale. Hg. v. Daniele Brolli. Torino: Einaudi 1996, S. Vff. 393 Vgl. Firlej 2010, S. 92. 394 Vgl. ebd. 395 Vgl. Rajewsky 2003, S. 290. Dies führt Rajewsky exemplarisch anhand Ammanitis Erzählung »L’ultimo capodanno dell’umanit/« im Kapitel IV.3.2.3 vor.
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schreibung der dunklen Seiten des Alltagslebens. Firlej verweist darauf, dass man den Kannibalen nicht die Ambition absprechen könne, die gegenwärtige Realität ohne Beschönigung oder Abänderung darstellen zu wollen.396 Es scheint – in der Zusammenfassung der Stimmen – um eine Darstellung abgründiger Realitäten in hypertrophischer Form und grotesker Zeichnung bei gleichzeitiger Anästhesierung des Lesers zu gehen, dem so – zumindest bis zu einem gewissen Punkt – eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den dargestellten Themen erspart bleibt. Allerdings sind auch hier Varianten zu beobachten. Dem Leser mag die Distanzierung zum Protagonisten aus Aldo Noves »Bagnoschiuma« aus Woobinda durch dessen absolute Infantilisierung in einer absurden Situation, in der er seine Eltern tötet, weil sie das falsche Shampoo benutzen, noch gelingen.397 Trotzdem laden Noves Erzählungen bereits zur Reflexion über die Belanglosigkeit einiger täglicher Fernsehsendungen ein.398 Diese Tendenz verstärkt sich in Ammanitis »Ultimo capodanno« durch das vorangestellte Zitat von Clive Blatty, das eine zumindest unterschwellig tiefere Dimension vermuten lässt und damit zur Diskussion stellt: »Sherree Rose vedendo che la festa era riuscita perfettamente e che gli invitati ridevano e ballavano si chiese: ›Perch8 qui tutti si divertono e io no!‹ Sherree non sapeva che in quel momento ogni invitato, nessuno escluso, aveva il suo stesso pensiero.«399 Der Leser – das stellt auch Rajewsky fest – muss von Anfang an »abgründige Realitäten hinter der Fassade des schönen Scheins« vermuten,400 womit eine erneute Tiefenstruktur zumindest möglich wird. Stilistisch gesehen gleichen sich die beiden dem Pulp zugeordneten Bände stark. Durch Simulation von Filmen oder Videoclips, die in Form kurzer und kürzester Erzählpassagen Umsetzung findet, hat der Leser die Möglichkeit, sich sozusagen durch die »einzelnen Textfrequenzen« zu zappen.401 In Bezug auf 396 Firlej 2010, S. 93. 397 Die Nutzung des ›falschen Shampoos‹ verärgert den Protagonisten so sehr, dass er das gemeinsame Abendessen sabotiert und sich mit einer Dose geschälter Tomaten wie ein beleidigtes Kind in seinem Zimmer versteckt, um sie des Nachts zu verzehren. Vgl. Aldo Nove: »Bagnoschiuma«, In: ders.: Woobinda e altre storie senza lieta fine. Roma: Castelvecchi 2005, S. 11–13, hier S. 12. 398 Vgl. Gabriella Macr': »La televisione nella prosa di Aldo Nove«, Cahier d’8tudes italiennes 11 (2010), S. 63–72, hier besonders S. 64. 399 Niccolk Ammaniti: Fango. Milano: Mondadori 352012, (o. P.). 400 Rajewsky 2003, S. 297. 401 Vgl. Sabine Schrader : »›La testa gli esplose‹ – Körper und Medien in den Texten der Giovani scrittori der 1990er Jahre«, In: Walburga Hülk / Gregor Schuhen / Tanja Schwan [Hg.]: (Post-)Gender. Choreographien/ Schnitte. Bielefeld: Transcript 2006, S. 85–100, hier S. 85. Mit dem Prinzip des zapping im Fernsehen und der Literatur beschäftigt sich Rajewsky. Sie arbeitet die Unterschiede und Gemeinsamkeiten heraus und bezeichnet den Einsatz von ›zapping‹ in der Literatur als fernsehgebundene Systemkontamination. Vgl. dies. 2003, S. 345ff.
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Nove und Ammaniti spricht Schrader von fragmentarischem und parataktischem Erzählen, von Beliebigkeit und Wiederholung kurzer Erzählsequenzen sowie einer holzschnittartigen Zeichnung der Protagonisten.402 Durch Simultaneität und Synchronisation werden zeitliche wie räumliche Distanzen vernichtet, das Fremde wird »durch das Fernsehen vermeintlich ins Wohnzimmer geholt«; es entsteht eine Art zweite Realität, eine Medienrealität, die zur Desorientierung führen kann.403 Neben der inhaltlichen wie stilistischen Verarbeitung und Nähe zu den technischen Massenmedien Film und Fernsehen bekommen vor allem die Körper der Protagonisten eine wichtige Rolle. Sie werden »in vielen Texten vergewaltigt, massakriert, getötet«.404 Im Falle Ammanitis spricht Casadei davon, dass der Autor den non-sense der Gegenwart durch komisch groteske Gewalt auszudrücken suche, die weder Katharsis anbiete noch transgressiv sei. Es handle sich mithin um eine ästhetisierte Gewaltdarstellung, die nicht zu einem höheren Verständnis der Realität führe, sondern sich mit divertissement zufriedengebe, wenn sie auch nicht frei von Bitterkeit sei.405 Mit dieser Bitterkeit jedoch erhält ursprünglich postmodernistisch spielerische Ironie sarkastische oder gar zynische Züge.406 Postmodernistische Ironie steht in der Tradition romantischer Ironie und scheint immer noch den Schlegelschen Grundsatz in sich zu tragen, dass Ironie eine ständige Parekbase ist, also Übertretung oder Abschweifung sowie eine Art der Reflexion, die einen Illusionsbruch herbeiführt.407 In der Kritik Hegels ist sie »das Spiel mit allem; dieser Subjektivität ist es mit nichts mehr Ernst. Sie macht Ernst, vernichtet ihn aber wieder und kann alles in Schein verwandeln. Alle hohe und göttliche Wahrheit löst sich in 402 Vgl. ebd., S. 90. 403 Vgl. Schrader 2006, S. 91ff. 404 Vgl. ebd. S. 86. Schrader führt dies anhand von Texten von Ammaniti, Nove und Del Giudice vor. 405 Casadei 2007, S. 72. Ob Ammanitis Erzählungen – auch schon in Fango – tatsächlich immer im Bereich des divertissements verbleiben, wird noch zu klären sein. Vgl. dazu Kap. 4.2.1 der vorliegenden Arbeit. 406 Tiziano Scarpa äußert sich in Bezug auf die Literatur der cannibali in einem Interview : »[…] la scrittura, se vogliamo continuare a chiamarla cannibale, abbia delle caratteristiche abbastanza precise che sono un certo sarcasmo creaturale verso i personaggi e una specie di sano antipopulismo, perch8 non c’H quella sorta di compassione neorealistica verso strati sociali o eventi di cronaca tragici. C’H un apparente cinismo che invece, secondo me, H una specie di vestito antipopulista, che H poi uno dei modi per criticare in maniera efficace le caratteristiche sociali della psiche dell’identit/ nazionale, dell’identit/ collettiva, di quella individuale.« Ders.: »Intervista a Tiziano Scarpa. Il linguaggio come tormenta, sciabordio, tempesta, in occasione della sua partecipazione alle lezioni organizzate dalla Casa della Cultura di Milano«, [IQ]. 407 Ernst Behler [u. a.] [Hg.]: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 18. Philosophische Lehrjahre 1796–1806 nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796–1828. Teil 1. Paderborn [u. a.]: Schöningh [u. a.] 1963, S. 85.
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Nichtigkeit (Gemeinheit) auf; aller Ernst ist zugleich nur Scherz.«408 Ironie umgeht das Problem der direkten Bezeichnung einer Beobachtung und dadurch den Bezug zum Referenziellen, zum Wahrhaftigen.409 Sarkasmus kann in diesem Kontext und in erneutem Rückbezug auf den Umgang mit Körpern im Pulp sozusagen wörtlich genommen werden: etymologisch aus lateinisch sarcasmus, dies wiederum aus griechisch sarkasmjs, steht er für beißenden und verletztenden Spott. Schöner ist jedoch die etymologische Rückbindung an sark#zein, was verhöhnen, eigentlich gar zerfleischen bedeutet, aus griechisch s#rx (Genitiv : sarkjs) ›Fleisch‹.410 Zynismus hingegen findet seinen Platz in einer Situation, in der ein tragischer oder moralisch ernster Gegenstand banalisiert und in amüsanter Weise dargestellt wird.411 Dadurch ist Zynismus einerseits moralisch verwerflich oder zumindest zweifelhaft, andererseits stellt er konventionelle Moralvorstellungen infrage und birgt daher auch ernsthafte Intentionen.412 Versteht man Ironie als selbstreferenziell und Sarkasmus als eine nach außen gerichtete, referenzielle Form der Reflexion, dann ist Zynismus, der Ironie und Sarkasmus verbindet, eine Form der selbstreferenziellen Reflexion eines referenziellen Gegenstandes.413 In seiner Ambiguität zwischen untergründiger Moralität und Indifferenz, in der er der Literatur der Cannibali verwandt ist, ist er nicht endgültig bestimmbar und muss von Fall zu Fall ›entparadoxiert‹ werden.414 Im Aufbrechen ironischer Konzepte zugunsten von Zynismus ist ein Ansatz der Subversion postmodernistischer Vorgehensweisen erkennbar. Die von Calvino Mitte der 80er Jahre geforderte Leichtigkeit muss durch diese Neuerungen in der Literatur in gewissem Maße einer neuen Schwere weichen.415 Stefania Lucamante spricht von einer radikalen Entwicklung bezüglich der ethischen Komponente in der modernen Literatur dieser Zeit.416 408 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke Bd. 18. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 460. 409 Vgl. Jörg Räwel: »The Relationship between Irony, Sarcasm and Cynism«, LiLi 145 (2007), S. 142–153, hier S. 145. Räwel definiert die Begriffe in Anklang an die Konzeption von Kommunikation des Soziologen Niklas Luhmann als Kommunikation und genauer als reflektierende Formen der Kommunikation. 410 Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Von Ernst Kluge. Bearb. von Elmar Seebold. 25. durchges. u. erw. Aufl. Berlin [u. a.]: de Gruyter 2011, S. 787, Spalte 1. 411 Räwel 2007, S. 148. 412 Ebd, S. 149. 413 Ebd., S. 150. 414 Ebd. 415 Zu Calvinos Forderung nach der Leichtigkeit in der Literatur vgl. ders.: Lezioni americane. Sei proposte per il nuovo millennio. Milano: Garzanti 1989, S. 6f. Es ist hervorzuheben, dass Calvino sich niemals vollständig von der Realität abgewandt hat. Vgl. ebd. S. 7. 416 Vgl. Stefania Lucamante: »Introduction. ›Pulp‹, Splatter, and More: The New Italian Narrative of the Giovani Cannibali Writers«, In: dies. [Hg.]: Italian Pulp Fiction. The New Narrative of the Giovani Cannibali Writers. Madison: Fairleigh Dickinson Univ. Press [u. a.]
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Aus dem Postmodernismus erhalten bleiben die vielen mehr oder weniger expliziten intertextuellen oder intermedialen Verweise. Diese mediale Grenzüberschreitung ist jedoch ganz klar in Anliegen und Thema der ›Kanibalen‹ verankert. Lucamante stellt fest: »Their writing goes beyond literature. In the challenge of traditional disciplinary borders their writing appears, in fact, to be naturally shaped by contamination from media, cartoons, film music, television, and computer games, […]«.417 Castaldi vermerkt eine Funktionsverschiebung hin zu einer neuen Form von Realismus. Die Sprache des Fernsehens, das Zitat von Comics wird hier – da das ästhetische Element als Allgemeinwissen und Erfahrung zu verorten ist – zur Mimesis einer aus homogenen Versatzstücken der Massenkultur konstruierten Realität, die eine neue ›natürliche‹ Welt konstituiert:418 Quello che allora era gioco intertestuale di riferimenti letterari nell’Eco del Nome della rosa diventa nel decennio successivo una particolare forma di realismo. L’intertestualit/ si presenta quasi non piF come una scelta di poetica quanto una condizione del fare letteratura, condizione di erogazione mimetica. E quindi si sovrappongono in autori come Ammaniti, Scarpa e Pinketts e lo stesso Nove, i confini tra tensione al realismo e intertestualit/.419
Das große Verdienst, das Castaldi dieser Generation von Schriftstellern einräumt, besteht darin, dass sie die Notwendigkeit einer Richtungsänderung in der Literatur akzeptiert und einen neuen Weg eingeschlagen habe, auf dem sie geschickt die eigene Zeit in Form eines gegenwärtigen Realismus präsentiere, mit einen Akzent auf Oralität und Intertextualität, auf kulturelle Aspekte der niederen Schichten und auf die Warenwelt.420 Ronald De Rooy spricht in Bezug auf die Texte dieser jungen Autoren von einem »realismo deformato degli anni novanta«.421 Aldo Nove, selbst einer der Hauptvertreter dieser Welle, versteht das Phänomen als literarische Bezeugung einer Welt, die seinerzeit auf Slogan, Werbung sowie spektakuläre Gewalt reduziert gewesen sei.422
417 418 419 420 421 422
2001, S. 13–37, hier S. 13. Ein ähnliches Phänomen findet man in der deutschen Popliteratur der 90er Jahre. Grabienski [u. a.] postulieren: »Sie reflektiert die Gegenwart nicht nur thematisch, sondern auch strukturell und ist damit trotz einer dezidiert genussbetonten und bisweilen auch kommerziell erstaunlich erfolgreichen ›Poetik der Oberfläche‹ alles andere als ›oberflächlich‹«. Vgl. dies.: »Auslotung der Oberfläche«, In: Olaf Grabienski / Till Huber / Jan-No[l Thon [Hg.]: Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Berlin [u .a.]: De Gruyter 2011, S. 1–10, hier S. 1. Calvino 1989, S. 22. Vgl. Castaldi 2007, S. 378. Ebd., S. 375f. Ebd., S. 79. Ronald De Rooy : »Premessa. I volti della deformazione«, In: ders./ Beniamino Mirisola / Viva Paci [Hg.]: Romanzi di (De)formazione (1988–2010). Firenze: Cesati Editore 2010, S. 11–15, hier S. 12. Vgl. Nove 2006, S. 42.
Der ›Kannibalismus‹ in der Literatur oder die ›Verdauung‹ der Postmoderne
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Die italienische Pulp-Literatur der als Cannibali bezeichneten Autoren ist polyvalent und lässt sich auf halbem Weg zwischen Postmodernismus und einem neuen Realismus verorten. Ranieri Polese konstatiert, dass die jungen Schriftsteller mit einem Schreiben aufgewachsen sind, dem es gelungen ist, andere Register zu erobern; über die Bewunderung des trash der Fernsehwelt sind sie auf dem Weg zu einer neuen »rappresentazione della realt/«.423 Entsprechende Tendenzen manifestieren sich bereits in Tarantinos Film oder Bukowskis Roman. Die Autoren des Pulp haben somit eine ähnliche Stellung inne wie etwa die Scapigliatura, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bestrebungen und den Groll der aufstrebenden jungen Generation von Künstlern und Literaten repräsentiert und die in ihrem Oszillieren zwischen Spätromantik, Verismus und Dekadenz als Verbindungsstück oder auch Schwellenglied in einer Zeit des Umbruchs gelten kann.424 Giuseppe Farinelli fasst bezüglich der Scapigliati zusammen: Sicch8 H da alcuni fatta coincidere con un generico terzo romanticismo o si accaparra il titolo di secondo romanticismo lombardo […] o quello […] di neoromanticismo sperimentale; da altri H bloccata su procedure veriste non slegate da mozioni di contemporaneit/ sociale; e da altri ancora H proiettata verso il decadentismo.425
Auch Mario Barenghi sieht eine Verwandtschaft zwischen den Cannibali des 20. Jahrhunderts und der Scapigliatura des 19. Jahrhunderts, vor allem in ihrem Wunsch, mit der Tradition zu brechen, ihrem Streben nach Eigenständigkeit, dem Skandalbehafteten und dem Versuch, die literarischen Formen an eine veränderte Wirklichkeit anzupassen.426 Dieser Zirkel der Literaturgeschichte wiederholt sich in einer Variante in der Gegenwart. Die Werke der jungen ›Kannibalen‹ scheinen einerseits der Zenit postmodernistischer Literatur zu sein, die sich in ihnen jedoch aufzulösen beginnt, um neue Wege zu beschreiten. Einzelne Elemente werden bereits zugunsten eines neuen Realismus ›verdaut‹ und umfunktioniert. Aldo Nove formuliert den Umbruch ausdrücklich, den die Autoren verspüren und auszudrücken suchen, wenn er fragt: Ma cosa H successo, all’Italia di questi anni? Come H potuto accadere che si sia arrivati a questo punto? Un gioco che faccio spesso 423 Ranieri Polese: »A dieci anni dall’esordio ›pulp‹ Ammaniti H ancora nel mirino dei critici«, Corriere della Sera (11. 07. 2007). 424 Schrader führt das in ihrer Monographie in einem knappen Kapitel zum »Schwellenbewusstsein« vor. Vgl dies.: La Scapigliatura. Schreiben gegen den Kanon. Italiens Weg in die Moderne. Heidelberg: Winter 2013, S. 16–20, hier besonders S. 17. 425 Giuseppe Farinelli: La Scapigliatura. Profilo storico, protagonisti, documenti. Roma: Carocci ed. 2003, S. 10. 426 Vgl. Mario Barenghi: »I cannibali e la sindroma Peter Pan«, Tirature (1989). Una modernit/ da raccontare: La narrativa italiani degli anni novanate, S. 34–40, hier besonders S. 38.
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con gli amici, un gioco triste, H quello di immaginare come avremmo immaginato questi anni quindici anni fa. La risposta H sempre la stessa. Non cos'. Non cos' brutti, vuoti, colmi di spot. E non di realt/.427
Den Transfer postmodernistischer Techniken in neue effets de r8el kann man besonders an den Werken des erfolgreichsten Autors der Cannibali nachvollziehen, an denen Ammanitis. Daher sollen zunächst einige seiner früheren Werke in Ausschnitten beispielhaft auf die Art der Gewaltdarstellung hin untersucht werden, die sowohl in den pulpistischen als auch den realistischen Texten des Autors eine wichtige Rolle spielt. Das besondere Augenmerk wird hierbei auf dem Maß des Exzesses sowie der angestrebten Anästhesierung des Lesers liegen. Findet eine solche nicht oder nicht mehr durchgängig statt, ist dies ein Hinweis auf eine Verlagerung weg von oberflächlich strukturierter Unterhaltungsliteratur. In einem zweiten Schritt steht der Roman Come Dio comanda im Fokus, der kleinschrittig auf Marker eines neuen Realismus sowie Residuen der Pulp-Ästhetik hin analysiert wird. Dabei sollen sowohl die individuell adaptierten Techniken und Themen Beachtung finden, die das Neuartige aktueller Realismen fokussieren, als auch jeweils ein Rückgriff auf mögliche Vorläufer und Vorbilder analysiert werden.
4.2
Nuancen der Darstellung einer Welt der Gewalt zwischen Pulp und Realismus
Von den Dingen nämlich, die wir selbst nur mit Widerwillen anschauen, betrachten wir Abbildungen, und zwar gerade, wenn sie mit besonderer Exaktheit gefertigt sind, mit Vergnügen, wie zum Beispiel die Gestalten abscheulichster Kreaturen und toter Körper.428
Gewaltdarstellungen in Literatur und Kunst kommen mitnichten erst in Zeiten des Pulp auf, sie haben eine lange Tradition. Gewalt und ihre Darstellung scheinen zum »fast unverzichtbaren Inventar unserer ästhetischen und existentiellen Erwartung« zu gehören.429 Über zwei Jahrtausende werden nunmehr »die wirkungsvollsten Affekte und Effekte aus der Darstellung gewalttätiger 427 Nove 2006, S. 117. (Aus dem Vorwort zu der »Storia di Fabio«). 428 Aristoteles 2008, Kap. 4, b10, S. 6. 429 Jürgen Wertheimer: »Vorwort«, In: ders. [Hg.]: Ästhetik der Gewalt. Ihre Darstellung in Literatur und Kunst. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag 1986, S. 7–9, hier S. 7.
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Geschehnisse« gezogen.430 Das mag auch damit zusammenhängen, dass Studien nahelegen, dass Mechanismen der Gewalt kaum individuelle und noch nicht einmal bemerkenswerte kulturelle Unterschiede aufweisen.431 Älteste Wurzeln in der Literatur auf europäischem Boden finden sich in der Verarbeitung des Trojanischen Krieges in der Ilias Homers.432 Im Mittelalter waren es die häufig blutigen Aventuren, Jagden oder Turniere der um Ehre kämpfenden Ritter, die die literarischen Darstellungen der Romane ebenso dominierten wie die Erzählungen der Kreuzzüge. In Italien mag man in dieser Periode an den Höllenschlund von Dantes Divina Commedia und die darin beschriebenen Qualen denken. Zum Höhepunkt wird die Darstellung »körperlicher Destruktion als Gegenstand künstlerischer Darstellung« im Barock.433 Die Poetik der Moderne – so Jürgen Wertheimer mit Blick auf das Werk D’Annunzios oder das der Futuristen – lebt geradezu aus dem Geist der Gewalt.434 Bei Pasolini wird Gewalt – häufig in einem sexuellen Kontext – zum Instrument der Kritik an Staat, Kirche und Gesellschaft im Allgemeinen. Zur literarischen Auseinandersetzung mit Gewalt im 20. Jahrhundert in Italien haben Peter Brockmeier und Carolin Fischer einen Band herausgegeben, in dessen Vorwort sie konstatieren: Die Darstellung von Gewalt spielt noch heute in vielen Literaturen eine wichtige, wenn nicht sogar zentrale Rolle; sie ist eine wesentliche Form der literarischen Aneignung von Realität. Gerade die italienische Literatur seit 1945 hat eine Vielzahl von Werken hervorgebracht, die Grausamkeit faßbar machen und gleichzeitig Kunst schaffen.435
Ob in seinen eher dem Pulp zugewandten oder den schwerpunktmäßig realistischen Geschichten – die erzählte Welt Ammanitis ist immer eine Welt detailliert dargestellter Gewalt. Sie fokussieren innere Abgründe der Gesellschaft, kriminelle Handlungen und Sexualverbrechen. In ihrer Kontextualisierung und individuellen Zeichnung unterscheiden sich diese Gewaltdarstellungen jedoch, trotz fast immer zumindest im Ansatz vorhandener Horror- und Splatter-Elemente. Die Darstellungen der Gewalt oszillieren – wie das gesamte Werk – zwischen Markern der Pulp-Ästhetik und Anzeichen neuen realistischen Schreibens. Diese Ambiguität ist bereits in der Erzählsammlung Fango zu ver430 Jürgen Wertheimer : »Einleitung«, In: ders. [Hg.]: Ästhetik der Gewalt. Ihre Darstellung in Literatur und Kunst. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag 1986, S. 10–18, hier S. 10. 431 »Des 8tudes r8centes suggHrent que les m8canismes physiologiques de la violence varient fort peu d’un individu / l’autre et mÞme d’une culture / l’autre.« Ren8 Girard: La violence et le sacr8. Paris: Hachette / Pluriel 1983, S. 10. 432 Zur Gewalt in Homers Werk vgl. Wertheimer 1986, S. 19ff. 433 Ebd. 1986, S. 179. 434 Ebd. 16. 435 Peter Brockmeier / Carolin Fischer : »Gewalt der Geschichte – Geschichten der Gewalt. Zur Einführung«, In: dies. [Hg.]: Gewalt der Geschichte – Geschichten der Gewalt. Zur Kultur und Literatur Italiens von 1945 bis heute. Stuttgart: M und P Verl. für Wiss. und Forschung 1998, S. 11–24, hier S. 11.
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merken, was anhand einer Analyse der beiden ersten Geschichten vorgeführt werden soll. Im Weiteren wird die Entwicklung der Gewaltdarstellung im Werk Ammanitis anhand der Romane Ti prendo e ti porto via und Io non ho paura ausschnitthaft exemplifiziert.
4.2.1 Ambivalente Gewaltdarstellung in Fango: Ammanitis Nähe zum Verismus In Bezug auf den apokalyptischen Text »L’ultimo capodanno dell’umanit/« konstatiert Rajewsky eine unübersehbare Nähe der Erzählung zum Film Pulp Fiction, in dem die Gewaltszenen zwar einen »vergleichsweise geringen Anteil der Erzählung« einnehmen, aber »überaus brutal und von blutiger Anschaulichkeit« sind.436 Sie weisen eine Nähe zum Horror oder auch drastischen Gewaltdarstellungen aus Comics oder Zeichentrickfilmen auf.437 Diese drastischen Gewalttaten erwachsen aus ursprünglich ›alltäglichen‹ Zusammentreffen in zwischenmenschlichen, affektbesetzten Situationen, in denen jedoch eine angemessene Reaktion von Verunsicherung oder Wut ins Grotesk-Hypertrophische gesteigert wird. Das Crescendo der ausufernden Emotionen findet keinen Weg zurück zur Normalität. Dies lässt sich beispielhaft anhand der Reaktion der von ihrem Freund Enzo mit der besten Freundin Deborah betrogenen Giulia illustrieren, die kurzerhand mit einer geladenen Harpune ihre eigene Silvesterparty stürmt, die zu einem grotesken Kriegsszenario mutiert, in dem jede menschliche Empathie ausgeschaltet scheint: Aveva tirato a mani nude, come un animale, facendosi male alle palme, quei giganteschi elastici. Aveva infilato fino in fondo l’arpione. Aveva sentito il grilletto e farsi duro. Pronta! Si era avviata urlando. Verso il salotto. Verso la guerra. Verso la vittoria. Imbracciando quel micidiale strumento come fosse stata un fante prussiano votato alla morte. Entrk in salotto e urlk: »Incominciate a pregare perch8 non ci sar/ un nuovo anno per voi!« […] Giulia strizzk la bocca in una smorfia di disgusto, tirk il grilletto ed Enzo, seduto su quella sedia di velluto rosso, vide il giavellotto venire in avanti e conficcarglisi proprio al centro del petto. Sent' lo sterno esplodergli al contatto con la punta. Avvert' il passaggio dell’asta di ferro nella carne morbida chiusa dentro la gabbia toracica. E infine cap', dall’improvviso sussultare della sedia sotto al culo, che doveva averlo 436 Rajewsky 2003, S. 301. Zu einer ausführlichen Analyse der Erzählung »L’ultimo capodanno dell’umanit/« ist Rajewsky 2003, S. 294–333 zu empfehlen. 437 Ebd.
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trapassato come un pollo allo spiedo e che l’asta si era incuneata dentro l’imbottitura dello schienale. Un inferno di dolori gli scoppik nel torace e sent' il sapore salato del sangue risalirgli su per la gola. L’arpione si era aperto dietro la schiena.438
Isotopien des Animalischen – diese sind typisch für das Schreiben Ammanitis –, des Kriegerischen und des medizinisch genau beschriebenem Körperlichen dominieren diesen Abschnitt, der nur ein Detail des Infernos der Silvesternacht erzählt. Zur Anschauung kommt an dieser Stelle im Besonderen der zerstückelte Körper, der typisch für die Literatur des Pulp ist. Das Maß, in dem Giulias Reaktion das Angemessene für die ihr widerfahrene Kränkung überschreitet, ist nach konventionellen Anschauungen derart hoch, dass der Leser nicht mehr nach realistischen Motivationen sucht, sondern sich dem bitter-komischen Spiel des Grotesken hingibt. Ähnlich funktioniert die entstehende Kriegsszenerie in einem weiteren Erzählstrang der Geschichte, die sich aus der eskalierenden Party der reichen Gräfin Sinibaldi dell’Orto heraus entwickelt. Zu dieser hat der Gigolo Gaetano heimlich seine Lieblingsfußballmannschaft eingeladen hat, was auch eine Horde von Fans unter der Führung von Mastino di Dio auf den Plan ruft. Die ausufernde und zur Schlacht mutierende Party beschwört einen kriegsähnlichen Zustand herauf, als Dachziegel, Putzbrocken und Leuchtraketen auf der angrenzenden Terrasse der Familie Trodini landen, die ihr Silvesterfeuerwerk vorbereitet.439 Als eine Blumenvase auf dem Opel des Vaters Trodini zerschmettert, ruft dieser zum Kampf auf, in den der Sohn Michele und der Großvater Anselmo mit Begeisterung einsteigen. Zusammen mit der wechselnden Szenerie werden alte Gendertraditionen aufgerufen, die patriarchalische Muster reaktivieren: »›Stai zitta, donna! Vai a nasconderti con tua figlia in cucina! Michele, corri. Prendi tutti i razzi e i botti che hai nascosto sotto al letto. Nonno Anselmo, riparati qua.‹ E il signor Trodini era solo un comandante.«440 Die Männer der Familie scheinen, nach der anfänglichen Wut des Vaters, jeder einzelne seinen persönlichen positiven Rauschzustand zu erleben und zu genießen. Michele ist stolz, dass der Vater ihn lobt, ein ganzes ›Arsenal‹ gekauft zu haben441 und der Großvater fühlt sich in seine Jugend zurückversetzt: »Anselmo Frasca era felice. Gli sembrava di essere tornato giovane. Durante la guerra.«442 Die Szenerie eskaliert, als Mastino di Dio auf der Gegenseite Anstalten macht, einen Fernseher als Wurfgeschoss zu verwenden und der Großvater Anselmo 438 439 440 441 442
Ammaniti 2012, S. 102, [Hervorhebung im Original]. Vgl. ebd., S. 85ff. Ebd., S. 87. Vgl. ebd., S. 98. Ebd., S. 112.
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statt mit Feuerwerkskörpern mit seiner alten Muskete schießt, die explodiert und ihm eine Hand abtrennt. Der Verlust der Hand wird dem Leser aus der Perspektive des Enkels übermittelt: Michele Trodini sent' uno scoppio proprio dietro le spalle e il nonno prese a urlare come se lo sgozzassero. Si girk e lo vide saltare per il terrazzino come un rospo con le convulsioni. Zompava come se avesse vent’anni. Dei bei salti di almeno un metro e mezzo. Poi si accorse che al nonno gli mancava qualcosa. Non aveva piF una mano. Il braccio finiva con il polso. Niente piF palmo, dita. Non c’era niente. […] Niente. La mano non c’era piF. Poi Michele finalmente la vide. »Eccola, eccola pap/! ð l/!« Era finita di sotto. Nel parcheggio. Sopra il cofano di una Ford Escort station wagon.443
Wiederum mischen sich Kriegs- mit Tiervergleichen. Der verletzte Großvater schreit als würde er niedergemetzelt und – in diesem Kontrast spannt sich die Komik auf – hüpft eineinhalb Meter hoch wie eine Kröte mit Krämpfen. Die detaillierte Benennung des Autos (»Ford Escort station wagon«), auf dessen Kofferraum die abtrünnige Hand gelandet ist, verankert die Szene in der von den Kannibalen gerne herangezogenen Fernsehwerbewelt der Marken.444 Wiederum wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf abgetrennte Körperteile gelenkt, ohne jedoch tatsächlich Grauen hervorzurufen; der massakrierte Mensch steht vor allem im Zeichen des Divertissements. Diesen weitgehend distanziert-komischen Stil im Sinne der Pulp-Ästhetik hält die Sammlung Fango jedoch nicht durch. Bernhard Huss konstatiert, die auf »L’ultimo capodanno dell’umanit/« folgenden Geschichten »werfen […] in verstörender Manier das Problem der Motivation von Gewalt und von literarischen Gewaltdarstellungen auf«.445 Besonders im Blick hat er dabei die zweite Erzählung des Bandes, »Rispetto«, die die Vergewaltigung eines jungen Mädchens und ihre Ermordung sowie die ihrer Begleiterinnen durch drei junge 443 Ebd., S. 117. 444 Auffällige Parallelen ergeben sich bei der Betrachtung amerikanischer Literatur, zum Beispiel im Hinblick auf den 1991 erschienen Roman American Psycho von Bret Easton Ellis. Dieser ist vom ersten Kapitel an von einem Überfluss an brand-name-dropping gekennzeichnet (etwa bei der Beschreibung der Figur der Courtney : »Courtney opens the door and she’s wearing a Krizia cream silk blouse, a Krizia rust tweed skirt and silk-satin d’Orsay pumps from Manolo Blahnik.« Vgl. ders.: American Psycho. New York: Vintage Books 1991, S. 8). Georgine Colby liest Ellis Text unter anderem mit Blick auf einen »commodity fetishism« im Rückgriff auf Marx als Kritik an einer Gewaltform des globalen Kapitalismus. Vgl. dies.: Bret Easton Ellis. Underwriting the Contemporary. Basingstoke [u. a.]: Palgrave Macmillan 2011, S. 63. 445 Huss, In: Munzinger Online / KLfG, [LW].
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Männer thematisiert. Bereits der Titel setze »ein ethisch-moralisches Fragezeichen hinter die stakkatoartig rhythmisierte Darstellung [des] mehrfachen Mädchenmords durch ein gesichtsloses Kollektiv berauschter Techno-MusikAnhänger«.446 Die Qualität der Gewaltdarstellung sowie deren Funktion scheinen somit schon innerhalb der Erzählsammlung ambivalent. Das Thema der Vergewaltigung in ihrem Hergang und vor allem auch unter Beachtung ihrer pathologischen Aspekte fand bereits einige Beachtung in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Thematisiert wird sie zum Beispiel im Werk des Scapigliato Igino Ugo Tarchetti im sozial engagierten Roman Paolina (1866). Auch Emilio De Marchi – ebenfalls ein Literat aus der Umgebung der Scapigliatura – gibt dem sujet der Vergewaltigung in seinem Roman Giacomo l’idealista (1897) Raum. Bekannter noch ist die Geschichte der Giacinta (1879) von Luigi Capuana und auch seine Novelle »Tortura« (1889) stellt sexuelle Übergriffigkeit explizit in den Fokus. Im Bereich der Kurzprosa findet Ammanitis Text ein zeitlich vorgeschaltetes Korrelat in einer der weniger bekannten Erzählungen Giovanni Vergas, die den Titel »Tentazione!« (1884)447 trägt und ebenfalls und auf sehr ähnliche Manier das Thema einer Gruppenvergewaltigung in einer Art Rauschzustand, der dem Sexualtrieb geschuldet ist, in Szene setzt. Giuseppe Lo Castro spricht von einer »narrazione di un’escalation«.448 In Vergas Erzählung ziehen drei junge Männer am Abend aus, um sich zu vergnügen (»a far baldoria«).449 Nach einem Fest mit Tanz und Zoten treffen sie auf dem Rückweg ein junges Bauernmädchen, das ihnen zur Versuchung (und zum ›Verhängnis‹) wird. Die drei jungen Männer verwandeln sich »[i]n wenigen Stunden […] aus braven Arbeitern und Handwerkern, […] in heruntergekommene, dekadente Mörder«.450 In der Erzählung – so Ceserani – werde vor allem der instinktive Zusammenhalt, die Gruppensolidarität der Täter untersucht, die sie während der Tat verbindet.451 Die Erzählstimme bleibt anonym, wird jedoch schnell und sehr regelmäßig durch eine Vielzahl von Einschüben direkter Rede unterbrochen, sodass die Distanz zum Leser auf ein Minimum schrumpft. Lo Castro spricht von einer »oralit/ ricreata«, durch die die Ge446 Ebd. 447 1884 erschien die Erzählung in der Sammlung Drammi intimi beim Verlag Sommaruga. Zuvor waren die darin festgehaltenen racconti bereits zwischen 1882 bis 1883 in Zeitschriften erschienen. 448 Giuseppe Lo Castro: La verit/ difficile. Indagini su Verga. Napoli: Liguori Editore 2012, S. 10. 449 Giovanni Verga: »Tentazione!«, In ders.: Tutte le novelle. Hg. v. Carla Riccardi. Milano: Mondadori 1979, S. 905–910, hier S. 905. 450 Remo Ceserani: »Zwischen Vegetariern und Kannibalen. Der Journalismus, die Literatur, die Welt der Medien und die Darstellung sexueller Gewalt«, In: Brockmeier / Fischer [Hg.] 1998, S. 231–248, hier S. 238f. 451 Vgl. ebd., S. 239.
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schichte die Gestalt einer erlebten Zeugenschaft annehme.452 Es fällt auf, dass »die Darstellung heftiger und unkontrollierbarer Instinkte und Leidenschaften« in »außergewöhnlich sparsamer und konkreter Sprache« erfolgt, die »weder dem Pathos noch dem Mitleid mit dem Opfer Raum gibt«.453 Stets liegt der Fokus auf dem Verhalten der jungen Männer und deren Interpretation der Situation. Das Mädchen, das in der Geschichte Vergas zum Opfer wird, wird von vornherein als hübsch bewertet und beschrieben, ihre von Beginn an ausweichenden Reaktionen werden abgetan: Altro! Era un bel tocco di ragazza, di quelle che fan venire la tentazione a incontrarle sole. […] – Che gamba, neh! – borbottk Carlino. – Se va di questo passo a trovar l’innamorato, felice lui! La ragazza, vedendo che le si attaccavano alle gonnelle, si fermk su due piedi […] e si mise a strillare: […] – Eh! che non ce la vogliamo mangiare! – rispose il Pigna. – Che diavolo! –454
Zunächst lässt das Mädchen sich auf einen Kontakt zu den Männern ein – durch die Verwendung einer Verbalkonstruktion des ›Zulassens‹ wird jedoch ihre Passivität hervorgehoben: »[…] la giovane si lascik persuadere, anche perch8 annottava, e andava a rischio di perdere la corsa.«455 Im nächsten Moment jedoch versucht sie, die Männer von sich fernzuhalten, was diese nur noch mehr anstachelt: – Perdio! se era bella! Con quegli occhi, e quella bocca, e con questo, e con quest’altro! – Lasciatemi passare – diceva ella ridendo sottonaso, con gli occhi bassi. – Un bacio almeno, cos’H un bacio? […] Ella si schermiva, col gomito in alto. – Corpo! che prospettiva – Il Pigna se la mangiava con gli occhi, di sotto il braccio alzato.456
Es wird explizit nachgezeichnet, wie Abwehr und Flucht als vermeintliche Zustimmung oder gar Aufforderung zur sexuellen Handlung interpretiert werden, die eine Gewalteinwirkung zu rechtfertigen scheint. Die Männer handeln in einer Art Rauschzustand. Zu einer solchen zeitlich definierten rauschartigen Phase des Wunsches nach Gewalt definiert Ren8 Girard: »Une fois qu’il est 8veill8, le d8sir de violence entra%ne certains changements corporels qui pr8parent les hommes au combat. Cette disposition violente a une certaine dur8e.«457 Der Rezipient findet im Text keine Erklärung und keine direkte Ent-
452 453 454 455 456 457
Vgl. Lo Castro 2012, S. 10f. Ebd. Verga 1979, S. 906. Ebd., S. 907. Ebd., S. 907f. Girard 1983, S. 11.
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scheidung für die Gewalttat, vielmehr scheint es zu einer Art raptus zu kommen, der die ›normale‹ Situation eskalieren lässt:458 – Lasciatemi andare, o chiamo gente! – Egli balbettava, con la faccia accesa: – Lasciatevelo dare, che nessun ci sente –. Gli altri due si scompisciavano dalle risa. Infine la ragazza, come le si stringeva addosso, si mise a picchiare sul sodo, met/ seria met/ ridendo, su questo e su quello, come cadeva. Poi si diede a correre con le sottane alte. – Ah! lo vuoi per forza! lo vuoi per forza! – gridava il Pigna ansante, correndole dietro. E la raggiunse col fiato grosso, cacciandole una manaccia sulla bocca.459
Die dreifache Vergewaltigung der jungen Frau wird wie im wilden Wahn vollzogen. Im Fokus der körperlichen Beschreibung stehen die Augen, der Mund, die Beine und wehenden Rockschöße. Doch auch die Deskription des Tathergangs ist bezeichnenderweise einigermaßen detailliert. Der eigentliche Akt scheint in der Metapher des Kontakts mit dem ›warmen Fleisch‹ durchaus expliziert: Carlo si trovk presto in mezzo per tentare di divederli. Ambrogio l’aveva afferrata per le gambe onde non azzoppisse qualcheduno. Infine il Pigna, pallido, ansante, se la caccik sotto, con un ginocchio sul petto. E allora tutti e tre, l’uno dopo l’altro, al contatto di quelle carni calde, come fossero invasati a un tratto da una pazzia furiosa, senza dire una parola, ubbriachi di donna … Dio ne scampi e liberi!460
Auch der Tod des Mädchens durch Strangulation kommt anschaulich und detailreich zur Darstellung. Es ist die Verkörperung eines rein animalisch-instinktiven Egoismus, der in der Erzählung während der Tat im Rausch an Raum gewinnt. Alles andere – vor allem die Menschlichkeit – tritt in den Hintergrund. Der Mord wird zum einzigen Mittel, damit die Täter nicht zu ›Opfern‹ der sprechenden Frau werden: Com’ella si moveva per andarsene, Carlo le si piantk in faccia col viso scuro: – Tu non dirai nulla! – No! non dirk nulla! – promise la ragazza con voce sorda. Il Pigna a quelle parole l’afferrk per la gonnella. Ella si mise a gridare. […] – Sta zitta ti dico! – Carlino l’afferrk alla gola. – Ah! vuoi rovinarci tutti, maledetta! – Ella non poteva piF gridare, sotto quella stretta, ma li minacciava sempre con quegli occhi spalancati dove c’erano i carabinieri e la forca. Diventava livida, con la lingua tutta fuori, nera, enorme, una lingua che non poteva capire piF nella sua bocca; […] Carlo le stringeva la gola sempre piF a misura che la donna rallentava le braccia, e si abbandonava, inerte, con la testa arrovesciata sui sassi, gli occhi che mostravano il bianco. Infine la lasciarono ad uno ad uno, lenta-
458 Vgl. dazu Lo Castro 2012, S. 12. 459 Verga 1979, S. 908. 460 Ebd.
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mente, atterriti. Ella rimaneva immobile stesa supina sul ciglione del sentiero, col viso in su e gli occhi spalancati e bianchi.461
Die Beschreibung der heraustretenden Augen und der schwarzen Zunge, die auf ein Maß anschwillt, dass sie nicht mehr in den Mund des Mädchens passt, kippt an dieser Stelle ins Hyperbolische. Die veristische Erzählung nimmt Elemente vorweg, die später auch in der Pulp-Literatur Verwendung finden und weiter überzeichnet werden. Besonders die Art, in der sich die Täter bei Verga des Opfers entledigen, zeigt, dass bestialische Gewaltdarstellung auch dem Verismus nicht fremd war : Il Pigna disse che bisognava scavare una buca profonda, per nascondere quel ch’era accaduto, […]. Poi nella fossa non c’entrava [il corpo]. Carlino gli recise il capo, col coltelluccio che per caso aveva il Pigna. Poi quand’ebbero calcata la terra pigiandola coi piedi, si sentirono piF tranquilli e si avviarono per la straducciola. […] Andavano guardinghi e senza dire una parola, ma non volevano lasciarsi, quasi fossero legati insieme.462
Der ohnehin grausige Vorgang des ›Kopfabschneidens‹, der aufgrund der reinen Pragmatik der Situation noch kaltblütiger erscheint, wird in seinem Effekt dadurch verstärkt, dass das verwendete Messer als »coltelluccio«, also pejorativ als ein schlechtes, nicht mehr ganz scharfes Messer mit kleiner Klinge, das seinem Dienst nicht mehr gerecht wird, bezeichnet wird. Dass Pigna es zufällig (»per caso«) bei sich trägt, verweist noch einmal darauf, dass es sich bei dem verübten Verbrechen nicht um ein geplantes, sondern um eines im Affekt gehandelt hat. Lo Castro reiht »Tentazione!« in die Erzählungen Vergas ein, die die veristischen Konzepte, die der Autor in »L’amante di Gramigna« formuliert, am besten widerspiegeln.463 Etwa das Anliegen, den Leser »faccia a faccia col fatto nudo e schietto«464 zu konfrontieren sowie es ihm selbst zu überlassen, Gründe und Entwicklungen der Geschehnisse zu verstehen.465 Hierfür sind brevitas und Konzentration von großer Bedeutung, da so alle narrativen Passagen zu einem Erzählstrang gehören, dessen Rekonstruktion sich anbietet und Gelegenheit zur Lösungsfindung bietet.466 In der vorgestellten Erzählung kommen somit typisch veristische Anliegen zum Ausdruck, nämlich die Darstellung eines misterioso processo per cui le passioni si annodano, si intrecciano, maturano, si svolgono nel loro cammino sotterraneo, nei loro andirivieni che spesso sembrano contradditori, costituir/ per lungo tempo ancora la possente attrattiva di quel feno461 462 463 464 465 466
Ebd., S. 908f. Ebd., S. 909f. Vgl. Lo Castro 2012, S. 14. Verga 1979, S. 202. Vgl. ebd. Vgl. Lo Castro 2012, S. 14.
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meno psicologico che forma l’argomento di un racconto, e che l’analisi moderna si studia di seguire con scrupolo scientifico.467
Nach der noch mehrheitlich dem Pulp zuzuordnenden Erzählung »L’ultimo capodanno dell’umanit/« wendet Ammaniti sich in »Rispetto« einem dictum und modus zu, denen eine Verwandtschaft zum Verismus zu unterstellen ist, und zwar in einem Maße, das zu stark ist, um sie in der Einordnung des Textes zu ignorieren. Die dargestellten Morde in »Rispetto« geschehen – ebenso wie in Vergas »Tentazione!« – im Anschluss an eine detailliert geschilderte Vergewaltigungsszene aus Sicht dreier Täter, jungen Männern, die ursprünglich abends ausgegangen waren, um zu feiern (»Usciamo all’imbrunire. Andiamo a divertirci. A fare i coglioni. Sappiamo divertirci noi. Sappiamo tirare fuori il meglio dal buco.«).468 Der Tanz zu Techno in einer Diskothek wird in derbem, die Jugendsprache simulierendem Ton und einfacher Parataxe erzählt. Auf der Tanzfläche treffen sie auf drei Mädchen, die als »galline contente della nostra scorta«469 beschrieben werden. Gemeinsam verlassen sie betrunken die Diskothek und fahren an den Strand, wo die jungen Männer nicht länger abwarten wollen, ihre sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Das Einverständnis der jungen Frauen wird dabei vorausgesetzt: E ora H diventato tutto troppo esplicito. Noi vogliamo loro e loro vogliono noi. Devono solo superare tutte le stronzate che gli hanno messo in testa i genitori e la scuola e il paese. Loro ne hanno voglia piF di noi ma devono superare l’ostacolo.470
Während aus der männlichen Sicht der Erzählperspektive die Situation klar erscheint, haben die Mädchen angedeutet konträre und vor allem voneinander divergierende Ansichten und Verhaltensweisen. So verschwindet eine hinter den Dünen, eine kehrt zum Wagen zurück, während die dritte, Maria, zunächst im Meer schwimmt, um danach blaugefroren zum Opfer der jungen Männer zu werden, die die zunächst widerstandslos erduldende junge Frau einer nach dem anderen vergewaltigen. Diese Passivität, die von den Männern wie bereits in der Erzählung Vergas als Zustimmung gewertet wird, drückt sich in Verbalkonstruktionen des ›Zulassens‹ aus: »Maria H stesa e si fa baciare. […] Si fa levare il reggipetto. […] Maria ha battuto la testa indietro e fa fare.«471 Quittiert wird dies von den Männern mit weiteren Zudringlichkeiten: »Forza. Forza. Non vuole altro. Ha bisogno di cazzo la ragazza. Ha bisogno di essere punita. Quello che le sta sopra le sfila le mutande. La troia pare neanche accorgersene. Forza. 467 468 469 470 471
Verga 1979, S. 202. Ammaniti 2012, S. 139. Ebd., S. 141. Ebd., S. 142. Ebd., S. 143.
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Forza.«.472 Die gegenseitige Ermunterung (»Forza. Forza.«) heizt die Stimmung an. Abwehrversuche werden ignoriert und interpretatorisch in ihr Gegenteil verkehrt: »Mugugna qualcosa. Roba tipo no. Non voglio. Smettila. ð troppo. ð troppo quando fanno finta che non gli va.«473 Der Vergewaltigungsvorgang wird erst durch die Rückkehr eines der beiden anderen Mädchen unterbrochen, das als Zeugin des Tathergangs brutal erschlagen wird. An dieser Stelle kommen in der Erzählung erstmals Splatter-Elemente ins Spiel: »Uno afferra un ombrellone arruginito e mezzo sfondato e glielo ficca in un occhio. Si infila perfettamente nell’orbita anche se ai lati spuzza pappa e sangue come in un dentifricio strizzato.«474 Auch die im Wagen wartende Freundin stirbt ähnlich und in ebenso plastischer Ausschmückung: »ð un attimo. Un attimo ed H morta. Un attimo e la sua testa H fracassata. Fracassata sulla sabbia. La sua testa H aperta come un uovo di pasqua fatto di carne e di ossa e di capelli. La sorpresa cola giF sulla sabbia. Cervello. Molle molle.«475 Trotz dieser beiden Szenen scheint ein anderes Interesse im Fokus zu stehen: das an den Mechanismen der Vergewaltigung. Die hypertrophisch blutigen Elemente sind auch bei Ammaniti in das situative Bild eines rauschartigen Zustandes eingebettet, der einen definierten Anfang sowie ein Ende findet. Die ins Pathologische umschlagende Geschichte von einem fröhlichen Fest in sexuelle Gewalt, Mord und Totschlag findet ihren Ausgangspunkt in Alkohol, Drogen und der Technomusik; der eigentliche Katalysator jedoch ist die aus der Situation heraus entstehende Gruppendynamik der in sich geschlossen bleibenden Männer. Diese Gruppenzugehörigkeit wird von Beginn an durch die Erzählform in der ersten Person Plural ausgedrückt. Auch der Leser wird somit ins Geschehen hineingezogen, fast scheint auch er zum Täter (oder zumindest zum Voyeur) zu werden. Die Innensicht verringert die Distanz zu den Geschehnissen in hohem Maße. Dass das Erzähltempus das Präsens ist, fungiert noch einmal als ein Zoom in das Geschehen hinein. Der mediale Filter zwischen Rezipienten und Geschehen wird durch diese Technik minimiert. Wenn auch in anderer Umsetzung, so erhält doch auch Ammanitis Geschichte damit nahezu den Status eines Zeugenberichts. Das in der Gruppe entstehende Gefühl der Stärke drückt der im Plural sprechende Erzähler explizit aus; es folgt eine Demonstration männlicher Potenz bei gleichzeitiger Reifizierung der Frau, die zur Puppe wird: L’amore di gruppo fortifica la personalit/. Ci caliamo i pantaloni e mettiamo in aria i cannoni. Ce li teniamo in mano e ridiamo. Guarda. Guarda le diciamo. Tira su gli occhi
472 473 474 475
Ebd. Ebd., S. 143f. Ebd., S. 145. Ebd., S. 147.
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e si vede questo metro e mezzo di cazzo. Sar/ piF o meno lungo cos' se li mettiamo uno dietro l’altro. Rimane imbambolata.476
Der Rauschzustand endet jedoch nach dem Beseitigen der letzten Zeugin und in der aufgehenden Sonne macht sich Stille breit, die die Rückführung in einen ›Normalzustand‹ signalisiert: E ora basta. Basta. Siamo stanchi e vogliamo tornare a casa. Il sole sta salendo. Si sta staccando dalla superficie del mare. Solo un piccolo puntino lo tiene ancora attaccato all’orizzonte. Rimontiamo in macchina. Dei pescatori stanno andando a pescare. Hanno le canne. La macchina H sulla provinciale. Lo stereo a palla. Zitti. Non parliamo. Stiamo tornando a casa.477
Das Jagd- und Feierfieber ist vergangen. Die jungen Protagonisten der Schandtat kehren zurück in die Realität. Auch hierin stimmen Ammanitis und Vergas Erzählung überein, ebenso wie im schweigenden Abgang der männlichen Protagonisten nach vollbrachter Tat. Außerdem operieren beide Autoren mit einer relativ kurzen Darstellung des Ablaufs der Geschichte; die geschilderten Vorgänge sind jeweils von der unter- und wieder aufgehenden Sonne gerahmt. Der Titel »Rispetto« scheint den Inhalt der Erzählung zu konterkarieren. In seiner Gegensätzlichkeit zum Dargestellten ruft er zur Reflexion über die Eskalation auf. Es ist die Schilderung anthropologisch-psychologischer Abgründe in einer Gesellschaft, die in den Mittelpunkt der Geschichte rückt. Die Darstellung exzessiver Gewalt geschieht in der Erzählung »Rispetto« nicht zum Selbstzweck, nicht zum Vergnügen an Splatter-Elementen. Der Rezipient wird nicht anästhesiert; es handelt sich nicht um eine Einladung zu literarischästhetischem Divertissement. Vielmehr ist ein psychologisches Interesse spürbar. Der Leser ist kein distanzierter Zuschauer, sondern teilhabender Voyeur, der auch den Zustand nach dem Rausch noch miterlebt und allein durch den expliziten Titel zur Reflexion aufgefordert wird. Die Qualität der Gewaltdarstellung unterliegt im Vergleich zu »L’Ultimo capodanno dell’umanit/« einem eindeutigen Bruch, der bereits auf alternative Wege im Schreiben Ammanitis hindeutet.
476 Ebd., S. 144. 477 Ebd., S. 147.
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4.2.2 Das Decrescendo expliziter Gewaltdarstellung von Ti prendo e ti porto via zu Io non ho paura Ti prendo e ti porto via und Io non ho paura sind Ammanitis erste Romane, in denen dezidiert Jugendliche die Rolle der Protagonisten übernehmen. Beide Geschichten finden ihr Zentrum rund um Gewaltdarstellungen, die jedoch vom früheren zum späteren Werk hin in Qualität wie Funktion deutliche Unterschiede aufweisen und den Weg zu einem neuen realistischen Schreiben Ammanitis markieren. Die Geschichte in Ti prendo e ti porto via rankt sich im Wesentlichen um einen Fall von Vandalismus in der Schule des fiktiven Ortes Ischiano Scalo, in den der zwölfjährige Protagonist Pietro Moroni gegen seinen Willen verwickelt wird. Seine Lehrerin, Flora Palmieri, möchte dem Jungen, dessen Versetzung aufgrund der Ereignisse bedroht ist, helfen, wird jedoch vom eigenen Schicksal überrollt. Pietro fällt durch. In seiner Enttäuschung will er ihr einen Streich spielen, der für sie tödlich endet. Die bewusste Entscheidung, diesen ›Mord‹ zuzugeben, wird – wie der Protagonist in einem nachgestellten Brief reflektiert – zu seinem einzigen Ausweg, sein vorgegebenes Schicksal in der ärmlichen Umgebung der Casa del Fico478 und im Kreise seiner kranken und zum Wahnsinn neigenden Familie zu entkommen. 478 Die »Casa del Fico« erinnert an die berühmte »casa del nespolo« in den Malavoglia, scheint jedoch eine abweichende Symbolik zu verkörpern. Susanne Kleinert konstatiert, dass das Haus »[…] in I Malavoglia als ein gesellschaftlicher Indikator [fungiert], dessen Besitz unmittelbar über den sozialen Wert der Bewohner entscheidet. […] Schon auf der ersten Seite des Romans symbolisiert das Haus die Beharrungskraft der Familie, die nicht wie ihre zahlreichen anderen Verwandten von den ›burrasche‹, den Stürmen, in alle Himmelsrichtungen verweht wurde. Diese Stürme lassen sich unschwer mit der ›fiumana‹ des Fortschritts korrelieren, die Verga in seinem Vorwort als Bezugspunkt des gesamten projektierten Romanzyklus definierte. Das Haus und seine Bewohner stehen in einem metonymischen Verhältnis zueinander;« Siehe dies.: »Das Haus als sozialer Raum und Gendertopographie im italienischen Verismus: Giovanni Vergas I Malavoglia und Matilde Seraos Il paese di cuccagna«, In: Monika Neuhofer / Kathrin Ackermann [Hg.]: Von Häusern und Menschen. Literarische und filmische Diskurse über das Haus im 19. und 20. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 17–36, hier S. 20f. Giorgio B#rberi Squarotti arbeitet heraus, dass Verga programmatisch jeden Gedanken an soziale Veränderung verwirft. Er macht dies am Unglück N’tonis nach Verlassen der »casa del nespolo« fest. Vgl. ders.: »I malavoglia: La famiglia e la casa«, In: Norberto Cacciaglia / Ada Neiger / Renzo Pavese [Hg.]: Famiglia e societ/ nell’opera di G. Verga. Atti del convegno nazionale (Perugia 25–27 ottobre 1989). Firenze: Olschki 1991, S. 85–110, hier S. 88f. Während also die »casa del nespolo« an Prosperität und Glück gekoppelt zu sein scheint, entpuppt sich die »Casa del Fico« als paradoxes Konstrukt zwischen Armut und Fertilität: »La cascina veniva chiamata da tutti la Casa del Fico per quell’enorme albero di fichi che stendeva i suoi rami storti sopra il tetto. Nascosti da due sughere c’erano il pollaio, l’ovile e il canile. Una lunga baracca asimmetrica fatta di legno, rete metallica, copertoni e lamiera. Tra le erbacce si intravedeva un orto trascurato e un lungo fontanile di cemento pieno di acqua
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Das Werk hat eine zirkuläre Struktur. Es beginnt mit der Information, dass Pietro nicht versetzt worden ist und erzählt dann in vielen kurzen Flashbacks aus unterschiedlicher Sichtweise die sechsmonatige Vorgeschichte dazu. Der rasche Wechsel zwischen den einzelnen Szenen rekurriert auf die Pulp-Ästhetik. Strukturen der Gewalt finden sich in Ti prendo e ti porto via sowohl im Elternhaus durch den Vater als auch im schulischen Bereich durch das Mobbing dreier Klassenkameraden und den Tod der Lehrerin. Die Darstellungen changieren jedoch auch hier bereits zwischen Pulp-Ästhetik und realistischem Schreiben, ein Phänomen, das sich im Nachfolgeroman Io non ho paura noch verstärken wird. Io non ho paura ist um die Entführung des Filippo Carducci zentriert, der von der Hauptfigur, dem neunjährigen Michele Amitrano, verdreckt und heruntergekommen in einem dunklen Loch gefunden wird. Es ist jedoch nicht die Gewalttat an Filippo, die tatsächlich zur Darstellung kommt, sondern wiederum die Gewalt in der Gruppe der Kinder sowie die der Erwachsenen, die ihre Straftat um jeden Preis verbergen wollen. Die komisierenden Pulp-Elemente nehmen hier zusehends ab, um der vorrangig realistischen Darstellung Raum zu geben. Es werden »zwei Welten aneinander gespiegelt: Die Welt der Erwachsenen und die Welt der Kinder. In beiden Welten herrscht die Angst.«479 Der von den Kindern durchlebte Horror, der sich in mythischen und phantastischen Vorstellungen stagnante, papiri e larve di zanzare e girini di rospo.« Niccolk Ammaniti: Ti prendo e ti porto via. Milano: Mondadori 2004(a), S. 154. Die Gegensätzlichkeit des Anwesens korreliert mit den unterschiedlichen Charakteren seiner Bewohner, sodass auch hier von einem metonymischen Verhältnis ausgegangen werden kann. Der im Zentrum stehende Feigenbaum unterhält eine vielfältige Symbolik in langer Tradition und kann sowohl für Fruchtbarkeit und Erotik wie auch für Erkenntnis stehen (vgl. Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. v. Günter Butzer / Joachim Jacob. Stuttgart 2008), in jedem Fall scheint er einen positiven Keim im Verfall des Anwesens und der Familie aufrechtzuerhalten und könnte damit für Pietro und seinen Weg aus dem ihm scheinbar vorgezeichneten Schicksal stehen. Der fruchtbare Feigenbaum, also Pietro, stünde damit als Hoffnungsträger unter Verlorenen und moralisch Verderbten. Ein ähnliches Bild wird von der Figur Dantes im Inferno im Gesang XV gezeichnet, wo es heißt: »ti si far/, per tuo ben far, nimico; / ed H ragion, ch8 tra li lazzi sorbi / si disconvien fruttare al dolce fico.« Vgl. Dante Alighieri: Divina Commedia. V. I. Inferno. Commento di Anna Maria Chiavacci Leonardi. Milano: Mondadori 2008, Canto XV, vv. 64–66, S. 465. Chiavacci Leonardi verweist darauf, dass es sich hierbei um ein Sprichwort handelt, das eventuell dem historischen Brunetto zuzuschreiben sei. Vgl. ebd. Siro A. Chimenz kommentiert eindeutig, dass »i lazzi sorbi« die Florentiner wiederspiegeln und in »il dolce fico« Dante charakterisiert ist. Vgl. Dante Alighieri: La Divina Commedia. A cura di Siro A. Chimenz. Torino: UTET 1963, S. 139. 479 Vgl. Cornelia Klettke: »Neoprimitivistisches Erzählen in Io non ho paura von Niccolk Ammaniti«, In: Sybille Große / Anja Hennemann / Kathleen Plötner / Stefanie Wagner [Hg.]: Angewandte Linguistik / Linguistique appliqu8e. Zwischen Theorien, Konzepten und der Beschreibung sprachlicher Äußerungen / Entre th8ories, concepts et la description des expressions linguistiques. Festschrift für Gerda Haßler. Frankfurt am Main: Peter Lang 2013, S. 235–245, hier S. 236.
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ausdrückt, scheint eine Projektion der brutalen Wirklichkeit der Erwachsenenwelt.480 Der Roman erzählt die Geschichte rückblickend mit der autodiegetischen Erzählinstanz des Michele, die somit doppelt vorhanden ist: das Kind und der erinnernde Erwachsene. Die Erzählung wird chronologisch dargestellt und folgt nicht der ständig switchenden Technik, die in der Pulp-Literatur verwendet wurde. Insgesamt ist in der Entwicklung der beiden Werke von einem Decrescendo der Gewaltdarstellung zugunsten einer zunehmenden Psychologisierung auszugehen, was im Folgenden anhand ausgewählter Passagen herausgearbeitet wird. In Ti prendo e ti porto via kommt eine erste Szene der Gewalt erst nach etwa einem Viertel des Werkes in einer Jugendgruppe zustande, in der der junge Pietro Moroni, stets in der Rolle des Mobbingopfers, von den älteren Jungen Pierini, Bacci und Ronca zu einem nächtlichen Einbruch in die Schule gezwungen wird. Zu diesem Zweck verriegelt der Junge zunächst das Schultor und kontrolliert, ob der Pedell anwesend ist. Dass dies nicht der Fall ist, wollen die älteren Schüler nicht glauben und quittieren Pietros Aussage mit einer Prügelei: »Come non c’H? Spari balle« lo accusa Pierini. »Non c’H, te lo giuro! Non c’H la 131. Ho guardato… Ora posso andare a ca…?« Non ebbe il tempo di finire la frase che volk all’indietro e sbatt8 a terra con violenza. Non riusciva a respirare. Stava l', steso nel fango e si dibatteva. Il colpo alla schiena. Era stato quello. Spalancava la bocca, gli occhi schizzati fuori dalle orbite, provava a respirare ma era inutile. Come se a un tratto si trovasse su Marte. […] Pietro provk a tirarsi su, ma Bacci gli si gettk sopra. Gli si sedette sullo stomaco, con tutti i suoi sessanta chili. […] Pietro si dibatteva senza nessun risultato se non quello di stancarsi. Non smuoveva Bacci di un millimetro, respirava a fatica e l’odore acre del sudore di quel trippone lo stomacava.481
Auf den Angriff nach Regeln des Rechts des Stärkeren, in der vornehmlich das Ungleichgewicht der kämpfenden Jungen zur Darstellung kommt, folgt der eigentliche Einbruch in das Schulgebäude. Dabei fallen mehrere technische Geräte der Zerstörungswut Pierinis zum Opfer. Die Szenerie steht nicht im Zeichen einer ästhetisierten Gewaltdarstellung im Sinne des Pulp, sondern reflektiert die unterschiedlichen Standpunkte der Jugendlichen, die von freudigem Zerstörungswillen über zögerliche Interventionsversuche bis zum untertänigen Schweigen reichen: »E uno!« A contatto con il pavimento lo schermo del televisore esplose con un boato assordante. Milioni di schegge schizzarono dovunque, sotto i banchi, sotto le sedie, negli angoli. 480 Vgl. ebd., S. 236f. 481 Ammaniti 2004(a), S. 113ff.
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Pierini afferrk il videoregistratore, lo sollevk sopra la testa e lo scaglik contro il muro riducendolo a un ammasso di metallo e circuiti stampati. »E due!« Pietro era sconvolto. Che cosa gli aveva preso? Perch8 stava distruggendo tutto? Ronca e Bacci se ne stavano da una parte e guardavano quella forza della natura che si sfogava. […] ð pazzo. Non si rende conto di quello che sta facendo. Questa H roba da bocciatura. (Se scoprono che ci sei anche tu…) Nooo, nooo, guarda cosa sta facendo, non H possibile… Stava spaccando anche l’impianto stereo. (Devi fare qualcosa… subito.) D’accordo. Ma cosa? (DEVI FARLO SMETTERE.) Se solo fosse stato… (Chuck Norris Bruce Lee Schwarzy Sylvester Stallone) … piF grande e piF forte… Sarebbe stato facile. In vita sua non si era mai sentito cos' impotente. […] Si avvicink a Bacci. »Digli qualcosa. Fallo smettere, ti prego.« »E che gli dico?« mormork Bacci sconfortato. Pierini intanto continuava ad accanirsi su quello che restava della casse acustiche.482
Auch wenn die zu diesem Zeitpunkt der Geschichte unmotivierte Zerstörungswut Pierinis einigermaßen beeindruckende Ausmaße aufweist, so steht doch die innere Reflexion des Protagonisten Pietro im Mittelpunkt, die durch die Kursivierung zusätzlich hervorgehoben wird. In der Erkenntnis, selbst nicht eingreifen zu können, wendet er sich gar an einen der älteren Jungen, die zuvor an seiner Misshandlung partizipiert haben. Doch auch dieser steht angesichts des Gewaltausbruchs Pierinis entmutigt da. Wiederaufgenommen und nachträglich motiviert wird Pierinis Tat während der Lösung des Vandalismusfalles durch die Lehrerin Flora Palmieri, die das Verhalten des Jungen reflektiert: »Non sapeva bene in che modo, ma aveva la sensazione che quell’odio fosse legato alla morte della madre di Pierini. Forse perch8 era morta il giorno che lei lo aveva obbligato a restare a scuola.«483 Die Beschreibung der Gewalttaten der Jugendlichen wird zu keiner Zeit ironisiert oder ästhetisch ausgeschmückt. Vielmehr stehen stets psychologische Überlegungen im Mittelpunkt. Judith Krieg bemerkt dazu: In der Figur der zurückgezogenen Flora, besonders aber im Zusammenhang mit dem kindlichen Protagonisten Pietro werden jedoch Risse in den Klischees selbst deutlich. Es öffnet sich eine neue Dimension über dem Flächigen, in der es um mehr geht als um 482 Ebd., S. 127f., [Hervorhebung im Original]. 483 Ebd., S. 250.
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Unterhaltung oder spielerisches Schockieren. Diese Dimension wird in Io non ho paura ausgebaut.484
Komisierende Aspekte erhält die Darstellung erst bei der Rückkehr des Schulpedells Italo, der – um sich selbst zu beweisen – zunächst selbst eingreifen will, statt auf die Polizei zu warten. Mithilfe der von ihm regelmäßig besuchten nigerianischen Prostituierten Alima versucht er, das abgeschlossene Schultor zu überwinden, indem er die Frau als Tritt benutzt; diese hält jedoch seinem Gewicht nicht stand: »Zitta! Zitta! Abbassati!« Italo non mollava e tentava di arrampicarsi sulle spalle della donna e contemporaneamente di farla accucciare. […] I due, uno sopra l’altra, si erano trasformati in un gigante deforme. Con due gambette storte e nere. Un tronco che sembrava una bottiglia da due litri di coca-cola. Quattro braccia e una testa piccola e tonda come una palla da bowling. Alima, sotto quei cento e passa chili, non riusciva a controllare i movimenti, sbarellava a destra e a sinistra e Italo, sopra, ondeggiava avanti e indietro come un cow-boy da rodeo.485
Das Rodeo des Pedells auf der illegalen schwarzen Prostituierten und seine kurz darauf folgende Landung im Matsch, die eigene Perücke in der Hand,486 lassen den Charakter zur Witz- und Comicfigur mutieren und stellen ihn in die Linie der Pulp-Ästhetik. Das grundsätzlich Deformierte sowie der Rückgriff auf die Marke Coca Cola, die die Werbeszenerie auf den Plan ruft, verstärken diese Ansätze. Ebenso in dieser Linie steht die überzogene Verfolgungsjagd, in der der Hausmeister Pietro bei seiner Flucht aus der Schule mit einem Gewehr bedroht: [Pietro e]ra praticamente in salvo quando a un tratto la grossa finestra accanto alla porta esplose. […] Pietro s’inchiodk e quando cap' che gli avevano sparato si piscik sotto. Apr' appena la bocca, la colonna vertebrale gli si allentk, le membra si rilassarono e un tepore improvviso gli riscaldk l’inguine, le cosce e gli fin' nelle scarpe. Mi ha sparato. […] Dall’altra parte della palestra vide una figura stesa a terra che si trascinava fuori dallo sgabuzzino appoggiandosi sui gomiti. Aveva la faccia dipinta di rosso. E gli puntava contro un fucile. »Fermadi. Fermadi sennk ti sbaro. Giuro sulla desda dei miei figli che di sbaro«.487
Bereits an dieser Stelle ist festzuhalten, dass die überzogenen und komisierenden Passagen fast durchgängig dem Handlungsraum der Erwachsenen und der 484 Judith Krieg: »Nachwort«, In: Niccolk Ammaniti: Io non ho paura. Hg. v. Judith Krieg. Stuttgart: Reclam 2008, S. 287–303, hier S. 297. 485 Ammaniti 2004(a), S. 131. 486 Vgl. ebd., S. 132. 487 Ebd., S. 144f., [Hervorhebung im Original].
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weniger elaborierten Figuren zuzuordnen sind. Die Reaktionen des Jungen verbleiben in einem realistischen Rahmen. Ähnlich nah der Grenze zum Grotesken, jedoch mit Rückkehr in die ›Normalität‹, sind die Reaktionen des Vaters auf ein vermeintliches Fehlverhalten des Sohnes, der – entgegen den Anweisungen des Vaters, gezwungen durch den großen Bruder, der mit seiner Freundin allein sein will – das Haus verlässt, statt auf den Techniker zu warten, der eine kaputte Waschmaschine hätte abholen sollen.488 Die Wut des Vaters entlädt sich zunächst über der Mutter, die versucht, ihn aufzuhalten (»E la colpisce sulla bocca con un manrovescio. […] La moglie si affloscia come un pupazzo e rimane l/.«),489 sodann über dem Sohn, um zu einer Lektion in ›Gerechtigkeit‹ zu werden: Piero fotografa tutto. Suo padre con la camicia fuori dai pantaloni. I capelli spettinati, la faccia congestionata, gli occhi lustri, […]: »Mamma! Mamma!« Pietro si lancia verso la madre, ma il padre lo afferra per il collo e lo solleva in aria e comincia a farlo roteare e sembra che lo voglia tirare contro una parete e Pietro strilla, scalcia, si agita come un automa in corto circuito, cercando di liberarsi, ma la presa di suo padre H ferma, sicura, lo tiene bloccato come un abbacchio. Il signor Moroni con un calcio spalanca la porta di casa, scende le scale mentre Pietro cerca inutilmente di liberarsi e lo porta giF nel magazzino e lo mette a terra. Davanti alla lavatrice. […] »Ma« »Niente ma. Una frase che comincia con il ma H sbagliata in partenza. Se non davi retta a tuo fratello e rimanevi a casa come ti avevo detto io, tutto questo non sarebbe successo. Il tecnico si sarebbe portato via la lavatrice, tuo fratello non faceva quello che ha fatto [sesso con la sua ragazza] e a tua madre non succedeva niente. Di chi H la colpa allora?« […] »Mia.« »Ripeti.« »Mia.« »Bene. Adesso corri su a vedere come sta la mamma. Io me ne vado al circolo che H meglio.«490
Zunächst fällt auf, dass der Junge sofort wieder in einer Haltung der Einprägung und Reflexion ist, was das Verb fotografare besonders einleuchtend heraushebt. Die Bestrafung des Sohns durch den Vater erinnert sodann wieder an Szenen aus einem Comic, wenn Pietro am Hals gehalten durch die Luft rotiert und wie ein ›Schlachtlamm‹ im Griff des Vaters gefangen in den Waschraum heruntergetragen wird. Nach eingestandener ›Schuld‹ des Sohnes sucht der Vater jedoch aus eigenem Antrieb einen Weg aus seiner Wut heraus. Mit dieser Umkehr unterläuft 488 Vgl. ebd., S. 219ff. 489 Ebd., S. 224. 490 Ebd., S. 225ff.
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die Beschreibung an dieser Stelle eindeutig pulpistische Muster wie Ammaniti sie etwa in »L’ultimo capodanno dell’umanit/« verwendet hat. Trotzdem ist der Vater Pietros die Figur, die neben dem Pedell Italo der PulpÄsthetik am nächsten steht. Die groteskeste Szene des Romans wird in einem zum Krieg stilisierten Nachbarschaftsstreit zwischen Herrn Moroni und dem Nachbarn Contarella inszeniert, in dem Letzterer den von Moroni geliebten Esel Poppi tötet. Nach dem ›Mord‹ an dem Tier kommt ein hypertrophisch-komischer Racheakt mit Splatter-Anteilen zur Darstellung. Nachdem der kleine Mann den viel zu großen und schweren Kadaver seines Esels mühsam auf den Schultern heimgetragen hat, lädt er ihn auf ein selbst gebautes Katapult und schießt ihn zielsicher auf das Haus des verhassten Nachbarn Contarella:491 Contarella spalanck la porta della camera da letto e crollk in ginocchio. Mani sulla bocca. Il tetto non c’era piF. I muri erano rossi. Il pavimento era rosso. La trapunta fatta a mano da nonna Ottavia era rossa. I vetri delle finestre rossi. Tutto era rosso. Pezzi di Poppi (budella e ossa e merda e peli) erano sparsi per la stanza insieme a calcinacci e tegole. Per la strada non c’era nessuno quando il signor Moroni lancik il cadavere con la catapulta, ma se ci fosse stato qualcuno avrebbe visto un asino sfrecciare in cielo, compiere una parabola perfetta, superare boschetto di sugheri, il fiumiciattolo, la vigna e abbattersi come uno Scud sul tetto di casa Contarella.492
Die Szene spielt erneut mit unwahrscheinlichen Elementen, die in der Einzelausführung von Exkrementen und Blut den Text in den Rahmen von Ammanitis kannibalistischem Schreiben verweisen. Die Beschreibung der perfekten Parabel, die der Esel Poppi auf seiner Flugbahn vollzieht, scheint im Angesicht der zuvor gezeichneten Trauer des Vaters absurd. Beim Vergleich der Landung des Tieres mit der einer russischen ballistischen Boden-Boden-Rakete (»Scud«) sind – wie in »L’ultimo capodanno« – Kriegsvokabeln im Einsatz, die zu einer weiteren Verzerrung der Darstellung führen. Gegen Ende des Romans jedoch dominieren erneut realistische Tendenzen. Die abschließenden Szenen um den Tod der Flora Palmieri, der durch den Stromschlag eines ins Badewasser fallenden Kassettenrekorders ausgelöst wird, werden im Detail beschrieben, entbehren jedoch hyperbolischer Elemente. Auch wenn die Situation eine andere ist, so vermag man doch bei der sezierenden Genauigkeit der Darstellung an die letzten Atemzüge der Emma Bovary denken, deren Todeskampf schauriger Höhepunkt eines der berühmtesten Romane des französischen Realismus ist und vor allem vom Wechselspiel zwischen Innen491 Vgl. S. 290f. 492 Ebd., S. 291.
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und Außensicht lebt.493 Ähnliches lässt sich bei der Beschreibung des Todes von Flora Palmieri beobachten. Die Beschreibung beginnt mit dem Moment, in dem Pietro auf das Kabel tritt und den Rekorder damit zu Fall bringt: L’interruttore dell’elettricit/, accanto al contatore, scattk con un rumore secco. Nel bagno calk il buio. Flora si sollevk urlando, forse convinta di rimanere folgorata, forse solo per istinto, fatto sta che si sollevk, rimase un secondo in bilico su un piede, ancora uno e scivolk indietro e, allargando le braccia, ricadde nel buio. Toc. Sent' un colpo terribile alla base della nuca. Un colpo secco che le fece vibrare la mascella e il resto del cranio. Lo spigolo. […] Era di nuovo stesa nella vasca. Con una mano si tastk la nuca. Non riusciva a capire. Sentiva una roba viscida che la impiastricciava i capelli. E sentiva i bordi della ferita gonfiarsi. E se ci infilava un dito sentiva che era profonda. Il colpo era stato violento. Non riusciva a capire. Non faceva male. Per niente. Ma si disse che le cose brutte all’inizio non fanno male. Provk a tirarsi su. Ci riprovk. Come mai stava bene e non riusciva ad alzarsi? In realt/, sentiva di sprofondare lentamente nell’acqua. Ecco cos’era, le gambe e le braccia non ubbidivano. Forse Mamma provava qualcosa del genere no questo H morbido non H rigido come mamma mi sto sciogliendo lentamente e l’acqua sa di salato e metallo e di sangue. L’acqua le arrivk alla bocca. Non posso morire semplicemente non posso H vietato non lo posso fare mamma mamma chi si occuper/ di mamma se non c’H la figlioletta tua la tua Flo e sennk a quest’ora mi ero uccisa gi/ da un pezzo mamma. Mamma! Mamma! Sto morendo! Mamma! […] Respirava con il naso. Il resto della testa era sott’acqua. Aveva gli occhi aperti. L’acqua era calda. Aveva un sapore amaro. Spiralli rosse le roteavano davanti e un rumore, un rumore cupo nelle 493 Die zu vergleichende Passage aus Madame Bovary ist die Folgende: »En effet, elle regarda tout autour d’elle, lentement, comme quelqu’un qui se r8veille d’un songe; puis, d’une voix distincte, elle demanda son miroir, et elle resta pench8e dessus quelque temps, jusqu’au moment oF des grosses larmes lui d8coulHrent des yeux. Alors elle se renversa la tÞte en poussant un soupir et retomba sur l’oreiller. Sa poitrine aussitit se mit / haleter rapidement. La langue tout entiHre lui sortit hors de la bouche; ses yeux, en roulant, p.lissaient comme deux globes de lampe qui s’8teignent, / la croire d8j/ morte, sans l’effrayante acc8l8ration de ses cites secou8es par un souffle furieux, comme si l’.me e0t fait des bonds pour se d8tacher. […] Tout / coup, on entendit sur le trottoir un bruit de gros sabots, avec le frilement d’un b.ton; et une voix s’8leva, une voix rauque qui chantait: Souvent la chaleur d’un beau jour / Fait rÞver fillette / l’amour. Elle se releva comme un cadavre que l’on galvanise, les cheveux d8nou8s, la prunelle fixe, b8ante. […] Et Emma se mit / rire, d’un rire, d’un rire atroce, fr8n8tique, d8sesp8r8, croyant voir la face hideuse du mis8rable, qui se dressait dans les t8nHbres 8ternelles comme 8pouvantement. […] Une convulsion la rabattit sur les matelas. Tous s’approchHrent. Elle n’existait plus.« Gustave Flaubert: Madame Bovary. Reprod. au trait de l’original de 1857, annot8 par Gustave Flaubert, postface d’Yvan Leclerc. GenHve: Droz 2011, S. 456ff.
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orecchie, il rombo di un aereo in volo dalla Giamaica e c’era Graziano seduto che tornava perch8 io l’ho chiamato e c’H una collina che gira e c’H mamma e pap/ e Pietro e Pietro perch8 io Flora Palmieri nata a Napoli e un piccolo bambino con i capelli rossi e Graziano suona e arrivano i koala i grandi koala argentati ed H cos' facile la cosa piF facile del mondo seguirli oltre la collina. Quello che vide le diede un ultimo spasmo, sorrise e, quando finalmente si lascik andare, smise di essere presa dal vortice.494
Das lange Zitat sei dadurch gerechtfertigt, dass es wichtige Umschläge im Werk Ammanitis illustriert. Der durchaus blutige Tod der Lehrerin anästhesiert den Leser nicht in seiner Beschreibung. Er soll ihn treffen. Die Darstellung des zitternden Kiefers und Schädels durch den Stromschlag ist der Situation angemessen. Das aus der Wunde austretende Blut, das zunächst nur als »roba viscida«, also als schlieriges Zeug beschrieben wird, setzt sich weniger in seiner Quantität in Szene, als vielmehr synästhetisch in einer Mischung aus visuellen und gustatorischen Wahrnehmungen durch die Farbe und den salzig-metallenen Geschmack des Wassers. Im Fokus stehen die Empfindungen und Gedanken der sterbenden Frau, die spürt, wie ihr Körper ihr nicht mehr gehorcht und langsam versinkt. Ihre Reflexionen, kursiv hervorgehoben, werden durch fehlende Interpunktion der Verwirrung der Sterbenden in dieser Situation angepasst und dem Leser übermittelt. Teilweise gehen die Beobachtungen der äußeren Erzählstimme nahtlos in die Gedanken der Flora Palmieri über, was durch Kursivierung, die mitten im Satz beginnt, hervorgehoben wird (»che tornava perch8 io l’ho chiamato«). Durch derartige Kunstgriffe wird der Leser verstärkt in die Innensicht und somit in das Geschehen hineingezogen. Die Passage ist nicht die ästhetisierende und komisierende Darstellung eines gewaltsamen Todes, sondern dramatischer Höhepunkt der Geschichte einer gescheiterten Existenz. Die Schuld an dem Tod der Lehrerin, die Pietro auf sich nimmt, wird zum Katalysator im Leben des Jungen, der so seiner ihn determinierenden Herkunft und Heimat entfliehen kann: »Io credo che ho detto a Pierini di aver ammazzato la Palmieri per liberarmi della mia famiglia e d’Ischiano. […] E credo veramente di aver cambiato il mio destino«.495 Judith Krieg konstatiert, dass Gewalt nicht erst in Io non ho paura, sondern bereits in der Geschichte um Pietro Moroni »eine andere Qualität« bekommt: [S]ie ist stets präsent, teils auch in kruden Beschreibungen, doch sie führt zu einer Veränderung in der Handlung, zur Erschütterung und Reflexion. Der ›Kannibale‹ Ammaniti nutzt seine Fähigkeiten der Beschreibung in anderer Funktion, als Teil eines prinzipiell realistischen Erzählens.496 494 Ammaniti 2004(a), S. 418ff., [Hervorhebung im Original]. 495 Ebd. S. 457, [Hervorhebung im Original]. 496 Krieg 2008, S. 295.
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Pietros Welt bleibt nicht so leer und oberflächlich wie Giuliana Adamo sie sehen will.497 Es ist eine Welt der Reflexion über Krankheit, Unglück, Schicksal und die Befreiung aus (selbst) auferlegten Zwängen. Trotz vorhandener Elemente der Pulp-Ästhetik, wird eine sich entwickelnde neue Tiefenstruktur bereits in Ammanitis zweitem Roman sichtbar. Dieser Umschwung ist in Io non ho paura noch einmal stärker spürbar. Der Ich-Erzähler in Io non ho paura präsentiert sich von vornherein als glaubwürdig und stellt seine Welt als eine realistische dar.498 Mehr noch als in Ti prendo e ti porto via steht der kindliche Blick im Mittelpunkt, der peu / peu die ihn umgebende Doppelmoral zu erkennen sucht und schließlich seine eigenen Schlüsse zieht.499 Die Geschichte öffnet sich mit dem Spiel einer Gruppe von Kindern im fiktiven Dorf Acqua Traverse. Das Kinderspiel ist jedoch gerahmt von verschiedenen Geschichten und Handlungen der Gewalt, die sich auf unterschiedliche Weise auflösen. Das Gerücht, dass der Nachbarsbauer seinen Hund den Schweinen zum Fraß vorgeworfen habe und diese ihn grausam zerfleischt hätten, entpuppt sich als Fabel, die zum Anlass pädagogischer Maßnahmen wird. Der beschuldigte Bauer insistiert und bringt ein Wahrheitspostulat ins Spiel, das auf den ersten Seiten des Buches bezeichnenden Charakter hat: »– Non devi mai dire bugie. E non devi infangare il nome degli altri. Devi dire la verit/, specialmente a chi H piF piccolo di te. La verit/, sempre. Di fronte agli uomini, al Padreeterno, e a te stesso, hai capito? –«.500 Der Plan des Anführers der Kinder, Teschio, nach einem Wettlauf auf die Kuppe eines Hügels ein Huhn zu pfählen und als Flagge aufzustellen, findet Umsetzung und eine genaue Beschreibung mit blutigen Details, löst jedoch bei den Figuren Michele und dessen Schwester Maria, die den Blickpunkt des Lesers leiten, negative Gefühle von Ekel und Schauder aus: Maria mi ha stretto la mano e mi ha conficcato le unghie nella pelle. – Che schifo! Mi sono voltato. Lo avevano fatto. Avevano impalato la gallina. Se ne stava in punta a una canna. Le zampe penzoloni, le ali spalancate. Come se prima di rendere l’anima al 497 Giuliana Adamo schreibt bezüglich der dargestellten Welten in Branchie und in Ti prendo e ti porto via: »Il mondo che scorre davanti agli occhi del lettore H un mondo vuoto ed insensato, ed il frantumarsi sordo e cieco delle esistenze dei personaggi che lo popolano, giunge a svuotare se stesso proiettandosi in un auto-compiaciuto gioco di specchi, in un paradossale narcisismo della violenza e della disgregazione.« Siehe dies. 2007, S. 171. 498 Vgl. Tatjana Perusˇko: »Voci e sguardi nei racconti di iniziazione della nuova narrativa italiana«, Ambra, percorsi di italianistica VI (2005), S. 116–136, hier S. 124. 499 Perusˇko bemerkt in diesem Kontext: »Quindi, l’effetto di realt/ in questo caso deve adattarsi alle specifiche circostanze della realt/ infantile. Il realismo nel romanzo ammanitiano si adatta alla particolare visuale percettiva del personaggio infantile che guarda e giudica il mondo degli adulti diventatogli improvvisamente estraneo sia per la sua incomprensibilit/ che per l’erosione morale che vi H avvenuta.« Siehe dies. 2005, S. 125. 500 Niccolk Ammaniti: Io non ho paura. Torino: Einaudi 172004(b), S. 15.
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Creatore si fosse abbandonato ai suoi carnefici. La testa le pendeva da un lato, come un orripilante pendaglio intriso di sangue. Dal becco socchiuso colavano pesanti gocce rosse. E dal petto le usciva la punta della canna. Un nugolo di mosche metallizzate le ronzavano intorno e si affollava sugli occhi, sul sangue. Un brivido mi si H arrampicato sulla schiena.501
Auch die der übergewichtigen Barbara angedrohte psycho-physische Gewalt, die Teschio sich für ein verlorenes Wettrennen ausdenkt und die darin besteht, dass Barbara ihre Vagina zeigen soll, löst nicht Komik, sondern Entsetzen der restlichen Kinder sowie das Einschreiten Micheles aus. Die ihr für das verlorene Wettrennen angedrohte Strafe wird von Michele als übertrieben bewertet, der den Vorgang verhindert, indem er selbst als Verlierer ›einspringt‹: – L’altra volta ci ha fatto vedere le tette –. E rivolgendosi a noi. – Questa volta ci fa vedere la fessa. La fessa pelosa. Ti abbassi le mutande e ce la fai vedere –. Si H messo a sghignazzare aspettandosi che anche noi avremmo fatto lo stesso, ma non H stato cos'. Siamo rimasti gelati, come se un vento del Polo Nord si fosse improvvisamente infilato nella valle. Era una penitenza esagerata. […] Lo stomaco mi si H stretto. Desideravo essere lontano. C’era qualcosa di sporco, di… non lo so. Di brutto, ecco. […] – Aspetta! Io sono arrivato ultimo, – ho sentito che diceva la mia voce. […] La voglio fare io [la penitenza].502
Weitere Beschreibungen von Gewalt motivieren sich aus der Handlung, überschreiten jedoch nicht die Grenzen realistischen Erzählens. So etwa als durch den Verrat Salvatores an Michele dessen Geheimnis um die Existenz des entführten Filippo enthüllt wird, und einer der Entführer, Felice, ihn deswegen zunächst bedroht und dann verprügelt: Quando oramai ero quasi fuori, Felice mi ha preso per i pantaloni e con tutte e due le mani mi ha lanciato contro la casa come un sacco. Mi sono schiantato sul muro e mi sono sciolto a terra. Ho provato ad alzarmi. Avevo sbattuto sul fianco. Una fitta di dolore mi irrigidiva la gamba e il braccio. Mi sono voltato. Felice si era tolto il cappuccio e avanzava verso di me a passo di carica puntandomi il fucile contro. Vedevo il carro armato dei suoi anfibi diventare sempre piF grande. Ora mi spara, ho pensato.503
Die Misshandlung des Jungen passt in den Kontext der Geschichte, ohne überzogen zu wirken. Es kommt zu keinerlei groteskem Ende. Die Szene löst sich mit den Worten Felices: »Decider/ tuo padre la punizione. Io il mio dovere l’ho fatto.«504
501 502 503 504
Ebd., S. 19f. Ebd., S. 24f. Ebd., S. 150f. Ebd.
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Einer gewissen Komik entbehren kann jedoch nicht die darauf folgende Passage, in der Felice Michele nach Hause bringt und die Wut der Mutter zu spüren bekommt, die ihren Sohn misshandelt sieht. Die sich entwickelnde Prügelei – zunächst zwischen Felice und der Mutter, die den Sohn verteidigt und sodann zwischen Felice und dem Vater, der die Mutter verteidigt – ist ein Meisterstück theatralischer Komik, die für einen Moment die Ernsthaftigkeit des Werkes unterbricht.505 Aber auch diese Szenerie verliert ihre ludische Komponente in der abschließend ernsten Reaktion von Mutter und Sohn: »Mamma mi ha preso e mi ha portato in camera sua, ha chiusa la porta con il gomito e mi ha adagiato sul letto. Non riuscivo a smettere di piangere. Sussultavo, ero paonazzo. Mi stringeva tra le braccia e ripeteva: – Non H niente. Passa. Passa tutto.«506 Es ist offensichtlich die »Hinwendung zu Kindern als Protagonisten«, die »eine neue Ernsthaftigkeit in Ammanitis Schreiben« bringt.507 Krieg bezeichnet diesen Vorgang als »ein Ausloten zwischenmenschlicher Beziehungen, Fragen des Miteinanders, die jedoch ohne Antworten unkommentiert in den Raum gestellt werden. Durch die Wahl der Kinderprotagonisten nimmt das Erzählen die Form eines Tastens an«.508 In den letzten Szenen des Romans schließlich wird offensichtlich dargestellte Gewalt gar zugunsten der Innensicht und damit der Psychologie des Protagonisten fast vollständig unterdrückt. Der Vater, der gekommen ist, das entführte Kind zu erschießen, trifft seinen eigenen Sohn, der zur Rettung Filippos ausgezogen und anschließend im Versteck zurückgeblieben ist. Jedoch wird weder das Zielen noch der Schuss selbst beschrieben. Es bleibt nur die Ellipse, die Micheles Empfindung darstellt: Attraverso il buco ho visto pap/. In una mano teneva la pistola, nell’altra una pila elettrica. […] La luce mi ha accecato. – Pap/, sono io, sono Michele … Poi c’H stato il bianco. Ho aperto gli occhi. La gamba mi faceva male. Non era la gamba di prima. L’altra. Il dolore era una pianta rampicante. Un filo spinato che si attorciglia alle budella. Una cosa travolgente. Rossa. Una diga che si H rotta. Niente puk arginare una diga che si H rotta. Un rombo montava. Mi pulsava nelle orecchie. Ero bagnato. Mi sono toccato la gamba. Una cosa densa e calda mi impiastricciava tutto. Non voglio morire. Non voglio. 505 506 507 508
Vgl. ebd., S. 155ff. Ebd., S. 157. Vgl. Krieg 2004, S. 296. Ebd.
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Diskontinuierliches Erzählen bei Niccolò Ammaniti
Ho aperto gli occhi. Ero in un vortice di paglia e di luci. C’era un elicottero. E c’era pap/. Mi teneva tra le braccia. Mi parlava ma non sentivo. I capelli gli brillavano mossi dal vento.509
Ähnlich wie beim Tod von Flora Palmieri wird auch hier das Blut nicht direkt genannt, sondern in seiner Materialität beschrieben (»una cosa densa e calda«). Die Quantität spielt eine Rolle, wird jedoch nicht hyperbolisch dargestellt, sondern unterstreicht in realistischem Ausmaß die durch den Schuss entstandene Wunde und damit die im Fokus stehende Todesangst Micheles. Zudem wird die Beziehung zum Vater thematisiert, die zu Ende des Romans wieder ›gerade gerückt‹ wird, da dieser nicht flieht, sondern bei seinem Sohn bleibt und sich stellt.510 »In Ti prendo e ti porto via ist die Verwandlung von normalen Menschen in Getriebene und Besessene dem horizontalen pulp-Vorgehen in Fango noch sehr nahe«,511 jedoch ist eine beginnende Funktionsänderung und Psychologisierung bereits spürbar. Nur noch teilweise stehen die Gewaltdarstellungen in der Tradition der Pulp-Ästhetik. Auffällig ist, dass nur Szenen aus der Welt und im Blick der Erwachsenen komisiert werden. In Io non ho paura – so bemerkt auch Krieg »erfolgt […] eine plötzliche Verwandlung des Bekannten und Vertrauten, sie erhält jedoch Tiefe und wird dadurch umso beunruhigender«.512 Die einzige komisch-groteske Gewaltdarstellung hat wiederum erwachsenes Personal und löst sich zum Ende ebenfalls in eine ernste Szenerie auf. Explizite Gewaltdarstellungen weichen in einem Decrescendo schließlich komplett der psychologischen Innensicht des jungen Protagonisten, der dem Leser ein kindlich-realistisches Bild seiner Welt übermittelt. Signale einer neuen Ethik – so Cornelia Klettke – »beruhen auf der Projektion des Leidens und der Grausamkeit von der Erwachsenenwelt auf die Welt der Kinder Filippo und Michele«.513 Gewaltdarstellung wird an dieser Stelle einmal mehr zur literarischen Aneignung von Realität. Es ist dies eine Komponente, die sich auch im Folgeroman Come Dio comanda wiederfinden lässt. Elisabetta Mondello spricht in Bezug auf dieses Werk ganz explizit von einem »[a]ffresco straordinario dell’Italia di oggi«.514 Ammanti selbst beschreibt das Italien, das zur Darstellung kommt, als ein Land »[i]n cui […] qualcosa si H rotto. Non c’H piF l’appartenenza a una 509 510 511 512 513 514
Ammaniti 2004(b), S. 218. Dies wird im Text nur implizit gesagt. Vgl. ebd. Krieg 2004, S. 296. Ebd. Klettke 2013, S. 243. Elisabetta Mondello: »Niccolk Ammaniti: Come Dio comanda«, Carmilla (08. 07. 2007), [IQ].
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classe sociale, non c’H piF l’orgoglio del lavoro, gli extracomunitari clandestini, sfruttati, finiscono per essere piF richiesti che non i quarantenni senza piF occupazione«.515 Die angesprochenen sozialen Probleme kommen durch verschiedene Underdog-Charaktere zur Darstellung, die häufig ihr eigenes Unglück an andere weitergeben und in verschiedenen Strukturen von Macht und Gewalt gefangen sind.
4.3
Darstellende und dargestellte Strukturen in Come Dio comanda
Ammaniti äußert sich im Kontext einer Besprechung seines Romans Come Dio comanda (2006) zu einem Stilwechsel in seinem Werk und fügt mit Blick auf seine früheren Texte im Stil des Pulp an: »Oggi non mi divertono piF, forse la spazzatura, l’orrore non sono piF quelli di una volta. Certo, non c’H piF niente da ridere: questa H una realt/ proprio brutta. A volte mi sento molto stanco. Credo che si dovrebbe scrivere di com’H oggi questo paese.«516 Unter den wenigen Selbstaussagen Ammanitis zeigt dieses Zitat ein klares ethisches Anliegen in der Poetik des gereiften Autors. Der Roman Come Dio comanda, diesmal in einem düsteren Norditalien angesiedelt, zeichnet die Geschichte einer spannungsreichen Beziehung zwischen dem zu Gewalttätigkeit und Neonazismus neigenden Rino Zena und seinem Sohn Cristiano, der dem Vater in unterwürfiger Liebe zugetan ist. Rino Zena bildet gemeinsam mit Danilo Aprea und Corrado Rumitz, nach seiner bevorzugten Pizzasorte ›Quattro Formaggi‹ genannt, ein Tableau sozial Ausgegrenzter im gegenwärtigen Italien und der Welt des besseren Mittelstands, die in einem bunten Traum der Einkaufszentren zu leben scheint und vom prekären Subproletariat517 nichts wissen will. Vervollständigt wird das Gesellschaftsbild von dem unfähigen Sozialarbeiter Beppe Trecca und den finanziell bessergestellten Klassenkameraden Cristianos: Fabiana Ponticelli, Esmeralda Guerra und Marco Mattotti, genannt Tekken. Ein von dem Dreiergespann Rino, Danilo und Quattro Formaggi geplanter Bankraub scheitert und Danilo Aprea kommt dabei um. Der zuvor eher harmlos, vor allem aber naiv scheinende Quattro Formaggi tötet in einer alles verän515 Ammaniti im Interview. Ranieri Polese: »Anticipazioni. Lo scrittore parla del nuovo romanzo«, Corriere della Sera (05. 10. 2006), hier zitiert in Daniela Picamus: »I ›comandamenti‹ di Niccolk Ammaniti«, In: Tiziana Piras [Hg.]: Gli scrittori italiani e la Bibbia. Atti del convegno di Portogruaro, 21–22 ottobre 2009, Trieste: EUT Edizioni Universit/ di Trieste 2011, S. 211–230, hier S. 211. 516 Ebd. 517 Ausführungen dazu im Kapitel 4.3 der vorliegenden Arbeit.
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dernden Gewitternacht bei einem Vergewaltigungsversuch ein junges Mädchen aus Cristianos Schule, Fabiana. Der ihm zu Hilfe eilende Rino Zena erleidet eine Hirnblutung und fällt ins Koma. Cristiano, der ihn sucht, hält ihn zunächst für den Täter und verfällt in einen verzweifelten Kampf um Leben und Ehre sowie um Glauben und Vertrauen zu seinem Vater. Das Werk schließt stilistisch nicht an den relativ ruhigen Realismus des Vorgängerromans Io non ho paura an, sondern zeichnet ein weitläufigeres und bunteres Bild einer schnelllebigen Gesellschaft, deren Beschreibung teilweise an der Grenze zum Grotesken und Expressionistischen steht.518 Giovanna Rosa liest das Werk als eines, dem die zitationistische Mode des Postmodernistischen fremd ist. Das Schreiben Ammanitis ziele auf die Darstellung einer metropolitanen Gesellschaft vor einem glaubhaften Hintergrund ab, voller Waren, Müll und Lärm, in einer Zeit, in der die Schwarzarbeit dominiert und die Bessergestellten die Unterschicht unterdrücken. Vor diesem spätkapitalistischen Horizont bewegt sich eine Menschheit, der Vertrauen, Ideal und verbindende Werte fehlen.519 Besonders ins Auge stechen im Werk verschiedene dargestellte wie darstellende Strukturen, die dieses Szenario auf unerwartete Weise ergänzen und die den Roman mit einer partikulären Stellung im realistischen Schreiben verankern. Ein besonderer Fokus der Analyse wird stets auf den Hauptfiguren liegen, die besonders geeignet sind, das Neuartige sowie die Rückbindung des Romans an traditionelle Muster aufzuzeigen. 1) Die Makrostruktur von Come Dio comanda ist eindeutig dem klassischen Pyramidenbau des Dramas zuzuordnen, was den Text verdichtet und seine Linearität unterstützt.520 Durch diese offensichtlich sehr schematische und damit künstliche Struktur wird einerseits der Text als Konstrukt betont, andererseits birgt gerade ein sich an das Drama anlehnender Aufbau viele Möglichkeiten für Authentizitätseffekte. Der durch schwerpunktmäßig szenisches Erzählen hervorgerufene dramatische Modus begünstigt – hier funktionalisiert im narrativen Text – eine Reduktion der Distanz zu den Geschehnissen, sodass diese (zumeist) unmittelbar zur Darstellung kommen. Eine Annäherung von Drama und Erzähltext, eine »Dramatisierung des Epischen«, lässt sich schon zu Zeiten des Naturalismus beobachten, da dieser Modus der Forderung nach ›objektiver‹ 518 »C’H anche questo e chi si attendeva il realismo tranquillo di Io non ho paura, il cui la suspense H affidata alla crescita di un ansia infermabile e al dato di un orrore mai esplicitato trova tutt’altro tono. Ma Ammaniti non abbandona la carta del realismo, la assume in alcune parti del romanzo, mentre in altre la contamina con registri diversi, con il comico, il grottesco, la deformazione espressionistica.« Siehe Mondello (08. 07. 2007), [IQ]. 519 Vgl. Giovanna Rosa: »Altre Tirature. Dio non comanda e anche i padri latitano«, Tirature (2008). L’immaginario a fumetti, S. 74–79, hier besonders S. 78. 520 Mondello kommentiert Come Dio comanda: »ð un libro importante, denso nella sua apparente linearit/.« dies. (08. 07. 2007), [IQ].
Darstellende und dargestellte Strukturen in Come Dio comanda
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Darstellung in weiten Teilen entspricht und die Technik der Szene – ein Terminus der »sachlich wie begrifflich dem Fundus des Dramas angehört« – die Deckungsgleichheit von dargestellter und Darstellungszeit andeutet.521 Die Annäherung der beiden Gattungen steht somit im Zeichen eines möglichst starken mimetischen Effekts.522 In dieser Funktion nutzt auch Ammaniti den dramatischen Modus in seinem Roman. Betrachtet man die Vorläufer realistischen Erzählens, so steht Ammaniti damit ganz in der italienischen Tradition, denn: schon in Bezug auf Capuanas Giacinta bemerkt Dietrich Scholler einen »im Vergleich zu Zolas Romanen beinahe kühne[n] Grad der Dramatisierung«.523 Die einzelnen Facetten dieser Dramatisierung des Epischen und ihrer Funktion werden in Kapitel 4.3.1 herausgearbeitet. 2) In dem auf Katastrophe und (zumindest teilweise) auf Katharsis angelegten Roman zielt schon der Titel auf eine göttliche Instanz der Macht ab, die – vermeintlich – die Schicksale der Figuren kontrolliert. Der ›befehlende‹ Gott des Titels erinnert im Bild eher an den alttestamentarischen, regelgebenden Gott der Zehn Gebote, während der Prolog durch die Figurenkonstellation von Vater und Sohn – Letzterer trägt den bedeutungsträchtigen Namen Cristiano – den neutestamentarischen Gott ins Spiel bringt. Diese göttliche Instanz vervielfältigt sich im Textverlauf zusehends, konkretisiert sich im Geiste der einzelnen Figuren, um im Ganzen wieder zu verschwimmen. Während die verschiedenen Gottesvorstellungen teilweise in konventionellen Floskeln erstarren oder sich wieder auflösen, nimmt eine andere Instanz lenkende Funktion ein: die der Medien und hier insbesondere das Fernsehen. Doch auch dieses wird in seiner Macht wieder destruiert und unterliegt kritischen Momenten. Beide Instanzen – die göttliche wie die mediale – erleben nach anfänglicher Machtdemonstration auch einen Machtverlust und schrumpfen im Text zu Markern mimetischer Realitätseffekte, die psychologisch-medizinische Diskurse mitverarbeiten. Sie stehen für eine italienische Lebenswirklichkeit, die letzten Endes ohne Gott und Medien nicht denkbar ist, auch wenn beide an tatsächlicher Bedeutung verloren haben. Zudem bietet sich eine politisch-allegorische Lesart an, in der die marode gewordene Figur des Gott-Vater für die stets schlechter werdende Situation des Landes (padre – patria) steht. Ausführungen dazu nimmt Kapitel 4.3.2 vor.
521 Vgl. Holger Korthals: Zwischen Drama und Erzählung: ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur. Berlin: Schmidt 2003, S. 19. 522 Vgl. ebd. 523 Dietrich Scholler : »Verismus als Diskurskritik. Anmerkungen zu Luigi Capuanas Giacinta«, In: Lars Schneider / Xuan Jing [Hg.]: Anfänge vom Ende. Schreibweisen des Naturalismus in der Romania. Paderborn: Fink 2014, S. 285–302, hier S. 289.
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4.3.1 Zum dramatischen Modus des Texts Auch Come Dio comanda lässt sich wiederum in die Reihe der von Ammaniti erzählten Geschichten der Gewalt einordnen. An dieser Stelle verwendet der Autor dafür den dramatischen Modus. Eine Kombination von dramatischer Darstellung und Gewalt enthält, so Grimminger mit besonderem Bezug auf die Tragödie, »eine Faszination der Unmittelbarkeit, der Authentizität, die allen Vermittlungsformen der Kunst mehr oder minder fehlen muß, gleichgültig jetzt, ob sie visuell oder als Lesetext auftreten«.524 Würde sie jedoch ins MittelbarMediale eingesetzt, so durchbreche die Faszination dessen Distanzen immerhin noch so weit, dass es zu einer Verwandlung hin zu imaginärer Nähe kommen könne.525 Grimminger expliziert, dass sich mit Walter Benjamin »Schauder, Angstlust, Mitleid, Klage oder nur das inkommensurabel Magische der Faszination einstellen« würden. Dies sei letztendlich zwar wichtig für die »eigentümliche Wirkungstheorie der Tragödie«, spiele jedoch darüber hinaus kaum eine Rolle. Entscheidend sei nur, »daß der Zuschauer mitgenommen werden kann im doppelten Sinn des Wortes. Er soll verstört und von sich fortgetragen werden […].«526 Der dramatische Modus ist mithin einer, der Distanz reduziert, Authentizität simuliert und den Rezipienten das Geschehen möglichst direkt miterleben lässt. Wie aber funktioniert das in Ammanitis Text? Come Dio comanda öffnet über einen vorangestellten Prolog, einem der vier quantitativen Teile, die Aristoteles für die Tragödie definiert hat und der (gemeinsam mit der parodos527) der Exposition gewidmet ist.528 In Ammanitis Text führt der Prolog die Hauptfiguren Rino Zena und seinen Sohn Cristiano in ihrer Relation der starken Vaterfigur und des noch schwächlichen, in der Initiation begriffenen Sohnes ein und stellt damit die beiden wichtigsten Protagonisten des Romans vor. Es handelt sich um einen abrupten Einstieg in medias res, der in direkter Rede das wütende und gewaltsame Wecken des Sohnes durch den Vater vorführt (»Svegliati! Sveglati, cazzo! […] Sveglati! Lo sai che devi dormire con un occhio solo. ð nel sonno che t’inculano.«).529 Wie in der Giacinta Capuanas handelt es sich um eine unvermittelte Darstellung der Geschichte, »wofür sich der Typus des dynamischen Romananfangs am besten eignet«, so Scholler,
524 Rolf Grimminger : »Der Tod des Aristoteles«, In: ders. [Hg.]: Kunst–Macht–Gewalt: der ästhetische Ort der Aggressivität. München: Fink 2000, S. 19f. 525 Vgl. ebd. 526 Ebd. 527 Einzugslied des Chores im altgriechischen Drama. 528 Vgl. Aristoteles 2008, Kap. 12, S. 16. 529 Niccolk Ammaniti: Come Cio Comanda. Milano: Mondadori 72010, S. 7.
Darstellende und dargestellte Strukturen in Come Dio comanda
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»insofern wir es mit einer unmittelbaren Dramatisierung bei gleichzeitigem Ausfall der informierenden Funktion zu tun haben«.530 Der betrunkene und zornige Vater kann, gestört vom Gebell des Nachbarhundes auf dem Grundstück einer Möbelfabrik, nicht schlafen und trägt dem Sohn auf, hinauszugehen, um das Tier zu erschießen. Der Junge folgt diesem Auftrag. Das Incipit steht somit bereits im Zeichen von Gewalt und Tod, die auch den Rest des Romans beherrschen. Gewalt im weitesten Sinne ist bereits durch Aristoteles als dritter Anteil der Handlungskonzeption (neben Handlungsumschwung und Wiedererkennung) festgelegt und zwar in Form von Leid: »Leid aber ist eine Handlung, die Verderben oder Schmerz bringt, wie z. B. Todesfälle, die bekannt werden, Peinigungen, Verwundungen und was es an Handlungen dieser Art noch gibt.«531 Vergleichbare ›Gewalt‹ durchzieht den Roman, in dem allein zwei der Protagonisten (Danilo Aprea und Quattro Formaggi) sowie die wichtigste Nebenfigur (Fabiana Ponticelli) eines unnatürlichen Todes sterben. Dass im Folgenden die Einteilung des Romans im Aufbau das klassische Pyramidenmodell Gustav Freytags widerspiegelt, hat bereits Sven Thorsten Kilian erkannt: Nicht von ungefähr erinnert die dispositio an den Plan eines Dramas: Die Teile (»Prima«, »La notte«, »Dopo«) markieren idealtypisch die Eckpunkte der Pyramide aus Exposition, Klimax und Katastrophe. Die Funktion der sogenannten Nebentexte, die Szenen eines Dramas hinsichtlich der Zeit und des Ortes zu differenzieren, übernehmen in Ammanitis Roman die Bezeichnung der Unterkapitel durch Wochentage und die Fragmentierung in Abschnitte, wobei im Romantext die Unterscheidung von Neben- und Haupttext ineinsfällt [sic], weshalb die Handlung nicht von ihrer Inszenierung zu trennen ist.532
Kilian führt den Gedanken des regelmäßigen Dramenaufbaus jedoch nicht zu Ende, wenn er die »Banalität« kritisiert, mit der die weitere Einteilung diese stark akzentuierte Folge kontrastiere, indem sie eine einfache Reihe von sechs aufeinanderfolgenden Wochentagen – von Freitag bis Mittwoch – aufstelle.533 Diese sechs Tage, die das traditionelle Fünfaktschema ersetzen, sind in zwei Dreiergruppen jeweils der steigenden (Prima, Venerd', Sabato, Domenica) beziehungsweise der fallenden Handlung (Dopo, Luned', Marted', Mercoled') zugeteilt und unterstreichen die Spitze der Pyramide, die alles verändernde Nacht 530 Scholler 2014, S. 287. 531 Aristoteles 2008, Kap. 11, b10, S. 16. 532 Sven Thorsten Kilian: »Rhetorik der Wolken in Niccolk Ammanitis Come Dio comanda«, In: Cornelia Klettke / Georg Maag [Hg.]: Reflexe eines Umwelt- und Klimabewusstseins in fiktionalen Texten der Romania. Eigentliches und uneigentliches Schreiben zu einem sich verdichtenden globalen Problem. Berlin: Frank& Timme 2010, S. 455–473, hier S. 455f. 533 Vgl. ebd.
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(La Notte). In der Zahl Drei findet sich außerdem die Anspielung auf das allgegenwärtige Thema der bereits titelgebenden göttlichen Instanz, die sowohl inhaltlich als auch strukturell den Text in hohem Maße prägt. Ganz richtig bemerkt Kilian, dass »[d]ie 244 Abschnitte [einen] Einstellungsund zumeist auch Ortswechsel [vollziehen] – unter Beibehaltung allerdings eines präzisen Raum-Zeitkontinuums«,534 sodass auch die Einheit von Zeit und Ort als gewahrt angesehen werden kann. Besonders interessant ist sein Verweis darauf, dass die dramatische Grundstruktur des Textes der des Dramas The Tempest von Shakespeare ähnele, da in beiden Fällen der Eindruck der Kontiguität der Handlungsfragmente ein wesentliches Moment der Spannungserzeugung darstelle.535 Beide Texte verfolgen gleichzeitig mehrere, jedoch überschaubar viele Handlungsstränge, die miteinander verknüpft sind und am Ende ineinanderfließen: drei in The Tempest und fünf in Come Dio comanda.536 Außerdem spielen beide Texte mit dem schicksalhaften Motiv des Unwetters, wenn auch mit dem Unterschied, dass Shakespeare damit sein Stück einleitet, während das Gewitter bei Ammaniti den Höhepunkt und damit die Katastrophe markiert. Die Schürzung des Knotens lässt sich im Text gut ausmachen. Sie liegt in der ersten Zusammenkunft aller erwachsenen Hauptfiguren am Freitag (»Venerd'«), bei der sie den Plan des Raubüberfalls auf die Bank besprechen und festhalten. Dieser sieht vor, nicht mit Waffengewalt an die anvisierte Beute zu kommen, sondern mit einem stabilen Fahrzeug die Mauer der Bank zu durchbrechen, um den Geldautomaten mitzunehmen und in aller Ruhe zu öffnen.537 Es ist das erste Kapitel, in dem Rino Zena, Danilo Aprea und Quattro Formaggi gemeinsam ›auftreten‹ und dasjenige, in denen ihre Schwächen, die für den kommenden Verlauf eine entscheidende Rolle spielen, vorgestellt werden. Grundlage für das 534 Ebd. 535 Ebd. 536 Die Handlung von Shakespears Stücks folgt drei Hauptlinien. Zum einen kommt das Schicksal des Königssohns Ferdinand zur Darstellung. Der Sohn Alonsos, der zunächst von den Übrigen getrennt wird, wird in der Geschichte durch den Zauberer Prosperos, eigentlich Herzog von Mailand, geführt; zwar muss er vorübergehend Frondienste verrichten, doch gelingt es ihm dann, sich als Bräutigam für die in ihn verliebte Miranda, Tochter des Prosperos, auszuzeichnen. Zum anderen werden die Verirrungen der gestrandeten Aristokraten nachgezeichnet. Durch die Illusionen des Luftgeistes Ariel durch Klänge, Wunsch- und Traumbilder aus dem Konzept gebracht, verlieren diese auf der Insel der Wunder schnell die Orientierung und es kommt zu Konflikten. So etwa soll Alonso durch den eigenen Bruder Sebastian im Schlaf ermordet werden; aufgestachelt wird dieser von Antonio, Prosperos Bruder. In einer dritten Linie spitzt sich ein Streit zwischen Prospero und seinem Sklaven Caliban immer mehr zu, bis letzterer schließlich gemeinsame Sache mit zwei schiffbrüchigen Gaunern macht. William Shakespeare: The Tempest. Hg. v. Virginia Mason Vaughan. Reissued with additional material. London: Arden Shakespeare 2011. 537 Ammaniti 2010, S. 56f.
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Zustandekommen des Plans ist tatsächlich nicht nur das zu ergaunernde Vermögen, sondern generell die Situation in Arbeitslosigkeit und damit die Langeweile, womit ein zentrales Problem italienischer Lebenswirklichkeit – nämlich die sich stets weiter ausbreitende Schwäche des Arbeitsmarktes – indirekt im Fokus steht: Nei giorni successivi Danilo aveva continuato a menargli il colpo e con gli effetti benefici che avrebbe avuto sul loro tenore della vita. E alla fine anche gli altri due, non avendo un accidenti da fare tutto il giorno, avevano cominciato a dargli retta e a organizzare una cosa che assomigliava a un piano.538
Bereits hier klingt in der Formulierung »una cosa che assomigliava a un piano« an, dass das Unterfangen scheitern wird. Danilos Plan, einen entsprechenden Wagen beim Paten seines Cousins zu Sonderkonditionen zu kaufen und dafür einen Kredit auf Rinos Haus aufzunehmen, legt die Schwachpunkte und gleichzeitig den Antrieb der beiden Männer frei: die geschiedene, aber noch geliebte Ehefrau Danilos Teresa und Rinos Sohn Cristiano. Zudem kommt die ›Rangordnung‹ unter den Männern zur Darstellung: Bastava mettere l’ipoteca sulla casa di Rino: »Sai, sulla mia non si puk, H intestata a Teresa.« Rino era scattato i piedi e lo aveva appicciato a una parete ringhiando: »Ma ti sei bevuto il cervello? Io faccio i debiti con la banca per te e per il tuo negozio di mutande, eh?« Danilo, paonazzo, aveva gorgogliato: »Allora rubiamolo«. Ecco, di questo si poteva discutere. […] A Rino la cosa sembrava fattibile, ma il problema, quanto toccava avventurarsi nei territori della criminalit/, era sempre lo stesso. Cristiano. Rino doveva filare dritto come un fuso. Gi/ era sotto il controllo dell’assistente sociale, se poi la polizia lo beccava a fare una qualsiasi stronzata per prima cosa il giudice gli toglieva la custodia del figlio. »Io al massimo posso fare il palo.« »E io non guido« aveva aggiunto Danilo. I due avevano guardato Quattro Formaggi senza riuscire a nascondere un sorriso sadico.539
Quattro Formaggi, der zum Zünder der zentralen Katastrophe in Form der Vergewaltigung Fabianas und ihrer Konsequenzen wird, zeichnet sich von vornherein durch Manipulierbarkeit aus: Come sempre toccava a lui a fare tutto. Che strano, era lo scemo del paese, l’imbecille, ma solo lui sapeva tagliare i cavetti dell’accensione e rubarsi una macchina senza problemi. »Non voglio… Non mi va…« era riuscito a balbettare. […] Ma per convincere Quattro formaggi a fare le cose piF assurde bastava un piccolo stratagemma. Tenergli il muso e trattarlo con freddezza.540 538 Ebd. 539 Ebd., S. 57f. 540 Ebd., S. 58.
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Neben dieser Nachgiebigkeit gegenüber seinen Freunden ist es vor allem sein von Beginn an als verwirrt gezeichneter Geisteszustand, der den folgenden Taten den Weg bereitet: »Ultimamente [Quattro Formaggi] si accorgeva di ricordare spesso cose che non esistevano. Oppure scambiava cose che aveva visto alla televisione con i suoi ricordi.«541 Diese besondere, durch einen kranken Geist zustande kommende Vermischung von Alltagswirklichkeit und medialer Fiktion führt dazu, dass Quattro Formaggi die blonde Schulkameradin Cristianos, Fabiana Ponticelli, mit der von ihm bewunderten Pornodarstellerin Ramona gleichsetzt und so seine vom Fernsehen indoktrinierten Phantasien zu verwirklichen sucht.542 Zu Beginn wird das Mädchen von Quattro Formaggi noch als »La biondina identica a Ramona!«543 bezeichnet, ein paar Abschnitte weiter jedoch gibt es in seiner Wahrnehmung keinen Unterschied mehr zwischen der Filmfigur und dem wirklichen Mädchen (»Quando Quattro Formaggi aveva visto che Ramona si dirigeva decisa verso la tangenziale il cuore gli si era colmato di delusione e felicit/.«544). Auf der Straße ist Quattro Formaggi in diesem Moment jedoch nur, um den Freunden zu helfen, ihren Plan umzusetzen. Die Katastrophe wird vor der symbolträchtigen Kulisse einer dunklen Gewitternacht inszeniert,545 deren Beschreibung den Teil La Notte einleitet und kommendes Unheil ahnen lässt: La danza del terrore comincik alle ventidue e trentasei, quando un fronte temporalesco, incagliato da giorni tra le cime delle montagne, fu liberato da una corrente siberiana che lo spinge verso meridione. La mezza luna che pendeva al centro di un cielo terso e ricamato di stelle in meno di dieci minuti fu imbavagliata da una coltre di nuvole scure e basse. Il buio calk di colpo sulla pianura. Alle ventidue e quarantotto fragori di tuoni, saette e sbuffi di vento aprirono i balli di una lunga notte di tempesta. Poi comincik a piovere e non smise piF.546
541 542 543 544 545
Ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 210ff. Ebd. Ebd., S. 215. Kilian bemerkt dazu: »Auf der ersten Stufe der atmosphärischen Gestaltung ist zunächst einmal zu erwähnen, dass der pyramidale Handlungsaufbau begleitet wird von einer entsprechenden Wetterlage: Es beginnt ungemütlich bis wechselhaft mit Schnee, Nieselregen und Kälte; darauf folgt in der Mordnacht ein Gewittersturm mit starkem Regen, und schließlich klart es in den folgenden Tagen auf, sodass der Roman, scheinbar versöhnlich, mit einer ›giornata tiepida e senza nuvole‹ enden kann.« Ders. 2010, S. 462. 546 Ammaniti 2010, S. 171. Die hier benannten Ebenen sind bereits im Incipit des Kapitels »Venerd'« beschrieben, auch an dieser Stelle ist die Deskription der Landschaft, in der Cristiano und sein Vater leben, nicht nur realistisch, sondern auch metaphorisch zu verstehen, was an der abschließenden Phrase deutlich wird. Hier ist der Matsch (»fango«) auch als Problem und Untat der Menschen zu verstehen: »Ma alle prime luci del giorno la
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In dieser Nacht, die eigentlich dem gemeinsamen Coup gewidmet ist, verfolgt letztendlich jeder seine eigenen Begehrlichkeiten. Rino Zena, der sich der Widrigkeiten des Plans noch einmal bewusst geworden ist (»Ma come ho fatto a lasciarmi mettere in mezzo da Danilo? […] Se le cose andavano storte c’era la galera. […] E se lo sbattevano dentro Cristiano finiva in un istituto o in affida alla maggiore et/.«547), bleibt mit Kopfschmerzen zu Hause548 (»Cristiano si mise a sedere e incrocik le gambe. ›E ora che dici a Danilo?‹ ›Ho mal di testa. Vai a letto.‹«549). Er will den Freund zumindest überreden zu warten, bis der Regen schwächer wird (»Ma hai visto che tempo c’H fuori? […] Intanto aspettiamo che diminuisce e poi si vedr/.«)550. Quattro Formaggi kommt im wahrsten Sinne des Wortes vom ›rechten Weg‹ ab, als er zu den Freunden aufbrechen will und in seinem brutalen Abenteuer mit der vermeintlichen Ramona alias Fabiana versinkt. Danilo, aufgebracht, dass die beiden Freunde ihn im Stich lassen, geht euphorisiert durch Alkoholphantasien allein ans Werk (»(Fai il colpo da solo. Non hai bisogno di nessuno. Fallo subito. Ora.)«551). Die Geschichten der einzelnen Charaktere werden in szenischen Handlungseinheiten hintereinandergestellt. Zumeist ist jeder Abschnitt dem Handlungsrahmen einer Figur gewidmet, nur selten teilen sich mehrere Figuren einen Paragraphen. Die Kontiguität der einzelnen, teilweise sehr kurzen Fragmente führt zu einem hohen Tempo der Erzählung, obwohl tatsächlich teilweise sogar repetitiv erzählt beziehungsweise dargestellt wird. Viva Paci bemerkt, dass der Rezipient so einen Zugang zur Simultaneität der dargestellten Ereignisse erhält: Die Montage simuliert eine Art ›Blick Gottes‹, der allumfassend ist.552 Der wichtigste Effekt der schnell wechselnden Erzählbausteine mag jedoch darin liegen, dass häufig mit dem Beginn eines neuen Fragments auch eine neue Erzählperspektive und Fokalisierung gegeben ist, sodass die verschiedenen
547 548 549 550 551 552
nevicata si trasformk in una pioggia sottile e insistente che sciolse in meno di un’ora il manto bianco che per un attimo aveva reso la pianura attraente come una algida modella albina avvolta in una pelliccia di volpe artica. Varrano, San Rocco, Rocca Seconda, Murelle, Giardino Fiorito, Marzio, Bogognano, Semerese e tutti gli altri centri abitati riemersero con i loro colori smorti, con i loro piccoli e grandi abusi, con le villette a due piani circondate dal pratino all’inglese bruciato dal gelo, con i loro capannoni prefabbricati, gli istituti di credito, i cavalcavia, in concessionari e i loro parchi macchine e con tutto il loro fango.« Ammaniti 2010, S. 29f. Ebd., S. 176. Regelmäßig wird auf Rinos Kopfschmerzen verwiesen, so etwa auf S. 39, 43, 102, 112, 116, 163, 190, 256. Hier manifestiert sich bereits die sich stetig verschlimmernde Krankheit Rino Zenas, durch die er später im Text ins Koma fällt. Ebd., S. 190. Ebd., S. 205. Ebd., S. 258, [Hervorhebung im Original]. Vgl. Viva Paci: »Senti che bel rumore…«, In: Ronald De Rooy / Beniamino Mirisola / Viva Paci [Hg.]: Romanzi di (De)formazione (1988–2010). Firenze: Cesati Editore 2010, S. 43–47, hier S. 46.
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Innensichten der einzelnen Figuren zu einem großen Ganzen zusammenfließen und ein Gesamtbild im Sinne des choralen Erzählens zustande kommt. Häufig wird dabei zusätzlich – wie schon in Ti prendo e ti porto via – eine durch Kursivierung hervorgehobene Innensicht der Figuren eingefügt, die die Distanz des Rezipienten zum Geschehen verkürzt. Das Bruchstückhafte der ›Gedankenfetzten‹ wird zudem durch Auslassungspunkte graphisch im Text markiert. Beispielhaft mag das anhand der Vergewaltigungsszene vorgeführt werden. Die Verfolgungsjagd auf der regennassen Straße, während der Quattro Formaggi innere Diskussionen ausficht, ob das Mädchen auf dem Mofa ihn begehrt und ob er es stoppen soll oder nicht und Fabiana ihrerseits die Situation reflektiert, endet mit einem fingierten Sturz des Verfolgers.553 Die Gedanken Quattro Formaggis führen in einem imaginären Zwiegespräch mit dem Holzfäller Bob den von der Figur geliebten Pornofilm weiter : »(Ha girato la testa. Non vedi che ti sta chiamando? Scemo che non sei altro) gli spiegk Bob. E allora perch8 ha accelerato?«554 Fabiana hingegen hört die Stimme ihres Vaters: »(Fabiana, mi raccomando, di notte non prendere la strada del bosco.) S', forse H meglio che faccio la tangenziale. Tanto oramai sono bagnata fino alle mutande.«555 Zudem bemerkt sie die unterschwellige Gefahr, die von ihrem Verfolger ausgeht: »ð veramente fuori di testa, il tipo.«556 Trotzdem eilt sie ihm nach dem Sturz zu Hilfe, muss aber erkennen, dass sie in eine Falle gelaufen ist: 96. »Riesce a sentirmi? Se non riesce a parlare, muova qualcosa… un braccio…« chiese Fabiana Ponticelli. Cacchio, H morto davvero… […] Un pensiero rapido le attraversk la mente: come aveva fatto a cadere proprio in quel punto, dove la strada era dritta? Doveva essere scivolato in una pozzanghera, o aveva bucato e battuto la testa. Ma ha il casco… […] Io chiamo un’ambulanza. 97. (Fermala! Sta telefonando.) 98. Fabiana Ponticelli non ebbe nemmeno il tempo di premere il tasto dell’accensione del suo cellulare che sent' la terra sparire sotto i piedi e si ritrovk a cadere a bocca aperta e fin' giF colpendo l’asfalto con il mento, un’anca e un ginocchio. […] ð una trappola! Non si H fatto niente!557
Im weiteren Verlauf der Darstellung kommen erzählerische Details zum Einsatz, wie Ammaniti sie bereits in seinen früheren Texten verwendet hat. Gewalt wird 553 554 555 556 557
Vgl. Ebd., S. 218. Ebd., S. 214, [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 215, [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 217, [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 223ff., [Hervorhebung im Original].
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detailliert beschrieben, bleibt jedoch in einem für die Tat realistischen Rahmen und wächst nicht bis ins Hypertrophische an. Die misshandelte Frau wird zur Puppe, der Fokus liegt auf den inneren Vorgängen, diesmal jedoch von Täter und Opfer : 104. L’uomo con il casco la raggiunse e la colp' in faccia con il rovescio della mano, facendole fare una mezza piroetta sgraziata, e Fabiana Ponticelli volk indietro, rigida come un manichino, e sbatt8 con l’anca sinistra contro il guardrail, atterk su uno zigomo e poi con il resto del corpo sopra un tappeto di sacchetti di plastica, carta e foglie bagnate, mentre le caviglie le sbattevano contro la base di cemento della barriera metallica. Sapeva che doveva rialzarsi subito, immediatamente, e che doveva mettersi a correre e scappare […]. (Almeno apri gli occhi, guarda dov’H.) La voce di suo padre. Non posso. (Lascialo fare! Meglio stuprata che stuprata e ammazzata di botte) le sugger' Esmeralda. Che come al solito non usava mezzi termini. Ha ragione Esme, pap/. Mi violenter/ e mi lascer/ qui. Eppure dentro di lei c’era una parte piF resistente e caparbia che le diceva di non mollare. Perch8 non era giusto. […] 105. […] Quando aveva visto Ramona girare su se stesso e sbattere contro il guardrail e cadere a terra di testa si era preso uno spavento terribile. L’Aveva ammazzata con uno schiaffo? Possibile? L’aveva osservata attentamente sotto la pioggia. Indifesa e bagnata come un girino quando lo tiri fuori dall’acqua. (Ora H tua. Puoi farci quello che vuoi. Perk devi portala nel bosco cos' se passa qualcuno…) […]558
Von besonderem Interesse sind die jeweils wechselnden Stimmen in den Gedanken der Figuren, die Raum für den Blickpunkt weiterer Charaktere bieten und somit den Darstellungsrahmen ständig erweitern. Diese sind neben der Kursivierung zusätzlich noch durch eine Klammer gekennzeichnet. Diese graphischen Hervorhebungen sind gleichsam unbesprochene Regieanweisung für den Leser, die die Verhältnisse des Textes erklären. Die Zeichnung der Situation ist explizit und detailreich, auch und vor allem was die Verletzungen an Fabianas Körper angeht, bleibt jedoch im Vergleich zur Literatur des Pulp deutlich zurückgeschraubt; hier geht es nicht mehr um die bildliche Umsetzung des sarkastischen ›Zerfleischens‹. Auch in der Inszenierung des Todes des Mädchens wird – wie schon in Ti prendo e ti porto via und Io non ho paura – die ausufernde Darstellung zugunsten der Innensicht der erlebenden Figur zurückgenommen. Den Paragraphen 112 teilen sich Täter und Opfer. Das Abklingen der ursprünglichen Erektion Quattro Formaggis führt bei 558 Ebd., S. 229f., [Hervorhebung im Original].
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diesem zunächst zu Verzweiflung und dann zu Wut, in der er das Mädchen erschlägt. In diesem Abschnitt herrschen Gedanken- und direkte Rede im Wechsel vor. Die typographisch kursiv dargestellte Dissoziation Fabianas spiegelt durch die zu Ende inmitten eines Wortes eingeschobenen Auslassungszeichen elliptisch das Ableben des Mädchens: Non gli sarebbe mai venuto duro. […] »PiF lento. PiF lento. Ti prego…« Avrebbe voluto, ma piF lento di cos'… »No, stringilo. Forte. Fortissimo. Tiralo.« Non capiva, prima lento, poi… Ma ubbid'. A un certo punto si fermk frustrata e impaurita e colpevole e si accorse che il bastardo piangeva. »Calmati, tranquillo, se non ci riesci…« le usc' senza che nemmeno se ne accorgesse. »Vedrai, aspetta…« Ma l’uomo con uno scatto rabbioso le tirk via la mano e comincik freneticamente a slacciarle la cinta, i pantaloni. Le abbassk le mutande… Il cuore di Fabiana prese a correre. Spalanck la bocca e infilk le dita nella terra fredda. […] (Devi solo lasciarlo fare e poi sar/ tutto finito.) Lo sent' che le annaspava tra le gambe, e poi l’afferrava per i capelli urlando. Via. Pensa a qualcosa. A qualcosa di bello, di lontano. Via. Pensa a Milano. A quando sarai a Milano all’universit/. […] Bisogna tenere in ordine una casa piccola. Nel frigo, chiaramente, non ci sar/ nulla. Tra me ed Esme, figurati. Ma dalla porta si va su un ballatoio pieno di sole e fio…559
Die knappsten Versatzstücke des Textes finden sich in der Darstellung der Notsituation des Quattro Formaggi zu Hilfe eilenden Rino Zena, der in den letzten wachen Momenten nach seiner Hirnblutung versucht, seinen Sohn zu erreichen, um Hilfe anzufordern. Man könnte hier im erweiternden Sinne schon fast von einer Art narrativer Stichomythie sprechen.560 Ebenso wie in ihrem originären Kontext dient diese hier als Mittel der dramatischen Steigerung und Beschleunigung in einer Konfliktsituation. Dargestellt wird das mehrfach unterbrochene Telefongespräch zwischen Vater und Sohn, wobei die kürzeren Passagen stets dem kranken Vater zugeordnet sind, der physisch kaum mehr in der Lage ist zu sprechen, während die längeren Abschnitte der Verzweiflung und Reflexion Cristianos gewidmet sind. Besonders interessant ist dabei, dass sich die Redeabschnitte des Vaters zudem noch stetig verkürzen, wodurch das Ab559 Ebd., S. 236f., [Hervorhebung im Original]. 560 Gemeint sind hier die Abschnitte 152 bis 159. Im eigentlichen Sinne des Wortes stimmt die Gleichsetzung mit der Stichomythie natürlich nicht, da die Rede bzw. Erzählung nicht von Vers zu Vers beziehungsweise von Zeile zu Zeile wechselt, aber im narrativen Kontext scheint das im Vergleich ein recht stimmiges Bild zu ergeben.
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nehmen der Kräfte bis in die Ohnmacht auf formaler Ebene anschaulich unterstützt wird: 152. »Cri…stia…no…« dissero le formiche. La lingua di Rino Zena era una massa nera e compatta di insetti brulicanti. E le sue labbra e anche i suoi denti, la sua mascella, il suo palato erano ricoperti di formiche che si muovevano ordinatamente, che si spostavano come ballerini di un’immensa coreografia, che morivano per farlo parlare con suo figlio. 154. Ma perch8 non sentiva piF niente? Rino Zena non era sicuro che le formiche fossero riuscite a pronunciare il nome di Cristiano e nemmeno che fossero riuscite a telefonare. Vive, oramai, ne erano rimaste poche. Chiss/ se quelle potevano ancora farcela? 156: E se questo H l’inferno? Rino Zena era tra le formiche in quell’enorme caverna che era la sua bocca. 158: »San Rocco… Agip…p…«561
Cristianos persönliche Katastrophe beginnt, als er im Schlamm seinen scheinbar leblosen Vater findet562 und nur wenige Meter weiter die tote, entstellte Fabiana.563 Mit seiner Entscheidung, den Vater, unabhängig davon, was nun im Wald geschehen ist, zu retten und die Leiche Fabianas wegzuschaffen sowie mit der darauf folgenden Einlieferung Rino Zenas ins Krankenhaus, beginnt die fallende Handlung im pyramidalen Textgebilde. Im letzten Abschnitt von La Notte heißt es: »In seguito Cristiano Zena ricordk il momento in cui si portarono via suo padre su una lettiga come quello che cambik la sua esistenza.«564 Mit Beginn der Katastrophe und in den Ausführungen der fallenden Handlung nach der unglückseligen Nacht treten immer stärker vermeintlich lenkende Instanzen, die die Handlung der Figuren in deren Augen legitimieren sollen, in den Vordergrund der Erzählung: Gott und die Medien. Wie sich diese Strukturen vorgeblicher Macht im Text konstruieren und dekonstruieren beziehungsweise wie sie wieder neutralisiert werden, führt das folgende Kapitel vor.
4.3.2 Gottvater, Sohn und heilige Medien – Macht- oder ›Medizin‹diskurs? Ammanitis dramatisierter Geschichte einer Welt der Gewalt im Gegenwartsitalien unterliegt eine Folie christlich-katholischer (Macht)Strukturen sowie ein Geflecht an omnipräsenten Verweisen auf das Fernsehen. Beides bietet sich in 561 562 563 564
Ammaniti 2010, S. 301ff., [Hervorhebung im Original]. Vgl. ebd., S. 318f. Vgl. ebd., S. 330f. Ebd., S. 342.
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einer auf Realismus ausgelegten Darstellung Italiens an, da der religiöse Diskurs bis heute tief in der italienischen Lebenswelt verwurzelt ist und somit immer Aspekte des Wiedererkennens der Alltagswelt beinhaltet.565 Ebenso nimmt die Rolle des Fernsehens eine überaus wichtige Rolle in der italienischen Lebenswirklichkeit ein.566 Bereits in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts bemerkt Eco, das Fernsehen sei in Italien wie etwas mit der Energie einer Atombombe angekommen und wahrgenommen worden.567 Aldo Grasso spricht von einem »apparato simbolico«.568 Beniamino Placido erinnert an früh gesehene Gefahren der Abhängigkeit durch das Gerät sowie an die Rolle, die es bei der Einigung Italiens gespielt habe und zitiert dabei Pier Emilio Gennarini: »Il nostro Paese si ritrovk riunito intorno a Lascia o radoppia?, al Canzoniere, a Canzonissima. […] Le famiglie si riunirono la sera intorno all’apparecchio televisivo come si erano riuniti prima intorno al rosario«.569 Mit dieser Aussage verbindent Gennarini zudem Fernsehen und Katholizismus. Ein religiöses Textsubstrat ist in diesem Sinne nicht unbedingt und nicht allein als Konterdiskurs zur realistischen Darstellungsweise zu verstehen, der ständige Verweis auf ein Altermedium nicht als postmodernistische Form von Intermedialität; beides hat an dieser Stelle 565 Sicher ist es auch in Italien zu einer Säkularisierung gekommen. Nichtsdestotrotz lebt noch eine Mehrheit der Italiener mit Bezugspunkten zum Katholizismus, wenn auch in eher ›loser‹ Art und Weise. Soziologen sprechen von einer »religione diffusa«, »religione implicata« oder gar »religione di scenario«. Dieses Phänomen sei jedoch nicht nur ein Residuum einer jahrhundertelangen Tradition, sondern zeichne sich durch Nachhaltigkeit mit Aspekten der Erneuerung aus. Vgl. Andrea Riccardi: »La vita religiosa«, In: Paul Ginsborg [Hg.]: Storia dell’Italia. Il bilancio politico, economico, sociale e culturale di un paese che cambia. 180 contributi inediti scritti da piF di 100 specialisti. Milano: Il saggiatore 1994, S. 338–348, hier besonders S. 341. 566 Emanuela Pessina führt aus, dass das Fernsehen »heute einen, wenn nicht den wichtigsten Bestandteil der zeitgenössischen italienischen Massenkultur [ausmacht]. Mit der Entwicklung der privaten Sender und der Verbreitung des Farbfernsehens in den achtziger Jahren erhöhte sich die Zeit, die die Italiener vor dem Fernseher verbrachten: Das Fernsehen wurde zum alltäglichen Begleiter. Im Jahr 1988 befand sich der italienische Bürger täglich durchschnittlich 2.35 Stunden vor dem Gerät, 1995 waren es 3.35 Stunden, die schließlich 2008 auf ganze 4.00 Stunden anwuchsen (Ginsborg 2005: 207). Nach Gabriele Calvi war das Fernsehen die einzige kulturelle Tätigkeit, die die Mehrheit der Italiener in den 80er und 90er Jahren täglich wahrnahm (Calvi 1987: 173). Vgl. Pessina: Politische Macht über Italiens Medien. Die Veränderung der italienischen Medienlandschaft in Zeiten der Oligarchie. Berlin: Universitätsverlag der TU Berlin 2015, S. 52. Pessina weist zudem darauf hin, dass in Italien – im europäischen Vergleich – extrem wenig Printmedien konsumiert werden, was das Monopol der vom Fernsehen vermittelten Werte noch einmal stärkt. Vgl. ebd., S. 67. 567 Vgl. Umberto Eco: Apocalittici e integrati. Comunicazione di massa e cultura di massa. Milano: Bompiano 1977 [1964], S. 356. 568 Aldo Grasso: Storia della televisione italiana. Pref. di Beniamino Placido. Milano: Garzanti 1992, S. 15. 569 Vgl. Beniamino Placido: »E l’Italia fu unita nel nome della televisione«, In: Aldo Grasso 1992, S. 7.
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durchaus mimetische Funktion. Aber über diese mimetische Ebene hinaus bietet sich die darstellerische Kombination von Gewalt und Religion den Theorien Ren8 Girards zufolge an. Die Gottesfrage ist bei ihm unauflöslich mit der Frage nach Gewalt verbunden, da Heiliges und Gewalt in einer paradoxen Wechselbeziehung stehen, die einander begünstigen und bedingen; stets sei das eine in dem anderen enthalten.570 Am Ende seiner Ausführungen definiert Girard die beiden Konzepte als nahezu kongruent.571 Auf den ersten Blick scheint der Roman mit genau diesem Konzept von Gewalt und Göttlichem zu spielen. Auch Daniela Picamus empfindet den Titel, der einen kommandierenden Gott aufruft, sowie die Benennung des jugendlichen Protagonisten als Cristiano so stark, dass sie nach der religiösen Komponente als Interpretationsschlüssel fragt.572 Auf den zweiten Blick jedoch wird der wesentlich höhere Komplexitätsgrad sichtbar. In Come Dio comanda schreiben sich verschiedene Strukturen des Pseudo-Heiligen in den Text ein. Einige stehen für postmodernistische Residuen, andere fungieren als Realitätsmarker und gehen schließlich in einen medizinisch-psychologischen Diskurs über. Stets geht es dabei auch um Macht und Gewalt, um Schuld oder Unschuld. Besonders interessant ist die verflochtene Einflussnahme von vermeintlich göttlichen Strukturen und televisiven Einflüssen auf die Figuren: 1) Gott ist omnipräsent in verbalen, aber mehr oder weniger sinnentleerten Floskeln, die häufig an Kraftausdrücke gekoppelt sind. 2) In der Darstellung der Beziehung von Rino Zena zu seinem Sohn Cristiano nimmt der Vater zunächst die Rolle eines Gottes ein, der Sohn akzeptiert die ›Allmacht‹ des Vaters und sein Wort als Gesetz. Aber auch in der Beziehung zu seinen Freunden hat Rino Zena diesen Status inne, der jedoch durch Rinos Krankheit korrumpiert wird. In einer Situation der Schwäche wird er zunächst zum Sündenbock und dann zur Christusfigur. 3) Jede einzelne Figur schafft sich in Zweifels- oder Gefahrensituationen ihren Gott, der sie leiten oder retten soll und durch den das jeweilige Handeln zu rechtfertigen gesucht wird. Gott wird zum Pseudogaranten des Tuns, der sich
570 Er formuliert: »Le religieux vise toujours / apaiser la violence, / l’empÞcher de se d8cha%ner. Les conduites religieuses et morales visent la non-violence de faÅon imm8diate dans la vie rituelle, par l’interm8diaire paradoxal de la violence.« Girard 1972, S. 36. Er expliziert: »Celui-ci [le religieux] nous prot8geant de celle-l/ [la violence] et se cachant derriHre elle comme elle se cache derriHre lui.« Ebd., S. 41. 571 »Nous venons de dire: la violence et le sacr8. Nous pourrions dire 8galement: la violence ou le sacr8. Le jeu du sacr8 et celui de la violence ne font qu’un. La pens8e ethnologique est sans doute dispos8e / reconna%tre, au sein du sacr8, la pr8sence de tout ce que peut recouvrir le terme de violence. Mais elle ajoutera tout de suite qu’il y a aussi, dans le sacr8, autre chose et mÞme le contraire de la violence.« Ebd., S. 385. 572 Vgl. Picamus 2011, S. 214.
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als defizitär erweist und allein durch seine Polyvalenz destruiert wird. In der Destruktion Gottes wird ein medizinisch-psychologischer Diskurs sichtbar. 4) Die Medien scheinen ebenfalls eine gottähnliche Stellung einzunehmen, sie sind genauso omnipräsent und nehmen Einfluss auf das Handeln der Charaktere. Jedoch stehen auch sie in der Kritik, ihre ›Macht‹ ist dem Verfall anheimgegeben, ihre scheinbare Wahrheit muss der tatsächlichen Wirklichkeit weichen. Der in sinnentleerten Floskeln verbal sehr präsente Gott kommt schwerpunktmäßig im Vokabular Rino und Cristiano Zenas vor und scheint sich in dieser Quantität bereits aufzulösen. Er markiert sich hier schlicht als sinnentleertes, verbales Alltagskonzept. Häufig dient er als Euphemismus für Flüche und Abfälligkeiten. So bemerkt Rino, dass sich die Frau im Fernsehen so hinsetzt, dass »tutto il ben di Dio che aveva davanti fosse in bella mostra«,573 warum die zwei Ehemänner im Fernsehen für eine Woche die Frauen tauschten, wüsste nur »Iddio«574 und die Medikamente, die er von den Ärzten bekommen würde, kosteten »l’ira di Dio«.575 Auch Cristiano verschränkt Kraftausdrücke mit Schwüren auf Gott: »Te lo giuro su Dio, porca puttana!«576 und »Quel bastardo la pagher/. Giuro su Dio che la pagher/«.577 Der beseelte Gott, den man ernsthaft bittet, kommt bei beiden, Vater und Sohn, nur im Moment von Rinos Hirnblutung vor und auch erst in dem Augenblick, in dem die eigenen Kräfte definitiv versagen: Il dito. Muovi quel dito di merda. Doveva far capire a Quattro Formaggi che lo doveva portare subito all’ospedale. Muovi il dito. Forza. […] Rino implork Dio di aiutarlo, di tirarlo fuori da quel buco nero, es cos' com’erano arrivati gli spasmi cessarono e si ritrovk solo, in una quiete senza luce.578
Cristianos Gottesbild ist ein grundsätzlich negatives. Gott ist für ihn derjenige, der ihm alles im Leben genommen hat und weiterhin nimmt: »Ecco perch8 non rispondeva piF. [Il padre s]e n’era andato. Via. Per sempre. Ed era quello che sapeva sarebbe successo da sempre, perch8 Dio H una merda e prima o poi ti toglie tutto. […]«.579 Niemals hat er Gott um etwas gebeten und er zieht diese letzte Instanz auch erst dann zurate, als der eigene, zum Gott stilisierte Vater 573 574 575 576 577
Ammaniti 2010, S. 24f. Ebd., S. 12. Ebd., S. 102f. Ebd., S. 89. Ebd., S. 442. Auf dieses ›Auftreten‹ Gottes in einem katholisch geprägten, verbalen Kontext, verweist auch Picamus 2011, S. 216. 578 Ammaniti 2010, S. 262, [Hervorhebung im Original]. 579 Ebd., S. 304.
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nicht mehr antwortet. Die Bitten an den irdischen und den göttlichen Vater, gehen fließend ineinander über : »Ti prego, pap/! Rispondimi! Rispondimi… Dove devo venire? Non puoi farmi questo… Non H giusto«. […] »Se non mi dici dove sei … io come faccio… Io come faccio… Come posso fare… Ti prego, Dio… Ti prego…. Aiutami. Dio mio, aiutami tu. Non ti ho mai chiesto niente… Nulla«.580
Die Überblendung der Instanzen von Gott und Vater Rino, die sich auch in der Beziehung von Macht und Dominanz zwischen Rino und seinem Sohn Cristiano widerspiegelt, wurde bereits in der Besprechung des Prologs vorgeführt. Die als Gottvater und Sohn in einem christlichen Kontext inszenierte Konstellation scheint hier zweierlei Funktionen zu haben: Zum einen unterstützt sie die Nachzeichnung der Emanzipation des Sohnes vom Vater in einer Art Entwicklungsroman; hier ließe sich an eine politisch-allegorische Lesart anschließen, in der die junge Generation (Italiens) sich von einer alternden ablösen und neue Wege gehen muss.581 Zum anderen spielt sie mit den dargestellten göttlichen Konzepten, die teilweise in sich gespiegelt werden und kann somit hauptsächlich als ein Residuum postmodernistischer Literatur gelesen werden. Die erste tatsächliche Bezeichnung des Vaters als Gott erscheint in einem eher liebevollen und amüsanten Kontext, in dem Rino Zena dem Sohn Lasagne zubereiten will, derentwegen der Sohn niederknien und ihn als seinen Gott bezeichnen würde.582 Im weiteren Verlauf definiert sich der Vater jedoch tatsächlich als Lebensspender des Sohnes, von dem er Dankbarkeit und Gehorsam einfordert: »Rino buttk la cenere in una lattina sorridendo: ›Vieni subito qua e bacia il tuo Dio. Ricordati che tu senza di me non saresti esistito, se non ci fossi stato io tua madre avrebbe abortito, quindi bacia questo maschio latino.‹«583 Das Verhalten der Vaterfigur oszilliert – ähnlich wie in Io non ho paura – zwischen dem eines »bruto spietato« und eines »genitore affettuoso e premuroso«.584 Die gesamte Handlung ist stets geleitet von der im Endeffekt doch positiv besetzten Vater-Sohn-Beziehung, in der beide Figuren zu einer Einheit verschmelzen und deren metaphorische Rollen (als Gott und Gottes Sohn) zudem austauschbar erscheinen beziehungsweise einander spiegeln und im Wortspiel ineinander fallen. So heißt es, als Rino Cristiano erzählt, warum er keine Angst vor dem Tod 580 Ebd. 581 Ein interessanter Ansatz, der an dieser Stelle jedoch keinen Raum für Vertiefung findet. 582 »Stanotte ho sognato che ci mangiavamo le lasagne. Non mi ricordo dove, ma erano buone. Sai che faccio? Oggi le preparo. […] Le faccio con un casino di besciamella. E le salsicce. Se fai la spesa ti faccio delle lasagne che ti dovrai inchinare e ammettere che sono il tuo Dio.« Ammaniti 2010, S. 38. 583 Ebd., S. 39. 584 Ronald De Rooy : »Protagonisti deformati«, In: ders./ Beniamino Mirisola / Viva Paci [Hg.]: Romanzi di (De)formazione (1988–2010). Firenze: Cesati Editore 2010, S. 22–25, hier S. 24.
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habe: »[…] Non ti preoccupare [Cristiano], il Signore non vuole che ti lascio solo. Io e te siamo una cosa sola. Io ho te e tu hai me. Non c’H nessun altro. E quindi Dio non ci divider/ mai.«585 Die Passage spielt einerseits darauf an, dass im christlichen Glauben Gott nach Natur, Substanz und Wesen Einer ist, andererseits wird durch die Nennung des »Signore« und Rino Zenas in spielerischer Rekonstruktion eine zweite göttliche Figur mit ins Tableau gebracht, die das Gottesbild im Text sozusagen in ein mise en abyme setzt. Aber nicht nur für seinen Sohn Cristiano, auch für seine Freunde ist Rino eine Art göttliche Instanz auf Erden. Er ist derjenige, der alles weiß und alles richtet. So bezeichnet Danilo die stetige Übersicht Rinos als eine »da padreeterno sotuttoio che rimaneva calmo pure quando i marziani invadevano la Terra«586 und Quattro Formaggi ruft ihn nach seiner Straftat zu Hilfe und nimmt zunächst sogar seine strafende Reaktion und Morddrohung an: »›Schifoso strupratore pezzo di merda…‹ Lo afferrk per i capelli e gli caccik la canna della pistola contro un occhio. ›Ora ti ammazzo.‹ ›S', ammazzami! Ammazzami. Me lo merito…‹ prese a mugugnare Quattro Formaggi.«587 In dem Moment, in dem Rino jedoch die strafende Tat ausführen will, verliert er – durch seine Kopfschmerzen dahingerafft – das Gleichgewicht, fällt reglos zu Boden und hat ab diesem Zeitpunkt seine kontrollierende und leitende Stellung im Text verloren. Einerseits wirkt es, als könne man den Zusammenbruch als göttliche Strafe für die Hybris Rino Zenas lesen. Andererseits jedoch kündigt der Text die sich stetig verschlimmernde Krankheit seit den ersten Seiten an. In den Augen Quattro Formaggis wird Rino somit zum von Gott geforderten ausgleichenden Opfer für den gewaltsamen Tod der Fabiana Ponticelli:588 Quattro Formaggi si mise seduto e gli diede una pacca su una spalla: »Amen«. E si fece il segno della croce. ð morto per me. Dio voleva qualcuno per la morte di Ramona e Rino si H sacrificato. (Lo troveranno e penseranno che H stato lui a ucciderla. A te non succeder/ niente.) Quattro Formaggi sorrise sollevato.589
Es ist fortan sein Sohn Cristiano, der die aktive Rolle übernimmt und für den sich – so Kilian – neue Handlungsmöglichkeiten ergeben, »in dem Moment, in dem er die Souveränität des Vaters für sich selbst entdeckt«.590 Jedoch ist der Vater nicht tot – wie Cristiano zunächst vermutet – sondern nur im Koma, scheintot, wenn man so will. Indem er am dritten Tage (»Mercoled'«) nach der 585 586 587 588
Ammaniti 2010, S. 235. Ebd., S. 205. Ebd., S. 255. An dieser Stelle wäre eine tiefgründigere Auseinandersetzung mit den Theorien Girards interessant, was in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht ausgeführt werden kann. 589 Ammaniti 2010, S. 263, [Hervorhebung im Original]. 590 Kilian 2010, S. 469.
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Unwetternacht aufwacht, scheint er zur Christusfigur zu mutieren. Sein Erwachen fällt mit der Erkenntnis des Sohnes um die Unschuld des Vaters zusammen, was jedoch niemanden in der Menge um den Jungen herum interessiert.591 Neben diesen die Entwicklung Cristianos unterstützenden Markern sowie den ludischen Bausteinen ist jedoch vor allem das Zusammenspiel von Konstruktion und Dekonstruktion der Gottesbilder in Verbindung mit dem Fernsehen von Interesse. Eine unsichtbare, vermeintlich lenkende Instanz scheint jeweils zur Grundlage des Handelns der Figuren zu werden und modelliert den Blick auf das Geschehen. Dies kann man in einem ersten Ansatz als postmoderne Vielfalt von Wahrheit verstehen, im letztendlichen Zusammenspiel fällt jedoch auf: Es wird immer die eine Geschichte erzählt, die sich mit Gewissheit in der Gewitternacht zugetragen hat, wie auch immer man die Vorgänge sehen oder verstehen will: im Alkoholrausch Danilos, dem wirren Hirn Quattro Formaggis oder aus der Angst Fabianas heraus. Zunächst läuft das Fernsehen stets im Hintergrund mit, seine Präsenz wird regelmäßig wie beiläufig erwähnt. Häufig ist das Programm irrelevant, da die Charaktere ohnehin bereits schlafen oder einschlafen. Danilo schläft vor dem Gerät sitzend,592 Rino Zena verbringt seine Nächte davor,593 Cristiano seine Tage, häufig gemeinsam mit Quattro Formaggi.594 Abends wird der Fernseher für Vater und Sohn zum gemeinsamen Begleiter.595 Wenn Cristiano morgens aufsteht, läuft das Gerät noch oder schon.596 Diese Präsenz des Fernsehens wird dargestellt als eine Gewohnheit, die zum beherrschenden Zwang und gerade aus der Perspektive Rino Zenas heraus stark kritisiert und in seiner Entwicklung nostalgisch reflektiert wird:
591 »Rino Zena, steso nel suo letto, mosse una mano. Una voce disse: ›Mi puk sentire? Se mi puk sentire faccia un segno. Un sego qualsiasi‹. Rino sorrise. Cristiano apr' gli occhi. Tutti erano in piedi e applaudivano al passaggio della bara bianca. Si alzk e urlk: ›Non H stato mio padre!‹ Ma nessuno lo sent'.« Ammaniti 2010, S. 478. 592 »Danilo Aprea dormiva seduto davanti alla televisione accesa.« Ebd., S. 233. 593 »Suo padre l/ ci stava solo per dormire. Di solito crollava sulla poltrona davanti alla televisione e solo il freddo e d’estate le zanzare gli davano la forza necessaria per trascinarsi fino in camera.« Ammaniti 2010, S. 37. 594 »Cristiano passava intere giornate insieme a lui [Quattro Formaggio]. Guardavano la televisione o facevano giri sul Boxer.« Ebd., S. 87. 595 »Dopo mangiato Cristiano si buttk sul divano a guardare la televisione. Si stava bene, l'. La stufa mandava un bel teporino. Gli piaceva addormentarsi cos', avvolto nella coperta scozzese. Suo padre si allungk sulla sedia a sdraio con una birra in una mano e la mazza di legno per cambiare canale nell’altra. Quella sera, a Cristiano sarebbe piaciuto vedere Chi la fa l’aspetti, il programma in cui facevano gli scherzi (che anche se non erano veri facevano ridere lo stesso), ma sentiva gli occhi pesanti e senza rendersene conto si addormentk sul divano.« Ebd., S. 104, [Hervorhebung im Original]. 596 »Si vest' e scese di sotto. La televisione era su MTV.« Ebd., S. 120.
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Rino Zena odiava la televisione. Variet/, talk show, programmi politici, documentari, telegiornali, anche lo sport e le previsioni che non ci pigliavano mai. Prima era diverso, perk. La televisione quando lui era piccolo era un’altra cosa. Due canali. Precisi. Statali. C’erano cose belle, fatte con passione. Che passavi la settimana aspettandole. Pinocchio, per esempio. Un capolavoro. E vogliamo parlare degli attori? Manfredi, un grande. Alberto Sordi, un genio. Totk, il miglior comico del mondo. Ora invece era tutto cambiato. Rino odiava i presentatori tinti e le vallette nude e stava male quando vedeva la gente pronta a parlare dei cazzi suoi di fronte a mezza Italia. Disprezzava quei poveri stronzi che andavano in televisione e cominciavano a frignare e a dire che soffrivano perch8 erano stati mollati dalle loro moglie. E odiava la gentilezza ipocrita di presentatori. Odiava giochi al telefono. I balletti raffazzonati. Odiava le battute rancide die comici. E detestava gli imitatori e gli imitati. Odiava i politici. Odiava gli sceneggiati con i poliziotti buoni, i carabinieri simpatici, i preti buffi e le squadre anticrimine. Odiava i ragazzini brufolosi che sarebbero stati disposti ad ammazzare pur di essere ammessi in quel paradiso da quattro soldi. Odiava quelle centinaia di zombie semi famosi che vagavano come bastardi elemosinando una sedia. Odiava gli esperti che si arricchivano sulle tragedie. Sanno tutto. Sanno cos’H il tradimento, la povert/, le stragi del sabato sera, la mente dagli assassini. Odiava quando s’indignavano per finta. Quando si leccavano il culo tra loro come i cani ai giardinetti. Odiava i litigi che resistevano il tempo di una scorreggia. Odiava le collette per i bambini africani quando in Italia c’era gente che faceva la fame. Ma la cosa che detestava di piF erano le donne. Puttane con le tette rotonde come pompelmi, le labbra gonfie, le facce rifatte con o stampino. Parlano tanto di uguaglianza, ma quale uguaglianza e uguaglianza? Quando l’immagine che danno H quella di un branco di decerebrate rizzacazzi. Si facevano scopare da qualche stronzo con un po’ di potere per uscire di casa ed essere riconosciute. Donne capaci di passare sul corpo delle loro madri per un po’ di successo. Li odiava tutti, quelli l/ dentro, al punto che alle volte si doveva trattenere dal prendere la mazza e sfondare quel cazzo di televisore. Vi metterei in fila, uno dietro l’altro, e vi sparerei. Che avete fatto di male? Professate il falso. State rincoglionendo milioni di ragazzini. Mostrando mondi che non esistono. Spingete la gente a rovinarsi per comprarsi una macchina. Mandate in malora l’Italia. Eppure Rino Zena non riusciva a non guardare la televisione. Ci s’incollava davanti tutta la notte. E di giorno, quando stava a casa, era sempre l/ su quella sedia a sdraio a insultarli. Rino cambik canale, poi si girk e s’accorse che Cristiano dormiva.597
Das ausführliche Zitat ist an dieser Stelle deshalb vonnöten, da es die durch das Werk kritisierten Punkte der Mediengesellschaft sehr anschaulich zusammenfasst. Rinos Reflexion zeichnet ein realistisches – wenn auch pathetisch-nost597 Ebd., S. 104ff., [Hervorhebung im Original].
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algisches – Bild der Entwicklung des italienischen Fernsehens von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart, eine Entwicklung, die das Alltagsleben Italiens maßgeblich prägte.598 Problematisiert wird dabei vor allem das ›Falsche‹, das Fiktive der Fernsehwelt, Bereiche, die bereits in den 60er Jahren thematisiert worden sind: das Fernsehen als Vehikel falscher Suggestionen und fingierter Partizipation, vorgetäuschter Unmittelbarkeit und unechter Dramatik.599 Rhetorisch gerahmt werden die Ausführungen Rinos durch anaphorische Verben des Hasses: »odiava« (14x), »detestava« (2x), »disprezzava« (1x). Die Juxtaposition verschiedener Inhalte gipfelt in der Anklage der Frauen mit falschen Brüsten und aufgespritzten Lippen, die das Maximum einer sexualisierten und dem Konsum verfallenen Gesellschaft symbolisieren. Aus dem Paradies vertrieben wird die italienische Gesellschaft in diesem Sinne hier nicht, weil vom Baum der Erkenntnis genascht wurde, sondern durch gezielte Verdummung durch eine mediale Einflussnahme, der trotz besseren Wissens nichts entgegenzusetzen ist (»Eppure Rino Zena non riusciva a non guardare la televisione«). Das ursprünglich Magische der Fernsehwelt, die ein besseres Leben verspricht, zeigt sich hier entzaubert und in ihr Gegenteil verkehrt (»Professate il falso. State rincoglionendo milioni di ragazzini. Mostrando mondi che non esistono. Spingete la gente a rovinarsi per comprarsi una macchina. Mandate in malora l’Italia.«). Das Dargestellte wird in den Augen Rinos zur »Commedia«.600 Diese dem Werk immanente Kritik an der Fiktion und Komödienhaftigkeit der Fernsehwelt findet ihren Höhepunkt ganz am Ende, bei der buchstäblichen Inszenierung der Beerdigung Fabianas unter ständigem Beisein der Fernseh- wie Handykameras. So wird die Familie Fabianas bei Betreten der Kirche von zahlreichen Besuchern der Messe photographiert und gefilmt, deren Handybildschirme ironisch zu »ceri funebri« werden.601 Noch stärker zeigt sich das kritische Moment, wenn die Familie passiv in erster Reihe platziert und ihr Leid im Zoom zur Schau gestellt wird. Das Sakrale einer ursprünglich heiligen Messe wird zum Höhepunkt massenmedialen Konsums: »Li fecero sedere in prima fila accanto al sindaco, a un sacco di personaggi importanti e ai poliziotti in divisa. La madre prese in braccio il figlio mentre le telecamere delle televisioni zoomavano in un primo piano.«602 Unterlag den Erzählungen der Cannibali mit ihrer Affinität zu einer 598 Besonders ausführlich und anschaulich schildert Aldo Grasso diese Entwicklung, die von der Vormachtstellung der RAI bis ins Imperium Berlusconi reicht. Er geht dabei detailliert auf die maßgeblich mitwirkenden Personen wie einzelne Programme ein. Vgl. ders. 1992. 599 Eco 1977, S. 335f. 600 »›Vieni qua, troia! Ti faccio capire io come si fa a casa Zena‹ aveva cominciato a ragliare Rino lanciando un barattolo di birra contro lo schermo della televisione. Lo sapeva benissimo che era tutta una commedia, che quella roba era vera come le borse che vendono i negri davanti ai centri commerciali.« Ammaniti 2010, S. 13. 601 Ebd., S. 470. 602 Ebd.
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grotesken Fernsehwelt eine bereits unterschwellige Kritik an der Medienlandschaft Italiens, so tritt diese in Come Dio comanda offen hervor. In Cristianos Welt hat das Fernsehen – zumindest weitgehend – noch die Funktion der ›Wissensvermittlung‹; das Wissen jedoch bezieht der Junge aus trivialen Fernsehserien. So sucht er etwa seinen Vater nach der Hirnblutung mit Erste-Hilfe-Maßnahmen zu retten, die er aus den Folgen von Emergency Room kennt.603 Auch bei der Entledigung der Leiche Fabianas bedient er sich des ›Wissens‹, das er dem Konsum der Serie CSI entnimmt.604 Von seinem Vater wird Cristiano für derartige Übernahmen heftig kritisiert und beschimpft.605 Auf diese Weise wird die Entwicklung italienischer Gewohnheiten auf praktischer Ebene im Text diskutiert. Illustrieren lässt sich das mit einer Annahme Ecos, dass das Akzeptieren der von der Fernsehwelt geschaffenen Illusion einer Beziehung der »cordialit/« und der scheinbaren Form des Dialogs etwas mit Onanie zu tun hat.606 Auch dieser ›Selbstkonsum‹ mithilfe der vermeintlichen ›Nähe‹beziehung durch das Fernsehen wird in Ammanitis Roman sehr bildlich ad absurdum geführt, indem Rinos Masturbation bei der Beobachtung einer blonden Frau in einer Kochsendung durch Erschlaffen der Erektion unter-
603 »Gli poggik le mani sul torace provando a spingere e a ripetere ›Uno, due, tre‹ come aveva visto fare nelle puntate di ER. Non sapeva come si facesse e a cosa servisse esattamente, ma continuk per un sacco di tempo non ottenendo nessuna reazione se non quella di sentire i muscoli delle proprie braccia indurirsi come marmo.« Ebd., S. 323. 604 »All’interno del furgone, anche se non troppo forte, ristagnava un odore dolciastro. Dopo ventiquattr’ore un cadavere gi/ comincia a puzzare. Una delle poche certezze che Cristiano Zena aveva era che, se faceva le cose per bene, si sarebbe sbarazzato di quel corpo senza che nessuno potesse ricondurlo a suo padre. E questa certezza era basata sul fatto che lui aveva visto tutte e tre le stagioni di CSI. CSI H un serial americano in cui un team di medici legali, intelligentissimi, studia ed esamina i cadaveri con strumenti tecnologici, mentre detective geniali ricavano informazioni anche dai piF piccoli e apparentemente insignificanti indizi. Tipo: trovavano una scarpa. Analizzano la suola. C’H merda di cane. Attraverso lo studio del DNA ricostruiscono la razza. Dalmata. I Dalmata dove vanno a cagare? Mandano una serie di agenti in tutti i parchi pubblici a studiare le concentrazioni di Dalmata e alla fine ti beccano con precisione matematica dove vive l’assassino. Roba del genere. Spesso Cristiano, nella sua esistenza precedente, si era trovato a ragionare, davanti al telegiornale, sugli errori commessi dagli assassini italiani. Facevano le cose malissimo lasciando un sacco di tracce e li beccavano sempre. Lui invece avrebbe fatto tutto per bene e perch8 ogni cosa funzionasse doveva pensare che quel cadavere era, n8 piF n8 meno, uguale a un polli tirato fuori dal cellophane. Quindi forza.« Ebd., S. 401f. 605 »Sei un coglione completo. Ancora credi alla stronzata che chi sa fare le arte marziali sa fare a botte. Ma tu che minchia hai imparato della vita? Come cazzo ragioni… Ah, ecco! Ho capito! Tu credi a quello che si vede in televisione: H cos' che impari a vivere. Dillo! ð cos', no? Vedi i cartoni animati dove la gente fa kung fu e le altre stronzate e credi che bisogna essere Bruce Lee o qualche altro coglione cinese che invece di menare fa le acrobazie e gli urletti. Non hai veramente capito un cazzo […]«. Ebd., S. 153. 606 Vgl. Eco 1977, S. 335f.
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brochen wird: »Quella merda che stavano cucinando glielo aveva fatto ammosciare.«607 Rinos Zustimmung hingegen finden Filme mit Al Pacino und Robert De Niro, in deren Geschichten er sich vertreten sieht (»Riuscivano a raccontare la vita di merda della gente comune come nessun altro«).608 Der Film Quel pomeriggio di un giorno da cani (im Orig.: Dog Day Afternoon), den er kurz vor dem geplanten Bankraub zum wiederholten Mal sieht, ist ausschlaggebend für seinen Rückzug aus dem gemeinsamen Vorhaben.609 Der Film wird – bei unterschiedlicher Interpretation – zum Motor der jeweiligen Entscheidung sowie zum verbindenden Glied zwischen den Geschichten Rinos, Danilos und Quattro Formaggis: Nello stesso momento in cui Rino Zena era assalito dai dubbi, Danilo Aprea, seduto davanti alla televisione, sorrideva. Che film idiota che aveva visto. Una storia in cui due balordi si facevano incastrare durante una rapina. Lui invece aveva organizzato un piano perfetto. Non c’era gente nei dintorni, non c’erano armi, ostaggi e stronzate varie.610 Anche Quattro Formaggi aveva visto distrattamente Quel pomeriggio di un giorno da cani, ma non aveva in nessun modo associato il film al colpo. Poi, annoiato, aveva acceso il videoregistratore e aveva fatto partire Le grandi labbra di Ramona.611
Die unterschiedliche Reaktion auf den medialen Konsum lenkt die Handlung in der dargestellten Realität. Dabei ist die Überlappung (und damit Steuerung) von medialer und tatsächlicher Realität je nach Reflexionsgrad der Figur unterschiedlich. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Fernsehen ist nicht allen Figuren in Come Dio comanda eigen und spiegelt somit wiederum eine Problematik, die das Fernsehen auch in der tatsächlichen Welt stellt. Vor allem Quattro Formaggis Realität speist sich zumeist mindestens im gleichen Maße aus medialer wie tatsächlicher Wirklichkeit. Die Überschneidung ist im Text geschickt markiert, indem der Pornostar aus dem konsumierten Film sozusagen zeitgleich mit Quattro Formaggi ›das Haus verlässt‹ und somit eine scheinbare Kongruenz zwischen realer und medialer Welt herstellt: »Spense la televisione [Quattro Formaggi] mentre Ramona usciva dalla casa tutta nuda e incontrava 607 Ammaniti 2010, S. 44. Auch Cristiano vergeht im Zusammenfluss verschiedener Reize aus dem Fernsehprogramm die Lust an der Masturbation. Vgl. ebd., S. 115f. 608 Ebd., S. 175f. 609 »Ma quella sera non avrebbe dovuto vedere quel film. Al Pacino entrava in una banca per fare una rapina e la cosa si trasformava in una strage. Aveva capito che il colpo al Bancomat era una cazzata. Una cazzata gravissima che avrebbe pagato per il resto dei suoi giorni. E anche se la ragione gli suggeriva che quel diluvio era una botta di culo (in giro non ci sarebbe stata un’anima), lo stomaco gli diceva che quel film trasmesso da Rete 4 esattamente due ore prima del colpo era un segno mandato dal Signore per dirgli di lasciar perdere.« Ebd., S. 175f. 610 Ebd., S. 177. 611 Ebd., S. 182.
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Bob il boscaiolo e gli diceva: ›Tira fuori il tronchetto della felicit/ che ci divertiamo‹. ›Basta, vai‹ si ordink. S’infilk i guanti e usc' di casa.«612 Für Quattro Formaggi läuft der Film in seiner Realität einfach weiter, als er in dieser Nacht Fabiana begegnet, die optisch der binnenfiktiven Figur Ramona ähnelt. Hier zeichnet sich überdeutlich, fast karikiert, die von Merten proklamierte aktuelle, handlungsleitende Wirklichkeit ab, die aus medialer Fiktion und ›tatsächlicher‹ Wirklichkeit zusammenschmilzt. Auch nach vollbrachter Tat bleiben für die Figur Film und Realität verschränkt, die Fernsehwelt wird zum Rettungsanker aus der wirklichen Welt, die zum Albtraum geworden ist: In una mano stringeva il crocefisso. Per un attimo era riuscito ad appisolarsi, ma un incubo orrendo l’aveva avvolto come una coperta fetida e per fortuna si era risvegliato. Il televisore acceso a tutto volume gli rimbombava nel cranio, ma non voleva abbassarlo. Preferiva mille volte le voci gracchianti della televisione a quelle che aveva in testa. Se chiudeva gli occhi, poi, gli appariva Ramona nuda e stesa tra le montagne […]. All’improvviso diede un calcio alla televisione che cadde dal tavolino ma continuk a strillare. Ma perch8 diavolo Ramona aveva scelto di passare nel bosco?613
Kruzifix und mediale Welt werden zum Haltepunkt eines kranken Geistes. Dass der Fernseher nach dem Sturz vom Tisch ›weiterschreit‹ (»continuk a strillare«), scheint auf ironische Weise dessen Macht noch einmal hervorzukehren. Zweifel an der Echtheit ›seiner‹ Geschichte kommen Quattro Formaggi erst sehr spät im Verlaufe der Geschichte: »E se invece si era sognato tutto? E se Ramona non era mai esistita? O se esisteva solo nel film?«614 Ähnlich verhält es sich mit dem Gottesbild Quattro Formaggis. Verschroben rituelle Sammelleidenschaften pseudochristlicher Figuren, die Quattro Formaggi zu einer sehr detaillierten, aber grotesken Weihnachtskrippe verbaut,615 bilden neben dem Porno den zweiten Lebensinhalt der Figur. Die Fertigstellung der Krippe, so seine Annahme, würde auch seinem Leben etwas Wertvolles bescheren.616 Nach dem Mord an dem Mädchen verbindet er seine beiden Leidenschaften im Glauben, mithilfe und durch den Willen Gottes zu handeln: Quattro Formaggi era seduto di fronte al presepe. […] Chiuse gli occhi ed ebbe la sensazione di levitare dalla sedia. Vide un’immensa valle di terra rossa che lambiva le pareti della stanza e montagne di pietre altissime […]. E vide al centro della valle il corpo nudo di Ramona. Un gigante morto. Il cadavere della ragazza circondato dai soldatini, dai pastori, dalle macchinine. […] Tra i peli della fica dinosauri e soldatini e pastori e dentro, dentro la caverna, GesF Bambino. Piegk il braccio contuso ed ebbe la sensazione che una lama rotante lo tranciasse in due. Caccik un grido di dolore. Ora 612 613 614 615 616
Ebd., S. 200. Ebd., S. 409f. Ebd., S. 371. Diese füllt das ganze Wohnzimmer. Vgl. ebd., S. 34. Vgl. ebd., S. 166.
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sapeva cosa doveva fare. Doveva tornare nel bosco, prendere il corpo della biondina e metterlo nel presepe. E per questo che l’aveva uccisa. E Dio l’avrebbe aiutato.617
In der Passage werden die grotesken Wünsche und Visionen der Figur, die diese in einer Art ›Schwebezustand‹ hat, unterbrochen von Zeichen des Schmerzes, die sein versehrter Körper aussendet. Die Unterbrechung des visionären Zustands ist jedoch nicht von Dauer. In einer zunächst gewonnenen Sicherheit fasst Quattro Formaggi einerseits den Entschluss, Rino Zena als einzigen Zeugen seiner Tat zu ermorden. In einem Anflug von Hybris fühlt er sich Gott ebenbürtig: »Ora sapeva cosa doveva fare. Doveva uccidere Rino. Se si svegliava lo avrebbe accusato. Era lui che si opponeva al volere di Dio. Dio lo aveva quasi ammazzato e lui l’avrebbe finito. In effetti lui e Dio erano la stessa cosa.«618 Andererseits wird ihm klar, dass nur Rino ihm helfen kann, seinen Plan, das Mädchen in die Krippe einzubauen, zu verwirklichen: »Rino, mi dici, per favore, dov’H Ramona? ð importante. Ci devo fare una cosa. Una cosa molto importante. Me lo dici, prego? Io ho bisogno del corpo. Se me lo dici Dio ti aiuter/. Lo sai perch8 sei in coma? ð stato Dio. Ti ha punito per quello che mi hai fatto. Mi hai fatto male. Io perk non ce l’ho con te. Ti ho perdonato. […]«619
Nach und nach kristallisiert sich heraus, dass nicht Gott, sondern sein verstümmelter Körper und kranker Geist seine Taten beherrschen und ebenso wie an der Fernsehrealität, zeichnen sich Zweifel am Gewogensein Gottes und schließlich an dessen Existenz ab. So stellt Quattro Formaggi in einem ersten Schritt fest: »Il crocefisso non funzionava. […] Dio ce l’ha con me. Ho perso Ramona. Non mi merito niente. Questo H la verit/.«620 Eine weibliche, ihm in einem Albtraum erscheinende Stimme, benennt ihn als »L’Uomo delle Carogne« (Mann der Kadaver), einen Namen, den die Figur fortan für sich gebraucht.621 Immer mehr kommt es zu einer Dissoziation622 zwischen einerseits der kranken und andererseits der – zumindest in Erinnerung noch existenten – ›gesunden‹
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Ebd., S. 362f. Ebd., S. 395. Ebd., S. 396. Ebd., S. 400, [Hervorhebung im Original]. Vgl. ebd., S. 409. Zum psychologischen Konzept der Dissoziation vgl. David Spiegel / Etzel CardeÇa: »Disintegrated Experience: The Dissociative Disorders Revisited«, Journal of Abnormal Psychology 100/3 (1991), S. 366–378, hier bes. S. 367f. Grundlegend heißt es dort: »Dissociation can be thought of as a structured separation of mental processes (e. g., thoughts, emotions, conation, memory, and identity) that are ordinarily integrated. For instance, dissociated behaviour is experienced as being outside of conscious control, and dissociated memories seem unavailable, even though both dissociated behaviours and cognitions may exert an influence on nondissociated components of behaviour and experience.«
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Figur. Dieser Spaltung ist auch der Glaube beziehungsweise der Zweifel an Gott eingeschrieben: L’Uomo delle Carogne si poggik sopra lo stomaco il crocefisso che gli aveva dato Riky, il messaggero di Dio, e gli sembrk di provare un pochino di sollievo. Si alzk e si trascink in bagno e si osservk allo specchio. Il teschio della morte traspirava dietro la pelle del viso. Sollevk il cappuccik dell’accappatoio e la sua faccia ossuta scomparve avvolta dalle ombre. Solo gli occhi lucidi e striati di sangue e i denti giallognoli emergevano come sospesi nel nulla Quella era la faccia della morte. E quando sarebbe uscita fuori dal suo cadavere avrebbe sorriso come stava facendo lui in quel momento. Quando era piccolo aveva avuto le meningite e la febbre era salita oltre i quaranta gradi. »Non sei morto per un miracolo. Devi ringraziare il Signore« gli dicevano le suore. […] Ma forse non H vero. Si ricordava anche dell’Aspirina che si scioglie. E quello era vero. Se la vide di fronte. Un enorme disco bianco che ondeggiava nel bicchiere e si consumava trasformandosi in bolle, in schizzi, in friccicorino. Voleva l’Aspirina che si scioglie. Avrebbe dato tutto quello che possedeva per sentire il suo sapore salato sulla lingua secca.623
In der vorliegenden Passage oszillieren Wahnsinn und Wahrheit. Der Blick in den Spiegel zeigt der Figur selbst wie dem Leser einen lebenden Toten, einen Zombie mit blutunterlaufenen Augen. Das in Schatten gehüllte, knochige Gesicht scheint zunächst etwas Phantastisches zu beinhalten ebenso wie die Idee, die Figur könne aus ihrem Kadaver heraustreten. Der Spiegel wie der Blick in den Spiegel haben in der Literatur eine lange Tradition. Der Spiegel zeigt die Seele und ist damit »Gegenwert Gottes«, er kann Symbol für Klarheit und Erkenntnis sein, Metapher der Ähnlichkeit und der Verwandlung und spielt in der Psychologie (Lacan, Ricœur, Freud, Elias) im Entwicklungsprozess einer Persönlichkeit eine wichtige Rolle.624 Der Spiegel habe generell – so Christiane Dahms – eine doppelte Funktion, die sich im »Zusammenspiel zwischen physikalischer Leistung des Spiegels und intellektueller seines Betrachters« ergebe.625 An dieser Stelle scheint die durch den Spiegel hervorgerufene Doppelperspektive, die sich tatsächlich in einer körperlichen Betrachtung sowie geistigen Erinnerung und Reflexion manifestiert, schon im Zeichen der sich zunehmend verstärkenden Dissoziation des Charakters zu stehen. Die folgenden Zeilen liefern – zumindest anteilig – eine medizinische Erklärung für den verwirrten Geisteszustand der Figur, nämlich eine Meningitis in der Kindheit, eine Krankheit, die in ihren Spätfolgen durchaus zu kognitiven Beeinträchtigungen führen kann.626 Die 623 Ammaniti 2010, S. 417f. 624 Vgl. Christiane Dahms: Spiegelszenen in Literatur und Malerei. Heidelberg: Synchron 2012, S. 20ff. 625 Dahms 2012, S. 19. 626 Vgl. zu den möglichen Folgen einer Meningitis im Kindesalter George Xavier S#ez-Llorens / Jr. H. McCracken: »Bacterial Meningitis in Children«, The Lancet 361 (2003), S. 2139–2148, hier bes. S. 2143.
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Kindheitserinnerung, in der Nonnen ein Wunder Gottes für die Heilung des Jungen verantwortlich machen, thematisiert den Wahrheitsgehalt einer solchen Annahme und kontrastiert die Geschichte mit der Erfahrung der Wirksamkeit von Aspirin. Die erste, ins Phantastische ausschlagende Hälfte der Passage wird durch die folgenden medizinisch erklärenden Zeilen neutralisiert. Angelegt ist die Geschichte bereits zu Beginn des Romans, in der die Spätfolgen der Meningitis (»una forma particolarmente acuta«) mit denen eines Stromschlags kurzgeschlossen werden, die die Figur zusätzlich nicht nur geistig, sondern auch körperlich verstümmeln.627 Die Bedeutung im Textganzen erschließt sich jedoch erst im Verlauf der Lektüre. Den Beschreibungen liegen ähnliche soziale wie wissenschaftliche Interessen zugrunde wie man sie zum Beispiel in der Giacinta finden mag. Diskutiert wird ein medizinischer Fall von Pathologie, gezeichnet ein Charakter in degenerazione, wie er seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts im wissenschaftlichen Fokus stand.628 Die »medizinische Fallgeschichte im Modus der Fiktion«629 dient an dieser Stelle aber eher dazu, die in Degeneration und Dekadenz befindliche Lebenswirklichkeit des Gegenwartitaliens zu reflektieren als medizinische Einzelheiten darzustellen, wie es im 19. Jahrhundert der Fall war. Auch ist die ›Entartung‹ der Figur nicht »hereditär konditioniert«, sondern erklärt sich aus einer Vorerkrankung.630 Die Krankheit des Charakters behält im Plot über weite Strecken die Oberhand und somit auch sein fieberhafter Glaube an göttliche Lenkung und Fügung. In seinem Wahn verzweifelt Quattro Formaggi daran, dass niemand sein Vorgehen versteht und den Tod des Mädchens ›richtig‹ einzuordnen weiß: »Tutto quello che aveva fatto non era servito a niente. Nessuno capiva che era morta per qualcosa di grande, di piF importante. Perch8 cos' Dio comanda.«631 Indem ausgerechnet der geistig wirre Quattro Formaggi den Romantitel in invertierter Form im Text aufruft, wird der Gehalt der Ernsthaftigkeit eines lenkenden Gottes im gesamten Werk ad absurdum geführt. Allein die Figuren sind für ihr Handeln verantwortlich, in ihrer Interpretation der sich ihnen darbietenden Welt, auch wenn diese – etwa in Form des Fernsehens, das hier stellvertretend für eine degenerative Entwicklung Italiens steht – durchaus kritisiert wird.632 Die Dis-
627 Vgl. Ammaniti 2010, S. 31f. In der Beschreibung wird angeführt: »Sul palmo destra aveva un’escrescente callosa e sul polpaccio sinistro una cicatrice dura e marroncina.« 628 Vgl. dazu Gerhard Regn: »Genealogie der Dekadenz: Moralpathologie und Mythos in Capuanas Giacinta«, Romanistisches Jahrbuch 62 (2011), S. 215–239, hier S. 217. 629 So benennt Regn die Erzählung um das Leben der Giacinta Marulli. Vgl. ders. 2011, S. 219. 630 So liest Regn es für die Giacinta. Vgl. ders. 2011, S. 222. 631 Ammaniti 2010, S. 439, [Hervorhebung im Original]. 632 Giovanna Rosa bemerkt an dieser Stelle: »Non solo il motto proverbiale ha perso ogni significato in una societ/ dissestata, in preda agli egosimi aggressivi, ma soprattutto non c’H alcun padre, n8 celeste n8 umano, che possa indirizzare i comportamenti del singolo, in un
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soziation der Figur Quattro Formaggis findet ihren Höhepunkt in seinem Freitod. In der Darstellung lösen die Gedanken der Figur im letzten Moment des Lebens das Visionäre zugunsten einer rationalen Erklärung auf: Che strano. Era come se non fosse piF nel suo corpo. Era vicino. L' accanto. Si vedeva, nudo, stringere il filo nero intorno alla gola. Si vedeva respirare affannosamente. Sono io questo qui? (S', sei tu quello l'.) Cosa diavolo aveva portato quell’uomo nudo a salire su una sedia e mettersi un cappio al collo? L’Uomo delle Carogne conosceva la risposta. La sua testa. […] La sua testa pazza. Quella testa che gli aveva rovinato la vita. L' dentro c’era qualcosa che gli aveva fatto sentire troppe cose, […].633
Werden im Falle Quattro Formaggis die Spätfolgen einer kindlichen Meningitis vorgeführt, so zeichnet der Fall Danilos die Auswirkungen von Alkoholmissbrauch und emotionaler Abhängigkeit nach. Danilo, der die Trennung von seiner Ehefrau Teresa nie verwunden hat, findet sich im Rausch in den überzogenen Aussagen eines Teleshoppingmoderators wieder, der das Meisterwerk aus einer Serie von Clownsbildern anpreist: »Ma di tutta la serie, lasciatemi dire, questo H sicuramente il piF efficace e compiuto, un’opera d’arte assoluta, […]. Il significato anche per i profani H chiaro: il pagliaccio rappresenta la farsa che supera i confini del mondo come lo vediamo noi per arrivare l' dove nessuno H mai arrivato. Verso Dio e l’amore, con un atteggiamento quasi misticoreligioso.« Danilo era incredulo. L’esperto stava dicendo, in modo piF giusto, le stesse cose che aveva pensato lui. Alzk ancora il volume.634
Die Hoffnung auf das ihm von den Medien vermeintlich in Aussicht gestellte grenzüberschreitende Erlebnis Richtung Gott und Liebe – für Danilo heißt das Teresa – löst in dem Charakter eine Manie aus, mit der er sich erneut dem geplanten Bankraub stellt. Während der Warte- und Vorbereitungszeit schwankt sein Bewusstsein dabei zwischen rauschhaften Phantasien, die durch das Fernsehen ausgelöst und durch den Alkohol verstärkt werden, und Momenten des Zweifels: Le pennellate celesti della televisione, attraverso la porta, tingevano il soffitto sopra il letto. Era strano, ma tra le chiazze azzurrine gli sembrava emergesse una macchina scura che aveva una forma umana. »Sei tu, caro?« domandk rivoltk al soffitto. (Certo che sono io.) Il pagliaccio scalatore l’osservava spalmato come l’Uomo Ragno sul soffitto della stanza. […] Danilo sapeva che l' sul soffitto non c’era nessun pagliaccio. Che sistema condiviso di relazioni pubbliche.« Dies.: »Altre Tirature. Dio non comanda e anche i padri latitano«, Tirature (2008). L’immaginario a fumetti, S. 74–79, hier besonders S. 74. 633 Ammaniti 2010, S. 476, [Hervorhebung im Original]. 634 Ebd., S. 181.
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quell’ombra era dovuta alla televisione in salotto. Eppure era proprio come se gli stesse parlando.635
Auch in dieser Passage wird eine gespenstisch angehauchte, mediale Welt, der sogar fiktive Figuren zu entsteigen scheinen, konterkariert durch die zunehmend deutlicher markierte krankhafte Verwirrung des Charakters, die in Gesprächen mit den irrealen Gestalten gipfelt. So entscheidet Danilo ›im Gespräch‹ mit dem Clown, den Bankraub alleine durchzuführen: »Danilo guardk il pagliaccio. ›Hai ragione. Certo, lo posso fare da solo, come ho fatto a non pensarci prima?‹«636 Dennoch löst sich die Situation auch hier rational erklärend auf: Es ist nur als ob (»come se«) der Clown dem Gerät entstiegen sei. Auch hier übernimmt der Wahn der Krankheit mehr und mehr die Oberhand und so konturiert sich die Halluzination auch außer Reichweite des Fernsehgeräts: »[Danilo g]uardk il soffitto. Il clown era ancora l/. Appeso in un angolo dove il bagliore della televisione non arrivava.«637 Ebenso wie Danilos Fernsehphantasie in einem Zustand zwischen einem »come se« und überzeugender Vision schwebt, oszilliert auch sein Glaube an Gott und dessen wundertätige Hilfe zwischen Überzeugung und Zweifel und endet schließlich in einem aushandelnden Dialog: Qualcosa non quadrava. Come mai Dio gli aveva fatto ritrovare le chiavi e non gli aveva ricaricato la batteria? Prese un’altra sorsata di grappa e frizionandosi le labbra comincik a ragionare sulla natura dei due miracoli. In effetti, riflettendoci, erano fenomeni assai differenti. Che l’anello delle chiavi si fosse infilato nel tondine di ferro era altamente improbabile, piF improbabile che vincere il primo premio alla lotteria. Ma una possibilit/ esisteva. Lontana quanto vi pare, ma esisteva. […] Danilo era certo che il Signore lo stava aiutando, ma non al punto di compiere un vero e proprio miracolo contro le leggi della fisica. Il ritrovamento delle chiavi era sicuramente un miracolo, ma – come dire – di seconda classe, la ricarica della batteria era di prima classe e valeva quasi quanto l’apparizione della Madonna. »E giusto cos'! Mi H bastato quello che hai fatto, mio Signore. Tranquillo, alla batteria ci penso io« disse Danilo, […].638
Zufälligen Begebenheiten im Alltag wird wundersame Bedeutung zugemessen und die wiederum als göttlicher Fingerzeig interpretiert. In der Logik Danilos schließen sich Wunder, die physikalische Grenzen übertreten, dann aber aus, einfach, weil sie in dem von ihm gewünschten Moment nicht eintreten. Sich der Situation anpassend, plädiert er für eine ›Arbeitsteilung‹ zwischen ihm und Gott. Die Willkür, mit der sich Gottes Wirken dadurch präsentiert, wird noch dadurch verstärkt, dass die Figur Danilo neben der Möglichkeit religiös-heiliger Kräfte 635 636 637 638
Ebd., S. 248f., [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 258. Ebd., S. 267. Ebd., S. 284f.
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auch das Schicksal oder den Zufall in Betracht zieht: »Questo significa che Dio, il fato, il caso, chiunque fosse, aveva voluto cos'«.639 Der Gott in Ammanitis Roman bringt weder Rettung noch Verdammnis, er verkörpert nicht Gerechtigkeit, noch ist er Überbringer heilbringender Nachrichten; vielmehr repräsentiert er die Unbeständigkeit eines nicht greifbaren und kapriziösen Schicksals.640 In der Umsetzung des Plans um den Bankraub zeigt sich dessen Absurdität und Kasualität, die den von Danilo im Rausch geschaffenen Gott endgültig entmachtet und neutralisiert. Danilo, der, bevor er mit dem Auto den Geldautomaten rammt, noch eine Medaille des Pater Pio küsst, endet als grotesker Körper, der jedoch geistig noch in der Lage ist, die Absurdität des Lebens zu reflektieren: Danilo sfondk di testa il parabrezza e volk oltre la fioriera finendo di faccia contro una rastrelliera per biciclette. Rimase l' a braccia aperte, ma poi lentamente, come se fosse resuscitato, si sollevk e inizik a barcollare in mezzo alla piazzetta pedonale. Al posto del volto aveva una maschera di carne viva e vetro. Con l’unico occhio che gli funzionava vedeva un bagliore verdastro. La banca. Colpita. Vedeva la macchinetta che sputava soldi come una slot machine impazzita. Ma anzich8 monete erano banconote verdi grandi come tappetti. Sono ricco. Si inginocchik a raccogliere e sputk un grumo di sangue, muco e denti. Non ci credo. Muoio… Se avesse potuto ridere lo avrebbe fatto. Com’e assurda la vita…641
Die Szene entlarvt jedoch nicht nur den im Rausch geschaffenen Gott und die irreführende Leitung der Medien, sie kann auch einer gewissen Komik und Ironie nicht entbehren. Die detailreiche Schilderung des zerstückelten Körpers lässt die Figur des Danilo an dieser Stelle als Residuum der Literatur der Cannibali erscheinen und stellt das Werk Ammanitis noch einmal ins Spannungsfeld zwischen Pulp-Ästhetik und neuem Realismus. Doch der erste Blick täuscht. Danilos Geschichte ist von Beginn an so aufgebaut, dass die vermeintlich komische Figur auf den zweiten Blick, nach dem pirandellianischen Prinzip des »sentimento del contrario«,642 Mitleid auf sich zieht und zum ernsten Charakter wird. Was Adamo den Charakteren aus den frühen Werken Ammanitis noch absprechen will,643 findet hier umfassende 639 640 641 642
Ebd., S. 279. Vgl. Picamus 2011, S. 215f. Ammaniti 2010, S. 287, [Hervorhebung im Original]. Luigi Pirandello: »L’Umorismo«, In ders.: Saggi, poesie, scritti varii. Hg. v. Manlio Lo Vecchio-Musti. 2. erw. Ausg. Verona: Mondadori 1965, S. 15–160, hier S. 127. 643 Adamo postuliert: »Il ritmo della scrittura di Ammaniti si esaurisce nella sua notevole vena comica. Degna di un comico, intelligente e colto, della televisione. Ma la vera letteratura non si accontenta di battute continue e di eccessi paradossalmente, ma purtroppo unicamente,
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Umsetzung. Pirandellos Theorie des Umorismo, die »il comico« und »l’umoristico« zu trennen sucht, versteht das Komische als das Unpassende, als ein »avvertimento del contrario« und illustriert das anhand des Beispiels einer älteren Dame, die sich zu jugendlich kleidet und schminkt. Ein solches Bild ruft auf den ersten Blick Lachen hervor. Ein zweiter Blick jedoch, der die erklärenden Hintergründe, nämlich die Angst um den Verlust eines jüngeren Partners und eine Reflexion selbiger miteinbezieht, führt zum erwähnten »sentimento di contrario«, zu Verständnis und Mitleid.644 Der 45jährige Danilo Aprea stirbt nicht nur als grotesk zerstückelter Körper in der Folge eines absurden, aus dem Alkohol geborenen Plans, er wird zunächst von vornherein komisierend beschrieben, als »grande e grosso e aveva la pancia gonfia come quella di una vacca affogata«.645 Ein Mann, der schon am Morgen ohne Probleme drei Grappas trinkt, was die abnormalen Körpermaße erklärt. In einem zusätzlich komischen Gegensatz dazu steht sein bemüht gepflegtes Aussehen, stets sauber und gekämmt, mit kariertem Flanellhemd, einer Jagdweste mit vielen Taschen und Jeans mit Abnähern.646 Als Trennungsgrund von seiner Frau Teresa wird eben jene Alkoholsucht angegeben (»non si puk campare con un alcolizzato«),647 der die Figur auch ihr ›komisches‹ Äußeres zu verdanken hat. Es entsteht im Gesamten ein »avvertimento del contrario«, Danilo Aprea ist auf den ersten Blick eine lachhafte Figur. Als tiefergehendes, auslösendes Trauma, das dem zerrütteten Leben zugrunde liegt, wird jedoch der Tod der gemeinsamen Tochter Laura aufgeführt, die der Vater nicht hatte retten können und der ihn bis in die Gegenwart um den Verstand bringt. Diese Vorgeschichte ruft das »sentimento del contrario« auf den Plan: Fino a cinque anni prima Danilo Aprea poteva bere al massimo un dito di moscato. […] Questo fino al 9 luglio del 2001, quando l’alcol e Danilo Aprea decisero che era giunto il momento di fare pace e diventare amici. Il 9 luglio del 2001 Danilo Aprea era un’altra persona con un’altra vita. A quel tempo lavorava come guardiano notturno di una ditta di trasporti, aveva una moglie che amava e Laura, una figlia di tre anni. Il 9 luglio del 2001 Laura Aprea era morta con un tappo di shampoo infilato nella trachea. Un anno dopo Teresa lo aveva lasciato.648
644 645 646 647 648
ridicoli. Ammaniti H rimasta molto al di qua del superamento della pirandelliana barriera tra avvertimento del contrario e sentimento del contrario.« Dies. 2007, S. 173. Vgl. Pirandello 1965, S. 127. Ammaniti 2010, S. 40. Vgl. ebd. Ebd., S. 45f. Ebd., S. 46.
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Die Repetition des 9. Juli hebt die Bedeutung dieses einen, alles verändernden Tages anschaulich hervor und unterstreicht das ›Vorher‹ und ›Nachher‹ der Figur, die nach dieser Erklärung nicht mehr komisch, sondern tragisch wirkt. Dass dem Todeskampf des erstickenden Kindes ebenso wie den vergeblichen Rettungsversuchen Danilos über drei Seiten Beschreibung weiter Raum zugestanden wird, verstärkt diesen Effekt: »Laura, cos’hai combinato?« Danilo aveva visto la busta della spesa rovesciata e il barattolo dello shampoo senza tappo sul sedile sporco di sapone. Poi, se lo ricordava come fosse oggi, aveva sentito un risucchio, un rantolo soffocato, e aveva guardato sua figlia. La bambina aveva la bocca spalancata e gli occhi azzurri, fuori alle orbite, erano rossi. Si agitava disperata, ma le cinture di sicurezza del seggiolino facevano il loro dovere e la tenevano appicciata al sedile come un condannato a morte alla sedia elettrica. Non respira. Il tappo! Ha ingoiato il tappo! […] Devo prenderla per i piedi. Devo prenderla per i piedi e agitarla… Ma come, se non riusciva a fare nulla?649
Der Abschnitt arbeitet wieder mit der bereits bekannten, distanzverringernden Innensicht der Figur in Kursivierung. Die Erinnerung, klar als handle es sich um ein gegenwärtiges Ereignis, hebt die psychologische Störung der Figur, die das Trauma nie verarbeiten konnte, hervor. Die zunächst absurd wirkende Situation, dass das Kind nicht aus dem Sitz herauszunehmen ist, wird im Nachhinein relativiert und legitimiert durch einen von Danilo aufgefundenen kurzen Artikel, ein im Text grafisch abgesetzter Einschub, der über den Rückruf von Kindersitzen mit defekten Schließen berichtet.650 Dieser fungiert im Roman zusätzlich als effet de r8el. Die Diskussion um eine Hörigkeit und Einflussnahme seitens einer göttlichen Instanz und der Medien auf die Figuren, die in ihren Reaktionen teilweise absurd erscheinen, dient nicht einfach nur der grotesken Darstellungsweise im Sinne der Pulp-Ästehtik. Vielmehr geht es um die Zeichnung verschiedener menschlicher Schicksale in einem bestimmten Ambiente, die durch medizinische und psychologische Hintergrundgeschichten in ihrer teils irrwitzigen Handlungsweise eine Neutralisierung der ursprünglichen Komik erfahren. Man kann in diesem Sinne von einer Anwendung des Konzepts des Umorismo nach Pirandello sprechen. Dadurch kommt es nicht zur Anästhesierung und Distanzierung des Lesers, im Gegenteil werden Empathie und Verständnis evoziert. Dies funktioniert vor allem deshalb, da durch noch vorhandene Elemente pulpistischer Literatur zunächst eine bestimmte Erwartungshaltung aufgebaut, dann jedoch wieder durchbrochen wird. Der Rezipient erhält eine Backstory zum 649 Ebd., S. 266f., [Hervorhebung im Original]. 650 Vgl. ebd., S. 268.
(Anti-)Helden: ›Sympathieträger‹ in der Tradition des Lumpenproletariats
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erwarteten grotesken Ende, wodurch die zur Darstellung kommende Realität ihre besondere Schlagkraft erhält.
4.4
(Anti-)Helden: ›Sympathieträger‹ in der Tradition des Lumpenproletariats
Die Hauptakteure in Ammanitis Roman sind einer momentan stetig anwachsenden Gruppe der italienischen Gesellschaft entnommen, dem Prekariat. Es sind Figuren, die einen gesellschaftlichen Abstieg hinter sich haben oder denen aufgrund der Situation der Aufstieg verwehrt bleibt; sie sind arbeitslos, sie haben keine Perspektive.651 Ammaniti zeichnet diese Figuren – wie im vorangegangenen Kapitel bereits vorgeführt – im Extrem: Häufig verfallen sie dem Alkohol oder rechten Ideologien, in ihrem Erscheinungsbild sind sie teilweise nahezu grotesk, kurz: Sie sind aus dem ›Abschaum‹ der Gesellschaft gegriffen, sie stehen ›außerhalb‹ der Gesellschaft, sie sind Antihelden. Der Begriff Prekariat ist eine Analogiebildung zum Terminus Proletariat und taucht im Duden erstmals im Jahr 2009 auf. Das italienische Pendant precariato hingegen führt der Zingarelli mit einer Erstaufnahme von 1974.652 Grundlegend bezeichnet es das erneute Aufkommen einer Bevölkerungsschicht, die in Armut lebt oder durch eine unsichere Arbeitssituation von Armut bedroht ist. Das Phänomen des Prekariats entsteht in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts durch massive Veränderungen in der Marktwirtschaft: »everything should be done to maximise competition and competitiveness, and to allow market principles to permeate all aspects of life.«653 Die Flexibilität der Märkte sollte erhöht werden, was eine entsprechend erhöhte Mobilität von den Arbeitnehmern forderte und Unsicherheit und Instabilität in die Familien brachte. Das Resultat war (unter anderem) die Bildung des Prekariats, einer Gruppe von Personen ohne einen festen Anker im Leben.654 Guy Standing deklariert sie als »class-in-the-making« oder im Sinne von Marx als »yet-a-class-for-itself«.655 In den verschiedenen Nationen wird das Prekariat mit leichten Unterschieden aufgefasst. In Italien ist 651 Die hohe Arbeitslosigkeit in Italien ist ein stetig wachsendes Problem, das das ganze Land betrifft. Das Istat (Istituto nazionale di statistica) verzeichnet zwischen Ende der Siebziger Jahre bis in die erste Dekade des neuen Millenniums einen Anstieg der Arbeitslosigkeit von 1.340.000 Personen auf 2.744.000. Vgl. Istat: »Occupati e disoccupati. Dati ricostruiti dal 1977«, statistiche / report (24. 04.2013), [HP]. 652 Vgl. Der Duden online. Bibliographisches Institut GmbH, [LW] sowie Lo Zingarelli online. Von Nicola Zingarelli. Bologna: Zanichelli 2010–, [LW]. 653 Guy Standing: The Precariat. The New Dangerous Class. [o. O.]: Bloomsbury Academic 2011, S. 1. 654 Vgl. ebd. 655 Vgl. ebd., S. 7.
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der Bezeichnung immanent, dass es sich um den Normalzustand des Lebens der jeweiligen Person handelt, unter das deutsche Konzept fällt zusätzlich noch die Hoffnungslosigkeit auf soziale Integration.656 Dieses Verständnis von Prekariat erinnere – so Standing – an das marx’sche Lumpenproletariat, im italienischen Äquivalent das sottoproletariato. Dieses ist – so Marx – »ein Rekrutierplatz für Diebe und Verbrecher aller Art, von den Abfällen der Gesellschaft lebend, Leute ohne bestimmten Arbeitszweig, Herumtreiber, gens sans feu et sans aveu [dunkle Existenzen (Menschen ohne Heim und ohne gesellschaftliche Anerkennung)], verschieden nach dem Bildungsgrade der Nation, der sie angehören, nie den Lazzaronicharakter verleugnend«.657 Einen aktuellen und expliziten Rückgriff auf den marxistischen Begriff des Lumpenproletariats nimmt Peter Bescherer vor, etwa bei der Beschreibung der britischen riots, die in Stadtteilen, die von hoher Arbeitslosigkeit und niedrigem Lebensstandard geprägt sind, ihren Ausgang nahmen.658 Auch die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung verweist auf die Brisanz entsprechender Entwicklungen und stellt mit Berthold Vogel fest: »Prekarität und Prekariat sind Signalwörter neuer sozialer Ungleichheiten, deren Ausgangspunkte in den Veränderungen der Arbeitswelt liegen.«659 Öffentliche Aufmerksamkeit habe dieser Umstand im Herbst 2006 in der Sinus-Milieustudie gefunden. In diesem Forschungskontext wird das Prekariat beschrieben als: [D]ie Repräsentanten einer neuen Unterschicht der Abgehängten und Aussichtslosen. Sie können mit der Beschleunigung kapitalistischer Modernität nicht Schritt halten und sind wohlfahrts- und sozialpolitisch behandlungsbedürftige Modernisierungsverlierer. Der Zugang zu stabiler Beschäftigung ist ihnen verwehrt, sie verfügen über keine verwertbaren Bildungsabschlüsse, ihre Sozialbeziehungen sind nicht gefestigt oder entsprechen nicht den Vorstellungen der sie beobachtenden, versorgenden und regulierenden Mittelklasse.660
Subproletariat und Prekariat sind sicher nicht gleichzusetzen, scheinen sich jedoch konzeptuell anzunähern. Carlo Bordoni führt das aus italienischem Blickwinkel folgendermaßen zusammen: 656 Vgl. ebd., S. 9. 657 Vgl. ebd. In den Analysen seines Werkes geht Standing über die bisher gemachten Definitionen noch hinaus und differenziert sein Konzept von dem eines Prekariats in der Tradition des marx’schen Lumpenproletariats. Siehe zum Lumpenproletariat Karl Marx / Friedrich Engels: Werke. Bd. 7. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. 3. Aufl. Berlin: Dietz 1969, S. 26. 658 Vgl. Peter Bescherer : Vom Lumpenproletariat zur Unterschicht. Produktivistische Theorie und politische Praxis. Frankfurt am Main [u. a.]: Campus-Verl. 2013, S. 10. 659 Berthold Vogel: »Prekarität und Prekariat. Signalwörter neuer sozialer Ungleichheiten«, APuZ 33/34 (2008), S. 12–18, hier besonders S. 13. 660 Ebd., S. 14.
(Anti-)Helden: ›Sympathieträger‹ in der Tradition des Lumpenproletariats
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All’insicurezza sociale, alla disoccupazione giovanile, al precariato come modalit/ di lavoro permanente (a contratto, a progetto, a termine, a chiamata) si aggiungono l’inflazione e l’aumento del costo della vita: tutte condizioni che contribuiscono a sgretolare la saldezza, l’autorevolezza sociale della vecchia classe operaia, a stravolgerne la configurazione originale, fino a scardinarla, a dissolverla sempre piF, spingendone frange consistenti verso la condizione di un sottoproletariato, che non H disposto a riconoscere i valori del precedente contratto sociale. Che non H piF disposto a riconoscersi nello stato.661
In jedem Fall scheint festzustehen, dass man sich im Zuge des aufkommenden Prekariats ähnlichen Problemen um Gesellschaftsstrukturen und deren Lösungen stellen muss wie in Zeiten des Proletariats und Subproletariats.662 Die Nachfolge des Proletariats und Lumpenproletariats in Form einer als Prekariat bezeichneten neuen Unterschicht erobert Europa, okkupiert soziologische Studien, findet Umsetzung auf der literarischen Bühne und an dieser Stelle Ausdruck in Ammanitis Figuren. Mitnichten jedoch sind Ammanitis ›Anti‹helden lediglich unsympathische, nichtsnutzige Verlierer. Ähnlich wie seinerzeit Pasolini dem Subproletariat zugeneigt war, ›mag‹ Ammaniti seine randständigen Charaktere aus dieser ›neuen Klasse‹ des Prekariats und schafft es, den auf den ersten Blick schrullig-komischen Figuren Tiefe zu geben und so ihre Funktion als literarische ›Weltvermittler‹ zu legitimieren und zu stärken. Auch Calvino wendet sich in seinem Frühwerk, im Roman Il sentiero dei nidi di ragno, neben der Resistenza diesen Bereichen zu, er fokussiert »fast ausnahmslos proletarische[s] bzw. lumpenproletarische[s] Personal«663 und formuliert die positive Hinwendung zu diesen randständigen Figuren im nachgeschobenen Vorwort seines Erstlings.664 Zudem erinnert die ins groteske gleitende Zeichnung Ammanitis seiner Protagonisten an Calvinos Benennung des Realismus im 20. Jahrhundert als Neo-Expressionismus. Im Hinblick auf diese vorgeführten, rezenten Entwicklungen in der Gesellschaft, die sich in der Literatur niederschlagen, soll Ammanitis Come Dio comanda im Rückgriff auf ausgewählte Aspekte in den Werken Pasolinis und Calvinos gelesen werden.
661 Carlo Bordoni: Libera multitudo: La demassificazione in una societ/ senza classi. Milano: FrancoAngeli 2008, S. 68. 662 Vgl. Vogel 2008, S. 17. 663 David Nelting: »Un gioco di specchi« – Unmittelbarkeit und Medialisierung in der Erzählpoetik des frühen Italo Calvino (Il sentiero die nidi di ragno)«, GRM 60 (2010), S. 203– 220, hier S. 209. 664 »E io vi scrivo una storia di partigiani in cui nessuno H eroe, nessuno ha coscienza di classe. Il mondo delle ›lingHre‹, vi rappresento, il lunpen-[sic]proletariat! (Concetto nuovo, per me allora; e mi pareva una gran scoperta. Non sapevo che era stato e avrebbe continuato a essere il terreno piF facile per la narrativa). E sar/ l’opera piF positiva, piF rivoluzionaria di tutte!« Calvino 1993, S. XIV.
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4.4.1 ›Anarchische Christusfiguren‹ – das Prekariat als Fortschreibung von Pasolinis Subproletariat La nostra speranza H ugualmente ossessa: estetizzante, in me, in essi anarchica. Al raffinato e al sottoproletariato spetta la stessa ordinazione gerarchica dei sentimenti: entrambi fuori dalla storia, in un mondo che non ha altri varchi che verso il sesso e il cuore, altra profondit/ che nei sensi. In cui la gioia H gioia, il dolore dolore.665
Pasolinis literarisches (und filmisches) Werk ist mindestens ebenso vielfältig wie das Ammanitis, nur dass dieser einen tendenziell gegenläufigen Weg beschritten hat. Während Ammanitis Schaffen aus einem ästhetisierenden Schockmoment der Cannibali geboren ist und sich nach und nach in Tendenzen eines neuen Realismus einschreibt, sind Pasolinis literarische Anfänge – vor allem in der Prosa – in den noch deutlich spürbaren Ausläufern des Neorealismus zu finden, bevor es zu einer zunehmenden Stilisierung und Ästhetisierung seines literarischen wie filmischen Œuvre kommt. Das kritische Moment gegenüber dem (in seinen Augen fortgeführten) Faschismus666 und Kapitalismus sowie seine Vorliebe für emarginierte Figuren bleiben jedoch erhalten. Die Protagonisten aus den Romanen Ragazzi di vita und Una vita violenta etwa entstammen den Slums am römischen Stadtrand. Es sind Straßenjungen, die stehlen, sich prostituieren und Exzessen hingeben. Ständig bewegen sie sich am Rande der Kriminalität, werden jedoch von ihrem Autor nie als Kriminelle oder Asoziale kategorisiert oder beschrieben. Das pasolinianische Subproletariat ähnele – so Myriam Swennen – den Vinti Vergas; die Figuren sind »condannati a rimanere imprigionati nel loro isolamento«.667 Die Ragazzi di vita reflektieren die Armut sowie die ›komplizierte Einfachheit‹ ihrer Protagonisten.668 Die Kritik reagierte gespalten auf die Darstellungen dieser ins Positive gewendeten Negativfiguren: Sie zeigten einen morbiden Geschmack des Schmutzes, des Gemeinen, des Trüben, die Romane hätten ein ›schwarzes Herz‹; zum anderen aber wurden sie als unerschrockene Liebeserklärung an die borgate gelesen.669 Eine ähnliche Haltung seinen Figuren gegenüber ist Ammaniti zu unterstellen, der seine arbeitslosen, ständig betrunkenen Antihelden zu Figuren der Identifikation macht. Auch die Situierung der Charaktere Ammanitis weist 665 Pier Paolo Pasolini: La religione del mio tempo. Milano: Garzanti 1976, S. 46. 666 Pasolini sieht die Fortführung des Faschismus in der diesen eigentlich ablösenden Politik der Nachkriegszeit und kommentiert das zum Beispiel in den Lettere luterane: »Niente era in realt/ cambiato – attraverso tutti gli anni Cinquanta – di cik che aveva caratterizzato l’Italia negli anni Quaranta e prima. La continuit/ tra il Regime fascista e il Regime democristiano era ancora perfetta.« Vgl. Pier Paolo Pasolini: Lettere luterane. Torino: Einaudi 1976, S. 152. 667 Vgl. Swennen 1983, S. 37. 668 Ebd. 669 Patti 2013, S. 96.
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eine gewisse Similarität zur Beschreibung der Örtlichkeiten bei Pasolini auf. Außerhalb der Stadt oder an deren Rand liegende Orte werden bevorzugt, Flüsse (Tevere und Aniene in den Ragazzi di vita, Forgese in Come Dio comanda) spielen eine große Rolle und sowohl die Ragazzi di vita wie auch Come Dio comanda öffnen mehr oder minder mit dem Blick auf eine Fabrik: der berühmt gewordene Ferrobedk bei Pasolini und die Möbelfabrik Castardins bei Ammaniti. In beiden Fällen ist die im Hintergrund aufgeführte Fabrik mehr als reine Kulisse, beide Autoren widmen diesem Ort ihr Romanincipit.670 Bei Pasolini erscheint die beschädigte und zweckentfremdete Fabrik zum einen als realistische Reminiszenz an den soeben überstandenen Krieg und die Reste einer zerstörten industriellen Produktion, steht aber auch symbolisch dafür, dass der Aufschwung der Zeit den Protagonisten Pasolinis nichts zu geben hat.671 Wie ein Mahnmal bleibt die Fabrik in ihrer Symbolik stets im Hintergrund des Romans. Dieses Bild wird unterstützt durch die Beschreibung der Neubauten, die, noch nicht fertig, schon wie Ruinen wirken.672 In den Augen des Autors bleibt die Misere der borgate und des sottoproletariato bestehen, beziehungsweise sie reproduziert sich trotz der vielen, durch staatliche Organisation neu gebauten und restaurierten Wohnungen.673 Pasolini misstraut dem generell positiv empfundenen Aufschwung und schreibt seinem Werk stets eine Kapitalismuskritik ein. Auch bei Ammaniti ist die im Incipit eingeführte Fabrik, deren Motto »Il meglio a meno«674 ist und die damit im Zeichen der Konsumgesellschaft und des Werteverfalls steht, Symbol der verlorenen Hoffnung, vor allem aber auch Projektionsfläche der Wut über die Umstände, in denen Rino Zena und seine Freunde leben. Während Rino seinen Sohn Cristiano schickt, den bellenden Hund des Fabrikbesitzers Castardin zu erschießen, versinkt er selbst, nachdem er den zuvor über die Maßen konsumierten Alkohol erbrochen hat, in Erinnerungen, die die Umgebung vor dem Fabrikbau in ländlicher Idylle evozieren.675 670 Bei Pasolini ist die Fabrik sogar titelgebend, in künstlich romanischem Jargon wird das erste Kapitel mit »Il Ferrobedk« überschrieben. Vgl. Pier Paolo Pasolini: Ragazzi di vita. Milano: Garzanti 2012, S. 15. 671 Die gegen Ende des Romans sanierte Fabrik scheint dem Protagonisten Ricetto nur noch fremd. Vgl. Pasolini 2012, S. 215. 672 »case non ancora finite e gi/ in rovina«, Pasolini 2012, S. 16. 673 Vgl. Paola Bonifazio: »La bestemmia del lavoro: le borgate e il sottoproletariato scritti e diretti da Pier Paolo Pasolini«, In: Ben Lawton / Maura Bergonzoni [Hg.]: Pier Paolo Pasolini. Living Memory. Washington D. C.: New Academia Publishing 2009, S. 49–68, hier S. 54. 674 Vgl. Ammaniti 2010, S. 22. 675 »Mentre stava l' seduto e il gabinetto aveva preso a girare come una lavatrice, si ricordk che quando lui era piccolo del mobilificio di Castardin e di tutti gli altri capannoni non c’era nemmeno l’ombra. A quel tempo la statale era una stradaccia stretta, ai lati filari di pioppi ed erbacce, poco piF grande di una strada di campagna. Intorno c’erano solo campi coltivati.
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Das Fazit: eine die eigene Gegenwart kritisierende Nostalgie an eine Zeit, in der alles einfacher war ; der Ausdruck einer abgehängten Schicht: »Che bel periodo, quello! Tutto era cos' semplice. Era facile trovare un posto. Non c’erano tutte le leggi del cazzo sul lavoro e le prese per il culo dei sindacati. Se avevi il manico e la voglia lavoravi, se no fuori, aria. Fine delle alternative. Rispetto per chi se lo meritava.«676 Der Hund, der im Prolog durch sein Bellen Rinos Zorn auf sich gezogen hat und sterben muss, steht an dieser Stelle bereits als Vorbote der Geschichten der Protagonisten: Er ist in seiner schlichten, einfachen Kreatürlichkeit an ein System gebunden, von dem er sich nicht zu lösen vermag und befindet sich so in einer aussichtslosen Lage. Sein Bellen – vergleichbar mit Rinos wütendem Gezeter an vielen Stellen des Werks – ist aus der Not geboren, aus dem Gefangensein in seiner Situation, sein Tod die Folge der Ignoranz der ihm höher Gestellten. Weder kümmert es den Besitzer Castardin, dass er sich in seiner Kette verfangen hat, noch fragt Rino nach dem Grund für sein Bellen, bevor er ein Todesurteil über das Tier fällt. Cristiano stellt fest: »Ecco perch8 abbaia come un matto. […] Abbaia perch8 non riesce a muoversi. Potrei liberarlo e smetterebbe di abbaiare.«677 Aber auch der Junge untersteht bereits dem sein Leben regelnden System: seinem autoritären Vater. Während in Pasolinis Ragazzi di vita Neubauten bereits in ihrer Konstruktion als Ruinen erscheinen, die den Protagonisten genauso wenig Hoffnung versprechen wie auch die im Verlaufe sanierte Fabrik, bildet bei Ammaniti ein in den 90er Jahren errichtetes wahnhaft großes Einkaufszentrum in seiner ganzen Pracht den Kontrapunkt zur ärmlichen Peripherie. Weithin sichtbar dominiert es die Landschaft und überragt in seiner Höhe den Kirchturm des Markusdoms in Venedig.678 Durch diesen topischen Vergleich, der an Texte und Entwicklungen des sich industrialisierenden 19. Jahrhunderts erinnert, werden die kapitalistischen Höhepunkte und Auswüchse bildlich zum neuen Heiligtum erhoben und bekommen den Status eines neuen Mythos.679 Für Cristiano steht dieser Ort
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Non lontano da dove adesso sorgeva la loro casa c’era la trattoria Arcobaleno, una bettola dove si mangiava polenta e capretto e pesce del fiume. E proprio dove ora si trovava il mobilificio di Castardin c’era un vecchio casolare di quelli squadrati come caserme, con il tetto di tegole, una grande rimessa e l’aia piena di ocche e galline.« Ammaniti 2010, S. 18. Ebd., S. 19. Ebd., S. 23, [Hervorhebung im Original]. »Le quattro torri, agli angoli della costruzione, si vedevano, nei giorni buoni, da chilometri di distanza. Si diceva che superassero di mezzo metro il campanile del duomo di piazza San Marco a Venezia.« Ammaniti 2010, S. 131. Eine analoge Entwicklung, nämlich die Ablösung sakraler Bauten durch profane Wahrzeichen des Materiellen und des Konsums, entdecken Kritiker bereits in den Texten des 19. Jahrhunderts, etwa bei Zola. So weist Bernd Oei darauf hin, dass die Figur des Aristide beschrieben sei wie ein Priester, sein Kaufhaus wie eine Kathedrale. Das personifizierte Kaufhaus symbolisiere mit seiner Vertikalisierung die Gesellschaftspyramide, Warenfeti-
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der Ware und des Besitzes einerseits im Zeichen des Verlangens nach materiellen Dingen, die für ihn unerreichbar sind. Andererseits ist er für den Jungen auch Ort kritischer Reflexion und der Erkenntnis, dass diejenigen, die sich all das leisten können, nach dem Verlust des Materiellen weniger hätten als er selbst: »Se per esempio arriva un terremoto e gli porta via tutto, [il compagno di scuola] Tekken non sapr/ fare niente, sar/ disperato per essere povero e s’impiccher/ al primo albero. Io invece non perdo niente.«680 Trotz offensichtlicher Unterschiede, die – sicher nicht nur, aber auch – den verschiedenen zeitlichen Kontexten geschuldet sind, verbindet die beiden Autoren die den Texten immanente Kritik hinsichtlich des jeweils herrschenden Systems, das einen Teil der Bevölkerung abhängt, allgemein sowie hinsichtlich des Glaubens an den Wert des ›Modernen‹ und ›Neuen‹ im Zeichen materieller Mächte und des Konsums. Federico Sollazzo sieht vor allem darin eine herausragende Verbindung von Pasolinis Anthropologie der 60er und 70er Jahre zur heutigen Zeit: Der Autor habe für Italien ein Konzept eingeführt, das in der Gegenwart die gesamte westliche Zivilisation beträfe: den technischen Fortschritt, den Pasolini als tecno-fascismo bezeichnet habe.681 Pasolinis Kritik gegen die Moderne ist nicht – so Sollazzo – gegen zukünftige Entwicklungen im Allgemeinen gerichtet, sondern gegen die spezifische Entwicklung seiner Zeit. Ebenso richtet sich das nostalgische Moment nicht auf die Vergangenheit per se, sondern auf ein spezielles Menschenbild, das Pasolini verloren glaubt. Es geht nicht um einen temps perdu, sondern um einen homme perdu, einen Menschen, der seine Lebensfreude verliert und sie fälschlicherweise in einem im Dienste des schismus wird zum neuen, dominanten Götzen. Siehe ders.: Die Stunde des Fleisches. Die Milieutheorie Pmile Zolas am Beispiel der Rougon-Macquart. Berlin: elv 2016, S. 282. 680 Ammaniti 2010, S. 133. 681 Sollazzo führt in Bezug auf gegenwärtige Überlegungen aus: »Ripensare il mondo contemporaneo e lo scenario sociale in cui ci troviamo a vivere si pone quindi come un gesto ineludibile per chiunque si proponga di comprendere il presente, ed in questo, quello di Pasolini resta di sicuro un contributo fondamentale.« Federico Sollazzo: »Il nuovo tipo antropologico e il suo modello sociale«, In: Michela Zanarella / Lorenzo Spurio [Hg.]: Pier Paolo Pasolini. Il poeta civile delle borgate. A quaranta anni della sua morte. Roma: PoetiKanten Ed. 2016, S. 108–112, hier S. 111f. Pasolini sieht diesen im Nachklang der Zweiten industriellen Revolution (~1870–1880), die eine umfassende Bourgeoisisierung in allen kapitalistischen Ländern mit sich bringt. Während die Bedürfnisse der ersten Anzeichen des Kapitalismus noch den Grundbedürfnissen ähnlich gewesen seien, zeichneten sich die des neuen Kapitalismus jedoch als absolut unnötig und künstlich aus: »Ecco perch8 attraverso essi, il nuovo capitalismo non si limiterebbe a cambiare storicamente un tipo d’uomo: ma l’umanit/ stessa. Va aggiunto che il consumismo puk creare dei ›rapporti sociali‹ immodificabili, sia creando, nel caso peggiore un nuovo tecno-fascismo (che potrebbe comunque realizzarsi solo a patto di chiamarsi anti-fascismo); sia, com’H ormai piF probabile, creando come contesto alla propria ideologia edonistica, un contesto di falsa tolleranza e di falso laicismo: di falsa realizzazione, cioH, dei diritti civili.« Pasolini 1977, S. 191f.
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Konsumismus stehenden Hedonismus wiederfindet.682 Eine Analogie ist im Text Ammanitis durchaus ersichtlich. Im Romandyptichon Pasolinis stehen jedoch – genau wie in Ammanitis Io non ho paura und Ti prendo e ti porto via – vor allem Jugendliche im Zentrum. Die ragazzi Pasolinis, die in ursprünglicher Kreatürlichkeit ihr Leben leben, sind so lange als positive Figuren anzusehen, bis sie dieser Ursprünglichkeit entwachsen und das ›Paradies‹ damit verlieren. Auch bei Ammaniti haben Kinder und Jugendliche eine Sonderstellung. Allein sie dürfen auf eine positive Entwicklung hoffen. In Come Dio comanda verlässt nur Cristiano die ›Bühne‹ des Romans gesund, mit neu erwachender Hoffnung und mit wiedergewonnenem Vertrauen. Allerdings steht Ammaniti auch seinen erwachsenen Protagonisten – zumindest im vorliegenden Werk – grundsätzlich wohlgesinnt gegenüber, wenn diese auch auf ihrem Weg nur zu scheitern vermögen wie im vorherigen Kapitel anhand von Danilo und Quattro Formaggi vorgeführt. Der alleinige Rückgriff auf das Erzählwerk Pasolinis wird somit den Figuren Ammanitis nicht gerecht. Ein umfassenderes und ungleich spannenderes Bild ergibt sich mit Blick auf das frühe filmische Schaffen Pasolinis. Die ersten Filme (Accattone 1961 und Mamma Roma 1962) sind – so Thomas Bremer – »in der Tat eine visualisierte Fortsetzung der beiden Rom-Romane; beide spielen wiederum im Milieu des ›sottoproletariato‹ und sind Filme des sozialen Scheiterns«.683 Besonders der erste Film, der im mundartlichen Titel Accattone bereits den Gauner oder Bettler in den Mittelpunkt stellt, ist hierfür ein anschauliches Beispiel.684 Hier sieht man nur die, »die im Dunkeln stehen, kriechen oder vegetieren«, stellt Karsten Witte fest. Accattone sei ein Film, der sich »liebenden Blickes über die Leidensgenossen der subproletarischen Vorstädte beugt«.685 Denn diese »delinquenti« – so
682 Sollazzo 2016, S. 109f. Pasolini spricht von einer kapitalistischen Revolution, die er von einem anthropologischen Standpunkt aus sieht: »CioH per quanto riguarda la fondazione di una nuova ›Cultura‹ – pretende degli uomini privi di legami col passato (risparmio e moralismo): pretende che tali uomini vivano – dal punto di vista della qualit/ di vita, del comportamento e dei valori – in uno stato […] di imponderabilit/: cosa che permette loro di privilegiare, come solo atto esistenziale possibile, il consumo e la soddisfazione delle sue esigenze edonistiche.« Pier Paolo Pasolini: Lettere luterane. Torino: Einaudi 1977, S 78. Weiterhin formuliert Pasolini als größte ›Schuld‹ der vorangegangenen Generation (»padri«) den Glauben, dass »la storia non sia e non possa essere che la storia borghese«. Vgl. ebd., S. 12. 683 Thomas Bremer : »Pasolini, Pier Paolo«, In: Munzinger Online / KLfG – Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur, [LW]. 684 Das formuliert Pasolini selbst: »I personaggi di Accattone erano tutti ladri o magnaccia o rapinatori o gente che viveva alla giornata: si trattava di un film, insomma, sulla malavita.« Siehe ders.: 1977, S. 155. 685 Karsten Witte: Die Körper des Ketzers. Pier Paolo Pasolini. Berlin: Vorwerk 1998, S. 40.
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Pasolini – seien keine Monster, sondern das Produkt eines das Verbrechen begünstigenden Ambientes.686 Er kommentiert: Ma, in quanto autore, e in quanto cittadino italiano, io nel film non esprimevo affatto un giudizio negativo su quei personaggi della malavita: tutti i loro difetti mi sembravano difetti umani, perdonabili, oltre che, socialmente, perfettamente giustificabili. […] In sostanza sono personaggi enormemente simpatici.687
Accattone, der eigentlich Vittorio Cataldi heißt, ist ein Zuhälter, der seine Zeit meist mit sinnlosen Tätigkeiten in einer Gruppe Gleichgesinnter verbringt. Trotz Verletzung lässt er die in seinem Dienst stehende Prostituierte Maddalena arbeiten, die von einer konkurrierenden Gruppe verschleppt, brutal zusammengeschlagen und vergewaltigt wird. Stella, eine Frau, die nicht recht in die Verbrecherwelt passt, tritt in Accattones Leben und scheint zunächst Veränderung zu bringen. Als er jedoch erfährt, dass ihre Mutter Prostituierte war, schickt er auch sie auf den Strich. Im Kampf um ein besseres Leben versucht Accattone, sich zu ändern und einer festen Arbeit nachzugehen, scheitert jedoch. Zurück in der Kriminalität heuert er bei einer Diebesbande unter Führung Balillas an. Bei einem Beutezug werden sie jedoch entdeckt und verfolgt und bei einem Zusammenstoß zwischen dem von ihm gestohlenen Motorrad und einem Lastkraftwagen kommt Accattone am Straßenrand mit den Worten »Aaaah … Mo sto bene!«688 zu Tode, neben ihm Balilla, der mit gefesselten Händen ein Kreuz schlägt. Pasolinis Film fällt in die Umbruch- und Endphase des filmischen Neorealismus, dessen Elemente jedoch vielfach noch in die künstlerische Produktion der Zeit hineinwirken. So bleiben etwa die Originalschauplätze, der Einsatz von Laiendarstellern und die Verwendung des Soziolekts der dargestellten Bevölkerungsgruppe erhalten.689 Pasolini verwehrt sich dem künstlerischen Schaffen 686 Pasolini 1977, S. 15. 687 Ebd., S. 155f. 688 Zitiert nach der schriftlichen Version des Accattone in Pier Paolo Pasolini: Al' dagli occhi azzurri. Milano: Garzanti 1976, S. 362. 689 Vgl. Birgit Wagner : »Film-Fiktionen, Genus-Fiktionen: zu Pasolinis Accatone«, In: Jochen Mecke / Volker Roloff [Hg.]: Kino-/(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur. Tübingen: Stauffenburg-Verl. 1999, S. 441–450, hier S. 441. Maurizio Viano postuliert: »Accattone picked up the realist trail where neorealism had left off.« Ders.: A certain Realism. Making Use of Pasolini’s Film Theory and Practice. Berkeley : Univ. of California Press 1993, S. 69. Das Ende der neorealistischen Epoche scheint aus Pasolinis Sicht weniger stilistisch als vielmehr politisch-kulturell begründet zu sein. Neorealismus ist für ihn Ausdruck des Widerstandes und der Wiederentdeckung Italiens, also mit Hoffnung verbunden. Diese zerbricht mit der Festigung des Establishments und der damit einhergehenden »Wiedereinsetzung von Bürokratie und Heuchelei«. Pier Paolo Pasolini / Jon Halliday : Pasolini über Pasolini. Pasolini im Gespräch mit Jon Halliday. Wien [u. a.]: Folio 1995, S. 49.
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naturalistischer Art: Nicht dokumentarische Wiedergabe und Realitätseffekte stehen für ihn im Vordergrund, sondern ein Realismus, der auf Geschichten individueller Leidenschaften in einem soziologisch bestimmbaren Milieu abzielt.690 Der Zuhälter und Bettler Accattone scheint auf den ersten Blick ebenso wenig geeignet eine positive Figur darzustellen wie der ärmliche Säufer und sich durch neonazistisches Gedankengut gegen die Umstände seiner Zeit auflehnende Rino Zena. Auch ihm und seinen Freunden – wie Accattone und seiner Gruppe – gelingt es nicht, fest in der Arbeitswelt Fuß zu fassen: Alle drei haben nur wochenweise Arbeit in der Euroedil, einer Firma, die in den 90er Jahren noch prosperiert, um die Jahrtausendwende jedoch kaum mehr Arbeiter in Festanstellung hält. Für Ammanitis Figuren bedeutet das: »Per il resto i tre si arrangiavano con quello che trovavano. Facevano piccoli trasporti. Svuotavano cantine e pozzi neri. Consegnavano piante per un vivaio. […] Erano sempre senza un soldo. E arrivavano a fatica a fine mese.«691 Während Pasolinis Helden jedoch weder in der Arbeitswelt Fuß fassen können, noch es ernsthaft zu wollen scheinen,692 steht Rinos Aufbegehren, wieder in Lohn und Brot zu kommen in Teilen des Romans klar im Fokus. So zeichnet sich in seiner Argumentation ein realistisch-kritisches Bild des gegenwärtigen Italiens mit seinen Problemen. Dass Ammanitis prekäre Helden im bessergestellten Norden leben, scheint in den Ausführungen die Heuchelei der offiziellen Zahlen und den teilweise menschenunwürdigen Arbeitsmarkt nur ironisch zur unterstreichen: Secondo una recente indagine Varrano e i paesi intorno erano una delle zone dell’Italia con il piF alto reddito pro capite. Grazie a una generazione di piccoli e medi imprenditori che aveva saputo sfruttare al meglio le risorse e il capitale umano della regione, la disoccupazione era praticamente inesistente.693
Das Thema der unrechtmäßigen Ausbeutung des Humankapitals und des generellen mangelnden Respekts gegenüber den einzelnen Individuen auf dem aktuellen Arbeitsmarkt findet Präzisierung in einem Gespräch zwischen Rino Zena und Max Marchetta, dem Junior-Chef der Euroedil, den Rino vergebens um eine Anstellung bittet: 690 Vgl. Wagner 1999, S. 441. Pasolini selbst gibt an: »Ich glaube an die Wirklichkeit, an Realismus, Naturalismus aber halte ich nicht aus.« Pasolini / Halliday 1995, S. 50. 691 Ammaniti 2010, S. 67. 692 Bonifazio postuliert: »In Accattone, i sottoproletari rifiutano proprio la disciplina del lavoro; anzi, l’unica giornata di lavoro trasforma Accattone da sfruttatore in ladro.« Dies. 2009, S. 59. Sie zitiert zudem Pasolini, der anmerkt, dass die Misere seiner Figuren soweit reiche, dass auch eine ehrliche Arbeit sie wohl nicht aus ihrer Situation herausholen würde. Vgl. ebd., S. 57f. 693 Vgl. Ammaniti 2010, S. 67.
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Rino sorrise: »Il mondo H fatto su misura per i mediocri. Tu sei bravo. Prendi gli schiavi negri e bastardi dell’Est e non gli paghi una lira. E quelli ci stanno. La fame H una brutta bestia. E gli operai che si sono rotto a schiena per questa ditta? In culo. Non si spreca nemmeno una telefonata. La verit/ H che non hai rispetto n8 per quei figli di cane che vengono a rubarci il pane di bocca n8 per noi e neanche per te stesso. Guardati, sei un pagliaccio… Un pagliaccio trasvestito da padrone. Io non ti spezzo le ossa solo per rispetto a tuo padre. Alla fine, vedi, H solo una questione di rispetto.«694
Diese Passage bringt außer dem einheimischen Prekariat noch die Italien mehr und mehr besiedelnden Immigranten aus Afrika und Albanien695 mit ins Tableau. Neben klischeehaften Vorwürfen, dass die Ausländer den Ansässigen die Arbeit wegnähmen – Ammaniti kümmert sich hier nicht um die political correctness der Sprache und legt seiner Figur Bezeichnungen wie »schiavi negri« und »bastardi dell’Est« in den Mund – wird zudem bemerkenswerterweise aus Sicht des Neonazis Rino an deren Situation und Würde erinnert. In der ersten Aussage, die Welt sei auf das Maß der Mittelmäßigen zugeschneidert, mag man in den »mediocri« eine moderne Form der borghesia vermuten, die dem prekären Personal gegenübergestellt wird. Der mediocre steht hier – wie bereits der borghese bei Pasolini – im Dienste eines ausschweifenden italienischen Kapitalismus mit amerikanischen Wurzeln.696 In der Zeichnung von Ammanitis Roman sowie Pasolinis Film werden jeweils in der Gesellschaft als inakzeptabel empfundene Konzepte (Bettelei und Zuhälterei, Neonazismus, Gewalt und Gaunertum) aus der Situation heraus in gewisser Weise nachvollzierbar gemacht beziehungsweise in ihrer Härte relativiert, indem sie Opferfiguren zugeordnet werden, die mehr an Werte wie Respekt und Menschenwürde zu glauben scheinen als die respektierte und respektable Mittel- und Oberschicht. Neben mimetischen, ludischen und entlarvenden Effekten mögen die Anspielungen auf die degenerierten, anarchistischen Christusfiguren in Ammanitis Text auch in dieser Hinsicht eine weitere Lesart zulassen, die erneut eine Brücke zu Pasolinis Film schlägt. Dessen filmisches Drama um den (Anti-)Helden Accattone aus der Welt des römischen sottoproletariato, der den Erlösungstod stirbt, gibt seinen Protagonisten nicht nur (teilweise biblisch) sprechende Namen,697 sondern ist zudem musikalisch von
694 Ebd., S. 78. 695 Die Nationalitäten werden nicht genannt, liegen jedoch durch die Bezeichnungen und Italiens geographische Situation nahe. 696 Ähnlich formuliert Isadora Cordazzo Pasolinis Unwillen gegen die »borghesia italiana, che H asservita al capitalismo selvaggio di ascendenza americana, che non consente la condivisione del benessere sociale agli individui classificati come ›non produttivi‹, quali i sottoproletari.« Vgl. dies.: Accattone di Pasolini. Dal testo al Film. Bologna: Pendragon 2008, S. 35. 697 Der am Ende ›besiegte‹ und doch ›erlöste‹ Accattone heißt eigentlich Vittorio (der Sieger),
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der Matthäuspassion Bachs unterlegt und ordnet dem profanen Thema eine gewisse Sakralität zu. Pasolini führt aus: In Accattone ho voluto rappresentare la degradazione e l’umile condizione umana di un personaggio che vive nel fango e nella polvere delle borgate di Roma. Io sentivo, sapevo, che dentro questa degradazione c’era qualcosa di sacro, qualcosa di religioso in senso vago e generale della parola, e allora questo aggettivo, ›sacro‹, l’ho aggiunto con la musica. Ho detto, cioH, che la degradazione di Accattone H, s', una degradazione in qualche modo sacra, e Bach mi H servito a far capire ai vasti pubblici queste mie intenzioni.698
Dass sowohl die Darstellung der Sakralität der Figuren als auch der ihnen eingeschriebene Katholizismus in Pasolinis Film – ähnlich wie in Ammanitis Roman – kein im konservativen Sinne ernst zu nehmender ist, sondern nur entleertes Zeichen eines mythisch-folkloristischen Schutzgestus, macht Pasolini in einem Kommentar zur Abschlussszene Accattones noch einmal ausdrücklich klar : Dem Katholizismus in Accattone haften noch vorbürgerliche, vorindustrielle und daher mythische Züge an, die nur für das Volk charakteristisch sind. Wahrscheinlich ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß die Bekreuzigung am Ende nicht korrekt ist: statt zuerst die linke und dann die rechte Schulter zu berühren, greifen sie sich zuerst an die rechte und dann an die linke […]. Das Zeichen, das sie da machen, hat nicht einmal mit dem Christentum etwas zu tun. Es ist nur ein vage religiöses Zeichen des Schutzes, aber keinesfalls katholisch im orthodoxen – und daher bürgerlichen – Sinn.699
Diese Brechung der Stilebenen durch Mischung (scheinbar) sakraler, tragischer Themen und dem subproletarischen beziehungsweise prekären Personal erinnert an die Theorien Auerbachs, der den europäischen Realismus in eben jenem Mechanismus begründet sieht: in der Ansiedlung erhabener Geschehnisse im Alltag kleinem und kleinstem Personals.700 Thomas Brenner formuliert – auch mit Blick auf das generell weitreichende Interesse Pasolinis an Bibelverfilmungen: »Auch Christus ist eine Figur des ›sottoproletariato‹. Er lebt inmitten des Volkes, auch er scheitert im bürgerlich-sozialen Sinne, auch er muß leiden.«701 In dieser überhöhenden Darstellungsweise menschlichen Unglücks in der jeweils aktuellen Gesellschaftsform kann man mit Hans Dieter Roos nicht nur Pasolini, sondern auch Ammaniti in Come Dio comanda als »Seismograph des Elends«
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die in seinem Dienst stehende Prostituierte Maddalena (Maria-Magdalena) und die begehrte Frau Stella gemahnt, dass es nichts bringt, nach den Sternen zu greifen. Pier Paolo Pasolini in Glauco Pellegrini: »Colonna sonora – Viaggio attraverso il cinema italiano«, Bianco e nero XXVIII/3–4, (1967), S. 18–53, hier S. 22. Pasolini / Halliday 1995, S. 55. Vgl. Auerbach 1994, Kap. 2, S. 44ff. Bremer, [LW].
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bezeichnen,702 der sich mithilfe eines kritisch-ästhetischen Realismus ausdrückt.
4.4.2 Das isolierte Kind in der Welt der Erwachsenen: Cristiano in der Tradition des Pin Wenn auch die Blickführung in Come Dio comanda heterogen ist, so öffnet und schließt der Roman doch mit dem Fokus auf eine Figur, nämlich Cristiano. Der kindliche Blick auf die dargestellte Welt bekommt einen besonderen Stellenwert. Mit dieser stilistischen Wahl steht Ammaniti um die Jahrtausendwende nicht allein. Alberto Rollo attestiert der italienischen Literatur dieser Zeit ein verstärktes Aufkommen des »bambino cattivo«, wie er es nennt, einer »figura del minore come portatore del male (e del malessere)«.703 Rollo sieht diese Figuren in der Tradition Dickens’, Dostoevskijs oder Twains, im Nachklang Kings, McEwans und Irvings. Die Wahl kindlicher Protagonisten kennt man aber auch aus dem neorealistischen Film Italiens (De Sica) und aus den bereits angesprochenen Rom-Romanen Pasolinis sowie aus Italo Calvinos Erstlingswerk Il sentiero dei nidi di ragno. Die Funktionalität der jungen Protagonisten scheint vor allem in der natürlichen Vereinfachung einer komplexen Welt im Kinderblick zu liegen, wodurch widrige Umstände wie politische Ideologien in einer Art didaktischer Reduktion zum Ausdruck kommen. Gilles Deleuzes konstatiert etwa für das Kino: »[I]n der Welt der Erwachsenen ist nämlich das Kind von einer gewissen moralischen Unzulänglichkeit betroffen, die es aber um so befähigter macht, zu sehen und zu verstehen.«704 Besonders zwischen dem Protagonisten Calvinos, Pin, und der jugendlichen Leitfigur Ammanitis, Cristiano, scheint es – bei allen Unterschieden hinsichtlich des geschichtlichen Hintergrundes – einige erzähltechnische Parallelen zu geben, die zur jeweiligen Ästhetik der Realitätsdarstellung der beiden Autoren beitragen. In Calvinos Sentiero wird dem Leser die tägliche Welt der italienischen Resistenza im Zweiten Weltkrieg durch die Augen des Straßenjungens Pin zugänglich, der, mehr als ein aktiver Protagonist, Spielball der Geschehnisse zu sein scheint, die er selten umfassend begreift und dementsprechend wiedergibt. Ähnlich wie Pin reagiert auch Cristiano mehr auf die ihn umgebenden Ereignisse als dass er bewusst agierender Protagonist wäre. Am Plan des Banküber702 Hans Dieter Roos: »Seismograph des Elends«, In: Pier Paolo Pasolini. Dokumente zur Rezeption seiner Filme in der deutschsprachigen Filmkritik 1963. Berlin 1994, S. 32–34, hier S. 33. 703 Alberto Rollo: »Altre tirature. I cattivi bambini«, Tirature (2003). I nostri libri. Lettura d’oggi che vale la pena di fare, S. 75–80. 704 Gilles Deleuzes: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt am Main 1997, S. 14.
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falls etwa ist er nicht beteiligt, jedoch später gezwungen, in die ausufernden Ereignisse der schicksalhaften Nacht einzugreifen. In Bezug auf die Wahl des Blickpunktes in Calvinos Resistenza-Roman bemerkt Claudia Nocentini die »precisa volont/ autoriale di impostare il racconto da un punto di vista di estrema vulnerabilit/, quello della vittima innocente, o, dal punto di vista dello stato civile, di minori senza tutela«.705 Lucia Re führt mit Blick auf eine realistische Schreibweise aus: The choice of a boy as a focalizer also allows Calvino to ›let the events speak for themselves‹, thus avoiding any explicit reference to the bitter political and ideological controversy about the Resistance which took place in Italy while Calvino was writing his novel. In selecting Pin as a focalizer, Calvino consciously chooses to bracket as much as possible the historical and ideological framework that inevitably must orient the point of view of any ›adult‹ focalizer, opting instead for the perspective of a fictional Everyman, a character whose constitutive naivet8 makes him almost the lowest common denominator among all possible perspectives on the Resistance. […] Pin’s experience of the world and of the Resistance is represented in The Path as taking place (as far as possible) at the level of immediate phenomenal perceptions of objects, people, and space itself, which Pin seeks to organize into a comprehensive and comprehensible whole.706
Während Calvino Pins Perspektive durch den gesamten Roman – mit Ausnahme von Kapitel IX – durchhält, gibt Ammaniti seinen erwachsenen Protagonisten vergleichsweise viel Raum. Eine möglichst breite und direkte Wahrnehmung der Geschehnisse wird bereits durch die dramatischen Elemente sowie die Vielzahl der Stimmen im Text erreicht.707 Trotzdem hat Cristianos Blick durch die exponierte Stellung zu Beginn und am Ende des Romans durchaus Gewicht und so ist ein weiterer Mehrwert in der Fokussierung der Figur zu vermuten. In Bezug auf Calvinos Pin bemerkt Nelting (ähnlich wie Nocentini) im Weiteren nicht nur die kindliche Naivität, sondern auch Faktoren, die auf Emotion abzielen: Es geht also um die historische Zeit der Resistenza, die aus der unvoreingenommenen Froschperspektive des Kindes in den Blick genommen wird. Die Perspektive des Kindes dient dabei dazu, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft als unmenschliche offesa und das antifaschistische Engagement als existenzielle Aufgabe evident zu machen, wenn Pin von einem deutschen Offizier im Verhör gequält wird und dabei – durch das körperliche und mentale Machtgefälle zwischen Offizier und Kind wirkungsästhetisch besonders emotionalisierend – eine hoffnungslose »voglia di carezze« empfindet.708 705 Claudia Nocentini: »L’ottica infantile sulla guerra e sulla violenza«, Cahier d’8tudes italiennes. Images litt8raires de la soci8t8 contemporaine 3 (2005), S. 23–28, hier S. 23. 706 Lucia Re: Calvino and the Age of Neorealism: Fables of Estrangement. Stanford / Calif.: Stanford Univ. Pr. 1990, S. 178. 707 Vgl. Kapitel 4.2.1 der vorliegenden Arbeit. 708 Nelting 2010, S. 208.
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Um diesen emotionalisierenden Effekt zu erreichen, muss der jugendliche Protagonist gewisse Charakteristika aufweisen. Die ragazzi Pasolinis bewegen sich in einer Gruppe Gleicher, sie bilden ein Kollektiv, das zumindest zeitweise eine gewisse innere Stabilität mit sich bringt. Pin und Cristiano hingegen werden jeweils als Einzelgänger konzipiert, die keinen Anschluss an Gleichaltrige finden und sich so zwangsläufig näher an die sie umgebenden Erwachsenen anschließen, an deren Welt sie dennoch nur bedingt teilhaben können. Gekoppelt ist diese Isolation der Jungen an ein defizitäres und auffälliges Äußeres, das die Außenseiterrolle mitverantwortet und verstärkt. So wird Pin folgendermaßen beschrieben: Pin ha una voce rauca da bambino vecchio: dice ogni battuta a bassa voce, serio, poi a tutt’a un tratto sbotta in una risata in i che sembra un fischio e le lentiggini rosse e nere gli si affollano intorno agli occhi come un volo di vespe. Si avrebbe voglia d’andare con una banda di compagni, allora, compagni cui spiegare il posto dove fanno il nido i ragni, o con cui fare battaglie con le canne, nel fossato. Ma i ragazzi non vogliono bene a Pin: H l’amico dei grandi, […]. Pin alle volte vorrebbe mettersi coi ragazzi della sua et/, […]. Ma i ragazzi lo lasciano a parte, e a un certo punto si mettono a picchiarlo; perch8 Pin ha due braccine smilze smilze ed H piF debole di tutti. E Pin non resta che rifugiarsi nel mondo dei grandi, dei grandi che pure gli voltano la schiena, dei grandi che pure sono incomprensibili e distanti per lui come per gli altri ragazzi, ma che sono piF facili da prendere in giro […].709
Vor allem die Emarginierung durch das im Äußeren des Charakters bereits angelegte Schwächliche findet sich auch in der Beschreibung Cristianos, in der man sich an Ammanitis Affinität zum Comic erinnert fühlt: Cristiano era un ragazzino esile, alto per i suoi tredici anni, con i polsi e le caviglie sottili, le mani lunghe e scheletriche e il quarantaquattro ai piedi. In testa gli cresceva un cespo ingarbugliato di capelli biondicci che non riuscivano a nascondere le orecchie a sventola e che proseguivano sulle guance con due basette poco curate. Gli occhi grandi e azzurri divisi da un nasino piccolo e all’insF, e una bocca troppo larga per quel viso smilzo.710
Auch Cristiano findet bei seinen Klassenkameraden keinen Anschluss. Die Mädchen Fabiana und Esmeralda, die er begehrt, nehmen ihn nicht ernst, deren Freund Tekken verprügelt ihn, nachdem Cristiano ihm in einem Anfall von Eifersucht sein Motorrad beschädigt hat.711 Nicht nur Cristianos körperliche Unterlegenheit und das zweifelhafte familiäre Umfeld, auch die fehlende tech709 Calvino 1993, S. 4, 8f., 9. 710 Ammaniti 2010, S. 11. 711 Vgl. ebd., S. 141ff.
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nische Ausstattung grenzen ihn von den Gleichaltrigen ab: »Se avesse avuto il telefonino… ð l’unico in classe a non possederlo.« und: »A lui che non aveva una lira lo prendevano [le ragazze] solo per il culo.«712 Cristianos Wut beim Besuch des Einkaufszentrums spiegelt die Kritik an einer auf Ungleichheit und Materialismus ausgelegten Welt wider : »Odiava quel posto. Quella gente. Quelle vetrine piene di roba inutile che lui non poteva comprare.«713 Bis zum Ende der Erzählung bleibt Cristiano ein Außenseiter. Der ihm zugeteilte Sozialarbeiter Beppe Trecca beobachtet ihn bei der Beerdigung Fabianas und stellt fest: »Aveva lasciato Cristiano con i suoi compagni e ora vedeva la sua testa bionda spuntare tra quelle degli altri. Sembrava un alieno, l' in mezzo.«714 Beide Figuren, Pin und Cristiano, werden jedoch nicht nur aus der Welt Gleichaltriger ausgeschlossen, gleichermaßen werden sie von den sie umgebenden Erwachsenen enttäuscht. So findet etwa Pins Auftrag, eine Pistole zu stehlen, nach seiner Umsetzung keinen Beifall mehr. Die Tat, die dem Jungen die Aufmerksamkeit und das Wohlgefallen der ihn umgebenden Erwachsenen hätte einbringen sollen, wird zur Enttäuschung: »Non H come Pin avrebbe voluto, perch8 importa loro tanto poco, adesso?«715 Ebenso verliert sich Cristianos Enthusiasmus, dem Vater von der auftragsgemäßen Erschießung des Hundes zu berichten; auch er erlebt Nichtbeachtung statt Würdigung: »Cristiano tornk a casa e corse da suo padre per raccontargli come lo aveva fatto secco al primo colpo, ma Rino era allungato sul letto e dormiva.«716 Und so stehen Pin und Cristiano »im doppelten Sinne außerhalb«: durch eine marode Familie (Pin bleibt nur die sich prostituierende Schwester, Cristiano sein unausgeglichener, trinkender Vater) und durch Verhaltensweisen, die sie »von Gleichaltrigen wie von Erwachsenen gleichermaßen« trennen.717 Erst durch diese Isolierung komplettieren sich die tatsächliche Distanz zu den jeweiligen Geschehnissen, die den Effekt der Unmittelbarkeit und der Objektivierbarkeit ausmacht, und die Rolle des Sympathieträgers. Diese weitläufige Abschottung der jungen Protagonisten macht umfassend reflektierte Erklärungsmuster aktueller Geschehnisse unwahrscheinlich. Die erst relativ kurze Lebenserfahrung lässt das Erlebte als allgemeingültig dastehen. So ist etwa der Krieg für Pin etwas ganz Normales, auch wenn er die zugehörigen Theorien nicht versteht:
712 713 714 715 716 717
Ebd., S. 86 und S. 141. Ebd. Ebd., S. 467. Vgl. Calvino 1993, S. 21. Ammaniti 2010, S. 26. Kristin Reichel: L’uomo completo. Anthropologie und Gesellschaft in Poetik und Praxis von Calvino. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 86.
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A un certo punto cominciano i discorsi sulla guerra, su quando H cominciata e su chi l’ha voluta, e su quando finir/ e se si star/ meglio o peggio di prima. Pin non sa bene la differenza tra quando c’H la guerra e quando non c’H. Da quando H nato gli sembra d’aver sentito parlare sempre della guerra, soltanto i bombardamenti e i coprifuochi sono venuti dopo.718
Für Calvinos Protagonisten ist die von ihm gelebte Welt zwar nicht immer erstrebenswert und doch scheint das Modell das ihm einzig zukunftsträchtige zu sein, auch er sieht sich als Partisan, dem kindlichen Inbegriff eines Helden: »Pin far/ il partigiano per conto suo, con la sua pistola, […]. Pin far/ cose meravigliose, sempre da solo, uccider/ un ufficiale, un capitano: il capitano di sua sorella cagna e spia.«719 So wie Pin in den Krieg, so ist Cristiano in die verzerrte Welt seines Vaters und die seiner Freunde hineingewachsen und übernimmt deren verquere Weltansichten, ohne den Gehalt jedoch tatsächlich zu durchdringen. Das zeigen etwa die geschichtlichen Abrisse zum deutschen Nazismus, die Cristiano in einem Schulaufsatz reproduziert: »Lui era un esperto del nazismo. Suo padre gliene parlava tutti i giorni.«720 Es ist vor allem die Leichtigkeit, mit der der Junge das geschichtliche Thema referiert, die ins Auge sticht (»Era come se avesse aperto un rubinetto e le parole erano sgorgate fuori«).721 Cristiano präsentiert Halbwissen vom Aufstieg Hitlers, der den überlegenen, aber führerlosen Ariern zu ihrem Recht verholfen und dafür einen Platz in der Geschichte wichtiger Männer noch über Napoleon verdient habe, und zieht zeitgenössische Parallelen, in denen die Italiener, cäsarischen Römern gleich, einen vorrangigen Status vor Ausländern und Schwarzen einnehmen sollten.722 Zum Ausdruck kommt an dieser Stelle nicht schlicht die Ideologie durch Kinderaugen, sondern vor allem die Art und Möglichkeit ihrer Verbreitung in aktuellen problembeladenen Gesellschaftsschichten. Denn der Junge ist nicht nur der Indoktrination seines Vaters und dessen Freunden ausgesetzt, auch das Lehrerkollegium hat seine Integration und damit eine vom häuslichen Umfeld unabhängige Bildung aufgegeben, nachdem Cristiano signalisiert, kein Interesse an einem weiterführenden Schulbesuch zu haben. Vielmehr sei der Plan, mit dem Vater gemeinsam zu arbeiten: »Da quel giorno, come per magia, era improvvisamente diventato invisibile […]. Ora i bastardi lo interrogavano raramente e se non andava a scuola, amen. La X che lui aveva segnato su quel foglio, loro gliela avevano segnato sulla fronte.«723 In die Kritik gerät in Ammanitis Roman somit nicht nur eine vom Staat abgehängte Arbei718 719 720 721 722 723
Calvino 1993, S. 97. Ebd., S. 151. Ammaniti 2010, S. 66. Ebd., S. 81. Vgl. ebd., S. 80f. Ebd., S. 64f.
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terschicht, sondern auch die zu kurz greifende Bildungspolitik, die sich mit ›Problemfällen‹ nicht ausreichend auseinanderzusetzen weiß. Die Isolierung der beiden Jungen schreitet in den Romanen jeweils fort, die Einsamkeit wird zunehmend stärker empfunden. Pin, der stets nur ein Anhängsel der Partisanengruppe bleibt, stellt fest: »Non c’H piF che la solitudine, per lui«.724 Nachdem der Junge herausfindet, dass seine Schwester, la Nera, zum Feind übergelaufen ist, steigert sich seine Einsamkeit erneut: »H solo al mondo, sempre piF solo. […] Pin cammina piangendo per i beudi. […] Non c’H nessuno che gli venga incontro.«725 Der einzige, der Pin bleibt, ist die Figur des Cugino, der Partisan, der seine Schwester getötet hat. Nicht für den Jungen, aber für den Leser offensichtlich, thematisiert der Sentiero an seinem Ende das ›Falsche‹ in der Welt, das sich hinter dem schönen Schein verbirgt. Il Cugino, der unter dem Vorwand, weiblicher Dienste zu bedürfen, nach der Schwester Pins gefragt hat, kehrt angeblich unverrichteter Dinge zurück, nachdem er selbige mit der von Pin gestohlenen Pistole für ihren Verrat umgebracht hat. Pin, dem der Überblick über die Geschehnisse fehlt, freut sich über die Rückkehr des Partisanenfreundes.726 In der symbolträchtigen Betrachtung der Glühwürmchen sieht und formuliert das Kind jedoch eine hässliche Realität unter dem schönen Schein: – C’H pieno di lucciole, – dice il Cugino – A vederle da vicino, le lucciole, – dice Pin, – sono bestie schifose anche loro, rossicce. – Si, – dice il cugino, – ma viste cos' sono belle.727
In einer ähnlich verlassenen Situation befindet sich Cristiano nach dem Zusammenbruch und der Einlieferung seines Vaters. Die beiden einzigen Freunde aus der ihn umgebenden Gruppe Erwachsener sind aus für ihn unerfindlichen Gründen nicht erreichbar : »Compose per l’ennesima volta il numero di Danilo. Il cliente non era raggiungibile. Provk Quattro Formaggi. Anche il suo telefono era staccato.«728 Zusätzlich fühlt sich der Junge für den im Koma liegenden Vater verantwortlich: »›Pap/, ascoltami! Sono vicino a te. […] Sei in ospedale. […] Adesso stai riparando il tuo cervello perch8 hai avuto una cosa … Un emoraggio. Non ti devi preoccuppare. Al resto ho pensato io. […] Ho provato a chiamare Quattro formaggi e Danilo, ma non rispondono.‹«729 Nicht nur symbolisch, sondern klar reflektiert verbalisiert Cristiano die fingierte Freundlichkeit der ihn umgebenden Gesellschaft auf der Beerdigung Fabianas. Die Aufforderung des Sozialarbeiters Beppe Trecca dieser beizuwohnen, er würde von der Lehrerin 724 725 726 727 728 729
Calvino 1993, S. 149. Ebd., S. 155. Vgl. Calvino 1933, S. 156ff. Ebd., S. 159. Ammaniti 2010, S. 351. Ebd., S. 361.
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und seinen Freunden erwartet, löst bei dem Jungen, der lieber seinen Vater besuchen will, Unwillen und Wut aus: »Tanto per cominciare chi ti ha detto che Fabiana Ponticelli era una mia amica? La conoscevo appena. L’amicizia H un’altra cosa. E poi a quel funerale ci sar/ solo gente che sta l' a farsi vedere e a far vedere quanto sono buoni. A far finta di piangere. ð tutto finto. A nessuno frega un cazzo di Fabiana Ponticelli. Non lo capisci?« […] »Hai tuo padre che vegeta su un letto di un ospedale. Danilo che H morto per colpa dell’alcol schiantato contro un muro. Dovresti capire cosa vuol dire soffrire ed essere compassionevole. Lo sai cos’H la compassione? A sentirti parlare non sembra proprio che tu lo sappia. Odi tutti. Sei pieno di rabbia da scoppiare. Cristiano, ce l’hai un cuore?« »No. L’ho perso…« riusc' solo a dire.730
Die Passage entlarvt nicht nur eine egozentrisch und narzisstisch gewordene Gesellschaft der Äußerlichkeit, sondern vor allem auch das ihr zugrunde liegende, scheiternde System. Das ist aus dem Umstand zu schließen, dass Cristiano diese Diskussion mit dem durch den ganzen Roman hindurch eher schwächlich gezeichneten Sozialarbeiter führt, der einen nur unzulänglich funktionierenden Staat repräsentiert.731 Angesichts der Situation Cristianos wäre Unterstützung seitens des sozialen Systems zu erwarten, nicht nur Mitleid seinerseits einzufordern. Die Verzweiflung des jugendlichen Protagonisten findet in der Absage an das eigene Gefühl mit der Aussage des verlorenen Herzens umso stärkeren Ausdruck. Die Annahme einer nur fingiert freundlichen Welt bestätigt sich in Cristianos Wahrnehmung, als er auf den Besitzer der Möbelfabrik trifft, den von Rino Zena verhassten Castardin, der sein Beileid ausdrückt, ebenso wie die ihn zuvor abfällig betrachtende Lehrerin: »Ho saputo di tuo padre. Mi dispiace tantissimo. Come sta?« »Bene. Grazie.« […] Castardin urlava come se fosse dentro una discoteca di Riccione. »Bene. Bene. Allora appena si risveglia salutamelo, capito? Appena esce dal coma gli dici che il vecchio Castardin lo saluta tanto tanto.« Gli diede due buffetti sulla nuca. Cristiano si immagink che suo padre si risvegliava e gli dicevano che Castardin lo salutava tanto tanto. Come minimo sarebbe risprofondato nel coma per sempre. […] Si fece largo la professoressa d’Italiano, gli si avvicink, lo abbraccik forte e gli sussurrk in un orecchio: »Ho saputo di tuo padre. Mi dispiace tanto.« Le stesse parole di Castardin.732 730 Ebd., S. 459f. 731 Eine genauere Untersuchung der Funktion des Beppe Trecca als Repräsentant eines kränkelnden Staatswesens wäre wünschenswert, kann an dieser Stelle jedoch nicht vorgenommen werden. 732 Ebd., S. 464f., [Hervorhebung im Original].
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Der Verweis auf das Verhalten Castardins, das der Umgebung einer Diskothek, also einem Ort des Festes, nicht der Trauer, angemessen wäre, unterstreicht den Sachverhalt ebenso wie die in Cristianos Augen übertrieben scheinende Intimität seitens der Lehrerin. Wie zuvor der Sozialbeamte vertreten an dieser Stelle der Fabrikbesitzer und die Lehrerin das Establishment: die finanziell bessergestellte Schicht sowie die intellektuelle Elite des Landes. Ist der Sohn des prekären Arbeiters Rino Zena mit seinem unzureichenden Bildungsniveau und geringen Erfahrungsschatz auch nicht in der Lage, die verschrobenen Theorien seines Vaters zu reflektieren und geschichtlich wie politisch entsprechend einzuordnen, so ist seine noch kindliche Intuition jedoch umso besser geeignet, die in Floskeln erstarrte Haltung der Erwachsenen zu erspüren. Die bewusste Ablehnung der italienischen Fernsehwelt und damit der Entwicklung der Gesellschaft aus der Sicht des erwachsenen Rino Zena, der auf einen Vergleichswert zurückblicken kann,733 wird an dieser Stelle durch die kindlichen Eindrücke Cristianos ergänzt, die eine weitere Facette der Kritik in den Roman Ammanitis einbringen. Pin und Cristiano bewegen sich in völlig unterschiedlichen Kontexten, ihr Blickwinkel auf die jeweils erzählte Welt weist jedoch einige Parallelen auf, die in der Konstruktion der Figuren begründet liegen: einer sich stetig zuspitzenden Isolation sowohl von Gleichaltrigen wie auch von Erwachsenen. Somit wird allein die sie umgebende, zerbrochene oder zerbrechende Welt zum Reflexionspunkt. Die Weltwiedergabe im Spiegel kindlicher Protagonisten baut dabei auf relative Unverfälschtheit, da weniger komplexe Gedankengänge, die dem Leser suggeriert werden, als vornehmlich direkte Eindrücke und Gefühle, die ihn auf einer emotionalen Seite ansprechen, zum Instrument der Darstellung werden. Zudem sind die kindlichen Protagonisten im Gegensatz zu den älteren Charakteren der gegenwärtigen Welt weit mehr verbunden, da sie keinerlei Vergleichswerte aus der Vergangenheit mitbringen. Das durch sie Erzählte und Dargestellte bekommt dadurch eine Art ›So ist es‹-Stempel. Cristiano übersteigt dabei die in Calvinos Sentiero dei nidi di ragno erbrachte Reflexionsleistung Pins sichtlich, dennoch scheint er prototypisch in der Tradition dieses Erzählertyps zu stehen.
Zwischenfazit Niccolk Ammanitis literarische Anfänge sind eindeutig der Literatur des Pulp zuzuordnen, die in Italien vorrangig in der Gruppe der Cannibali repräsentiert ist. Das Schreiben der pulpisti charakterisiert den Markt der 90er Jahre und stellt 733 Vgl. dazu Kap. 4.2.2 der vorliegenden Arbeit.
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schwerpunktmäßig eine exzessbehaftete, gewalttätige Fernsehwelt dar. Häufig kommt eine vulgäre Umgangssprache in recht einfacher Syntax zum Einsatz. Den an Horror und Splatter gemahnenden Gewaltszenen ist in ihrer Funktion zunächst ein anästhesierendes Amüsement des Lesers zugrunde zu legen; weiterhin wohnt ihnen jedoch auch bereits ein nicht wegzuredendes realistisches Interesse an menschlichen ›Abgründen‹ sowie Kritikpotenzial hinsichtlich der gegenwärtigen Gesellschaft inne. In der Wendung von postmodernistischer Ironie zu pulpistischem Sarkasmus findet sich unterschwellig die Anlage einer neuen Schwere, die bereits eine ethische Wende ankündigt. Die vielen Anspielungen an Film, Comic oder Werbung sind nicht mehr in einem rein intermedialen Kontext zu sehen, der lediglich dem Selbstbezug huldigt, sondern haben ihrer umgebenden extratextuellen Welt entsprechend eine mimetische Komponente. Die Cannibali sind damit als Höhe-, vor allem aber Abschluss- und Wendepunkt der postmodernistischen Literatur zu sehen und markieren eine ähnliche Sattel- und Verbindungsstelle wie sie die Scapigliatura im 19. Jahrhundert innehatte, die zwischen romantisch-ästhetischem und realistischem Schreiben oszillierte. Ammanitis eigenes Werk unterliegt einem Paradigmenwechsel, der jedoch nicht endgültig ist. Schon recht früh kann seinen Texten mit Blick auf die gegenwärtige Gesellschaft ein hohes Reflexionsangebot an den Rezipienten unterstellt werden, das die auftretenden Versatzstücke des Pulp aus ihrer rein komisierenden Wirkung herauslöst. So etwa im als Manifest des italienischen Pulp bezeichneten Erzählband Fango. Während »L’ultimo capodanno dell’umanit/« in der überbordenden Reaktion seiner Figuren die Gesetze der Pulp-Ästhetik noch weitgehend einlöst und den zerstückelten Körper bewusst in Szene setzt, grenzt sich bereits »Rispetto« merklich ab und nähert sich stattdessen bekannten Erzählmustern des 19. Jahrhunderts an. Mit seinem Interesse an psychologischen Abgründen, der Darstellungsweise in relativer Kürze und Direktheit, einer detailreichen Schilderung und dem Modus innerer Zeugenschaft macht der Text – wie Verga in seiner Erzählung »Tentazione!« – den Leser zum Teilhaber und auf sich selbst gestellten Richter einer Gruppenvergewaltigung. Quantität und Qualität der Gewaltdarstellung werden auch zum Gradmesser der Veränderung in den Romanen Ti prendo e ti porto via und Io non ho paura. Zunehmend geht es um eine ›ernste‹ Darstellung von Gewalt, vornehmlich vermittelt durch den Blick der kindlichen Protagonisten Pietro und Michele. Komisierende Gewalt wird fast ausschließlich an die Welt der Erwachsenen geknüpft und erfährt auch dort häufig eine Abschwächung oder Neutralisierung. Der Anteil an Szenen, die im absurden Exzess enden und keine Rückführung in die ›Normalität‹ erfahren, wird spürbar gesenkt. Zunehmend werden Reflexion und Teilhabe seitens der Figuren wie des Lesers präsentiert beziehungsweise eingefordert. Auf stilistischer Ebene wird diese innere Reflexion der Protago-
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nisten durch eingeschobene Kursivierung hervorgehoben; an den Stellen mit der geringsten Distanz sind Erzählerrede und stream of consciousness der Figuren aufs Engste verwoben und lösen einander teils innerhalb eines Satzes ab. Auf inhaltlicher Ebene werden sowohl psycho-pathologische Themen um gescheiterte Existenzen diskutiert (Flora Palmieri und Pietro in Ti prendo e ti porto via) als auch die Aussichtslosigkeit einiger Landstriche im Süden, die zu wachsender Kriminalität führt besprochen (die Familie Micheles in Io non ho paura). Die nach wie vor vorhandenen Gewaltszenerien erfahren vor allem in ihrer Qualität ein Decrescendo und werden mehr und mehr zum Mittel literarischer Aneignung von Realität. In Come Dio comanda kommt ein Tableau des gegenwärtigen Nordens zur Darstellung, das ein Gesamtbild der Bevölkerung liefert, besonders jedoch den ›kleinen Mann‹ in den Fokus rückt, der den Wirren eines zunehmend schwierigeren Alltags im Land ausgesetzt ist. Der Autor bedient sich dabei im makrowie mikrostrukturellen Bereich bei Elementen des Dramas. So etwa ist der Roman im Dreiaktschema gebaut, hält sich an die drei Einheiten, die eine Überschaubarkeit von Ort, Zeit und Handlung verlangen und praktiziert durchgängig szenisches Erzählen. Dieses Vorgehen unterstreicht zwar einerseits den Konstruktcharakter des Werkes, andererseits bietet der dramatische Erzählmodus viele Effekte, die Authentizität fördern und Distanz verringern und damit direktes Erzählen in den Mittelpunkt stellen. Im Werk Ammanitis ist vor allem eine Art der Darstellung hervorzuheben, die man als narrative Stichomythie bezeichnen könnte, die in besonders dramatischen Situationen noch einmal als spannungssteigernder und distanzreduzierender Kunstgriff dient, etwa kurz vor dem Moment, in dem Rino Zena verunglückt und ins Koma fällt. Wie in den Vorgängerromanen kommt dabei die Innensicht der Figuren durch Kursivierung – gleichsam einer unausgesprochenen Leseanleitung – zur Darstellung. Durch die Einblendung der Innensicht sowie das Aufrufen weiterer Meinungen in Gedanken der im Fokus stehenden Figur, ergibt sich ein Kaleidoskop von Stimmen, das einen umfassenden Blick auf die Geschehnisse zulässt. Einerseits kennt man einige der dramatisierenden Kunstgriffe (etwa das szenische Erzählen in schnellem Wechsel) bereits aus dem pulpistischen Schreiben des Autors; andererseits ist durch den Einsatz dramatischer Erzählmuster eine generelle Rückbindung an das 19. Jahrhundert möglich, das bereits eine Dramatisierung des Epischen kannte. So arbeitet etwa auch Capuanas Giacinta mit einem dynamischen Romaneinstieg, der im Zeichen dramatisierenden und damit direkten Erzählens steht. Das Dreiaktschema nimmt zudem ein wichtiges inhaltliches Thema vorweg, nämlich die auf vielen Ebenen diskutierte Kontrollinstanz Gottes. Das ›Konzept‹ Gottes wie auch die Rolle der Medien sind im italienischen Alltagsleben eminent wichtig. Dementsprechend wird die Verarbeitung dieser
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Elemente nicht schwerpunktmäßig als Konterdiskurs zu realistischem Schreiben oder Marker postmodernistischer Verfahren gelesen, sondern auch in mimetischer Funktion. Gott taucht zum einen in entleerten verbalen Wendungen auf und gibt so die Umgangssprache wieder, die eine ursprüngliche Gläubigkeit nur noch in Gewohnheiten reflektiert. Zum anderen wird mit dem Konzept Gottes gespielt, indem der Gottvater in einer übergeordneten Instanz, aber auch in Rino Zena verkörpert ist; diese Ambiguität wird dadurch weitergeführt, dass im Laufe der Erzählung nicht wie erwartet Cristiano, sondern Rino zur Christusfigur wird. An einen helfenden Gott, dem Führung zugeschrieben wird, wenden sich die Figuren jeweils erst in einer Krisensituation. Im besonderen Maße demontiert wird das Gottesbild zugunsten rationaler Erklärungsmuster, indem sowohl die Genesung als auch die wirren Taten Quattro Formaggis als nicht wie zunächst alludiert gottgegeben und -geführt, sondern korrektiv als durch Medikamente und Krankheit beeinflusst ausgezeichnet werden. In direkter Juxtaposition neutralisieren Passagen mit Erklärungsmustern zuvor aufgeführte, phantastisch anmutende Zeilen. Dass gerade die offensichtlich geistig umnachtete Figur des Quattro Formaggi den Romantitel in invertierter Form im Haupttext wiedergibt, stärkt die Destruktion eines Gottesbildes, das rationaleren Erklärungsmustern weichen muss. Auch die Figur Danilos trägt in bezeichnender Weise zur Auflösung eines ernst zu nehmenden Gottes bei, indem dessen vermeintliche Taten und Hilfeleistungen als Zufall oder Schicksal markiert werden. Weniger steht also die evozierte Wundertätigkeit im Zentrum des Romans, als vielmehr eine logisch markierte Auflösung selbiger. Gottesbilder und ›Gotteseinfluss‹ bleiben als leere Hülle im Alltag und entsprechend mimetischer Effekt im Text vorhanden. In die Verantwortung genommen wird allein der Mensch in seinem Handeln. Auch die zunächst omnipräsent und allmächtig scheinenden Medien verlieren im Laufe des Romans ihre Aura. Ammaniti lässt – wie beim Gottesbild – jede Figur ihren eigenen Umgang mit den Medien entwickeln und darstellen. Von Rino Zena werden sie von vornherein dafür kritisiert, dass sie eine ›falsche Welt‹ vermitteln; im Fokus seiner Anklage steht eine von Verdummung befallene und Konsum geleitete Gesellschaft. Die Figur zeichnet eine Fernsehgeschichte des Niedergangs von Inhalten und Werten nach, die sich mit der im Land voranschreitenden Dekadenz deckt. Für seinen Sohn Cristiano ist die Medienlandschaft zunächst noch ein Pool des ›Wissens‹, aus dem er sich bedient, um Krisensituationen zu meistern, ein Vorgehen, das den Zorn des Vaters auf ihn lenkt. Die von den Cannibali implizierte Medienkritik tritt in Come Dio comanda offen zutage und beschreibt eine Alltagsrealität. Der unterschiedliche Umgang mit und die Verarbeitung des Medienkonsums werden besonders an der Bewertung des die Figuren verbindenden Films Dog Day Afternoon deutlich, dessen Rezeption auf Textebene zu drei verschiedenen
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Diskontinuierliches Erzählen bei Niccolò Ammaniti
Ergebnissen führt: Reflexion bei Rino Zena, Ablehnung bei Danilo und Desinteresse bei Quattro Formaggi. Medialer Konsum – so das Ergebnis der literarischen Interpretation – hat einen gewissen Einfluss auf die Lebenswelt, dieser steht aber immer in Abhängigkeit zum Reife- und Abstraktionsgrad des Konsumenten. Eine simulakrenhafte ›Medialisierung‹ der Welt findet beim psychopathologischen und physisch kranken Quattro Formaggi Umsetzung, der durch die Übernahme von Elementen aus seinem bevorzugten Pornofilms sowie dessen Weiterführung in der textuellen Realität die Katastrophe heraufbeschwört. Danilos Beeinflussung durch das Fernsehen wird im Kontext seiner Alkoholsucht erklärbar, wie auch die ganze Figur unter Anwendung des Konzepts des pirandellianischen Umorismo aus ihrer Absurdität und Groteske herausgelöst werden kann. Im Gesamtzusammenhang ist Danilo – wie auch Rino Zena und Quattro Formaggi – unter Berücksichtigung des sentimento di contrario als ernster und tragischer Charakter zu werten. Zwar schimmern im zunehmend realistischen Schreiben Ammanitis immer noch Elemente der PulpÄsthetik durch, doch stehen diese nicht mehr allein für sich und im Zeichen des anästhesierenden Vergnügens seitens des Lesers, sondern fungieren sogar als verstärkende Faktoren im Anliegen eine aus den Fugen geratene Welt zu erzählen. Besondere Schlagkraft erlangt dieses Vorgehen durch das Unterlaufen der Lesererwartung; der ›pulpige‹ Exzess wird nur angedeutet, ein entsprechendes Ende bleibt aus. Besonders Ammanitis Vorliebe für schräge Figuren, die dem ›Abschaum‹ der Gesellschaft entnommen sind, gemahnt zudem an realistische Vorläufer aus dem 20. Jahrhundert. Sowohl Pasolini als auch Calvino zeichneten in ihren Werken zu Zwecken der Gesellschaftsstudie bereits Charaktere aus dem Lumpenproletariat als ins positiv gewendete ›Anti‹helden. In der Nachfolge des sottoproletariato ist das Prekariat zu sehen, eine sich seit Ende des 20. Jahrhunderts neu herausbildende Unterschicht, der Ammanitis Figuren angehören. Bezüglich des gewählten Ambiente kann man Come Dio comanda an Pasolinis Rom-Romane rückkoppeln. Beide Autoren lassen durch ihre Kulissen (Fabrik, neue Hochhäuser und Einkaufszentren) Nostalgie an die Vergangenheit und Kapitalismuskritik einfließen. Während jedoch in Pasolinis Rom-Romanen nur Kinderprotagonisten zur Darstellung kommen, konzentriert sich sein filmisches Werk auf erwachsene Gauner. Im Rückgriff auf Accattone lassen sich Parallelen zu Come Dio comanda, aber auch interessante Abweichungen ausmachen. Pasolinis Figuren sind arbeitslos und zeigen kein Interesse an einem redlichen Brotverdienst. Ammaniti lässt seine Charaktere um einen Wiedereintritt in die Arbeitswelt kämpfen und dabei scheitern. Vor allem der Neonazi Rino Zena zeichnet dabei, ohne jegliche political correctness im Sprachgebrauch, ein Bild Italiens, in dem der ›mediocre‹, eine dem ›borghese‹ verwandte Figur, nicht nur das einheimische Prekariat, sondern auch die eingewanderten Billigarbeiter
Zwischenfazit
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ausnutzt. Im Schaffen beider Autoren werden inhaltlich jeweils von der Gesellschaft abgelehnte Verhaltensweisen durch eine Aufwertung der auf den ersten Blick negativen Figuren relativiert. Sowohl Film als auch Roman verwenden eine Folie pseudosakralen Katholizismus’, der die anarchischen Figuren zu Christusfiguren werden lässt, die als Opfer der Gesellschaft, die sie anklagen, scheitern müssen. Der Anschluss an Calvinos neorealistische Phase findet über die Sonderstellung Cristianos statt, dem sowohl Romanincipit wie -excipit gewidmet sind. Der beschränkte Kinderblick hat in erstaunlicher Weise die Fähigkeit zu ›sehen‹ und wahrzunehmen und bringt in seiner automatisch zustande kommenden Reduktion und Direktheit weitere interessante Komponenten in ein dem Realismus gewidmeten Werk ein. Die Wichtigkeit und Funktion der Kinderprotagonisten tritt bereits in Ti prendo e ti porto via und Io non ho paura hervor und findet in Come Dio comanda eine Fortführung. Calvinos Pin und Ammanitis Cristiano werden beide in einer doppelten Außenseiterrolle gezeichnet, isoliert von Gleichaltrigen und in der Welt der Erwachsenen nicht als gleichwertig akzeptiert. Erst in dieser absoluten Ausgrenzung ohne Rückhalt scheinen sie ihrer Rolle als Medium der Realitätserzählung gerecht zu werden. Durch ihre Abschottung sowie noch überschaubare Erfahrung erscheint ihnen das Erlebte als allgemeingültig und das geben sie in vollem Umfang wieder : Pin die Kriegserfahrungen und Cristiano die rassistischen Ideologien des Vaters. Beide sind gezeichnet von der Vernachlässigung einer sie ablehnenden Gesellschaft. Zudem demaskieren sie mit intuitiver Sicherheit das Falsche und Geheuchelte ihrer Welt, was sich bei Pin in der Glühwürmchen-Szene, bei Cristiano vor allem während der Beerdigung Fabianas ablesen lässt. Hier kommt durch die Vorführung des Establishments (Lehrerin, Fabrikbesitzer und Sozialarbeiter) eine grundlegend egozentrische und narzisstische Gesellschaft zur Darstellung, die an einem Wertezerfall wie an dem ihr zugrunde liegenden maroden System zu zerbrechen droht. In seiner Entwicklung vom Pulp zu einem Schreiben unter realistischen Vorzeichen ist Ammaniti sowohl aufgrund moderner Ansätze als auch mit Blick auf Vorläufer wie Pasolini und Calvino als ein Autor zu werten, der mithilfe eines kritisch-ästhetischen Realismus zum literarischen Gradmesser des Elends einer sich in Dekadenz befindenden Gesellschaft wird.
5.
Mario Desiatis moderner Meridionalismus oder das Portrait einer Region
Mario Desiati wurde am 13. Mai 1977 in Locorotondo in der Nähe von Bari in Apulien geboren und ist in Martina Franca (Tarent) aufgewachsen. Der Journalist und Literat verarbeitet in seinem Schaffen stets Geschehnisse der jüngeren Zeitgeschichte und Gegenwart und stellt dabei immer wieder den Süden Italiens in den Mittelpunkt seines Schreibens. Besonders verbunden ist er vor allem seiner Region, Apulien. Nach dem Abschluss des Jurastudiums im Jahr 2000 und kurzzeitiger Anstellung in einer Anwaltskanzlei im Valle d’Itria geht Desiati nach Rom und arbeitet unter der Direktion Enzo Sicilianos bei der Zeitschrift Nuovi Argomenti.734 Dort bekommt er die Möglichkeit, erste Erfahrung im Bereich der Literaturkritik und Redaktion zu sammeln. Später wird ihm der Posten des Junior-Herausgebers beim Verlagshaus Mondadori in Rom zuteil. Von 2008 bis 2013 ist er Chefredakteur bei Fandango Libri. Seit 2015 verbringt der Autor – neben Aufenthalten in Apulien und Rom – viel Zeit in Berlin, um die deutsche Sprache zu lernen und weitere Projekte voranzutreiben. Während seiner Herausgebertätigkeit ist Desiati verantwortlich für das Album Pasolini (Mondadori, 2005). 2006 gibt er zusammen mit Tarcisio Tarquini die Anthologie I laboriosi oroscopi (Ediesse) heraus, die 18 Erzählungen über die Arbeitswelt, das Prekariat und die Arbeitslosigkeit enthält. Selbst noch ein junger Autor, kümmert sich Desiati in seiner Verlagsarbeit als eine Art TalentScout auch um den schriftstellerischen Nachwuchs.735 In einer Kollaboration mit Minimum Fax publiziert er im Jahr 2007 die Anthologie Voi siete qui, die Erzählungen und narrative Reportagen vielversprechender Debütanten enthält. Im 734 Der italienische Autor und Dramaturg Enzo Siciliano hatte die Direktion der literaturwissenschaftlichen Zeitschrift Nuvoi Argomenti ab 1972 inne. Vgl. die offizielle Homepage von Nuovi Argomenti, [HP]. 735 Im italienischen Verlagswesen heißt es, es sei gerade Desiati gewesen, der die drei letzten großen Rekord-Autoren entdeckt habe: Alessandro Piperno, Roberto Saviano und Paolo Giordano. Sollte das der Wahrheit entsprechen, so verdankte ihm das italienische Verlagswesen ein Drittel aller Verkaufszahlen. Vgl. O. A.: »Mario Desiati, scrittore & editor di successo. Il ritratto di Affari«, AffariItaliani (26. 06. 2009), [IQ].
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Folgejahr ist er gemeinsam mit Stefano Lucci Herausgeber des Bandes Il lavoro e i giorni (Ediesse), der 20 Erzählungen umfasst, die auf die Alltagswirklichkeit mit Fokus auf die Arbeitswelt zentriert sind. Im gleichen Jahr bringt er gemeinsam mit Federica Manzon die Sammlung Ad occhi aperti (Mondadori) auf den Markt, in der etwa einer der ersten Beiträge Roberto Savianos zu finden ist. Im journalistischen Bereich kooperiert Desiati mit L’Espresso, Grazia, La Repubblica und L’Unit/. Die literarische Bühne betritt Mario Desiati zunächst als Dichter ; er veröffentlicht im Rahmen der Anthologie I poeti di vent’anni (Stampa 2000). Es folgen Beiträge in Nuovissima Poesia Italiana (Mondadori 2004) sowie das erste eigenständige lyrische Werk Le luci gialle della contraerea (Lietocolle 2004). 2007 partizipiert er mit seinen unter dem Titel Inverno zusammengefassten Poesien am Nono quaderno italiano di poesia contemporanea (Marcos y Marcos). Sein Debüt in der Prosa bringt Desiati im Jahr 2003 beim Verlag peQuod auf den Markt: Neppure quando H notte. Der Roman spielt kurz vor der Jahrtausendwende in Rom in einer Gesellschaft, in der die malavita und eine neue Armut signifikant zunehmen. Der Erzähler und Protagonist Franz Maria, der namentlich an Kafka angelehnt ist, kommt aus einem apulischen Dorf nach Rom und verbringt seine Tage vornehmlich am Bahnhof Tiburtina. Er wird so zum Medium eines kaleidoskopischen Underdog-Personals, das an eine moderne cours de miracle erinnert. Die neue Unterschicht in Form des Prekariats wird titelgebend im 2005 erschienen Werk Vita precaria e amore eterno (Mondadori, Strade Blu), das im Folgejahr mit dem Premio per l’impegno e la letteratura civile Paolo Volponi ausgezeichnet wird. Ebenfalls in Rom angesiedelt, kommt durch den Protagonisten Martino Bux eine große Stadt mit der stets problematischer werdenden Schere zwischen Arm und Reich zur Darstellung. Allein durch die auf ein vorwiegend literarisches Feld verweisende Namensgebung der Hauptfigur noch den Ausläufern postmodernistischen Schreibens verhaftet (Bux ist eine lautliche Verunstaltung des englischen Plurals von ›Buch‹, books), öffnet sich der Roman bereits kritischen Themen der zeitgenössischen italienischen Gesellschaft von kulturellen Aspekten bis hin zum Arbeitsmarkt. Die Gegenspielerin des etwa 30jährigen prekären und an seiner Umwelt wenig interessierten Protagonisten ist dessen schöne und altruistische Freundin Toni, die auf Mission in Afrika ist, ihren Freund jedoch nicht von ihrem Engagement überzeugen kann.736 736 Giuseppe Genna äußert sich bezüglich Desiatis Protagonisten: »Egli H infatti una totalit/ letteraria dinamica, in movimento, una sorta di ipotiposi della letteratura nell’epoca senza poeti, una caricatura da DSM psichiatrico di fine Novecento, che nella sua schizofrenia coincide con la nostra schizofrenia: H, cioH, l’incarnazione e la rappresentazione del devastato rapporto tra il Paese e la propria cultura. Ragazzo sottoculturato, emigrato con la famiglia dalla sicula localit/ Castiglioni, nei pressi della base aerea militare americana ai
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Im September 2008 kommt Desiatis dritter Roman, Il paese delle spose infelici, auf den Markt. Der Autor erhält für das Werk noch im Erscheinungsjahr den Premio Europeo di Narrativa »Giustino Ferri – D. H. Lawrence«, im Folgejahr den Premio Mondello sowie 2010 den Premio Vittorio Bodini, V edizione. Eine Redensart besagt, dass in der Provinz Tarent die Geister von Bräuten umgehen, die sich am Tage ihrer Hochzeit das Leben genommen hätten. Anhand dieser Legende macht Desiati seine Heimat Martina Franca zur Hauptstadt des Suizids und führt die mit der Südfrage verbundene Veranlagung zur Freudlosigkeit des mezzogiorno vor, wie sie vom italienischen Politiker und Historiker Giustino Fortunato bereits im 19. Jahrhundert diagnostiziert worden war. Seine Heimat – so der Autor – habe dieses Romaneske inne, Phantasie benötige man da kaum.737 Der Süden, der zur Darstellung kommt, ist auf der einen Seite vuoto, Leere und Perspektivlosigkeit der Jugend; Fußball, Drogen, Alkohol, Porno und Schlägereien formen ihren Alltag. Und trotzdem gibt es auf der anderen Seite auch Verbundenheit und Passion für das Land und zu den Leuten. Landschaftlich stehen sich campagna und industria gegenüber, Martina Franca und Tarent, wobei die Kontur der Stahlfabrik Ilva zum Symbol des Schlechten und des Todes mutiert. Erzählt wird die Geschichte aus Sicht des Jugendlichen Francesco Rasoschi, genannt Veleno, aus der ›Oberschicht‹ des apulischen Städtchens; die Konterposition nimmt Zaz/ ein, eigentlich Domenico, der gleichaltrige Freund, der zum ›Abschaum‹ der Gesellschaft gehört. Wie ein lebendes Phantasma schwebt die Figur der Annalisa D’Efebo stets hinter der Geschichte, eine leicht verrückte junge Frau, der alle Männer und Jungen des Ortes verfallen. 2011 wird das Buch unter der Direktion von Pippo Mezzapesa zum Film (Produktion Fandango), der im Jahr 2012 den Premio miglior Opera Prima – Panorama Italiano erhält, mit der Begründung: »Per aver raccontato le solitudini del giovane sud prigioniero di una tradizione dai valori sbiaditi e di un futuro senza punti di riferimento.«738 2009 erscheint wie im gewollten Anschluss an das Vorgängerwerk Foto di classe – U uagnon se n’asc'ot (Laterza), das im tempi del dibattito sugli euromissili (do you remember Craxi vs Berlinguer?), in una Roma di colpo contemporanea, afflitta da precariato e anaffettivit/, Martino Bux passa indifferente dal suo precariato di telefonista al saluto romano davanti alla consorte del fondatore dell’MSI a una citazione di Lethem (cioH: cita il nome di Jonathan Lethem), mentre la sua controparte, la fidanzata Toni, assente perch8 in viaggio e santificata a livello allucinatorio da Martino, H una cultrice della letteratura di ogni tempo e soprattutto contemporanea straniera, una ragazza impegnata che non H mai riuscita a fare aprire un libro al suo compagno. Il quale H dicotomizzato tra idealizzazione della ragazza e deflagrazione pornografica del ricordo della stessa.« Ders.: »Vita precaria e amore eterna«, Carmilla (29. 05. 2006), [IQ]. 737 Vgl. Ranieri Polese: »Mario Desiati, ricomincia dal Sud«, Corriere della Sera (05. 09. 2008), hier zitiert in: Flavio Severino [Hg.]: Oblique. Rassegna stampa monografica. Mario Desiati – Il paese delle spose infelici. Roma: Oblique Studio 2009, S. 11–12, [IQ]. 738 Vgl. die Offizielle Seite des Foggia Film-Festivals zu den Premi 2012, [HP].
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Bereich der Dokufiktion anzusiedeln ist. In einem grundlegend erwachseneren Ton, jedoch mit nahezu malerisch-poetischen Einschüben, thematisiert es die Probleme des Südens anhand von acht typischen Beispielen apulischer Biographien. Als zutiefst problematisch wird dabei zum Beispiel die Situation der Arbeiter der Ilva, der Stahlfabrik in Tarent, präsentiert sowie die stetige Zunahme der Jugendarbeitslosigkeit im Süden Italiens, die einen Großteil der jungen Menschen zur Binnenmigration zwingt. Gleichzeitig werden jedoch auch das Konzept und die Bezeichnung von Emigration in Zeiten der Globalisierung infrage gestellt. Im Jahr 2011 wird Desiati mit Ternitti739 (Mondadori) Anwärter auf den Premio Strega; am Ende kann der Autor sich Rang Vier sichern. Das Werk berichtet von einem Dorf in Apulien, in dem es kaum Männer gibt. Diese sterben an den Spätfolgen ihrer Arbeit in einer Asbestfabrik in der Schweiz, wohin sie aufgrund mangelnder Möglichkeiten temporär emigriert waren. Ternitti greift Probleme wieder auf, die bereits in den beiden Vorläuferromanen zur Sprache kommen und die hier aspektuell vertieft werden. Die Geschichte wird aus der Perspektive von Mimi erzählt, die sowohl die Schweizer Episode als auch die Rückkehr in die Heimat miterlebt hat. Ihre Tochter Ariana zieht sie alleine groß. Sie ist es, die die Frauen des Südens motiviert, die Schuldigen zu suchen und haftbar zu machen. Ternitti ist 2012 unter dem Titel Zementfasern beim Verlag Wagenbach erschienen, 2014 wird es ins Niederländische übersetzt (De bloemen van Mimi Orlando: roman, Cossee, Uitgeverij). Gemeinsam mit Il paese delle spose infelici und Foto di classe könnte man hier von einem Apulien-Triptychon sprechen, das gezielt den Status quo der Region mit ihren Problemen literarisch reflektiert. 2013 widmet sich Mario Desiati in Il libro dell’amore proibito (Mondadori) dem schwierigen Thema einer verbotenen Liebe zwischen Lehrerin und Schüler. Angesiedelt ist die Geschichte ebenfalls in Apulien, im Schulalltag des 14jährigen Protagonisten Francesco, dessen Gefühle für die Lehrerin auch deren Gefängnisstrafe überdauern. 2014 widmet Desiati sich dem in Italien stets präsenten Flüchtlingsthema, hier anhand des spezifischen Ereignisses der Ankunft des Frachtschiffes Vlora in Bari 1992. Mare di zucchero (Mondadori) ist ein Roman über und für Jugendliche. Er präsentiert eindrucksvoll die fiktive, jedoch auf 739 Eine dialektale Verzerrung des Wortes Eternit (ital. eternit), Ausdruck für Asbestzement; ein Kunstwort zu lateinisch aeternus (ital. = eterno) ewig, unvergänglich, das auf die lange Haltbarkeit der Bausubstanz verweisen sollte. Vgl. Der Duden. Deutsches Universalwörterbuch. A-Z. Hg. u. bearb. vom Wiss. Rat und den Mitarb. der Dudenred. unter der Leitung v. Günther Drosdowski. 2., völlig neu bearb. und stark erw. Aufl. Mannheim [u. a.]: Dudenverl. 1989, [LW] sowie DELI-Dizinoario Etimologico della Lingua Italiana di Manlio Cortelazzo e Paolo Zolli. 2. Ausg. in einem Band, 2. Neudruck. Bologna: Zanichelli 1999, [LW]. Bei Desiati wird das Konzept eher zum ewigen Fluch der Menschen der Region.
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Fakten gestützte Geschichte von Luca und Erwin, die einander für einen Tag an der Küste Apuliens kennenlernen und sich danach niemals wiedersehen. Bei ihrem Treffen überwindet das kindliche Aufeinanderzugehen sprachliche wie kulturelle Barrieren und spiegelt gleichzeitig die verschiedenen Welten Albaniens und Italiens wieder.740 Im Jahr 2015, 30 Jahre nach der titelgebende Katastrophe,741 bringt Desiati La notte dell’innocenza. Heysel 1985 (Rizzoli) heraus. Durch die Augen eines achtjährigen Jungen werden die heftigen Krawalle im Fußballstadion von Brüssel mit ihren Folgen thematisiert. Der Roman, der detailgetreu die damaligen Ereignisse aufleben lässt, stellt die Frage, was davon bis in die Gegenwart geblieben ist und welche Schlüsse man daraus zieht. Das jüngste Werk des Autors, Candore (Einaudi 2016), thematisiert 30 Jahre Pornogeschichte. Mit dem Protagonisten Martino Bux greift Desiati nicht nur auf eine bereits bestehende Figur zurück, die Geschichte spielt auch erneut in Rom. Martino ist vom Porno besessen, jedoch auf eine idealisierte Weise: Er empfindet ihn als eine Metaphysik des Sex. Im Grunde ist er eine Art moderner Romantiker. Massimiliano Parente sieht das Werk daher als Entideologisierung des Tabuthemas Porno und als Profanierung Pasolinis.742 In der vorliegenden Arbeit soll vor allem die in Desiatis Werk dominant thematisierte Südfrage in ihrer Darstellung im Mittelpunkt stehen. Besonders damit ist der Autor der Kritik aufgefallen. Michele Trecca sieht Desiati in einer Tradition mit Pasolini und Saviano, vehement in seiner Kritik gegen den Verfall der eigenen Region.743 Alberto Asor Rosa, der Desiati stets unter die vielversprechendsten Autoren des literarischen Gegenwartsitalien zählt, spricht in einem feuilletonistischen Abriss von einem »meridionalismo moderno«: »Di Mario Desiati ho letto Il paese delle spose infelici e […] il precedente Vita precaria e amore eterno. Ebbene l’ultimo romanzo mi sembra onestamente notevole e, se dobbiamo fare un discorso sulla pugliesit/, mi pare evidente che ci
740 Ein kurzer Einblick in diesen Roman wurde bereits in Kapitel 3.2 der vorliegenden Arbeit gegeben. 741 Am 29. Mai 1985 waren beim Endspiel um den Europapokal der Landesmeister zwischen Juventus Turin und dem FC Liverpool bei Krawallen 39 Menschen ums Leben gekommen, 454 weitere wurden verletzt. Um eine Massenpanik zu vermeiden, hatte man das Spiel nicht abgesagt, den Spielern aber das Ausmaß der Ausschreitungen und der Opfer verschwiegen. Vgl. O. A.: »30. Jahrestag. Heysel-Katastrophe: Todesfalle Block Z«, SportBild (29. 05. 2015), [IQ]. 742 Massimiliano Parente: »Il porno candore di Mario Desiati ›profana‹ Pasolini«, Il Giornale (06. 10. 2016), [IQ]. 743 »Desiati H di quella schiera di coraggiosi che va da Pasolini a Saviano ed H, quindi, impietoso nella denuncia civica del complessivo degrado della propria terra.« Siehe Michele Trecca: »Il Romanzo: Amori stregati nella guasta ombra di Taranto«, La Gazzetta del Mezzogiorno (19. 09. 2018), [IQ].
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sia una riscoperta della provincia«.744 Desiati arbeitet – so Asor Rosa – mit einer faszinierenden Ambiguität an seinem Material: Einerseits ist da die nackte Realität, entzaubert und wild. Auf der anderen Seite verspürt der Leser einen phantastischen Wind, der die realistischen Darstellungen zusammenfügt und ihnen Sinn verleiht, ohne dem Wahrheitsanspruch Abbruch zu tun. Desiatis Erzählungen leben von Rhythmus und Kadenz wie sie antiken Fabeln oder Volksliedern eigen sind. Es ist dieses stilistische Amalgam zwischen Realismus und Poesie, Erzählung und Spannung, das die Prosa des jungen Autors ausmacht.745 Auch wenn der Blick zurück zum Neorealismus in der heutigen Zeit ein schwieriger scheint – auch Asor Rosa nimmt Abstand davon – so gibt es doch klare Verbindungslinien zu einigen meridionalistischen Autoren dieser literarischen Epoche. Nicht umsonst stellt Desiati seinem Werk Foto di classe eine Poesie von Rocco Scotellaro voran, einem Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts aus Tricarico (Provinz Matera). Scotellaros Werk lässt sich ebenso wie das des jüngeren Autors in eine Phase der Lyrik und eine der Prosa aufteilen. Der Autor entdeckte in einer späteren Phase seines Schaffens das Engagement der Literatur »come un modo per dar voce […] alle istanze della sua terra, che non era per altro solo luogo in cui […] la tradizione, di passato, di ricordo o di nostalgie, ma era un luogo in cui la cultura tradizionale conosceva cambiamenti in parte profondi e rapidi.«746 Mit der Verbindung zu Scotellaro rückt ein weiterer Autor in greifbare Nähe, nämlich dessen Freund und Förderer Carlo Levi. Auch Levis meridional geprägtes Werk oszilliert zwischen poetisch-malerischem und sozialem Realismus. Carlo Levi wie Rocco Scotellaro bewegen sich in Lukanien, dem Kern der Region Basilikata, die an Apulien grenzt und an seinen Rändern bereits Orte mitbetrachtet, die auch bei Desiati von Bedeutung sind. Und doch ist es natürlich richtig, dass der gegenwärtig in der Literatur beschriebene Süden nicht mehr der von einst ist. Ettore Catalano stellt mit Blick auf Apulien fest: La Puglia non H piF la regione »contadina« dei silenzi e dei cafoni all’inferno, non H nemmeno il Far West di cui scrivono alcuni giornalisti, ma H un’opzione virtuale nella 744 Asor Rosa in Antonio Di Giacomo: »Asor Rosa ›Nella provincia di Desiati e Lagioia scopro un meridionalismo moderno‹«, La Repubblica (14. 01. 2010), [IQ]. 745 Im Original: »Desiati lavora alla sua materia come sospeso a mezz’aria: da una parte c’H la realt/ nuda e cruda, disincantata e feroce; dall’altra c’H un vento fantastico che la raccoglie e le d/ un senso e, senza toglierle verit/, le conferisce il ritmo e le movenze di un’antica fiaba, d’una canzone popolare, di un sussurro scambiato fra amanti nel buio. ð questo amalgama stilistico, fra realismo e poesia, fra narrazione e folgorazione, che fa il bello della prosa del nostro giovane scrittore.« Alberto Asor Rosa: »Pane, amore e lotte. Il realismo poetico che racconta l’Italia«, La Repubblica (26. 04. 2011), [IQ]. 746 Nicola De Blasi: Infilo le parole come insetti. Poesia e racconto in Scotellaro. Venosa: Osanna Ed. 2013, S. 16.
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quale un orizzonte mediterraneo convoglia tensioni in cui modernit/ e arretratezza danno vita a composti di micidiale forza inventiva e sociale. L’insicurezza, la precariet/, la solitudine di una borghesia incapace di egemonia politica trovano espressione adeguata in una serie di scrittori, oramai di successo e di fama nazionali, […].747
Im Folgenden soll zunächst eine Einführung zum Meridionalismus gegeben werden, der heute – wenn auch in veränderter Form – eine vergleichbare Relevanz wie in den vergangenen 150 Jahren aufweist. Daraufhin werden die Romane Il paese delle spose infelici und Foto di classe exemplarisch als Marker eines neuen literarischen Meridionalismus gelesen. Dabei soll der Blick auf die Werke sowohl für narrative Neuerungen als auch für traditionelle Muster offen sein, um das Werk Desiatis in seiner Wirkung in einem neuen Realismus im Gegenwartsitalien einordnen zu können.
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Der Meridionalismus in seiner Entwicklung vom 19. bis 21. Jahrhundert
La questione meridionale H stata sempre l’altra faccia della storia unitaria […].748
Die Südfrage, questione meridionale und damit der meridionalismo ist der Geschichte des Risorgimento und damit des italienischen Einheitsstaats eng verbunden. Denn erst mit dem Ende des Königreichs beider Sizilien und dem Beginn der Geschichtsschreibung eines homogenen Italiens wird die Rückständigkeit des Südens zum politischen Problem.749 Das Risorgimento Italiens – so Erwin von Beckerath – »war das Werk einer bürgerlichen Elite«, die im Süden des Landes jedoch nur »hauchdünn« vertreten war.750 Bereits kurz nach der Einigung setzten Unruhen seitens derer ein, die den Nutzen der überregionalen Verbindung nicht mit den entstehenden neuen Aufgaben in nachvollziehbarer Relation stehen sahen.751 Der vormals als reich empfundene Süden des Landes zerbrach an einer ungewohnt hohen Steuerlast, die die Einigung mit 747 Ettore Catalano: »Introduzione«, In: ders. [Hg.]: Letteratura del novecento in Puglia 1970–2008. Bari: Progedit 2009, S. IX–XXI, hier S. XIV. 748 Alessandro Leogrande: »La questione meridionale non H mai finita«, Internazionale (03. 08. 2015), [IQ]. 749 Vgl. Anna Charlotte Thode: Italien – Nord und Süd. Die Questione meridionale in der Politischen Theorie. Berlin: Literatur Verlag 2009, S. 8. 750 Erwin von Beckerath: »Die italienische Südfrage«, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 110 (1954), S. 172–176, hier besonders S. 173. Giuseppe Galasso formuliert: »Il 1860 fu rivoluzione politica della borghesia; il brigantaggio fu reazione sociale della plebe.« Siehe ders.: Il mezzogiorno. Da »questione« a »problema« aperto. Manduria: Lacaita 2005, S. 45. 751 Vgl. ebd. Überraschende Parallelen sind hier zu heutigen Phänomenen in der Europäischen Union zu sehen.
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ihren Bedürfnissen mitbrachte. Zugleich wurden die meisten Investitionen militärischer wie wirtschaftlicher Art im Norden getätigt.752 Es entwickelte sich ein wirtschaftlicher wie sozialer Dualismus753 und damit die beiden »antagonistischen Teile Italiens«,754 der Norden und der Süden. Eine Angleichung der Lebensbedingungen des vergleichsweise armen Südens an den bessergestellten Norden Italiens hat nie umfassend Umsetzung gefunden. Seit dem auslaufenden 19. Jahrhundert hat dieses Thema Zuwendung in unterschiedlicher Form und Maß in Politik, Theorie und Literatur erfahren. Historisch-politischer Hintergrund Mit der Einigung des Landes sah man sich zunächst in der Pflicht, eine Lösung für die Ungleichheiten zu finden. Doch gelang es dem jungen Zentralstaat weder dem Süden zu verbesserten Lebensumständen zu verhelfen, noch bekam er die Bandenkriege und Bauernaufstände, brigantaggio genannt, in den Griff. Die Industrialisierung des Landes fand weitgehend ohne den Süden statt.755 Während der Zeit des italienischen Faschismus wurde das Nord-Süd-Gefälle innerhalb des Nationalstaates schlicht bestritten, da es nicht in das ideologische Konzept passte. Eine kurzfristige Förderung der Landwirtschaft im Sinne einer italienischen Autarkie war nicht von Nachhaltigkeit geprägt und lief den sozioökonomischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts zuwider.756 Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann das Thema erneut politische Relevanz, da ein moderner Staat im 20. Jahrhundert es als nicht zeitgemäß empfand, dass Teile des Landes fehlende Infrastruktur vorwiesen, unter vermehrter Krankheit aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung sowie schlechter Ausbildung litten. Allein verfassungsrechtlich gesehen war dies ein Tabu.757 Man versuchte, den noch ländlichen Süden im Nachhinein zu industrialisieren. Dabei setzte man vor allem auf die Maschinen-, Stahl-, und Baustoffindustrie.758 So wurden etwa aus Kriegstrümmern die Anlagen der Stahlfabrik Ilva neu errichtet.759 Bis in die ersten zwei Dekaden des dritten Jahrtausends entwickelte diese sich zu einem »marode[n] Mega-Stahlwerk«.760 1946 gründete sich die svimez, Associazione per lo sviluppo dell’industria nel 752 753 754 755 756 757 758
Galasso 2005, S. 39ff. Vgl. ebd., S. 42. Thode 2009, S. 23. Vgl. ebd., S. 24f. Vgl. ebd., S. 28. Vgl. ebd., S. 9. Vgl. Friedrich Vöchting: »Die italienische Südfrage«, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 114 (1968), S. 491–526, hier besonders S. 496ff. 759 Vgl. ebd. 760 Martin Wocher : »Subventionen für Ilva. Italiens Stahl-Dinosaurier im Visier«, Handelsblatt (20. 01. 2016), [IQ].
Der Meridionalismus in seiner Entwicklung vom 19. bis 21. Jahrhundert
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Mezzogiorno, ein privates Netzwerk, das durch Umfragen die spezifische Südsituation transparent zu machen und konkrete Programme zu entwickeln sucht. Die svimez ist bis in die Gegenwart hinein aktiv.761 Zudem wurde die Casmez (La Cassa per il mezzogiorno. Cassa per opere straordinarie di pubblico interesse nell’Italia Meridionale) aus dem Boden gestampft.762 Trotz aller Anstrengungen wurde jedoch bei vielerlei Modernisierungsvorgängen keine Rücksicht auf Spezifika lokaler Gefüge genommen, sodass sich »keine Tendenz zum Eigenantrieb« herausbildete.763 Der ursprüngliche Optimismus zu Anfang der 60er Jahre verfiel zu Ende dieser Periode mit dem Rückgang des Wirtschaftswachstums, der den Süden besonders hart traf.764 Seit den 70er Jahren sprach man zunehmend von einer »questione meridionale« und dem »meridionalismo«.765 Die explizite Frage nach dem Einheitsstaat Italien stellte sich mit dem Protest der Lega Nord gegen die Ineffizienz des Zentralstaates und gegen an den Süden geleistete Zahlungen.766 Diese Sezessionsbewegungen sieht Anna Charlotte Thode als erste Anzeichen eines Verlustes an Bindekraft, die sich unter zunehmendem Druck der Globalisierung noch verstärkte.767 Die Geschichte der Cassa del Sud endet 1986 und macht der Agensud (Agenzia per la promozione e lo sviluppo del Mezzogiorno) Platz.768 Seit den 90er Jahren dachte man nicht nur in Italien, sondern in vielen Ländern Europas, im Kontext der schnell wachsenden und sich vergrößernden Europäischen Union mit ihren Vor- und Nachteilen, erneut über den Wert der nationalen Identität nach.769 Zudem bekamen in den einzelnen Ländern regionale Werte eine verbesserte Stellung. Mit den zunehmenden politischen wie wirtschaftlichen Veränderungen wuchsen jedoch auch die Zweifel im Volk und der Süden schien zum spitzen Stein im Schuh Italiens zu werden.770 Gianfranco Viesti formuliert: L’immagine prevalente del Mezzogiorno H divenuta ormai quella della monnezza campana, con tutti gli annessi e connessi: lo spreco di colossali risorse pubbliche, 761 762 763 764 765 766 767 768
Vgl. Die offizielle Hompage der svimez, [HP]. Vgl. die Seite der Aset (Archivi dello Sviluppo Economico Territoriale), [HP]. Vgl. Thode 2009, S. 31. Vgl. ebd. Vgl. Galasso 2005, S. 43. Vgl. Thode 2009, S. 36. Vgl. ebd., S. 40. Vgl. Adriano Giannola: »Mezzogiorno oggi: Una sfida italiana«, In Sabino Cassese [Hg.]: Lezioni sul meridionalismo. Nord e Sud nella storia d’Italia. Bologna: Il Mulino 2016, S. 261–296, hier besonders S. 266. 769 Vgl. Thode 2009, S. 40f. 770 Das formuliert auch Giuseppe Galasso: »Si affermk, in questo secondo momento, con sempre maggiore energia, che il Mezzogiorno H una ›palla di piombo‹ al piede del Paese.« Siehe ders.: »La questione meridionale, oggi«, In: Sabino Cassese [Hg.]: Lezioni sul meridionalismo. Nord e Sud nella storia d’Italia. Bologna: Il Mulino 2016, S. 315–332, hier besonders S. 316.
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l’incapacit/ o la vera e propria corruzione delle classi dirigenti, l’attitudine della popolazione solo alla protesta. Il perdurare nel tempo di un problema senza soluzione. Il mezzogiorno H sempre piF percepito da molti italiani come altro rispetto a s8. Altro rispetto all’Italia.771
Das Misstrauen gegen den Süden hat heute – so Viesti – nach 150 Jahren Einheitsgeschichte einen nie gekannten Höhepunkt erreicht.772 Allerdings weist er auch darauf hin, dass um die Jahrtausendwende nicht nur der Süden kaum wirtschaftliche Entwicklung aufweisen könne, ganz Italien sei davon betroffen, das Konzept des italienischen Kapitalismus, das einige Jahrzehnte lang erfolgreich gewesen sei, gerate ins Wanken.773 Das Unverhältnis, das sich innerhalb des Landes ergeben hat, liegt auch an der Binnenmigration und dem mangelnden Nachwuchs im Süden. In diesem Kontext wurde im Jahr 2005 in Apulien das Programm Bollenti Spiriti gegründet, das sich den Belangen der jungen Menschen widmet. Es ist der Versuch gegenzusteuern und die Situation positiv statt als Problem zu bewerten. Es handelt sich um ein »insieme di interventi e di azioni per consentire ai giovani cittadini pugliesi di partecipare a tutti gli aspetti della vita della comunit/«.774 Giuseppe Galasso sieht das Problem des Südens heute als ein vorrangig politisches, das im größeren Kontext Italiens und vor allem auch im Rahmen der Europäischen Union zu lösen ist.775 Er wendet sich gegen Zygmunt Baumans Konzept der postmodernen Gesellschaft, in der es zu einer Liquidierung sozialer Strukturen und Bindungen gekommen sei: »Struttura e rapporti sociali mantengono presenza e forza, e si puk dire solo che – come era facile prevedere – per alcuni versi piF dinamici, articolati ed equilibrati, per altri versi sono diventati piF rigidi e piF squilibrati.«776 Die Südfrage steht heute wie nie zuvor im Mittelpunkt von Studien und Debatten, vor allem, weil sie auch im Gesamtzusammenhang mit der Situation Italiens gesehen wird.777 Echo in Theorie und Literatur – die meridionalisti Als erster Meridionalist, also Intellektueller, der sich explizit für die Probleme des Südens stark macht, wird recht einvernehmlich Pasquale Villari (1827–1917) 771 Gianfranco Viesti: Mezzogiorno a tradimento. Il Nord, il Sud e la politica che non c’H. Roma / Bari: Laterza 2009, S. 5. 772 Ebd., S. 7. 773 Vgl. ebd., S. 11ff. Sabino Cassese sieht das anders. In seinen Augen entwickelt sich der Norden im Gleichschritt mit Deutschland, während sich der Süden seit 2008 in einem wirtschaftlichen Stillstand befinde. Vgl. ders.: »Le questioni meridionali«, In: ders. [Hg.]: Lezioni sul meridionalismo. Nord e Sud nella storia d’Italia. Bologna: Il Mulino 2016, S. 9– 13, hier S. 9. 774 Vgl. »Cos’H Bollenti Spititi«, Offizielle Homepage der Bollenti Spiriti Puglia, [HP]. 775 Vgl. Galasso 2016, S. 327. 776 Ebd., S. 328. 777 Vgl. ebd., S. 329.
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bezeichnet. Seine Lettere meridionali, journalistische Schriften, die im März 1878 an Giacomo Dina, den Direktor der Zeitschrift L’Opinione gesendet werden, gelten als Manifest des meridionalismo. Villari war der Erste, der öffentlich die Misere des Südens anprangerte und damit weitreichende Debatten auslöste.778 Er bewegte sich in einem positivistischen Kontext, jedoch mehr in einem kritisch-methodologischen als deterministisch-evolutionären Sinn.779 Als weitere Meridionalisten zu nennen sind etwa Leopoldo Franchetti (1847–1917), Giustino Fortunato (1848–1932), Antonio De Viti (1858–1943), Benedetto Croce (1866–1952), Gaetano Salvemini (1873–1957), Antonio Gramsci (1891–1937), Guido Dorso (1892–1947) und Manlio Rossi-Doria (1905–1988). Dabei ist zu vermerken, dass unter den Meridionalisten stets sowohl Vertreter aus dem Süden wie auch aus dem Norden des Landes zu finden waren. So stammte etwa Giustino Fortunato selbst aus Rionero in Vulture (Basilikata), während Antonio Gramscis Blick auf den Süden der eines Außenstehenden war.780 Von besonderem Interesse im Kontext dieser Arbeit ist der italienische Politiker und Historiker Fortunato, da sowohl die zitierten Autoren aus dem 20. Jahrhundert (Carlo Levi) wie auch die aus dem 21. Jahrhundert (Mario Desiati und Roberto Saviano) sich explizit auf ihn berufen. Giustino Fortunato widmete sich von Beginn an der Anklage der Missstände des Südens. Was ihn dabei vor allem auszeichnet, ist, dass er die Orte, die Situation und die Menschen tatsächlich kannte und einschätzen konnte. Dass macht ihn – so Marco Paolino mit Croce – nicht nur zu einem wichtigen Meridionalisten, sondern gar zum Vater der Südfrage, zu jemandem, der dieses Problem umfänglich verinnerlicht hatte.781 Fortunato galt als liberal, nicht aber als liberalistisch. Er zielte vor allem auf ein moralisches Wachstum des Südens ab.782 Fortunatos Standpunkt ist ein eher skeptischer und pessimistischer. Sein erster Beitrag in der Südfrage ist der, den Mythos vom reichen und fruchtbaren Süden, der sich vor allem auch durch die Berichte der Autoren der Grand Tour 778 Einsicht in die und grundlegende Informationen über die Lettere meridionali von Villari finden sich auf der Seite der Universit/ degli Studi di Firenze, Siehe Pasquale Villari: Lettere meridionali ed altri scritto sulla questione sociale in Italia. Vom Autor überarb. Aufl. Rom [u. a.]: Fratelli Bocca 1885, [IQ]. Vgl außerdem Piero Bevilacqua: »La questione meridionale nell’analisi dei meridionalisti«, In: Sabino Cassese [Hg.]: Lezioni sul meridionalismo. Nord e Sud nella storia d’Italia. Bologna: Il Mulino 2016, S. 15–28 sowie Francesco Barra: »Pasquale Villari e il primo meridionalismo«, In Sabino Cassese: [Hg.]: Lezioni sul meridionalismo. Nord e Sud nella storia d’Italia. Bologna: Il Mulino 2016, S. 29–55. 779 Vgl. Barra 2016, S. 45f. 780 Vgl. dazu Marco Paolino: Benedetto Croce e Giustino Fortunato. Liberalismo e questione meridionale. Pisa: ETS Editrice 1991, S. 12. 781 Vgl. ebd., S. 105. 782 Vgl. ebd.
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ergeben habe, zu entzaubern.783 Fortunatos Theorien entwickeln sich – wie die Villaris – aus dem Positivismus heraus und müssen unter Berücksichtigung dieser Strömung gelesen werden, die das Menschenbild als ein determiniert naturalistisches versteht.784 Fortunato betrachtet die Menschen im Süden mit Blick auf die lange Geschichte der Not, hebt ihre Einfachheit, aber auch ihre geringe Selbstachtung hervor.785 Allerdings spricht Paolino mit Blick auf diese Charakteristika von einer »felice contraddizione« zwischen fortunianischem Pessimismus und ihm selbst, zwischen deterministischem Naturalismus und seinen Aufgaben und Umsetzungen in der Politik.786 Das Besondere an Fortunatos Position war in jedem Fall, dass er das Ziel verfolgte, von innen heraus den Süden so darzustellen, wie er wirklich war.787 Gleichzeitig vertrat er die Idee, die Südfrage als nationales Problem zu sehen, anhand dessen man das politische und parlamentarische Vorgehen erneuern könne.788 Fortunato, selbst aus der bessergestellten Schicht kommend, greift die Hegemonie der Klassen an, die borghesia des Südens, die er als korrupt und machthungrig verurteilt: »II riconoscimento di questa incapacit/ della borghesia meridionale di concorrere a costruire un progetto generale di avanzamento sociale fu alla base della riflessione politica fortunatiana, il dato essenziale delle sue battaglie«.789 Dieser Kampf, den Fortunato im Inneren der intellektuellen Elite des mezzogiorno führte, dauerte lange und hatte an seinem Ende vor allem Einfluss auf die laizistische Kultur des Landes, bis hoch nach Turin.790 So etwa kam Carlo Levis erster Kontakt mit der Realität des Südens in der Lektüre Fortunatos zustande.791 Im Kontext der Literatur des mezzogiorno wären viele Autoren zu nennen. Doch was versteht man unter einer Literatur des Südens? Raffaele Crovi weist darauf hin, dass die »narrativa meridionale« nur auf Angaben zur Herkunft des Autors referiere, jedoch nichts über inhaltliche Komponenten des Textes aussage. Die »narrativa meridionalista« hingegen bewegt sich im Kontext einer didaktischen, operativen, kulturell programmatischen Literatur.792 Der Süden 783 Vgl. Maurizio Griffo: »Il meridionalismo nazionale di Giustino Fortunato«, In: Sabino Cassese 2016, S. 57–69, hier besonders S. 57f. 784 Vgl. Emilia Campochiaro / Anna Boldrini / Lucia Pasquini: Giustino Fortunato e il Senato: carteggio (1909–1930). Soveria Mannelli: Rubbettino 2003, S. XIV. 785 Vgl. ebd., S. 59. 786 Paolino 1991, S. 114. 787 Vgl. Salvatore Lupo: »Storia del Mezzogiorno, questione meridionale, meridionalismo«, Meridiana 32 (1998), S. 17–52, hier besonders S. 27f. 788 Vgl. Raffaele Giura Longo: »Giustino Fortunato nella cultura italiana«, Studi Storici 19 (1978), S. 667–675, hier besonders S. 670. 789 Ebd., S. 671. 790 Vgl. ebd., S. 673. 791 Vgl. ebd., S. 673f. 792 Vgl. Raffaele Crovi: Diario del sud. San Cesario di Lecce: Manni 2005, S. 19.
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werde – so Mario B. Mignone – einmal als »terra desiderata ma ormai perduta« dargestellt, zum anderen in seinen Aspekten der Problematik der Südfrage: »si va dal mito, alla favola, all’idillio, al surreale, ma la componente preponderante H certamente quella realistica, del realismo contadino e di quello psicologico piccolo-borghese«.793 Die entstehende Literatur fokussiert auf eine analytische oder globale Realität, die sich als Untersuchung sozialer Strukturen, der Bedingungen der Menschen allgemein sowie der Moral des Individuums im Rahmen der questione meridionale präsentiert, um die Verbindungen und Implikationen zwischen prekärem Leben und prekärem Schreiben zu verstehen. Sie schwankt – so Mignone – zwischen der ideologischen Passion, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft setzt, und Wut über die fatale Resignation in den Stillstand.794 Meridionalistische Literatur wird in der Regel aus dem Bedürfnis heraus geboren, Zeugnis abzulegen795 und ist in genau diesem Charakteristikum verschiedenen Realismen und besonders dem Neorealismus nahe. Generell stehen die literarischen Texte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert im Zeichen des sich formenden Einheitsstaats und lassen sich damit als »una narrativa d’estrazione regionale« bezeichnen.796 Verga fällt im Besonderen die Rolle zu, in seinem Werk nicht nur den Süden – insbesondere Sizilien – mit seinen Problemen erzählt, sondern auch die Herausbildung der verschiedenen Klassen festgehalten zu haben: »il procedere dell’elevazione delle classi contadine del sud e le alterne vicende dell’ambiente della borghesia agraria meridionale come eventi esemplari della crisi attraversata dalle campagne italiane negli anni dell’unit/ d’Italia e della prima rivoluzione industriale.«797 In einem direkten Bezug zu Verga stehen die Gente in Aspromonte von Corrado Alvaro (1895–1956, Kalabrien). Zur Darstellung kommen einfache Menschen mit ihren Passionen und Problemen, die unmittelbar von ihrer Umgebung gelenkt werden. Zudem kommt ähnlich wie in den Malavoglia ein aus Habsucht erwachsender Konflikt zwischen einem egoistischen Grundbesitzer und den von ihm beherrschten, in Armut lebenden Leuten zur Darstellung. Weiterhin nach der Jahrhundertwende ist Elio Vittorini (1908–1966) mit seiner Conversazione in Sicilia zu nennen, mit Le donne di Messina oder La Garibaldiana. Ebenso spielen Francesco Jovine (1902–1950, Molise), Domenico Rea (1921–1994) (Kampanien / Neapel), Vincenzo Consolo (1933–2012, Sizilien) 793 Mario B. Mignone: »Emigrazione e letteratura meridionalista«, Forum Italicum 27/1–2 (1993), S. 9–32, hier S. 9. 794 Vgl. ebd., S. 9f. 795 Vgl. ebd., S. 10. 796 Vgl. Crovi 2005, S. 34. Als wichtige Autoren dieser Entwicklung führt Crovi Manzoni, Nievo, Verga, Fogazzaro, De Roberto, Capuana, Pirandello, Deledda, Tozzi, Silone, Alvaro, Jovine, Brancati und Pavese auf. Vgl. ebd. 797 Crovi 2005, S. 36.
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und sicher auch Leonardo Sciascia (1921–1989, Sizilien) eine Rolle. Von besonderen Interesse sind an dieser Stelle die bereits genannten Autoren Carlo Levi (1902–1975) und Rocco Scotellaro (1923–1953), der Turiner und der Tricarier, die beide tatsächlich wie literarisch in der an Apulien angrenzenden Basilikata ›unterwegs‹ gewesen sind und mit ihren Werken Cristo si H fermato a Eboli (Levi) und Contadini del Sud (Scotellaro) als wichtige Vorläufer Desiatis zu betrachten sind. Carlo Levi war einer der meridionalistischen Literaten, die nicht selbst aus dem Süden stammten. 1902 in Turin geboren, studierte er Medizin und promovierte sogar. Allerdings gab er den Beruf des Arztes bald auf, um sich der Malerei zu widmen. Der politisch links ausgerichtete Levi wurde 1934 von den Faschisten verhaftet und in die Verbannung geschickt, er war einer der politischen confinati Italiens.798 In Lukanien in der Basilikata fand er gerade aufgrund seiner medizinischen Kenntnisse Zugang zur ländlichen Bevölkerung, die seiner Dienste bedurfte. Aus dieser Begegnung entstand das mit Engagement gefüllte und mit dem Auge eines Künstlers gefilterte Werk über den von ihm besuchten Landstreifen, das Levi bekannt gemacht hat: Cristo si H fermato a Eboli.799 Die Zeit des Exils war für Levis gesamtes Denken und Arbeiten eine wichtige, richtungsändernde Erfahrung. Fabio Moliterni stellt fest: L’immersione nel Sud escluso dalla Storia (il rapporto con l’arcaico e con »la civilt/ contadina […] posta al limite dell’indistinzione«), i tempi del confino e dell’esilio gli rilevano il carattere antico e primordiale della lotta politica, l’ambigua dimensione »indifferenziata«, tellurica e primitiva che riemergeva dal lato oscuro del progresso e del moderno. Levi leggeva nella religione mortifera delle politiche totalitarie il sintomo dell’Atrofia e del declino della civilt/ europea, vi intravedeva le ragioni profonde dell’insufficienza e della crisi involutiva di tutte le categorie razionalistiche occidentali, e per questo si trovava sospinto ad ampliare e rinnovare in direzione antropologica (metapolitica) la lettura dei fascismi e dei problemi dello Stato (le classe dirigenti, la questione meridionale, il »concetto di individuo«).800
Crovi bezeichnet Cristo si H fermato a Eboli als »affresco della civilt/ meridionale«; der Autor analysiere darin die »moti cellulari della coscienza contadina, i 798 Vgl. Eintrag »Levi, Carlo«, In Munzinger Online / Personen –Internationales Biographisches Archiv, [LW]. 799 Levi selbst schreibt in einem Brief im Juni 1963 an den Verleger Giulio Einaudi: »Per questo, il Cristo si H fermato a Eboli fu dapprima esperienza, e pittura e poesie, e poi teoria e gioia di verit/ […], per diventare infine e apertamente racconto, quando una nuova analoga esperienza, come per un processo di cristallizzazione amorosa, lo rese possibile;« Vgl. Carlo Levi: »L’Autore all’editore«, In: ders.: Cristo si H fermato a Eboli. Turino: Einaudi 6 2014, S. XVII–XIX, hier S. XIX. 800 Fabio Moliterni: »L’Antico nel nuovo. Carlo Levi e il ›pensiero vivente‹«, In: Antonio Lucio Giannone [Hg.]: Cristo si H fermato a Eboli di Carlo Levi. Pisa: ETS 2015, S. 71–85, hier besonders S. 82.
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suoi scompensi biologici, i suoi atteggiamenti moralistici, la sua civile piet/«.801 Das Schreiben Levis sieht Crovi als passionierte Zeugenschaft mit figurativer Kraft.802 Giovanni Battista Bronzini klassifiziert Levis Reise-Memoriale als das neutralste Genre, aber auch als ein ambiges, in der Schwebe zwischen Realismus und Surrealismus, zwischen Geschichte und Mythos, Realität und Symbol.803 Das Werk oszilliere zwischen den beiden Komponenten des Schreibens Levis, nämlich der realistischen Wiedergabe tatsächlicher Erfahrungen und einer mythisierenden Transfiguration eben dieser realen Welt.804 Besonders in diesem Zusammenspiel scheinen sich Parallelen zum Schreiben von Mario Desiati zu manifestieren. Der jung verstorbene Rocco Scotellaro war seiner südlichen Heimat nicht nur literarisch, sondern auch politisch verbunden. Von 1946 bis 1950 bekleidete er das Amt des Bürgermeisters von Tricarico; außerdem betrieb er soziologische Forschungen im Osservatorio di Economia Agraria in Portici.805 Assunta De Crescenzo sieht Scotellaros Prosa in einer Traditionslinie mit Vergas Verismus, mit Berührungspunkten zu Pirandello, in der Gesellschaft repräsentativer Neorealisten wie Vittorini, Levi, Rea, Jovine, Silone und Alvaro und schließlich als Vorläufer Sciascias.806 Tatsächlich direkten Einfluss auf das Schaffen des Autors hatten Carlo Levi und Manlio Rossi Doria, die als geistige Väter zu werten sind.807 Seine bedeutendsten Schriften in Prosa sind L’uva puttannella und I contadini del Sud, die laut Carlo Levi als ein Werk zu rezipieren sind.808 Während die Erzählung aus L’uva puttanella autobiographische Erinnerungen und 801 Crovi 2005, S. 134. 802 Vgl. ebd. 803 Giovanni Battista Bronzini: Il viaggio antropologico di Carlo Levi. Da eroe stendhaliano a guerriero birmano. Bari: Edizioni Dedalo 1996, S. 150. 804 Vgl. ebd., S. 154. 805 Assunta De Crescenzo: »The Bright Light of Will and Hope«, In: Federica Santini / Giovanna Summerfield [Hg.]: The Politics of Poetics. Poetry and Social Activism in Early-Modern through Contemporary Italy. Newcastle: Cambridge Scholars 2013, S. 63–102, hier besonders S. 64. Zu weiteren biographischen Angaben zum Autor vgl. ebd. Außerdem bietet das Vorwort einer der neueren Auflagen der Prosatexte einen guten Überblick zu Leben und Schaffen des Autors. Siehe Nicola Tranfaglia: »Introduzione. L’eredit/ di Rocco Scotellaro«, In: Rocco Scotellaro: L’uva puttanella / Contadini del Sud. Bari: Laterza 52012, S. IX–XXX. 806 De Crescenzo 2013, S. 76. 807 Vgl. ebd., S. 81. 808 »I due libri si presentano, legati insieme in un volume, come un libro unico. Ed H veramente, per chi li legga o li rilegga ora, un libro unico. […] Un libro unico, che H una vita nel suo farsi, da ogni parte aperta, immediatamente diventata parola. Quello che affiora da quel mare, qui nei testi rimasti, non H che un suo momento, strappato alla morte: lo stesso, in forma diversa. I racconti dei contadini sono anch’essi parte dell’Uva puttanella. Tutto va, come egli diceva, nel tino, poesia e verit/, quello che H cresciuto e quello che H rimasto piccolo«. Carlo Levi: Prima e dopo le parole: scritti e discorsi sulla letteratura. Hg. v. Gigliola De Donato / Rosalba Galvagno. Roma: Donzelli 2001, S. 227f.
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Überlegungen aus der vielleicht bedeutendsten Phase in Scotellaros Lebens wiedergibt,809 umfasst sein I contadini del Sud verschiedene autobiographische Zeitzeugnisse von Menschen aus dem Süden, die vom Autor ediert und je mit einem Vorwort versehen zu einem Gesamtwerk verschmolzen werden. Scotellaro schuf damit eine soziologische Poetik des mezzogiorno,810 eine Art neuen Kriterienkatalog for defining the cultural values of peasant culture. In other words, he thought of giving value to the very essence of that ancestral culture in order to let the rest of Italy (and beyond its boundaries, if possible) know its anthropological resources and potential, as well as the capacity to bear fruit and have an effective impact on the progressive policies of the newly-born Italian Republic.811
Eine besondere Rolle in den literarischen Darstellungen Scotellaros spielt dabei – so Levi – die gleichzeitige Zugehörigkeit wie Distanz des Autors, der seinen Weg der Wahrheitsfindung oft über die Poesie geht: Rocco H un poeta per cui la poesia H creazione per s8 e per gli altri, per tutti; H scoperta della verit/, e nasce soltanto da un rapporto con gli uomini e col mondo, che H un rapporto di amore che non si esaurisce con l’identificazione, ma comporta come momento necessario la coscienza del rapporto, la differenziazione e il distacco. […] Rocco H del tutto nel mondo contadino, parte di esso per nascita, per costume, per lingua, per solidariet/ di natura, e insieme ne H necessariamente fuori per la sua qualit/ espressiva.812
Besonders in diesen konträren Eigenschaften von Zugehörigkeit und Distanz und einer sich in poetischer Sprache ausdrückenden, wahrheitssuchenden Literatur, stehen sich Desiati und Scotellaro nahe. Auch in der Strukturierung der Werke sind Parallelen festzustellen. So ist Desiatis Il paese delle spose infelici die autobiographische Jugenderzählung des Südens, die prägende Phasen des Autors im Alter Ego des Veleno wiedergibt und somit von seiner Stellung mit der Uva puttanella korreliert. Das spätere und erwachsenere Werk Foto di classe basiert – wie die Contadini del Sud – auf einem Fragebogen und steht in verhältnismäßig rationaler Ergänzung zum ersten Werk. Warum hat man den Süden erzählt und warum erzählt man ihn heute? Seine Eigenart besteht darin, dass er in der Zeit stillzustehen scheint, er ist nicht ›aktuell‹, wodurch er als politisches und literarisches Thema an Aktualität gewinnt. Levi formuliert im Vorwort zu Scotellaros L’uva puttanella: »Quel mondo dei padri e dei santi contadini, quel mondo senza storia, non era un idolo mentale ma un punto di partenza tuttavia presente […]. Se abbiamo narrato di 809 810 811 812
Vgl. ebd., S. 228. Vgl. ebd. Ebd., S. 74. Levi 2001, S. 228f.
Il paese delle spose infelici: Annalisa d’Efebo als Allegorie Apuliens
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quel mondo immobile era perch8 si muovesse.«813 Und sicher hat sich der Süden Italiens bewegt, nicht jedoch gleichermaßen im Verhältnis zum Norden. Er ist anders geworden, hat sich modernisiert und doch seine Identität bewahrt. Einiges scheint – zumindest in der literarischen Darstellung – aus der Vergangenheit konserviert zu sein. Die Zeilen Desiatis klingen wie ein Echo oder eine Antwort auf Levis Postulat: »Su un certo Sud, su certe relazioni che lo animano e lo proiettano sugli scenari sequenziali della storia, aleggia sempre un’aurea esotica, folcloristica. Quella che puk essere definita una visione arcaizzante degli uomini e della loro roba.«814 Im besonderen Fokus scheint nicht nur die Misere der bei Levi im Kollektiv und bei Scotellaro exemplarisch dargestellten Bauern zu stehen. Neben geographischen Spezifika rücken auch zeitliche Aspekte in den Mittelpunkt und lassen den Süden zu einem eigenen Chronotopos werden. Einen Raum außerhalb der regulären Zeit anzusiedeln (auch wenn er in der Realität verankert ist), ruft per se etwas Magisches mit auf, das in der dargestellten Kultur tiefe Wurzeln zu haben scheint. Bei Levi manifestiert sich das unter anderem in der donna-strega. Überhaupt kommt dem Weiblichen eine auffallende Rolle zu, die sich auch in Desiatis Werk feststellen lässt. Daher soll vor allem diese Komponente der Weiblichkeit in der Darstellung des Südens im Folgenden mit Blick auf Il paese delle spose infelici im Fokus der Analyse stehen. Was narrative Technik und Struktur angeht, so sind alle Werke – die der Schriftsteller aus dem 20. Jahrhundert wie auch die des aktuellen Autors – im Bereich der Ich-Erzählung angesiedelt. Immer spricht ein homo- beziehungsweise autodiegetischer Erzähler von seinen Erfahrungen. Teilweise lässt dieser Erzähler weitere Figuren zu Wort kommen, die wiederum für eine bestimmte Gruppe stehen. Außerdem vereinen alle Werke malerische und poetische Nuancen (vor allem in der Landschaftsbeschreibung) mit Zahlen und Fakten aus dem südlichen Alltag, sodass sich ein ausgewogenes Portrait der Region(en) ergibt, dessen moderne Zusammensetzung anhand des Werkes Foto di classe vorgeführt werden soll.
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Il paese delle spose infelici: Annalisa d’Efebo als Allegorie Apuliens
Bereits der Titel Il paese delle spose infelici ist bedeutungsträchtig. Er ruft einen Ort in seinem besonderen Status auf, nämlich als eine Umgebung, in der Frauen, im Besonderen Bräute, dem Unglück anheimgegeben sind. Bereits an dieser 813 Carlo Levi: »L’uva puttanella di Rocco Scotellaro (C. Levi [1955])«, In: Bronzini 1996, S. 164–182, hier besonders S. 173–177. 814 Mario Desiati: Il paese delle spose infelici. Milano: Mondadori 2008, S. 95.
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Stelle lässt sich ein Pessimismus und Fatalismus erahnen, den man etwa aus den Erzählungen und Romanen Vergas und den Theorien Fortunatos kennt. Auch der Ich-Erzähler proklamiert ein vorherrschendes »diritto alla nostalgia« für sich.815 Der Titel, der von Desiati als diceria, also als eine Art Gerücht oder Redensart ausgewiesen wird und damit (zumindest vorgeblich) eine tatsächliche Referenz nachweisen kann, durchzieht den gesamten Roman wie ein Refrain816 und erinnert damit gleich zu Beginn an chorales Erzählen.817 Verbunden ist dieser Refrain stets mit einer die Region beschreibenden Eigenschaft, mit Aussagen über Politik, den Fußball als Narkotikum für die Jugend, der Deskription eines Ort, der die Suche nach Antworten herausfordert, der vor allem im Zeichen des Misserfolgs steht, mehr noch als in dem eines Fluchs. Das Gebäude im historischen Zentrum des Ortes, von dem sich die Frauen vornehmlich in den Tod stürzen, wird zum »palazzo della sposa«, die Frauen zu »Emme Bovary meridiane, dalle sopracciglia folte, i visi ovali, le mani minute, i piedi scalzi, le caviglie grandi e poi la vocazione alla tragedia.«818 Das weibliche Unglück scheint stellvertretend für die Situation der Region in den Mittelpunkt zu rücken. Es wird zum verbindenden Element der gesamten Gemeinschaft: Ciascuno di noi poteva contare nel proprio albero genealogico una sposa infelice. Una zia, una bisnonna, un’ava con le stimmate dell’insoddisfazione. La depressione per reazione o ribellione ai destini di nozze e dunque di morte. La ragnatela di relazioni che ci univa tutti era in quell’insondabile maledizione: ho conosciuto, ho saputo, ho visto, ho stretto il cuore di una sposa infelice. Ogni figurina del mio album era unita all’altra da tutto questo.819
Der Autor selbst erklärt das Phänomen, das für seinen Roman ausschlaggebend wurde, zu einer Geschichte, die seinen Heimatort Martina Franca zur Hauptstadt des Suizids mache, jedoch auch in anderen Städten des Südens Gültigkeit habe. Der Süden sei immer noch von einer Prädisposition des Unglücks behaftet, die Fortunato im Konzept der »chiusura« diagnostiziert habe. Jedes Mal, wenn er heimkomme, erzähle man ihm von neuen Fällen. Allein im letzten Jahr seien es 815 Ebd., S. 30. 816 Über 20 Mal ist diese diceria in Varianten in den Text eingewoben, ebd. S. 9, 11, 16, 34, 28, 36, 46 (3x), 48, 59, 71, 82, 96, 111, 150, 171, 207, 208, 209 (2x). 817 Chiara Valerio stellt fest: »Il paese delle spose infelici di Mario Desiati H un romanzo di voci e circostanze, un incrocio. ð plurale nonostante ogni personaggio abbia un nomignolo una titubanza e ogni titubanza una variazione. E ogni variazione suppuri ancora in una nostalgia o in un fallimento.« Dies.: »Giri di parole per rovistare nell’abisso«, Nazione Indiana (03. 09. 2008), hier zitiert in: Severino 2009, S. 7–8. Valerio sieht Desiatis Schreiben generell in der Traditionslinie der Vinti Vergas. Vgl. ebd. Bezüglich des Titels verweist Ranieri Polese auf mögliche Anklänge an den Roman von Jeffrey Eugenides und sowie den gleichnamigen Film The Virgin Suicides (1993). Vgl. Polese 2009, S. 11. 818 Desiati 2008, S. 96. 819 Ebd., S. 46.
Il paese delle spose infelici: Annalisa d’Efebo als Allegorie Apuliens
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drei Frauen gewesen, fast noch Mädchen, im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die sich dazu entschlossen hätten, zu sterben. Die beliebteste Art des Freitods sei, sich irgendwo herabzustürzen, sich ins Leere zu werfen, in einen der vielen Abgründe der Gegend. Besonders der Terminus »precipitazione« habe ihn dabei immer sehr berührt, da er die Eile betone, sein Leben zu beenden, die Dringlichkeit, diese Welt zu verlassen.820 Der Roman, der diese Geschichte literarisch umsetzt, beginnt exemplarisch mit einer Art kollektiver Vision, die sich im Verlaufe der Lektüre textintern als wahr erweist. Es wird eine Szenerie beschrieben, in der eine Braut im weißen Kleid während der Mittagspause der Arbeiter der Stahlfabrik und unter deren Augen, in den kleinen Fluss Taras geht. Die Braut, die in der Beschreibung als weißer Schwan und Sirene erscheint, ist für die Männer unwiderstehlich. Sie folgen ihr ins Wasser.821 Erst zum Ende des Romans wird aufgeklärt, dass die Protagonistin Annalisa D’Efebo ebenjene Braut ist, die den Arbeitern ›erschienen‹ war : E allora si aprirono le scatole cinesi di questo mistero, la sposa che anni prima aveva passeggiato nel Taras non poteva che essere Annalisa, che all’epoca aveva venticinque anni, che doveva essere ancora piF bella, piF innocentemente immolata al mistero, alla macchinazione dei »si dice«, degli esorcismi. […] Annalisa battezzk la sua esistenza di quella missione fantasmatica che sarebbe stata per sempre.822
Mit dieser finalen Ergänzung des Incipits entsteht eine Art Rahmenerzählung, die die Figur der Annalisa zu mehr als nur einer Protagonistin macht, sie wird zur Stütze und zum Zentrum des Romans. Zunächst soll auf Folgendes hingewiesen werden: Der als Schauplatz herangezogene Fluss Taras, der östlich von Tarent ins Meer mündet, ist mythologischer Gründungsort der nahegelegenen Stadt. Der namensgebende Heros Taras ist ein Sohn des Gottes Poseidon und einer heimischen Nymphe, wahrscheinlich Satyra.823 Dieser antike Mythos wird auf den Plan gerufen, da Desiati den alten Namen des Flusses ›Taras‹ verwendet, während im gegenwärtigen Italienisch das auslautende ›-s‹ bereits entfallen ist, es müsste ›Tara‹ heißen. Neben dem Gründungsmythos ranken sich auch Sagen zu Wundern neueren Datums um diesen Ort, der sowohl von Desiati als auch von der örtlichen cronaca, aber auch der Forschung Beachtung erfährt.824 Dadurch wird das Geschehen von vorn820 821 822 823
Vgl. Mario Desiati in Polese 2009, S. 11. Vgl. Desiati 2008, S. 9f. Ebd., S. 211f. Vgl. Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Bd 5. Reprogr. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1916–24, 3. Nachdr.-Aufl. Hg. v. Wilhelm Heinrich Roscher. Hildesheim [u. a.]: Olms 1992, S. 95f. [LW]. 824 So etwa wird erzählt, ein krankes Muli beziehungsweise ein krankes, zum Tode verurteiltes Pferd sei nach einem Bad im Taras wieder zu Kräften gekommen. Bezüglich des seltsamen
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herein mit einem antik-mythologischen Ambiente vernetzt. Der Fluss generell kann als natürliche wie symbolische Grenze gedeutet werden, an dieser Stelle fungiert er als verschwimmende Grenze, denn hier ist er Austragungsort und Treffpunkt disparater Gebiete, nämlich tatsächlicher, mythologischer und industrieller Landschaft. Auch die Figur der Annalisa trägt von Beginn an zweierlei in sich. Einmal ist sie die Protagonistin der Geschichte, die ein stürmisches und mysteriöses Leben führt, zum anderen zumindest eine mythologisch angehauchte Symbolfigur. Dies klingt in ihrem Nachnamen an, der erneut in die Antike führt, D’Efebo zu Griechisch 8phe¯bos und lateinisch ephe¯bu(m) steht für den Jüngling in der Adoleszenz.825 Annalisa wird also zur Frau der Jünglinge, zur – so wird sie im Incipit bereits bezeichnet – Sirene, aber auch gleichzeitig, durch ihre Zuordnung zum Schwan und wiederum mit Blick auf die Antike, zu etwas Göttlichem mit dem eingeschriebenen Merkmal des ›Wahr-sagens‹ im Angesicht des Todes: Kassandra, Antigone und Sokrates zeugen, im Angesicht des Todes, von einer gesteigerten seherischen Fähigkeit. Die divinatorischen Kräfte, die die Verbindung zum prophetischen Vogel Apollons, dem Schwan, erklären, stehen bei den weiblichen Figuren im Zeichen des Untergangs, während sie im Falle des Sokrates der Befreiung, dem begeisterten ›Übergang‹ dienen. Die prophetisch-wahre Rede, die in diesen Schlüsselstellen der Texte eines Aischylos, Sophokles oder Plato zum Ausdruck kommt, hat zugleich poetologische Bedeutung, betrifft sie doch auch die ›Sehkraft‹ der Fiktionen, in denen sie ertönt.826
Mit Blick auf diese vielschichtige Inszenierung des Incipits wird davon ausgegangen, dass nicht nur im sensus litteralis eine Geschichte, nämlich die des Veleno und seiner Freunde, vor einem spezifisch erkennbaren apulischen Hintergrund erzählt wird. Vielmehr ist in der Beschreibung der Annalisa ein sensus allegoricus erkennbar, durch den der Süden nicht nur erzählt wird, sondern sich in der weiblichen Figur verkörpert und in seiner Schicksalhaftigkeit selbst darstellt. Diese Allegorie kann sich zum Teil aus den soeben aufgeführten antiken Prätexten konstituieren, aber auch aufgrund topisch gewordener FragGeruchs des Wassers ist nicht eindeutig zuzuordnen, ob dieser von der Quelle oder der nahe gelegenen Stahlfabrik kommt. Vgl. Desiati 2008, S. 9f., Alessandro Leogrande: »La leggenda del fiume Tara«, Il sole 24 ore (03. 08. 2016), [IQ], außerdem: Redazione: »I luoghi del Mito. Il Fiume Tara, alle sorgenti di Taranto«, Fame di sud (25. 10. 2013), [IQ]. 825 efHbo, s. m. nell’antica Grecia, giovinetto che, superati i diciotto anni, era istruito nella muscia, nella letteratura e nell’uso delle armi (1828 Marchi), adolescente, giovane non pienamente virile (av. 1817, G. Zanoja; attest. isolamente in F. Sassetti, 1583). efHbico, agg. da efebo (1889, G. D’Annunzio). Vc. dotte, lat. ephe¯bu(m), col der. ephe¯bicu(m), dal gr. 8phe¯bikjs (he´¯be¯). Siehe DELI–Dizinoario Etimologico della Lingua Italiana 1999, S. 507, Spalte 2., [LW]. 826 Michael Jakob: »Schwanengefahr«. Das lyrische Ich im Zeichen des Schwans. München [u. a.]: Hanser 2000, S. 19.
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mente aus der meridionalistischen Literatur zum Beispiel eines Carlo Levi und seiner Vorläufer. Die Allegorie hat eine lange Tradition, in der sie in Wahrnehmung und Rezeption zunehmend zersplittert und vieldeutig wird. Die sicher geläufigste Variante allegorischer Darstellung ist die bildliche Verkörperung, die damit an die Kategorie der Personifikation grenzt: Die Verkörperung / Personifizierung von Begriffen und Vorstellungen, Tugenden und Lastern, von Ideen, Körperschaften, Institutionen, Städten und Nationen wurden in der abendländischen künstlerischen Tradition der Körperdarstellung nahezu zum Synonym für die Allegorie. […] Durch die verbreitete Assoziierung von Weiblichkeit und Natur aber kann man davon ausgehen, dass die Repräsentation von Kunst-, Staats- oder Gemeinschaftsidealen durch vorwiegend weibliche Körperbilder der Naturalisierung der jeweiligen Konstruktionen dient, sie also als natur- oder gottgegeben legitimiert.827
Annalisa – das soll gezeigt werden – fungiert im Text als allegorische Personifikation Apuliens zwischen Schönheit und Hölle, Vitalität und Tod, Altertum und Moderne und einem fatalistischen Hang zum Unglück und schreibt sich damit in eine bereits bestehende Tradition früherer Meridionalismen ein. Diese für Annalisa und die Region angenommene innere Zerrissenheit hat auch Carlo Levi bezüglich des Südens (insbesondere für Matera) bereits Mitte des 20. Jahrhunderts erkannt: »Nelle grotte dei Sassi si cela la capitale dei contadini, il cuore nascosto della loro antica civilt/. Chiunque veda Matera non puk non restarne colpito tanto H espressiva e toccante la sua dolente bellezza.«828 Und weiter beobachtet er : »In questa civilt/, prossima all’indistinzione con la natura e con il mondo, ogni immagine, ogni volont/ ha il potente aspetto delle cose pensate, immaginate o volute per la prima volta; ogni cosa assume insieme i caratteri del realismo e della mitologia.«829 Bereits bei Levi wird der Süden als dominant weiblich beschrieben: Gli uomini mancano e il paese appartiene alle donne. […] l’autorit/ delle madri H sovrana. […] In paese ci restano molto piF donne che uomini: […] il regime H matriarcale. Nelle ore del giorno, che i contadini sono lontani, il paese H abbandonato alle donne, queste regine-uccelli, che regnano sulla turba brulicante dei figli.830
Dieses Ungleichgewicht findet seine Begründung in den damaligen Auswanderungswellen nach Amerika. Aus eben jenem Grund, dem Fortgang der (Ehe-) Männer, gab es eine Vielzahl unehelich geborener Kinder, die in dieser Region 827 Sigrid Schade / Monika Wagner / Sigrid Weigel: »Allegorien und Geschlechterdifferenz. Zur Einführung«, In: dies.: Allegorie und Geschlechterdifferenz. Köln [u. a.]: Böhlau 1994, S. 1– 7, hier S. 1f. 828 Carlo Levi: Le mille patrie. Uomini, fatti, paesi d’Italia. Roma: Donzelli 2000, S. 193. 829 Ebd., S. 175. 830 Carlo Levi: Cristo si H fermato a Eboli. Turino: Einaudi 62014, S. 89.
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im Übrigen nicht als ›Schande‹ gewertet werden. Im Cristo wird weiterhin ausgeführt: Il prevalente rapporto matriarcale, il modo naturale e animalesco dell’amore, lo squilibrio dovuto all’emigrazione devono tuttavia fare i conti con il residuo senso familiare, col sentimento fortissimo della consanguineit/, e con gli antichi costumi, che tendono a impedire il contatto degli uomini e delle donne.831
Frauen, die in einer gewissen Freizügigkeit lebten und liebten und die woanders ohne Weiteres als Huren bezeichnet worden wären, bekommen hier magische Kräfte zugesprochen und werden als »le streghe« bezeichnet.832 Dieser Typ Frau scheint der Vorläufer für die spätere allegorische Figur der Annalisa zu sein. Die prominenteste der streghe im Werk Levis ist Giulia Venere, die mit 21 Jahren bereits 17 Schwangerschaften (einschließlich einiger Aborte) von 15 verschiedenen Vätern hinter sich hat. Der Vater des ersten und einzigen ehelichen Kindes ist – wie viele der Männer – nach Amerika ausgewandert. Die Beschreibung der Frau zeigt die Art und Weise auf, in der sich die Bewohner des Südens mit den gegebenen Bedingungen arrangierten. Nicht nur der Nachname Giulias, Venere (Venus), verankert die Figur in antiken Mythologien und zugleich im Bereich der Liebe und Erotik, auch ihre Beschreibung zielt in diese Richtung: Giulia era una donna alta e formosa, con un vitino sottile come quello di un’anfora, tra il petto e i fianchi robusti. Doveva aver avuto, nella sua gioventF, una specie di barbara e solenne bellezza. Il viso era ormai rugoso per gli anni e giallo per la malaria, ma restavano i segni dell’antica venust/ nella sua struttura severa, come nei muri di un tempio classico, che ha perso i marmi che l’adornavano, ma conserva intatta la forma e le proporzioni. Sul grande corpo imponente, diritto, spirante una forza animalesca, si ergeva, coperta dal velo, una testa piccola, dall’ovale allungato. […] gli occhi a mandorla, neri e opachi, avevano il bianco venato di azzurro e di bruno, come quelli dei cani. Il naso era lungo e sottile, un po’ arcuato; la bocca larga, dalle labbra sottili e pallide, con una piega amara, si apriva per un riso cattivo a mostrare due file di denti bianchissimi, potenti come quelli di un lupo. Questo viso aveva un fortissimo carattere arcaico, non nel senso del classico greco, n8 del romano, ma di una antichit/ piF misteriosa e crudele, cresciuta sempre sulla stessa terra, senza rapporti e mistioni con gli uomini, ma legata alla zolla e alle eterne divinit/ animali. Vi si vedevano una fredda sensualit/, una oscura ironia, una crudelt/ naturale, una protervia impenetrabile e una passivit/ piena di potenza, che si legavano in un’espressione insieme severa, intelligente e malvagia. […] Giulia conosceva tutti e sapeva tutto: le case di Gagliano non avevano segreti per lei, e i fatti di ciascuno, e i particolari piF intimi della vita di ogni donna e di ogni uomo, e i loro sentimenti e motivi piF nascosti. Era una donna antichissima, come se avesse avuto centinaia d’anni, e nulla percik le potesse esser celato; la sua sapienza non era quella bonaria e proverbiante delle vecchie, legata a una 831 Ebd., S. 90. 832 Ebd.
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tradizione impersonale, n8 quella pettegola di una faccendiera; ma una specie di fredda consapevolezza passiva, dove la vita si specchiava senza piet/ e senza giudizio morale: n8 compatimento n8 biasimo apparivano mai nel suo ambiguo sorriso. Era, come le bestie, uno spirito della terra.833
Dieses lange Zitat mag an dieser Stelle dadurch gerechtfertigt sein, dass es zentrale Aspekte der Darstellung des Südens in seiner Kulmination in der Rolle der donna-strega verdeutlicht. Die klar erkennbare Schönheit der Frau ist durch Krankheit, die den damaligen Süden zerfressende Malaria, verzerrt, jedoch nicht zu leugnen. In der Beschreibung der noch erkennbaren Anmut der Frau, der »antica venust/«, wird noch einmal die im Nachnamen bereits alludierte Venus ins Spiel gebracht, die im Vergleich mit den Mauern eines klassischen Tempels erneut Bezug zu einem antiken Heiligtum erfährt. Auf der anderen Seite wird das stetige Metaphernfeld des Animalischen aufgebaut: Mit den Augen des Hundes und den Zähnen einer Wölfin bekommt Giulia zusätzlich zur klassischen Schönheit im Verfall etwas Instinktives und Grausames und steht in der Traditionslinie der »Lupa« aus den Erzählungen Vita dei campi von Verga.834 Zuletzt wird Giulia als »donna antichissima«, die mehr als hundert Jahre alt sein könnte und alle, auch die intimsten Geheimnisse der Menschen ihrer Umgebung kennt, der Zeit enthoben und zu einem Geist der Erde. Bereits die wichtigste weibliche Figur in Cristo si H fermato a Eboli scheint mehr als nur reine Beschreibung. Die Frau weist in ihren Charakteristika eine enge Verbindung zu der sie umgebenden Erde und ihren Mitmenschen auf. Allerdings fehlt Giulia eine ähnlich starke, sich in der Geschichte entwickelnde Rolle, wie sie die Annalisa in Il paese delle spose infelici innehat. Die symbolträchtige Beschreibung der Giulia konzentriert sich vorrangig auf eine Passage, die wichtige Motive und Impulse in sich trägt. Diese findet man in der Figur der Annalisa wieder, deren Schönheit, Krankheit, Tod und Mysterium allerdings über den Roman peu / peu aufgedeckt werden. Nach der Beschreibung der noch namenlosen sposa im Incipit des Romans Desiatis beginnt die eigentliche Erzählung aus Sicht des Ich-Erzählers, der im Rückblick von seiner Adoleszenz im Süden Italiens berichtet. Dabei fällt die Wahl des Beginns der Erzählung ›vor den Augen des Lesers‹ bewusst auf die Einführung der Figur der Annalisa, die damit zur tragenden Säule des Romans erhoben wird: Torna spesso quell’immagine della sposa nel torrente. Nel paese delle spose infelici ogni diceria era il segnale di questa maledizione. Non H certo una coincidenza che da queste parti la maledizione in dialetto si chiami affascino. […] Dovrei iniziare da Annalisa D’Efebo, dovrei iniziare a raccontare di come la conobbi. Dovrei raccontare della sua 833 Ebd., S. 91f. 834 Vgl. Giovanni Verga: »La Lupa«, In ders.: Tutte le novelle. Hg. v. Carla Riccardi. Milano: Mondadori 1979, S. 197–201.
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seduzione, di quel fascino che poco alla volta diventk affascino. Annalisa svettava sulle vite di Martina Franca, tutte apparentemente secondarie, ma tutte indispensabile a dare il ritmo al corso degli eventi come minuscoli tamburi militari.835
In einem Dreischritt wird erklärt, dass jede diceria Zeichen dieses Fluchs sei, dass der Fluch im Dialekt als affascino bezeichnet würde und dieser affascino Annalisa zuzuordnen sei. Schnell wird hier klar, dass affascino über die reine weibliche Faszination und Verführungskraft hinauszugeht. Das Konzept des affascino gehört in den Bereich der Magie. Durch diese Eigenschaft scheint Annalisa über die anderen ›Leben‹ Martina Francas hinauszuragen, über ihnen zu thronen oder zu herrschen, und dennoch sind die sie umgebenden Figuren unentbehrlich für den gegebenen Rhythmus. Von Beginn an wird hier eine symbiotische Beziehung aufgezeigt. Ernesto De Martino sieht in der Alternative zwischen Magie und Rationalität eines der großen Themen, auf denen sich die moderne Zivilisation gründet. In seiner Monographie Sud e magia macht er es sich zu Aufgabe, darzulegen, in welchem Maß und innerhalb welcher Limits der Süden an einer entsprechenden Entwicklung teilgenommen hat.836 Ein Basisthema in zeremoniellen Bereichen der Magie ist die Faszination, im Dialekt fascinatura oder affascino: Con questo termine si indica una condizione psichica di impedimento e di inibizione, e al tempo stesso un senso di dominazione, un essere agito da una forza altrettanto potente quanto occulta, che lascia senza margine l’autonomia della persona, la sua capacit/ di decisione e di scelta. Col termine affascino si designa anche la forza ostile che circola nell’aria, e che insidia inibendo o costringendo. […] La fascinazione comporta un agente fascinatorie e una vittima, e quando l’agente H configurato in forma umana, la fascinazione si determina come malocchio, cioH come influenza maligna che procede dallo sguardo invidioso (onde il malocchio H anche chiamato invidia), con varie sfumature che vanno della influenza piF o meno involontaria alla fattura deliberatamente ordita con un cerimoniale definito, e che puk essere – ed H allora particolarmente temibile – fattura a morte. L’esperienza di dominazione puk spingersi sino al punto che una personalit/ aberrante, e in contrasto con le norme accettate dalla comunit/, invade piF o meno completamente il comportamento: il soggetto non sar/ piF allora semplicemente un fascinato, ma uno spiritato, cioH un posseduto o un ossesso, da esorcizzare.837
Von Beginn an wird die Figur der Annalisa mit den Elementen der Faszination, aber auch denen des Fluchs und der Obsession verknüpft; Sie rettet ihre Mit835 Desiati 2008, S. 11. 836 Vgl. Ernesto De Martino: Sud e magia. Milano: Feltrinelli 91980, S. 8. 837 Ebd., S. 13. De Martino bezieht sich in diesem Kapitel vornehmlich auf magische Traditionen Lukaniens, die aber hier aufgrund der großen Nähe und Ähnlichkeit der beschriebenen Konzepte kompatibel und damit anwendbar erscheinen.
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menschen, indem sie sie in die Tiefe stürzt; sie führt zum Abgrund.838 All dies kulminiert in ihrer Bezeichnung als Händlerin des affascino, die in direkter Nähe zur beschriebenen Landschaft steht: Annalisa, bionda e spigolosa officiante dell’affascino, era quella che in estate portava guanti bianchi da cocotte, o andava in chiesa vestita come uno zuccherino smovendo l’aria con un ventaglio di carta. […]. Per alcuni lei era solo una tenera distrazione della ragione; per altri il fiore all’occhiello di Martina, citt/ di trulli, vino bianco e belle fanciulle, dove anche le matte sono donne affascinanti.839
Optisch weicht Annalisa von dem bei Levi beschriebenen Frauentypus ab, scheint sich hier jedoch in ihrer blonden Exaltiertheit in die in der Beschreibung eher hell konnotierte Landschaft mit ihren Eigenheiten (»trulli, vino bianco«) einzufügen. Aber auch in ihrer Beschreibung trifft man auf eine enge Verbindung zwischen Hure und Heiliger, die sich in einem Kirchenbesuch in fragwürdiger Kleidung ausdrückt, ebenso wie im Rückgriff auf Vergangenheit und Kunst der Umgebung: Il suo profilo fu fulminante, un disegno del passato, la prosa precisa di un affresco su anfora, i capelli biondi, adornati e brillanti come le sculture degli ori di Taranto. Mi apparve come un mutamento, la trasformazione dall’acquaragia alla carne, dalla tempera alle ossa, dall’argilla alla pelle, da una teca al sangue. Era lei, Annalisa. […] la senatrice era bella e scioccante.840
In ihrer außergewöhnlichen Art, Einfluss auf Menschen und Dinge zu haben, wird sie schließlich zum Dämon: »Nell’immaginario Annalisa diventk una che poteva solo essere disprezzata o amata, interferiva con il corso delle cose, dunque era un demone.«841 An dieser Stelle ist zu bemerken, dass die Benennung als Dämon weniger als moderne Personifizierung des Bösen zu verstehen ist. Vielmehr ist der Blick auch hier in die Antike zu lenken, in der der Dämon zwar auch eine nicht umfassend greifbare Wesenheit ist, mehr jedoch mit dem Schicksalhaften zusammenfällt.842 Der Dämon nimmt etwa bereits in der Ilias 838 »Annalisa era questo, sembrava percorrere le strade sbagliate, salvava le persone spingendole nel baratro. Era sempre in mezzo ai maschi e agli ultimi, i pazzi e gli ammalati.« Siehe Desiati 2008, S. 13 und: »In quella banalit/ c’era il mistero di Annalisa, un chiavistello che portava ai pozzi piF abissali.« Siehe ebd., S. 14. 839 Ebd., S. 11f. 840 Desiati 2008, S. 37. Als »senatrice« wird die Figur bezeichnet, da sie sich gerne in Gesellschaft der Alten aufhält. Vgl. ebd., S. 14. 841 Ebd., S. 14. An andere Stelle wird vertiefend erwähnt, Annalisa verströme affascino in der Mythologie der Städte: »PiF l’origine era nebulosa, piF assumeva inevitabilmente il fascino dell’oscuro, come l’affascino che quella sconosciuta Annalisa D’Efebo sprigionava nelle mitologie cittadine.« Ebd., S. 29. 842 »Das griechische Wort D. bezeichnete zunächst vermutlich die Schicksal zuteilende Funktion einer beliebigen, nicht näher bestimmten Gottheit, dann diese selbst. Dieses geheimnisvoll unbestimmte, göttliche Wesen konnte zum Guten und zum Bösen wirken.
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oder der Odyssee Einfluss auf das Handeln der Menschen, sowohl punktuell als auch in größerem Rahmen,843 ein Vorgehen, dass hier mit der Aussage, Annalisa »interferiva con il corso delle cose« vergleichbar ist. Diese Einflussnahme, eine innere Ambiguität sowie Annalisas Zuordnung zur sie umgebenden Landschaft wird zu Beginn des fünften Kapitels expliziert und in Rückgriff auf zwei Romane des russischen Realisten F[dor Mihajlovicˇ Dostoevskij in einen bemerkenswerten intertextuellen Kontext gesetzt:844 Annalisa: immagine in cui riflessi i miei vaneggiamenti, le mie persuasioni, le mie fantasie. Annalisa: crepiti di pigne verdi fra le braci, tramontana di maggio, ombre e lanugini, Stavrogin e Filipovna, demoni e serenit/.845
In diesem fünften Kapitel setzt der Verfall der Annalisa ein, die Komponente des Verderbens rückt stärker in den Fokus. In einer kleinen Geste während eines Ausflugs in die zerklüfteten Felsschluchten von Massafra wird ihr Einfluss auf die Jungen beziehungsweise heranwachsenden Männer deutlich: Ci convock [Annalisa] con un gesto imperioso, come un’insegnante che richiama i propri alunni. Il volto angelico d’un tratto acquistk il sentimento della diabolica maestra di cerimonia. […] Le venne sotto subito Meo ammaliato innanzi a quella statua corruttrice. Annalisa mise le dita sotto il suo mento, gli alzk la testa e con sufficienza gli alitk a pochissimi centimetri dalle labbra che era arrivato il momento di farsi la barba. Annalisa con un rimprovero dolce, ma fermo, aveva lanciato un segnale: ci teneva tutti in pugno.846
843 844 845 846
Der D. wurde mit der Zeit individuell aufgefaßt und dem persönlichen Schicksal des Einzelnen ziemlich gleichbedeutend. Daneben bilden die Dämonen (Daimones) eine Zwischenstufe zwischen Göttern und Heroen, oder wurden als Verstorbene angesehen, die aus ihren Gräbern auf die Lebenden einwirken. Dem volkstümlichen Glauben an den D. als persönlichen Schutzgeist stand die philosophische Auffassung des D. als des höchsten, göttlichen Teiles der menschlichen Seele gegenüber. In christlicher Zeit wurden die Dämonen zu bösen Geistern oder Teufeln.« Lexikon der griechischen und römischen Mythologie: mit Hinweisen auf das Fortwirken antiker Stoffe und Motive in der bildenden Kunst, Literatur und Musik des Abendlandes bis zur Gegenwart von Herbert Hunger. 5., erw. und erg. Aufl. Wien: Hollinek 1959, S. 79. Vgl. Franziska Geisser: Götter, Geister und Dämonen. Unheilsmächte bei Aischylos – zwischen Aberglauben und Theatralik. München [u. a.]: Saur 2002, S. 7ff. Desiati zitiert hier wichtige Figuren aus Dostoevskij Romanen Die Dämonen (Nikolaj Stavrogin) und Der Idiot (Nastas’ja Filipovna) die weitere interessante Aspekte liefern könnten, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann. Desiati 2008, S. 52. Ebd., S. 55f. Als von Annalisa besessen bezeichnet sich auch der Ich-Erzähler selbst sowie seinen Freund Fedele: »Sono stato con lei! La Madonna randagia H dimenticata, era solo un capriccio! Annalisa si H impossessata di me.« Ebd., S. 70 sowie »Quel giorno stesso raccolsi la confessione di Fedele: Annalisa lo aveva toccato con la sua maledizione. La stessa che aveva toccata me.« Ebd. S. 73.
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Die Geste Annalisas ist nicht bittend oder fragend, sondern gebieterisch; sie wird zu einer autoritären Lehrerin, ist an dieser Stelle Engel wie Teufel. Die Macht, die sie über die Jungen hat, wird nicht nur jugendlich erwachender Sexualität zugeordnet, sondern auch dem Verfall der weiblichen Figur, der wiederum mit der Geschichte örtlicher, korrupter und populistischer Politiker und deren Wahlkampagnen verflochten ist. Gleichzeitig erscheint Annalisa hier erstmals in eindeutiger Allusion als unwiderstehliche Braut: Pochi mesi dopo inizik a girare la voce che Annalisa se la faceva con le bestie. […] E lei divenne sempre piF strana e sciroccata, sola e, nonostante avesse assunto un fascino torbido, nessuno sembrava volerla piF. […] Mi avvicinai sospinto dalla sua solitudine. Le guardai lungamente le scarpe bianche da sposa che stonavano con ogni centimetro del vestito, poi mi fissai sul suo immancabile ventaglio e sui piccoli guanti di velo. La congiura di quegli orpelli per renderla piF solitaria funzionava. Ma funzionava anche su di me, ipnotizzandomi. […] Annalisa mi aveva marchiato. Aveva interferito nella mia pace, aveva dato corpo ai demoni della pornografia citiana, […] Annalisa era l’altare sul quale sacrificare la purezza. Annalisa avrebbe sublimato tutto questo, avrebbe reso romantico l’osceno.847
Annalisa wird an der Stelle des Werkes herabgewertet und zu etwas Bestialischem, anhand dessen das Korrumpierte der Region zur Darstellung kommt. Die »pornografia citiana« bezieht sich auf die Politik Giancarlo Citos; Cito, seit Ende der Achtzigerjahre im Gemeinderat, wird 1993 zum ersten Mal zum Bürgermeister gewählt. Noch vor Berlusconi greift er in seinem Wahlkampf auf die eigene Eitelkeit reflektierende Methoden zurück und arbeitet mit den von ihm gegründeten und ihm unterstehenden lokalen Fernsehsendern AT6 und Super 7, die auf Selbstinszenierung, Voyeurismus und Softporno bauen.848 Annalisa 847 Desiati 2008, S. 57f. 848 Cito selbst war Bürgermeister Tarantos von 1993 bis 1996 und Gründer von AT6 – Lega d’Azione Meridionale. Nachdem Giancarlo Cito im Jahr 2002 aufgrund mafiöser Tätigkeiten zu einer Haftstrafe verurteilt worden war und somit nach Artikel 416-bis nicht mehr kandidieren durfte, inszenierte er in einer Art Theatercoup seinen bislang mehr oder minder unbekannten Sohn Mario als Kandidaten. Auf den Plakaten war jedoch nur der Nachname und nach wie vor das Gesicht des Vaters zu sehen. Einige Jahre später wiederholte sich das Szenario und kulminierte in einem pornografischen Wahlwerbespot. Eine junge Frau bekommt während ihrer Stimmabgabe an der Urne einen Orgasmus. Das äußerst mediengebundene Vorgehen des Politikers sowie seine mafiösen Verbindungen machen ihn zu einem Vertreter politischer Korruption und Populismus in einer Form, die unter Berlusconi den Neologismus berlusconismo prägte. Die politische wie mafiöse Geschichte des Giancarlo Cito verarbeitet Alessandro Leogrande, einmal nachzulesen im Artikel »L’eterno ritorno di Giancarlo Cito«, In: Christian Raimo [Hg.]: Il corpo e il sangue d’Italia. Otto inchieste da un paese sconosciuto. Roma: Minimus fax 2007, S. 11–51; außerdem ist das Thema im ersten Teil seines Werks Fumo sulla citt/ (Roma: Fandango libri 2013) aufgegriffen. Desiati räumt der politischen Figur Citos sowohl im Folgekapitel »Annegare tra due mari« des vorliegenden Romans als auch in Foto di classe erneut Platz ein. Vgl. etwa Desiati 2008, S. 62ff. sowie Mario Desiati: U uagnon se n’asciot. Roma / Bari:
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scheint – ebenso wie die korrupte Politik – eine Art ›trübe Faszination‹ auszustrahlen, wie jemand, der sich als etwas Besseres ausgibt als er ist. So wie die Politker im Sumpf der Korruption versinken, vermag auch das getragene Brautkleid Annalisas freizügigem Leben nicht gerecht zu werden. Ihre Anziehungskraft verliert sie trotzdem nicht. So wird sie in diesem Moment zur Verkörperung der Dämonen einer politisch-medialen Interferenz, wird einmal mehr zur apulischen Realität. Gleichzeitig wird sie als in ihrer Wesenheit kaum greifbar dargestellt: In un luogo dove le spose erano infelici le estati erano austere ma confortanti. Eppure H proprio da una di quelle estati misere che avrei dovuto desumere i particolari che legavano indissolubilmente Veleno, Zaz/ e la regina degli animali. Nel mettere a punto i quaderni di questa storia c’H un tratto che non posso riportare, H l’essenza di Annalisa. Ho addosso il miraggio del suo odore, ma non riesco ad afferrarlo, se non per un istante.849
Dies sind die beiden rekurrenten Komponenten des Textes. Der Refrain der unglücklichen Bräute, die stets mit einem beschreibenden Element verbunden sind sowie der Versuch, die Geschichte der Annalisa einzufangen. In ihrer Verbindung fällt auf, wie sehr die junge Frau stets jeder Umgebung eingeschrieben zu sein scheint und jeweils sowohl Schönheit als auch Abgrund der Landschaft in sich spiegelt: Filammo dentro il ventre rovente di Taranto e spuntammo nel grande parcheggio dove Annalisa ci aveva dato appuntamento. Lei era accanto a un autobus, poggiata con la schiena, in stivali invernali e una sottoveste nera, sola, con due cagnacci che le annusavano le gambe. »ð davvero la regina delle bestie« pronuncik solennemente Meo. […] Annalisa rimase ferma nella sua posa statuaria e contro le sue gambe nude scintillavano i colori chiari di quel pomeriggio, i mari blu di Taranto, il cielo arrugginito e tutta la mia fame. […] Eravamo sulla salita mortale dell’Orimini, alle spalle il mare furioso e la distesa cinerina di Taranto, avanti le rampe tortuose dove sorgevano i piccoli mausolei mortuari per le vittime di quella strada maledetta.850
Laterza 2009, Kapitel »I fuggiti«, S. 24ff. Der Wahlwerbespot ist noch immer online verfügbar, siehe zum Beispiel o. A.: »Elezioni hot. Taranto, c’H il porno spot elettorale«, Liberoquotidiano, [IQ]. Der Terminus berlusconismo ist ein Neologismus, der soziale Phänomene subsummiert, die mit dem Aufstieg und der Regierungsform Silvio Berlusconis korrelieren. Paolo Flores D’Arcais versteht den berlusconismo als eine postmoderne Form des Faschismus. Vgl. ders.: »Fascismo e Berlusconismo«, Novos Estudos – CEBRAP 91 (2011), S. 55–73, [IQ]. Einen umfassenden Überblick über Berlusconis Vorgehen während und nach seiner Amtszeit gibt Vittorio Prada: Videocrazia e teatralizzazione della politica nell’era berlusconiana: potere dell’immagine e nuove strategie comunicative (1994–2012). Berlin: Frank & Timme 2014. 849 Desiati 2008, S. 71. 850 Ebd., S. 101f.
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Der ›brennende Bauch‹ Tarantos (»ventre rovente«) spielt erneut auf die Stahlfabrik Ilva an, die einerseits für Arbeitsplätze sorgt, andererseits häufig tödliche Begleiterscheinungen für die Angestellten und die Umgebung bereit hält.851 Wird die Bedrohlichkeit der Umgebung zu Beginn des Abschnitts angedeutet, expliziert sich diese Eigenschaft zum Ende der Passage durch die Beschreibung der Bundesstraße 172 (Strada Statale 172 dei Trulli, »salita mortale dell’Orimini«) als tödlich.852 Interessant ist, dass genau dieser Straßenabschnitt einen Gesamtblick auf die ionische Stadt Tarent zulässt und der Szenerie, in der Annalisa als Königin der Tiere oder Bestien bezeichnet wird, in einen sehr umfassenden Kontext setzt. Auch die umgebende Landschaft ist bedrohlich: das Meer wütend, die Ebene aschgrau, die gewundenen, abschüssigen Kurven der verfluchten Straße von Mausoleen ihrer Opfer umgeben. All diese Details schimmern in den Beinen Annalisas wieder. Annalisa ist jedoch der Landschaft – kultureller wie natürlicher – nicht nur verbunden, sie geht auch in ihr auf, und entgegen der geäußerten Bedenken scheint hier einen Moment lang ihre Essenz fassbar : Annalisa aveva le gambe rosse per la corsa e i graffi degli arbusti che attraversava con una foga bambina, e poco m’importava di prendere addosso i rami che lei scostava: nella mia depravata idealizzazione quegli arbusti che mi sbattevano contro dopo il passaggio repentino e furioso di Annalisa erano pieni di Annalisa, pieni delle sue cellule, della sua pelle. Quei rami avevano addosso i brandelli della sottoveste annalisesca, le croste delle sue ferite, le schegge infinitesimali delle sue unghie rotte, le minuscole pagliuzze capellute dalle sue chiome dorate, le lacrime del suo sudore aspro. Era Annalisa in tutta la sua essenza che esplodeva davanti a me, finch8 non finimmo in 851 Die Problematik um die Stahlfabrik Ilva, die zur Modernisierung und Industrialisierung des Südens beitragen sollte, ist seit Jahren breit diskutiert. Es ist belegt, dass die Krebsrate in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends im Vergleich zum Rest Italiens massiv angestiegen ist. Die Gegend um Tarent steht vor einem doppelten Problem: Bei Einschränkung oder Schließung der Fabrik käme es zu hoher Arbeitslosigkeit in der Region, bei ihrer Weiterbetreibung zu weiteren untragbaren Umweltschäden und Gesundheitsgefährdung der Bevölkerung. Vgl. dazu Flavio Tonelli / Samuel Short / Paolo Taticchi: »Case Study of Ilva, Italy : the Impact of Failing to Consider Sustainability as a Driver of Business Model Evolution«, In: Günther Seliger [Hg.]: Innovative Solutions: Proceedings / 11th Global Conference on Sustainable Manufacturing. Berlin, Germany, 23rd–25th September, 2013. Berlin: Universitätsverlag der TU Berlin 2013, S. 25–30, [IQ]. 852 Bereits zuvor wird der Überblick von dieser Stelle eingeführt als einer, der klischeegemäß missbraucht würde, jedoch zu Erkenntnis führe: »Spesso mi sono lasciato andare a scrivere pagine di diario e lettere, su Taranto e quell’impressione di quando si scende dall’Orimini. Un tema abusato. Ma che sento necessario. […] Quando mi vidi sormontato da quella cortina metropolitana, sospesa tra cielo, mari […] e strati di fumo, capii quanto irresistibile e terribile fosse vivere l'.« Desiati 2008, S. 85f. Die Beobachtungen führen zur Erkenntnis, dass die Menschen aus Tarent sich im Sinne Fortunatos ›verschlossen‹ hätten: »Era forse una citt/ disperata, una citt/ che compiva il miracolo di serrarsi e deprimersi come queli uomini tristi che Giustino Fortunato chiamava ›uomini chiusi‹. Tarantao dunque si chiudeva, gli usci del borgo vecchio venivano murati, l’Italisider, mostro di ferro, paccottiglia e carbone la uccideva e la manteneva.« Ebd., S. 89.
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un grande spiazzo circondato dai gradoni bianchi di un’antica muraglia messapica. […] Eravamo sulla costa di uno dei colli delle Pianelle, davanti alla piana jonica, e ci aspettava lo spettacolo piF maestoso che era venuto su per noi, il fungo metallico del Siderurgico, piovra capovolta di vapori come acqua su un incendio crepitante. Ci sistemammo sul recinto uno accanto all’altro con Annalisa al centro […].853
Die Verschmelzung der Figur der Annalisa, die Büsche, die ihre Zellen und Haut aufnehmen, erhebt die Landschaft Apuliens zum zusätzlichen Protagonisten des Romans. Diese Symbiose bemerkt auch Pippo Mezzapesa, der den Roman, den er verfilmte, bereits als Entwurf gelesen hatte: »I luoghi sono protagonisti, esattamente come i personaggi che, senza di loro, non potrebbero esistere«.854 Es seien – so Mezzapesa – besondere und schwierige Orte »in una fascia di terra pugliese che sta tra la zona industriale e quella, tuttora inviolata, della valle d’Itria. Posti in parte stuprati e in parte ancora paradisiaci, che si sviluppano in verticalit/ e per questo rendono bene la spinta verso l’alto dei personaggi, le loro aspirazioni«.855 In der Zusammenführung natürlicher und industrieller Landschaft wird das im Incipit geschaffene Bild erneut aufgenommen und in seiner Bedeutung als die Region auszeichnend aktualisiert. Die Szenerie, in der Annalisa in den Büschen und Bäumen aufzugehen scheint, verschmilzt die junge Frau jedoch nicht nur mit der sie umgebenden Natur, sondern schlägt auch eine Brücke zwischen verschiedenen Zeiten, zwischen einer Spanne von Antike (»antica muraglia messapica«) bis zur Gegenwart (»fungo metallico del Siderurgico«). Dass die Gruppe Jugendlicher genau an dieser Stelle rastet, ist dem Instinkt der Annalisa zu zuschlagen, die sie an einen Ort fortlaufender Fatalität geführt hat: Proprio l', dove eravamo noi con le gambe penzolanti, venivano i nostri genitori bambini, per guardare i colori sgargianti della guerra. C’era sempre un fumo nell’aria, ma era un fumo piF bruno, il fungo dei bombardamenti a tappeto su Taranto e il suo arsenale. Nelle boscaglie circostanti a quell’eremo di pace e ascesi c’erano le famiglie di citt/ sfuggite alla distesa di morte che lasciavano i bombardieri anglo-americani. Ci sono luoghi destinali per un popolo e per una terra. Quel belvedere sepolto nelle chiazze fitte di fragno lo era. Annalisa lo sapeva? No. Sicuramente no, perk lo sentiva e quel suo istinto animalesco, quello che porta gli stormi a emigrare e i cani a latrare prima di una bufera, ci aveva guidati sin l'. Dove c’era stata la guerra e dove ora c’era la consunzione. Grande Siderurgico dei nostri genitori, che ti sei mangiato mezzo Esperia, mezza Taranto, mezza Martina, mezzi cuori nostri, abbi piet/ di noi che ti guardiamo con gli occhi innamorati, con a fianco questa diavola che ci sobilla dentro il cuore desideri miseri e desideri mostruosi.856 853 Ebd., S. 107f. 854 Pippo Mezzapese in Fulvia Caprara: »Un angelo in terra di Puglia«, La Stampa (23. 04. 2011), [IQ]. 855 Ebd. 856 Desiati 2008, S. 108f.
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Besonders die letzten Zeilen, in denen die Ilva in einer Apostrophe direkt angesprochen und um Erbarmen gebeten wird (»abbi piet/«), scheinen nahezu in einer Gebetsformel zu erstarren. Apulien, hier im Besonderen Tarent, wird als schicksalhafter Ort gezeichnet, die tödliche Gefahr des Krieges abgelöst durch die Fabrik, die in der Gegend viele Opfer gefordert hat.857 Die Quelle des immerwährenden Rauchs wird sogar durch den gleichen Terminus gekennzeichnet, »fungo«, der zugleich den omnipräsenten Rauch (»fumo«) lautlich verstärkt. Der Pilz der Flächenbombardements ist schlicht abgelöst worden vom Pilz der Stahlfabrik. Das einsame Dickicht mit dem Aussichtspunkt auf das umliegende Gelände wird als eine Art locus amoenus inmitten des Infernos gezeichnet und so sind die jungen Männer trotz des an diesem Ort verwurzelten Unglücks in ihrer Verliebtheit in Annalisa und der Verbundenheit zum Land nicht in der Lage, sich zu lösen. Annalisa ist nicht nur mit der großen Geschichte, ihren Kriegen und Unglücken instinktiv verbunden, auch die lokalen Mythen um verwirkte Leben und unglückliche Bräute und das damit verbundene Schicksalhafte der Region sind mit ihr vernetzt; eine besondere Bindung weist sie zu den Toten auf. Diese Transzendenz ins Jenseits seitens einer donna-strega hat wiederum Vorläufer in Levis Werk. Hier heißt es über eine ältere Frau: »le avveniva spesso di conversare con le anime dei morti, incontrare monachicchi, e di intrattenersi con dei veri diavoli, nel cimitero«.858 In Desiatis Text nimmt Annalisa eine ganz ähnliche Rolle ein, wenn sie in mondbeschienenen Nächten eines windigen Sommers voller Suizide die Toten trifft: Ogni estate si toglieva la vita qualche studente depresso gettandosi nei pozzi artesiani, qualche vecchio contadino intristito si legava ai rami rudi di un noce, ma le mogli infelici la facevano da padrone. Tutte queste estati piene di vento e suicidi erano la complessa macchinazione di un destino mordace. La notte i fantasmi di queste donne giravano per le strade deserte e bianche del borgo antico. Nel lucore opalescente della luna, delle lampare chiare nei vicoli c’era ancora uno spettro avvolto in bende bianche, sudari tanto sottili da essere trasparenti come veli nuziali. Annalisa giurava che lei la notte si intratteneva con questi spettri e ascoltava le loro storie, accovacciata sui gradini di tufo e calce di un vecchio lazzaretto, porgeva l’orecchio con quella sua espressione mite e incantevole ai racconti dell’aldil/. Ero convinto, avrei spergiurato su qualunque 857 Tatsächlich schätzt auch die ONA (Osservatorio Nazionale sull’Amianto) die Situation für Tarent als überrelational gravierend ein. Die Hälfte aller zwischen 2006 und 2012 an einem Mesotheliom erkrankten und verstorbenen Menschen Apuliens käme aus Tarent. Insgesamt schätzen sie 100 Todesfälle pro Jahr aufgrund der Schäden durch Asbest und ähnliche Verschmutzungen. Vgl. ONA ONLUS: »Amianto, Taranto: 100 morti l’anno. Nasce il Comitato Ona Taranto«, Notiziario sull’amianto (23. 09. 2016), [IQ]. Eine lesenwerte Reportage über die Stahlfabrik Ilva bietet Giuliano Foschini: Quindici passi. Roma: Fandango 2009. 858 Levi 2014, S. 133.
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cosa che Annalisa si portava sulle spalle le mille anime suicide di questo territorio. E oggi so che, in un certo senso, era esattamente cos'.859
In diesem Abschnitt sticht wiederum die Herrschaft der Frauen ins Auge (»le mogli infelici la facevano da padrone«). Die Begegnung zwischen Annalisa und den Geistern der Toten findet im ältesten Stadtviertel statt (»borgo antico«) und weist erneut in die Vergangenheit. Mit dem Aufnehmen der Geschichten aus dem Jenseits (»racconti dell’aldil/«) scheint die Figur der Annalisa zu einem Sammelsurium örtlicher Mythen zu werden; gleichzeitig weist sie einmal mehr über das Leben hinaus und stellt eine Verbindung in das stets präsente Totenreich dar, dessen Schicksal sie zu schultern scheint. Für die jungen Männer besteht die Faszination ihrer Region wie die für Annalisa fort, auch wenn sie immer wieder an den Abgrund geführt werden. Auch für den Ich-Erzähler bleibt Annalisa in all ihrer Sonderlichkeit und Verderbtheit erstrebenswert, schön und stets ein ausgleichendes Element in der populistisch-mafiös interferierenden Politik sowie der bedrohlichen und bedrohten Landschaft. Die dargestellte Frau ist mithin genauso ambig angelegt wie die dargestellte Region Apulien. Auch in ihrem ersten Kuss wird Annalisa, der es gelingt, politische Obszönität zu sublimieren, wieder zum Naturwesen: »Primo bacio: Un bacio lento, ma inesorabile, la sua lingua gelida di vento dopo una corsa notturna mi accendeva di vita.«860 Immer wieder vereinigt sie Ursprung, Passion, Verwicklungen sowie schicksalhafte Fügungen in sich. Der Ich-Erzähler resümiert: Annalisa che era tutto questo, che era spasmodica ricerca dell’origine, era un fuoco di giuramenti, di sconnessioni, di trame aggrovigliate, di voglie. Annalisa che mi lappava e mi faceva paura perch8 aveva dentro gli occhi infiammati un demone che nessuno ha, ribollente sin da sotto le punte dei piedi.861
Annalisas Verwurzelung in einer Wesenheit der Antike und damit ihre Zeitlosigkeit drückt sich einmal mehr in der Art aus, in der sie den Protagonisten Veleno anzureden pflegt: »Velenus, mi voglio innamorare di te.«862 Die latini-
859 860 861 862
Desiati 2008, S. 149. Ebd., S. 59. Ebd., S. 61. Ebd., S. 61. Die Verbindung in eine andere Zeit wird ebenso bezüglich des Weges zu Annalisa Haus thematisiert: »Il tragitto tra Martina e la casa di Annalisa fu una sorta di viaggio nel tempo. Dopo aver passato la zona industriale ed essermi addentrato nel cuore della campagna, fui avvolto dall’effluvio autunnale dei vini fermentati e della terra bagnata. Non credevo ancora possibile che esistesse quell’odore, che i trulli arroccati uno sull’altro nel cuore agreste della mia terra traboccassero di mosto. Un mosto diventato gi/ vino novello e che si condensava nelle particelle invisibili e fragranti tra le intercapedini di legno e pietra viva dei trulli.« Ebd., S. 167.
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sierende Form des Spitznamens ist sprachliche Evidenz und schließt den Kreis zum Fluss Taras. Ihr vollständiges Aufgehen in der sie umgebenden Landschaft und ihren Menschen erfolgt jedoch erst mit ihrem Tod. Bereits während Annalisas körperlichem Verfall durch Krankheit, der ihr die physische Schönheit, nicht jedoch die Liebe Velenos nimmt,863 – man erinnert sich hier an die Figur der Giulia, deren Schönheit nur noch hinter den Verheerungen der Malaria zu erahnen ist – wird sie zunächst zu einer Art Muse und dann zum Phantasma. Sie selbst stellt ihren ungebrochenen Wert für den Ich-Erzähler infrage, dem sie in ihren Augen nichts zu geben hat: »Velenus, perch8 sei cos' buono con me? Non potrk mai darti quello che cerchi, e tu lo sai, ma continui a starmi dietro. Sono felice solo quando le cose piccole mi bastano, quando i miei demoni si acquietano…« Annalisa era l' a teorizzare le sue sconsacrazioni… […] »Annalisa, penso sempre a te, penso sempre alle notti gelati di anni fa… penso alle tue nuvole di freddo, al tuo fiato.« Nella parola »fiato« era condensata la potenza, l’energia, il fluido, l’anima, l’incoscienza che mi trasmise in quelle settimane. […] E mi soffik l’ultima struggente confessione di quel giorno: »Sto male, morirk«.864
Die zitierte Passage bietet mehrere Lesarten an, die sich jedoch zusammenführen lassen. Steht Annalisa stellvertretend für ihre Region, so wird hier das Problem zur Diskussion gestellt, dass der südliche Landstrich nach wie vor im Rückstand ist und außer Schönheit vor allem Arbeitslosigkeit oder Arbeit in gefährlicher Umgebung (Ilva) sowie politische Korruption zu bieten hat. Betrachtet man den terminologischen Zusammenschluss der kalten Wolken (»nuvole fredde«) und des Atems (»fiato«) mit der Übertragung von Kraft (»potenza«), Energie (»energia«) und der Seele (»anima«) so findet man sich in einem Wortfeld, das von poetologisch lesbaren Sequenzen aus Dantes BeatriceLiebe sowie petrarkistischer Lyrik bekannt sein dürfte, in der die geliebte Laura 863 »Annalisa non aveva un volto, ma una scultura di ossa, un’opera beffarda del proprio destino, i capelli le erano tutti caduti, i denti anneriti e se spalancavano le labbra pareva avere una bocca pieni di coleotteri. Anche le unghie avevano subito la corruzione perch8 sulla punta delle dita erano avvolti dieci piccoli cerotti in un estremo atto di vanit/. Annalisa stava morendo sola, sembrava essere lei il vero capro espiatorio. Annalisa aveva gli occhi ancora vividi, ma il nero si stava dissolvendo, la malattia si porta via i colori, li smussa. La rotazione delle pupille dissanguate era diventata uno stanco dondolio. Fece un gemito con la bocca. […] Annalisa mugugnava, muoveva la bocca come per darmi un bacio o come per parlarmi, ma le usciva solo un respiro affannoso, lo sguardo incrociavo il mio, poi, dopo lo sforzo […] fissava il nulla quasi a raccogliere concentrazione, fiato ed energia. […] Gli occhi si animarono ancora di piF, tutta la sua vita sprizzava da quelle fessure. Il dondolio torna rotazione. […] Mi ricordai del pomeriggio torrido nei casermoni sotto l’Italsider con la misteriosa signora e il marito mutilato, l’interrogativo di quell’amore straziante. Che solo H l’amour fou amore. Annalisa era sempre lei, malgrado la posa letale. Ti amo Annalisa, ti amo. Ma non glielo dissi.« Desiati 2008, S. 169f. 864 Ebd., S. 163.
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zum Quell der dichterischen Inspiration wird.865 Überlagert man beide Lesarten, so ist im Endeffekt die Region Apulien, verkörpert in der Figur der Annalisa, Ausgangspunkt und Muse des Schreibens. Selbst während ihrer Agonie behält Annalisa die abgründige Ambiguität zwischen Hure und Heiliger und für einen Moment wird der Gedanke zugelassen, nicht sie stürbe, sondern das Leben penetriere den Tod.866 In einem letzten 865 Dieser Gedanke wird unterstützt durch einige Punkte in der Beschreibung der Physis der Annalisa, vor allem durch die Beschreibung des Gesichts als »volto angelico« (S. 55) und der Haare als »chiome d’orate« (S. 107), »capelli biondi, adornati e brillanti« (S. 37), »splendenti ciocche color oro« (S. 50) »la chioma biondastra« (S. 131) die an die Beschreibung der Laura aus dem Canzoniere erinnern. Vgl. etwa »chiome bionde« in Sonett 34 (V. 3) sowie Sonett 197 (V. 9), »chiome d’kr« in Sonett 292 (V. 5) sowie die »capei d’oro« aus dem bekannten Sonett 90 (V. 1). Auch die Tatsache dass es in Il paese delle spose infelici eine lebende und tote Annalisa gibt, ist von Interesse, kann an dieser Stelle jedoch nicht weiter ausgeführt werden. Die Pneumalehre, also die Idee des Hauchs oder Atems als ›befruchtend‹, führt Agamben auf den Arzt Diokles von Karystos (3. Jh. v. Chr.) zurück; in der Pneumatologie sieht er ein »gemeinsames Gut der gesamten folgenden griechischen Medizin«. Aus der Vorstellung des Pneumas als warmer Hauch wird der »Hauch, der das Universum belebt, in den Arterien zirkuliert und den Samen befruchtet, [der] eins mit jenem Hauch [ist], der die Phantasmen der Dinge […] im Gehirn und im Herzen empfängt und bildet;« Siehe Giorgio Agamben: Stanze. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur. Zürich / Berlin: Diaphanes 2005, S. 149ff. In der literarischen Tradition Italiens sieht Niccolk Giosafatte Biagioli Idee des »sospiro o fiato che si converte e suona in parola« aufgegriffen in Dantes Commedia, im Inferno XIII, V 91f. Er führt folgende Verse exemplarisch auf: »Allor soffik il tronco forte, e poi / Si convert' quel vento in cotal voce.« Eine Wiederaufnahme bei Petrarca sieht er in den Versen »L’aura celeste che ’n quel verde lauro / spira, ov’Amor fer' nel fianco Apollo«. Vgl. ders.: Commento storico e letterario. Bd. 1.2 von Francesco Petrarca: Rime. Hg. v. Niccolk Giosafatte Biagioli. Parigi: Presso l’Editore 1821, S. 726. Marco Santagata widerspricht der Interpretation Biagiolis, die sich mit derer Leopardis und Scherillos deckt und damit eine weite Rezeptionstradition aufweisen kann. Santagata ist der Ansicht, dass der Hauch (»L’aura«) hier nicht als Ausgangspunkt zu sehen sei, sondern sie im »lauro« als Adressaten habe. Vgl. Francesco Petrarca: Canzoniere. Hg. u. komm. v. Marco Santagata. Milano: Mondadori 21997, S. 847f. Diese Argumentation scheint insofern nicht einsichtig, als Santagata zugunsten von absoluter Klarheit in der von ihm gewünschten Interpretation das Wortspiel um die Paranomasie der Laura erheblich simplifiziert. Rosanna Bettarini hingegen bemerkt in ihrem Kommentar, dass in diesem Sonett der »lauro« in der Horizontalen mit der »l’aura« und in der Vertikalen mit dem »l’auro« spiele. Vgl. Francesco Petrarca: Canzoniere. Rerum vulgarium fragmenta. Bd. II. Hg. v. Rosanna Bettarini. Torino: Einaudi 2004, S. 913f. In der Fülle der möglichen Laura-Stellvertreter mag hier der Hauch sowohl von Laura ausgehen (»L’aura celeste che […] spira«) als auch an sie adressiert sein (»che spira in quel verde laura«), was den göttlichen Hauch in Laura zeigt (alias Daphne im Lorbeer), die nichtsdestotrotz zur Inspiration des Dichters wird. Der in diesem Kontext angewandten Lesart vermag das nicht zu widersprechen. 866 »Annalisa era diventata un misterioso fantasma che si celava e appariva brevemente, si custodiva e si sconsacrava. […] Annalisa, era vertiginosa, in poche mosse poteva toccare le corde piF abiette o quelle piF sublimi. In fin dei conti, il mondo si divide tra chi considera un tipo come lei una santa e chi invece rimarr/ in superficie e la vedr/ come una poco di buono. Una narcisa troietta che si diverte a mettere in subbuglio gli ospizi, o una toccata e
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Schritt vervollständigt sich die enge Beziehung zwischen Apulien und Annalisa, indem sich das Mysterium um die junge Frau löst, die selbst nach altem Brauch mit einem kranken Cousin verheiratet gewesen war und der Tradition entsprechend für diesen gelebt und sich bei ihm angesteckt hatte.867 Durch die Einhaltung dieser Tradition einerseits und deren Durchbrechung in den Liebschaften zu den jungen Männern Apuliens andererseits, erfüllt sich das Verhängnis nicht nur für die sposa, sondern ebenso für ihre Umgebung: Il paese delle spose infelici era un paese di innamoramenti inadempienti. E quella era una sorta di regolamento di conti che questa terra si portava dietro da secoli. Mai piF spose infelici, l’esorcismo lo aveva compiuto Annalisa, senza nessuna crudele sete di vendetta, ma solo con una naturale tensione ai suoi demoni. C’era ancora qualcuno che giurava di vederla nelle notti fosche d’autunno. Annalisa era un fantasma, […]. Tutti giuravano di averla presa almeno una volta e tutti si maledicevano per questo.868
In ihrer nymphomanisch anmutenden Lebensweise, in der sie der Giulia Levis ähnelt, wird Annalisa einmal mehr zum Schicksal der Region. In einem Korrektiv entwickelt sie sich jedoch von der obszönen Liebhaberin ohne Gefühl für Grenzen zur Leidtragenden eines an Traditionen gebundenen Lebens in der Region. Von der Königin der Bestien wird sie zur Königin der unglücklichen Bräute und damit zum Inbegriff des von Desiati erzählten Apuliens, zur Verkörperung des vom Autor für seine Region in den Mittelpunkt gestellten Prinzips, sie wird gleichzeitig zu dessen Opfer und Herrscherin: Chi la vide in quell’aurora argentata ebbe l’impressione di aver incontrato lo spettro di una sposa infelice… e non sarebbe stato lontano dal vero. […] Annalisa era una sposa infelice, Annalisa non era la regina delle bestie, ma la regina delle spose infelici.869
Annalisa ist – so Leonardo Sebastio – das sentimentale Zentrum der Erzählung, das geheimnisvolle von allen geliebte Mädchen und die Geliebte von allen: »Annalisa H la sposa piF infelice«.870 Ihr Tod durch eine Autoimmunerkrankung (HIV),871 also eine Krankheit, bei der der Körper sich mehr oder weniger selbst
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868 869 870 871
basta, che, perdonate Signore, non sa quel che fa. E invece forse H la vita, che c’entra nella morte… ma questo H davvero scandaloso anche pensarlo. Nessuna via di mezzo per Annalisa.« Desiati 2008, S. 164. Vgl. Desiati 2008, S. 205f. »In certe zone qui si sposano tra parenti quando ci sono gravi malattie. […] Lui aveva la sindrome da immunodeficienza acquisita e quel matrimonio era stato un atto dovuto. Annalisa fu contagiata, ma lei continuava ad assisterlo e non aveva fatto nulla per prevenire, n8 per curarsi. Questo si seppe perk solo dopo la sua morte.« Vgl. ebd., S. 207. Vgl. ebd., S. 208f. Vgl. Leonardo Sebastio: »Momenti e figure della letteratura a Taranto«, In: Ettore Catalano [Hg.]: Letteratura del novecento in Puglia 1970–2008. Bari: Progedit 2009, S. 298–434, hier S. 432. Vgl. Desiati 2008, S. 210.
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zugrunde richtet, mag noch einmal mit der Problematik der von innen heraus korrumpierten Region korrelieren. Die Figur Annalisas steht im Text in einem direkten kausalen Zusammenhang mit der Entwicklung der jungen Männer, die selten einen guten Ausgang findet. So verfällt etwa die Figur des Fedele der Drogensucht, wird nach einer Überdosis zu »Fedele u Pacc« (dem Verrückten)872 und Zaz/ verbringt wegen schwerer Prügeleien lange Zeit im Gefängnis.873 Der Tod der Annalisa wird schließlich zum Auslöser des Erwachsenwerdens im Rahmen des als Entwicklungsroman angelegten Werks. Der letzte Schritt manifestiert sich im Ablegen der Spitznamen. So heißt es: »Zaz/ dopo la morte di Annalisa era cambiato. […] Domenico Zaz/, sempre piF Domenico, sempre meno Zaz/, diventava finalmente un uomo libero grazie a una criticata legge sull’indulto […]«874 Und in Bezug auf den IchErzähler wird konstatiert: »La mia vita era stata attraversata da un sisma. […] Il sottoscritto diventava sempre di piF Francesco Rasoschi e sempre meno Veleno. Meditavo di lasciare Martina.875 Das angedeutete Verlassen der Heimat scheint über die Werkgrenze hinaus bereits auf den Folgeband Foto di classe zu verweisen, dessen Untertitel genau einen solchen Fortgang thematisiert (U uagnon se n’asciot, im Deutschen: Ein junger Mann ging fort). Die im Roman eher knapp dargestellten Jahre (über etwa 15 Seiten),876 die der Ich-Erzähler fernab der Heimat im Norden verbracht hat, stehen weniger im Fokus als Erlebnisse bei der Rückkehr des Protagonisten, die einmal mehr das sich perpetuierende Schicksal der Region spiegeln. Im Mittelpunkt stehen Themen, die ähnlich auch im Folgewerk zur Darstellung kommen werden: das Müll- und Wasserproblem infolge einer korrupten Gemeindeführung und die todbringende Stahlfabrik Ilva: Passammo [il padre e l’io-narrante] la metropoli riarsa, i parcheggi vuoti dove anni prima Annalisa in sottoveste e stivali ci aspettava in mezzo ai cani randagi. C’era un’illuminazione sbagliata, un’aria desolata, grandi cumuli di spazzatura esplosi, buste bianche che volavano come spettri nell’aria. Il municipio era fallito e la spazzatura, come era accaduto un decennio prima, tornava ad accumularsi. Le autobotti di acqua non venivano piF a Martina, rimanevano a Taranto in mezzo alla gente senz’acqua che si picchiava per riempire una tanica. Le celle frigorifere degli obitori traboccavano di cadaveri perch8 i beccamorti del comune erano stati tutti licenziati. In fondo all’orizzonte le due isole Cheradi brillavano sperse nel cuore del mar Grande. Erano disabitate e a servizio di cimiteri e basi militari, scintillavano vermiglie per oscuri 872 Vgl. ebd., S. 83 und S. 93. 873 Vgl. ebd., S. 143. Die ihn umgebenden jungen Männer werden als »Briganti« bezeichnet und erinnern damit an die brigantaggi zu Beginn des geeinten Italiens um die Jahrhundertwende. Vgl. ebd. 874 Ebd., S. 195f. 875 Ebd., S. 172. 876 Desiati 2008, S. 176–191.
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esperimenti marziali. Mi sembrava cos' miracoloso che Martina fosse tanto vicino a un luogo tanto catastrofico. »Non cambia mai questa citt/«, dissi ricordando il memorabile carico di immondizia organizzato da Cito.877
Waren auch zuvor schon und in der Präsenz Annalisas gefährliche oder ans Apokalyptische gemahnende Szenarien zur Darstellung gekommen, so mutieren diese nach ihrem Verscheiden und in Erinnerung an sie zur vollkommenen Desolation. Die falsche Beleuchtung evoziert ein zusätzlich bedrängendes Gefühl der Verunsicherung oder des Verlusts von Bekanntem. Die Geister der spose infelici werden abgelöst durch weiße Mülltüten, die wie »spettri« durch die Luft fliegen, losgelöst von den explodierenden Müllbergen, Folgen einer korrupten und gescheiterten Politik der Gemeinde. Diese das Land von innen heraus zerstörenden Kräfte der Korruption sind auch für das Überquellen der Leichenhäuser verantwortlich. Wiederum steht der Tod im Mittelpunkt, der von der Fabrik ausgeht, die eigentlich den industriellen Anschluss an den Rest Italiens hätte gewährleisten sollen. Die Tradition scheint jedoch zumindest in Teilen beständiger als die bisherigen Versuche von Entwicklung und Angleichung. Die Region bleibt – zumindest in der literarischen Darstellung – schicksalhaft einem mit dem Tod verquickten Leben verbunden. Vor allem der Friedhof rückt immer wieder in den Mittelpunkt, einmal etwa in der Nutzung der Cheradi-Inseln als solchem und sonst als ein Ort, der sich symbolträchtig an Lebensbereiche annähert: Il treno entrk nella piana tarantina dalle montagne aspre della Lucania, come un ago nel puntaspilli, la testa bianca della motrice perforava l’aria rossa e la terra gialla della costiera jonica. Per l’ultima volta vidi la nebbia arancione, i giganteschi cilindri color bronzo delle raffinerie, le paratie e le barriere di acciaio, il sarcofago di reticoli che ingabbiava il Siderurgico. Il treno sferragliava con sistri supremi, rallentk nei pressi di un cavalcavia, comparve il cimitero di San Brunone. Mi venne su cos': immenso pianoro di cipressi, terra smossa dalla rigovernatura delle salme, poi le cupole dei piccoli tempietti votivi e i sepolcri di pietra e marmo di tanti tarantini seppelliti l', a pochi metri da quella poltiglia di acciaio fumante, pennacchi di carbone bruciato e palazzi a laminatoio a freddo. Il destino beffardo aveva voluto l' sepolti molti di coloro che avevano lavorato nella grande acciaieria. Poco piF indietro scorsi le collinette di calcare e quarzite, residui di lavorazione, ma soprattutto un orizzonte cilestre, riflesso da una cappa di fumo nero che cambia i venti, la luce del giorno, e quel cielo rosa, ma che non avrebbe cambiato la mia scelta.878
Beschrieben wird die Rückkehr in der Heimat und Ankunft des Ich-Erzählers im Bahnhof von Tarent. In dem deskriptiven Farbenspiel aus rot, gelb und orange wird implizit sofort wieder die Fabrik aufgerufen, deren bronzefarbene Schlöte 877 Ebd., S. 193. 878 Ebd., S. 218f.
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beständig gefährlichen Rauch ausstoßen. Danach baut die Ilva sich in der Juxtaposition ihrer Einzelteile vor dem Auge des Lesers als eine Art im Sarkophag gefangenes Monster auf. So wird diese im Text bereits zu Lebzeiten zu einer modernen Grabkammer der Arbeiter, die später im direkt angrenzenden Friedhof San Brunone begraben werden. Der Friedhof als besonderer und in diesem Falle übermächtiger, die Umgebung dominierender Ort, spielte bereits bei Scotellaro und Levi eine auffallende Rolle und drängt den Tod in den Mittelpunkt des beschriebenen Lebens im Süden.879 Schon im Incipit der Uva puttanella erfährt der Leser durch das erzählende Ich: »Mi stavo appunto avviando, in prima, verso il Cimitero, che H di fianco al paese, sulla grande strada, nella piega di due colline: da tutte le finestre e i balconi si puk vederlo di fianco con pudore, l' stanno i nostri morti nudi, di l' misurano loro puntualmente la nostra fedelt/.«880 Und auch Carlo Levis Süden in Cristo si H fermato a Eboli wird von einem Friedhof begrenzt: »Il cimitero era il limite estremo, in alto, che mi era concesso. La vista di lassF era piF larga che da ogni altro punto, e meno squallida«.881 Am Ende – während seiner Zugreise heim in den Norden – vergleicht er ausgerechnet die Ebenen Apuliens mit einem Friedhof: »Traversai la pianura di Puglia, sparsa di pietre bianche, come un cimitero, e Bari e Foggia misteriosa nella notte, e risalii, a piccole tappe, verso nord.«882 Ebenfalls bemerkenswert ist die Äquivalenz der Zugreise am Ende der Romane Levis und Desiatis, die zwar geographisch jeweils unterschiedliche Richtungen hat, jedoch beide Male eine Heimreise nach einem beendeten Lebensabschnitt markiert. Das tödliche Schicksal, das in Desiatis Text seine Wirkung tut, wird nicht nur als spöttisch oder höhnisch markiert (»beffardo«), sondern auch noch einmal an die Antike rückgekoppelt. Das Geräusch des eintreffenden und abbremsenden Zuges wird metaphorisch zu höchsten Tönen der »sistri«, also der Sistren, einem Instrument, das dem Kult der Isis zugehörig ist.883 Isis ist die Göttin der Geburt, der Wiedergeburt und der Magie, sie ist die Totengöttin und passt sich damit
879 Über die Bedeutung des Todes im Süden allgemein schreibt Levi: »Certo, il Mezzogiorno parla con il linguaggio dei morti. Non di quelli soltanto che l’attualit/ politica porta per un momento alla notoriet/, ma di quelli altri infiniti, che giorno per giorno, attraverso secoli di un tempo che pare non svolgersi, la fame, la miseria, la malaria, la fatica hanno steso nelle fosse di argilla. Se vi scavi la terra compaiono dappertutto antiche ossa: sulla ossa dei morti sono fatte le case e le chiese. La morte non vi H nascosta, ma H sentita come un presente destino: piF vera, piF grave vi H dunque la vita.« Levi 2000, S. 175. 880 Rocco Scotellaro: L’uva puttanella / Contadini del Sud. Introd. di Nicola Tranfaglia. Roma / Bari 152012, S. 1f. 881 Levi 2014, S. 39. 882 Ebd., S. 234f. 883 Das Sistrum ist ein ägyptisches Instrument, das einer Art Klapper oder Rassel ähnelt. Vgl. Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 11 Altertum Sam-Tal. Hg. v. Hubert Cancik / Helmuth Schneider. Stuttgart / Weimar Metzler 2001, S. 598.
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noch einmal in die weiblich-mythologische Darstellung einer Region mit antiker Seele ein.884 Desiatis Meridionalismus in Il paese delle spose infelici speist weiterhin ein von Nostalgie und Pessimismus geprägtes Bild des Südens wie man es bereits von Fortunato kennt. Ebenso sind – wie in Fortunatos Theorien – korrupte politische Strukturen mitverantwortlich für den Verfall der Region. Die Figuren scheinen ähnlich wie Vergas Vinti ihrem Schicksal ausgeliefert und alten Traditionen verhaftet. Der Quell der Probleme ist weniger die Unterentwicklung der Infrastruktur als vielmehr eine zwar erfolgreiche Industrialisierung, deren Folgeschäden jedoch nicht weniger verheerend sind. Literarisch gesehen kondensieren sich diese Eigenschaften der Region und ihrer Probleme neben einer Beschreibung im sensus litteralis zudem in der Figur der Annalisa D’Efebo, die Schönheit, Mystik und Magie des Landes mit all seinen Anziehungspunkten wie auch die Verderbtheit, den Verfall und das Vorherrschen des Todes in sich vereinigt und immer wieder Verbindung zu antiker Mythologie herstellt.
5.3
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[I]l Meridione, oltre a ogni altra definizione, H soprattutto un modo di essere e di pensarsi al mondo in relazione con gli altri, […].885
Bei der Betrachtung des Werkes Foto di classe ist bereits die Reihe, in der es erschienen ist, von Interesse, die erst zu Beginn des dritten Jahrtausends ins Leben gerufen wurde: Contromano886 bedeutet in wörtlicher Übersetzung ›Gegenrichtung‹ und alludiert damit eine Abkehr vom Herkömmlichen. Mit dieser Reihe soll eine Zielgruppe junger Autoren bedient werden, deren Schreiben »narrazioni contemporanee« hervorbrachte, die es in dieser Form bisher nicht gab. Die Verlegerin Anna Gialluca definiert diese als »strumenti di conoscenza 884 Herkunft und ursprüngliche Funktion der ägyptischen Göttin Isis sind nicht eindeutig geklärt, man nimmt jedoch an, sie personifiziere die, die herrschaftliche Macht hat. In Einbindung um den Osiris-Mythos ergibt sie ein komplexes, teils widersprüchliches Ganzes. Sie sucht, findet, bestattet und betrauert den toten Gatten. Als dessen Frau und Mutter des Horus »wird sie zur einer Mutter und Schutzgöttin«. In mythischen Erzählungen wird sie als »Zauberreiche« dargestellt. In Italien beginnt eine intensive Rezeption in der hellenistischen Zeit. Vgl. Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 5 Altertum Gru-Iug. Hg. v. Hubert Cancik / Helmuth Schneider. Stuttgart / Weimar Metzler 1998, S. 1125f. 885 So paraphrasiert Ettore Catalano die Worte des maghrebinischen Autors Tahar Ben Jelloun, der 2008 den Premio Bari erhalten hat. Vgl. Ders. 2009, S. XI. 886 Gründung im Juli 2004 unter der Direktion von Gianluca Foglia. Vgl. Antonio Prudenzano: »Contromano, H nato un nuovo genere: intervista alla direttrice della collana Laterza«, Affaritaliani (16. 07. 2009), [IQ].
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della contemporaneit/ non convenzionali, a met/ tra saggistica e fiction«.887 Sie führt weiter aus: »c’era e c’H l’esigenza di soddisfare nei lettori il bisogno di conoscere la realt/ attraverso lo sguardo e la sensibilit/ di scrittori appartenenti alle nuove generazioni.«888 Bereits das Cover soll sichtlich auf die im Werk besprochenen zeitlichen und örtlichen Koordinaten hinweisen und damit regionale Spezifika in den Blick rücken. Die Herausgeberin glaubt, damit einem neuen Genre bahnzubrechen: »Abbiamo aperto una strada, si puk fare qualcosa che non H fiction ma puk mantenerne lo spirito, abbinare quindi qualit/ e leggerezza«.889 Es muss an dieser Stelle nicht weiter hervorgehoben werden, dass es verschiedene Varianten der hier beschriebenen Dokufiktion spätestens seit dem New-Jornalism in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gibt. Das Neue mag lediglich in Reaktualisierung der Akzentuierung des Regionalen liegen. Desiatis Foto di classe ist nach Selbstaussage ein empathisches Werk,890 was auf formaler Ebene durch einen den episodisch angelegten Text verbindenden autodiegetischen Erzähler verstärkt wird. Dass bei aller Camouflage der dargestellten Personen891 trotzdem von einem autobiographischen Text auszugehen ist, legen nicht nur die Namensgleichheit von Autor und Erzähler nahe, sondern auch epitextuelle Marker. Diese zeigen auf, dass der Autor die beschriebenen Erfahrungen tatsächlich und bewusst selbst gemacht hat: »L’idea di andare di confrontarmi con il presente di quei compagni che non vedo da anni H un pretesto per analizzare una condizione esistenziale che accomuna tanti giovani meridionali«.892 Die Maskerade der dargestellten Figuren, so Desiati, dient vor allem der Schonungslosigkeit der Darstellung. Die erzählten und zitierten Ereignisse seien tatsächlich passiert und entsprächen in Teilen Berichten aus Zeitungen.893 Desiati stellt sich damit intentional eindeutig in die Tradition eines referenziellen Schreibens. Der in dieser Arbeit postulierte neue Meridionalismus wird – wie gezeigt werden soll – an vielen Stellen des Werkes exponiert und explizit thematisiert. Das Buchcover verweist in Manier der Reihe auf symbolische Weise auf Kerngedanken sowie Entstehungsweise des Romans. Die Orangen im Garten vor dem Hintergrund einer grauen Stadt sind genau das Element, das den ›emi887 888 889 890 891
Anna Gialluca im Interview in Prudenzano (16. 07. 2009), [IQ]. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Auf diese verweist der Autor im Textanhang: »Nomi, fatti, luoghi sono camuffati«. Desiati 2009, S. 128. 892 Mario Desiati in Antonio Prudenzano: »Lo scrittore & editor [sic] Desiati ad Affari: ›Cos' bacchetto i miei colleghi‹«, Affaritaliani (29. 06. 2009), [IQ]. 893 Desiati 2009, S. 129. »Il mascheramento H servito proprio per non avere indulgenza. I fatti di cronaca che vengono citati invece sono realmente accaduti e corrispondono ai resoconti fatti dai cronisti dei giornali dove erano riportate le notize«.
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grierten‹894 Süditalienern nach eigenen Aussagen nach Verlassen ihrer Heimat am meisten fehlt.895 Die vorgestellte These ist, dass Desiatis Foto di classe als literarische Typologie wie Topologie Apuliens gelesen werden kann. Dabei soll unter Typologie die Darstellung der Klassifizierung emblematischer Menschenbilder und Schicksale aus dem Süden Italiens verstanden werden. Ausgehend von einer Photographie und im intertextuellen Rückgriff auf meridionalistische Vorbilder wie moderne Quellen entwirft der Autor in der Zeichnung verschiedener Curricula eine Typologie des Südens im 21. Jahrhundert, die als rationalere Ergänzung zu den in Il paese delle spose infelici aufgeworfenen Themen zu werten ist. Die Topologie bezeichnet in der Regel eine systematische Beschreibung räumlicher Beziehungen allgemein, etwa in der Mathematik, Linguistik oder Philosophie. An dieser Stelle soll unter Topologie die zur Darstellung kommenden Relationen tatsächlicher (geographischer) wie abstrakter Orte verstanden werden, die das Bild des Südens zusammenhalten und komplettieren. In seinem Anliegen um die literarische Wiedergabe Apuliens agiert Desiati mit erstaunlicher Klarheit, sodass ein explizit formuliertes didaktisch-kulturelles Programm in seinem Schreiben, wie es Crovi für meridionalistische Werke als konstitutiv postuliert, klar erkennbar ist.
5.3.1 Typisierung auf dokumentierter Basis: Dialog mit vergangenen und aktuellen Quellen Foto di classe rahmt seine Untersuchungen und Darstellungen zur Binnenmigration in Italien mit zwei Elementen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch zur selben Quelle führen. Dem Roman vorangestellt ist das Gedicht Lezioni di economia (1952) von Rocco Scotellaro, das in indirekter Rede und stark synthetisierter Form ein Gespräch zwischen zwei nicht näher spezifizierten Partnern (Vater und Sohn?) über verschiedene Landschaftsmarker wiedergibt. Der Schlusssatz antizipiert das Schwerpunktthema des Romans, den Fortgang der jungen Menschen aus dem Süden: »Mi hai risposto, tra l’altro, / che un padre che ama i figli / puk solo vederli andare via.«896 Betrachtet man das Inhaltsverzeichnis, fällt auf, dass das erste und letzte Kapitel die Homogenität der restlichen Überschriften sprengen, die alle knapp eine bestimmte Grup894 Der Begriff der ›Emigration‹ wird vom Autor in diesem Fall zwiespältig gesehen. Ausführlicher dazu im Kapitel 5.3.2 der vorliegenden Arbeit. 895 Vgl. Desiati 2009, S. 132f. sowie den Klappentext des Werkes. 896 Scotellaro zitiert in Desiati 2009, o. P. Siehe außerdem Rocco Scotellaro: ð fatto giorno. Milano: Mondadori 21954, S. 179.
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pierung benennen.897 Das erste Kapitel nimmt den Romantitel wieder auf (»Foto di classe«), das letzte verweist auf das methodologische Vorgehen (»Appunti sul metodo e un’annotazione sugli alberi da frutta in citt/«). Das erste wie das letzte Kapitel beginnen thematisch vergleichbar : mit Verweis auf den Fragebogen, einmal in praktischer Ausführung (einer anonymen Mail mit persönlichen Fragen zu der Jugendzeit an den Empfänger)898, zum anderen mit konkretem Verweis: Questo libro H stato possibile anche grazie a un vecchio metodo di indagine: il questionario. Quello sulla nuova emigrazione da cui io sono partito consiste in dieci domande ed H stato elaborato e scritto nel gennaio del 2008 sulla base dello studio dei dati della Svimez (Associazione per lo sviluppo dell’industria nel Mezzogiorno) e della pubblicazione di alcune indagini conoscitive, tra cui quelle preziose della programmazione regionale pugliese sulle politiche giovanili chiamata »Bollenti Spiriti«.899
Mit dem Hinweis auf die Svimez wie auf die Bollenti Spiriti verankert der Autor sein Schreiben gezielt in einem Bereich der Referenz und des Meridionalen. Des Weiteren führt das methodologische Kapitel die Ansa900 und Istat901 als Quellen auf und zitiert die Meridionalisten Gaetano Salvemini und Francesco Nitti.902 Zudem kann es im Hinblick auf die vorangestellte Poesie kaum ein Zufall sein, dass Desiati seinem Werk die gleiche Basis und eine ganz ähnliche Struktur gibt wie Scotellaro im vorangegangenen Jahrhundert seinen Contadini del Sud und sein Werk so nicht nur im theoretischen, sondern neben der Poesie noch einmal im literarischen Meridionalismus verankert. Bereits Scotellaro nutzte als Grundlage seines Schreibens das Instrument des Fragebogens, seine Beschreibungen der Bauern des Südens strukturieren sich in der Wiedergabe verschie897 »I chiusi«, »I fuggiti«, »I fedeli«, »Gli usati«, »I mammisti«, »I soldati«, »Gli arrangiati«, »I rimasti«, Desiati 2009, Indice. 898 Vgl. Desiati 2009, S. 3. 899 Ebd., S. 128. Die Fragen des Fragebogens sind im gleichen Kapitel auf Seite 132 vollständig aufgeführt, die Teilnehmerzahl auf 103 Personen im Alter zwischen 21 und 40 Jahren spezifiziert. 900 Die Ansa (Agenzia Nazionale Stampa Associata) gilt als führende Nachrichtenagentur Italiens, siehe die offizielle Hompage, [HP]. 901 Das Istat (Istituto Nazionale di Statistica) ist das nationale und damit wichtigste italienische Statistikamt mit Sitz in Rom, das sich mit Volkszählungen, wirtschaftlicher Lage, Kultur und Gesundheit wie Freizeit- und Konsumverhalten befasst. Siehe offizielle Homepage, [HP]. 902 Er zieht diese in Bezug auf und im Dialog um das Thema der Emigration heran: »Gaetano Salvemini scriveva con una velata punta di amarezza che l’emigrazione era un principio di salvezza della questione meridionale, con la consapevolezza che lasciare una terra a volte H abbandonare quella terra. Francesco Nitti la pensava diversamente, vedeva nell’emigrazione una ragione piF personale. La gran parte delle persone che emigravano erano persone che avevano una necessit/ congenita e facevano parte in un moto proprio di certe genti, un dato meramente antropologico.« Desiati 2009, S. 130.
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dener Curricula. Der Meridionalist Rossi-Doria äußert sich in Bezug auf den früheren Autor : Per dare maggior solidit/ e uniformit/ alle interviste e alle autobiografie [Scotellaro] studia ed abbozza un questionario, e, d’altra parte, cerca di impostare la scelta dei contadini da intervistare sulla base razionale delle diverse realt/ economico-agrarie del Mezzogiorno, dei vari tipi d’insediamento umano, delle diverse categorie sociali ed economiche ed infine del diverso rapporto in cui vengono a trovarsi rispetto ai problemi del giorno: la disoccupazione, la riforma, i lavori della Cassa e cos' via. Tuttavia ben presto mette da parte questi accorgimenti esteriori e si immerge nel lavoro seguendo un ordine molto piF concreto e poetico sia nella ricostruzione delle singole vite sia nella scelta dei luoghi e degli uomini.903
Scotellaro sucht repräsentative Typen, die den Alltag im Süden widerspiegeln.904 Für den Autor war es wichtig, »di impostare la ricerca secondo la via piF diretta dell’intervista e del racconto autobiografico.«905 Es werden fünf verschiedene Vitae vorgestellt: Michele Mulieri, Kleinbauer und Tischler aus Grassano (Matera),906 Andrea Di Grazia, Bauer aus Tricarico (Matera),907 Antonio Laurenzana, Bauer aus Tricarico (Matera),908 Chironna Francesco, Halbpächter aus Calle (Matera),909 und Cosimo Montefusco, Hilfsbüffelhirte aus der Contrada Battaglio (Piana di Eboli),910 abgerundet von den »racconti sconosciuti« und einem Bericht der Mutter Scotellaros. Von den fünf Vitae ist nur eine durchgängig von Scotellaro konstruiert, die anderen sind diktiert oder gar von den Protagonisten selbst geschrieben. Dennoch bestand Scotellaros Arbeit nicht nur darin, diese Zeugen aufzusuchen, sondern auch, das Projekt zu einem koordinierten Ganzen zu bringen.911 Der Zusammenhang zwischen den vom Autor gewählten Figuren und den Problemen der Region wird im Text explizit benannt.912 Auch Scotellaro thematisiert bereits den Fortgang aus der Heimat aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen. So zieht etwa Michele Mulieri, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, nach Potenza, dann nach Rom und geht schließlich sogar im Kriegsdienst nach Afrika.913 Bezüglich der Art der Darstellung der verschiede903 Manlio Rossi-Doria: »Prefazione«, In: Rocco Scotellaro: Contadini del Sud. Bari: Laterza 1955, S. 5–27, hier S. 8f. 904 Vgl. ebd., S. 13. 905 Ebd., S. 16. 906 Scotellaro 2012, S. 122ff. 907 Ebd., S. 180ff. 908 Ebd., S. 206ff. 909 Ebd., S. 232ff. 910 Ebd., S. 260ff. 911 Vgl. Rossi-Doria 1955, S. 23. 912 Zum Beispiel bei der Beschreibung von Michele Mulieri heißt es: »A Grassano H nato Michele Mulieri, la cui storia H semplicissima e complicata a un tempo come l’economia dell’Alto Materano senza soluzione.« Scotellaro 2012, S. 126. 913 Vgl. ebd., S. 126ff.
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nen Vitae verweist Andrea Battistini auf die Bauchrednerrolle, die Carlo Levi Scotellaro zuschrieb, da er im Namen anderer das Wort ergriff und deren Stille durchbrach und spricht mit Blick auf die Rhetorik von sermocinatio oder Dialogismus.914 De Martino postuliert gar, der Leser könne kaum entscheiden, bis zu welchem Punkt es der Bauer sei, der spreche und wann Scotellaro das Wort ergreife.915 Gleichzeitig grenzt sich die Stimme Scotellaros immer wieder ab. »›Distacco partecipe‹ H l’ossimoro che meglio riassume questa forza rappresentativa, che fa trasparire una dimensione corale e insieme qualcosa che la trascende.«916 Battistini fasst mit Rückbezug auf Levi diese darstellerische Situation folgendermaßen zusammen: Il fatto H che la parola di cui Scotellaro dota chi mai aveva potuto avere la voce H di natura particolare, avendo »il suo valore essenziale di rilevazione non sociologica ma poetica« (Levi, 1964: XIII). In altri termini la sua antropologia si H trasferita dal piano delle inchieste dei grandi meridionalisti alla letteratura.917
Desiati erzählt über 50 Jahre später ebenfalls verschiedene Lebensläufe, geht jedoch einen Schritt weiter und typisiert diese bereits durch die Benennung der Kapitel in der Titelei. So repräsentiert der Mathematiklehrer Valerio »I chiusi«, der Psychologe Paolo »I fuggiti«, der Restaurantinhaber Lucio »I fedeli«, die Anwältin Marianna »Gli usati«, der Geschäftsführer Giovanni »I mammisti«, die Polizistin Adele »I soldati«, der PR-Manager Osvaldo »Gli arrangiati« und der studierte Politologe Ciccillo »I rimasti«. Die Geschichte jedes Einzelnen wird so mit der einer Gruppierung verbunden und in einem weiteren Schritt gleichzeitig an ein weiteres, für die Region relevantes Thema wie Tradition, Mythos, Sprache, Arbeit und Politik geknüpft. Auf den ersten Blick ersichtlich ist die sich verändernde Situation und Problematik des Südens bereits hinsichtlich der gewählten Protagonisten, die bei Desiati fast alle aus dem Bereich intellektueller Bildung kommen. Ein signifikanter Unterschied zu Scotellaros Darstellungen ist, dass der Erzähler in den Contadini del Sud zwar eine Stimme hat, aber keine ausgestaltete, mit den anderen Charakteren interagierende Figur ist. Der Ich914 Andrea Battistini: »Rocco Scotellaro, la voce del silenzio«, Forum Italicum 50/2 (2016), S. 714–723, hier S. 716. Weiterhin stellt er eine Verbindung zu Giambattista Vico her und verweist auf die von diesem erfasste ethymologische Verbindung zwischen muto und mito: »per rifarsi alle teorie antropologiche di Giambattista Vico, un filosofo tra i piF influenti su Carlo Levi, si potrebbe azzardare a considerare Scotellaro l’›universale fantastico‹ dei contadini del Sud, perch8 al pari dell’Omero vichiano interpreta e d/ voce al popolo muto, facendosene cantore, a riprova del nesso etimologico fissato da Vico tra ›muto‹ e ›mito‹.« Ebd. Das sind hochinteressante Aspekte, die an dieser Stelle leider keine tiefergehende Beachtung finden können. 915 Vgl. Ernesto De Martino: Mondo popolare e magia in Lucania. Hg. v. Rocco Brienza. Rom / Matera: Basilicata Ed. 1975, S. 101. 916 Vgl. Battistini 2016, S. 718. 917 Ebd.
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Erzähler Desiatis hingegen lässt seine eigene Geschichte kontinuierlich miteinfließen, er wird zu einem kommentierenden Moderator der Geschehnisse. Beide Varianten, die Scotellaros wie auch die Desiatis, erfüllen trotz ihrer Disparität den Bestand des distanzierten Teilnehmers. Das Oxymoron »distacco partecipe« scheint nicht nur in der Rolle des IchErzählers, sondern auch im Gesamten das Anliegen des Erzähltextes zum Ausdruck zu bringen, der ›distanzierte‹ Daten mit Leben zu füllen sucht. Der Aufhänger des Textsujets, nämlich die Rückverfolgung einzelner Schicksale junger Leute aus dem Süden, formuliert sich mit der Stimme des Autor-Erzählers nach einem Klassentreffen genau so: Rimasi sveglio a lungo. Scorrevo i visi della mia foto di classe. Era stata scattata nella primavera del 1996. C’erano alcuni assenti quel giorno e chi era assente per magia scomparve per sempre dal passato. I miei compagni di scuola erano quei venti l/ e in quei venti ragazzini mangiati dall’acne cercai una delle ragioni delle mie ossessioni. Che fine avevano fatto? L’indice di Maria Teresa che si posava volto su volto e raccontava le occupazioni di ciascuno immediatamente illumink un dato che quella sera avevo sottovalutato. Di tutti quei venti ragazzi, erano rimasti sotto l’Ofanto soltanto in quattro. Un quinto. I dati sull’emigrazione giovanile che pochi mesi prima avevo studiato per un articolo si tramutarono in vite umane, in volti, facce, ed erano le facce con le quali ero cresciuto. In quel momento ebbi per la prima volta la percezione dell’umanit/ della statistica, di quanto fosse umana se applicata agli uomini. I dati freddi diventarono di carne. Il miracolo dei numeri che si trasformarono in uomini mi turbk. Fu sbalorditivo, ma quella notte decisi che avrei dovuto ricercarli tutti.918
Die Passage expliziert das Anliegen des Werks und zeigt Facetten alter wie neuer Realismen auf. Mit dem Rückgriff auf die Statistik wird an das 19. Jahrhundert gemahnt, denn erst in dieser Zeit wurde sie zu dem, »was sie heute noch ist: das wichtigste Instrument eines kontinuierlichen self-monitoring von Gesellschaften.«919 Das Ziel Desiatis ist es, anonymen Statistiken Leben einzuhauchen, Daten und Fakten zu narrativisieren, also eine Sinnbildung undurchsichtiger Statistiken vorzunehmen und diese damit dem Rezipienten zugänglicher zu machen; mit den Worten des Autors geht es um die ›Menschlichkeit der Statistik‹ und um ›fleischgewordene Daten‹. Dafür sind Treffen und Gespräche mit den ehemaligen Klassenkameraden vorgesehen. Interessant ist, dass die vorgenommene Methode stets mitläuft, besprochen wird und damit eine Metaebene präsent hält, erkenntlich an folgenden und ähnlichen Einschüben:
918 Desiati 2009, S. 10. 919 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: Beck 22009, S. 57. Statistiken werden etwa zur Grundlage des für den Naturalismus eminent wichtigen Auguste Comte, der anhand der erhobenen Daten wissenschaftlich relevante Beobachtungen entwickelt. Vgl. Oei: 2016, S. 65.
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1) Ho confessato a Lucio le ragioni di quel mito ritorno ai vecchi compagni di scuola, delle ragioni che mi hanno spinto a cercarlo e interrogarlo. Sapere tutto quello che ricordava, sin dagli inizi. 2) Il mio sms dopo un decennio di assenza a Giovannino Principe fu molto sobrio: »Sono Mario Desiati e ho bisogno di parlarti, quando possiamo? So che sei martinese in questi giorni«. 3) »Sei sicuro? Non ho molto da raccontarti« mi ha preannunciato, ma sotto sotto era lusingato di essere descritto in presa diretta in uno dei suoi viaggi a nord.920
Das Vorgehen und damit die Präsenz des Autor-Erzählers sowie die Reaktionen der im Fokus stehenden Figur darauf sind stets präsent. Die ständige Hervorhebung sowohl der Methode als auch des Investigators stehen zumindest in ihrer Vehemenz im Widerspruch zu alten Realismen, die den Gestus der Maskierung des Vorgehens verfolgten; damit scheint diese Markierung zu den Charakteristika eines neuen realistischen Erzählens nach der Postmoderne gewertet werden zu können. In der Präsentation der Figuren kommen zum einen die von Battistini für Scotellaro postulierte sermocinatio und der Dialog zum Einsatz, aber auch – um in der rhetorischen Terminologie zu bleiben – die effictio, also die »visuelle Vergegenwärtigung der äußeren Erscheinung […] eines Menschen«, und die notatio, die dazugehörige Charakterbeschreibung.921 Dieses Vorgehen soll exemplarisch anhand ausgewählter Figuren vorgeführt werden. So kommt es zum Beispiel bei Valerio, dem vorgestellten Vertreter der »chiusi«, zunächst zur mit notatio durchzogenen effictio: »Allampanato e glabro, veniva chiamato Valeria per alcuni atteggiamenti particolarmente raffinati (fumare tabacco sfuso, portare il trench e dare sempre del lei a tutti i professori) interpretati come segni inequivocabili di omosessualit/.«922 Erst nach dieser Einführung kommt es in den verschiedenen Formen der Redewiedergabe – von indirekter Rede bis Dialog – zur Ausgestaltung der durch Valerio repräsentierten »chiusi«, die zunächst schlicht diejenigen zu sein scheinen, die durch Eigenarten außerhalb der Gesellschaft stehen. Berichtet wird in einer Mischung aus indirekter und direkter Rede, wodurch beide Dialogpartner sowohl in der Erzählzeit als auch der erzählten Zeit präsent sind, was die Distanz zum Leser klein hält: Valerio mi racconta il senso di oscuro, sottile, ma costante disagio. In certe domeniche mattina, quando tutto il paese era addobbato con la tempera elegante dei capotti freschi di sartoria, Valerio avvertiva la solitudine. »Sentivo gli occhi di tutti addosso solo 920 Zitat 1, Desiati 2009, S. 51, Zitat 2 ebd., S. 88, Zitat 3 ebd., S. 106. 921 Vgl. zur rhetorischen Terminologie Thomas Koch: Literarische Menschendarstellung. Studien zu ihrer Theorie und Praxis. (Retz, La BruyHre, Balzac, Flaubert, Proust, Lain8). Tübingen: Stauffenburg 1999, S. 20ff. 922 Desiati 2009, S. 7.
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perch8 avevo un modo eccentrico di vestirmi, e tu non ti sei sottratto al mobbing, come gli altri…«923
Die Relevanz dieser Einsamkeit (»solitudine«) für eine spezifische Erzählung des Südens ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Diese erschließt sich erst durch den expliziten Rückgriff des Autors auf ein anthropologisches Konzept des Meridionalisten Giustino Fortunato: Quando avverti una peculiare diversit/ dagli altri e un senso di profondo incomprensione H difficile fare vita sociale in paese. Giustino Fortunato, in uno dei suoi piF famosi rapporti sul mezzogiorno, scrisse che questo tipo di persone si chiamavano »chiusi«. I chiusi oggi potrebbero essere i depressi, per tentare un superficiale confronto con la psichiatria moderna, ma i chiusi hanno in realt/ una loro peculiarit/. ð quella di non volersi far vedere, di non voler condividere il proprio corpo e modo di essere con le persone con cui condividono il posto. A volte H solo un’impossibilit/ a valorizzare quella che si sente come propria identit/. ð piena ancora oggi, Martina, di chiusi, giovani che smettono di vivere a vent’anni, cessano di lavorare, di studiare, di fare vita comune. A volte H depressione, ma in altre circostanze H solo mancanza di quella forza che ti aiuta a superare i giudizi e gli sguardi degli altri. Che, in paese come Martina e in altri paesi del sud, hanno ancora un peso. Fortunato legava questo stato a una congenita sensibilit/. […] Valerio H un tassello del grande mosaico dei chiusi contemporanei.924
Das aktuell bekanntere Krankheitsbild der Depression wird hier kurzgeschlossen mit dem zitierten (jedoch nicht genauer belegten) Konzept des ›Sich-Verschließens‹, der Typisierung gewisser Menschen als »chiusi«. Dieses wird von Fortunato einerseits als topographisches Spezifikum in Form einer angeborenen Sensibilität an den Süden gekoppelt, was an die positivistischen Wurzeln des Theoretikers gemahnt. Zum anderen wird es im Vergleich zur psychischen 923 Ebd., S. 13. 924 Desiati 2009, S. 14f. Das Konzept der »chiusi« wird auch von weiteren aktuellen Autoren verwendet und zitiert, so etwa von Roberto Saviano in Gomorra im Kapitel »Don Peppino Diana« bei der Beschreibung des Priesters; dort heißt es: »Ognitanto qualcuno si chiude. Da queste parti poi non H raro sentirsi dire una cosa del genere. Ogni volta che ascolto quest’espressione mi viene in mente Giustino Fortunato, che nei primi anni del ’900 – per conoscere la situazione dei paesi della dorsale dell’Appennino meridionale – aveva camminato a piedi, raggiungendoli tutti, soggiornando nelle case dei braccianti, ascoltando le testimonianze dei contadini piF rabbiosi, imparando che voce e che onore avesse la questione meridionale. Quando poi era diventato senatore, gli capitava di tornare in questi paesi e chiedeva delle persone che aveva incontrato anni prima, quelle piF combattive che avrebbe voluto involgere nei suoi progetti politici di riforma. Spesso perk i parenti gli rispondevano: ›Quello s’H chiuso!‹. Chiudersi, diventare silenzioso, quasi muto, una volont/ di scappare dentro di s8 e smettere di sapere, di capire, di fare. Smettere di resistere, una scelta di eremitaggio presa un momento prima di sciogliersi nei compromessi dell’esistente.« Roberto Saviano: Gomorra. Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della camorra. Milano: Mondadori 2008, S. 262f.
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Verfassung eines Depressiven aktualisiert und an die Gegenwart angeschlossen. Bei Valerio wird es zum Grund des Fortgangs aus der Heimat, zur Migration in den Norden, nach Parma. Die Figur kommt selbst zu Wort und begründet: »Torno solo per le vacanza, qui c’H una pace, una lentezza che su non c’H. Ma non tornerk mai a insegnare in una scuola. Sono un single convinto, mi piace vestire con abiti eleganti, non voglio vergognarmi di essere un tipo eccentrico e non voglio rendere conto a nessuno delle mie scelte di vita.«925
Um die Figur des Valerio in seiner Repräsentantenrolle zu stärken, wird ein weiterer Vertreter der Gruppe der »chiusi« angeführt, der zum einen als ›Held‹ Valerios inszeniert wird und dessen Geschichte zum anderen ein tatsächliches Korrelat im italienischen Journalismus findet. Der homosexuelle Clochard Natale Morea, genannt Sissi, erlangte traurige Berühmtheit, als er eine Gruppe Mädchen vor einer Gewalttat schützte und kurz darauf selbst an den im Kampf mit den Angreifern zugezogenen Verletzungen starb. Natale wird beschrieben als »[u]n ragazzo del sud che era andato via per non essere uno dei tanti ›chiusi‹«.926 Ein weiteres Beispiel der Klassifizierung in Rückgriff auf einen früheren Meridionalisten ist die Präsentation Giovanni Principes, der als Vertreter der »mammisti« illustriert wird. Er wird benannt (»Giovanni H un mammista, lo H sempre stato sin dai primissimi anni d’infanzia, quando Rosaria portava il figlio mano nella mano sin nell’aula.«)927 und dann weiterführend beschrieben: Giovanni Principe mi fu presentato la prima volta durante un viaggio organizzato dalla parrocchia di Sant’Antonio alle Dolomiti, nell’estate tra la prima e la seconda elementare. […] Giovanni era un bambino biondo, dalla peluria dorata sul viso e grandi occhiali da miope. […] La madre me lo presentk come compagno di classe: »Ecco il tuo compagno di banco.« […] Giovanni Principe fu vittima di alcuni episodi che oggi verrebbero definiti dalla cronaca come atti di bullismo.928
Auch an dieser Stelle scheint zunächst ein überregional bis international greifendes Prinzip des für Mobbing prädestinierten Typs aufgerufen. Die hier stattfindende Rückkopplung an einen früheren meridionalistischen Autor ist weniger offensichtlich, aber vorhanden: Der Begriff mammismo geht auf die Nachkriegszeit und im Besonderen auf den kalabrischen Autor Corrado Alvaro zurück, der im Jahr 1952 ein Essay zu diesem Phänomen verfasste. Darin definiert er die Mutter, die in keiner Gesellschaft in einem vergleichbaren Maß 925 Desiati 2009, S. 17. 926 Ebd., S. 21. Über die tatsächliche Begebenheit berichtete zum Beispiel La Repubblica, o. A.: »ð morto il clochard eroe Napolitano: ›L’Italia non dimenticher/‹«, La Repubblica (18. 05. 2006), [IQ]. 927 Desiati 2009, S. 75. 928 Ebd., S. 77.
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verherrlicht worden sei, als das einzige Gesetz, als einzige Bindung und als eine Schuldigkeit gegenüber dem Leben. Mehr als auf Ehre und Pflicht berufe man sich auf die Erinnerung der Mutter. Im Gegensatz zum Vorgehen in einer modernen Gesellschaft, die ihre Kinder im Sinne eines Kollektivs erziehen würden, seien die Söhne dieser Mütter jeweils die Protagonisten ihres Lebens, das einzige Individuum, das auf alles ein Recht habe, zumindest vor dem Alter, in der sie gar keine Rechte mehr hätten.929 Ein halbes Jahrhundert später hat sich das von Alvaro definierte Konzept etabliert. Desiati selbst formuliert: »Mammista« H forse la piF inveterata qualifica del maschio meridionale. La pubblicistica europea disegna il maschio italiano come un soggetto saldato nel corso della propria esistenza ai lembi della gonna materna, come un parassita. […] Il migliore esemplare H Giovanni, un ragazzo emigrato subito dopo il diploma di maturit/ e che nessuno ha mai piF incontrato in questi anni.930
Das Interessante an der Darstellung Giovannis in Desiatis Text ist, dass er als Figur sozusagen nur sekundär ›zu Wort‹ kommt, da schlicht der das Konzept prägende Widerpart auch in der literarischen Beschreibung an Dominanz gewinnt: die Mutter Rosaria, die von vornherein lenkend die Geschicke des Sohnes in die Hand nimmt. Penelope Morris und Perry Willson erkennen im Bild der italienischen mamma »one of the most widespread and recognisable stereotypes in perceptions of Italian national identity both in and beyond Italy«.931 Mit Anna Bravo sprechen sie von einem »glorious archetype«. Beschrieben wird sie als »a strong woman who dotes on her son and dedicates herself to him intensively«. Die aus dieser Attitüde heraus entstehenden mammisti »make frequent appearances in jokes and other forms of popular culture, have been seen by some politicians and social commentators as profoundly influential in Italian society, and they have been the subject of considerable debate and anxiety«.932 Diesem Konzept wird Desiati durch die Einflechtung durchaus amüsanter Anekdoten gerecht, die aber zugleich ›perverse‹ wie ›extreme‹ Seiten dieses Konzepts aufzeigen.933 Rosarias Handlungsfeld wird beschrieben als »dominio illimitato di quella donna che imponeva regole, convenzioni, permessi, dieti, stili di vita. Rosaria aveva in mano la resa senza condizioni dei suoi familiari e ne poteva
929 Vgl. Corrado Alvaro: »Il mammismo«, In: ders.: Il nostro tempo e la speranza. Saggi di vita contemporanea. Milano / Roma: Bompiani 1952, S. 182–190, hier S. 186f. 930 Desiati 2009, S. 75. 931 Penelope Morris / Perry Willson [u. a.]: »Forum: Mothers and Mammismo in the Italian Diaspora«, Altreitalie 50 (2015), S. 143–163, hier S. 143. 932 Vgl. ebd. 933 So beginnt etwa schon das Kapitel im Dialog zwischen einem Radiosender und Rosaria, die Verhütungstipps für ihren Sohn einholt, indem sie eine inexistente 30jährige Tochter vorschiebt. Vgl. Desiati 2009, S. 74f.
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disporre a suo piacimento«.934 Das dargestellte Stereotyp des mammista ist allein bilateral denkbar und hat dabei eine dominante aktive und eine dominierte passive Seite, beides spiegelt sich in den Ausführungen im Text wider. Indem Desiati dem Stereotyp der italienischen mamma und ihrer ›Macht‹ literarisch großen Raum zugesteht, unterstützt er Reste des als matriarchalisch dargestellten Südens aus dem 20. Jahrhundert, auch wenn der Kontext sich verändert haben mag.935 An wesentlich aktuellere Quellen schließt Desiati in der Darstellung der »usati« an, für die das Curriculum Mariannas als prototypisch nachgezeichnet wird. Die junge Frau studiert wie viele andere in Parma Jura, nicht weil es ihr Wunsch ist, sondern weil es als passender Kompromiss angesehen wird.936 Danach verschwindet sie. Dem Investigator, Freund und Ich-Erzähler fällt es zunächst schwer, sie zu kontaktieren. Die Erklärung seitens Mariannas äußert sich in einer heftigen Kritik der Heimat, die zu ihrem Fortgang geführt hat; sie versuche verzweifelt sich von der »martinesit/« zu entgiften, die da sei: »ambizioni mediocri, vanit/ del risibile, sfoggio del superfluo e sfruttamento continuo«.937 Eine wahrhaft ›bessere‹ Welt findet die Figur jedoch nicht. Ihre Emigration nach London bringt ihr nur einen Job in einem Pub, eine Anekdote, die dem Erzähler Anlass gibt, über die Definition von Emigration zu reflektieren, diese einerseits ad absurdum zu führen und andererseits dadurch die Groteske der Zustände in der eigenen Heimat in gesteigerter Weise zur Darstellung zu bringen. Dafür zieht er moderne Ausführungen heran, konzentriert sich jedoch auf die AssoCina,938 welche den Emigranten folgendermaßen definiert: colui che lascia volontariamente il proprio paese per migliorare il suo stato economico e sociale, ma che allo stesso tempo non ha certezze di tornare in patria. Che miglioramento economico / sociale poteva ricevere un avvocato di grandissimo talento di un paese del sud, nel fare la cameriera in un affollato pub londinese? »La cosa stupefacente H che guadagnavo piF di chiunque dei miei colleghi negli anni di pratica.« In effetti loro si erano laureati come Marianna, andavano a fare pratica in uno studio legale che ti sta facendo un favore a prenderti e poi ti fa lavorare con qualche rimborso e magari una pacca sul sedere se sei una bella ragazza.939
Die Passage illustriert anschaulich das Vorgehen des Autors. Zunächst wird die von der AssoCina übernommene Definition aufgeführt, woraufhin nahtlos zu eigenen, in indirekter Frageform formulierten Gedanken übergeleitet wird. 934 Ebd., S. 80. 935 So stellt er etwa einen Zusammenhang zwischen dem mammismo und der Wahl Nicchi Vendolas im Jahr 2005 her. Vgl. Desiati 2009, S. 84ff. 936 Vgl. ebd, S. 61. 937 Ebd., S. 66. 938 AssoCina steht für Associazione seconde generazioni cinesi, siehe offizielle Hompage, [HP]. 939 Desiati 2009, S. 68.
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Diese gehen wiederum fließend und ohne Eingangsformel in die direkte Rede Mariannas über, die ihre eigene, spezielle Situation schildert. Im Erzählerkommentar kommt es danach durch Angleich (Juraabsolventen) und Abgrenzung (nicht emigriert) zum Exempel Mariannas zur Darstellung der Gesamtsituation, die in jedem Fall zu einer verhältnismäßigen Ausbeutung führt. Um ihre finanzielle Situation aufzubessern, gibt Marianna ihren sozialen Status auf, kann jedoch keine wirtschaftliche Aufwertung ihres Lebens erreichen. Ähnliches wird für die Figur des Oswaldo konstatiert, der wie ein Obdachloser in einem verlassenen, baufälligen Haus nahe einer Touristenhochburg lebt, nur um seinem vermeintlich schlechteren Schicksal im Süden zu entgehen.940 Dies ist eine der Erkenntnisse, die der Autor-Erzähler aus seinen Studien zieht, eine der Fragen, die er stellt: »ð questo che non capisco, perch8 se si va via per vivere peggio, vuol dire che l’aria non H buona, che la stessa societ/ H diversa.«941 Das didaktische Anliegen des Autors formuliert sich entsprechend nicht nur im Aufklärungsakt, sondern auch in einer aus dem Inneren der Region heraus angestrebten Verbesserung, was er im Kapitel »I rimasti« mit Blick auf den Vertreter Ciccillo postuliert: »Faremo una nuovo foto di classe, fra qualche anno ci saranno piF teste, […]: [Ciccillo] ha fatto bene a restare.«942 Im Dialog mit verschiedenen dokumentierten und dokumentierenden Quellen zeichnet Desiati Einzelschicksale, die er sodann auf ein Kollektiv überträgt und somit eine literarische Typologie Apuliens mit all ihren Komplexen und Problemen zeichnet; die literarische Darstellung endet jedoch mit einem vorsichtig optimistischen Denkansatz zur Verbesserung der Situation.
5.3.2 Erinnerungsorte lokaler Identität im Zeitalter der Globalisierung Desiatis Werk formuliert nicht nur Probleme des Südens, sondern stellt vor allem auch Themen in den Mittelpunkt seiner Darstellung, die als identitätsstiftend für das häufig von den Konsequenzen der Emigration betroffene Kollektiv seiner Region anzusehen sind. Diese Themen sollen hier im Sinne Pierre Noras als Erinnerungsorte verstanden werden. Das Konzept der Erinnerungsorte (frz. lieux de m8moire) wird von Nora der »disparition rapide de notre m8moire nationale«943 entgegengesetzt. Ihm geht es um ein Inventar von ›Orten‹, die genau dieses nationale Gedächtnis elektiv inkarnieren, welches an dieser 940 941 942 943
Vgl. ebd., S. 114ff. Ebd., S. 123. Ebd., S. 127. Pierre Nora: »Presentation«, In: ders. [Hg.]: Les lieux de m8moires. Bd. I. La R8publique. Paris: Gallimard 1984, S. VII–XIII, hier S. VII.
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Stelle in der Anwendung mit einem regionalen Gedächtnis substituiert werden soll. Erinnerungsorte können einmal wörtlich verstanden werden als Monumente oder Nationalarchive, aber auch als abstrakt intellektuelle Konstruktionen. Noras Beispiele reichen von Saint Denis bis hin zum Larousse.944 Diese Erinnerungsorte werden besonders in einer Welt der Globalisierung, Mobilität und lebensweltlichen Dissoziation nötig, denn – in Noras Worten – »[h]abiterionsnous encore notre m8moire, nous n’aurions pas besoin d’y consacrer des lieux«.945 Es kann daher nicht verwundern, dass Orte der Erinnerung in der Darstellung einer Region der Emigration von Bedeutung sind. Anzuführen und näher zu betrachten sind im Folgenden die Küche, Kirche, Feste sowie als übergreifendes und verbindendes Element der Dialekt. Diese Aspekte scheinen auf den ersten Blick einen vorwiegend kulturwissenschaftlichen Anspruch widerzuspiegeln, zeichnen sich aber in ihrer kulturanthropologischen Relevanz und ihrer nachweislichen Referenz zudem als Marker realistischen Schreibens aus. Die Darstellung der Spezifika der genannten Erinnerungsorte findet unter besonderen sprachlichen Vorgaben statt. Genau an diesen Stellen des Werkes werden wie Intarsien dialektale Einsprengsel verwendet. Dass diese sprachlichen Marker hohe Relevanz im Text und in den verarbeiteten Themen haben, ist allein daran ablesbar, dass der Dialekt bereits im Untertitel des Werkes, der den Fortgang junger Menschen thematisiert, verwendet wird: U uagnon se n’asciot (dt. Ein junger Mann ging fort).946 Es handelt sich um ein literarisch nachempfundenes Apulisch, das dem nicht-dialektalen Muttersprachler einige Schwierigkeiten bereiten dürfte. Dieser Hürde tritt Desiati entgegen, indem er die sprachlichen Intarsien kursiv markiert und entweder so in den Kontext einwebt, dass sie aus der Pragmatik der Situation heraus ›übersetzbar‹ werden oder aber indem er ihren Sinn in einem darauffolgenden Halbsatz expliziert. So ist einerseits die Verständlichkeit des Werkes überregional gegeben, andererseits ergibt sich durch diese sprachlichen Einsprengsel eine ästhetische Unterstreichung des Erzählten, nämlich der Region Apuliens mit ihren Charakteristika und Traditionen. Er stellt sich somit einer Problematik, mit der bereits die Veristen vertraut waren, auf durchaus vergleichbare Weise.947 944 Ebd. 945 Pierre Nora: »Entre M8moire et Histoire. La probl8matique des lieux«, In: ders. [Hg.]: Les lieux de m8moires. Bd. I. La R8publique. Paris: Gallimard 1984, S. XVII–XLII, hier S. XIX. 946 »U uagnon« eine spezielle dialektale Form von un guaglione, recht verbreitet vor allem im Süden Italiens, für ›un ragazzo‹ mit nicht ganz eindeutiger Etymologie. Vgl. Lo Zingarelli online. Von Nicola Zingarelli. Bologna: Zanichelli 2010–, [LW] sowie DELI – Dizionario etimologico della Lingua Italiana 1999, [LW]. 947 Das Problem der Mimesis der gesprochenen Sprache, also des Dialekts, mit Anspruch, ein
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Die Verwendung regionaler Sprachausprägung in der Literatur folgt einem realen Trend, der über eine gewisse Zeitspanne hinweg dem allgemeinen Rückgang des Dialektes zugunsten des Standarditalienischen entgegengewirkt.948 In Opposition zur zwischenzeitlichen Abwertung des Gebrauchs der Dialekte wird dieser nunmehr als wertvolle Tradition erkannt und erfährt eine Wiederaufwertung. Anna Grochowska bemerkt: Oggi il senso di arretratezza e di inferiorit/ nei confronti del dialetto pare avvertire un forte declino. […] Da qualche decennio si ravvisano azioni volte alla rivalutazione del dialetto, il quale H stato dimenticato per un attimo nel fervore dell’apprendimento della lingua nazionale. Si cerca di salvaguardarlo, tutelarlo e diffonderlo.949
Und weiter führt sie an: Il dialetto sembra pian piano scrollarsi di dosso l’etichetta di una parlata appartenente agli strati sociali bassi, di un’espressione svantaggiata e discriminata, acquisendo un certo livello di neutralit/ con l’italiano e guadagnando un vasto ventaglio diposizioni sociali, culturali e situazionali. […] Il nuovo millennio ha portato una nuova visione del dialetto, una sua ricollocazione nel panorama linguistico italiano priva dei pregiudizi dei secoli precedenti. Ora si H orgogliosi della tradizione dialettale che va custodita e ritenuta una fierezza dell’Italia. Il dialetto trova l’impiego in svariati campi, tra cui pubblicit/, spettacolo, musica, commercio, linguaggi giovanili.950
Die Anfänge dieser von Grochowska dargelegten Entwicklung sieht Mirko Grimaldi bereits in den 90er Jahren. Seit dieser Zeit sei es fast unmerklich zu einer Wiederaufnahme des Dialekts nicht nur im Alltagsgebrauch, sondern auch in der Musik und Literatur gekommen.951 Grimaldi spricht von »neodialetta-
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überregional verständliches Werk zu schreiben, kannte schon Verga. Corrada Biazzo Curry bemerkt: »Il costante rifiuto dello scrittore di scrivere I Malavoglia in dialetto siciliano corrisponde alla sua ferma determinazione di creare un’opera che rispecchi s' la realt/ popolare quotidiana dell’umile gente siciliana, ma che sia al tempo stesso accessibile alla maggioranza del pubblico italiano.« Vgl. dies.: »Illusione del dialetto e ambivalenza semantica nei Malavoglia«, Quaderni d’Italianistica 13/1 (1992), S. 27–42, hier S. 27. Einen guten Überblick über die Entwicklung der Verwendung von Dialekten im Gegensatz zum oder auch Miteinander mit dem Standarditalienischen ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt mit Blick auf die Rolle des Fernsehens und auch auf die Wechselwirkung von Emigration und Immigration Immacolata Tempesta: »L’italiano oggi. Resistenze e innovazioni nel repertorio dell’italiano contemporaneo«, In: Ettore Catalano [Hg.]: Letteratura del novecento in Puglia 1970–2008. Bari: Progedit 2009, S. 70–91. Anna Grochowska: »Il dialetto nell’Italia postunitaria«, Studia Romanica Posnaniensia, 40/ 3 (2013), S. 17–31, hier S. 22. Ebd., S. 28. »Quello che vediamo oggi, in sostanza, altro non H che il risultato di un processo che inizia nei primi anni ’90, quando i dialetti non erano stati ancora sdoganati e da piF parti ci si interrogava – con toni ora allarmati ora piF equilibrati – sul loro inesorabile destino. In quegli anni, inosservato, il (ri)uso del dialetto caratterizza la musica Hip-hop dei torinesi Mau Mau, dei napoletani Almanegretta, dei veneti Pitura freska, dei salentini Sud Sound System 3, e parallelamente compare nei romanzi dell’abruzzese Silvia Ballestra, del romano
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lit/«.952 Gehe man jedoch noch etwas weiter zurück, so finde man den Dialekt als ›Protagonisten des Neorealismus‹ etwa im Werk Pier Paolo Pasolinis oder in Stefano D’Arrigos Horcynus Orca.953 Grochowska fügt hier die wesentlich weniger diskutierte Verwendung des Dialekts zur Zeit des neorealistischen Kinos in Italien an.954 Eine Entwicklung in ähnlicher Richtung erfährt das italienische Kino der Gegenwart.955 Apulien ist nach Grimaldis Auffassung in dieser Hinsicht von besonderem Interesse, da Künstler in Literatur, Musik und Kino in der Lage gewesen seien »[di] sfruttare il codice dialetto per interpretare realt/ socioculturali e antropologiche locali attraverso un linguaggio nuovo«.956 Desiati stellt den Wert des Dialektes in seinem Werk zum einen als sich aus dem Fragebogen ergebendes Faktum ganz klar heraus (»il dialetto resta un dato di appartenenza e identit/«),957 zum anderen lässt er ihn von seinen Figuren verwenden und metasprachlich thematisieren. Dies findet zumeist im Kontext einer Diskussion um den Status der Figur im Dialog statt, der zwischen Emigrant und Auswärtigem zu unterscheiden sucht. »Ti ritieni un fuorisede o un emigrato?« »Forse nessun meridionale oggi H un emigrato. ð impossibile tagliare i ponti con la propria terra. E poi, stare nell’autobus accanto a un pakistano che ha almeno una settimana di viaggio per tornare nella sua terra d’origine, ti obbligher/ a pensarci due volte prima di autoproclamarti emigrato«. »Ma almeno fuorisede s'?« »S'. Ti racconto una storia. In Emilia Romagna quando vai alla cassa per saldare un acquisto fatto ti chiedono ›Altro?‹. Ovviamente la risposta H ›No‹ … (se sto pagando), e
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Marco Lanzkl, o del veneziano Marco Franzoso.« Mirko Grimaldi: »Dialetto, lingua e identit/: nuovi usi, forme nuove, identit/ diverse«, L’Idomeneo: rivista della Sezione di Lecce / Societ/ di storia patria per la Puglia (2007), S. 101–121, hier S. 102. Ebd., S. 101. »Se infatti andiamo ancora piF indietro nel tempo, vediamo come intorno agli anni ’60, parallelamente alla conquista progressiva dell’italiano medio da parte delle masse, il dialetto, protagonista della scrittura del neorealismo – sino alle sue estreme propaggini (Pasolini, Mastronardi, e, secondo Segre, anche il D’Arrigo di Horcinus orca) – regredisce nella narrativa italiana per essere soppiantato da un italiano che aspira alla mediet/.« Ebd., S 102. Es sei darauf hingewiesen, dass Grimaldi die Etikette Neorealismus an dieser Stelle vielleicht etwas pauschal bzw. unreflektiert verwendet. Interessant ist der Verweis auf D’Arrigos Horcinus orca, den Desiati in Foto di classe zitiert. Vgl. Desiati 2009, S. 17f. »Anche la produzione cinematografica italiana degli anni Quaranta, sotto forma di neorealismo, chiamk il dialetto, non di rado nelle sue forme piF strette, ad assolvere la funzione della lingua del popolo, della lingua del cuore contrapposta alla lingua nazionale in quanto sinonimo della lingua della ragione.« Grochowska 2013, S. 20. »In quanto al cinema, negli ultimi anni, si assiste al cosiddetto neo-neorealismo (Rossi, 2006: 393), il quale si traduce nell’uso del dialetto in numerose produzioni cinematografiche, da parte di svariati registi, spesso confinante con la comprensibilit/ e la necessaria adozione dei sottotitoli.« Ebd., S. 26. Grimaldi 2007, S. 102f. Desiati 2009, S. 132.
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loro incalzano ›Altro?‹. Perch8 in Emilia Romagna ›Altro?‹, in quel contesto, significa ›Basta cos'?‹. La risposta da dare H ›Altro cos'‹. Paese che vai, lingua che trovi!«958
In diesem Abschnitt zeichnet sich eine Neumodellierung des Konzepts der Emigration in einem zunehmend globalisierten Kontext ab. Diese ergibt sich einmal aus dem Vergleich mit dem viel weiter gereisten Pakistani,959 aber auch aus der emotionalen Bindung an die eigenen Wurzeln; diese wird hier durch das Beispiel der Erfahrung in der Emilia Romagna ganz eindeutig an die verwendete Sprache rückgekoppelt. Mit der Emigration oder auch nur durch temporäre Abwesenheit und Aufenthalte in sprachlich anders konnotierten Gegenden geht mit der zwangsläufigen Veränderung der dialektalen Färbung auch ein Stück Identität verloren beziehungsweise unterliegt spürbaren Veränderungen. Das wird anhand der Figur des Valerio vorgeführt, der in einem ländlichen Pfeifenladen Apuliens die Auslage betrachtet und als ›Ausländer‹ erkannt wird: »ð straniero?« Forse vuole chiedere se H forestiero. »No, sono di Martina« risponde con tono neutro Valerio. »Non sembra« fa il commesso scrollando le spalle. ð bastato chiedere qualcosa di inconsueto con il tono neutro di chi ormai ha perso l’inflessione dialettale ed ecco comparire quello che non si H, ma inevitabilmente si appare. Succede a tanti, e anche Valerio mi racconta che da quando H andato via, molte persone che lo conoscono lo chiamano »l’Emiliano«, solo perch8 vive e lavora a Parma. Ma quando torna a Parma, la portiera del suo stabile o il segretario della sua scuola lo chiamano »il Barese«, anche se di Bari non H.960
In der Formulierung »comparire quello che non si H, ma inevitabilmente si appare« wird die Macht sprachlicher Zugehörigkeit in den Vordergrund gehoben, durch die zweifache Zuordnung jeweils als »Emiliano« beziehungsweise »Barese« der Verlust einer eindeutigen Identität markiert. Diese Veränderung, die die Emigration in der Verfärbung sprachlicher Identität mit sich bringt, wird auch im Zusammentreffen mit der nächsten Figur vom Ich-Erzähler thematisiert. Das Thema wird in seiner Rekurrenz zu einem konstanten Anliegen. Der Ich-Erzähler formuliert: »La voce di Lucio H uguale a quella che ricordavo, ma ha una sfumatura diversa, come se i dialetti dei luoghi da lui vissuti avessero ri-
958 Ebd., S. 12f. 959 Diese Meinung wird auch von der Figur des Paolo vertreten, der sich nicht als »emigrato«, sondern als »trasferito« versteht: »Non sono un emigrato, al massimo un trasferito, in due ore da qui sono a Orio al Serio, un’altra ora e sono nella mia casa. La chiami emigrazione questa? Che retorica intellettuale del cazzo. La conosci la geografia del Hinterland?« […] »Noi che veniamo oggi dal sud siamo meno affamati, meno incattiviti, meno pronti a combattere di questi che vengono dall’est, dall’Africa, dall’Asia, che fanno lavori di merda. Gli emigrati sono loro, noi siamo trasferiti, capisci Mario?« Ebd., S. 36. 960 Ebd., S. 15.
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modellato l’inconfondibile tono del martinese, fatto di dentali e groppi di consonanti.«961 Der Dialekt findet im Text jedoch auch Verwendung, um Jugenderinnerungen plastischer zu gestalten, Gefühle oder Konzepte eindringlicher zum Ausdruck zu bringen und so die mimetische Darstellung zu intensivieren. So wird die Erinnerung an den Parkwächter, der abends die »uagnon« (Jungen) aus dem Park vertrieb, im Dialekt evoziert (»Iaul t’ascua u cul!, Iaiul ti brucia il culo, […]«),962 das Konzept einer Person, die ›anders‹ als die sie umgebende Gemeinschaft ist, wird als sugg'tt (›soggetto‹) bezeichnet,963 die Jugendräume in verlassenen Trulli oder Garagen als lochHl.964 Die tonangebenden Klatschweiber des Dorfes mit einer gewissen lokalpolitischen Macht sind die pettenessere,965 der Ich-Erzähler beschreibt sich selbst als scnurnusu (eine Mischung aus verschämt und schüchtern), als er versucht, unauffällig Informationen zu Giovanni über dessen Mutter zu erhalten (»Il mio piano consisteva nell’incontrarla per caso, mi infastidiva chiamarla apposta, ero scurnusu, come si dice a Lecce, un misto di vaga timidezza e vergogna di parlare con una persona di qualcosa di specifico.«).966 Andere Ausdrücke und Syntagmen werden in amüsante Anekdoten verwoben und steigern zusätzlich die Komik des Erzählten, etwa wenn der mammista Giovanni bei einem von seiner Mutter organisierten Versöhnungsessen mit den Schulkameraden mit seinem Stuhl zusammenbricht und der sonst nahezu stumme Vater im Dialekt losbricht: Il pranzo non fin' bene. Mentre Rosaria arrivava dal fondo della sala von un vassoio di cotolette sentii un boato enorme e vidi la gamba di una sedia schizzarmi davanti agli occhi come un proiettile. Giovanni Principe era disteso su un cumulo di macerie che pochi attimi prima era la sua sedia. Il padre, composto e silenzioso sino ad allora ai limiti del mutismo, era esploso in una risata liberatoria gridando in dialetto »Tri’ mint a stu chighione« (guarda questo minchione).967 961 962 963 964 965
Ebd., S. 44. Ebd., S. 4. Ebd., S. 6f. Ebd., S. 48ff. »Fino agli anni Sessanta c’erano ancora le pettenessere, coloro che portavano in testa le acconciature da cui le donne del paese dovevano prendere esempio per le proprie. Le pettenessere erano molto piF di quello che si crede, erano le donne guida di un’intera comunit/, l’esempio di portamento, bellezza, pettinatura e perch8 no, stile di vita. In molte donne di paese H rimasta questa tensione a mostrare la giusta tendenza. Luogo di questi bandi H il parrucchiere, non a caso.« Ebd., S. 86. 966 Ebd., S. 87. 967 Ebd., S. 80. Eine ähnliche Verstärkung der Komik ergibt sich, als Mutter Rosario es vor lauter ›Fürsorge‹ für den Sohn nicht rechtzeitig schafft, den abfahrenden Zug zu verlassen und verzweifelt »Fiermt, fiermt« ruft. Vgl. ebd., S. 78. Ein weiteres Beispiel in diesem Kontext wäre die Geschichte Lucios, der während des Verzehrs riesiger Mengen von
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Von besonderem Interesse sind jedoch die Abschnitte, in denen Küche, christliches Brauchtum und Feste beschrieben werden. Hier überkreuzen sich verschiedene Erinnerungsorte, die, wie man mit Nora annehmen kann, erst durch Verlust von Identität im Zuge der Globalisierung an Bedeutung gewinnen. Bezüglich regionaler Esskulturen sieht Maria Antonietta Epifani die Möglichkeit, verschiedene Mahlzeiten zu dechiffrieren, da sie eine Art ›Sprache‹ seien, die soziale Beziehungen erzählen könnte. Sie führt aus: Il mutamento della societ/, e precisamente il passaggio dalla societ/ industriale a quella cosiddetta post-industriale, ha in parte sottratto al cibo la sua funzione nutriva, lo ha collocato in una zona piF simbolica, connettendo la sua esperienza quotidiana a un universo di significati e di valori che spesso si misurano con altre e diverse esperienze. E possibile cos' decifrare un pasto, perch8 H un linguaggio cifrato che invia messaggi da codificare, utili all’individuazione dei rapporti sociali in esso narrati;968
Mit besonderem Blick auf Apulien postuliert sie den Versuch »di riprendere per sottrarre alle dimenticanze distruttive del tempo e alle maglie strette delle implicazioni socioeconomiche, una parte della propria identit/ culturale attraverso una regionale o meglio territoriale res culinaria.969 Desiati lässt seine Figur Lucio, der die fedeli repräsentiert, über mehrere Seiten lang über Differenzen der Küche im Norden und Süden berichten und dabei Sprache, Identität und soziale Aspekte reflektieren: Lucio racconta che ogni bravo ristoratore deve fare la spesa per conto suo, mai permettere ad altri di andarla a fare. Solo che nei primi mesi [da emigrato], quando andava nei mercati notturni di Torino a comprare le verdure, aveva enormi difficolt/ a individuarle. Due tabF erano le rape e le cicorie. Per non parlare di quello che nella Puglia interna chiamiamo cocomero, carosello o cianciuffo, un cetriolo tondo dalla buccia bianca e la polpa verde acquamarina. »O non esistevano o per anni aveva sempre mangiato un’altra verdura chiamata in quel modo.« E anche sul pesce, e nonostante il mare fosse lo stesso, i nomi non collimavano quasi mai: »Arrivava il pesce fresco dalla costiera marchigiana, ossia Mar Adriatico, ossia il nostro mare, ma aveva dei nomi diversi. ð assurdo, per mesi abbiamo spacciato per totano dei calamaretti, perch8 il totano non c’H nei dizionari torinesi«.970
Pommes Frittes in seiner Lieblingsbar einen dermaßen verfärbten Dialekt verwendet, dass auch der Inhaber es nicht zu verstehen mag: »A met/ carico Lucio sbraita in dialetto qualcosa che assomiglia a una protesta »Dafriusct intra lugghiu de russul dei tir?«, un dialetto strano, impastato e sconosciuto, neanche il pizzaiolo Ciccio u purk lo capisce. La frase viene tradotta dallo stesso Lucio mentre si passa il tovagliolo sulle labbra:« Dove sono state fritte queste patate? Nell’olio di risulta dei tir?« Ebd., S. 56. 968 Maria Antonietta Epifani: »La tavola: identit/ sociale, sapori e saperi«, L’Idomeneo 20 (2015), S. 197–212, hier S. 199. 969 Ebd. 970 Desiati 2009, S. 53f.
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Es sticht heraus, dass in der Ambiguität der Situation zwei Lösungen angedacht werden: Eine tatsächliche Inexistenz der gesuchten Produkte oder schlichtweg ihre anderweitige Benennung. Bei gleichzeitig empfundener ›relativer Nähe‹ (es handelt sich um dasselbe Meer), kommt es nur selten zu einer sprachlichen Übereinstimmung, was zu einem Gefühl identitärer Abspaltung führt. In einer Welt, die aufgrund einer häufig prekären Arbeitssituation zu Mobilität und Schnelllebigkeit zwingt, bekommen regionale Gerichte und ihre Zubereitung eine neue Komponente von Tradition und Gemeinschaft. Ein Kompromiss von Identität entsteht, als Lucio in seiner Taverna Salentina ein typisches Gericht der Langhen adaptiert. Man könnte sagen, es entsteht in der Beschreibung eine ›Geographie des Geschmacks‹.971 Protagonist der Adaption ist die »bagna c/oda«, eine Soße, die traditionell zu vielen Gerichten, vor allem aber zu »a rizzkl di fave« (Bohnengericht) gereicht wird.972 Unterstrichen werden dabei die (positiv gewertete) Langatmigkeit der Zubereitung (»Si passa l’intera giornata a ripulire e tagliare le verdure, e a far macerare l’aglio nel latte«)973 sowie die gemeinsam verbrachte Zeit des Essens, die dieses zum Ritus werden lässt (»Un piatto comunitario dove contano il tempo e la compagnia, e che H per questo a suo modo un rito«).974 Epifani beschreibt die gemeinsame Mahlzeit als »il luogo reale e simbolico, in cui il corpo si fa essere sociale«.975 Der Ritus scheint Gemeinsamkeit zu versprechen, die durch den Fortgang aus der Heimat bedroht ist; die beschriebene Lösung ist die Adaption fremder Gebräuche und Riten, aber auch die Rückkehr in bestimmten Perioden, die mit Traditionen angefüllt sind. So etwa in der »sumana santa«, der Karwoche, der der Autor ebenfalls eine ausschweifende Beschreibung zukommen lässt, in der er die Prozession der Addolorata (›Schmerzensmutter‹), der Bruderschaft perdFne des Karmeliterordens und ihrer spezifischen Kleidung sowie dem Gang zu den Gräbern, dem nazzec/te darstellt.976 Auch an dieser Stelle spielt nicht nur der Bericht, sondern vor allem die sprachliche und anthropologische Reflexion eine Rolle. So endet die Beschreibung der Brüder des Karmeliterordens mit einem etymologischen Hinweis:
971 So benennt Epifani die Einzigartigkeit der regionalen Gerichte: »Il cibo si connota per la sua intrinseca singolarit/ che lo rende un’opportunit/ sia di riscoperta delle memorie culturali e sia occasioni di incontro con tradizioni altre e si racchiude in una geografia del gusto, in cui la conoscenza dei saperi locali H veicolata attraverso sapori ben definiti. Questo H possibile se si sostiene l’identificazione territoriale, senza perk declinare il piacere della ibridazione e l’incontro con il diverso.« Dies. 2015, S. 207. 972 Vgl. Desiati 2009, S. 55. 973 Ebd. 974 Vgl. ebd., S. 55f. 975 Epifani 2015, S. 205. 976 Vgl. Desiati 2009, S. 45ff.
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I confratelli del Carmelo che camminano scalzi e indossano l’abito di rito, un camice bianco con due scapolari neri, un cappuccio, un cappello nero ornato d’un nastro azzurro e il bordone, il bastone che per alcuni ha dato origine al nome di perdFne contro l’interpretazione piF frequente, che invece fa derivare la parola dal sostantivo »perdono«.977
Ebenso geht die Darstellung des Gangs der nazzec/te über die rein mimetische Wiedergabe hinaus und bringt eine wissenschaftliche Metaebene mit ins Spiel. Dadurch werden den Vorgang charakterisierende Aspekte bewusst auf den Plan gerufen, die sonst der Phantasie und Interpretation des Lesers überlassen geblieben wären: »A vedere il cammino frontalmente si puk notare un movimento ipnotico che a piF di un antropologo ha fatto sorgere il dubbio che la nazzec#te fosse una tecnica per andare in trance.«978 Der selbst aus dem Süden stammende Ich-Erzähler und Autor-Erzähler geht hier aus der ›Nähe‹ in die Distanz, verbindet wissenschaftliche Beobachtung mit dem Erlebnis des Einheimischen, wird wieder zum distanzierten Teilnehmer (»distacco partecipe«),979 um noch eine Nuance mehr der darzustellenden Region einfließen lassen zu können. Als wichtig hervorgehoben wird in diesem Bild wieder die identitäre Verbindung zu Ritus und Zeremonie: Lucio per alcuni anni non H piF tornato a Martina, ed H stato in quegli anni che ha iniziato a sentire una carenza; cik che gli mancava era sempre un’idea di cerimonia. Quello che erano stati i lochHl dell’adolescenza e le sciotte degli ultimi anni di liceo potevano anche essere tramutati nell’esigenza di una processione o di un pellegrinaggio.980
Indem die Jugendtreffen sowie die festlichen Banketts (fast könnte man bei den sciotte von ›Fressgelagen‹ sprechen) mit religiösen Traditionen in ihrer Wertigkeit kurzgeschlossen werden, verlieren Letztere weitgehend ihre ursprüngliche Bedeutung. Sie werden jedoch neu aufgeladen als spezifisch örtliche Charakteristika mit Status eines Erinnerungsortes. Es geht um die Teilhabe an der dem Verlust anheimgegebenen Heimat und Tradition. Ähnlich formuliert es der Autor-Erzähler selbst zu Ende der Anekdote über eine gestohlene Statue Padre Pios, die letztendlich zusammen mit einem dialektal beschrifteten Zettel wiedergefunden wird: »›Me sc fatt do pass‹, mi sono andato a fare due passi, firmato Pio.«981 Der Raub wird als schweres Delikt gegen das öffentliche Vertrauen wahrgenommen, während der Autor-Erzähler den dahintersteckenden Zugehörigkeitssinn in den Vordergrund rückt: »Nessuno, nemmeno per un attimo, 977 978 979 980 981
Ebd., S. 46. Ebd., S. 47. Vgl. dazu Ausführungen in Kap. 5.3.1 der vorliegenden Arbeit. Desiati 2009, S. 45. Ebd., S. 58.
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ha pensato che dietro ci fosse un atto di appartenenza; quella statua H anche nostra, il culto a volte non H solo preghiera, si puk essere fedeli in modo diversi.«982 Aus Vergessen und Vernachlässigung alter Glaubenswerte und Traditionen erwachsen in einer mobilen Welt der Globalisierung Orte der Erinnerung, die nichtsdestotrotz auf den alten Riten und Zeremonien gründen. Mit Bezug auf ausschweifende kulinarische Genüsse und streng geregelte katholische Bräuche verortet Desiati diese in einem intertextuellen Rückgriff auf Leonidas und mithilfe von latinisierenden Formen der Ortsnamen noch einmal in der für die Region wichtigen Antike: C’H una sorta di fedelt/ al rito che resta immutata nel tempo e a volte, accanto a un momento di silenzio e devozione, H contiguo quello dell’estasi dionisiaca. Il poeta Leonida diceva che c’H sempre un Dionisio accanto a un Apollo, negli angoli perduti dell’antica Tarentum. E conoscendo il percorso di Lucio tra processione santa e sciotte, la citazione calza a pennello.983
In Desiatis Roman Foto di classe wird Apulien als Region der Emigration gezeichnet, deren Wurzeln gerade aufgrund der Diaspora von großer Wichtigkeit sind, die sich jedoch, wenn nicht in Auflösung, so doch in Veränderung, in Bewegung befinden. Identitätsstiftende Erinnerungsorte erwachsen aus alten Bräuchen und Traditionen und sind meist mit sprachlichen Besonderheiten verbunden, die durch dialektale Intarsien zur Darstellung kommen und im Roman zudem auf der Metaebene reflektiert werden. Gleichzeitig arbeiten sie – ähnlich wie bereits im Verismus – der mimetischen Komponente im Text zu. Neben den eher in abstrakten Bereichen angesiedelten Erinnerungsorten, spielt auch die konkret beschriebene Landschaft eine wichtige Rolle, die über einen reinen Hintergrund deutlich hinausgeht und die herauszuarbeitende Topologie des Südens im Rahmen eines modernen Meridionalismus vervollständigt.
5.3.3 Zur Funktionalisierung und Semantisierung der dargestellten Landschaft Es ist davon auszugehen, dass ein literarischer Text aus der Idee eines bestimmten Raumes heraus geboren wird, aus der Art, diesen Raum zu denken, aus dem Miteinander von Verhältnissen in diesem Raum.984 Raum ist somit unbe982 Ebd. 983 Ebd., S. 47. 984 »Ovverosia che un testo, sia letterario, figurato o d’altro tipo, nasce da un’idea di spazio, da un modo di pensare allo spazio, da un insieme di relazioni che sono parte di un tale sistema.« Cesare De Seta: »Presentazione«, In: ders. [Hg.]: Storia d’Italia. Bd. V. Il paesaggio. Torino: Einaudi 1982, S. XXIV–XXXIII, hier S. XXXI.
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dingt ›anwesend‹.985 In Zeiten der Postmoderne verlieren Ortsbeschreibungen immer häufiger ihre lokalen Marker und werden zu All-Orten oder NichtOrten.986 Ulrich Meurer fasst passend zusammen: »Ohne Wirklichkeit und Subjekt bleibt wenig mehr als die Struktur des Raums; er ist Kopie ohne Original, diskursiver Körper, der in den differenten Feldern von Geschlecht, Ethnos und Kapital ausgedrückt ist, sein eigentliches Entstehungsmoment ist seine Beschreibung.«987 Meriodionalistische Texte, also Texte, die sich um den Status quo einer bestimmten Region ranken, sind einem klar erkennbaren landschaftlichen und räumlichen Konzept jedoch per se verbunden und damit auch konkret referenzialisierbar. Das gilt für alte wie neue Meridionalismen. Nichtsdestotrotz ist die Landschaft im Text immer ein produziertes und konstruiertes Bild und somit nicht reine Wiedergabe.988 Die Zeichnung einer Landschaft kann als weiterer Versuch gesehen werden, bestimmte im Fokus stehende Fakten zu narrativisieren; Landschaft ist somit »il risultato di un tentativo di leggere il mondo e di renderlo leggibile.«989 Sie wird damit zum Indikator von Wissen und Reflexion, zu einer Basis, auf der sich Textstrategien entwickeln können, nicht als Regelkatalog, sondern mit Modellcharakter. »Lo sguardo sul paesaggio H la forma letteraria del rapporto con la conoscenza del mondo: […]«990 Die Landschaft wird zu einer Art Theaterbühne der Aktion der
985 Vgl. Ulrich Meurer: Topographien. Raumkonzepte in Literatur und Film der Postmoderne. München: Fink 2007, S. 9. 986 Von All-Orten und Nicht-Orten spricht Andreas Mahler in Bezug auf den Tod der Stadt und dem damit einhergehenden Ende der Stadttexte. Vgl. ders.: »Stadttexte – Textstädte. Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitutionen«, In: ders. [Hg.]: Stadt-Bilder : Allegorie, Mimesis, Imagination. Heidelberg: Winter 1999, S. 11–36, hier S. 35. Bei den NichtOrten ist im Besonderen auf das Konzept der non-lieux von Marc Aug8 zu verweisen. Siehe ders.: Non-lieux: introduction ‹a une anthropologie de la surmodernit8. Paris: Pditions du Seuil 1992. 987 Ebd., S. 14. 988 Vincenzo Bagnoli: Lo spazio del testo: paesaggio e conoscenza nella modernit/ letteraria. Bologna: Pendragon 2003, S. 18. Auf den Konstruktcharakter von Landschaft verweisen auch Manfred Schmeling und Monika Schmitz-Emans; sie führen aus: »Der Terminus entstammt dem kunstkritischen Diskurs, und er wurde zunächst verwendet, um eine bestimmte Gattung malerischer Werke zu charakterisieren. Erst von hier aus übertrug er sich auf die für diese Gattung spezifischen Darstellungs-Gegenstände. Der Gegenstand namens ›Landschaft‹ ist insofern stets ein ästhetisch organisierter, durch ästhetische Darstellungsmodi geprägter Gegenstand, auch dann, wenn er als so genannte ›natürliche‹ Landschaft außerhalb gemalter, gezeichneter oder photographisch hergestellter Bilder wahrgenommen wird.« Siehe dies.: »Einleitung«, In: dies. [Hg.]: Das Paradigma der Landschaft in der Moderne und Postmoderne, (Post)Modernist Terrains: Landscape – Settings – Spaces. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 21–36, hier S. 21. 989 Bagnoli 2003, S. 18. 990 Ebd., S. 20f.
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Individuen und der kollektiven Geschichte, vor allem aber ein Ort der Interpretation.991 Eine Hochzeit der Landschaftsbeschreibung erlebt das 19. Jahrhundert. Ist in der Romantik die dargestellte Natur Spiegel der Seele, so wird sie im Naturalismus und Verismus zur Plattform wissenschaftlichen Interesses, zum physischen Raum, in dem sich Spuren wirtschaftlicher und historischer Entwicklung ablesen lassen. Nicht nur der Fortschritt kommt zur Darstellung, sondern auch kollaterale Effekte des industriellen Kapitalismus sowie von der Entwicklung ausgeschlossene Zonen mitsamt ihrer Problematik.992 In Bezug auf die questione meridionale und einer Diskussion um das Scheitern des Risorgimento, das einen rückständigen Süden sich selbst überließ, verweist Dora Marchese auf Verga, der sich als eloquenter Interpret der Situation gezeigt habe.993 Dabei sei sein Schreiben nicht allein auf einen manichäistischen Gegensatz zwischen lyrischepischen und ökonomisch-symbolistischen Elementen zurückzuführen, sondern es handele sich im Gegenteil um eine Synthese beider Aspekte, sodass es zu einer Koexistenz und Harmonie komme, die eine lyrisch-ökonomische Landschaft entstehen lasse.994 Ähnliches ist im Schreiben Desiatis zu vermerken, dessen Landschaft Referenz, Identität, Symbolcharakter und Kritik an Missständen in sich zu vereinen weiß. Von besonderem Interesse sind dabei die spezifischen Orte, die der Autor zur intensiven Darstellung auswählt und die bereits in Il paese delle spose infelici eine Rolle spielen und in ihrer Rekurrenz auch ihre Wichtigkeit unterstreichen: die Stahlfabrik Ilva und die sie umgebenden Orte, der Friedhof San Brunone und der Zug beziehungsweise Bahnhof. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Fabrik und der Friedhof als einander überkreuzende Heterotopien den Kern der modernen Problematik des Südens spiegeln, während der Zug oder Bahnhof als Herzstück einer zerrissenen Identität in Bewegung und damit in Nachbarschaft zu den Erinnerungsorten zu sehen ist. Die erste längere Landschaftsbeschreibung findet sich nach dem Treffen mit Valerio, vor dessen Verabschiedung, bei einem gemeinsamen Besuch in Massafra:
991 Ebd., S. 21. 992 Dora Marchese: »Polisemia del paesaggio: dal Romanticismo all’et/ moderna«, Critica letteraria 147 (2010), S. 226–237, hier S. 232. 993 »Eloquente interprete della situazione del mezzogiorno, il paesaggio si connota di quei toni sociologici ed economici che tanta eco avranno nell’opera di Giovanni Verga. Diviene metafora del mancato cambiamento a livello economico e sociale, icona dei problemi sofferti all’indomani dell’unificazione e delle ferite inferte all’isola dalla storia e dal ›progresso‹. Il positivistico proposito di riorganizzare razionalmente, secondo criteri pratici, gli spazi urbani e rurali si scontra con una realt/ immutata ed immutabile.« Ebd., S. 233f. 994 Ebd., S. 234.
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Massafra H un luogo unico. Assomiglia a Matera ma con ancora una sua naturale tensione all’abisso. Soprattutto in un punto particolare dove la gravina si apre in uno squarcio profondo, angosciante. Sopra ci passa un ponte metallico, che sembra finto, sospeso su una cavit/ non solo spaziale, anche temporale, esistenziale. Su quella crepa di pietra, depressa, aguzza, apparentemente inesauribile, dimentichi il mondo e ti viene voglia di precipitare, volarci dentro. Qualcuno ci H volato davvero dentro. Senza metafore e senza retorica. […] Massafra di notte H la Cariddi di Horcynus Orca, identica, sputata, uscita dalla penna di Stefano D’Arrigo: »aspetto desolato del paese chiuso dentro il cordone sanitario e messa in quarantena: fumigante, pestifero, silenzioso, funebre.« Ma affascinante, aggiungerei, cosparsa attorno alla gravina, con le case che sembrano sedimentare verso i piccoli avvallamenti aperti come scogliere.995
Mit dem Vergleich zu Matera wird auf die in der Literatur bereits benannte schmerzhafte Schönheit der Gegend rekurriert. Mit der Beschreibung des Abgrunds (»abisso«) – das wird auf den zweiten Blick klar – ist sowohl ein realreferenzieller (die Klüfte von Massafra sind bekannt)996 als auch ein metaphorischer gemeint. Diese Ambiguität wird zunächst beibehalten, bevor die mystisch-literarische Seite wie auch die referenzielle eindeutig nachgezeichnet und schließlich die eine mit der anderen verbunden wird. Die natürliche Kluft steht in ihrer gewachsenen Zeitlichkeit im Gegensatz zur modernen metallenen Brücke und nimmt damit den im Nachgang beschriebenen Bruch in der Zeit vorweg, der die Region in ihrer Existenz wieder in der Vergangenheit verortet; auch das Charakteristikum des der Region eingeschriebenen Pessimismus und der Selbstzerstörung wird in der thematischen Aufnahme des Suizids reaktualisiert. Das Thema des Todes wird weitergesponnen in der Hommage an Stefano D’Arrigos Horcynus Orca, ein Roman, der rund um den Tod gebaut ist: »una morte fisica, simbolica e rituale insieme.«997 Im Vergleich Massafras mit der von D’Arrigo beschriebenen Wesenheit der Charybdis als trostloser Aspekt eines rauchenden, stinkenden, lautlosen und insgesamt düsteren Landstrichs, der eine Art Sperrgürtel in Quarantäne ist, kommt es erneut zu einer Vorwegnahme im Text. In der Beschreibung wird das apokalyptische Bild zunächst nahezu poetisch mit Blick auf die Faszination der Umgebung abgemildert – fast erscheint das Bild der Gegend um die Schlucht herum malerisch, übersät mit Häusern, die wie abgesetzt scheinen gegen die leichten Einsenkungen, die geöffnet sind wie kleine Riffe. Dann jedoch leitet der Erzähler in einem knappen Einschub zum
995 Desiati 2009, S. 17f. 996 Der Parco naturale Terra delle Gravine ist ein regionaler Naturpark zum Schutz der Fauna, der sich in der Kalkebene der Murge befindet. Siehe die offizielle Homepage des Parks, [HP]. 997 Emilio Giordano: Horcynus Orca: il viaggio e la morte. Napoli: Ed. scientifiche italiane 1984, S. 163.
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wahren rauchenden Monster der Umgebung über, das sich am ›verseuchten Horizont‹ abbildet, zur Ilva: Dalla terrazza di piazza Santi Medici vedi il castello. Poi dietro c’H l’orizzonte contaminato dalle strisce di fumo. C’H sempre quest’aria con il cielo riempito di una pellicola rosata. ð una rosa da tramonto perenne che avvolge i paesi immediatamente attorno alla grande fabbrica.998 Massafra fu la prima grande citt/ della provincia che venne inondata dal flusso migratorio dell’inedita classe operaia in formazione. Massafra si estese dopo il 1965 a un ritmo serrato, si veniva a vivere qui perch8 si era vicino agli stabilimenti dell’Italsider, senza perk convivere con i disagi del grande centro. Un paese incantevole con la citt/ vecchia scolpita nella gravina e molto vicina a un verde selvaggio e fitto come quello dei boschi a nord.999
Der nahtlose Übergang von der intertextuell aufgerufenen Beschreibung der Charybdis D’Arrigos zur Fabrik lässt Letztere zum Monster werden. Das scheinbare Abendrot entstammt den giftigen Gasen der Ilva, die die Umgebung in einen immerwährenden Dämmerzustand tauchen. Die Landschaftsbeschreibung wird zur Kritik an den unüberlegten Folgen der Industrialisierung des Südens, die daraufhin explizit im Wachstum der Gemeinde Massafra thematisiert wird. Wie zunächst die Fabrik aus der Landschaftsbeschreibung heraus entwickelt wird, so wird im nächsten Schritt die Fabrik zur Landschaft, zu einem eisernen Berg: Con Valerio percorriamo l’Appia che ci porta a Taranto, dentro la nebbia sempre piF rossa dell’Ilva. Massafra, la mia Calais, fessura tra due mondi e due scelte, H alle spalle della citt/ dei due mari inizia a distendersi davanti. I ponti arrugginiti che circondano il Siderurgico si palesano nella notte come rupi di una montagna ferigna.1000
Wieder wird auf eine Ambiguität der Landschaft hingewiesen, es manifestieren sich gar ›zwei Welten‹. Die metaphorische Zwiespältigkeit scheint verstärkt durch die Nennung einer natürlichen Doppelung, durch die »due mari«. Explizit aufgeführt werden außerdem nur noch der rote Nebel, der von der Fabrik ausgeht, sowie die metaphorischen Eisengebirge der Anlage, wodurch die Ilva eine Vormachtstellung in der beschriebenen Landschaft erhält. Auch in den folgenden Ausführungen dominiert die Fabrik das Bild: Sullo sfondo di quei due mari grigi trapuntati dalle isole Cheradi, la massa fumante e indolente del Siderurgico. Il complesso industriale piF grande del Mediterraneo, una landa di viscere infuocate posate sul golfo di Taranto, tra il letto di un torrente chiamato Taras, dove aleggiano antiche leggende dai tempi della Magna Grecia, e le vestigia 998 Desiati 2009, S. 18. 999 Ebd. 1000 Ebd., S. 20f.
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dell’acquedotto romano. L' ancora ci sono dei greggi di pecore che si nutrono delle verrucarie, e piccoli stagni neri come l’inchiostro sono incorniciati dai ligustri e i ranuncoli. Non ci si crede, ma esiste una natura che testardamente affronta quell’aria infernale.1001
Die zwei Meere Tarents, malerisch als von den Cheradi-Inseln ›bestickt‹ dargestellt, bilden nur den Hintergrund (»sfondo«) für die Stahlfabrik, die hier zunächst als träger und rauchender Komplex beschrieben, dann als größter Industriekomplex des Südens hervorgehoben und schließlich durch Beiordnung der brennenden Innereien personifiziert wird. Ganz offensichtlich jedoch fügt sich der Komplex nicht einfach in die natürliche Umgebung ein. Das Syntagma »posata sul golfo di Taranto« weist ihn als fremdbestimmt aus. Es handelt sich um ein Element, das dem ursprünglichen Land, das durch die Nennung des sagenumwobenen Taras und den Zeiten der Magna Graecia an Ursprünglichkeit kaum zu übertreffen ist und mit der Nennung der Ziegenherden in wilder Natur an die bäuerlichen Perioden der Region gemahnt, wie aufoktroyiert erscheint. Die Stahlfabrik, die ursprünglich als Schritt der Industrialisierung die Lebensumstände der Menschen und der Region verbessern sollte, erfüllt ihren Zweck durch Schaffung von Arbeitsplätzen nur zum Teil. Denn sie fügt sich nicht nur nicht in die Umgebung ein, sie steht auch in einer Art ›Kampfhandlung‹ zu ihr und ruft Zerstörung hervor. Man könnte sie mit Michel Foucault als eine sich ins Negative wandelnde Heterotopie bezeichnen. Foucaults Heterotopien erschaffen sich als Ausgleich zu Utopien, die er als Perfektionierung oder Kehrseite der Gesellschaft versteht, in jedem Fall als »des espaces qui sont fondamentalement essentiellement irr8els.«1002 Heterotopien hingegen sind wirkliche und wirksame Orte, es sind Orte qui sont dessin8 dans l’institution mÞme de la soci8t8, et qui sont des sortes de contreemplacements, sortes d’utopies effectivement r8alis8es dans lesquelles les emplacements r8els, tous les autres emplacements r8els que l’on peut trouver / l’int8rieur de la culture sont / la fois repr8sent8s, contest8s et invers8s, des sortes de lieux qui sont hors de tous les lieux, bien que pourtant ils soient effectivement localisables. Ces lieux, parce qu’il sont absolument autres que tous les emplacements qu’ils reflHtent et dont ils parlent, je les appellerai par opposition aux utopies, les h8t8rotopies;1003
Häufig dienen Heterotopien zur Bewältigung von Krisenzuständen oder um abweichende Verhältnisse zu kaschieren. Als konkrete Beispiele führt Foucault
1001 Ebd., S. 24. 1002 Michel Foucault: »Des espaces autres«, In: ders: Dits et 8crits. Bd. II, 1976–1988. Paris: Gallimard, 2005, S. 1571–1581, hier S. 1574. 1003 Ebd., S. 1574f.
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Kliniken, Gefängnisse, Altenheime und den Friedhof an,1004 aber auch den Zug oder das Hotelzimmer als »lieu de nulle part«, als »h8t8rotopie sans repHres g8ographiques«.1005 Rainer Warning verweist darauf, dass als Basis der Heterotopie das Normative, das ›Normale‹ gefragt ist, also eine Homotopie; die Heterotopie sei letztlich nichts anderes als eine ›invertierte‹ Homotopie. Beide Konzepte, Heterotopie und Homotopie bedingen einander und funktionieren stets in einer reziproken Evokation.1006 Die Fabrik kann als Heterotopie verstanden werden, insofern als sie funktional gedacht ist, um der Krise der Abgeschlagenheit des und Arbeitslosigkeit im Süden entgegenzuwirken; sie ist eine realisierte Utopie, etwas, das in eine bestehende Gesellschaft- und Lebensform hineingetragen wurde, in eine homotope Landschaft, mit der sie wenig bis nichts gemein hatte. Sie wird negativ besetzt und wandelt so ihren ursprüngliche Charakter, indem die zunächst durch sie geschaffene Illusion durch ›Nebenwirkungen‹ in ihr Gegenteil verdreht wird.1007 Statt Lebensumstände zu verbessern, verschlechtert sie sie und findet in Desiatis Text Verbindung zu einem Ort, der nach Foucault die Heterotopie schlechthin ist, dem Friedhof: Raccontare Taranto a qualcuno che non c’H mai stato H sempre rischioso. Ti prendono per matto, quanto meno per mitomane. Gli dici che il cielo H rosso e non ti credono; che i mattini hanno i toni della ruggine e ti dicono che sei daltonico; e poi l’odore di bile che sale la notte, e ti rispondono che hai bevuto troppo. La televisione non rende, puoi solo viverci per vedere quelle striature color rame nell’alto dei cieli. Quelle striature che ti respiri ogni giorno e che ogni giorno si depositano sul balcone, sui tetti, sulle ringhiere, sul tergicristallo. I polmoni della gente di Tamburi e Paolo VI si riempiono di calcite e
1004 Foucault spricht hierbei von »h8t8rotopies de crise« und »h8t8rotopies de deviation«. Vgl. ders.: 2005, S. 1576. 1005 Ebd., S. 1576. 1006 Vgl. Rainer Warning: Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrungen. München: Fink 2009, S. 14. 1007 Foucault formuliert sechs Grundsätze zur Heterotopie: 1) Es gibt keine Kultur, die keine Heterotopien etabliert. 2) Heterotopien haben bestimmte Funktionsweisen, die jedoch je nach Gesellschaft variieren und zudem Wandel unterliegen können. 3) Die Heterotopie kann an einem Ort mehrere Räume zusammenlegen, die eigentlich unvereinbar sind. 4) Die Heterotopie ist an oft an Zeitabschnitte gebunden, hier ist von Heterochronie zu sprechen; Ihre volle Funktion erreicht die Heterotopie, »lorsque les hommes se trouvent dans une sorte de rupture absolue avec leur temps traditionnel«. Man betrachte das Beispiel des Friedhofs. 5) Die Heterotopie ist nicht ohne weiteres zugänglich, sie setzt ein System von Öffnungen und Schließungen voraus. 6) Heterotopien haben gegenüber dem verbleibenden Raum eine Funktion, die entweder darin besteht, einen Illusionsraum zu schaffen, der den Realraum als noch illusorischer denunziert oder aber einen derart geordneten Raum, dass das umgebende ›Chaos‹ kompensiert. Vgl. ders. 2005, S. 1575–1580.
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quarzite. Quella polvere che si accosta e forma montagne nere sull’Appia, a un passo dal cimitero di San Brunone.1008
An der zitierten Passage lässt sich ein interessantes Phänomen ablesen, nämlich, dass der ursprüngliche Fremdkörper und ›andere Ort‹ die ursprüngliche Landschaft in der Beschreibung sozusagen absorbiert zu haben scheint. Sie verweist darauf, dass es schwierig ist, von Tarent in seiner Besonderheit zu erzählen; die aufgeführten Charakteristika stehen dann auch alle in Verbindung mit der Fabrik. Es dominieren die Farben Rot, Rost und Kupfer, der Geruch von Galle führt wieder zum Bild der zuvor bereits evozierten Organe. Der Gallegeruch kommt jedoch zunächst von der Fabrik, bevor dann zum betroffenen menschlichen Organ, der Lunge übergeleitet wird, in der sich die Abfallprodukte und Schadstoffe der Fabrik ablagern. An dieser Stelle ist jedoch hervorzuheben, dass es dem Autor-Erzähler um die Neutralisierung einer möglichen Metaphorisierung zugunsten von Referenz geht, was sich in der Problematik der Glaubwürdigkeit jeglicher Darstellung der Stadt artikuliert (»Ti prendono per matto«, »per mitomane«, »sei daltonico«, »hai bevuto troppo«). Über die angedeutete Lungenkrankheit der Anwohner, die über die Appia mit dem Friedhof San Brunone verbunden wird, wird die Fabrik nicht nur als unpassend in der Landschaft und als gefährlich, sondern sogar als tödlich qualifiziert.1009 Ein ursprünglicher Lösungsansatz in der Südfrage wird als neues Problem thematisiert und gleichzeitig an den bereits bestehenden Topos ›Friedhof‹ in meridionalistischer Literatur zurückgebunden. Textintern haben die Landschaftsbeschreibungen an dieser Stelle zudem die Funktion, von der Geschichte Valerios zu der Paolos überzuleiten. Von der psychische Labilität evozierenden Landschaft Massafras, die noch Valerio zu kennzeichnen scheint, über die Umgebung und ›menschenfressende‹ Fabrik Ilva hin zur Figur Paolos, dessen Vater an den Folgen der Arbeit in der Stahlfabrik gestorben ist: [Paolo] scopre che il padre ha il solito mieloma, carcinoma frequentissimo in citt/. Il padre di Paolo, prima di aprire Labirinto sport, fece un lustro al nastro trasportatore in Italsider. Respirk per cinque anni tutti i giorni carbone e cenere, forse era piF predisposto di altri, perch8 inizik ad avere bronchite croniche e dovette lasciare quel posto.1010
1008 Desiati 2009, S. 24f. 1009 Die Nähe zwischen der Ilva und dem Friedhof ist keine literarisch evozierte, sondern eine geographisch nachvollziehbare. Auch der Journalist Foschini fokussiert den Umstand der unglaublichen Nähe: »Quindici passi sono la distanza dalle prime case del quartiere a ridosso dell’Ilva, quindici passi dura il tragitto tra l’Ilva e le cappelle del cimitero di San Brunone.« Ders. 2009, S. 23. 1010 Ebd., S. 27.
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Durch die Geschichte von Paolos Vater bekommt der anonyme Schrecken des Krebses ein Gesicht, durch den Verweis auf dessen Quantität (»carcinoma frequentissimo in citt/«) erlangt er eine gewisse Allgemeingültigkeit und macht den Tod und damit den Friedhof zu einem wichtigen Element der Landschaft und der Erzählung. Der Friedhof ist für Foucault vor allem deswegen die Heterotopie schlechthin, da er auch den exakt bestimmbaren Zeitabschnitt, den Foucault symmetrisch als Heterochronie bezeichnet, miteinschließt. Dieser ist in den Augen Foucaults Voraussetzung für das volle Funktionieren des ›anderen Ortes‹. »[O]n voit par l/ que le cimetiHre est bien un lieu hautement h8t8rotopique, puisque le cimetiHre commence avec cette 8trange h8t8rochronie qu’est, pour un individu, la perte de la vie, et cette quasi-8ternit8 oF il ne cesse pas de se dissoudre et de s’effacer.«1011 Die Heterochronie des Todes ist in einer ›gesunden‹ Gesellschaft schwerpunktmäßig an das Alter gebunden und betrifft beide Geschlechter gleichermaßen. Genau dieses Faktum wird in Desiatis Beschreibung außer Kraft gesetzt; dieser Umstand verändert zwar nicht die Heterochronie des Todes und Friedhofs allgemein, setzt jedoch bestimmte Akzente neu: L’autobus che porta al camposanto non H pieno come ti immagineresti di vecchi bruni in stracci neri, con il cono dei mazzi di fiori tra le braccia. Sono donne dall’abito domenicale, alcune ancora giovani, altre piF in l/ negli anni, ma sono donne, solo donne. […] ð l’autobus delle vedove di San Brunone, il cimitero a pochi passi dall’Ilva e che si stende al suo fianco.1012
Die Frage nach dem Tod wird in Desiatis Text von ihrer Verbindung zum Alter gelöst und stattdessen an Geschlecht und die Arbeit in der Fabrik gekoppelt. Der (unnatürliche) Tod ›erweitert‹ sein Feld und greift in das ›Leben‹ ein. Die direkte Verbindung zwischen Fabrik, Friedhof und einem das Leben absorbierenden Tod wird von Desiatis Text erneut zunächst in einem literarischen Duktus beschrieben, bevor der Autor-Erzähler konkreter wird und neben den poetischen Elementen auf Fakten verweist. So heißt es im Text zunächst: C’H un immenso pianoro di cipressi, terra smossa dalla rigovernatura delle salme, poi sorgono piccoli tempietti votivi e i sepolcri di pietra e marmo di tanti tarantini che sono seppelliti l', a pochi metri da quella poltiglia di acciaio fumante, pennacchi di carbone bruciato e palazzi a laminatoio a freddo. Il destino beffardo vuole che ci siano sepolti molti di coloro che hanno lavorato nella grande acciaieria. Poco piF dietro ci sono piccolo collinette di calcare e quarzite, residui di lavorazione. Ma soprattutto un orizzonte cilestre, riflesso da una cappa di fumo nero che cambia i venti; ma soprattutto la luce del giorno.1013 1011 Foucault 2005, S. 1578. 1012 Desiati 2009, S. 25. 1013 Ebd., S. 25f.
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Die beschriebene Ebene verweist mit den immergrünen Zypressen nicht nur auf einen nahezu klischeehaften Italientopos, sondern bildet damit auch zunächst ›Leben‹ ab. Dieses Bild wird direkt im nächsten Schritt unterlaufen, wenn von gelockerter Erde gesprochen wird, die der Autor-Erzähler als ›Spülwasser der Leichname‹ bezeichnet. Dieses wechselhafte Bild von Schönheit und Hölle wird in der Beschreibung fortgeführt, indem zunächst geweihte kleine Tempel und Gräber aus Stein und Marmor evoziert werden, bevor der Blick wieder auf den ›rauchenden Schlamm‹ der Fabrik gelenkt wird. Und wiederum scheint der beschriebene Komplex der Ilva sich nicht nur in die Landschaft einzufügen, sondern diese zu dominieren, um schließlich selbst zur Landschaft zu werden. Augenscheinlich wird das in den Kalk- und Quarzithügeln, wie auch in dem himmelblauen Horizont, der doch nur Reflex einer Dunstglocke ist. Im unmittelbar folgenden Abschnitt wird das heraufbeschworene Bild explizit und mit Verweis auf Umwelterhebungen kommentiert. Die literarische Beschreibung wird mit dokumentierten Fakten abgeglichen: Secondo gli ultimi rilevamenti H proprio il cimitero di San Brunone la zona piF inquinata dell’area metropolitana, e il destino beffardo si ripete una seconda volta perch8 chiss/ quanti tra i morti sepolti in quel cimitero sono morti avvelenati nella grande fabbrica, chiss/ se fra loro non c’H qualche vittima di quelle tragiche morti bianche che hanno costellato per anni la storia dell’Ilva. […] Alcuni anni fa chiesero di spostare il cimitero. Come se fosse possibile portar via tutti questi morti. […] Il cimitero H rimasto cos', di fronte all’Ilva, fronteggiandosi in un prodigioso riflesso di paesaggio urbano: morte-lavoro, morte-sviluppo, morte-industrializzazione.1014
Wie schon in Il paese delle spose infelici wird hier auf den Spott des Schicksals hingewiesen, der das Leben durch die Arbeit in der Fabrik frühzeitig an den Tod und die Toten der Region koppelt. Dadurch scheint auch für die Fabrik eine bestimmte Heterochronie gegeben zu sein, beziehungsweise der ›andere Ort‹ Fabrik greift in die Zeitverhältnisse außerhalb des ›anderen Ortes‹ Friedhofs massiv ein, insofern als er die eigentliche Lebensspanne der Menschen der umgebenden Homotopie verkürzt. Durch die »morti bianche« wird nicht nur auf die Krebstoten, sondern zusätzlich auch auf die oft tödlichen Arbeitsunfälle verwiesen. Mit dem letzten Satz der Passage formuliert Desiati eindeutig die ›moderne‹ Südfrage, indem er die Fabrik als wundersame Spiegelung der städtischen Landschaft benennt und den Tod mit Arbeit, Entwicklung und Industrialisierung kurzschließt. Im Text kommt es zu einer Überkreuzung der beiden Heterotopien Fabrik und Friedhof, die sich zum symbolischen Bild eines wichtigen Aspekts von Desiatis reaktualisiertem, modernem Meridionalismus zusammenschließen. Bei einem genaueren Blick auf das gesamte Gefüge von Fabrik und Friedhof, die einander überlagern und bedingen und im Text zu1014 Ebd., S. 26.
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nehmend dominanter werden, muss man sogar annehmen, dass die hier ursprünglich als Heterotopien klassifizierten Orte erneut ›invertieren‹ und zur Homotopie werden, zum eigentlichen ›Normalzustand‹ der dargestellten Region. Der Ich-Erzähler spricht von dem […] cimitero su cui l’Italsider alita i suoi venti di morte. ð un’immagine simbolica, quella di un cimitero che continua a essere battuto dai venti di morte. […] In molti hanno chiesto a viva voce di dimenticare l’Italsider e pensare a una Taranto diversa, a una Taranto senza industria. Ma non ci vuole una Taranto senza industria, serve solo spirito, lo spirito di quegli operai che adesso dormono l', assieme al padre di Paolo. I morti ci guardano dentro quell’ampolla di carbone fossile e calcare che H San Brunone.1015
Sollte die Industrialisierung den Fortgang junger Leute aufgrund mangelnder Perspektiven verhindern, so werden die Folgen selbiger im Text Desiatis zum Grund des Fortgangs, so etwa bei der Figur Paolos, die konstatiert: »Ho lasciato Taranto e sono andato via perch8 qui non c’era piF vita, ma soprattutto non c’era piF rispetto della morte.«1016 Die neue Südfrage sucht nach einer Lösung außerhalb unkontrollierten industriellen Wachstums. Zum ›Ort‹ des Fortgangs und dessen Beschreibung per se wird ein weiterer ›Raum‹ beziehungsweise ein Komplex von ›Räumen‹, der Spezifika aufweist, die in der Kritik und Literatur stets Beachtung gefunden und eine Sonderstellung erlangt haben: der Zug und der Bahnhof. Seit ihrem historischen Erscheinen auf der Weltbühne sind die Eisenbahn und der Bahnhof als Symbol für Dynamismus, Fortschritt und Schnelligkeit ein beliebtes literarisches Bild.1017 Nach Foucault handelt es sich auch im Falle des Zuges um eine Heterotopie, einen sich bewegenden Raum im Raum und damit seines Zeichens ein ›Nirgendwo‹;1018 nach Marc Aug8 stehen Zug und Bahnhof im Zeichen des Transits und werden somit im Kontext der surmodernit8 als Nicht-Orte, Orte ohne Identität verstanden.1019 In Desiatis Roman bekommen Zug und Bahnhof einen ganz eigenen 1015 Ebd., S. 38. 1016 Ebd., S. 37. 1017 Vgl. Julius Goldmann; »Luoghi di transizione, ›eterotopie‹ e ›non-luoghi‹ – Osservazioni sulla rappresentazione letteraria della stazione«, Ptudes romanes de BRNO 37/2 (2016), S. 45–56, hier S. 46. 1018 Vgl. Foucault 2005, S. 1576. 1019 Unter »surmodernit8« versteht Aug8 die Vorderseite einer Medaille, deren Kehrseite die Postmoderne ist; er bennent sie auch als Positiv eines Negativs. Die Situation der »surmodernit8« besteht für Aug8 hauptsächlich in der Figur des Exzesses, des Übermaßes und dies vor allem mit Blick auf die Zeit. Vgl. Aug8 1992, S. 42f. Aug8s Nicht-Orte sind im Gegensatz zu Orten nicht durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet, sie sind keine anthropologischen Orte, sie schließen die ›alten Orte‹ aus. Vgl. ebd., S. 100. Der Nicht-Ort schafft solitäre Vertraglichkeit (»contracutalit8 solitaire«) – im Gegensatz zu den organisch-sozialen Strukturen eines Ortes. Vgl. ebd., S. 119. Als typische Nichtorte qualifiziert er etwa Transitorte, Schnellstraßen, Autobahnkreuze, Flughäfen »et des biens
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Status. Er steht sowohl in Verbindung zur eigenen Identität als auch zu deren Verlust; er stellt eine Verbindung in die Heimat her und symbolisiert in seinem Charakter als Instrument des Fortgangs die Emigration: Il 6 gennaio H il giorno ideale per poter capire cosa sia ancora l’emigrazione, oggi, in un qualunque paese del sud Italia. Di solito, nell’estate, qualcuno torna o si torna in periodi diversi lungo i tre mesi della stagione. Il Natale invece ha ancora mantenuto una sua intrinseca sacralit/. C’H quasi un insondabile obbligo a passare il 25 dicembre e il capodanno nella terra nativa. I treni che vanno su partono carichi, attraversano il Tavoliere e chiss/, quasi tutti provano quell’emozione che provk Carlo Levi nel suo memorabile rientro da Gagliano, quando vedeva la Puglia come una pianura bianca e desolata, la stessa d’un cimitero. Ma il 6 gennaio tutto diventa piF difficile. La folla silenziosa inizia a essere meno silenziosa. Cresce con il passare dei minuti l’insofferenza. A un certo punto si puk ben dire che c’H una baraonda sul binario tre, il »Crotone-Milano« H arrivato con un’ora di ritardo e tutti i vagoni sono pieni all’inverosimile. Non entrerebbe neanche il proverbiale spillo. […] I piccoli tramezzi fra le carrozze si fanno affollatissimi, sembra un treno all’ora di punta. Ma per tutti si tratter/ di fare un viaggio anche di dieci, dodici ore in piedi. […] Il treno, fiacco, seguendo il percorso sghimbescio dei binari, scompare dietro i fumi arancioni delle raffinerie e sparisce diventando una lucciola sulla cortina.1020
Mit der Nennung des 6. Januar, der für das Ende der Weihnachtsfeiertage und Neujahr steht, wird die Beschreibung des Bahnsteigs von Beginn an mit Festivitäten verbunden (im Verlauf der Passage wird das auch expliziert), die, wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt wurde, den Status von Erinnerungsorten haben. Bahnhof und Zug rücken damit in eine Nähebeziehung zur Identitätsfrage. In einem zweiten Schritt wird durch das Zitat von Levis Cristo si H fermato a Eboli implizit eine Facette der Südfrage aufgerufen, die hier in der Thematisierung des Todes (Ebene als Friedhof) und der ewigen Nostalgie zur Darstellung kommt. Die Simplizität einer Zugreise wird davon unterlaufen, dass die Masse, die hier noch einmal die Bedeutsamkeit der modernen Binnenmigration vor Augen führt, nicht mehr still ist und der Bahnsteig während der Wartezeit auf den verspäteten Zug ins Chaos verfällt. Ähnliche Beschreibungen kann man bereits bei Carlo Emilio Gadda lesen, nur dass sich bei ihm ein weit entschiedener negatives Ambiente abzeichnet.1021 Bei Desiati hingegen wird keine allgemein ablehnende Situation vorgeführt, sondern eine ›bekannte‹, die Sym[…] que les moyens de transport eux-mÞmes ou les grands centres commerciaux, ou encore les camps de transit prolong8 oF sont parques les r8fugi8s de la planHte«. Vgl. ebd., S. 48. Die Züge sowie Bahnhöfe wären mit Aug8 daher zunächst als typische Nicht-Orte zu klassifizieren. 1020 Desiati 2009, S 21f. 1021 Das bemerkt Julius Goldmann in Bezug auf Gaddas Werk La meccanica. Vgl. Goldmann 2016, S. 48.
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bolcharakter hat. Der Vergleich mit einem Zug zur Hauptverkehrszeit – also einer in der Regel absehbaren, alltäglichen Reisezeit – mit dem darauf folgenden Verweis auf die Fahrtzeit von zehn bis zwölf Stunden bringt die Extremsituation eines emigrierten ›Pendlers‹ zum Ausdruck. Das Extrem wird zur ›Normalität‹. Gleichzeitig scheint sich der Zug in der literarischen Beschreibung in malerischer Nostalgie als Glühwürmchen in die die Ilva evozierende neblige Landschaft einzuschreiben. Das hervorgerufene Bild der Abfahrt im Süden findet im Text auch ein Korrelat der Ankunft im Norden: Parma, stazione di Parma. L’aria di quest’aurora H piena di vento e acquerugiola, le banchine dei binari sono stracolme, una processione di pendolari percorre la costa del binario tre dove sta per arrivare il regionale diretto a Bologna. Dal mio treno scendono studenti meridionali a frotte, si riconoscono, hanno i trolley pesanti e le borse frigo colorate a viso.1022
Wieder wird vor allem auf die Masse der aus dem Süden kommenden Menschen hingewiesen (»studenti meridionali a frotte«); der Bahnhof ist ein Ort des Zusammentreffens (»si riconoscono«), der Zug ein ›Transportmittel‹ tragbarer Identität, die vor allem anhand der »borse frigo«, also des mitgenommenen regionalen Essens kenntlich wird. In Foto di classe sind Bahnhof und Zugfahrt nicht Nicht-Orte ohne Identität, sondern ein mobiles Stück ›Heimat‹, ein ›Türöffner‹ in und aus einem anderen Raum-Zeit-Kontinuum, das der Süden bis heute zumindest in der literarischen Darstellung zu sein scheint. Die lange Fahrtzeit für eine verhältnismäßig kurze Strecke veranlasst den Ich-Erzähler von einer ›Gedankenschule‹ zu sprechen: La Suddest non era una semplice ferrovia, era una scuola di pensiero, affrontare due ore per fare appena sessanta chilometri nascondeva ragioni sotterranee, quasi massoniche […] La Suddest anni Novanta era un viaggio dentro il tempo. La campagna aveva i toni della calce color latte, scorreva come rapide diapositive: trulli levigati dal vento e filari d’uva immersi in macchie d’ulivi. Era una campagna disegnata come in un quadro impressionistico, colori accesi e contorni indefiniti. Alberi di albicocche come gambe di donne, mandorli innevati dai germogli color tramonto e poi un enorme fusto di magnolie, poco dopo Castellana Grotte, sfavillante di petali rosa.1023
Das Bild der Bahn als Gedankenschule (»scuola di pensiero«) birgt in sich die Idee eines Gemeinschaftsgefühls und einer ›Gleichgesinnung‹ jener, die als Emigranten auf die Fahrtwege in die und aus der Heimat angewiesen sind. Die unverhältnismäßig lange Fahrtzeit deutet die immer noch bestehende Rückständigkeit der Infrastruktur in Teilen des Südens an. Dieser behält trotzdem 1022 Ebd., S. 59. 1023 Ebd., S. 76.
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seine Anziehungskraft, birgt Schönheit in seiner Landschaft in sich, die in der Benennung und Beschreibung als impressionistisches Gemälde ins 19. Jahrhundert zurückweist. Die Kunstrichtung des Impressionismus spielt mit einer Ästhetik des ›unschuldigen Auges‹.1024 Der impressionistische Blick – so glaubte man derzeit – sei der am weitesten entwickelte, was jedoch nicht heißen solle, dass »Wissen und Erfahrung gänzlich aufgegeben« werden, diese Auffassung stehe im Gegenteil sogar in Verbindung mit neuen medizinischen Erkenntnissen, die die Mitteilungskraft der Nerven berücksichtigt.1025 Es gehe um eine Art »Isolierung der Empfindung«, die in der Kunst Umsetzung findet.1026 Zola, der stets Interesse für die Kunst seiner Zeit zeigte, versteht die Maler des Impressionismus als realistische Maler, die sich damit rühmen, einen umfassenden Eindruck zu geben; ihr Studium gilt nicht dem Detail, sondern dem Gesamtzusammenhang.1027 Die Kunstrichtung wird in Desiatis Text nicht nur explizit aufgeführt, sondern in der Rhetorik der literarischen Deskription bewusst mitaufgenommen, was an dieser Stelle auch, aber nicht nur als eine Reminiszenz an das 19. Jahrhundert zu werten ist. Ebenso ist es eine Möglichkeit, die Eindrücke des Blicks aus dem sich bewegenden Zug ›realistisch‹ wiederzugeben. Besonders gelungen ist die Umsetzung durch das Aufrufen der intensiven Farben und undefinierten Konturen sowie der ›Flecken‹ der Olivenbäume. In den ›polierten Trulli‹, konischen Häusern, die als Spezifikum Apuliens gelten, in den Weinreben und Olivenbäumen wird die landschaftliche Identität der Region reflektiert. Das Gefühl von Heimat wird in Desiatis Landschaftsbeschreibung sogar ›romantisch‹ und ›sexy‹ besetzt, wenn der Autor-Erzähler die Aprikosenbäume mit Frauenbeinen vergleicht, die Mandelbäume mit abendrotfarbenen Blüten verschneit sein lässt und das Ganze mit einem enormen Stamm von Magnolien abschließt, der das zunächst dominant weibliche Bild mit einem phallischen Aspekt beschließt. Die körperliche Landschaftsdarstellung mag hier als Korrelat zur Personifizierung der Region durch Annalisa in Il paese delle spose infelici gewertet werden. Die angerissene Historizität, die in der Darstellung im Blick aus dem Zugfenster als Abfolge von Dias sichtbar wird, nimmt
1024 Annika Lamer hat eine gleichnamige Monographie publiziert, die interessante Beobachtungen zu kunsthistorischen wie literaturwissenschaftlichen Aspekten macht. Siehe dies.: Die Ästhetik des unschuldigen Auges. Merkmale impressionistischer Wahrnehmung in den Kunstkritiken von Pmile Zola, Joris-Karl Huysmans und F8lix F8n8on. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. 1025 Vgl. ebd., S. 29ff. 1026 Vgl. ebd., S. 32. 1027 Im Original: »Je crois qu’il faut entendre par des peintres impressionistiques des peintres qui peignent la r8alit8 et qui se piquent de donner l’impression mÞme de la nature, qu’ils n’8tudient pas dans ses d8tails, mais dans son ensemble.« Pmile Zola: Pcrits sur l’art. Hg. v. Jean-Pierre Leduc-Adine. [Paris]: Gallimard 1991, S. 357.
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vorweg, was der Zug im Gesamtbild des Romans ausdrückt; ein Statussymbol und Gradmesser für die Konstante der Emigration im Laufe der Zeit: In ogni documentario sull’emigrazione che si rispetti c’H l’immagine di repertorio di un treno in stazione. Il treno cambia, la grana delle immagini cambia, i volti e gli abiti di chi scende cambiano, e cambiano le valigie e cambiano gli anni; quello che non cambia mai H la stazione di Milano. Il grande snodo delle ferrovie dell’Europa meridionale con i binari che s’infilzano dentro quell’intestino di ferraglia, sotto il tetti di tubi e plastica che distorce i suoni, gonfia i fischi dei binari, trasforma le voci degli altoparlanti in un’eco metallico. Il mio treno da Roma arriva l' con i soliti quaranta minuti di ritardo. Per lavoro raggiungo Milano quasi ogni settimana; […] per Adele, come per tanti emigrati, i treni a lunga percorrenza hanno un significato che va oltre, sono un luogo di premonizioni, ma anche una specie di luogo d’avvento. Col tempo, quando oltre a essere emigrati si H anche pendolari, assumono la faccia quotidiana di uno sradicamento […]. I treni italiani, poi, sono rimasti ancora uno spazio fondamentalmente integro alla modernit/ e la notte di inverno del 2008 non sar/ molto dissimile da una notte di inverno del 1958. Il tempo di percorrenza non H molto minore rispetto a un ›Crotone-Milano‹ del 1958. Allora ci volevano ventidue ore. Oggi quindici, ma con i fisiologici ritardi che si accumulano nei giorni di festa le cose non sono molto cambiate. Il viaggio in treno H ancora uno dei racconti preferiti di chi H andato via. Il popolo dei pendolari notturni H un mondo enorme e sotterraneo, sottovalutato addirittura dalle stesse istituzioni che governano le tratte.1028
Die Repetition des Verbs cambiare trifft alles, bis auf den Bahnhof von Mailand, der zum Knotenpunkt (»snodo«) der meridionalen europäischen Zuglinien und 1028 Desiati 2009, S. 91. Carlo Levi formuliert bezüglich des Zuges als ›Zeit-‹ und ›Entwicklungsmesser‹ ganz ähnliche Gedanken. Er schreibt: »L’Italia vi si riconosce [nei treni] come in uno specchio, vi si incontra, e vive su quei carrozzoni antiquati come in una casa fatta per un popolo emigrante, per cui anche ogni breve viaggio H, in qualche modo, un’emigrazione, si porta tutto con s8, il suo pane, il suo formaggio, il suo vino, il suo dialetto, i suoi pensieri, i suoi gesti e l’aria stessa del paese natale. Quante volte, lasciate a una stazione sulla costa, a Battipaglia o a Bari, le grande linee dei treni veloci, appena messo il piede in quei compartimenti che partivano per le terre dell’interno, un altro mondo mi H apparso improvviso, mentre appena si correva tra i monti brulli e le valli oscure dai nomi antichissimi, e comparivano lontani, come irraggiungibili in cima ai colli, i paesi isolati, mondi chiusi e immaginari dove un tempo diverso pareva scorrere impassibile e misterioso. […] ð naturale che l’osservatore, lo storico e lo scrittore trovino in questi incontri ferroviari un singolare motivo di meditazione, e non a caso H proprio qui che assai spesso sono nate, come in un punto privilegiato di contatto e di esperienze, conoscenze e intuizioni altrimenti impossibili. […] Ho sempre pensato che si potrebbe (che si dovrebbe) scrivere una storia d’Italia vista attraverso la storia della ferrovia. […] Come H cambiato il costume, come si H modificato il lavoro, il commercio, l’industria, come si sono stabiliti nuovi flussi migratori, come si sono cambiate le idee politiche e sociali, i modi del costume, le abitudini, i vestiti, i gesti, la concezione del mondo, e quali antichi limiti e usi si siano abbandonati e perduti e quali nuovi si siano acquistati, e come si sia andata foggiando, giorno per giorno, attraverso infiniti, minutissimi, quasi invisibili mutamenti, l’unit/ del nostro paese, e la sua coscienza.« Siehe ders. 2000, S. 59ff.
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zum verzerrenden und vervielfachenden personifizierten Schallträger (»intestino ferraglia […] che distorce […] gonfia […] trasforma«) einer unveränderten und scheinbar unveränderlichen Situation von Emigration wird. Diese Unveränderlichkeit wird in der Darstellung intensiviert, indem auf den ausbleibenden Erfolg von Modernisierungsmaßnahmen hingewiesen wird, die aus einer Unterschätzung der Situation seitens der zuständigen Institutionen resultiert. Zug und Bahnhof gewinnen ein ambiges Gesicht, indem sie sozusagen zur ›Heimat‹ des verborgenen und unterschätzten Pendlervolkes werden, gleichzeitig aber Zeichen der Entwurzelung sind (»scradicamento«). Diese Entwurzelung ist vor allem mit dem Ankunftsbahnhof verbunden, wie aus der Geschichte Adeles hervorgeht: »Sentirsi emigrati anche dentro casa propria puk essere una forzatura, ma ha il carico di un’evocazione e ben si adatta a quello che mi racconter/ Adele: »›Mi sento emigrata ogni volta che arrivo in stazione a Milano‹«.1029 Was dem Status des Zuges als Ort des Pendlervolkes zusätzlich Identität verleiht, sind die Geschichten um die »soffiatori«, die der Autor-Erzähler einfließen lässt. Sie erscheinen als zusätzliches unsichtbares ›Zugvolk‹ neben den Pendlern, nahezu ›sympathische‹ Räuber, deren Heimat der sich bewegende Raum im Raum ist und die zu dessen Mythenbildung beitragen: Aleggiano per esempio ancora le figure dei »soffiatori«. I »soffi« sono una tecnica di rapina, consiste nell’entrare nei vagoni e soffiare. Quel lieve alito serve al ladro per capire quanto profondo H il sonno di coloro che dovr/ derubare. ð la Daunia la zona dei soffiatori piF incalliti. Un tempo figura mitica, oggi si contende il territorio palmo a palmo con gli zingari.1030
Die »soffiatori« tragen einmal mehr ›Geschichte‹ (und Geschichten) in den Zug hinein; gleichzeitig scheinen sie die ›fahrende Gesellschaft‹ mit verschiedenen Schichten im Gesamtbild zu vervollständigen, die in diesem Rahmen aus folgenden Komponenten besteht: Emigranten (Pendlern), Zigeunern und ›Räubern‹. Auch bei den Pendlern wird von den »soffiatori« noch einmal unterschieden zwischen denen, die es verdient haben, bestohlen zu werden und denen, die man verschont.1031 Die Bewohner des Raumes Zug verschmelzen zu einem Organismus, zu einer Art Mikrokosmos mit eigenen Regeln, zur ›Heimat‹ der ›Heimatlosen‹.
1029 Desiati 2009, S. 93. 1030 Ebd., S. 95. 1031 »Rubava solo a chi gli appariva meritevole di essere derubato, anzi soffiato«. Desiati 2009, S. 96.
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Zwischenfazit Mario Desiati ist nicht nur als Autor, sondern auch in seiner Tätigkeit im Verlagswesen Themen verbunden, die sich auf ernste Weise und in literarischer Umsetzung mit den aktuellen Problemen Italiens beschäftigen. Sein eigenes Œuvre konzentriert sich auf zwei Hauptschauplätze: Rom und Apulien. In der vorliegenden Arbeit lag der Fokus auf zwei seiner Apulienromane, die sich dezidiert mit den Problemen einer neuen Südfrage auseinandersetzen und dabei sowohl auf alte meridionalistische Quellen zurückgreifen als auch aktuelle Studien verarbeiten. Der Meridionalismus ist in historisch-politischer Hinsicht der Einigung Italiens eng verbunden. Erst seit der Zusammenführung der einzelnen Regionen zum Einheitsstaat fielen die gravierenden ökonomischen Unterschiede zwischen dem Süden und dem Norden auf. Trotz einer Vielzahl sich gründender und (teils) wieder verschwindender Institutionen und Maßnahmen, die den abgeschlagenen Süden an den fortschrittlicheren Norden anschließen sollten, bleibt bis in die Gegenwart eine spürbare Differenz bestehen, die nach wie vor zu einer theoretischen wie literarischen Verarbeitung der Problematik führt. Als Meridionalisten werden Intellektuelle bezeichnet, die sich explizit für die Probleme des Südens stark machen, sie darstellen und eine Verbesserung der Situation anstreben, wie etwa Pasquale Villari, Giustino Fortunato, Manlio Rossi-Doria oder auch Benedetto Croce. Dabei kommen diese Persönlichkeiten nicht immer selbst aus dem Süden, auch Vertreter aus dem Norden engagieren sich. Das Schaffen einiger Meridionalisten ist noch im positivistischen Gedankengut des 19. Jahrhunderts verwurzelt. Der Standpunkt des für gegenwärtige Autoren wichtigen Giustino Fortunato ist ein tendenziell pessimistischer : Er präsentiert den Süden aus seinem Inneren heraus postuliert einen genealogischen Hang zum Unglück. In der teilweisen Wiederaufnahme solcher Theorien in aktuellen Texten finden sich Residuen aus dieser Zeit wieder. In der Literatur ist zwischen meridionalen und meridionalistischen Autoren zu unterscheiden. Während Erstere aus dem Süden stammen, ihn aber nicht unbedingt literarisch verarbeiten, hat die zweite Gruppe den expliziten Anspruch, ihre Region mit Vorzügen und Problemen in ihren Werken zur Darstellung kommen zu lassen und das zumeist mit einem didaktischen Anliegen. Der Meridionalismus ist somit stets als Unterkategorie realistischen Schreibens zu sehen. Viele Texte aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formen sich im Zeichen des Einheitsstaats und dokumentieren die gesellschaftlichen Umformungen in den einzelnen Gebieten. Ein herausragender Vertreter ist dabei Verga; im 20. Jahrhundert folgen im weiteren Kontext des Neorealismus unter anderen Vittorini, Levi und Scotellaro. Vor allem die beiden Letzteren zeichnen sich durch einen starken Einfluss auf Desiatis Schaffen aus.
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Der Süden scheint schon immer in Relation zum Rest des Landes in der Zeit ›still zu stehen‹, seine Entwicklung zu stagnieren. Gerade durch dieses ›Unzeitgemäße‹ erlangt er Relevanz in der literarischen Darstellung. Die Autoren erzählen davon, um etwas zu bewegen und greifen dabei doch häufig auf archaisierende Muster zurück. Desiati, der eindeutig in der Tradition Levis und Scotellaros verankert ist, führt einige der bei ihnen angelegten literarischen Muster und Topoi fort, teilweise verstärkt und überschreitet er sie. In Il paese delle spose infelici steht das Unglück der Frauen stellvertretend für die Probleme der gesamten Region im Mittelpunkt. Die Protagonistin Annalisa wird zur Allegorie Apuliens: Die Beschreibungen der Region und ihrer Probleme im sensus litteralis werden durch die Lebens- und Leidensgeschichte der jungen Frau in allegorisierender Form parallel erneut erzählt und so unterstrichen. Der refrainartig ständig wieder aufgenommene Titel, der durch Eigenschaften und Geschichten der Region ergänzt wird, zeichnet ein Bild der Region, das in Annalisa Verkörperung findet. Sie ist Verführerin, Hexe und Königin, Herrscherin und Opfer der örtlichen Traditionen. Die Idee der donna-strega, freizügig lebender Frauen, die den Toten und Geistern verbunden sind und in anderen Gegenden den Status von Prostituierten bekämen, findet sich bereits in den weiblichen Figuren von Carlo Levis Cristo sie H fermato a Eboli und hier besonders in der der Giulia Venere. Beide Frauen, Giulia und Annalisa, werden – wenn auch in unterschiedlicher Weise – als auffallend schön beschrieben, jedoch auch in Dekadenz dargestellt. Giulia ist von der Malaria zerfressen, Annalisa stirbt an HIV; beide büßen auch in ihrem Verfall Schönheit und Anziehungskraft nicht ein. Giulia Venere und Annalisa D’Efebo werden allein schon durch ihre griechisch anmutenden Nachnamen in der Antike verwurzelt. In Desiatis Roman findet diese Rückbindung an die Vergangenheit und die Gründungszeit Tarents eine Parallele in der landschaftlichen Beschreibungen um den Fluss ›Taras‹ (eigentlich ›Tara‹), der von vielerlei Mythen umrankt ist. Auch die latinisierende Ansprache Annalisas an den männlichen Protagonisten Velenus stützt diese zeitliche Verbindung in die Vergangenheit. Beide im Mittelpunkt stehenden Frauen tragen bereits Elemente von Schönheit und Liebe in ihren Namen, einmal die Venus (Venere), einmal die Zugehörigkeit zu ›jungen Männern‹ (D’Efebo). In Erfüllung dieser sprechenden Namen sind Giulia und Annalisa einer Vielzahl von Liebhabern verbunden. Giulia Venere tritt bei Levi bereits von vornherein mit all ihren positiven wie negativen Zügen auf; Annalisas Entwicklung und ihr Verfall verlaufen parallel zur nachgezeichneten Dekadenz der Region. So wird sie von der begehrenswerten Händlerin der Faszination (affascino), die über das Leben der Gemeinschaft wacht und allen Männern den Kopf verdreht zur Königin der Bestien; zeitgleich berichtet der Roman von politischer Korruption und dem Verfall der Gemeinde. Wie Vertreter der politischen Führung sich in mafiöse Machen-
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schaften verstricken und das Wohlbefinden der Region und ihrer Bewohner aufs Spiel setzen, so riskiert Annalisa in ihrer Nymphomanie nicht nur den eigenen Ruf, sondern auch die Gesundheit: ihre eigene genauso wie die der Männer, mit denen sie sich einlässt. Immer wieder wird Annalisa in der Art ihrer Darstellung sowie in ihrem Handeln mit der Region und der sie umgebenden Landschaft verknüpft, scheint darin aufzugehen, ist ihr Engel und Dämon, der fesselt und zerstört, aber auch zerstört wird. Für den Ich-Erzähler bleibt die Figur jedoch unantastbar ; in der Auflösung der Geschichte, in der sie südlichen Traditionen folgend einen kranken Cousin hatte heiraten müssen, wird sie zur Königin der unglücklichen Bräute und damit zum die Region symbolisierenden Prinzip. Nach ihrem Tod tritt die Desolation in den landschaftlichen Beschreibungen noch offenkundiger zutage; gleichzeitig wird ihr Ableben zum auslösenden Moment in der Entwicklung der jungen Männer, dem Ich-Erzähler Francesco (Veleno) und seinem besten Freund Domenico (Zaz/), die endgültig erwachsen werden. In der augenscheinlichen physischen Ähnlichkeit Annalisas zur petrarkistischen Figur der Laura wird in einer poetologischen Lesart die Region Apulien, verkörpert in der jungen Frau, zur Muse für das Schreiben Desiatis. Das Folgewerk Foto di classe lässt sich allein durch die Reihe, in der es erschienen ist, in einem Kontext neuen realistischen und engagierten Schreibens verorten. Contromano macht es sich zur Aufgabe, eine Plattform für Literatur zu schaffen, die als unkonventionelles Instrumentarium zur Erkenntnis der Gegenwart in einer textuellen Form zwischen Essayistik und Fiktion verstanden werden kann. Der Roman Foto di classe, der bereits durch das Cover eine Verbindung zur erzählten Region herstellt, zeichnet eine Typologie menschlicher Schicksale im Süden und ergänzt das so geschaffene Bild Apuliens durch eine Topologie, in der durch die Offenlegung verschiedener geographisch-räumlicher Relationen sowie der Zeichnung identitär wichtiger Erinnerungsorte im Kontext der Migration eine neue Südfrage formuliert wird. Die zur Typisierung herangezogene Struktur der Darstellung verschiedener Lebensläufe in Foto di classe sowie das vorangestellte Gedicht, das den Fortgang junger Menschen aus der Heimat thematisiert, legen Rocco Scotellaro als geistigen Vater des Werkes fest. Ebenso findet sich die Idee, den dokufiktionalen Text auf einem Fragebogen aufzubauen, bereits bei dem früheren süditalienischen Autor. Die in Foto di classe vorgeführten Curricula stehen jeweils für eine bestimmte Gruppe von Personen aus dem Süden, die durch gemeinsame Charakteristika verbunden sind. Einige davon werden explizit oder implizit an Konzepte älterer Meridionalisten rückgebunden (i chiusi an Fortunato und i mammisti an Alvaro), teilweise jedoch auch in einem modernen Kontext verankert, etwa durch den Vergleich der chiusi mit depressiven Menschen. Im Dialog mit aktuelleren Quellen wie etwa der AssoCina werden soziale Ungerechtigkeiten im Kontext der Migration besprochen; das Fazit und der didak-
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tische Lösungsansatz Desiatis ist, dass der Fortgang in den meisten Fällen nicht zur Verbesserung des sozialen Status führt und eine Wiederbelebung des Südens von innen heraus erfolgen muss. Mit weiteren expliziten und impliziten Bezügen zu älteren wie modernen Meridionalisten und statistischen Institutionen, die sich um den Status quo des Südens bemühen, legt Desiati die dokumentarische Basis seines Werkes als eine meridionalistische fest. Im Gegensatz zu Scotellaros I contadini del Sud bleiben in Desiatis Text Strukturen und Meta-Ebene weitaus sichtbarer und werden durch den gesamten Roman mitbesprochen. Durch die eigene Zugehörigkeit der Autoren zur Region einerseits und ihrer Rolle als sich zur Dokumentation entfernenden Beobachters andererseits kann in beiden Romanen der Erzähler als distanzierter Teilhaber am Geschehen bezeichnet werden. Dieses Paradox aus Empathie und Distanz findet sich auch in der verbalisierten Intention von Foto di classe, nämlich kalten Statistiken Leben einzuhauchen und damit Fakten zu narrativisieren. Scotellaro und Desiati wird im regelmäßigen Einsatz der sermocinatio jeweils eine Art Bauchrednerrolle zugeschrieben. Die Interaktion zwischen Autor-Erzähler und Figuren ist häufig eng verwoben. Allerdings ist das erzählende Ich in Foto di classe sehr konturiert und bringt die eigene Geschichte mit in die einzelnen Erzählungen ein. Der Authentizitätseffekt kommt in Foto di classe mithin nicht durch den Gestus des Zurücktretens von Autor und Methode zustande, sondern im Gegenteil durch das Hervorheben selbiger. Durch den Fortgang aus dem Süden, der bereits im Untertitel ins Zentrum des Anliegens gerückt ist, spielen identitätsstiftende Themen eine wichtige Rolle im Roman. Diese werden in der vorliegenden Arbeit als Erinnerungsorte im Sinne Noras gelesen, die in ihrer kulturanthropologischen Relevanz und nachweislichen Referenz als Marker realistischen Schreibens zu verstehen sind. Im Vordergrund und als verbindendes Element ist in diesem Kontext der Dialekt zu benennen, wie er im Untertitel des Romans Verwendung findet (U uagnon se n’asciot). Ähnlich wie bei Verga tauchen in Form von Intarsien dialektale Einsprengsel auf, die jedoch das Leseverständnis durch geschickte Semantisierung oder nachfolgende, explizite Erklärungen nicht behindern. Diese Vorliebe des Dialekts in der Literatur folgt einem realen Trend, der das Regionalsprachliche entgegen früherer Tendenzen wieder aufwertet und als wichtige Tradition anerkennt: Dialekt wird erneut zur Kommunikation genutzt, aber auch in Musik, Film und Literatur verwertet und schließt damit einen Kreis zur Tradition neorealistischer Werke. Dialekt und Sprache werden auch auf einer Meta-Ebene diskutiert und stehen hier vor allem im Zeichen einer Neumodellierung des Konzepts von Emigration in einem zunehmend globalisierten Kontext, der eine striktere Trennung und unterschiedliche Wertung von Binnenmigration und ›tatsächlicher‹ Migration andenkt. Zudem führt der Dialekt in seiner Veränderung durch Adstratwirkung
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Mario Desiatis moderner Meridionalismus oder das Portrait einer Region
in anderen Regionen nicht nur zum Erhalt, sondern auch zu teilweisem Verlust beziehungsweise zu Spaltung von Identität. In der Erinnerung verstärkt er empathische Effekte, in Anekdoten unterstreicht er die Komik. Eine besondere Rolle spielt er noch einmal an der Stelle, an der er mit weiteren Erinnerungsorten, etwa traditioneller Küche oder Festen verbunden wird. So werden Mahlzeiten im regionalen Kontext zu einer Art zu dechiffrierender Sprache, die vielfach an Dialekt und Tradition gebunden ist. Die Unterschiede zwischen dem Süden und dem Norden sind teils realer, teils linguistischer Natur, wie in der Reflexion des ausgewanderten Kochs Lucio offenbar wird. In beiden Fällen reflektieren sie das Thema der Identität. Um Verlust und Verlorensein vorzubeugen, kommt es auch hier zu Kompromissen, die sich etwa im gemeinsamen Zubereiten der bagna c/oda, einem Rezept aus den Langhen in einem von Südländern betriebenen Restaurant manifestiert. Auch die Beschreibung der Riten in der ›sumana santa‹ (Karwoche) wird durch dialektale Ausdrücke untermalt, zudem aber auch durch etymologische und anthropologische Reflexionen untermauert, wodurch die Methode des distanziert teilhabenden Erzählers wiederum zu einer Erweiterung des Sichtfeldes in der Darstellung führt. In ihrer Überhöhung als Momente der identitären Zugehörigkeit werden alte Bräuche teils aus ihren ursprünglichen Bedeutungskontexten herausgelöst. Sie werden zu identitätsstiftenden Erinnerungsorten, die in der Darstellung durch dialektale Intarsien hervorgehoben werden und neben einer kulturwissenschaftlich interessanten Rolle zudem mimetische Funktion haben. Neben den Erinnerungsorten spielen in Foto di classe die zur Darstellung kommenden realen Orte eine wichtige Rolle. Sie werden zum Indikator von Wissen um die Region, ihre Darstellung zur Interpretation der aktuellen Situation, ein Vorgehen, das in der Synthese lyrisch-epischer und ökonomischsymbolistischer Elemente an Verga gemahnt. Die von Desiati beschriebene Landschaft, die stets eine eindeutige Referenz hat, ist mithin nie nur Hintergrund. Die ausgewählten, im Fokus stehenden Bereiche sind bedeutungsträchtig und spielen bereits in Il paese delle spose infelici eine wichtige Rolle: die Stahlfabrik Ilva, der Friedhof sowie Züge und Bahnhöfe. In den sich überkreuzenden Heterotopien von Fabrik und Friedhof, die zunehmend die Region dominieren, entsteht als neue Homotopie eine tödliche Umgebung, in der sich die aktuelle Südfrage Apuliens in Form aus dem Ruder gelaufener Industrialisierung formuliert. In der Ausgestaltung der Deskription wechseln sich dabei literarisch-poetischer Duktus mit faktual untermauernder Legitimation ab. Intensiviert wird dieses Vorgehen durch intertextuelle Anleihen, in denen etwa die Ilva mit D’Arrigos Beschreibung der Charybdis als Monster überlagert wird. Gleichzeitig dient die Landschaftsbeschreibung als Verbindungsstück zwischen den Geschichten der einzelnen Figuren. Während Fabrik und Friedhof die neue Südfrage bildlich zur Darstellung kommen lassen, drückt sich im Zug und im
Zwischenfazit
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Bahnhof ein Stück Geschichte der ewigen Migrationskultur des Südens aus. Bei Desiati sind Zug und Bahnhof nicht Nicht-Orte, sondern werden zum Symbol für das Zusammentreffen in der Fremde und zur Verbindungslinie in die Heimat. Sie stehen – ähnlich wie einige der bereits diskutierten Erinnerungsorte – zwischen Erhalt und Verlust von Identität. Die lange Fahrtdauer, die über Jahre hinweg kaum variiert, macht den Zug zur Gedankenschule; der Blick aus dem Fenster zeigt in einem impressionistischen Aufriss, dass die Heimat nicht nur Probleme birgt, sondern auch sexy und schön ist. Der explizite Hinweis auf den Impressionismus verweist nicht nur auf eine Kunstrichtung, die auch im Interesse der Naturalisten stand, sondern ist zudem adäquates Mittel, um den Blick aus dem fahrenden Zug realistisch wiederzugeben. Durch die Zusammenstellung des ›Zugvolks‹ aus Pendlern, Zigeunern und soffiatori (›Räubern‹) bekommt der Zug nicht nur identitäre Eigenschaften, sondern wird zu einem vollständigen Mikrokosmos, zu einer Art ›Hetero-Koinonia‹, will man die foucault’sche Terminologie weiterführen und die Topologie im Werk ergänzen. Mit der Allegorisierung des Südens durch die Figur der Annalisa, der Zusammenführung von typischen Menschenbildern und topologischen Eigenschaften, die sowohl auf alte Meridionalismen wie auf neue Quellen gründen, zeichnet Desiati in seinen Romanen ein aktuelles Bild des Südens und stilisiert sich zum literarischen Vertreter eines modernen Meridionalismus mit dokumentarischen und didaktischen Ansprüchen.
6.
Roberto Savianos Gomorra: Hybrider Realismus im Zeichen eines wiedererstarkten Subjekts
Gab es schon in den späten 90er Jahren und um die Jahrtausendwende Diskussionen über einen Neuen Realismus in Italien, so haben diese spätestens mit Roberto Savianos Gomorra eine neue und unübersehbare Basis und Diskussionsplattform gefunden. Das die neapolitanische Camorra behandelnde Debütwerk des 1979 in Neapel geborenen Autors und Journalisten, der sich dezidiert gegen Literatur im Sinne der Postmoderne stellt und stattdessen auf Authentizität und Wahrheitsgehalt setzt, findet einen unerwartet großen Anklang beim Lesepublikum.1032 Roberto Savianos Antimafia-Roman Gomorra. Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della camorra erschien erstmals im März 2006 bei Mondadori in der Reihe Strade Blu. Das Werk fokussiert unter der Führung eines starken Ich-Erzählers die einzelnen Tätigkeitsbereiche der Camorra, die die verschiedenen Wirtschaftsfelder abdecken, von der Modeindustrie bis zur illegalen Abfallverwertung. Dieses System der Wirtschaftskriminalität unterwandert ganz Neapel und prägt den Alltag der Stadt. Der Autor ist bis dahin im literarischen wie journalistischen Bereich weitgehend unbekannt.1033 Die Basis seines Schreibens ist – neben dem Umfeld, in dem er aufgewachsen ist und den damit verbundenen Erfahrungen – das Philosophiestudium an der Universit/ Federico II in Neapel mit Abschluss bei 1032 Dieser Erfolg ist umso mehr hervorzuheben, da Gomorra sein Publikum nicht nur bei der traditionellen Leserschaft findet, sondern bei Lesern aller ›Schichten‹ und Niveaus, auch bei den eigentlichen Nicht-Lesern. Paolo Giovannetti spricht von einem »successo dal basso«, dem man mehr auf den Grund hätte gehen sollen. Vgl. Paolo Giovannetti [Hg.]: Raccontare dopo Gomorra. La recente narrativa italiana in undici opere (2007–2010). Milano: Ed. Unicopli 2011, S. 9. 1033 Erste journalistische Texte veröffentlichte Saviano im Jahr 2002 in den Zeitschriften Pulp, Diario della Settimana, Sud, Il Manifesto, Il Corriere del Mezzogiorno und Nazione Indiana. Seine ersten literarischen Texte sandte er an Goffredo Fofi unter der Angabe, im Stil Tommaso Landolfis schreiben zu wollen. Fofi riet ihm davon ab, weiterhin solchen ›Mist‹ zu schreiben (»›scrivere stronzate‹«). Vgl. Andrea Cortellessa [Hg.]: La terra della prosa. Narratori italiani degli anni zero (1999–2014). Roma: L’Orma editore 2014, S. 597.
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Roberto Savianos Gomorra: Hybrider Realismus
Francesco Barbagallo, einem Historiker für neuere Geschichte mit besonderem Blick auf den Süden des Landes.1034 Die Abschlussarbeit Savianos beschäftig sich mit dem deutschen Soziologen Max Weber,1035 woraus sich Kenntnisse und Interesse des Autors für ökonomische und ethische Fragestellungen nicht nur auf biographischer, sondern auch auf einer geisteswissenschaftlichen Ebene konstatieren lassen. Mit seinem Debüt Gomorra gelingt Saviano auf einen Schlag ein Bestseller, dessen erste Auflage von 5000 Exemplaren nach einer Woche ausverkauft ist.1036 Bereits 2010 spricht man davon, dass das Werk sich auch zu einem Longseller entwickelt,1037 der laut Angaben der offiziellen Homepage des Schriftstellers mittlerweile in 50 Sprachen übersetzt wurde und sich weltweit 10 Millionen Mal verkauft hat.1038 Schon im Erscheinungsjahr erhält das Werk den Premio Viareggio Opera prima und wird im Jahr 2007 vom Corriere della Sera zum Libro dell’anno gekürt.1039 Die New York Times bezeichnet Gomorra als das wichtigste Buch, das in Italien seit Jahren erschienen sei.1040 2008 wird das Werk unter der Regie von Mario Gelardi für die Theaterbühne adaptiert und erhält den Preis E. T. I. Gli Olimpici del Teatro.1041 Im gleichen Jahr erscheint auch der Film Gomorra unter der Regie von Matteo Garrone mit durchschlagendem Erfolg beim Publikum und der Auszeichnung durch den Grand prix du Festival de Cannes.1042 Im Jahr 2014 wird die erste Staffel von Gomorra – La serie von Sky, Cattleya und Fandango unter Mitwirken von Saviano selbst produziert und ausgestrahlt und ist laut Berichten der ANSA die meistgesehene Serie in der Geschichte des italienischen pay tv.1043 Die zweite Staffel lief von Mai bis Juni 2016, eine Fortsetzung ist in Arbeit. Im Umfeld und im Geiste von Gomorra erschienen von Roberto Saviano 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043
Vgl. Cortelessa 2014, S. 597. Vgl. Trocino 2011, S. 24. Vgl. Cortellessa 2014, S. 597. Vgl. Aurelio Benevento: Novecento. Il secolo lungo. Saggi su Prezzolini, Muscetta, Asor Rosa, Ortese, La Capria e Saviano. Napoli: Ed. Scientifiche Italiane 2010, S. 71. Vgl. Roberto Saviano: Offizielle Homepage. [HP]. Cortellessa gibt Übersetzungen in 53 Sprachen an. Vgl. ders. 2014, S. 579. Vgl. Benevento 2010, S. 71. »Part economic analysis, part social history, part cri de cœur, this crushing testimonial is the most important book to come out of Italy in years«. Rachel Donadio: »Underworld«, New York Times (25. 11. 2007), [IQ]. Vgl. Saviano: Offizielle Homepage, [HP]. Heute nennt sich dieser Preis bei gleichen Wertmaßstäben Le maschere del teatro italiano. Siehe die Homepage des Teatro Stabile Napoli, [HP]. Vgl. Roberto Saviano: Offizielle Homepage, [HP]. »Con 700 mila spettatori medi a puntata, Gomorra H la serie targata Sky piF vista in assoluto nella storia della pay tv«. Vgl. ANSA: »Tv : Gomorra chiude con record serie Sky. Ed un epilogo shock ed appuntamento a seconda stagione«, Ansa.it cultura (11. 06. 2014), [IQ].
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weiterhin La bellezza e l’inferno (Mondadori 2009), La parola contro la camorra (Einaudi 2010) und Vieni via con me (Feltrinelli 2011), Texte, die wesentlich stärker als das Ausgangswerk journalistisch beziehungsweise essayistisch geprägt sind. Im Jahr 2013 wird ZeroZeroZero bei Feltrinelli publiziert, ein Gomorra stilistisch ähnliches Werk, das den weltweiten Kokainhandel thematisiert. Im November 2016 erschien ein weiterer Roman mit dem Titel La paranza dei bambini bei Feltrinelli. Wieder im Kontext der Camorra, mit Hauptaugenmerk auf die jugendlichen Bosse und Baby-Killer, präsentiert sich der Roman als Fiktion, jedoch mit dem Willen, die neapolitanische Realität darzustellen. Ein erstes ausgekoppeltes Kapitel wurde bereits im Vorfeld in der Zeitung La Repubblica veröffentlicht.1044 Neben den literarischen Ambitionen bleibt Saviano dem Journalismus stets treu. In Italien arbeitet der Autor eng mit den Zeitungen La Repubblica und L’Espresso zusammen, in den Vereinigten Staaten mit der Washington Post und der New York Times, in Spanien mit El Pa&s, in Deutschland mit der Zeit, in Schweden mit Expressen und Dagens Nyheter und in England mit The Times.1045 Allein aufgrund des fulminanten Erfolgs des Erstlingswerks Gomorra ist eine Betrachtung der gegenwärtigen italienischen Literaturszene ohne Beachtung Roberto Savianos nicht möglich. Andrea Cortellessa bezeichnet eine »cartografia letteraria degli anni zero«, die den Autor nicht einschließt, als paradox und verweist auf die literaturwissenschaftliche Diskussion, aus der sogar ein Band mit dem Titel Raccontare dopo Gomorra hervorgegangen ist.1046 In der Literaturszene scheint Gomorra eine ähnliche Zäsur darzustellen, wie der Fall der Twin Towers historiografisch im westlichen Bewusstsein und der jüngeren Geschichte. Mit einem Paukenschlag wird das Ende einer Epoche proklamiert, dessen Ansätze früher zu verorten sind, hier jedoch eine nicht mehr negierbare Erfüllung erfahren.1047 Zurück zum Realen, zurück zu Wahrheit und Wirklichkeit, zurück zum Erzählen von kruden Kriegserfahrungen, die im neapolitanischen Alltag der camorristischen Präsenz und ihren wirtschaftlichen Ambitio1044 Vgl. Roberto Saviano: »La paranza dei bambini: adda mur' mamm/«, La Repubblica (31. 07. 2016), [IQ]. 1045 Vgl. die Offizielle Hompage von Roberto Saviano, [HP]. 1046 Cortellessa 2014, S. 549. Das zitierte Werk, das sich im Übrigen tatsächlich nur der Gomorra nachfolgenden Literatur widmet, nicht dem Werk selbst, ist das folgende: Paolo Giovannetti: Raccontare dopo Gomorra. La recente narrativa italiana in undici opere (2007–2010). Milano: Unicopli 2011. 1047 Raffaello Palumbo Mosca spricht in Bezug auf Saviano und Gomorra nur von der Spitze des Eisbergs, »il momento cluminante di una diversa stagione letteraria nazionale, che vede emergere di una narrativa ›intonata alla politica‹, diretta, cioH, all’analisi del reale e del rapporto tra storie personali e societ/«. Ders.: »Prima e dopo Gomorra: Non-fiction novel e impegno«, In: Postmodern Impegno: Ethics and Commitment in Contemporary Italian Culture. Etica e Engagement nella Cultura Italiana Contemporanea. Frankfurt am Main: Lang 2010, S. 305–326, hier S. 306.
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nen zu finden sind. Roberto Saviano führt in seinem gesamten Schaffen eine bewusst anti-postmoderne Linie ins Feld und betont – ähnlich dem Standpunkt früherer Naturalisten, Realisten und Veristen – die Vorgängigkeit des Erzählten in der Realität. In Bezug auf die Serie gibt er das in einem Interview besonders deutlich an: »[…] tutto quel che abbiamo rappresentato H tratto dalla realt/.« Die Realität sei auch der wahre Protagonist der Serie.1048 Das Dargestellte aus der Realität zu entnehmen, der Realität eine Wahrheit zu entlocken – auch wenn diese niemals vollständig greifbar ist – und sie mit dem Instrument Literatur wiederzugeben, sind Anliegen, die im Fokus des Schaffens von Roberto Saviano stehen und die er vielfach im autographen Peritext propagiert. In den essayistischen Schriften aus La Bellezza e l’inferno formuliert er : Verit/ H cik che piF mi ossessiona. ð l’ossessione del mio libro. La verit/ non H misurabile: parametri, prove, risultati di indagine non dicono mai la verit/, ma si avvicinano a essa, ne circoscrivono il campo. Cik che forse si H in grado di valutare H la possibilit/ di riuscire ad articolare la verit/, i suoi spazi, i suoi perimetri, le condizioni in cui si genera. Comprendere lo spazio che H dato alla ricerca, alla riflessione, al percorso per poter raggiungere una verit/, argomentarla, trovare il modo di dirla. E soprattutto trovare gli strumenti per metterla a fuoco, trovare il punto di vista che non renda semplice cik che H complesso, ma che lo renda visibile e leggibile. Perch8 la verit/, qualsiasi verit/, va innanzitutto letta.1049
In diesem Abschnitt demonstriert Roberto Saviano aufgeklärt sein schriftstellerisches Anliegen im Sinne einer nicht messbaren Wahrheit, die trotz oder gerade deswegen nicht zu vernachlässigen ist. Statt wie in postmodernistischer Literatur aufgrund der Unerreichbarkeit objektiver Wahrheit diese umfassend zu verbannen und lediglich auf Ironie, Spiel und Selbstbezüglichkeit zu setzen, will er sich ihr durch einen Verständnisprozess im Schreiben annähern, indem er auf das richtige Instrumentarium und den geeigneten Blickpunkt setzt. Dies sieht er eindeutig nicht in Literatur gegeben, die allein auf postmodernistischen Theorien und dem philosophischen Konzept des Schwachen Denkens basiert, im Gegenteil, gerade die so produzierte Literatur interessiert ihn persönlich nicht.1050 Die Kraft der in seinen Augen wertvollen Texte liegt darin, dass sie nicht auf eine Dimension zu reduzieren sind, nicht nur Nachricht oder Information 1048 Marco Imarisio: »L’intervista. Parla Saviano: ›Gomorra? ð la realt/ negata dai politici‹«, Corriere della Sera (21. 05. 2016), [IQ]. 1049 Saviano 2009, S. 50f. 1050 »La potenza vitale della scrittura continua a essere condizione necessaria per distinguere un libro che val la pena di leggere da uno che val la pena di mantenere chiuso. […] Non mi interessa la letteratura come vizio, non mi interessa la letteratura come pensiero debole, non mi riguardano belle storie incapaci di mettere le mani nel sangue del mio tempo, e di fissare in volto il marciume della politica e il tanfo degli affari. Esiste una letteratura diversa che puk avere grandi qualit/ e riscuotere numerosi consensi. Ma non mi riguarda.« Saviano 2009, S. 241f.
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enthalten, sondern gleichzeitig gefallen und Emotionen ansprechen und so jegliche Grenzen überschreiten können.1051 Er zielt mit diesem Projekt vor allem auf ein Durchbrechen des (Ver-)Schweigens im Rahmen der organisierten Kriminalität. Aldo Grasso formuliert: La voce contro il silenzio: la sua tesi principale H proprio questa. Nonostante buona parte della nostra vita si svolga in un ambiente dominato dai media, la criminalit/ organizzata »vive di un silenzio spesso colpevole perch8 non permette al Paese di capire cosa sta succedendo«.1052
Den Verständnisprozess, den Grasso anführt, sieht auch Paolo Fabbri im Mittelpunkt. Neben dem Anspruch auf Realitätsdarstellung und Wahrheitsgehalt rückt der Aufklärungsgedanke in den Fokus: »Immorale H il giudizio senza la comprensione e Saviano ci vuole ›compresi‹, in tutti i sensi della parola«.1053 Siti drückt es noch expliziter aus und fügt einen indirekten Verweis an das Werk Primo Levis an, wenn er formuliert: Il ›meraviglioso‹ degli antichi cantari si congiunge all’urgenza dell’attualit/ politica: la qualit/ letteraria di Saviano si misura sulla capacit/ di tenere aperta la meraviglia squadernando la cronaca, e di condensare la verit/ saggistica in emblemi allucinatori. D’improvviso vediamo, come se fossimo l'.1054
Literatur wird so, im Anspruch des Autors, im Rahmen eines Aufklärungsaktes zum Werkzeug des Widerstandes, zu einer Möglichkeit der Einflussnahme: »Scrivere H resistere, H fare resistenza.[…] Se ho avuto un sogno, H stato quello di incidere con le mie parole, di dimostrare che la parola letteraria puk ancora avere un peso e il potere di cambiare la realt/«.1055 Aufgrund des Erkenntnisanspruchs und des Aufklärungsgedankens spricht Siti ihm jedoch ab, tatsächlich Literat zu 1051 »La forza della letteratura continua a essere questa sua incapacit/ a ridursi a una dimensione, di essere soltanto una cosa, sia essa notizia, informazione o sensazione, piacere, emozione. Questa sua fruibilit/ la rende in grado di andare oltre ogni limite, di superare le comunit/ scientifiche, gli addetti ai lavori, e di andare nel tempo quotidiano di chiunque, divenendo strumento ingovernabile e capace di forzare ogni maglia possibile.« Ebd., S. 241f. 1052 Aldo Grasso: »La voce e il silenzio«, In: Roberto Saviano: La parola contro la Camorra. Con scritti di Walter Siti, Aldo Grasso, Paolo Fabbri, Benedetta Tobagi e una DVD. Torino: Einaudi 72013, S. XI–XVII, hier S. XIV. 1053 Paolo Fabbri: »Convivenza o connivenza«, In: Roberto Saviano: La parola contro la Camorra. Con scritti di Walter Siti, Aldo Grasso, Paolo Fabbri, Benedetta Tobagi e una DVD. Torino: Einaudi 72013, S. XIX–XXIII, hier S. XIX. 1054 Walter Siti: »Saviano e il potere della parola«, In: Roberto Saviano: La parola contro la Camorra. Con scritti di Walter Siti, Aldo Grasso, Paolo Fabbri, Benedetta Tobagi e una DVD. Torino: Einaudi 72013, S. V–IX, hier S. VIf. 1055 Saviano 2009, S. 15. Ähnlich formuliert es Raffaello Palumbo Mosca: L’invenzione del vero. Romanzi ibridi e discorso etico nell’Italia contemporanea. Roma: Gaffi 2014, S. 148 sowie S. 159.
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sein: »Saviano non H un letterato, H un intellettuale: dalla propria esperienza di scrittura trae, e vuole trarre, indicazioni teoriche. Che vanno, pare, verso un engagement della parola: della parola che cambia il mondo o almeno ci prova.«1056 Das Anliegen, mit seinem Schreiben Einfluss zu nehmen, führt Saviano weiter aus, jedoch, entgegen Sitis Annahme, in eindeutiger Anlehnung an das literarische Feld, nicht nur an das intellektuelle: Il grande sogno che hanno alcuni scrittori H quello che le loro parole possano mutare la realt/, che le loro parole, magari nel tempo, possano effettivamente indirizzare il percorso umano verso nuove strade. Certo mi rendo conto che nessuno puk isolare il momento esatto in cui Dostoevskij o Tolstoj hanno modificato, indirizzato o semplicemente suggestionato il pensiero umano. Non H che un mese dopo l’uscita dei loro scritti qualcosa immediatamente sia cambiato. […] Ma chi ha la possibilit/ e lo strano e drammatico privilegio di vedere le proprie parole agire nella realt/, quando H ancora in vita […], allora questo scrittore puk accorgersi di quanto effettivamente il peso specifico delle sue parole stia entrando nella quotidianit/, contribuendo a modificare i comportamenti delle persone. Quando questo accade ti rendi conto che il potere reale che hanno le parole H davvero infinito, ancor di piF perch8 H un potere anarchico.1057
Nicht Sinnentleerung, Ästhetisierung und Spiel stehen im Fokus des literarischen Schaffens von Saviano, schon gar nicht als Selbstzweck, sondern maximal als eine Art Instrumentalisierung. Dass Autorintention und Produktionsästhetik sich alleine nicht genügen, ist indiskutabel wahr. Solch starke und explizite Selbstaussagen jedoch zu ignorieren und das Schaffen des Autors auf Biegen und Brechen postmodernistischem Schreiben unterordnen zu wollen, scheint ebenso absurd. Dennoch sehen einige Kritiker Saviano genau dort verortet, wie etwa Cortellessa, der proklamiert, aufgrund seiner hybridisierenden Schreibweise und des deformierten Ich überschreite Gomorra keineswegs die Grenzen des Postmodernismus, sondern lasse sich in den Kontext des »postmodern impegno« einordnen.1058 Auch Caterina Selvaggi bedauert, dass nur wenige bislang
1056 Siti 2013, S. VII. Auch Raffello Palumbo Mosca sieht das so: »Saviano ha immediatamente presentato se stesso non (o non solo) come romanziere, ma come intellettuale per il quale il romanzo H solo una – non certo l’unica – forma di espressione possibile.« Ders. 2014, S. 159. 1057 Roberto Saviano: »Una luce costante«, In: ders: La parola contro la camorra. Con scritti di Walter Siti, Aldo Grasso, Paolo Fabbri, Benedetta Tobagi e una DVD. Torino: Einaudi 7 2013, S. 12f. 1058 Die Kategorie des »postmodern impegno« – näher ausgeführt in einem gleichnamigen Sammelband aus dem Jahr 2009 – ist ein ohnehin diskutabler und leicht paradoxer Zusammenschluss, der ursprünglichen Ideen des Postmodernismus widerspricht. Diese Einordnung wird auch von anderen Kritikern angezweifelt, wie in folgendem Zitat bereits deutlich wird: »A costo di ›vedere postmoderno ovunque‹, come rimproverato da Raffaele Donnarumma, H infatti ai miei occhi evidente come la poetica che porta Saviano a concepire un libro come Gomorra non fuoriesca affatto dai modi ibridizzanti di certo post-
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den Gusto des Stils der Postmoderne in Gomorra erkannt hätten, einem Werk, das damit jedoch den Konflikt zwischen Wahrheit und Macht sichtbar mache, das heißt zwischen der Suche nach Verifizierung und einem Urteil über die Realität und die Herrschaft. Im nächsten Moment gibt sie an, dass dies nicht der gewöhnlichen Definition der Postmoderne entspreche, »inteso piuttosto come perversa attrazione per il gioco, il travestimento culturale fino al pastiche, al citazionismo intertestuale che certo non cerca alcuna verit/ ma preferisce l’ibridazione fine a se stessa di generi e stili […]«.1059 Auch wenn Gomorra weitere stilistische Merkmale aufweist, die mittlerweile gemeinhin postmodernistischem Schreiben zugeordnet werden – etwa die starke Präsenz intertextueller und intermedialer Verweise – vermag diese Kunstrichtung dem Werk offensichtlich nicht gerecht zu werden. Vielleicht ist es möglich, durch eine Parallelsetzung von Postmoderne und Spätkapitalismus Gomorra, das die ausbeuterischen Mächte der ecomafie fokussiert und kritisiert, zu einem Werk einer noch nicht vollständig ausgeklungenen historischen Epoche, nicht jedoch zu postmodernistischer Literatur zu machen. Darstellungen kapitalistischer Phänomene und Kritik an eben jenen gab es beispielsweise schon in Zolas Romanzyklus Rougon-Macquart oder auch in besonders hohem Maße im Werk Pier Paolo Pasolinis. Eleonora Conti stellt in Bezug auf Savianos Gomorra fest: »Ma bench8 Gomorra cominci e finisca parlando di merci, entit/ ›liquide‹ per definizione perch8 transitorie, di passaggio, il libro H quanto di piF lontano si possa immaginare da un testo postmoderno.«1060 Das Verständnis von postmodernistischem Schreiben scheint sich bei einer Subsumierung Gomorras unter postmoderne Konzepte um jeden Preis weiten zu müssen. Die Postmoderne und die sie ausmachenden Kunstformen zu definieren, war von Beginn an problematisch und hat zu weitreichenden Diskussionen geführt. Die ständige Erweiterung des Begriffs und der Epochenmerkmale kann weder dem Postmodernismus von Nutzen noch einer Kategorisierung der aktuellen Werke zuträglich sein. Dass postmodernistische Merkmale nicht von heute auf morgen verschwinden, sondern auch in den den Postmodernismus überschreitenden Texten ihre Marker hinterlassen, ist einsichtig. Und so scheint es wesentlich sinnvoller, die Texte – hier im Besonderen Gomorra – auf die Einlösung der Autorintention hin zu hinterfragen sowie die übernommenen postmodernistischen Verfahrensweisen auf ihre Veränderungen und Umfunktionalisierungen hin zu untersuchen. Nach einigen grundlegenden Beobachmodernismo e anzi, specificamente, del postmodern impegno […]«. Cortellessa 2014, S. 595, [Hervorhebung im Original]. 1059 Caterina Selvaggi: La relazione postmoderna: cinema e letteratura nell’era globale in Amelio, Bellocchio, Barthes, Garrone, Saviano e Tarantino. Milano: Angeli 2012, S. 9. 1060 Eleonora Conti: »Geografie esistenziali: paesaggio e identit/ nella narrativa italiana contemporanea«, Studi e ricerche del Liceo Torricelli (2010), S. 15–40, hier S. 28.
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tungen und Analysen bezüglich des vieldiskutierten Genres des Werks sowie einer Klarstellung zum Plot, sollen daher im Besonderen das immer wieder in die Diskussion geratene dominante Ich des Textes, das zwischen Autobiographie und Fiktion zu changieren scheint, sowie die auffällig stark vertretene Intertextualität im Mittelpunkt des Interesses stehen. Beide Verfahrensweisen, die Fiktion der Autobiographie sowie intertextuelle Zitationsteppiche, sind genuin in postmodernistischem Schreiben verankert, sollen hier jedoch unter neuen Vorzeichen diskutiert und bewertet werden. Von Interesse ist dabei die Verankerung des Werkes zwischen alten Methoden realistischen Schreibens im Rückgriff auf das 19. und 20. Jahrhundert und neuen Ansätzen, die den Zeitgeist der vergangenen Jahre mitverarbeiten.
6.1
Die Chimaira des Genres und die plurale Ordnung des unsichtbaren Plots
ð il noto problema dei generi. Che cosa stiamo leggendo? Quale genere di narrazione in prima persona? Autobiografia, reportage giornalistico, resoconto di viaggio, inchiesta etnografica o sociale, romanzo di pura fiction, docufiction (o creative non-fiction) o una qualche mescolanza tra questi?1061
Die Genrezugehörigkeit von Gomorra wurde seit der ersten Publikation des Werkes diskutiert und als problematisch klassifiziert. Allein die Frage, ob es sich um einen fiktionalen oder faktualen Text handelt, trieb Verlag, Leser und Kritiker um. Der Anspruch, die Wahrheit zu erzählen und die neapolitanische Verbrechenswelt im Bereich der ecomafie aufzudecken, versperrt dem Werk den Weg in die reine Fiktion. Aber der Text präsentiert sich auch nicht als Sachbuch, er ist kein saggio, da er dafür nicht ausreichend Konstanz und Distanz aufweist.1062 Der Roman Gomorra – so soll das Werk hier durchaus bezeichnet werden – sprengt die Genregrenzen und verweigert sich Versuchen genauer Zuordnung. Luperini spricht von einem Dokumentarwerk mit eindeutigen literarischen Einschlägen: »Il genere [di Gomorra] H il documentario ma gestito con una evidente letterariet/ di esiti, anche perch8 sempre fortemente intrecciato ad altri generi, come il poliziesco, l’autobiografia, l’invenzione fantastica, il saggismo.«1063 Am ehesten wird Gomorra als docu-fiction oder als nonficton novel im Stile Truman Capotes gehandelt.1064 Savianos Werk weist eine 1061 Alessandro Dal Lago: Eroi di carta. Il caso Gomorra e altre epopee con una postilla sul declino dello spirito critico in Italia; non si scherza con i santi! Nuova ed. agg. Roma: Manifestolibri 2010, S. 32f. 1062 Vgl. Andrea Inglese: »Roberto Saviano – ›Gomorra‹«, Allegoria 55 (2007), [IQ]. 1063 Romano Luperini: Tramonto e resistenza della critica. Macerata: Quodlibet 2013, S. 242. 1064 Saviano selbst gibt an, er habe eine non-fiction novel im Stil Truman Capotes schreiben
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außergewöhnliche Labilität der Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion auf.1065 Gilda Policastro zufolge oszilliert das Werk zwischen einer »fiction occasionale dentro il documentario parziale« und einem »occasionale documentario nella fiction parziale«.1066 Durch die fiktionalen, literarischen Einschläge bleiben dem Autor, der sich der ihn umgebenden Realität verpflichtet hat, jedoch Quellennachweise, auf denen Arbeiten von Historikern und Dokumentaristen basieren, erspart.1067 Savianos Anspruch, nichts als die Wahrheit zu erzählen, sein Wille, eine auf Fakten basierende, sich aber dennoch auf literarische Mittel stützende Literatur zu schaffen, machen ihn zu einem caso letterario, einer literarischen Sensation und zu einem Sonderfall. Der junge Autor knüpft unter neuen Vorzeichen an die Traditionen italienischer Realismen an. Carlo oder Primo Levi etwa sind ebenso als Vorläufer im weiteren Rahmen einer engagierten testimonianza zu sehen wie auch das Schreiben des Intellektuellen und Künstlers Pier Paolo Pasolini.1068 Aber auch spätere Autoren, die im Bereich der Dokufiktion arbeiten, wie Edoardo Albinati, Antonio Franchini und Sandro Veronesi, spielen eine Rolle.1069 Luca Pocci stellt die naheliegende Frage, was Gomorra für ein Text sein will.1070 Er fügt hinzu: »If in a bookstore Gomorra can be comfortably shelved both in the fiction and in the non-fiction sections, it is because the text is in effect two texts
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wollen. Vgl. z. B.: Fiona Ehlers: »Interview mit Roberto Saviano«, Reporter Forum, [IQ]. Zum Problem der Zuordnung zu einem Genre vgl. auch Laura Gatti, die in dieser Unschärfe die Stärke des Werks und den Schlüssel zum Erfolg sieht. Dies.: »L’indeterminatezza narrativa come condizione d’efficacia di Gomorra«, Allegoria 59 (2009), S. 259–267. Auch Christian Rivoletti bespricht Vor- und Nachteile sowie die Verwandtschaft zum New Journalism. Vgl. ders.: »Forma ibrida e logica poetica: il realismo in ›Gomorra‹ di Roberto Saviano«, Allegoria 71–72 (2016), S. 98–114. Vgl. Stefania Ricciardi: »Gomorra e l’estetica documentale nel nuovo millennio«, Interf8rences litt8raire / Literaire interferenties 7 (Nov. 2011), S. 168. Carla Benedetti weist darauf hin, dass man gar versucht habe, den prozentualen Anteil der Fiktion im Werk zu messen. Vgl. dies. (20. 05. 2008), [IQ]. Vgl. Gilda Policastro / Carla Benedett [u. a.]: »Roberto Saviano, Gomorra«, Allegoria 57 (2008), S. 173–195, hier S. 187. Vgl. ebd., S. 187. Franco Gallippi weist darauf hin, dass Saviano, indem er Pasolini als Vorbild wählt, seine Vorliebe für eine Literatur ausdrückt, die einer performativen Ideologie folgt, nicht einer rein konstatierenden; er gebe sich nicht mit dem Auge, das sieht, zufrieden, sondern bemühe sich um eine Korsarenstimme. Der predigende Schriftsteller Pasolini, der spreche, um sein Publikum zu erreichen, sei eine zentrale Figur in der Tradition derer, die den korrupten Charakter eines Systems denunzieren wollen. Vgl. ders.: »Roberto Saviano e ›la sfida al labirinto‹«, In: Negli archivi e per le strade. Il ritorno alla realt/ nella narrativa di inizio millennio. A cura di Luca Somigli. Roma: Aracne 2013, S. 501–519, hier S. 515f. Vgl. hierzu Stefania Ricciardi: Gli artifici della non-fiction. La messinscena della narrativa in Albinati, Franchini, Veronesi. Massa: Transeuropa 2011. Vgl. außerdem dies. Nov. 2011, S. 168. Luca Pocci: »›Io so‹: A Reading of Roberto Saviano’s Gomorra«, MLN 126/1 (2011), S. 224– 244, hier S. 226.
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in one.«1071 Dies ist in seinen Augen weder ein Nachteil für das Werk – ganz im Gegenteil1072 – noch eine absolute Neuheit. Er weist darauf hin, dass die wahren Vorläufer Gomorras Pasolinis Lettere luterane, die Scritti corsari oder auch Luciano Bianciardis La vita agra seien, im übrigen Werke, die nicht nur den gleichen Grad an Hybridität besitzen wie Savianos Text, der Autor bezieht sich auch explizit auf sie.1073 Poccis Frage nach der Textintention lässt sich mit Worten des Autors selbst beantworten, der in der gewollten Ambiguität den Erfolg wie die Folgen seines Werkes verwurzelt sieht: Puk sembrare paradossale, ma in fondo se io avessi scritto un saggio, o se avessi scritto un romanzo, e non avessi deciso di far confluire in un unico letto questi due fiumi, sicuramente sarei stato ignorato dal loro potere [della camorra], dallo loro voglia vendicativa. Perch8 nel saggio nel mio libro ci sono i dati, le informazioni, le intercettazioni, le inchieste; del romanzo c’H la leggibilit/, il fatto di voler parlare al cuore del mio lettore, di non volerlo fare evadere, ma invaderlo.1074
Es ist die Hybridität des Werkes, die die Gleichzeitigkeit von Information und Lesbarkeit möglich macht. In einem Interview erklärt der Autor eine klare Grenzziehung zwischen Berichterstattung und Erzählung zu einem unmöglichen Unterfangen. Diese Annahme ist nicht im postmodernistischen Sinne zu verstehen, nach der reine Faktualität nicht möglich ist, sondern zielt wiederum auf den Aspekt des Verstehens ab. Berichterstattung, die nicht narrativisiert, also in gewisser Weise ›übersetzt‹ sei, bleibe schlicht eine journalistische Nachricht oder Notiz.1075 Das von ihm verwendete Genre sei »un genere che si fonda sulla possibilit/ di raccontare la realt/ con il rigore del saggio, lo stile del romanzo e la verit/ della poesia.«1076 In seinem Anspruch, einen Ausschnitt der wirklichen, 1071 Ebd., S. 229f. 1072 »[…] the indiscipline of Gomorra is not a flaw but a quality that adds to the overall efficacy of Saviano’s accusation.« Pocci 2011, S. 227. 1073 »In this regard, it should be noted that the true precedents of Saviano’s book indicated by Tricomi – Pier Paolo Pasolini’s Lettere luterane and Scritti corsari and Luciano Bianciardi’s La vita agra (to which Saviano himself refers) and I minatori della Maremma (written in collaboration with Carlo Cassola) – are works possessing the same intradiscursive (nonfictional) hybridity that Tricomi identifies in Gomorra. Examples of interdiscursive hybridity are also named – the already mentioned Sandokan by Balestrini and Ermanno Rea’s narratives – but it is made clear that these are not precedents of Gomorra but rather ›alleati in una comune battaglia letteraria e civile‹«. Ebd., S. 232. 1074 Saviano 2009, S. 203. 1075 »Non esiste confine. La cronaca senza storia, senza essere narrativizzata, senza essere tradotta e diventare comprensibile, resta notizia. Quello che a me interessa H fermare il rullo delle notizie in continuo movimento, bloccarlo per un attimo e tirar fuori un evento che valga la pena esser comunicato con maggiore attenzione. Un evento attraverso il quale raccontare uno spaccato di mondo«. Antonio Rinaldi: »Saviano: ›L’Italia non H il Paese della verit/, ma guai a smettere di scrivere‹«, Messaggero Veneto (05. 04. 2015), [IQ]. 1076 Francesco De Core: »Saviano: ›ð da omertosi dire Gomorra ha creato i baby-boss‹«, Il Mattino (09. 05. 2016), [IQ].
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außertextuellen Welt literarisch darzustellen und verständlich zu machen, kreiert Saviano eine Chimaira: Der Schriftsteller wird in diesem Verfahren zum Monster : Il reporter H l’occhio, lo scrittore la mano e un po’ di mente, il giornalista l’occhio e un po’ di mano, il poeta il cuore, il narratore lo stomaco. Ma H forse giunto il tempo di generare un mostro a piF mani e piF occhi, un tempo in cui chi scrive possa invadere, coinvolgere, abusare di ogni strumento. Questo H il compito dello scrittore che si occupa della realt/ e scrive per mezzo di essa.1077
Die Hybridität im Schreiben Savianos rührt dabei weniger vom Grundsatz des postmodernistischen anything goes als vielmehr von dem Gedanken eines whatever works her, das stets sehr zielgerichtet im Dienst realistischen Schreibens steht. Mit Frank Zipfels Schema, das verschiedene Kombinationen von realer beziehungsweise fiktiver Geschichte mit faktualem beziehungsweise fiktionalem Erzählen zeigt, fällt Gomorra in die dritte Kategorie des Modells, in der reale Geschichten mit fiktionalem Erzählen verbunden werden. Hier sieht Zipfel in Teilen den historischen Roman verortet wie auch fiktionale (Auto-)Biographien realer Personen oder die non-fiction novel.1078 Fälle solcher Art sind für ihn nur auf den ersten Blick problematisch. Es scheine nur so, als ob sie die bisher zugrunde gelegte Erzähl- und Fiktionslogik infrage stellten. Tatsächlich sei das Gegenteil der Fall. Die Texte bezögen ihre Faszination gerade daraus, dass sie »wissentlich und willentlich die allgemein geltenden sprachhandlungs- und erzähllogischen Grenzen zwischen faktualem und fiktional(-phantastisch)em Erzählen übertreten.«1079 Die implizite Paradoxie der Grenzüberschreitung führt laut Zipfel jedoch weder dazu, »die eigentlichen Grenzen zwischen Faktualität und Fiktionalität zu verwischen, noch dazu, daß die etablierten Grenzen neu definiert werden müssten«.1080 Solcherart Texte lenken schlicht die Aufmerksamkeit auf das Vorhandensein der Grenzen, sie seien nicht als Prüfstein, sondern als Ausnahme zu betrachten.1081 Eine eindeutige Kategorisierung des bewusst ambig angelegten Romans scheint an dieser Stelle weder möglich, noch für eine weitere Interpretation nötig, zielführend und fruchtbringend. Die Ambiguität beziehungsweise Hybridität wird somit zunächst als solche akzeptiert und in der Tradition der Realismen des 19. und 20. Jahrhunderts, dem New Journalism wie im Schreiben einzelner bereits genannter Autoren verortet. Besonders die Nähe oder auch 1077 Ebd., S. 243. 1078 Vgl. Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität: Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin: Schmidt 2001, S. 168. 1079 Ebd., S. 169. 1080 Ebd., S. 169f. 1081 Ebd., S. 170.
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Wechselwirkung zwischen dem Realismus beziehungsweise Naturalismus und der non-fiction novel im Umfeld des New Journalism ist noch einmal hervorzuheben. Der naturalistische Roman bedient sich der gleichen Methode der Informationsbeschaffung wie die journalistische Reportage.1082 Der New Journalism wiederum greift bewusst auf Techniken realistischer Schreibweise zurück.1083 Beide Genres stehen sich näher, als es in der Kritik den Anschein macht, beide bewegen sich auf einem ähnlichen Level der ›Paradoxie‹, was dem Schreibzweck und der mit einem Wahrheitsanspruch verknüpften Autorintention geschuldet ist. Interessanter als unauflösbare Gesamtgenrediskussionen zu führen, ist jedoch, einzelne Elemente wichtiger Funktionen der verschiedenen Genres im Text näher zu betrachten. In Gomorra ist dies der starke Fokus auf den Ich-Erzähler, dessen Geschichte vielfach als Autofiktion eingestuft, von einigen jedoch auch dem autobiographischen Erzählen zugeschlagen wird. Es ist eben jene erzählende Instanz, die in den Augen einiger Kritiker die einzige Verbindung in einer Geschichte ohne Plot darstellt. Diese angebliche Absenz des Plots soll im Folgenden transparent gemacht werden. Tatsächlich ist die narrative Struktur des Romans nahezu ebenso umstritten wie sein Genre. Denn es scheint keinen einheitlichen, nachvollziehbaren Plot zu geben. Die kausalen Zusammenhänge der Anordnung der einzelnen Elemente im Werk bleiben zunächst im Dunkeln. Der Text präsentiert auf den ersten Blick eine Aneinanderreihung von Anekdoten, insbesondere von Geschichten persönlicher Schicksale von Figuren in und um Neapel, gespeist mit den Fakten der Recherche in Form von Zahlen und Quellen. Andrea Cortellessa spricht bezüglich Savianos Schreiben von Diskontinuität, von »pezzi diversi« oder »pezzi da antologia«1084. Auch Raffaele Donnarumma empfindet die Kapitel als Teile einer Geschichte, die keine Kontinuität findet.1085 Gilda Policastro sieht in Gomorra zwei Bücher : zum einen die »inchiesta«, die »reportage« und zum anderen den Roman der einzelnen Fälle, der Individuen, der Namen, der Gesichter.1086 Pierluigi Pellini spricht von einer seriellen Akkumulation immer gleicher
1082 Vgl. Martin Kött: Das Interview in der französischen Presse: Geschichte und Gegenwart einer journalistischen Textsorte. Tübingen: Niemeyer 2004, S. 139. 1083 Tom Woolfe führt das explizit auf: »If you follow the progress of the New Journalism closely through the 1960’s you see an interesting thing happening. You see journalists learning the techniques of realism – particularly of the sort found in Fielding, Smollet, Balzac, Dickens and Gogol – from scratch.« Ders. [Hg.]: The New Journalism. With an Anthology. New York [u. a.]: Harper & Row 1973, S. 31. Vgl. dazu auch Kap. 3.3 der vorliegenden Arbeit. 1084 Vgl. Cortelessa 2014, S. 594. 1085 Vgl. Donnarumma 2014, S. 191. 1086 Vgl. Policastro / Benedetti [u. a.] 2008, S. 185.
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Begebenheiten ohne tatsächliche narrative Progression.1087 Anna Bertini beschreibt das Werk folgendermaßen: Saviano […], non scrive un vero e proprio racconto, compiuto nel senso di dotato di protagonisti che agiscono da una condizione iniziale ad una finale, ma una sorta di miscellanea di tanti piccoli episodi e casi umani che insieme descrivono il sistema camorristico fin nelle sue implicazioni nell’economia internazionale.1088
Samuel Ghelli stellt fest: »Ogni capitolo di Gomorra funziona da solo, puk essere letto autonomamente rispetto al resto e in ordine diverso da quello stabilito dall’autore senza per questo compromettere la comprensione e l’unit/ del lavoro complessivo. Infatti nel caso di Gomorra, impercettibile rimane la fabula.«1089 Francesco Bozzi spricht von einem wirren Mosaik, das nicht um ein identifizierbares, narratives Zentrum entsteht. Die narrativen Einheiten Gomorras erschienen logisch unverbunden, dissoziiert und voneinander isolierbar. Gemeinsam hätten sie eine unantastbare Instanz der Infiltration, die einem Mechanismus gleich die Erscheinung der einzelnen Episoden regelt.1090 Er führt aus: In questo senso, H lecito pensare alla narrazione di Gomorra come ad una ›narrazione eccentrica‹, intesa come un meccanismo narrativo in cui non esiste un centro identificabile e indispensabile, ma in cui ogni episodio, proprio a causa della sua sostituibilit/, costituisce un centro mobile temporaneo che si manifesta in modo effimero per poi lasciare il suo posto ad un altro exemplum che reiterer/ la propagazione del Sistema, nello stesso modo in cui i capi della camorra vengono rimpiazzati continuamente senza che il meccanismo ne sia di fatto influenzato.1091
Dem Text wird also eine gewisse narrative Willkür vorgeworfen. Trotzdem funktioniert Gomorra schließlich als ein Ganzes, die einzelnen Teile sind doch miteinander verknüpft. Auch wenn es möglich ist, einzelne Abschnitte oder Kapitel des Romans isoliert zu lesen und ihnen Sinn zu entnehmen, so gehen doch Aspekte verloren, wenn man den Gesamtzusammenhang und die Chronologie außer Acht lässt. Betrachtet man diese genauer, entdeckt man eine plurale Ordnung, die folgende Parameter in sich trägt: 1) Eine innere Ordnung in Form der einzelnen abzudeckenden Teilbereiche der camorristischen Familie und der Arbeitsbereiche der neapolitanischen Ma1087 Vgl. Pierluigi Pellini: »Lo scrittore come intellettuale. Dall’affaire Dreyfuß all’affaire Saviano: modelli e stereotipi«, Allegoria 63 (2011), S. 135–163, hier S. 152. 1088 Anna Bertini: NON-FICTION: forme e modelli. Universit/ degli Studi di Macerata 2013, S. 209, [IQ]. 1089 Samuel Ghelli: »Da Scampia a Gomorra. Nell’archivio di Saviano«, Esperienze letterarie XXXVIII/1 (2013), S. 87–100, hier S. 88. 1090 Vgl. Francesco Bozzi: »Narrazione eccentrica e testimonianza in Gomorra di Roberto Saviano«, Incontri 30/1 (2015), S. 65–75, hier S. 69. 1091 Vgl. ebd., S. 69f.
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fia, die in der Beschreibung stets vom Allgemeinen zum Spezifischen fortschreitet und sich zudem geographisch einteilen lässt. 2) Der im Untertitel angekündigte (Reise-)Weg des erlebenden und aufdeckenden Ich, der, wie zu zeigen sein wird, keinem reinen Zufallsprinzip folgt und mit der inneren Ordnung verwoben ist. Bei diesem Ich wollen wir vom erzählenden Protagonisten sprechen, der ganz eindeutig eine Entwicklung durchläuft. 3) Eine rahmende und damit äußere Ordnung, die durch die starke Fokussierung das Hauptthema des Werkes festlegt und dem Roman eine zirkuläre Struktur gibt: ein durch die Tätigkeiten der ecomafie ausufernder Kapitalismus mit der jeweiligen Ware im Mittelpunkt. Wir wollen hier mit Blick auf die Ware vom erzählten Protagonisten sprechen. Im makrostrukturell zweigeteilten Werk (Prima parte & Seconda parte) entdeckt Aurelio Benevento eine geographische Unterscheidung zwischen den beiden Blöcken: die ersten fünf Kapitel, die die Prima parte umfassen (»Il porto«, »Angelina Jolie«, »Il sistema«, »La guerra di secondigliano«, »Donne«) sind der neapolitanischen Camorra zuzuordnen,1092 während die ersten fünf Kapitel der Seconda parte Probleme der casertanischen Camorra aufzeigen.1093 Das letzte Kapitel fasst das gesamte Gebiet zusammen.1094 Im Hinblick auf dieses geographische Ordnungssystem ist eine einfache Austauschbarkeit der Kapitel nicht mehr gegeben. Im ersten Teil wird nach dem recht unpersönlichen Einstieg1095 in medias res durch »Il porto« und eine Spezifizierung der dort angerissenen Thematik in »Angelina Jolie«1096 in den drei folgenden Kapiteln die Familie umfassend eingeführt. Hierbei ist nicht die mafiöse Familie wie etwa die der Cosa Nostra gemeint,1097 sondern die tatsächliche, das heißt, die Rollen von 1092 Die wichtigsten Schauplätze sind der Hafen, die Spanischen Viertel (Quartieri spagnoli), Scampia und Secondigliano. 1093 Die wichtigsten Schauplätze sind Casal di Principe und Mondragone (im Nordwesten von Neapel), Letzteres wird in seiner Achse zu Aberdeen in Schottland dargestellt. Die terra dei fuochi umfasst mehr oder weniger die gesamte nördliche Peripherie Neapels. Das am stärksten belastete Gebiet liegt im Bereich der Orte Acerra-Nola-Marigliano im Nordosten Neapels und wird als Dreieck des Todes bezeichnet. Vgl. Kathryn Senior / Alfredo Mazza: »Italian ›Triangle of Death‹ Linked to Waste Crisis«, The Lancet Oncology 5/9 (September 2004), S. 525–527, [IQ]. 1094 Vgl. Benevento 2010, S. 71. 1095 Dieser lässt zunächst nur auf einen reportageartigen Bericht schließen, führt dann aber recht schnell das erzählende Ich ein. 1096 »Il porto« thematisiert übergreifend die Ankunft der verschiedenen Waren aus dem Ausland – vor allem China – in Neapel, »Angelina Jolie« zoomt auf die Produktion mit besonderem Blick auf die Modebranche. Es geht also stets um Waren in ihrem Anfangszustand. 1097 Die ›Familie‹ der Cosa Nostra zeichnet sich nicht durch biologische Verwandtschaft aus,
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jeweils Mann, Frau und Kindern, hier mit besonderem Blick auf rezente Veränderungen in den camorristischen Strukturen, die die Unantastbarkeit von Frau und Kind außer Kraft setzen und ihnen neue Aufgabenbereiche zuteilen. Das Kapitel »Il sistema« gibt dem Leser einen Überblick über die Clans des neapolitanischen Umlands,1098 es bietet einen eingeschobenen historischen Abriss und schafft so die theoretische Grundlage, hier ohne dem Rezipienten eine Identifikationsinstanz anzubieten.1099 Personell ist es dominant maskulin. Aufgeführt und vorgestellt werden vor allem die Bosse mit ihren Eigenheiten, Tätigkeitsbereichen und Spitznamen.1100 Man gewinnt den Eindruck, einem patriarchalisch organisierten System gegenüberzustehen. Frauennamen findet man nur zwei, eine dem Clan der Licciardi angehörige, nicht näher spezifizierte Maria1101 und Luisa Di Lauro, die als Ehefrau von Paolo Di Lauro in ihrer Funktion als Mutter zehn männlicher Nachkommen der Di Lauro-Dynastie genannt wird. Die Textstelle ist interessant und verknüpft die innere Ordnung aus Punkt 1 mit der in Punkt 3 zu diskutierenden Rahmung des Textganzen. Im Original heißt es: I Di Lauro sono una dinastia, costruita con abnegazione. Luisa Di Lauro aveva generato dieci figli, e come le grandi matrone dell’industria italiana aveva aumentato progressivamente la prole in base al successo industriale. Tutti inseriti nel clan, Cosimo, Vincenzo, Ciro, Marco, Nunzio, Salvatore, e poi i piccoli, quelli ancora minorenni. .1102
Auffällig in diesem Abschnitt ist das gewählte Vokabular : Kinder werden einer technischen Notwendigkeit gleich generiert, dem Clan eingespeist und dem industriellen Erfolg anheimgegeben.1103 Der Mensch erscheint im kapitalistischen System von Beginn an nur funktionalisiert. Die Passage befindet sich gegen Ende des Kapitels und stellt bereits den Übergang zu »La guerra di Secondigliano« dar, in denen die Clankriege Neapels das offizielle Hauptthema sind, der empathische Fokus jedoch auf der Darstellung der baby killer, also dem
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sondern ist vielmehr eine Art Zelle der Mafia, über die ein Boss den Vorsitz hat. Vgl. dazu John Dickie: Omert/. Die ganze Geschichte der Mafia. Camorra, Cosa Nostra und ’Ndrangheta. Aus dem englischen von Irmengard Gabler. Frankfurt am Main: Fischer 2013, S. 33. Genannt werden zum Beispiel die Clans Licciardi, Contini, Mallardo, Lo Russo, Bocchetti, Stabile, Prestieri, Bosti, Sarno und Di Lauro. Vgl. Saviano 2008, S. 50. Ebd., S. 48–70. Genannt werden (Auswahl) Paolo Di Laura (S. 54, 64, 65, 68, 69), Raffaele Cutolo (S. 55, 62), Carmine Alfieri (S. 55, 65, 68), Antonio Bardellino (S. 55), Gennaro Licciardi (S. 58, 60) Pietro Licciardi (S. 59), Mario Schiavone (S. 67), Francesco Bidognetti (S. 67), Francesco Schiavone (Sandokan, S. 68). Vgl. Saviano 2008, S. 60. Ebd., S. 69. Dass es sich hier um das biologische ›Zeugen‹ handeln könnte, macht wenig Sinn, da dies sprachlich dem Vater zuzuschreiben wäre.
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camorristischen Nachwuchs liegt.1104 Diese baby killer werden dabei als in Bezug auf Verhalten wie Verantwortung den erwachsenen Mafiosi nahezu gleichstehend gezeichnet. Der Einsatz von Kindern für camorristische Verbrechen und der damit einhergehende ›Raub‹ der Kindheit ist eine Neuerung im System, die der Anwalt und Schriftsteller Diego De Silva für die 90er Jahre ansetzt1105 und die sich im Text folgendermaßen niederschlägt: Questi ragazzini affiliati hanno comportamenti e responsabilit/ da camorristi maturi. Iniziano la carriera molto presto, bruciano le tappe e la loro scalata ai posti di potere all’interno della camorra sta radicalmente cambiando modificando la struttura genetica del clan. Capizona bambini, boss giovanissimi divengono interlocutori imprevedibili e spietati che seguono nuove logiche, impedendo a forze dell’ordine e Antimafia di comprenderne le dinamiche.1106
Die bisher in ihrer Hauptsache männlich konnotierte und patriarchalisch dominierte Mafia wird hier zunächst verjüngt und ›erneuert‹ und bekommt im darauffolgenden Abschnitt zudem einen weiblichen Schwerpunkt. Erst durch die Frauen, denen in ihrer Entwicklung und Funktion ein ganzes Kapitel gewidmet ist (»Donne«), wird die camorristische ›Familie‹ anthropologisch vervollständigt. Eingeführt werden die Frauen durch das Sinnliche, im ersten Schritt über den Duft: »Mi rimaneva sotte le narici l’odore pesante dei deodoranti, delle lacche, dei profumi dolci. Le donne sono sempre presenti nelle dinamiche dei clan.«1107 Das Kapitel zeichnet die Entwicklung der Frauen von Rächerinnen ihrer ermordeten Ehemänner, zu eigenen Wirtschafterinnen und Clanführern bis zu Killern nach,1108 eine eigene Geschichte der Emanzipation, bis am Ende feststeht: »Nessuna differenza tra uomo e donna. Nessun presunto codice d’onore.«1109 Seine besondere Tragik findet das Kapitel im Tod der jungen Annalisa Durante, die stellvertretend für die jungen Mädchen Neapels steht. Von einem Querschläger getroffen, verstirbt sie im Alter von 14 Jahren.1110 Am Schluss des ersten Teils des Buches kommt der Autor zurück zum geographi-
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Vgl. Saviano 2008, S. 114–124. Vgl. De Silva im Gespräch mit Rai Cultura / Letteratura über Certi bambini, [HP]. Saviano 2008, S. 120. Ebd., S. 152. Ersichtlich etwa an folgender Passage: »Il boss Biagio Cava venne arrestato […]. Una volta in carcere tutto il potere andk nelle mani della figlia, della moglie, delle donne del clan. Solo le donne si fecero vedere in paese, non erano soltanto le amministratrici occulte, le menti, ma divennero anche il simbolo ufficiale delle famiglie, le facce e gli occhi del potere. […] La tensione in paese era altissima quando le donne dei Cava compresero che era giunto il tempo di imbracciare le armi. Da imprenditrici dovevano divenire killer.« Saviano 2008, S. 165. 1109 Ebd., S. 162. 1110 Siehe ebd., S. 167ff.
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schen Schauplatz Stadt, die für ihre Bewohner, zumindest in einigen Bezirken, gleichzeitig immer auch Schicksal ist. Anfang und Ende des ersten Teils von Gomorra thematisieren den Tod, der einer allmächtig gewordenen Wirtschaftskriminalität geschuldet ist. Die mörderische Schleife verbindet in einem wirtschaftlichen System, das als vollständige Familie seinen Ursprung im Umland Neapels nimmt und weltweit agiert, globale (die toten Chinesen in Kapitel 1) mit lokalen Opfern (Annalisa Durante). Das grundlegende Bild ist geschaffen. So wie das Kapitel »Il porto« in die Prima parte einführt, so stellt »Kalashnikov« die Weichen für die Seconda parte. Während »Il porto« mit einem auf den ersten Blick auktorialen Erzähler einsteigt, um in seinem Verlauf nach und nach dem erzählenden Protagonisten mehr Raum zu geben, beginnt »Kalashnikov« mit einer wesentlich subjektiveren, fast halluzinatorischen Betrachtung von Einschusslöchern einer Kalaschnikow aus Sicht des Ich-Erzählers, um sodann nüchterne Erklärungen folgen zu lassen.1111 Der Ablauf ist spiegelverkehrt zum Incipit. Generell dominiert der Ich Erzähler den zweiten Teil Gomorras signifikant stärker als den ersten.1112 Zunächst wird sowohl das gegenwärtige, erzählende Ich legitimiert als auch das vergangene erzählte Ich im Kapitel »Kalashnikov« grundlegend aufgebaut.1113 Dass dies über die Symbolik einer weltweit bekannten Waffe geschieht, ist bezeichnend. Das Thema des Todes steckt somit auch im Titel des in die Seconda parte einführenden Kapitels. Die Kalaschnikow – so erfährt der Leser – ist das für den Menschen tödlichste Instrument der Welt1114 und ihr Preis gilt gleichzeitig als Maßeinheit zur Bestimmung des Status der Menschenrechte.1115 Es ist ein Bild, das Kapitalismus und Tod unabdingbar miteinander verschränkt. Es folgen die Kapitel über die – wie Benevento fest1111 Vgl. ebd., S. 177. 1112 Ein Umstand, der sich zumindest zum Teil aus – unter diesem Gesichtspunkt nicht außer Acht zu lassenden – autobiographischen Faktoren heraus erklären lässt. Zwar sind kaum Details zum Leben des Autors vor dem Erscheinen Gomorras bekannt, nach eigenen Aussagen hat er jedoch vor seinem Studium das Liceo scientifico statale Armando DIAZ in Caserta besucht, eine städtische Schule, die einen großen Teil der Kinder aus dem Hinterland der casertanischen Provinz aufnimmt. Vgl. hierzu die am 21. April 2010 auf Current.tv ausgestrahlte Dokumentation »Saviano racconta Saviano«, [HP]. 1113 Es lässt sich hier ein eindeutiger autobiographischer Pakt schließen und stärker als zuvor kommen Kindheitserinnerungen im Anschluss an einen familiären Rahmen zum Tragen. 1114 »Al mondo non esiste cosa, organica o disorganica, oggetto metallico, elemento chimico, che abbia fatto piF morti dell’AK-47. Il kalashnikov ha ucciso piF della bomba atomica di Hiroshima e Nagasaki, piF del virus dell’HIV, piF della peste bubbonica, piF della malaria, piF di tutti gli attentati dei fondamentalisti islamici, piF della somma dei morti di tutti i terremoti che hanno agitato la crosta terrestre. Un numero esponenziale di carne umana impossibile persino da immaginare.« Saviano 2008, S. 195. 1115 »Per valutare lo stato dei diritti umani invece gli analisti osservano il prezzo a cui viene venduto il kalashnikov.« Ebd., S. 199.
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gestellt hat – Gebiete der casertanischen Mafia. Hier liegt der erzählerische Schwerpunkt auf der Bauindustrie (»Cemento armato«), der Rolle der Kirche (»Don Peppino Diana«), dem Kino und seinen Auswirkungen auf den kampanischen ›Alltag‹ (»Hollywood«) sowie auf der Verbindung nach Schottland (»Aberdeen Mondragone«). Dominiert werden sie jedoch von den Gefühlen und Aktionen des Ich-Erzählers. Das Thema der Bauindustrie in »Cemento armato« steht nicht allein im Fokus, sondern ist zudem Vorwand, um Pasolinis berühmten »Romanzo delle stragi« zu zitieren und einen spezifischen Wahrheitsbegriff ins Feld zu führen. »Don Peppino Diana« ist die katholische Spiegelfigur des Autor-Erzählers im Anti-Camorra-Kampf, der die poetologische Grundlage des Werkes stellt, die schließlich in der Diskussion um Einfluss durch Kino und Literatur auf Kampanien sowohl Notwendigkeit als auch Legitimation erfährt. Während die Prima parte vornehmlich das zu bekämpfende System darstellt, zeichnet die Seconda parte stärker den Aufruf zum und die Mittel für den Kampf.1116 Das Kapitel »Aberdeen Mondragone«, in dem die Beziehung zwischen Schottland und Kampanien thematisiert wird, nimmt seinen Ausgangspunkt zwar noch im casertanischen Einzugsgebiet der Camorra (Mondragone), erweitert dieses jedoch ins Ausland und steht somit in einer Sonderstellung. Es spiegelt den Anfang Gomorras, in dem Waren aus aller Welt in das lokale Gefüge Neapels eindringen – also ein Importprozess – während im vorletzten Kapitel lokal-neapolitanische Strukturen ins Ausland befördert werden. Diese Spiegelsituation verankert die erzählten Geschehnisse endgültig in einem reziprok glokalen Gefüge. Es ist zudem das erste und einzige Kapitel, in dem das erzählende Ich italienischen Boden verlässt und mit dem klaustrophobischen Gefühl zurückkehrt, in einer homogenen, aber zerstörerischen Wirklichkeit wirtschaftlicher Kriminalität zu ersticken, die ihre Tentakeln überall gleichermaßen hat. Der Ich-Erzähler beschreibt das Gefühl, di sentirmi stritolato in una realt/ di cose che somigliava a un pollaio di bestie affamate e ammassate, pronte a mangiare per essere mangiate. Come se tutto fosse un unico territorio con un’unica dimensione e un’unica sintassi ovunque comprensibile. Una sensazione di non scampo, una costrizione a essere parte della grande battaglia o a non essere.1117
Trotz oder gerade wegen dieser Sonderstellung ist die narrative Einordnung dieses Kapitels nicht austauschbar. Es zeichnet den Endpunkt der Reise des erlebenden Ich, die im Süden der Stadt beginnt und bis ins nördliche Hinterland und darüber hinaus reicht. Sie nimmt im neapolitanischen Hafen mit der An1116 Nichtsdestotrotz soll die inhaltliche Wichtigkeit des Erzählten nicht heruntergesetzt werden. 1117 Saviano 2008, 307f.
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kunft der illegalen Waren ihren Anfang, bei deren Entladung das erlebende Ich noch aus zufälliger Neugier heraus mithilft.1118 Die Erkenntnis über allgemeingültige Strukturen extrapoliert der Ich-Erzähler nach Verlassen des heimischen Gebietes mit seiner Rückkehr. Es scheint demnach durchaus ein Entwicklungsprozess des erzählenden Protagonisten angelegt zu sein, der jedoch an die zyklische Transformation der Waren gekoppelt ist: an die Wirtschaftskriminalität in einem kapitalistischen System. Dieser zyklische Transformationsprozess, der im Romanganzen Geld zu Ware, Ware zu Müll und Müll wiederum zu Geld werden lässt, findet sein erzählerisches Ende im Kapitel »Terra dei fuochi«, das – wie Benevento richtig bemerkt – die Gebiete der Provinz Caserta und der Provinz Neapel zusammenführt. Es kommt zu einer geographischen Verbindung, die auch die beiden makrostrukturellen Teile Prima parte und Seconda parte des Werkes verschmilzt. Die erzählerische ›Richtung‹, die von Süd nach Nord voranschreitet, folgt der Logik des Produktions- und Abbauprozesses, von der Neuware zum Abfallprodukt. Nach und nach manifestiert sich eine plurale Ordnung im zunächst undurchsichtig strukturierten Roman. Die in Punkt 3 konstatierte Struktur von Gomorra, die vom Weg der Ware vorgegeben wird, hat Francesco Migliaccio bereits aufgezeigt: Il ciclo della produzione e del consumo delle merci attraversa Gomorra e ne organizza la disposizione dei capitoli: dagli scambi commerciali nel Mediterraneo e in Europa (»Il porto«, primo capitolo), fino alla gestione dei rifiuti da parte della criminalit/ campana (»Terra dei fuochi«, l’ultimo capitolo). La trasformazione della materia fornisce una direzione di senso al testo: le merci giungono al porto, confluiscono nei mercati nazionali e internazionali e ritornano come cumuli di scorie da ammassare nelle aree dell’hinterland.1119
Eine interessante Beobachtung ist, dass die Titel des ersten und des letzten Kapitels von Gomorra jeweils auf einen Ort beziehungsweise eine Region referieren, die in einem elementaren Gegensatz zu stehen scheinen: »Il porto«, der Hafen und »Terra dei fuochi«, Feuerland. Es sticht ins Auge, dass zwei gegensätzliche Elemente das Werk rahmen: das vom Hafen aufgerufene Wasser und das im Namen des Gebiets implizierte Feuer. Allerdings sind weder Wasser noch Feuer in ihrer Funktion reinigend, sondern je verseucht und begrenzen einen metaphorisch kranken Streifen Land. Das erste Kapitel, »Il porto«, legt die thematischen Grundlagen fest: die wirtschaftlichen Machenschaften der Mafia in einer vom Kapitalismus regierten Welt, dargestellt anhand einer Stadt, die zur 1118 »ero finito per curiosit/ a scaricare merce clandestina«, Saviano 2008, S. 23. 1119 Francesco Migliaccio: »Gomorra: il linguaggio, le merci, i rifiuti«, In: Gianluca Cuozzo [Hg.]: Resti del senso. Ripensare il mondo a partire dai rifiuti. Roma: Aracne 2012, S. 139– 153, hier S. 139. Dieser dritte (äußere) Ordnungsstrang wird in Kap. 6.3.1 der vorliegenden Arbeit ausführlich behandelt.
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Roberto Savianos Gomorra: Hybrider Realismus
porta mundi wird, Neapel. Alles, was existiert, alles, was produziert wird, findet seinen Weg in den neapolitanischen Hafen. Die terra dei fuochi hingegen ist eine weitläufig genutzte und ›agierende‹ Müllhalde, die Restprodukte erneut zu Profit werden lässt. Die Ware steht stets im Mittelpunkt des Geschehens. Pellini geht sogar so weit zu sagen, dass einzig der Fluss der Ware und des Geldes im Werk nötig seien, die Protagonisten mehr oder minder zur Funktion herabgesetzt würden: Sie bekämen so den Status von Statisten.1120 Die verschiedenen Ordnungsstränge sind ähnlich den verschiedenen Genres ineinander verwoben und somit nicht auf den ersten Blick klar erkennbar. Sie stehen allerdings nicht nur in friedlicher Konnivenz beieinander, sondern bedingen sich (zumindest in Teilen) gegenseitig. Der Annahme einer völligen Willkür und Unabhängigkeit der einzelnen Kapitel untereinander ist somit nachdrücklich zu widersprechen. Der Ich-Erzähler scheint so die ihm von vielen Kritikern zugesprochene Rolle als der eines reinen Verbindungsglieds nur zum Teil zu erfüllen. Wie er das tut und was ihm darüber hinaus für eine Funktion zukommt, soll im Folgenden aufgezeigt werden.
6.2
Die Rolle der ›Selbst-Erzählung‹: Das Ich zwischen Pluralität und Authentizität
Gomorra und den Erfolg des Werkes ohne die tatsächliche Person, den realen Autor, die Figur des Ich-Erzählers Roberto Saviano zu denken, ist unmöglich. Der Text bezieht seine Wahrhaftigkeit in großen Teilen aus dem Umstand, dass der Ich-Erzähler nicht schlicht ein Detektiv oder Journalist ist, sondern eine Person, die (zumindest partiell) ›selbst erlebte‹ Ereignisse erzählt.1121 Die ›SelbstErzählung‹ nimmt im Werk weiten Raum und eine wichtige Funktion ein. Alessandro Dal Lago bezeichnet das Resultat der verschränkten Stränge des Ich als einen Mythos der Gegenwart1122 und schreibt Saviano (ironisch) Dreifaltigkeit zu: 1120 Pellini 2011, S. 153. 1121 So in etwa formuliert es Casadei: »Gomorra fonda il suo primo livello di veridicit/ sul fatto che l’io narrante non H un investigatore che tenta razionalmente di ricostruire i fatti in base agli indizi, n8 un giornalista che raccoglie testimonianze e propone un suo resoconto: H una persona, Roberto Saviano, che ha partecipato a determinate azioni e ha visto direttamente molto di quello che riferisce«. Alberto Casadei: »La letteratura dell’esperienza. Storie di ordinaria camorra«, In: Ranieri Polese [Hg.]: Il romanzo della politica. La politica nel romanzo. Parma: Ugo Guanda Editore 2008, S. 17–26, hier S. 17. 1122 »Nel caso Saviano, tuttavia, dietro l’autore e il suo libro si profila il personaggio – insieme vittima, testimone, accusatore e giudice –trasformato in mito contemporaneo.« Dal Lago 2010, S. 22.
Die Rolle der ›Selbst-Erzählung‹: Das Ich zwischen Pluralität und Authentizität
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Sul piano della pagina scritta, troviamo l’io narrante, la prima persona letteraria, dietro la quale spunta una seconda prima persona, l’autore, senza la quale la prima non esisterebbe. Ma nel caso di Gomorra ce n’H anche una terza, ovvero la prima persona reale o esistenziale, che H sia oggetto delle prime due nel testo, sia la loro condizione di esistenza (senza il Saviano in carne ed ossa coinvolto ›in prima persona‹ in certe vicende non avremmo n8 l’autore n8 l’io narrante).1123
Als erster Punkt ist daher mit Dal Lago zu konstatieren, dass es zu einer Art Grenzüberschreitung, zu einer eindeutigen Verbindung zwischen extratextueller Wirklichkeit und dem Erzählten kommt, nämlich durch die Verwendung eines Ich-Erzählers, der so eindeutig an den realen Autor und dessen Persönlichkeit gebunden ist, dass eine strikte Trennung nicht möglich scheint.1124 Das geht so weit, dass vielfach biographische Aussagen zur Person anhand seines Werkes getroffen werden. Gomorra bewegt sich damit eindeutig in einem autobiographischen beziehungsweise autofiktionalen Rahmen. Da in den Ausführungen zum Genre eine klare Abgrenzung bereits ad acta gelegt wurde, soll nun auch hier nicht auf einer eindeutigen Genre-Zuordnung bestanden werden. Die Elemente der ›Selbst‹-Erzählung werden als unabdingbare Requisiten im Rahmen eines neuen realistischen Schreibens gelesen. Ob diese allerdings eher der Autobiographie oder der Autofiktion zuzuschlagen sind, soll anhand einer theoretischen Erläuterung der Konzepte festgemacht werden. Der Begriff der Autobiographie ist seit dem Erstarken poststrukturalistischer und postmodernistischer Theorien, die auch die vorgängige Einheit des Subjekts tangieren, stark in den Hintergrund getreten und war im literarischen Diskurs zeitweise fast ebenso ›unmöglich‹ wie der Gedanke an realistisches, referenzielles Schreiben. Die Selbst- oder Ich-Erzählung, die durch die Jahre in literarischen Werken ungebrochen stark präsent ist, findet ihren Platz zwischenzeitlich in der Autofiktion, der – so soll sie an dieser Stelle ruhig benannt werden – postmodernistischen Autobiographie. Clotilde Bertoni, Raffaello Palumbo Mosca und Daniele Giglioli wollen Gomorra in diesem Bereich verortet sehen.1125 Ein wenig befremdlich, beziehungsweise schlicht sehr reduziert, sind jedoch die jeweiligen Ansichten, die hier zur Autofiktion vertreten werden. Clotilde Bertoni spricht in Bezug auf die Autofktion von einer »narrazione au1123 Ebd., S. 31f. Dal Lago macht eine Reihe interessanter Beobachtungen zu Gomorra, die ungünstigerweise unter dem häufig ironischen Stil seiner Monographie leiden. 1124 Dal Lago führt weiter aus: »Si H dunque visto che l’io narrante trapassa senza difficolt/ dall’extradiegesi piF o meno saggistica (carrellate sull’economia globale e criminale alternate a riflessioni filosofico-economiche) all’infradiegesi. In altri termini, l’io narrante chiama in causa il Saviano reale o esistenziale, quello che indagato dal vivo i mondi camorristi.« Ders. 2010, S. 52. 1125 Clotilde Bertoni: »Sfida al trauma«, Le parole e le cose. Letteratura e realt/ (28. 09. 2011), [IQ]. Palumbo Mosca 2009, S. 316 und Giglioli 2013, S. 53f.
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Roberto Savianos Gomorra: Hybrider Realismus
tobiografica vistosamente impastata di invenzione.«1126 Giglioli – bereits mit explizitem Blick auf Gomorra – führt aus: La regola aurea dell’autofinzione recita: io so, io ho visto, io ricordo, io penso, io c’ero e ne rispondo. Le percezioni sono mie, mie sono le idee e le illusioni, le ragioni e i torti, le vittorie, le sconfitte, e perfino le invenzioni, le menzogne e le falsificazioni. Fosse anche tutto falso, H il mio falso che vi sto sottoponendo, e in quanto mio H comunque autentico.1127
Nach Gigliolis Ausführungen scheint es weniger wichtig, ob das Dargestellte den Tatsachen entspricht, dafür aber umso wichtiger, dass das Register durchgehalten wird, das eben diesen Umstand fokussiert, die Wahrheitspräambel.1128 Gerade Wahrheit, Wissen und Referenz – vor allem in ihrer eindeutigen Darstellbarkeit – sind jedoch Bereiche, die im postmodernistischen Feld, dem auch die Autofiktion angehört, vielfach ge- beziehungsweise zerbrochen werden. Um eine klare Grundlage zur Einordnung und Funktion der ›Selbst-Erzählung‹ in Gomorra bieten zu können, sollen im folgenden Autobiographie und Autofiktion in ihrer Diversität beleuchtet werden. Die Wurzeln der aktuellen Autobiographieforschung sind nach wie vor, auch wenn einige seiner frühen Ansätze mittlerweile kritisch diskutiert werden, in den Schriften Philippe Lejeunes zu verorten. Die sich mittlerweile immer weiter verästelnden Tendenzen und Erörterungen dieses Themas führen zu einem breiten Feld der Diskussion, sodass teilweise noch nicht einmal klar abzugrenzen ist, ob es sich bei autobiographischem Schreiben um ein eigenes Genre, eine Disziplin oder eher eine ›Praktik‹ handelt.1129 Gerade die Vielfältigkeit der möglichen Anwendungsgebiete dieser ›Praktik‹ machen den autobiographischen Kontext für die vorliegende Untersuchung fruchtbar, weswegen grundlegende Züge im Verlaufe der letzten Jahrzehnte im Hinblick auf die hier vorzunehmende Analyse herausgearbeitet werden sollen. Die viel zitierte Basis der Autobiographie ist Lejeunes Definition eines »R8cit r8trospectif en prose qu’une personne r8elle fait de sa propre existence, lorsqu’elle met l’accent sur sa vie individuelle, en particulier sur l’histoire de sa personnalit8.«1130 Während einige dieser Merkmale durchaus Spielraum zulassen, werden zwei Bedingungen als unabdingbar angesehen, um die Autobiographie von der Biographie und dem Ich-Du-Roman abzugrenzen und den 1126 Bertoni (28. 09. 2011), [IQ]. 1127 Giglioli 2013, S. 53. 1128 »Tutto vero? Veduto veramente? Poco importa. Importa invece che sia questo il registro dominante in tutto il libro.«, schreibt Giglioli 2013, S. 67. 1129 Vgl. dazu z. B. Serge Doubrovsky : »Nah am Text«, Kultur und Gespenster 7 (2008), S. 123– 133, hier S. 123. 1130 Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique. Nouv. 8d. augm. Paris: Pditions du Seuil 1996, S. 14.
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autobiographischen Pakt zwischen Autor und Leser schließen zu können: »Pour qu’il y ait autobiographie […], il faut qu’il ait identit8 de l’auteur, du narrateur et du personnage.«1131 Als wichtiges Indiz kommt hier der Name ins Spiel. »L’autobiographie […] suppose qu’il y ait identit8 de nom entre l’auteur (tel qu’il figure, par son nom, sur la couverture), le narrateur du r8cit et le personnage dont on parle.«1132 Sei dies nicht der Fall, so Lejeune, gebe es keine einbekannte Identität, sondern lediglich Ähnlichkeit, und somit handle es sich nicht um eine Autobiographie, sondern maximal um einen autobiographischen Roman, also einen fiktionalen Text, in dem man Grund zu der Annahme hat, es bestehe eine Identität zwischen Autor und Protagonist. Hierbei gibt es, im Gegensatz zur Autobiographie, Gradunterschiede.1133 Die für die reine Autobiographie eingeforderte Namensgleichheit zwischen Autor und Erzähler kann implizit (»implicitement«) oder offenkundig (»de maniHre patente«) sein, aber in jedem Fall muss sie durch eine der beiden Kategorien gegeben werden,1134 denn: »Ce qui d8finit l’autobiographie pour celui qui la lit, c’est avant tout un contrat d’identit8 qui est scell8 par le nom propre.«1135 Die Entscheidung, ob eine Autobiographie vorliegt oder nicht, liegt also im Endeffekt beim Leser, der die verschiedenen Elemente aus Eigennamen auf dem Buchdeckel und eventuellen weiteren Indizien im Peritext mit den im Haupttext getroffenen Aussagen verknüpft oder eben nicht. Dieses Angebot an den Leser »verlagert die Debatte weg von einem essentialistischen Gattungsverständnis hin zu einer rezeptionsästhetischen Entscheidung.«1136 Ein weiterer wichtiger Punkt in Lejeunes Definition ist, dass sowohl Biographien als auch Autobiographien – im Gegensatz zu fiktionalen Texten – referenzielle Texte sind, die den Anspruch haben, Aussagen über eine extratextuelle Realität zu treffen und sich somit der Wahrheitsprobe zu unterwerfen.1137 So ergibt sich ein »pacte r8f8rentiel«, der im Falle der Autobiographie deckungsgleich mit dem »pacte autobiographique« sein sollte.1138 Zudem stehe er dem »pacte de fiction« entgegen.1139 1131 1132 1133 1134 1135 1136
Ebd., S. 15. Ebd., S. 25. Vgl. ebd., S. 24f. Vgl. ebd., S. 27. Ebd., S. 33. Martina Wagner-Egelhaaf [Hg.]: Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 11. 1137 Vgl. ebd., S. 36. 1138 Vgl. ebd., S. 36f. 1139 Noch 2009 erläutert Lejeune: »Le pacte autobiographique s’oppose au pacte de fiction. Quelqu’un qui vous propose un roman (mÞme s’il est inspir8 de sa vie) ne vous demande pas de croire pour de bon / ce qu’il raconte: mais simplement de jouer / y croire. L’autobiographe, lui, vous promet que ce que qu’il va vous dire est vrai, ou, du moins, est ce
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Dass beim Erinnerungsprozess, dem die Autobiographie zwangsläufig unterliegt, Perfektion nahezu unmöglich ist, ist für den Leser zweitrangig, wenn er sicher ist, dass vom Autor eine größtmögliche Ähnlichkeit angestrebt wurde. »Der Text soll als faktualer aufgefasst werden«.1140 Claudia Gronemann weist in Analogie zu realistischem Schreiben darauf hin, dass die Autobiographie, um Authentizität zu erlangen, auf textuelle Kohärenz abzielt.1141 Christina Schaefer stellt fest: »Die Autobiographie kann, muss aber nicht ›rein‹ faktual sein; sicher bleibt sie jedoch überwiegend faktual.«1142 Es sind nun gerade dieser Authentizitätsanspruch sowie die allmähliche Veränderung der Vorstellung des Subjektbegriffs, die zu einem Bruch mit dieser ursprünglichen Tradition führen. Eine Gruppe Aufklärungskritiker, denen »Foucault in seiner ›archäologischen‹ Phase und Derrida zuzurechnen sind […], postulieren das Ende des Subjekts, […] oder vielmehr : sie erklären, daß der Autonomisierungsprozess des Subjekts von vornherein eine durch den Terror reiner Vernunft erzeugte Illusion war.«1143 Gerade dieses »Unbehagen gegenüber den konventionellen Vorstellungen von Subjektivität«1144, wie Gronemann es nennt, führt spätestens ab Mitte der 70er Jahre das Autobiographische in eine neue Dimension.1145 Es ist 1977 der Kritiker und Schriftsteller Serge Doubrovsky, der im Klappentext seines Buches Fils den Begriff der autofiction verwendet als: »Fiction, d’8v8nements et de faits strictement r8els: si l’on veut, autofiction, d’avoir confi8 le langage d’une aventure / l’aventure du langage, hors sagesse et hors syntaxe du roman, traditionnel ou nouveau.«1146 Außerdem führt er an, dass die Autobiographie aufgerufen, zugleich aber wieder eliminiert wird. Sie ist »verbotenes Terrain, nur
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qu’il croit vrai. Il se comporte comme un historien ou un journaliste, avec la diff8rence que le sujet sur lequel il promet de donner une information vraie, c’est lui-mÞme.« Ders.: »Qu’est-ce que le pacte autobiographique?«, Autopacte. Site propos8e par Philippe Lejeune (2006), [IQ]. Vgl. Christina Schaefer : »Die Autofiktion zwischen Fakt und Fiktion«, In: Irina O. Rajewsky / Ulrike Schneider [Hg.]: Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag. Stuttgart: Steiner 2008, S. 299–326, hier S. 305. Vgl. Claudia Gronemann: »Autofiktion und das Ich in einer Signifikantenkette. Zur literarischen Konstitution des autobiographischen Subjekts bei Serge Dubrovsky«, Poetica 31 (1993), S. 237–262, S. 240. Lejeune kommentiert: »Ce qui importe, c’est moins la ressemblance de ›Rousseau / l’.ge de seize ans‹, repr8sent8 dans le texte des Confessions, avec le Rousseau de 1728, tel qu’il 8tait, que le double effort de Rousseau vers 1764 pour peindre: 1) sa relation au pass8; 2) ce pass8 tel qu’il 8tait, avec l’intention de ne rien y changer.« Lejeune 1996, S. 40. Schaefer 2008, S. 306. Vgl. Paul Geyer: Die Entdeckung des modernen Subjekts: Anthropologie von Descartes bis Rousseau. Würzburg: Königshause& Neumann 2007, S. 2. Gronemann 1993, S. 238. Vgl. ebd. Serge Doubrovsky : Fils. [Paris]: Gallimard 2001, Unbetiteltes Vorwort, [Hervorhebung im Original].
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für berühmte Leute«.1147 In Bezug auf Fils formuliert er den Anspruch, »über die Vorzüge des poetischen Wortes und vor allem der wohlklingenden Schrift […] sogar aus dem Scheitern des rein gelebten Referenziellen noch einen Adelstitel zu machen«.1148 Die Autofiktion entwickelt sich nicht zufällig zeitgleich mit Tendenzen, die zu postmodernistischer Literatur führen. »Modernes und postmodernes autobiographisches Schreiben arbeitet an der Wiederherstellung des Verlorenen, der Zeit und der Einheit des Subjekts und versteht sich als Form kreativer sprachlicher Auseinandersetzung mit modernen defizitären Lebenswelten«, so Saskia Wiedner.1149 Die Frage nach der außertextlichen Welt und somit der Referenzialität gerät jedoch immer mehr ins Abseits. Im Anschluss an den linguistic turn treten, ganz im Gegenteil, Komponenten der produktionsästhetischen Seite, also die Konstruktion durch den sprachlichen Akt autobiographischer Fiktion in den Mittelpunkt des Interesses.1150 Dieses ›Kippen‹ des ursprünglichen Konzepts der Autobiographie durch die »Ermächtigung der Sprache«, koppelt Wiedner an die im Zuge poststrukturalistischer Theorien entstandene barthsche These vom Tod des Autors.1151 Gronemann spricht von einer »Zeit des Mißtrauens«.1152 Das Authentizitätspostulat sei für Autoren dieser Generation »nicht nur unerfüllbar, sondern prinzipiell obsolet«.1153 In Rückgriff auf Genettes »C’est moi et ce n’est pas moi« sieht Schaefer die Ambiguität der Autofiktion wesentlich in einer widersprüchlichen Kommunikationssituation begründet.1154 Dieser These folgend steht die Autofiktion in ihrer Ambiguität als gewollter Effekt von Konstruiertheit der auf Homogenität und Referenzialität in Bezug auf das erzählende Subjekt abzielenden Autobiographie diametral gegenüber. In Italien erfreut sich die Selbst-Erzählung verschiedener Art seit einiger Zeit großer Beliebtheit. Giacomo Raccis sieht die Autofiktion seit etwa einem Jahr-
1147 Doubrovsky 2008, S. 124. 1148 Vgl. ebd. 1149 Vgl. Saskia Wiedner : »Theorie der Autobiographie im 20. und 21. Jahrhundert«, In: Günter Butzer / Hubert Zapf [Hg.]: Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. VI. Tübingen: Francke 2013, S. 77–99, hier S. 80. 1150 Vgl. ebd., S. 85. 1151 Vgl. ebd., S. 88. 1152 Vgl. Gronemann 1993, S. 239. 1153 Vgl. ebd. 1154 Vgl. Schaefer 2008, S. 308. Sie formuliert: »Während die Autobiographie die Identifikation von Autor und Erzähler proklamiert und der Roman zwischen beiden streng zu unterscheiden gebietet, verlangt die Autofiktion beides. […] Worauf es ankommt, ist die Offenlegung der Ambiguität. Der Leser soll sich die Frage stellen: Ist der Erzähler der Autor? Die Offenlegung ihrer konstitutiven Ambiguität wäre also ein erstes gattungsspezifisches Merkmal der Autofiktion.« Ebd., S. 308f.
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zehnt als zentral im literarischen Panorama Italiens.1155 Als prominentes Beispiel hierfür ist sicher unter anderem Walter Sitis Werk Troppi paradisi zu nennen.1156 Palumbo Mosca benennt autobiographische Modelle als Mittel zum Zweck der authentischen Erzählung im Gegenwartsitalien, da hier die Distanz zwischen realem Autor und Figur auf ein Minimum reduziert ist.1157 Tatsächlich stehen sich also beide Modelle konkurrierend gegenüber. Siti mag sich auf einer reflexiven Ebene mit der Sehnsucht nach Realität auseinandersetzen, in seinen Umsetzungen und Ausführungen verbleibt er noch in einem postmodernistischen Kontext, sein Instrument ist die Autofiktion.1158 Diesen Kontext hat – das wurde schon in der Vorbemerkung aufgezeigt – Roberto Saviano zumindest intentional bereits verlassen. In einem literarischen Diskurs, der Wahrheit und Authentizität verspricht, scheinen autofiktionale Elemente wenig funktional, wenn man bedenkt, dass sie den Schreib- und Konstruktionsprozess fokussieren und somit ihren Kunststatus hervorheben. In Gomorra mag es nachweislich fiktive Elemente geben. Diese stehen jedoch nicht in der narrativen Diskussion um ihren Status im Blickfeld, sondern in ihrer 1155 »Da una decina d’anni ormai l’autofiction si H imposto come discorso narrativo centrale nel panorama letterario italiano. Anche quando non praticata, questa peculiare forma della narrazione, con il suo inestricabile intreccio di verit/ e finzione, di autobiografia e romanzo, ha fornito un orizzonte possibile a tanti scrittori nostrani.« Giacomo Raccis: »Lorenzo Marchese. L’io possibile. »L’autofiction come paradosso del romanzo contemporaneo«, Enthymema VII (2015), S. 474–480, hier S. 474. 1156 Walter Siti: Troppi paradisi. Torino: Einaudi 2006. Troppi paradisi ist das letzte Werk einer Trilogie, die sich mit Fiktionen des Ichs in theoretischer Form bei gleichzeitiger Umsetzung auseinandersetzt. 1157 »Di fatto in Italia la strada piF battuta per la certificazione di verit/ del racconto H quella che sfrutta il modello autobiografico per costruire una narrazione che abbia i caratteri del racconto-testimonianza. La distanza tra autore reale (uomo) e narratore (personaggio) H dunque programmaticamente ridotto al minimo.« Palumbo Mosca 2014, S. 148. 1158 Erhellende Ausführungen zum Werk Sitis findet man in Christine Otts Artikel »Literatur und die Sehnsucht nach Realität. Autofiktion und Medienreflexion bei Michel Houellebecq, Walter Siti und Giulio Minghini«, In: Jutta Weiser / Christine Ott [Hg.]: Autofiktion und Medienrealität. Kulturelle Formungen des postmodernen Subjekts. Heidelberg: Winter 2013, S. 209–231. Ott bezeichnet Troppi paradisi als einen »Thesenroman, der die Situation der Kunst in der postmodernistischen Medienlandschaft reflektiert«. Siehe ebd., S. 217. Sie verweist auf die Ambiguität, die sich gleich zu Beginn des Werkes durch Paraund Hautptext aufspannt, indem zunächst auf den Status eines Romans verwiesen wird, also eine Tendenz zur Fiktion zu verzeichnen ist, während zugleich die namentliche Übereinstimmung von Autor und Erzähler gegeben ist. Ähnlich wie Doubrovski berufe sich Siti auf eine außertextuelle Realität, stelle jedoch zugleich deren Unverfügbarkeit aus, wobei er die Fiktionalisierung des Realen stärker betone als der vorherige Autor. Vgl. ebd., S. 215. Ott liest vor allem mit Blick auf »ironische Untertöne« im Postskriptum – im Gegensatz zu Francesca Giglio und Alberto Casadei – Sitis Projekt nicht als ein Ankommen in, sondern als eine Flucht aus der Realität. Siti glaube noch weniger als Doubrovski »an die Möglichkeit einer durch die Schrift zu vermittelnde Wahrheit über das Individuum«. Ebd., S. 222f.
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Funktion der Evokation von Authentizität. Es stellt sich also tatsächlich weniger die Frage, ob die Elemente der Selbsterzählung in vollem Umfang wahr oder unwahr sind, sondern ob sie sich derart im Text präsentieren.1159 Donnarumma stellt diesbezüglich sehr richtig fest: »Cik che conta H, in ultima analisi, il patto di lettura stabilito spesso piF nel paratesto che nel testo. […] Autobiografia e memoir, insomma, non sono autofiction; L’autore autofinzionale esibisce le sue bugie; l’autobiografia puk dirne altrettante, ma le nasconde.«1160 Sicher ist die ›Selbst-Erzählung‹ der Figur Roberto Saviano konstruiert,1161 jedoch setzt der Text zu keinem Zeitpunkt seinen Status aufs Spiel, er geht keinerlei zur Schau gestellte Ambiguität ein.1162 Die autobiographischen Elemente stehen vielmehr im Geiste des diltheyschen Gedankens der Selbstbiographie, deren Besonderheit die Intimität des Verstehens ist. Wilhelm Dilthey charakterisiert sie im originalen Wortlaut folgendermaßen: Die Selbstbiographie ist die höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen, das Leben entgegentritt. Hier ist ein Lebenslauf das Äußere, sinnlich Erscheinende, von welchem aus das Verstehen zu dem vorandringt, was diesen Lebenslauf innerhalb eines Milieus hervorgebracht hat. […] Hieraus ergibt sich eine besondere Intimität des Verstehens. […]. Er [der ›Selbstbiograph‹] hat in der Erinnerung die Momente seines Lebens, die er als bedeutsam erfuhr, herausgehoben und akzentuiert und die anderen in Vergessenheit versinken lassen. […] Die Einheiten sind in den Konzeptionen von Erlebnissen gebildet, in denen Gegenwärtiges und Vergangenes durch eine gemeinsame Bedeutung zusammengehalten ist.1163 1159 Dies ist eine Herangehensweise, die Gianfranco Marrone vorschlägt. »Innanzitutto, a livello epistemologico, piuttosto che a opere autobiografiche vere o false, dal punto di vista di uno studio della significazione occorre pensare semmai a testi autobiografici, i quali producono – entro contesti culturali e assetti sociali dati volta per volta – ora un effetto di senso di ›verit/‹ o un effetto di senso ›finzione‹ sul loro pubblico.« Ders.: »Introduzione«, In: Elena Giliberti [Hg.]: Finzioni autobiografiche. Urbino: Edizione quattro venti 2009, S. 11–15, hier S. 11. 1160 Vgl. dazu Donnarumma 2014, S. 131. 1161 Donnarumma konstatiert: »In realt/, Saviano costruisce Roberto come un testimone, come la figura di mediazione tra il mondo del racconto e il mondo del lettore. PiF che un personaggio, H una voce, una coscienza.« Ders. 2014, S. 191. 1162 Diesen Umstand proklamiert Donnarumma sowohl für Savianos Text als auch bereits für die seiner Vorläufer Franchini und Janeczek. Vgl. Donnarumma 2014, S. 200. Auch Hanna Serkowska weist darauf hin: »Janeczek, Franchini e Saviano voltano pagina rispetto all’autofiction e alla storiografia apocrifa postmoderna e si sottopongono a un giudizio di verit/: le loro storie pretendono di essere prese per buone nonostante e al di l/ dei limiti propri della scrittura. Questi autori hanno fiducia nella letteratura e credono che il modo piF adeguato per conoscere ed esprimere la realt/ sia darle una forma narrativa.« Dies.: »Introduzione. Scambi e intrecci tra fiction e reale«, In: dies. [Hg.]: Finzione – cronaca – realt/. Scambi, intrecci e prospettive nella narrativa italiana contemporanea. Massa: Transeuropa 2011, S. IX–XLV, hier S. XXIV. 1163 Wilhelm Dilthey : Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Hg. v. Bernhard Groethuysen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 81992, S. 199f.
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Roberto Savianos Gomorra: Hybrider Realismus
Dilthey steht mit seiner Philosophie im Gegensatz beziehungsweise Nachklang zum Positivismus und Naturalismus. Die Adaption seiner Ansichten auf das neue realistische Schreiben Roberto Savianos lässt innovative Elemente stärker hervortreten, die die bereits herausgearbeiteten, mit den alten Realismen korrelierenden Charakteristika ergänzen. Im Folgenden soll das narrative Konstrukt des Ich in Gomorra, das stets auf Authentizität und einen Verstehensprozess abzielt und dabei verschiedene Rollen einzunehmen scheint, in seinem textuellen Entstehen wie seiner erzählerischen Funktion näher beleuchtet werden.
6.2.1 Konstruktion und Entwicklung des Ich-Erzählers in Gomorra Auf den ersten Blick scheint der nahezu ubiquitäre Ich-Erzähler in Gomorra fast ebenso vielfältig und gleichzeitig wenig greifbar wie Genre oder Plot des Werks. Es soll im Folgenden jedoch gezeigt werden, wie sich das Ich konstruiert, wie es im Text funktioniert und sich entwickelt und wie seine Geschichte letzten Endes doch als homogenes autobiographisches Element gelesen werden kann, das in einem kontinuierlichen Crescendo nach und nach mehr Raum im erzählten Geschehen einfordert und zum Vertreter des kantschen sapere aude wird. Die im Untertitel aufgerufene ›Reise‹ des Ich-Erzählers nimmt ihren Anfang am Hafen, wo er in der Rolle des recherchierenden Reporters auftritt. In dieser ersten Szene stellt er sich in einer professionell medialen Funktion dar.1164 Im Rückgriff auf die Biographie des Autors ist zu erwähnen, dass dieser tatsächlich – wenn auch zunächst mit mäßigem Erfolg – so doch eben im Bereich der Reportage und des Journalismus tätig war. In die folgenden Ausführungen zu den Vorgängen am Hafen lässt der noch namenlose Ich-Erzähler wie beiläufig einfließen, dass er sich regelmäßig am beschrieben Ort aufhält (»Mi perdo sempre, al molo.« und »Al porto ci andavo per mangiare il pesce.«)1165 und legitimiert so seine Darstellungen und seinen Status als ›ortsansässiger‹ und glaubhafter Zeuge. Direkt im Anschluss trifft ihn der Leser – immer noch am Hafen – als Privatperson, die eine Wohnung sucht und im Zuge dessen Arbeit findet.1166 So wird ein Zutritt zur illegalen Wirtschaftswelt in Halbwissen inszeniert. Dieser erscheint zunächst nicht als gezielt angestrebt, sondern aus Naivität und Neugier heraus erwachsen. Besonders die Neugierde ist im ersten 1164 Das lässt sich erschließen, da er sich im Gespräch mit dem Kranführer des Hafens darstellt, der die Geschichte der toten Chinesen erzählt. 1165 Vgl. Saviano 2008, S. 14 und S. 17, [Hervorhebung der Verfasserin]. Die Imperfektform des Verbes andare verweist auf die Regelmäßigkeit des Vorgangs. 1166 »Non dovevo pagare alcun fitto, ma mi chiesero di lavorare ogni fine settimana nelle casemagazzino. Ero andato per cercare una stanza, trovai un lavoro.« Saviano 2008, S. 18.
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Kapitel stark unterstrichen, die für diesen Einstieg in die kriminelle Parallelwelt Neapels sogar das Gesetz der omert/ akzeptiert,1167 ebenso wie den Umstand, eigentlich keine rechte Wahlmöglichkeit zu haben. Im Text heißt es: Poggiai la testa su alcune scatole. Tentavo di intuire dall’odore cosa contenessero, attaccai l’orecchio per cercare di capire dal rumore cosa fosse l' dentro. Inizik a subentrare un senso di colpa. Chiss/ a cosa avevo partecipato, senza decisione, senza una vera scelta. Dannarmi s', ma almeno con coscienza. Invece ero finito per curiosit/ a scaricare merce clandestina.1168
Zum einen wird hier bereits eine gewisse Schicksalhaftigkeit angedeutet, zum anderen das Ziel formuliert, Wissen erlangen zu wollen beziehungsweise ›bewusst‹ zu handeln (»con coscienza«). Das Vorgehen erinnert jedoch noch an ein Kind, das Weihnachtsgeschenke auspackt, nicht an ein gesteuertes, überlegtes Vorgehen. Auch wenn sich der Ich-Erzähler in der Gegenwart seines chinesischen Führers Xian weiterhin in gewisser Naivität präsentiert,1169 folgt im zweiten Kapitel auf das ›Hineinstolpern‹ in die Welt der Illegalität bereits ein wesentlich bewussterer Lernprozess: »Nei giorni successivi accompagnai Xian nei suoi incontri d’affari. […] Seguivo come si seminava e coltivava la semenza del danaro, come veniva messo a maggese il terreno dell’economia.«1170 Dabei steht zu Beginn vor allem das Nicht-Verstehen im Fokus und – im Gegensatz zum Beginn – stellt der Ich-Erzähler nun Fragen: »Non capivo cosa stesse accadendo, […] tentai di chiedere spiegazioni: […] Cercavo di farmi spiegare tutto dall’inizio. […] Non capivo. Continuavo a non capire.«1171 Dieser Lernprozess wird vor allem im vierten und fünften Kapitel intensiviert, ist jedoch noch immer viel an Unwissenheit, Neugier, Faszination1172 und sogar das eigene Vergnügen gekoppelt: »Frequentavo Secondigliano da tempo. […] Giravo nell’area nord di Napoli in Vespa. ð la luce quello che piF mi piace quando giro per Secondigliano e Scampia.«1173 Wiederum wird zunächst im Hintergrund 1167 »Non mi fu detto altro, n8 io tentai, troppo curioso di partecipare alla cosa, di insistere.«, Saviano 2008, S. 22. Zum Begriff der omert/: »Die Spuren der gemeinsamen Geschichte der Mafias sind in einer gemeinsamen Sprache zu erkennen. Ein Beispiel dafür ist das Wort omert/ – oder umilt/ (Demut), wie es ursprünglich hieß. In ganz Süditalien und Sizilien steht omert/ – umilt/ für ein Gesetz des Schweigens und der Unterwerfung unter die kriminelle Autorität.« Dickie 2013, S. 17f. 1168 Ebd., S. 23. 1169 Ersichtlich etwa an diesem Beispiel: »Parlavo troppo o troppo poco. Le due attitudini gli [Xian] piacevano entrambe.« Saviano 2008, S. 26. 1170 Ebd., S. 26. 1171 Ebd., S. 40. 1172 Etwa bei der Beobachtung der Mechanismen des Drogenhandels: »Ogni volta che lo osservavo ne rimanevo incantato.« Saviano 2008, S. 75. 1173 Ebd., S. 74.
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eine Art legitimierender Dauerzustand aufgeführt.1174 Gleichzeitig wird der IchErzähler hier zunächst als ortsfremd gekennzeichnet.1175 Er steht – wie im Incipit – in einer medialen Funktion. Dann kommt es zum aktiven Entschluss des Ich-Erzählers, eine Untersuchung der Umstände vor Ort vorzunehmen – trotz oder besser gerade wegen der Gefahr, die dieses Vorgehen beinhaltet: Avevo deciso di seguire quello che stava per accadere a Secondigliano. PiF Pasquale segnalava la pericolosit/ della situazione, piF mi convincevo che non era possibile non tentare di comprendere gli elementi del disastro. E comprendere significava almeno farne parte. Non c’H scelta, e non credo vi fosse altro modo per capire le cose. La neutralit/ e la distanza oggettiva sono luoghi che non sono mai riuscita a trovare.1176
In der zitierten Passage verwandelt sich die originär zufällige Neugier in bewusste Recherche und die vage als illegal intuierten Geschehnisse werden nun als »disastro« benannt. Gleichzeitig formuliert sich erstmals klar die Vorgehensweise des Verständnisprozesses (»comprendere significa almeno farne parte«). Neben der Teilhabe wird in diesem vierten Kapitel auch die Recherche anhand von Dokumenten eingeführt und mit den eigens gemachten Beobachtungen verschmolzen. Der Ich-Erzähler stellt fest: Solo dopo aver letto questo scambio di commenti telefonici capii la scena a cui avevo assistito qualche tempo prima. Non riuscivo davvero a comprendere cosa in realt/ mi si muoveva davanti agli occhi. […] Uno spiazzo davanti a dei capannoni. C’ero finito non per caso ma con presunzione che sentendo l’alito del reale, quello caldo, quello piF vero possibile, si possa arrivare a comprendere il fondo delle cose.1177
Die theoretische Recherche in Kombination mit Besuchen im Gericht sowie der leibhaftigen Feldforschung durch Teilhabe wird zunehmend wichtiger und dringlicher und verschmilzt zu zwei untrennbaren Seiten einer Medaille.1178 Zufälligkeit und Naivität weichen in der Darstellung des Ich-Erzählers zielgerichtetem, zweckgebundenem Handeln und technischer Organisation. Ist das Ich zunächst wie in unbeabsichtigter Willkür an Orten des Geschehens aufgetaucht, so informiert es sich nun bewusst über Vorfälle in der Umgebung, etwa durch Abhören des Polizeifunks.1179 Nicht nur das Vorgehen des erlebenden und 1174 Dies geschieht durch die verwendeten Imperfektformen von frequentare und girare. 1175 »La mia faccia era diventata conosciuta col tempo, una conoscenza che per le sentinelle del clan, i pali, significava valore neutro.« Saviano 2008, S. 75. 1176 Ebd., S. 86. 1177 Ebd., S. 82f. 1178 Wie zum Beispiel der Besuch im Gericht, der zum Studium der Kommunikation von Boss und Sohn dient. Vgl. Saviano 2008, S. 144. 1179 »Per seguire la faida ero riuscito a procurarmi una radio capace di sintonizzarsi sulle frequenze della polizia. Arrivavo cos' con la mia Vespa piF o meno in sincrono con le volanti. Ma quella sera mi ero addormentato. Il vociare gracchiante e cadenzato delle centrali per me era divenuto una sorta di melodia cullante. Cos' quella colta fu una
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erzählenden Protagonisten verändert sich, auch die Reaktionen auf das Gesehene erhalten eine neue Qualität. Faszination und Nicht-Verstehen werden zu Ungläubigkeit und einem Gefühl des Unerträglichen, wie etwa beim Auffinden des verbrannten Körpers eines jungen Mädchens: Il fatto che il corpo fosse bruciato mi H sembrato un modo per cancellare le torture. Il corpo di una ragazza seviziata avrebbe generato una rabbia cupa in tutti, e dal quartiere non si pretende consenso, ma certamente non ostilit/. E allora bruciare, bruciare tutto. Le prove della morte non sono gravi. Non piF gravi di qualsiasi altra morte in guerra. Ma non H sostenibile immaginare come H avvenuta quella morte, come H stata compiuta quella tortura. Cos' tirando con il naso il muco dal petto e sputando riuscii a bloccare le immagini nella mia mente. […] Se mi fermo e prendo fiato riesco facilmente a immaginare il loro incontro, anche se non conosco neanche il tratto dei visi. […] Immagino che forse la ragazza avr/ saputo, avr/ tentato di cercargli qualcos’altro da fare, come spesso accade a molte ragazze di questi parti, di sbattersi per i propri fidanzati. […] Sono solo congetture e immaginazioni. Cik che resta H che una ragazza H stata torturata e uccisa perch8 l’hanno vista mentre dava una carezza e un bacio a qualcuno, qualche mese prima, in qualche parte di Napoli. Mi sembra impossibile crederci.1180
Der zitierte Abschnitt ist interessant, weil er verschiedene Vorgehensweisen illustriert. Er umfasst eine Erklärung der Methode des Verbrechens, die dem Leser über den Gedankengang des Ich-Erzählers zugänglich wird, der jedoch ›interne‹ camorristische Muster transportiert (»E allora bruciare, bruciare tutto«). Die Geschehnisse werden zunächst durch ein »non sono gravi« herabgesetzt, dann jedoch durch die Relativierung des Krieges im Allgemeinen wieder verstärkt (»Non piF gravi […] in guerra«). Der Krieg ist etwas, was den meisten Lesern vor allem aus den Medien bekannt sein dürfte und in seiner Distanz und Alltäglichkeit relativiert erscheint. Die Vermittlung des Gefühls der Unerträglichkeit, das solche Opfer in der Realität mit sich bringen, braucht die Instanz des Ich-Erzählers, der hier die eigene Vorstellungskraft – auch er hat schließlich nur das Resultat, nicht den Vorgang der Tortur gesehen – und seine körperliche Reaktion (»tirando con il naso […] e sputando riuscii a bloccare«) in die Waagschale wirft. Dieser Rekurs auf den Körper, der nicht lügt, während Daten und Interpretationen ungenau sein können, bezeichnet Palumbo Mosca als rousseauanisches Prinzip.1181 Dieses Vorgehen wird zu einem rekurrenten Stilmittel im Text. Jedoch ist es vor allem die Kasualität des Todes des Mädchens, die Ungläubigkeit über das Geschehene und Gesehene in der Darstellung des erle-
telefonata in piena notte che mi avvert' dell’accaduto. Arrivato sul luogo, trovai una macchina completamente bruciata.« Saviano 2008, S. 95. 1180 Ebd., S. 97ff. 1181 Palumbo Mosca 2014, S. 161.
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benden Ich aufruft,1182 das durch die Aktivierung der eigenen Imagination auch dem Leser einen Zugang bietet. Neben der Darstellung körperlicher Reaktionen und dem Aufruf der Phantasie, ist ein weiteres Mittel der Übertragung des Erlebten auf den Leser die Evokation kindlicher Erinnerungen. Diese kommt bei der im Text folgenden erzählten Observation eines Tatorts zum Einsatz. Zum ersten Mal kann der Leser hier dezidiert autobiographisch konnotierte Einschübe finden, auch wenn bis zu diesem Zeitpunkt kein expliziter autobiographischer Pakt hätte geschlossen werden können: Quando arrivai sul luogo dell’agguato, alle Case Celesti, non avevano ancora messo il lenzuolo sul corpo. Le persone camminavano nel suo sangue, lasciando le orme ovunque. Deglutii forte, un modo per calmare lo stomaco. Carmela Attrice non era scappata. […] Non mi sono mai abituato a vedere i morti ammazzati. Infermieri, poliziotti, tutti sono calmi, impassibili, fanno i loro gesti imparati a memoria chiunque abbiano avanti. […] La prima volta che ho visto un morto ammazzato avrk avuto tredici anni. Mi ricordo quella giornata benissimo. Mi svegliai con un imbarazzo tremendo poich8 dal pigiama, indossato senza mutande, penzolava una chiara erezione non voluta. Quella classica della mattina, impossibile da dissimulare. Mi ricordo quest’episodio perch8 mentre stavo andando a scuola m’imbattei in un cadavere nella mia stessa situazione. Eravamo in cinque, con gli zainoni carichi di libri. […] Il piF temerario tra noi chiese a un carabiniere come mai dove si poggia la testa ci fossero i piedi. Il carabiniere non esito a rispondere, come se non si fosse accorto di quanti anni aveva il suo interlocutore. »I colpi di pioggia l’hanno fatto capotare…« Ero ragazzino, ma sapevo che colpi di pioggia significava colpi di mitra. […] Noi guardavamo indisturbati, senza che nessuno ci dicesse che non era spettacolo per bambini. Senza nessuna mano morale che ci venisse a coprire gli occhi. Il morto aveva un’erezione. Dal jeans attillato si vedeva chiaramente. E la cosa mi sconvolse. Fissai la scena per moltissimo tempo. Per giorni pensai a come potesse essere accaduto. A cosa stesse pensando, cosa stesse facendo prima di morire. Riempii i miei pomeriggi cercando di ipotizzare cosa avesse in mente prima di crepare; fui tormentato sino a quando ebbi il coraggio di chiedere spiegazione e mi fu detto che l’erezione era una reazione comune nei cadaveri dei morti ammazzati.1183
Der Einstieg dieses Abschnitts ruft zum einen die Alltäglichkeit von Gewaltverbrechen in der Gegend um Neapel auf, die sich in der Kaltblütigkeit der Personen, die durch das Blut laufen und überall Spuren hinterlassen, manifestiert. Das erlebende Ich reagiert erneut über körperliche Symptome (»Deglutii forte«). Es hat sich – im Gegensatz zu den namenlosen anderen Teilhabern der 1182 Dieser Unglaube wird explizit verbalisiert: »Cik che resta H che una ragazza H stata torturata e uccisa perch8 l’hanno vista mentre dava un bacio a qualcuno, qualche mese prima, in qualche parte di Napoli. Mi sembra impossibile crederci.« Saviano 2008, S. 99. 1183 Ebd., S. 111ff.
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Szene – nicht daran gewöhnt, tote Körper zu sehen, eine Aussage, die klar macht, dass es an dieser Stelle nicht um einen ästhetisierenden Splatter- oder PulpEffekt geht, sondern um die Durchbrechung eines anästhetischen Zustands. Die Sensibilisierung gegenüber dieser Form des Todes ist gerade wegen der Alltäglichkeit von Gewaltverbrechen nötig, wie der Rückgriff auf das Kindheitserlebnis unterstreicht. Das Kuriosum der Szene ist, dass die Kinder nicht etwa fragen, warum das Opfer sterben musste. Das Interesse liegt auf der Stellung der Leiche (»come mai dove si poccia la testa ci fossero i piedi«) und auf dem Umstand, dass der Tote eine Erektion hat. Der Erkenntnisweg in diesem Ausschnitt läuft über mehrere Stationen: Beginnend bei der Aussage über das aktuelle, den Leser bis an diese Stelle führende Ich, das sich nie daran gewöhnt hat, ermordete Personen zu sehen, läuft es über dessen Kindheitserinnerung an den ersten Toten und die eigene physische Erfahrung der Erektion. Die Überwindung des örtlichen Gesetzes der omert/ und die Nachfrage schließlich führen zu einem allgemeinen Wissen im kriminologischen Kontext, dass es bei Opfern eines gewaltsamen Todes häufig zur postmortalen Erektion kommt. Das fragende Ich wird in einer biographischen Erinnerung zum Garanten des Wissens. Mit der doppelten Identifikationsfigur – der des kindlichen und des gegenwärtigen Ich – lernt und begreift der Leser zusammen mit dem erzählenden Protagonisten. Dieses Dreigespann von Autor-Erzähler-Ich sowie Leser und dem ›Verstehen der Mechanismen‹ ist existenziell und stets im Fokus des Romans. Zu keinem Zeitpunkt stellt sich das Ich selbst, seine Existenz oder die Darstellung selbiger in Frage, was nach wie vor die Elemente der ›Selbst‹erzählung von der Autofiktion distanziert und in einen autobiographischen Rahmen stellt. Während in der zitierten Passage durch die Kombination von Tod und dem Phallussymbol der Erektion noch eine gewisse untergründige Faszination in der Beschreibung mitschwingt – man mag an Freuds Theorie von Eros und Thanatos erinnert sein – weicht diese in der nachfolgenden Serialität aufgefundener Leichen einer einfachen Erkenntnis; der, dass der Tod eklig ist: Dopo aver visto decine di morti ammazzati, imbrattati del loro sangue che si mescola allo sporco, esalanti odori nauseabondi, guardati con curiosit/ o indifferenza professionale, scansati come rifiuti pericolosi o commentati da urla convulse, ne ho ricavato una sola certezza, un pensiero tanto elementare che rasenta l’idiozia: la morte fa schifo.1184
Die Szene der eigenen Kindheitserfahrung mit dem Tod spiegelt sich kurz darauf in der Darstellung gegenwärtiger Jugendlicher, die den Tod der Carmela Attrice verschuldet haben.1185 Weiß das jugendliche Ich in der Erinnerung zwar die 1184 Saviano 2008, S. 114. 1185 Vgl. ebd., S. 114ff.
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Terminologie des Polizisten zu deuten (»colpi di piogga« als Schüsse eines Maschinengewehrs), so bleibt ihm dennoch wenigstens ein Rest Unschuld erhalten, die sich in der Unsicherheit über das Zustandekommen der Erektion zeigt. Die kurz darauf befragten Jungen jedoch kennen nicht nur die verschiedenen Arten zu sterben, sondern auch deren Auswirkungen auf den Körper und übertreffen mit ihren Erfahrungen sogar den Wissensstand des erzählenden Ich.1186 Die Erinnerung an die eigene, vergangen Kindheit wird somit zum Gradmesser der Veränderung für die erzählte Gegenwart. Aber nicht nur die Erinnerung, auch die Zeitspanne des eigenen Lebens wird zur Maßeinheit des Ich-Erzählers, der sich in ersten Schritten einem Verständnis annähert. Dabei wird mehr und mehr eine enge chronotopische Verbindung zwischen der Biographie des Ich-Erzählers und dem camorristischen Neapel in den Fokus der Darstellung gerückt, die in einer überbordenden körperlichen Reaktion Ausdruck findet: Mentre mi allontanavo, mentre portavano via Attilio Romano, iniziai a capire. A capire perch8 non c’H momento in cui mia madre non mi guardi con preoccupazione, non comprendendo perch8 non me ne vado, perch8 non fuggo via, perch8 continuo a vivere in questi luoghi d’inferno. Cercavo di ricordare da quando sono nato quanti sono i caduti, gli ammazzati, i colpiti. […] Tremilaseicento morti da quando sono nato. […] Tornai a casa, ma non riuscii a stare fermo. Scesi e iniziai a correre, forte, sempre piF forte, le ginocchia si torcevano, i talloni tamburellavano i glutei, le braccia sembravano snodate e si agitavano come quelle di un burattino. Correre, correre, correre ancora. Il cuore pompava, in bocca la saliva annegava la lingua e sommergeva i denti. Sentivo il sangue che gonfiava la carotide, tracimava nel petto, non avevo piF fiato, dal naso presi tutta l’aria possibile che subito rigettai come un toro. Ripresi a correre, sentendo le mani gelide, il viso bollente, chiudendo gli occhi. Sentivo che tutto quel sangue visto a terra, perso come rubinetto aperto sino a spanare la manopola, l’avevo ripreso, lo risentivo nel corpo.1187
Die hier vorgenommene Benennung der nördlichen Viertel Neapels als »questi luoghi d’inferno« verwandeln die beschriebenen Orte intertextuell in einen dantesken Schlund, in den das Ich auf seiner Reise hineingeraten ist.1188 Der kompensatorische Akt des Rennens ist zunächst kein ganz freiwilliger – die Bewegungen sind die einer Marionette (»burattino«)1189 – stellt jedoch gleich1186 Im Text heißt es: »Ma il ragazzo conosceva molto meglio di me le dinamiche del dolore e inizik a raccontare nel dettaglio i dolori della botta, ossia il colpo d’arma da fuoco, con una professionalit/ da esperto.« Ebd., S. 114. 1187 Ebd., S. 134ff. [Hervorhebung der Verfasserin]. 1188 Der Untertitel legt das nahe. 1189 Der »burattino« ruft die Figur Pinocchios auf den Plan. Tatsächlich könnte das ein interessanter intertextueller Link sein, denn in Carlo Collodis Pinocchio gibt es eine Passage, in der Pinocchio vor zwei assassini (volpe und gatto) wegläuft, die ihn zunächst umbringen (Kap. XV) und dann um sein Geld betrügen wollen (Kap. XVIII/IXX). Sein Versuch,
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zeitig ein Fortbewegen, eine Bewegung nach vorne dar. An dieser Textstelle wird theatralisch eine Art Peripetie inszeniert, es ist der Moment des Wechsels von agnoia zu anagnorisis. Durch die imaginäre Aufnahme des Blutes der Mordopfer inszeniert der Ich-Erzähler die für ihn so wichtige Teilhabe am Geschehen, er stilisiert sich zu einer Art lebendem Märtyrer, der so erneut seinen Zeugenstatus legitimiert.1190 Den Grund, diese Reise mitsamt der verbrecherischen Vorkommnisse zu erzählen, definiert der Ich-Erzähler klar als nicht dem Aufleben der Schrecken der Ereignisse gewidmet, sondern als Suche nach verbliebener Menschlichkeit, nach Antworten und Lösungen. An dieser Stelle überkreuzen sich Autorintention und ›Forschungs‹ziel des erzählenden Protagonisten: Di una cosa ero certo: non e importante mappare cik che e finito, ricostruire il dramma terribile che e accaduto. E inutile osservare i cerchi di gesso intorno ai rimasugli dei bossoli che quasi sembrano un gioco infantile di biglie. Bisogna invece riuscire a capire se qualcosa e rimasto. Questo forse vado a rintracciare. Cerco di capire cosa galleggia ancora d’umano; se c’H un sentiero, un cunicolo scavato dal verme dell’esistenza che possa sbucare in una soluzione, in una risposta che dia il senso reale di cik che sta accadendo.1191
Nach den bisherigen Analysen lässt sich konstatieren, dass das erlebende und erzählende Ich eindeutig eine Entwicklung durchläuft, die von einem naivneugierigen Ausgangspunkt über Halbwissen und mehr oder minder zufälliges Entdecken in bewusste Recherchemethoden mündet. Anfängliche Faszination mutiert zu Ungläubigkeit und Ekel. Gegen Ende der Prima parte ist ein erster dezidierter Wechsel von einem »non capivo« zum »iniziai a capire« ersichtlich, vor allem aber auch der dringliche Wille zu verstehen, der immer mehr in den Vordergrund rückt.1192 Der narrative Ordnungsstrang des erzählenden Protagonisten schält sich als verkappter Bildungs- oder Entwicklungsroman heraus, der eine zunehmende Abwehr des Ich gegenüber der es umgebenden Welt mit sich bringt.1193 Dies steht ganz im Sinne der Definition Ditlheys zum Bildungs-
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Gerechtigkeit einzufordern, bringt den burattino ins Gefängnis. Auch die Geschichte des Pinocchio spielt in einer ›verkehrten‹ Welt, in der die Unschuldigen schuldig werden. Vgl. zu den angegebenen Passagen Carlo Collodi: Le avventure di Pinocchio. Ed. critica a cura di Ornella Castellani Pollidori. Pescia: Fondazione Nazionale Carlo Collodi 1983. Paolo Fabbri bemerkt: »Saviano ci appare a volte come il salvato in un mondo di sommersi (Levi) verso i quali ha assunto un debito collettivo. Non H un testimonal dell’›etica della convinzione‹. La sua H un’intimazione a non isolarci nella ricezione mediatica, ma ad entrare in contatto. […] Il testimone, come nella corsa sportiva, H un segno di azione collettiva, un passaggio di mano in mano. Una convivenza, non una connivenza.« Ders 2010, S. XXII. Saviano 2008, S. 131. Im Kapitel »Donne« wird das noch einmal explizit gemacht: Es heißt: »Ho la nausea. Devo restare calmo. Devo capire, se possibile.« Saviano 2008, S. 172. Der Bildungsroman ist ein genuin deutsches Genre, dessen erste Vorläufer sich in Romanen des 18. Jahrhunderts finden. Besonders die moderne Autobiographie setzt für den
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roman, der mit Hegel »den Bildungsweg des Helden als unfreiwilligen Austrieb aus einem paradiesischen Urzustand in eine feindliche Welt« versteht.1194 Der beschriebene Lernprozess des erzählenden Protagonisten soll – getreu den Prinzipien dieses Genres – auf den Leser übertragen werden. Der Leseakt steht laut Casadei im Zeichen einer Erweiterung des Erfahrungshorizontes.1195 Mit dieser Aussage stellt Casadei sich dezidiert gegen Scuratis These der »letteratura dell’inesperienza«.1196 Als verstärkende Elemente des Lern- und Übertragungsprozesses werden Kindheitserinnerungen herangezogen. Die körperlichen Reaktionen des erzählenden Ich untermalen den Effekt der Betroffenheit und sind nach Palumbo Mosca maßgebliche Elemente des Authentizitätseffekts, da sie die Präsenz des Autor-Erzählers in der extratextuellen Welt versinnbildlichen. Dabei hebt Palumbo Mosca den Unterschied zu der schon vorher starken Präsenz von Körperlichkeit in der Literatur des Splatter, Pulp oder der Cannibali hervor, in der die dargestellten Körper manipulierbar und flexibel wie Gummi sind, sodass auf die groteskeste Beschreibung eines deformierten Körpers der höchste Grad an Ästhetisierung folgt.1197 In Gomorra hingegen wird der Körper
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Bildungsroman neue Akzente, da sie »eine (beliebige) Lebensgeschichte als zielgerichteten Entwicklungs- oder Bildungsgang, als kausal oder final definierte Schicksalskurve, authentisch beglaubigt durch das Leben des Verfassers« fokussiert. Rolf Selbmann: Der deutsche Bildungsroman. 2. Überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart / Weimar : Metzler 1994, S. 34ff. Im 19. Jahrhundert erlebt der Bildungsroman seine Hochzeit und nimmt poetologisch und literaturkritisch eine führende Position ein (man denke nur an Goethes Wilhelm Meister). Vgl. ebd. S. 96. In Italien wird etwa die Geschichte des Renzo Tramaglino aus den Promessi sposi als Bildungsroman gelesen und auch der in der vorliegenden Arbeit bereits zitierte Pinocchio von Carlo Collodi lässt sich unter dieses Genre subsummieren. Im 20. Jahrhundert wird der Bildungsroman ab dem 1. Weltkrieg etwa von Franco Moretti totgesagt. Stefano Calabrese spricht im Zuge der Wandlung des Ich und der Weltwahrnehmung von einem »romanzo di deformazione«, »poich8 nel Novecento crolla la fiducia nell’identit/ dell’Io e nella possibilit/ di un’esperienza unitaria del reale«. Ders.: Letteratura per l’infanzia. Fiaba, romanzo di formazione, crossover. Milano: Mondadori 2013, S. 146f. Mit Savianos Protagonisten nähert sich der Bildungsroman wieder ursprünglicheren Formen an. Dal Lago erkennt dies ab dem Kapitel, in dem Pasolinis »Io so« zitiert wird: »L’io narrante, in tutto questo, si sta affermando come attore. Se prima era testimone in preda a perplessit/ metodologiche, ora H protagonista a tutto tondo di un Bildungsroman.« Ders. 2010, S. 63. Selbmann 1994, S. 17. Casadei hebt hier die Nähe zu naturalistischen Texten hervor. Er schreibt: »Saviano punta a una letteratura come estensione dell’esperienza, rappresentativa in primo luogo di s8 stessa, ma poi anche esemplare di una ricerca volta a raggiungere esiti che, alla fine dell’Ottocento, sarebbero stato considerati naturalistici. Solo che i modi per ottenere un realismo naturalistico sono ormai molto cambiati, tanto rispetto alla fase piF antica quanto a quella del neorealismo del secondo dopoguerra.« Casadei 2008, S. 19. Vgl. dazu Kap. 3.3 der vorliegenden Arbeit. Vgl. dazu Kap. 4.1 der vorliegenden Arbeit.
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zum Identifikationsmittel und Werkzeug der Übertragung, vor allem aber zum Garanten der Wahrhaftigkeit und Wichtigkeit der Aussagen.1198 In der Seconda parte von Gomorra verstärkt sich die Präsenz des erzählenden Protagonisten signifikant. Im Kapitel »Kalashnikov« lässt sich der lejeunsche autobiographische Pakt explizit schließen. Ein Freund des erzählenden Ich mit Namen Mariano kommt von einer Reise mit einem Treffen mit Michail Timofejewitsch Kalaschnikow zurück und überbringt eine von diesem in englischer Sprache signierte Photographie: »To Roberto Saviano with Best Regards M. Kalashnikov«. Das erzählende Ich ist an dieser Stelle eindeutig mit Vor- und Nachnamen dem Autor des Werkes zuzuordnen. Vorbereitend erfolgt ein Treffen mit dem Vater und dem jüngeren Halbbruder des erzählenden Ich, das eine Reihe von Erinnerungssequenzen evoziert, in denen das klischeehafte Bild südlicher Männlichkeit vorgeführt wird. Diese ist – in den Augen des Vaters – an Bildung und das gekonnte Führen einer Waffe gebunden.1199 Die Erinnerung bricht sich in synästhetischen Eindrücken Bahn, die den Ort am Meer situieren, um daraufhin bereits in den ersten Sätzen die Wertigkeit des Jungen an das Schießen zu koppeln: Mi venne d’improvviso in mente l’odore mischiato di salsedine e polvere, di cemento e spazzatura. Un odore umido. Mi ricordai di quando avevo dodici anni sulla spiaggia di Pinetamare. Mio padre venne nella mia stanza, mi ero appena svegliato. Forse di domenica: »Ti rendi conto che tuo cugino gi/ sa sparare, e tu? Sei meno di lui?«1200
Es folgt die tatsächliche Instruktion und damit Initiation des jugendlichen Ich sowie einige Dialoge, die sowohl den Standpunkt des im Süden integrierten Vaters zeigen als auch den des rebellierenden Sohnes.1201 Zudem wird das erzählende Ich in den erinnerten Dialogen vom Vater mehrfach mit dem Vornamen (»Roberto«) beziehungsweise Koseformen desselben (»Robbe’«, »Robertino«) angesprochen.1202 Vor allem das letzte Zwiegespräch zwischen Vater und Sohn festigt, indem die Tätigkeit des Vaters als Arzt sowie die Entscheidung des Sohnes für ein Philosophiestudium – äquivalent zur Situation Savianos im realen Leben – noch einmal den autobiographischen Pakt und verankert in1198 Vgl. Palumbo Mosca 2014, S. 160. 1199 Ersichtlich etwa an folgendem erinnerten Dialog: »›Robbe’, cos’H un uomo senza laurea e con la pistola?‹ ›Uno stronzo con la pistola.‹ ›Bravo. Cos’H un uomo con la laurea senza pistola?‹ ›Uno stronzo con la laurea…‹ ›Bravo. Cos’H un uomo con la laurea e con la pistola?‹ ›Un uomo, papa!‹ ›Bravo, Robertino!‹« Saviano 2008, S. 187. Die Originalformatierung mit Zeilenumbrüchen wurde an dieser Stelle aus Platzgründen nicht übernommen. 1200 Ebd., S. 185. 1201 Vgl. ebd., S. 185ff. 1202 Genannt wird »Robbe’« (3x, Saviano 2008, S. 186ff.), Robertino (ebd., S. 187), Roberto (ebd.).
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nertextliche Angaben mit extratextuellen Referenzen in der Welt des Autors. Es heißt: »E come chi decide di fare il filosofo e chi il medico, secondo te chi dei due decide della vita di una persona?« »Il medico!« »Bravo. Il medico. Perch8 puoi decidere della vita delle persone. Decidere. Salvarli o non salvarli. E cosi che si fa il bene, solo quando puoi fare il male. Se invece sei un fallito, un buffone, uno che non fa nulla. Allora puoi fare solo il bene, ma quello e volontariato, uno scarto di bene. Il bene vero e quando scegli di farlo perch8 puoi fare il male.« Non rispondevo. Non riuscivo mai a capire cosa volesse realmente dimostrarmi. E in fondo non riesco nemmeno ora a capirlo. Sar/ anche per questo che mi sono laureato in filosofia, per non decidere al posto di nessuno. Mio padre aveva fatto servizio nelle ambulanze, come giovane medico, negli anni 80.1203
Diese Dialoge verankern den aktuellen Ich-Erzähler zum einen noch einmal tief im südlichen Kontext. Zum anderen werden bereits in der kindlichen Situation die Wurzeln zur Rebellion und Auflehnung gegen ein von Gewalt durchsetztes System gelegt. Diese Rebellion findet ihren dringlichsten Ausdruck im folgenden Kapitel »Cemento armato« in der Adaption und Korrektur des »Io so« von Pasolini. An dieser Stelle ist jedoch nicht nur die Fundierung im intertextuellen Verweis von Interesse,1204 das Augenmerk soll vor allem auf das nunmehr wütende Wissen1205 des erzählenden Protagonisten gelenkt werden, der endgültig jede Neugier mit Zorn und jede Naivität mit Wissen vertauscht hat und dem System den Krieg erklärt: »Io so e ho le prove. Non faccio prigionieri.«1206 Mit diesen Worten endet das Kapitel und markiert einen Scheidepunkt im Entwicklungsprozess des Protagonisten. Der emotionale Umschlag des Protagonisten in Wut sowie die enge Verknüpfung der allgemeinen Geschichte mit der persönlichen im familiären Kontext1207 finden im Kapitel »Don Peppino Diana« ihre Fortführung. Auch der Tod des Priesters wird in einer Erinnerung des jugendlichen Ich beschworen, in denen weiße, aus dem Fenster gehängte Laken – in der italienischen Kultur mit weitreichender Tradition versehen1208 – gleich zu Beginn nicht nur Symbol der 1203 Vgl. Saviano 2008, S. 189. 1204 Diese wird in Kap. 6.3.2 der vorliegenden Arbeit näher besprochen. 1205 Das Erzähler-Ich formuliert am Grab Pasolinis: »[…] l' iniziai a biasciare la mia rabbia, con pugni stretti sino a far entrare le unghie nella carne del palmo. Iniziai a articolare il mio io so, l’io so del mio tempo.« Saviano 2008, S. 233. 1206 Ebd., S. 240. 1207 Es werden eine Tante und Cousins aufgeführt. Vgl. Saviano 2008, S. 241f. 1208 Traditionell weiße Laken, die vom Balkon oder aus den Fenstern herabhängen, haben in den verschiedensten Kontexten Bedeutung. Sie werden etwa zur Fronleichnamsfeier aufgehängt oder zu Beerdigungen wichtiger Persönlichkeiten. Generell erinnert das weiße Laken auch an das Grabtuch Christi. Im häuslichen Kontext steht es für Intimität, für eine
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Trauer, sondern auch der Wut werden: »Furono il rabbioso lutto issato quando si svolsero i funerali di don Peppino Diana.«1209 Das Bild der durch die Laken nach außen getragenen Wut wird auf den in ein Laken gewickelten Ich-Erzähler übertragen, der von seiner Tante brüsk geweckt wird, um auch die schutzgebende Decke des Neffen zum Protestsymbol werden zu lassen: Mi sveglik mia zia, come sempre, ma con una violenza strana, mi sveglik tirandomi il lenzuolo in cui ero rannicchiato, come si fa quando si srotola un salame dalla carta. Quasi cascai giF dal letto. Mia zia non disse niente e camminava facendo un rumore fortissimo, come se sfogasse tutto il nervosismo sui talloni. Annodava questi lenzuoli alle ringhiere di casa, stretti, neanche un tornado avrebbe potuto scioglierli. Spalancava le finestre, faceva entrare le voci, uscire i rumori di casa, persino gli stipi dei mobili erano aperti.1210
Man könnte annehmen, dass der jugendliche Ich-Erzähler hier nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinn dem Schlaf und ein Stück weit seiner Naivität entrissen wird.1211 Bezeichnend ist an dieser Stelle zudem die Darstellung der wechselseitigen Durchdringung von Außen und Innen, von Privatem und Öffentlichem – einerseits nach Walter Benjamin und Asja Lacis ein als Porosität benanntes, typisches Charakteristikum Neapels1212 – an dieser Stelle andererseits dringlicher Ausdruck der Bedeutung des Todesfalls in seiner Gesamtheit für jeden einzelnen. Die Kindheitserinnerung aus dem Kapitelincipit wird übergeleitet in die wesentlich sprödere Darstellung des Lebens und Anliegens des Priesters, das wiederum in der Beschreibung übergeht in poetologisch lesbare Passagen.1213 Die Wut und Anspannung, die zu Beginn des Kapitels in der familiären Szene aufgebaut wird, löst sich gegen Ende in einem Lachen auf, das eine ironische Gerichtsszene gebiert und einer Art müder Hys-
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Art stillen Zeugen jedes Übergangsritus wie etwa für die Geburt, die Hochzeit oder den Tod. In den Antimafia-Kampf hat es mit dem Tod Giovanni Falcones Eingang gefunden. Das sogenannte »movimento dei lenzuoli bianchi« hat keine offiziell staatlichen Hintergründe, sondern findet seine Wurzeln in einer Protestaktion des Volkes. Palermitanische Frauen hängten nach dem Mord an Falcone mit Parolen beschriebene weiße Laken aus den Fenstern. Diese zunächst spontane Reaktion ist zum Ritus geworden, der regelmäßig wiederholt wird, um die schreckliche Tat nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Der Modus hat sich auch bei weiteren Fällen fortgesetzt. Vgl. dazu etwa Daniela Bartalesi-Graf: L’Italia dal fascismo ad oggi: Percorsi paralleli nella storia, nella letteratura e nel cinema. Perugia: Guerra Ed. 2006, S. 267f. Den Hinweis auf die Vielfalt der Symbolik weißer Laken in Italien verdanke ich Isabella Vergata. Saviano 2008, S. 241. Ebd., S. 241. Der Vergleich des Auswickelns wie das einer Salami ruft eine Art Unbeholfenheit hervor. Vgl. Walter Benjamin / Asja Lacis: »Neapel«, In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften Bd. IV.1. Unter Mitw. v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem. Hg. v. Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 307–316. Vgl. Saviano 2008, S. 242. Nähere Ausführungen dazu in Kap. 6.3.3 der vorliegenden Arbeit.
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terie geschuldet ist. Der Mörder Falcones, Nunzio de Falco, genannt »’o lupo«, wird von einem Anwalt namens Gaetano Pecorella verteidigt: »Ridevo perch8 i clan erano cos' forti da aver persino ribaltato gli assiomi della natura e delle fiabe. Un lupo si faceva difendere da una pecorella. Ma il mio, forse, fu un delirio di stanchezza e un crollo di nervi.«1214 Im Verstehen der gewaltigen Herrschaft der Clans und der Tragweite der Situation kippt – zumindest für einen Moment – auch die Wut des erzählenden Protagonisten, der so nach und nach verschiedene emotionale Stadien in seinem Entwicklungsprozess durchläuft. Es wird ein Augenblick der Schwäche und (scheinbaren) Aufgabe kreiert, der einmal mehr die absurde Macht der zu bekämpfenden Mafia illustriert. Die ins Groteske überbordenden Reaktionen auf camorristische Allmacht finden einen erneuten Höhepunkt im Kapitel »Hollywood«, in dem der IchErzähler noch einmal die ganze körperliche Gefühlspalette, einschließlich physischer Reaktionen, synthetisiert, um eine sprichwörtliche Legende (die der Villa Hollywood) an die Wirklichkeit anzuschließen: Passeggiando lentamente per Hollywood, quelle che credevo fossero voci di esagerata leggenda mi paiono invece corrispondere al vero. I capitelli dorici, l’imponenza delle strutture dell’edificio, il doppio timpano, la vasca in camera, e soprattutto le scalinate all’entrata, sono i calchi della villa di Scarface. Mi aggiravo per quelle stanze annerite, mi sentivo il petto gonfio come se gli organi interni fossero diventati un unico, grande cuore. Lo sentivo battere in ogni parte e sempre piF forte. La saliva mi si era prosciugata a forza di fare lunghi respiri per calmare l’ansia. […] Mi cresceva dentro una rabbia pulsante, mi passavano alla mente come un unico blob di visioni smontate le immagini degli amici emigrati, quelli arruolati nei clan e quelli nell’esercito, i pomeriggi pigri in queste terre di deserto, l’assenza di ogni cosa tranne gli affari, i politici spugnati dalla corruzione e gli imperi che si edificavano nel nord dell’Italia e in mezz’Europa lasciando qui soltanto monnezza e diossina. E mi venne voglia di prendermela con qualcuno. Dovevo sfogarmi. Non ho resistito. Sono salito con i piedi sul bordo della vasca e ho iniziato a pisciarci dentro. Un gesto idiota, ma piF la vescica si svuotava piF mi sentivo meglio.1215
Die einzelnen Schritte laufen hier zunächst wieder über Unglauben (beziehungsweise Glauben an eine Legende) zum Wissen um die Wirklichkeit, die Beschreibung massiver Größen, die die camorristische Macht symbolisieren und die wiederum im berichtenden Protagonisten körperlich spürbare Wut auslösen, die ihr Bild in den sich zum großen, pulsierenden Herzen zusammenschließenden Organen findet. Diese Wut und der Wunsch, sich Luft zu machen, lösen sich jedoch nicht in Gewalt oder – wie zuvor – in körperlicher Anstrengung (›Fortrennen‹) auf, sondern in einer bewusst lächerlichen und sinnlosen Geste (das Pinkeln in die prunkvolle Badewanne), die aber Verachtung 1214 Ebd., S. 261. 1215 Ebd., S. 271f.
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zum Ausdruck bringt und somit eine weitere Facette des erzählenden Ich aufzeigt. Zugleich synthetisiert dieser Abschnitt viele der für Gomorra inhaltlich wichtigen Anklagepunkte, wie die durch Perspektivlosigkeit hervorgerufene Emigration oder den Beitritt zur Camorra, die Vormacht der Wirtschaft, die Korruption der Politiker und die stetig anwachsenden Müllberge. Es scheint, als solle an dieser Stelle nicht nur die Legende um das Heim des Mafiabosses als wahr aufgedeckt werden, sondern auch der Mythos entkräftet, dass es die Mafia – in diesem Fall die Camorra – überhaupt nicht gebe.1216 Die letzten beiden Kapitel setzen den Fokus noch einmal auf die Verbundenheit des Ich-Erzählers mit der ihn umgebenden Region, die mehrfach als Geburtsort benannt wird, von dem er sich trotz des ambigen Verhältnisses nicht zu lösen vermag: »Non sono mai riuscito a sentirmi distante, abbastanza distante da dove sono nato, […]«.1217 Die Verbindung zum Geburtsort bringt eine Art Fluch des Verstehens mit sich. Damit wird das Ende zum Gipfel des Verständnisprozesses, der nunmehr nicht bei einem ersten Begreifen oder Wissen verharrt, sondern in die Tiefe geht: »E io riuscivo a capire i tracciati, le strade, i sentieri, con ossessione inconsapevole, con una capacita maledetta di capire sino in fondo i territori di conquista.«1218 Das erzählende Ich legitimiert sich hier nicht nur ein letztes Mal als Zeuge, der in der Lage ist, zu berichten, weil er das Wissen aus eigenem Erleben heraus hat, er stellt diesen Prozess als unabdingbar und zwingend dar. Das Excipit, der Schlusspunkt der Reise und des Bildungsweges, auf den das erzählende Ich seine Leser mitnimmt, steht durch den Fokus auf die Geburt und den Geburtsort einem typisch autobiographischen Incipit nahe. Man könnte an dieser Stelle von einer retrograd klimaktischen Autobiographie sprechen, die sich in stetigem Crescendo gegen Ende ihrem Anfang zuwendet. Gleichzeitig ist dieses Ende ein pathetisches Schlussplädoyer für einen Kampf für Menschlichkeit und gegen die Camorra; es heißt: Sono nato in terra di camorra, nel luogo con piF morti ammazzati d’Europa, nel territorio dove la ferocia e annodata agli affari, dove niente ha valore se non genera potere. Dove tutto ha il sapore di una battaglia finale. Sembrava impossibile avere un momento di pace, non vivere sempre all’interno di una guerra dove ogni gesto puk divenire un cedimento, dove ogni necessit/ si trasformava in debolezza, dove tutto devi conquistarlo strappando la carne all’osso. In terra di camorra, combattere i clan non e lotta di classe, affermazione del diritto, riappropriazione della cittadinanza. Non H la presa di coscienza del proprio onore, la tutela del proprio orgoglio. E qualcosa di piF essenziale, di ferocemente carnale. In terra di camorra conoscere i meccanismi d’affermazione dei clan, le loro cinetiche d’estrazione, i loro investimenti significa capire 1216 Pascale Gaetano hat diesem Thema eine Monographie gewidmet. Ders.: La Camorra non esiste. Eir 2014. 1217 Saviano 2008, S. 308. 1218 Ebd.
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come funziona il proprio tempo in ogni misura e non soltanto nel perimetro geografico della propria terra. Porsi contro i clan diviene una guerra per la sopravvivenza, come se l’esistenza stessa, il cibo che mangi, le labbra che baci, la musica che ascolti, le pagine che leggi non riuscissero a concederti il senso della vita, ma solo quello della sopravvivenza. E cosi conoscere non e piF una traccia di impegno morale. Sapere, capire diviene una necessita. L’unica possibile per considerarsi ancora uomini degni di respirare.1219
Die Passage unterliegt einer strikten Dreiteilung, die einzelnen Abschnitte werden jeweils durch ein »terra di camorra« eingeleitet. Der erste Teil resümiert zunächst die Basis der Anklage und des Kampfaufrufes. Der zweite erklärt, was nicht Sinn und Zweck des Anti-Camorra-Kampfes ist, der dritte Teil spezifiziert die Beweggründe. Die enge Kopplung zwischen dem erlebenden und erzählenden Ich und dem beschriebenen Ort, die zu Beginn vorgestellt wird, führt noch einmal vor Augen, dass das Autobiographische im Werk keinem Selbstzweck dient, sondern funktionalisiert ist. Vier Mal wird der Geburtsort bereits zu Beginn der Passage im Hinblick auf seine Beschaffenheit unter der ›Regierung‹ der Camorra spezifizierend wieder aufgenommen (»nel luogo«, »nel territorio«, 2x »dove«). Dabei verstärkt die parallele Syntax bei konträrem Inhalt des »dove niente« und »dove tutto« die Verschränkung von Kampf und Macht, die wiederum an eine grausame Wirtschaft rückgebunden ist. Das apokalyptische Bild der »battaglia finale« ist isotopisch eingebettet in die Unmöglichkeit des Friedens und ein Leben im Krieg, das Schwächen verbietet. Daraufhin wird unterstrichen, dass der Kampf gegen das System keinesfalls einem selbstverliebten Zweck dient, sondern ein existenzielles Anliegen ist. Der dritte Teil definiert das Verstehen der Mechanismen und weitet es überregional aus, auf ein Verstehen der eigenen Zeit (»capire come funziona il proprio tempo in ogni misura e non soltanto nel perimetro geografico della propria terra«). Die Überschreitung des Regionalen entspricht der Übertragung der Geschichte und damit der Verantwortung vom erzählenden Ich auf jeden Einzelnen, auf die Leser, die durch ein allokutives Du (»il cibo che mangi, le labbra che baci, la musica che ascolti, le pagine che leggi non riuscissero a concederti il senso della vita«) hier auch grammatikalisch direkt miteinbezogen werden.1220 Der Autor-Erzähler kreiert durch das sich fortwährend entwickelnde, lernende und kämpfende Ich, das durch autobiographische Einsprengsel immer wieder die Grenzen des Textes zu überschreiten scheint, um somit auch das Erzählte stärker in der extratextuellen
1219 Vgl. Saviano 2008, S. 330f. 1220 Das bemerkt auch Ghelli: »L’uso continuo del ›tu‹ allocutivo chiama costantemente in causa il lettore, lo rende partecipe perch8 in questo modo anche lui, al pari di chi racconta, possa capire. Non c’H scelta, per comprendere bisogna rinunciare alla neutralit/ quanto all’oggettivit/ ed immergersi dentro le cose: […]«. Vgl. ders. 2013, S. 94.
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Wirklichkeit zu verankern, eine pseudo-kommunikative Situation, die den Leser aktiviert.
6.2.2 Chorales Stellvertretererzählen: Zur Absorption der Nebenfiguren Im Gegensatz zu Gomorra verzichten Verismus und Naturalismus des 19. Jahrhunderts auf subjektives Erzählen, es ist verpönt. Der Stil ist unpersönlich, Objektivität und kollektive Breite sollen die Erzählungen und Romane dominieren. In Bezug auf Vergas Malavoglia wird der Begriff der Choralität geprägt, eine Art der Darstellung, die eine spezifische Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit zu Wort kommen lässt. So wird schon der erste Satz der Malavoglia, »Un tempo i Malavoglia erano stati numerosi come i sassi della strada vecchia di Trezza«, nicht als Autoraussage gewertet, sondern als eine »citazione del coro«.1221 Ebenso gilt sprichwörtliches Reden als Ausdruck eines Kollektivs, zumindest wenn ein Beispiel mit allgemeinen Gebräuchen verbunden wird.1222 Vor allem aber die in erlebter Rede wiedergegebenen Ansichten und Gedanken der verschiedenen Charaktere definiert Leo Spitzer als chorales Erzählen,1223 in dem einzelne Figuren zum Echo des Kollektivs werden.1224 Dieser Chor des zusammengeschlossenen Kollektivs wird als eine Art anonyme Figur bezeichnet, die nicht einmal mit einem Pronomen, sondern höchstens mit einer Verbalform expliziert wird.1225 Spitzer führt an: »Il Verga ci immerge dal principio nell’atmosfera locale, e ci d/ l’illusione di esser presenti al parlare di un ente collettivo, di un ›coro‹.«1226 Wie in den Malavoglia die Gemeinschaft Aci Trezzas ›zu Wort‹ kommen soll, so ist der Vermittlungsgegenstand in Gomorra das Schicksal der parthenopäischen Bevölkerung. Allerdings verweigert sich der Roman von Beginn an dem veristischen und naturalistischen Neutralitätsgebot. Der Text wird von dem bereits nachgezeichneten erlebenden und erzählenden Protagonisten dominiert. Aber auch wenn das erlebende Ich eine fast ununterbrochene Konstante im Text ist, die maßgeblich an Ordnungsprinzip und Sinnvermittlung beteiligt ist, so hat der Leser es doch nicht mit einem reinen 1221 Leo Spitzer : »L’originalit/ della narrazione nei ›Malavoglia‹«, Belfagor 11 (1956), S. 37–53, hier S. 38. 1222 Vgl. ebd., S. 40. 1223 Einmal ersetzt er gar das »libero« der erlebten Rede (ital.: »discorso indiretto libero«) durch »corale«. Vgl. ebd., S. 49. 1224 Spitzer macht das anhand der Figur der Mena (Filomena) aus den Malavoglia fest. Vgl. ders. 1956, S. 43. Weiter im Text benennt er den Chor als »coro di parlanti popolari semireali«. Siehe ebd., S. 45. 1225 Ebd., S. 45. 1226 Ebd., S. 44.
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Stimm-Monopol des erzählenden Protagonisten zu tun. Manchmal – bemerkt Dal Lago – spricht dieser im Namen anderer.1227 Auch Marcella Marmo stellt fest: […] Saviano si affida piuttosto all’io narrante, che interviene a spezzare la ricostruzione discorsiva delle tante vicende di clan e di boss […]. L’io narrante non H peraltro sempre l’autore, ma si sposta verso molto altri attori del milieu e dello stesso Sistema, portando lo zoom verso i soggetti, le storie e le percezioni della tragica violenza diffusa. Un io narrante mobile e corale fa dunque del racconto-verit/ un romanzo. Dalla capacit/ di catturare molte voci derivano al libro il suo carattere coinvolgente e insieme le complessit/ del discorso di Gomorra.1228
Das Ich bewegt sich in den einzelnen Kapiteln sozusagen von Figur zu Figur – manchmal auch ein Stück weit mit ihnen – und lässt dem Leser deren Geschichten zuteilwerden, wodurch eine im Gegensatz zu Vergas Prinzip veränderte, neuartige Choralität an Boden gewinnt und der ansonsten subjektiv gehaltenen Erzählung mehr Bandbreite und damit die Sicht eines Kollektivs verleiht. Die Funktion dieser Figuren sowie die neuartige Form der Choralität sollen im Folgenden vorgeführt werden. Der Text führt – neben der Aufzählung der bedeutenden Camorristi der verschiedenen Clans – eine ganze Reihe unterschiedlichen Personals in verschiedenen Rollen ein. In Auswahl zu nennen sind: Xian Zhu (Nino), ein Unternehmer im Modegeschäft,1229 Pasquale, ein neapolitanischer Schneider,1230 Emanuele (Manu) Leone, ein Jugendlicher aus der Gegend des Parco Verde,1231 der kleinere Raubüberfälle verübt und dabei getötet wird. Gelsomina (Mina) Verde, eine junge Frau und Freundin des scissionista Gennaro Notturno, die während der ersten Fehde von Scampia gefoltert und getötet wird.1232 Pikachu und Kit Kat, Jungen, fast noch Kinder, einer Gruppe camorristischer Jugendlicher, die im Zusammenhang mit dem Mord an Carmela Attrice (Pupetta) auftreten;1233 Letztere wird als Mutter eines scissionista im Camorrakrieg verraten und ermordet. Don Ciro, der als »sottomarino« die Löhne der Camorristi verteilt;1234 Annalisa Durante, ein junges Mädchen, das auf der Straße in einen 1227 »talvolta parla a nome di singoli altri, a cui non d/ il nome, talvolta a nome della comunit/. Certe volte H proprio lui, ma non sempre in primo piano. Segue le faccende un po’ da lontano, poi decide di zoomare, scende in pista e d/ una spintarella alla storia. Cos' entra in scena, ci tira dentro e ci fa immedesimare nei personaggi.« Dal Lago 2010, S. 41. 1228 Marcella Marmo: »Camorra come Gomorra. La citt/ maledetta di Roberto Saviano«, Meridiana 57 (2006), S. 207–219, hier S. 209. 1229 Kap. 1 und 2. 1230 Kap. 2 und 4. 1231 Kap. 2. 1232 Kap. 4, S. 96ff. 1233 Jeweils Kap. 4, S. 11ff. 1234 Kap. 5.
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Schusswechsel gerät und stirbt;1235 Mariano, ein Freund des Erzählers, der auf eine Reise geht, um Michail Kalaschnikow kennenzulernen;1236 die Familie Savianos (Vater, Tante, Cousins),1237 Cipriano, ein Freund des ermordeten Priesters Don Peppino Diana.1238 Giuseppe und Romeo, zwei Jungen, die ihre eigenen Herren sein wollten und von der Camorra ausgeschaltet werden;1239 Matteo, ein Freund des Erzählers, der nach Schottland auswandert,1240 und Franco, ein »stakeholder«, Mitarbeiter in der illegalen Abfallindustrie.1241 Dieses unterschiedliche Personal lässt sich aufteilen in: a) tatsächlich existierende Personen: Gelsomina Verde, Gennaro Notturno, Carmela Attrice, Annalisa Durante b) fiktive Figuren, die kein eindeutig zuordenbares Korrelat in der Wirklichkeit haben: Xian, Emanuele, Pasquale, Pikachu und Kit Kat, Don Ciro, Mariano, Cipriano, Giuseppe / Romeo, Matteo, Don Ciro und Franco Des Weiteren fällt auf, dass innerhalb der beiden Gruppen je Täter und Opfer vertreten sind: Einige kann man sowohl als Täter als auch als Opfer bezeichnen. So etwa sind Emanuele, Giuseppe und Romeo als Kleinkriminelle zu verorten und doch erscheinen ihre Tode als sinnlose Opfer. Auch die Jungen um Pikachu und Kit Kat werden als Opfer der Umstände gezeichnet: Sie sind bereits im Dunstkreis der Camorra gefangen, ihr Lebensweg ist somit mehr oder weniger vorgezeichnet. Xian und Pasquale werden zu Führer- und Lehrerfiguren des erlebenden Ich, wobei Xian in leitender Position des eindringenden ausländischen Wirtschaftssystems zu verorten ist, während Pasquale als ein unterbezahlter Angestellter der heimischen Camorra zu deren Opfer wird. Beide Figuren tauchen nur in der Prima parte des Romans auf, Xian nur in den ersten beiden Kapiteln. Nur in der ersten Phase des Romans scheint eine solche Führung des erzählenden Protagonisten nötig. Auf eine solch ›enge‹ Beziehung zum erzählenden Ich wie im Fall Xians und vor allem Pasquales wird bei den weiteren Figuren nicht zurückgegriffen. Sie bleiben dem Leser zwar in ihrer Rolle als Opfer oder Opfer-Täter in Erinnerung, zumeist aber haben sie keine eigene oder nur eine durch Gespräch und Kommentar des erzählenden Protagonisten gelenkte Stimme. Pellini bemerkt: »Saviano, salvo eccezioni, non d/ la parola ai personaggi che evoca: n8 ai carnefici, n8 alle vittime. ð raro, in Gomorra, il ricorso al dialogo […]; quasi assente quello 1235 1236 1237 1238 1239 1240 1241
Kap. 5. Kap. 6. Kap. 6, 8 und 10. Kap. 8. Kap. 9. Kap 10. Kap. 11.
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all’indiretto libero […]; sporadica l’irruzione di voci diverse da quella del narratore.«1242 Mittel, die Verga noch zur Erzeugung der Choralität einsetzt, scheinen in Gomorra ausgeschaltet. Trotzdem spielt das Kollektiv im Schatten des Ich eine wichtige Rolle. Wu Ming I spricht an dieser Stelle von einem polyphonen Ich.1243 Interessant ist jedoch nicht nur die Relation der Figuren zum erzählenden Ich, sondern auch die Art, in der in ihren Geschichten Wahrheit und Fiktion verschmolzen werden. So etwa in den parallel aufgebauten Passagen der Fälle von Annalisa Durante und Emanuele. Während die wahre Geschichte der Annalisa Durante, die in einem Schusswechsel der Camorra auf der Straße viel zu jung zu Tode kommt, zwar den Rahmendaten entsprechend übernommen, in der Ausschmückung jedoch fiktionalisiert wird,1244 ist Emanueles fiktiver Tod im Parco Verde literarisch nach dem Vorbild von Annalisa geformt und erhält somit vermehrt Glaubhaftigkeit. An diesem erzählerischen Schachzug ist gut erkennbar, dass Gomorra zum einen tatsächlich als Roman, also als ›schöne‹ Literatur wahrzunehmen ist, und zum anderen, wie Realismus im Dienste einer ›höheren‹ Wahrheit funktionieren kann. Es geht an dieser Stelle weniger um die spezifische Wahrheit im Einzelfall der Annalisa Durante, sondern um eine anthropologische Realität. Antonio Pascale formuliert: La domanda che ci si pone dopo aver letto »la verit/ della Andolfo« H, prima di tutto: chi ha ragione? […] Chi conosce quelle realt/ antropologiche sa che cik che racconta Saviano H vero: magari non Annalisa quella sera, ma le ragazzine in alcuni quartieri di Napoli vestono proprio nel modo in cui Saviano le ha descritte e Annalisa, suo malgrado, H finita nel reparto simbolico. […] Uno scrittore puk sacrificare una dose di verit/ per una maggiore giustizia ed efficienza narrativa.1245
1242 Pellini 2011, S. 155. Pellini verweist an dieser Stelle auf die Diversität zum unpersönlichen Stil der zolaschen Rougon-Macquart. 1243 Wu Ming 1: »WU MING / TIZIANO SCARPA: FACE OFF. Due modi di gettare il proprio corpo nella lotta. Note su affinit/ e divergenze, a partire dal dibattito sul NIE«, Il primo amore (16. 03. 2009), [IQ]. 1244 Dieses Vorgehen hat Polemiken ins Leben gerufen, die moralischer wie literarischer Natur waren. Die größte Kritikerin war die Journalistin Matilde Andolfo, die das Tagebuch der jungen Annalisa ediert hat. Die inhaltlichen Kritikpunkte bezogen sich hauptsächlich auf die verfälschte Darstellung der Kleidung: in Gomorra heißt es: »Indossava un vestitino bello e suadente. Aderiva al suo corpo teso e tonico, gi/ abbronzato. Queste serate sembrano nascere apposta per incontrare ragazzi, e quattordici anni per una ragazza di Forcella H l’et/ propizia per iniziare a scegliersi un possibile fidanzato da traghettare sino al matrimonio.« In Wahrheit sei das Mädchen noch sehr kindlich gewesen und habe Jeans und T-Shirt getragen. Vgl. Antonio Pascale: »Il responsabile dello stile«, In: Christian Raimo [Hg.]: Il corpo e il sangue d’Italia. Otto inchieste da un paese sconosciuto Roma: Minimum Fax 2007, S. 52–95, hier S. 81ff. 1245 Pascale 2007, S. 83.
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Beide Figuren – Emanuele und Annalisa – zeichnen sich dadurch aus, dass sie zu früh gestorben sind. Kinder in einer kriminellen Welt, die das Kindsein nicht respektiert. Annalisa stirbt bei einem harmlosen Treffen mit Freunden durch Schüsse eines Camorrista, Emanuele hingegen bei der ›Arbeit‹, kleineren Raubüberfällen in der Gegend des Parco Verde1246 durch elf Schüsse eines Polizisten, der seinerseits ständig darauf gefasst ist, zu töten oder getötet zu werden.1247 Der Pfarrer rezitiert: »Oggi non H morto un eroe…«.1248 Die Schuldhaftigkeit des Jungen wird abgeschwächt und das Absurde der neapolitanischen Gesamtsituation verstärkt, weil die von Emanuele bei den Überfällen verwendete Waffe sich als Spielzeug entpuppt. Das ›Falsche‹ und ›Fingierte‹ dominiert die gesamte Passage: [Emanuele a]veva in mano una pistola, e aveva fatto il gesto di puntarla contro i carabinieri. Lo ammazzarono con undici colpi sparati in pochi secondi. […] Emanuele era incartocciato su se stesso, aveva in mano una pistola finta. […] Un giocattolo che veniva usato come fosse vero; del resto Emanuele era un ragazzino che agiva come fosse un uomo maturo, sguardo spaventato che fingeva d’essere spietato, la voglia di qualche spicciolo che fingeva essere brama di ricchezza.1249
Der Textabschnitt will einmal mehr das parthenopäische Leben am Limit aufzeigen, in dem (scheinbares) Spiel allzu schnell Ernst wird, beziehungsweise das Spiel einen ernsten Hintergrund hat: den, einen kleinen ›Verdienst‹ zu erhalten (»qualche spicciolo«). Die Tragik der ermordeten jungen Menschen manifestiert sich im Text über die formelhafte Wiederholung des Alters, zunächst durch das erzählende Ich im Kommentar : »Quindici anni in certi meridiani di mondo sono solo una somma. Crepare a quindici anni in questa periferia sembra scontare una condanna a morte piuttosto che essere privati della vita«,1250 heißt es in der Geschichte Emanueles. Mit der Verwendung des Verbes crepare wird das Sein des Jugendlichen herabgewürdigt auf den Status eines Tieres. Zudem wird der Vorgang des Verendens mit dem Verbüßen der Todesstrafe gleichgesetzt, die sich allein aus einer Art an die Umgebung gekoppelte Erbschuld ergibt. Das Alter des Opfers findet sich auch in der Predigt des Priesters, in der es immer wieder 1246 »Emanuele, morto sul lavoro. Un lavoro che in certe zone H persino peggio del lavoro nero in fabbrica. Ma H un mestiere. Emanuele faceva rapine. E le faceva sempre di sabato, tutti i sabato, da un po’ di tempo. E sempre sulla stessa strada. Stessa ora, stessa strada, stesso giorno. […] Ripulivano le coppiette e se ne andavano nei weekend con decine di rapine fatte e cinquecento euro in tasca: un bottino minuscolo che puk avere il sapore del tesoro.« Saviano 2008, S. 28. 1247 »Sparare undici colpi a bruciapelo significa avere la pistola puntata ed esser pronti al minimo segnale sparare. Sparare per uccidere e poi pensare di farlo per non essere uccisi.« Saviano 2008, S. 29. 1248 Ebd., S. 33. 1249 Ebd., S. 29. 1250 Ebd., S. 32.
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refrainartig aufgenommen wird.1251 In der Darstellung des Todes von Annalisa Durante wird die Wiederholung des Alters sogar explizit thematisiert. Die Passage wird zu einem stream of consciousness, der das erzählende Ich wieder verstärkt in den Vordergrund holt: »Annalisa Durante, uccisa a Forcella il 27 marzo 2004 dal fuoco incrociato, a quattordici anni. Quattordici anni. Quattordici anni. Ripeterselo H come passarsi una spugna d’acqua gelata lungo la schiena«.1252 Weiterhin wird in beiden Passagen die Verabschiedung der Toten stilisiert, die Begräbnisse bekommen einen neuen Symbolcharakter, der sich in einem jeweils angepassten Requiem – bei Emanuele in Form vom Motorheulen der Räder Gleichaltriger und bei Annalisa durch das Handyklingen der Freundinnen – manifestiert.1253 Dies bettet die Opfer jeweils in eine Gruppe Gleicher. Emanuele und Annalisa werden zu Beispielen, zu symbolischen Stellvertretern des Kollektivs. Die sie verabschiedenden Gleichaltrigen leben potenziell in derselben Gefahr, was Tragik und Pathos der Aussage verstärkt. Die Verbindung von Emanuele und Annalisa zum erzählenden Ich wird durch dieselbe Aussage in zwei nahezu identischen Sätzen hergestellt: »Al funerale di Emmanuele c’ero stato«1254 und »Sono stato al funerale di Annalisa Durante«1255. Es ist die schlichte Anwesenheit des Ich-Erzählers, die in einfacher Syntax vermittelt wird. Die simple Intarsie jedoch reicht aus, um die Passagen als durch das Ich erlebt und gelenkt zu lesen. Die Geschichten der beiden Jugendlichen werden zur Geschichte des Ich-Erzählers, der sie sich durch seine bloße Anwesenheit aneignet und wiederum durch die eigene Präsenz Glaubhaftigkeit für den Leser zu schaffen sucht. Das erzählende Ich absorbiert sozusagen die angedeutete Choralität des Textes, es scheint durch sein Vorgehen und die dauerhafte Präsenz 1251 »›Per quante responsabilit/ possiamo attribuire a Emanuele, restano i suoi quindici anni. […] Il Padreterno terr/ conto del fatto che l’errore H stato commesso da un ragazzo di quindici anni. Se quindici anni nel sud Italia sono abbastanza per lavorare, decidere di rapinare, uccidere ed essere uccisi, sono anche abbastanza per prendere responsabilit/ di tali cose‹. […]. ›Ma quindici anni sono cos' pochi che ci fanno vedere meglio cosa c’H dietro, e ci obbligano a distribuire la responsabilit/. Quindici anni H un’et/ che bussa alla coscienza di chi ciancia di legalit/, lavoro, impegno. Non bussa con le nocche, ma con le unghie‹.« Saviano 2008, S. 33. 1252 Ebd., S. 167. 1253 Bei Emanuele: »Un corteo di ragazzi in moto si schierk vicino alla macchina, la macchina lunga dei morti, pronta a trasportare Manu al cimitero. Acceleravano. Col freno premuto. Il rombo dei motori fece da coro all’ultimo percorso di Emanuele. Sgommando, lasciando ululare le marmitte. Sembrava volessero scortarlo con quelle moto sino alle porte dell’oltretomba.« Saviano 2008, S. 34. Bei Annalisa: »Mentre il corpo di Annalisa nella bara bianca viene portato via a spalla, la compagna di banco lascia trillare il suo cellulare. Squilla sul feretro: H il nuovo requiem. Un trillo continuo, poi musicale, accenna una melodia dolce. Nessuno risponde.« Ebd., S. 173. 1254 Ebd., S. 32. 1255 Ebd., S. 168.
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die bei Verga anonyme Figur des unterlegten Kollektivs zu verschlucken und sie damit zu verkörpern. Das Ich bewegt sich inmitten seiner Figuren und zeigt somit eine Zugehörigkeit, die man – so bemerkt Spitzer – bei Verga oder auch Zola nicht findet.1256 Sowohl der fiktive Charakter des Emanuele als auch die tatsächliche, jedoch in Teilen fiktionalisierte Annalisa werden – einer tatsächlichen Persönlichkeit und Stimme beraubt – zu Dummy-Figuren, die stellvertretend für eine Gruppe stehen, sich jedoch niemals als Charaktere entwickeln oder das Wort ergreifen dürfen. Diese Nebenfiguren, die den Leser mit ihren Geschichten betroffen machen, erweitern zwar scheinbar das Spektrum und nivellieren den maßgebenden Blickpunkt, sollen jedoch in der Hauptsache Emotionen erzeugen, die die Ausführungen des Ich-Erzählers untermauern. In ähnlicher Weise, jedoch in anderen Kontexten, funktionieren die Figuren des Pikachu, Kit Kat, Mariano, Matteo und Franco.1257 Ihre Stimmen scheinen (fast) nur durch den Erzähler Saviano hörbar zu werden, der so dennoch den Effekt kollektiver Breite zu erzielen vermag. Während Verga etwa seine Figuren durch den Einsatz von erlebter, indirekter oder direkter Rede ›zu Wort‹ kommen lässt, so dienen zwar auch die Figuren Savianos dem Choralitäts-Effekt, jedoch bleiben sie de facto Masken des Autor-Erzählers. Die einzige Figur, die tatsächlich aus diesem Schema auszubrechen scheint, eine Entwicklung erleben und selbstständig agieren darf, ist der Schneider Pasquale. Er wird von Beginn an positiv gezeichnet, geschickt in seiner Arbeit, als Mensch sympathisch und den Umständen entsprechend zufrieden. Aber auch er trägt das Stigma Neapels, das sich in einem bereits in der Jugend gelebten Alter auszeichnet. Im Text wird der Schneider folgendermaßen beschrieben: Tra gli operai dell’imprenditore vincente ne incontrai uno particolarmente abile. Pasquale. […] Lavorava su capi e disegni spediti direttamente dagli stilisti. Modelli inviati solo per le sue mani. Il suo stipendio non fluttuava ma variavano gli incarichi. In qualche modo aveva una certa aria di soddisfazione. Pasquale mi divenne simpatico subito. Appena fissai il suo nasone. Aveva una faccia anziana, anche se era un ragazzone.1258
Pasquale ist zwar einer unter vielen, dennoch sticht er heraus. Diese Sonderrolle wird auch in der Beziehung zum erzählenden Ich unterstrichen. Zum einen äußert sie sich in einer quasi Gleichstellung (»Io e Pasquale legammo molto«)1259, zum anderen ist seine Familie der einzige Quell tatsächlicher Freude im Text: »Avevo cominciato anche a frequentare casa sua. La famiglia, i suoi tre bambini, 1256 Vgl. Spitzer 1959, S. 50. 1257 Diese haben kleinere Redeanteile, die jedoch kaum dazu dienen, tatsächlich konturierte, handelnde Figuren aus ihnen zu machen. 1258 Saviano 2008, S. 39. 1259 Ebd., S. 43.
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sua moglie, mi davano allegria«.1260 Ähnlich wie die Neugier des erzählenden Ich mit der Zeit in Wut umschlägt, wandelt sich auch die anfängliche Zufriedenheit (»soddisfazione«) Pasquales in Zorn, als er erkennen muss, dass ihm für ein von ihm geschaffenes Meisterwerk, ein Kleid, das Angelina Jolie öffentlich trägt, jegliche Anerkennung verwehrt bleibt. Dieser Zorn wird dem Leser allerdings wiederum nur in indirekter Wiedergabe zugänglich. Die Stimme, die man in der Beschreibung zu hören vermag, scheint nicht zu Pasquale zu gehören, sondern ein Kommentar des unterlegten Ich zu sein: Pasquale aveva una rabbia, ma una rabbia impossibile da cacciare fuori. Eppure la soddisfazione H un diritto, se esiste un merito questo dev’essere riconosciuto. Sentiva in fondo, in qualche parte del fegato o dello stomaco, di aver fatto un ottimo lavoro e voleva poterlo dire. Sapeva di meritarsi qualcos’altro. Ma non gli era stato detto niente. Se n’era accorto per caso, per errore. Una rabbia fine a se stessa, che spunta carica di ragioni ma di queste non puk far nulla.1261
Sein Aufbegehren gegen das ihn ausnutzende System wird nur angedeutet.1262 Weitere Ausführungen der Wut Pasquales begegnen dem Leser nur in der Vorstellung des Ich-Erzählers: »Mi immaginavo Pasquale per strada, a battere i piedi per terra come quando ci si toglie la neve dagli scarponi. Come un bambino che si stupisce del perch8 la vita dev’essere tanto dolorosa.«1263 In diesem Bereich wird Pasquales Gemütszustand dem Leser nur im Spiegel des erzählenden Protagonisten zugänglich und auch Pasquale verbleibt damit eine DummyFigur. Das ändert sich nach seinem Wechsel von der Stoffindustrie zum LKWFahrer im Einzugsbereich der Familie Licciardi aus Secondigliano. Pasquale wird zum Informanten des erzählenden Ich.1264 Mehr als zuvor in der Rolle des Lehrers in der Modebranche, wird er hier zur väterlichen Figur, die das erzählende Ich nicht nur aus einer gefährlichen Situation rettet, sondern auch vor weiteren Recherchen zum Drogenhandel in dieser Gegend warnt: Facendo cos' devo aver attirato l’attenzione, poich8 i Visitors iniziarono ad avvicinarmi, a urlarmi contro. […] Non avevo fatto niente. Se non sei un tossico, sarai uno 1260 Ebd. Der Terminus allegria taucht nur einmal im Text auf. Einmal wird von einer »festa troppo allegra per mancare« gesprochen, bei der die Genesung eines camorristischen Jungen gefeiert wird. Sozusagen ›versteckt‹, aber in dieser Teilnahme »felice«, nimmt der Ich-Erzähler daran teil. Weitere Stellen, die Freude oder Glück versprechen, sind in Gomorra nicht zu finden. 1261 Ebd., S. 44. 1262 »Pasquale usc' di casa, non si curk neanche di chiudere la porta. Luisa sapeva dove andava, sapeva che sarebbe andato a Secondigliano e sapeva chi andava a incontrare.« Saviano 2008, S. 45f. 1263 Ebd., S. 45f. 1264 »Da quando aveva smesso di fare il sarto, Pasquale mi aggiornava sull’aria che tirava nella zona, un’aria che andava mutandosi velocemente, alla stessa velocit/ con cui si trasformano i capitali e le direzioni finanziarie.« Saviano 2008, S. 74.
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spacciatore. Spuntk d’improvviso un camion. […] Era Pasquale. Apr' lo sportello e mi fece salire. Non un angelo custode che salva il suo protetto, ma piuttosto due topi che percorrono la stessa fogna e si tirano per la coda. Pasquale mi guardk con la severit/ di un padre che tutto aveva previsto. […] Pasquale aveva capito che non lo stavo ascoltando cos' frenk di botto. Senza accostare, giusto per farmi dare una frustata con la schiena e scuotermi. Poi mi fissk e disse: »A Secondigliano le cose stanno per andare male… […]. Devi smettere di girare da queste parti, sento la tensione ovunque. Pure il catrame mo si stacca da terra per andare via di qua…«1265
Dal Lago bezeichnet Pasquale in dieser Szene als ein äußerst unwahrscheinliches Element der Erzählung und sieht ihn damit in der Funktion eines deus ex machina.1266 Nachdem jedoch die Präsenz des Schneiders durch die neue Arbeit als LKW-Führer im Einzugsbereich eines secondiglianischen Clans genügend motiviert ist, ist diese Argumentation nur bedingt nachvollziehbar. Neben der zweifachen Deutung der Rolle Pasquales in diesem Textabschnitt – einmal als »padre«, also als eine Person in familiärer Hierarchie höhergestellt und, ebenso wie der Ich-Erzähler selbst, als »topo«, in einer Kloake, also gleichgestellt – kann man ihm hier eine zusätzliche Funktion in der Entwicklung des Ich zuordnen. Er wird – gegen seinen Willen, aber alten ›Gesetzen‹ eines Generationenkonflikts folgend – zu einer Art ›Brandbeschleuniger‹ im Entwicklungsprozess des IchErzählers: Avevo deciso di seguire quello che stava per accadere a Secondigliano. PiF Pasquale segnalava la pericolosit/ della situazione, piF mi convincevo che non era possibile non tentare di comprendere gli elementi del disastro. E comprendere significava almeno farne parte. Non c’H scelta, e non credo vi fosse altro modo per capire le cose.1267
Indem der Ich-Erzähler den Rat des väterlichen Freundes ausschlägt, sich von seinem Lehrer emanzipiert und seinen eigenen Weg beschreitet, kommt die Rolle Pasquales an ihr Ende und die Figur taucht im folgenden Text nicht mehr auf. Pasquales positive Beschreibung läuft an dem Punkt aus, an der er die Gefahr um des eigenen Lebens willen zu meiden sucht. Nachdem seine Geschichte erzählt und seine Rolle ausgespielt ist, geht auch er in der allumfassenden Präsenz des Ich-Erzählers auf, der nach und nach das Kollektiv verschluckt, um es dem Leser in der eigenen Anwesenheit näherbringen zu können. Der erzählende Protagonist wird zum Stellvertreter des parthenopäischen Volks, das zwar keine eigene Stimme erhält, jedoch durch ihn zu sprechen vermag. Gemeinsam ist ihnen, dass sie mit den Folgen eines ausufernden Systems kapitalistisch geprägter Kriminalität leben müssen. Die Darstellung und Darstellungsweise der daran in Gomorra geübten Kritik lässt sich am besten in der 1265 Ebd., S. 84ff. 1266 Dal Lago 2010, S. 56. 1267 Saviano 2008, S. 86.
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Offenlegung intertextueller Verweise auf Vorläuferautoren wie etwa Zola und Pasolini zeigen, die ähnliche Themen auf vergleichbare Weise in ihrem Schaffen verarbeitet haben.
6.3
Zur Funktion von Intertextualität und Intermedialität in Gomorra1268
»By now, intertextuality has become the very trademark of postmodernism.«1269
Savianos Gomorra ist einem der Wahrheit und dem Realismus verpflichteten Schreiben verbunden. Trotzdem strotzt es vor intertextuellen und intermedialen Verweisen: beginnend beim Titel, der dem 1. Buch Mose, Kapitel 19 entnommen ist, über eine Vielzahl reportageartiger Einschübe, die italienischen Zeitungsartikeln ähneln, bis hin zu den unterschiedlichsten literarischen und filmischen Anleihen von Joseph Conrad über Pier Paolo Pasolini zu Cesare Pavese, von Quentin Tarantino über Brian De Palma bis Franklin J. Schaffner. Intertextualität und Intermedialität sind Konzepte, die in ihrer Theoriebildung zur Zeit des Poststrukturalismus und der Postmoderne nicht nur einen Höhepunkt erfahren haben, sie scheinen nach und nach auch mit der postmodernistischen Literatur verschmolzen zu sein. So erkennt Manfred Pfister : »[…] postmodernism and intertextuality are treated as synonymous these days […]«.1270 Gerhard Regn bezeichnet die postmoderne Literatur als ein Zitationsverfahren, in dem das Zitierte um seine »Tiefenorientierung des Denkens« gebracht wird und in einer Poetik der Oberfläche aufgeht.1271 Es stellt sich daher die Frage, wie die zitationelle Unterfütterung im Roman Gomorra, der aus einer Epoche erwächst, die einer referenziellen, realitätsnahen Darstellung den Boden entzieht und sich über Intertextualität und Intermedialität, also metaisierende Verfahren der Selbstbezüglichkeit definiert, mit dem Anspruch auf realistisches Schreiben zu vereinbaren ist. Zunächst muss man sich vor Augen halten, dass Intertextualität grundsätzlich kein dem Postmodernismus vorbehaltenes Phänomen ist, ganz im Gegenteil,1272 es ist weit älter als die Epoche, in der es zum literarischen Hauptverfahren 1268 Ausschnitte aus Kapitel 6.3 erschienen in leicht modifizierter Form als Aufsatz unter dem Titel: »Intertextualität nach der Postmoderne: Zolas und Savianos literarische ›Stadtkörper‹«, PhiN 81 (2017), S. 1–19, [IQ]. 1269 Manfred Pfister : »How Postmodern is Intertextuality?«, In: Heinrich F. Plett [Hg.]: Intertextuality. Berlin [u. a.]: de Gruyter 1991, S. 207–224, hier S. 209. 1270 Ebd. 1271 Regn 1992, S. 55. Regn bezieht sich hier im Speziellen auf die Romantik-Filiation. 1272 Pfister formuliert: »Intertextuality is a phenomenon that is not restricted to postmodernist writing at all.« Ders. 1991, S. 209f.
Zur Funktion von Intertextualität und Intermedialität in Gomorra
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erkoren wird.1273 Die Hochzeit des Zitationismus beginnt mit Julia Kristevas weitem Begriff der Intertextualität, der sich auf Michail Bachtins Theorie der Dialogizität stützt.1274 Für Kristeva ist ein Text kein sich selbst genügendes, abgeschlossenes Gebilde, sondern stets in einer Art Wandel begriffen. Sie schreibt: »tout texte se construit comme mosaxque de citations, tout texte est absorption et transformation d’un autre texte. A la place de la notion d’intersubjectivit8 s’installe celle d’intertextualit8, et le langage po8tique se lit, au moins, comme double.«1275 So entsteht ein entgrenzter Textbegriff, der jede mögliche Autorintention marginalisiert. Ähnlich formuliert Roland Barthes den Text als ein Gewebe von Zitaten aus unterschiedlichen Stätten der Kultur.1276 Der Schriftsteller habe keine andere Wahl, als vorheriges zu imitieren, er könne nur bereits Geschriebenes mischen, es widerlegen, niemals jedoch originär Neues schaffen.1277 Seither ist das Phänomen der Intertextualität zahlreichen Interpretationen und Auslegungen unterworfen worden. Peter Zima weist darauf hin, dass das literarische Zitat »eine Vielzahl von Rollen spielen« kann und einem ständigen »Bedeutungs- und Funktionswandel« unterliegt.1278 Bernd SchulteMiddelich hebt hervor: Intertextualität ist ja, auch wenn das angesichts der provozierenden Andersartigkeit und ›Unlesbarkeit‹ vieler postmoderner Texte mittlerweile aus dem Blickfeld gerät, ein 1273 Vgl. Ulrich Broich: »Intertextuality«, In: Johannes Willem Bertens [Hg.]: International postmodernism. Theory and literary practice. Amsterdam [u. a.]: Benjamins 1997, S. 249– 255, hier S. 249. 1274 Bachtins Konzept der Dialogizität geht von einer Zweistimmigkeit des Wortes aus, die im reinen Sprachsystem wie in der literarischen Rede gleichermaßen verankert ist. Im Roman entsteht eine Polyphonie, eine Redevielfalt, die »[…] dem gebrochenen Ausdruck der Autorintention dient. Das Wort einer solchen Rede ist ein zweistimmiges Wort. Es dient gleichzeitig zwei Sprechern und drückt gleichzeitig zwei verschiedene Intentionen aus: die direkte der sprechenden Person und die gebrochene des Autors. In einem solchen Wort sind zwei Stimmen, zwei Sinngebungen [dva smyla] und zwei Expressionen enthalten. Zudem sind diese beiden Stimmen dialogisch aufeinander bezogen, […] sie führen gleichsam ein Gespräch miteinander.« Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. Rainer Grübel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 213. 1275 Julia Kristeva: SHm8iotikH. Recherches pour une s8manalyse. Paris: Pditions du Seuil 1969, S. 146. 1276 Im Original heißt es: »le texte est un tissu de citations issues des mille foyers de la culture […]«. Roland Barthes: »La mort de l’auteur«, In: ders.: Œuvres complHtes T. III Livres, textes, entretiens 1968–1971. Nouv. 8d. rev., corr. et pr8sent8e par Pric Marty. [Paris]: Pditions du Seuil 1995, S. 40–45, hier S. 43. 1277 »[..] L’8crivain ne peut qu’imiter un geste toujours ant8rieur, jamais originel; son seul pouvoir est de mÞler les 8critures, de les contrarier les unes par les autres, de faÅon / ne jamais prendre appui sur l’une d’elles;« Barthes 2002, S. 43. 1278 Vgl. Peter V. Zima: »Zitat – Intertextualität – Subjektivität. Zum Funktionswandel des literarischen Zitats zwischen Moderne und Postmoderne«, In: Klaus Beekman / Ralf Grüttemeier : Instrument Zitat. Über den historischen und institutionellen Nutzen von Zitaten und Zitieren. Amsterdam [u. a.]: Rodopi 2000, S. 297–326, hier S. 298.
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in Kunst und Literatur seit langem bekanntes und bewusst eingesetztes Verfahren der Bedeutungsrekonstruktion.1279
Konsequenterweise formuliert Pfister die Frage nach einem spezifisch postmodernen Typ der Intertextualität mit eigenen Strategien und Funktionen, die es möglich machen, eine Abgrenzung zu vorherigen Verfahren vorzunehmen.1280 Zum einen verweist er dabei noch einmal auf den poststrukturalistischen Rahmen der Theoriebildung, der auf eine kategorische und nicht etwa quantitative Distinktion hindeutet.1281 Zum anderen stellt er den Umstand vor, dass Intertextualität im Postmodernismus nicht ein Verfahren unter vielen, sondern das künstlerische Verfahren schlechthin sei, das in den Vordergrund und zur Schau gestellt als zentrales Konstruktionsprinzip thematisiert und theorisiert wird.1282 Der idealtypische postmoderne Text sei somit der Metatext, das heißt: […] a text about texts or textuality, an auto-reflective and auto-referential text, which thematises its own textual status and the device on which it is based. At the thematic centre of this meta-communication of the postmodernist text about itself we again and again find its intertextuality.1283
Diese auf verschiedenen Ebenen vorgenommene Radikalisierung sieht SchulteMiddelich bereits in Kristevas Ausweitung des Intertextualitätskonzepts angelegt. Ihr Vorgehen und das ihrer Nachfolger in der Postmoderne habe »den Zugang zu einem operationalisierenden Funktionsbegriff weitgehend verschüttet.«1284 Zima fasst zusammen: »Während in der modernen Literatur Intertextualität und Zitat die Funktion erfüllten, Subjektivität selbstkritisch zu konstituieren und zu stärken, tragen sie in postmodernen Texten zur Auflösung der Subjektivität bei.«1285 Im Zuge dessen wird auch der ›Tod‹ des Autors postuliert; Kristeva und Bachtin »bestimmen den Autor als Sprachrohr fremder 1279 Bernd Schulte-Middelich: »Funktionen intertextueller Textkonstitution«, In: Ulrich Broich / Manfred Pfister [Hg.]: Intertextualität: Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: Niemeyer 1985, S. 197–242, hier S. 197f. 1280 »The question to be asked, therefore, is whether there is a specifically postmodernist type of intertextuality, with specific strategies and functions that would allow us to distinguish postmodernist intertextuality from previous forms of intertextuality, […]«. Pfister 1991, S. 210. 1281 »Postmodernist intertextuality is the intertextuality conceived and realized within the framework of a poststructuralist theory of intertextuality. With this definition the historical specificity of postmodernist intertextuality becomes a matter of categorical, rather than quantitative distinction.« Pfister 1991, S. 214. 1282 »Postmodernist intertextuality within a framework of poststructuralist theory means that here intertextuality is not just used as one device amongst others, but is foregrounded, displayed, thematised and theorized as a central constructional principle.« Pfister 1991, S. 214. 1283 Ebd., S. 215. 1284 Schulte-Middelich 1985, S. 202. 1285 Zima 2000, 302f., [Hervorhebung im Original].
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Rede«.1286 In dem Maße, in dem Autor und Leser in ihrer Instanz ihre klare Identität verlieren und »aufgeh[en] in der Pluralität eines universellen Intertextes«, so wird in ebenjenem Maße »die Frage nach der Funktion entgrenzt und zunehmend gegenstandslos.«1287 Dieser Verfall der Funktion, den Schulte-Middelich für das Gesamtphänomen annimmt, gilt in seinen Augen auch für Einzeltextbezüge, da es im Rahmen postmoderner Prämissen nicht möglich ist, »Textsegmente funktional zu verorten«.1288 Das ursprünglich Bedeutung (re)konstruierende Verfahren ändert somit radikal seine Richtung und führt zur Sinnentleerung. Schulte-Middelich stimmt hierin in Grundzügen mit Zima überein, der von einer Ambivalenz der Intertextualität spricht, die nicht im hegelianischen Sinne zur Synthese zu bringen sei. Er benennt die beiden gegenläufigen Ziele von Intertextualität als: »Sinnkonstitution und Sinnzerfall, Subjektkonstitution und Subjektverfall.«1289 Das Zitat – so Zima – kommt demnach im Postmodernismus nicht mehr zum Einsatz, »um die erzählerische Kohärenz des Diskurses und der Subjektivität zu stärken, sondern um sie zu zersetzen und das Kohärenzpostulat infrage zu stellen.«1290 Die Funktion postmodernistischer Intertextualität ist mithin immer eine dekonstruktive, die häufig zum Selbstzweck wird, zum Spiel.1291 Eine weitere Veränderung im Bereich der Intertextualität während des Postmodernismus geht mit der fallenden Grenze zwischen Höhenkammliteratur und Popkultur einher. In der Moderne – so Pfister – umfasse der intertextuelle Dialog wohl eine breite Spanne von Prätexten aus verschiedenen Epochen, aber auch innerhalb dieser Spanne haben immer kanonisierte, klassische Texte eine privilegierte Stellung.1292 Dieses Privileg des Kanons geht in postmodernistischer Literatur zugunsten breit rezipierter Werke aus Literatur, Kunst und Musik jedes Genres und Niveaus verloren. Nicht nur das Konzept der Intertextualität, sondern auch das der Intermedialität erfährt eine Hochkonjunktur in Theorie und Praxis. Dabei kann man – zumindest in Bezug auf intermediale Einzelreferenzen – von in Konzeption, 1286 Vgl. Matias Martinez: »Autorschaft un Intertextualität«, In: Fotis Jannidis / Gerhard Lauer [u. a.] [Hg.]: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Konzepts. Tübingen: Niemeyer 1999, S. 465–479, hier S. 465. 1287 Schulte-Middelich 1985, S. 202. 1288 Ebd., S. 204. 1289 Vgl. Zima 2000, S. 302. 1290 Ebd., S. 303. 1291 Broich weist darauf hin, dass die Dekonstruktion postmodernistischer Intertextualität zwar auch kritische oder politische Aspekte in sich tragen könne, weit häufiger sei jedoch Dekonstruktion um ihrer selbst willen. Vgl. ders. 1997, S. 253. 1292 »Risking some degree of simplification, one could say that the pretexts of the modernist text are normative. The intertextual dialogue may involve pretexts from a wide range of epochs and cultures, but even within this wide range it is always the canonized and ›classical‹ texts that are clearly privileged.« Pfister 1991, S. 218.
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Verwendungsweise, Funktion und romanästhetischer Implikation einem der Intertextualität entsprechenden Phänomen sprechen.1293 Und auch Intermedialität reiht sich in ein Verfahren der Sinndestruktion, der Beliebigkeit und des Spiels ein. Pfister merkt an: »Not even the medium is the message, […]; now the message is rather that all media and all carriers of messages are interchangeable, as their messages are no more than random and arbitrarily disposable constructs without any reference to reality or any binding truth.«1294 Neben die Zufälligkeit und die willkürliche Auswahl des Materials stellt Pfister den Verlust einer verbindlichen Wahrheit, einen Umstand, den auch Zima im Fokus sieht: Es gehe nicht um die Wahrheit, sondern um das Spiel, die Wahrheit des Spiels. Diese aber sei nichts anderes als die Dekonstruktion von Sinn und Subjektivität.1295 Nach Eco, so formuliert er, kann die Vergangenheit ohnehin nur mit Ironie, aber ohne Unschuld in den Blick genommen werden und so kann auch »das postmoderne Zitat nur eine ironisch-spielerische Funktion erfüllen«.1296 Komplementär dazu büße es seine subjektkonstituierende Funktion ein. Es begleite das erzählende oder handelnde Subjekt nicht mehr auf dessen Suche nach der Wahrheit, sondern zeuge vom Zerfall, von der Abwesenheit der Subjektivität.1297 Gomorra löst jedoch beides ein. Das Werk hat sich der Wahrheitssuche und -übermittlung mithilfe eines starken, den Leser leitenden Ich verschrieben. Der Autor kehrt willentlich und mit starker Aussage auf die Bühne zurück.1298 Zudem bedient sich Gomorra in seinem Anliegen der Wirklichkeitsvermittlung häufig in unterschiedlichster Form der Intertextualität und Intermedialität. Trotzdem oder gerade deshalb scheint der Text sich aus postmodernistischen Kontexten zu lösen. Dimitri Chimenti bemerkt: »Nel caso di Gomorra H evidente che non si tratta di quell’intertestualit/ ludica e gratuita che oggi i critici del postmodernismo (cos' come ieri i suoi cantori) vanno cercando ovunque.«1299 In der 1293 Vgl. Rajeswky 2003, S. 228. Generell hat Rajewsky sicher maßgeblich zur Kategorisierung und Stabilisierung des Phänomens beigetragen. 1294 Pfister 1991, S. 219. 1295 Vgl. Zima 2000, S. 303. Das postuliert Zima in Rückbezug auf Roland Barthes. 1296 Ebd.. Er bezieht sich auf Umberto Ecos »Postille a ›Il nome della rosa‹«, Vgl. Eco 2000, S. 529. 1297 Vgl. Zima 2000, S. 313. 1298 Gegen den Tod des Autors wird schon im Laufe der 1990er Jahre argumentiert, etwa von Martinez, der postuliert, dass »der Verzicht auf den Autor auch in dieser Variante sachlich unhaltbar ist. Auf der Grundlage intertextualitätstheoretischer Argumente läßt sich der Autor aus der Textinterpretation nicht verabschieden. Vielmehr bleibt er selbst in Fällen von extremer Intertextualität ein notwendiger […] Bezugspunkt der Interpretation. Eine Intertextualitätstheorie, die elementare Vorraussetzungen ästhetischer Sinnbildung erfassen will, muß am Autorbegriff festhalten.« Ders. 1999, S. 446. 1299 Dimitri Chimenti: »Innesti, inserti e prelievi in ›Gomorra‹ di Roberto Saviano«, Bollettino ’900 (2012), [IQ].
Zur Funktion von Intertextualität und Intermedialität in Gomorra
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vorliegenden Arbeit wird angenommen, dass die intertextuellen und intermedialen Verweise in Gomorra – abweichend von einem postmodernistischen Verfahrensgebrauch – wieder sinnkonstruierend eingesetzt werden und eine Tiefenstruktur erzeugen. Zudem scheinen die intertextuellen Verweise häufig als legitimierendes Instrument Verwendung zu finden. Um eine Funktionsbestimmung der verschiedenen, im Werk hervorstechenden zwischentextlichen Verfahren vorzunehmen, wird in einem ersten Schritt, abweichend von Kristevas weitem Intertextualitätsbegriff, wieder ein engerer als Arbeitsgrundlage gewählt. In der folgenden Untersuchung wird die Terminologie G8rard Genettes herangezogen, der in einem restriktiveren Ansatz als Kristeva unter Intertextualität die Kopräsenz von zwei oder auch mehreren Texten versteht.1300 Diese kategorisiert er in seinem Werk Palimpsestes je nach Markierung als Zitat (citation), das durch Anführungszeichen gekennzeichnet ist, als Plagiat (plagiat), das nicht gekennzeichnet wird, aber eine deutlich erkennbare (wörtliche) Übernahme von Textelementen enthält und als weniger eindeutige Anspielung (allusion).1301 Unter dem von ihm gewählten Oberbegriff der Transtextualität (die Intertextualität gehört hier bereits dazu), führt Genette weitere vier Verfahrenstypen auf: den Paratext (paratexte), der Titel, Vorwort, Nachwort etc. umfasst,1302 die Metatextualität (m8tatextualit8), die Kommentarfunktion hat und die Architextualität (architextualit8), eine entweder im Titel oder Untertitel oder komplett ausgesparte Kategorie, die der Gattungszugehörigkeit der Texte gewidmet ist.1303 Der vierte Typus, der im Mittelpunkt seiner Schrift steht, ist die Hypertextualität. Unter Hypertextualität versteht Genette jede Beziehung zwischen einem Text B, der als Hypertext zu bezeichnen ist und einem früheren Text A, der als Hypotext zu bezeichnen ist, bei der diese überlagernde Verbindung nicht in Form eines Kommentars auftritt. Es ist von einem Text zweiten Grades auszugehen, der aus einem anderen, früheren Text abgeleitet ist. Eine solche Ableitung kann deskriptiver oder intellektueller Natur sein, etwa wenn ein Metatext (die eine oder andere Seite aus der Poetik des Aristoteles etwa) von einem anderen Text ›spricht‹.1304 Sie kann aber auch ganz anderer Art sein, dergestalt, dass Text B zwar nicht von Text A spricht, aber in seiner Form ohne Text A gar nicht existieren könnte. Denn Text B ist durch einen Vorgang ent1300 Vgl. G8rard Genette: Palimpsestes. La litt8rature au second degr8. [Paris]: Pdition du Seuil 2003, S. 8. 1301 Vgl. ebd. 1302 Diesem Thema widmet Genette eine eigene Monographie: Paratextes. Paris: Pdition du Seuil 1987. 1303 Vgl. Genette 2003, S. 10ff. 1304 Genette selbst erkennt das Problem der Überlagerung zweier der von ihm postulierten Transzendenzen und bemerkt dazu, die Definition sei »toute provisoire«, weswegen er aber auch auf die Suche nach einem Präfix, das sowohl ›meta‹- als auch ›hyper-‹ enthalte, verzichte. Vgl. Genette 2003, S. 13.
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standen, der provisorisch als Transformation (transformation) bezeichnet werden soll, und in dem er sich mehr oder weniger offensichtlich auf den früheren Text bezieht, ohne diesen jedoch zu erwähnen.1305 In einer weiteren Untergliederung unterscheidet Genette zwischen spielerischen und ernsten hypertextuellen Verfahren, von denen an dieser Stelle vor allem die ernsten von Interesse sind. Für diese schlägt Genette den Begriff der Transposition vor (transposition), für die ernste Nachahmung bemüht er den Terminus Nachbildung (forgerie).1306 Mit der Gennettschen Terminologie soll Pmile Zolas Le Ventre de Paris als Hypotext im Besonderen zur Rahmung von Savianos Gomorra gelesen werden. Durch diesen Brückenschlag ins 19. Jahrhundert bindet sich Saviano an einen Autor, der par excellence für die alten Realismen steht und legitimiert somit sein Anliegen einer der Realität verbundenen Literatur. Weiterhin zeichnet sich durch eine korrektive Nachbildung des »Romanzo delle stragi«1307 von Pier Paolo Pasolini eine intertextuell gestützte, werkimmanente Poetik im Kapitel »Cemento armato« heraus. So fügt sich auch eine Linie zu realistischen Tendenzen des 20. Jahrhunderts in Gomorra ein. Der Kommentar zu Leben und Werk des kampanischen Priesters Don Peppino Diana, der nahtlos darauf folgt, ergänzt in einem metatextuellen Akt die poetologischen Ausführungen des Autors und bildet mit der darin ausgeführten Prämisse der Macht des Wortes das Fundament von Gomorra. Eine Legitimierung vor allem des letzten Punktes findet im darauffolgenden Kapitel »Hollywood« statt, das jedoch nicht auf einen Text zu beziehen ist, sondern sich einer weiteren Ebene der Transzendenz öffnet,1308 nämlich der extratextuellen Beziehung zwischen Fiktion (Text und Film) und Realität in eben dieser Reihenfolge.
1305 Vgl. ebd. 1306 Vgl. ebd., S. 43. 1307 Zunächst ist dieser Text als Artikel mit dem Titel »Che cos’H questo golpe?« am 14. November 1974 im Corriere della sera erschienen. Erst 1975 wird das Pamphlet posthum unter dem Titel »14 novembre 1974. Il romanzo delle stragi« in den Scritti corsari publiziert, einer Sammlung von journalistischen Texten, die noch vor Pasolinis Tod Anfang November 1975 redigiert, jedoch erst nach seinem Ableben herausgegeben worden waren. Siehe ders.: Scritti corsari. Pref. Di Alfonso Berardinelli. Milano: Garzanti 31992, S. 88–93. 1308 Genette verwendet diesen Begriff in einer Fußnote, in der er darauf hinweist, das Transtextualität nur eine der möglichen Transzendenzen sei, eine andere sei eben jene, die den Text mit der Wirklichkeit verbinde. Er führt aus: »J’aurais peut-Þtre d0 pr8ciser que la transtextualit8 n’est qu’une transcendance parmi d’autres; du moins se distingue-t-elle de cette autre transcendance qui unit le texte / la r8alit8 extratextuelle, et qui m’int8resse pas (directement) pour l’instant – mais je sais que Åa existe: …«, ders. 2003, S. 11.
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6.3.1 Zolas Le Ventre de Paris als Hypotext für Gomorra Den französischen Naturalisten Pmile Zola und italienischen Autor Roberto Saviano in Relation zu sehen, drängt sich nahezu auf und geschieht in der vorliegenden Arbeit nicht zum ersten Mal. Allerdings wird in der Regel versucht, eine Verbindung zwischen den beiden Schriftstellern herzustellen, indem auf Zolas J’accuse aus dem Jahr 1898 rekurriert wird. Saviano selbst nennt diesen Text ein noch heute gültiges Modell.1309 Die Kritik äußert sich hinsichtlich dieser Verbindung gespalten. Während Casadei darauf hinweist, dass man die »propensione visionaria« und das »impegno politico-civile« bereits in Zola vereint finde und sein J’accuse ein Archetyp und Vorläufer von Pasolini und Saviano sei,1310 stellt Pellini sich strikt gegen einen solchen Vergleich. Er nennt ihn gar eine »scelta largamente arbitraria« und bezeichnet das Ansinnen Casadeis, Gomorra als neuen Naturalismus zu lesen, als in »larga misura errata«.1311 Allein der Umstand, dass das Werk zugunsten des starken Ich-Erzählers weitgehend auf prägnante Stilmittel realistischen Schreibens wie Dialoge und die erlebte Rede verzichtet, scheinen ihm als Ausschlusskriterium für einen solchen Vergleich zu genügen. Die Verbindung von Saviano zu Zola allein über die DreyfusAffäre herstellen zu wollen, rückt jedoch einmal mehr den Autor als politisches Ereignis und engagierten Intellektuellen in den Mittelpunkt, während der Literat in den Hintergrund gerät. In einer solchen Diskursverengung wird übersehen, dass Zolas Texte schon allein thematisch größere Verwandtschaft zu Savianos Schreiben aufweisen. Gomorra ist schwerpunktmäßig den sich immer mehr zuspitzenden Verhältnissen in einer dem Kapitalismus und seinen Folgen unterworfenen Gesellschaft gewidmet.1312 Dass die Hauptunternehmer Mitglieder der camorristischen Mafia sind, mag den Roman für den Rezipienten zugänglicher machen, dieser Umstand ändert jedoch nichts daran, dass die Waren, das Geld und die daraus resultierende Machtstrukturen im Mittelpunkt des Interesses stehen und zu Protagonisten werden, während der Mensch selbst häufig zur Ware reduziert scheint.1313 Alessandro Dal Lago bemängelt in diesem Kontext, dass – wenn man, wie es der gängigen Meinung entspreche, annähme, Saviano habe Zusammen1309 Vgl. Roberto Saviano: »Zola, perch8 il suo ›j’accuse‹ H ancora un modello«, La Repubblica (18. 11. 2011), [IQ]. 1310 Alberto Casadei: »Gomorra e il naturalismo 2.0«, Nuovi Argomenti 45 (2009), S. 230–249, hier S. 246. Casadei spricht zwar von einem neuen Naturalismus, lässt jedoch den alten Naturalismus mehr oder weniger unbeachtet. 1311 Pellini 2011, S. 136. 1312 Dies wurde bereits im Kapitel 6.1.2 als drittes Ordnungsprinzip konstatiert. 1313 Ein Punkt, den auch Casadei unterstützt, er schreibt: »Sono appunto le merci le prime protagoniste di Gomorra, sin dal capitolo iniziale in cui si esamina in dettaglio cosa avviene nel porto di Napoli, […]«. Ders. 2009, S. 239.
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hänge zwischen dem organisierten Verbrechen und der globalisierten Ökonomie aufgedeckt – es zu einer Reduzierung wesentlicher Aspekte komme. Denn dass sich Camorra, Mafia und ’Ndrangheta globalisieren, könne nicht mit einer Kriminalisierung der globalen Wirtschaft gleichgesetzt werden.1314 Saviano selbst gibt an, er habe nie von der Camorra oder Mafia an und für sich erzählen wollen. Es sei vielmehr sein Anliegen, exemplarisch die dahinterstehenden wirtschaftlichen Machtstrukturen aufzuzeigen.1315 Aus Gomorra ist die Annahme herauszulesen, dass in der gegenwärtigen, globalisierten Welt derartige Überlappungen und Grauzonen zwischen legaler und von Verbrechen unterlaufener Wirtschaft bestehen, dass beide Bereiche nur schwer auseinanderzudividieren sind. Saviano schreibt: »Tutte le merci hanno origine oscura. ð la legge del capitalismo.«1316 Saviano stellt mithin den in der vorliegenden Arbeit mit Migliaccio als drittes Ordnungsprinzip erkannten Zyklus der Waren als erzählten Protagonisten in den Fokus.1317 Sein Ziel ist die Kritik an den Auswirkungen eines überbordenden Kapitalismus und dem dahinter stehenden ökonomisch-politischen wie sozialen System. Auch in Zolas umfangreichen Rougon-Macquart-Zyklus nimmt die literarische Kapitalismuskritik immer wieder eine zentrale Rolle ein. So beschäftigen sich La Cur8e, Le Ventre de Paris, Au bonheur des dames, Germinal und L’Argent mit Ware, Kaufkraft, Habgier, Geld und Gewalt. Besonders Le Ventre de Paris steht Gomorra nicht nur im dictum, sondern in einigen Punkten auch im modus nahe und lässt sich somit als Hypotext lesen. Scholler betont, dass es Zola bei der Darstellung der im Zentrum stehenden Markthallen »zunächst einmal um die möglichst präzise Veranschaulichung der kolossalen Stahl-Glas-Architektur« gegangen sei, die jedoch als neuer soziokultureller Ort mit den »ökonomischen Abläufen der Anlieferung, Verarbeitung, Lagerung und Veräußerung von Lebensmitteln in einer bislang nicht bekannten Dimension« in Verbindung stehen.1318 Chiara Lombardi liest Zolas Le Ventre de Paris als »una collezione di immagini, un reportage di scatti volti a cogliere questo mercato da tutte le
1314 Vgl. Dal Lago 2010, S. 16. 1315 »Non volevo raccontare la camorra, non mi interessava raccontare le mafie. Volevo raccontare il potere e misurarlo attraverso le mafie: era un privilegio che credevo di avere per provenienza geografica, per educazione e studi.« Vgl. Roberto Saviano in: Redazione: »I nostri ieri. 4. Da dove veniamo, per capire chi siamo«, Lo straniero 172 (2014), S. 62–86, hier S. 78. 1316 Saviano 2008, S. 39. 1317 Vgl. dazu in der vorliegenden Arbeit Kap. 6.1. 1318 Dietrich Scholler : »Vom Leben der Lebensmittel in Zolas ›Le Ventre de Paris‹«, In: Ottmar Ette [Hg.]: LebensMittel: Essen und Trinken in den Künsten und Kulturen. Zürich: Diaphanes-Verl. 2013, S. 61–72, hier S. 61.
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angolature«1319 und baut so nicht nur eine inhaltliche, sondern – über den Anklang an die Reportage – auch eine formale Brücke zu Savianos Gomorra. Vittoria Borsk-Borgarello bemerkt in Zolas Le Ventre de Paris den Übergang »zur Aufdeckung der ökonomischen Machtstrukturen als nackter Gewalt […]; eine alles zerstörende, auffressende Gewalt, in der sich nur die Aktanten des Bauches […] wohlfühlen«.1320 Auch wenn die Erzählform in den beiden Werken unterschiedlich ist, so finden wir doch in den beiden Protagonisten, Florent und dem Erzähler-Ich Saviano, je Kritiker und zum Teil Opfer des herrschenden Regimes, die dem Leser ihren Blickpunkt leihen und dabei Missstände aufdecken. In Zolas Le Ventre de Paris kehrt der Protagonist Florent, der irrtümlicherweise verhaftet und auf die Teufelsinsel deportiert worden ist, in ein verändertes Paris zurück, das von den neu erbauten Markthallen dominiert wird. Er findet Unterkunft bei seinem Bruder Quenu und dessen Frau Lisa, die gemeinsam einen Fleischerladen führen. Auf Betreiben von Lisa nimmt Florent einen Posten als Inspektor in den Fischhallen an. Dort findet er Eingang in einen Kreis, der dilettantisch einen Aufstand und die Wiederherstellung der Republik plant. Nebenbei ist Florent als Hauslehrer des Sohns der schönen Fischhändlerin Normande tätig. Eine ursprünglich angestrebte Liaison mit dieser Frau kommt jedoch nicht zustande. Stattdessen entwickelt sich zwischen Normande und Lisa eine Feindschaft, bei der Florent zwischen die Fronten gerät. Schlussendlich werden er und seine Mitverschwörer verraten, verhaftet und erneut in die Strafkolonie ausgewiesen. Der Maler Claude Lantier nimmt im Verlauf der Geschichte stets die Rolle des stillen Beobachters, teilweise auch des Stadtführers ein. Der Roman öffnet sich mit der Rückkehr Florents nach Paris in einem ausgiebigen Blick auf die Markthallen der Stadt. Das gesamte erste Kapitel widmet sich im Folgenden der Beschreibung der verschiedenen Waren. Ähnliches begegnet dem Leser in Gomorra. Nach dem fulminanten Incipit in medias res am Hafen, bei dem ein Hafenarbeiter von Dutzenden toter Chinesen berichtet, die aus einem Container fallen, begleitet der Leser den Erzähler im Hafen von Neapel und begegnet hier vor allem großen Produktionsmengen. Es ist im Besonderen, aber nicht nur, die jeweilige Rahmung der Romane, die die beiden Texte als verwandt ausweist. Im Mittelpunkt steht sowohl in Savianos Gomorra als auch in Zolas Le Ventre de Paris die Stadt als metaphorisierter Körper und Schauplatz eines herrschenden Systems. Dieses System findet seine Darstellung in auffälligen Akkumulationen in den Deskriptionen, die zu einer Sublimierung der 1319 Chiara Lombardi: »Il sublime e l’idillio in Le Ventre de Paris«, Status Quaestionis 7 (2014), S. 74–100, hier S. 77 u. S. 79f. 1320 Vittoria Borsk-Borgarello: Metapher : Erfahrungs- und Erkenntnismittel. Die metaphorische Wirklichkeitskonstitution im französischen Roman des XIX. Jahrhunderts. Tübingen: Narr 1985, S. 42.
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Masse im Sinne eines Verständniskonzeptes führen. Die Beschreibung als Mittel realistischer Wiedergabe in der Literatur war schon im 19. Jahrhundert an ein den Menschen determinierendes Milieu angebunden. Ein solches soll in ähnlicher Weise auch für das Schreiben des jüngeren Autors Saviano nachgewiesen werden. 6.3.1.1 Körper (in) der Stadt – Stadtkörper Savianos Gomorra ist wie Zolas Le Ventre de Paris bereits vom Titel an als Stadttext festgelegt. Gomorra verweist ganz explizit auf eine Stadt, nämlich die biblische Stadt der Sünde, die von Gott zur Strafe zerstört wird. Auf einer zweiten Ebene gelesen steht Gomorra paronomastisch für die Camorra, die wiederum metonymisch für Neapel steht. So überlagern sich bereits im Titel die reale und die allegorische Stadt mit Fokus auf Verbrechen und Zerstörung.1321 Neapel steht hier sozusagen als Sündenpfuhl in einem totum pro parte für die camorristische Mafia. In Le Ventre de Paris hingegen wird Paris direkt genannt und damit eindeutig referenzialisiert. Zudem wird die Stadt im Kompositum Le Ventre de Paris in einem pars pro toto bereits im Titel metaphorisch zum Körper. Die hier fokussierte mittlere Partie, nämlich der Bauch und mithin ein Verdauungsorgan, wird auch bei Saviano eine wichtige Rolle spielen. Ihren Weg nach Italien hat diese Körpermetapher bereits im 19. Jahrhundert gefunden. Matilde Serao verfasst 1884 im direkten Anschluss an Techniken Hugos und Zolas ihr Werk Il ventre di Napoli.1322 In dictum und modus jedoch scheinen sich Zola und Saviano näher zu stehen als Serao und Saviano, weswegen im Folgenden der Bezug direkt auf Le Ventre de Paris genommen wird. Dass die Stadt zum Körper oder auch der Körper als stadtähnliches Gebilde begriffen wird, ist nicht neu. Schon Platon definierte »Wohnbezirk[e] des Leibes« und malt diese Metapher im Timaios 70 bis 73 weiter aus.1323 Eine engere Verbindung zwischen Stadt und Körper erfolgt in Anlehnung an die neuen Erkenntnisse William Harveys (1578–1657) zum Blutkreislauf.1324 Ernst Platner, ein Arzt aus dem 18. Jahrhundert, stellte »die erste klare Analogie zwischen dem Kreislauf im Körper und der Umwelterfahrung des Körpers«1325 her, indem er 1321 Alessandro Dal Lago bemerkt mit Verweis auf den Untertitel, dass bei Saviano die Stadt Gomorra im Materiellen (impero economico) wie Onirischen (sogno) für das Reich der Kriminalität stehe. Vgl. ders. 2010, S. 29. 1322 Vgl. dazu Giuseppe Montesano: »Il sipario lacerato. Viaggio al termine del Ventre di Napoli«, In: Matilde Serao: Il ventre di Napoli. Roma: Avagliano 22003, S. 6–20, hier S. 13. 1323 Platon: Timaios. Griechisch / Deutsch. Hg. u. übers. v. Hans Günter Zekl. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1992, 70–73, S. 130ff. 1324 Vgl. Richard Sennett: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Frankfurt am Main: Suhrkamp 52007, S. 326. 1325 Ebd.
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Luft mit Blut verglich.1326 Ebenfalls im 18. Jahrhundert legten Stadtplaner in Anlehnung an Arterien und Venen Verkehrssysteme an.1327 Im Zuge der Umgestaltung von Paris im 19. Jahrhundert ließ Georges-EugHne Haussmann die Stadt regelrecht ausweiden.1328 Er schuf ein System aus drei »Netzen«, von denen das erste mit urbanen ›Arterien‹ den mittelalterlichen Teil der Stadt ordnete, das zweite als Venen der Stadt die Peripherie mit dem Zentrum verband und das dritte, das in einer Mischung aus ›Arterien‹ und ›Venen‹ die beiden ersten Netze zusammenschloss.1329 In dieser Tradition, die vor allem in der Medizin den Fortschritt suchte, bediente sich auch Zola dieses organischen Bildes. In Le Roman exp8rimental hebt Zola die Nähe seiner schriftstellerischen Tätigkeit zu den Theorien Claude Bernards hervor. Wie der Arzt die Ursache organischer Fehlfunktionen suche, so detektiere der Romancier soziale und gesellschaftliche, denn: »Le circulus social est identique au circulus vital«1330. Dabei geht es Zola nicht nur um das Erkennen und Beschreiben bestimmter Mechanismen, sondern auch um eine mögliche Einflussnahme durch die Literatur.1331 Auch in diesem Punkt sind also Parallelen zwischen dem Naturalisten Zola und Saviano festzustellen. Der Körper spielt für die Stadtdarstellung in Gomorra und in Le Ventre de Paris eine exponierte Rolle und verbindet die Romane über knapp eineinhalb Jahrhunderte in ihrer Kapitalismuskritik. Es kann hier vor allem von einer genetischen, in Maßen wohl auch von einer typologischen Verwandtschaft der beiden Romane ausgegangen werden.1332 Bei der Betrachtung der Funktion
1326 Vgl. ebd. 1327 Vgl. ebd., S. 330. 1328 In Anlehnung daran überschreibt Matilde Serao das erste Kapitel ihres Romans mit »Bisogna sventrare Napoli«. Vgl. dies.: Il ventre di Napoli. Roma: Avagliano 22003, S. 41. 1329 Vgl. Sennett 2007, S. 408f. 1330 Pmile Zola: Oevres complHtes. Bd. 9. Hg. v. Henri Mitterand. Paris: Nouveau Monde Ed. 2004, S. 335f., [Hervorhebung im Original]. 1331 Zola schreibt: »Notre but est le leur [celui des m8decins]; nous voulons, nous aussi, Þtre les ma%tres des ph8nomHnes des 8l8ments intellectuels et personnels, pour pouvoir les diriger. Nous sommes, en un mot, des moralistes exp8rimentateurs, montrant par l’exp8rience de quelle faÅon se comporte une passion dans un milieu social. Le jour oF nous tiendrons le m8canisme de cette passion, on pourra la traiter et la r8duire, ou tout au moins la rendre la plus inoffensive possible. […] C’est ainsi que nous faisons de la sociologie pratique et que notre besogne aide aux sciences politiques et 8conomiques.« Ders. 2004, S. 334. 1332 Im Sinne der vergleichenden Literaturwissenschaften spricht man von einer genetischen Verwandtschaft zweier Texte, wenn im literarischen Gegenstand Ähnlichkeiten gegeben sind, die durch Kontakt, also durch direkte oder indirekte Beeinflussung zustande gekommen sind. Im Rahmen eines typologischen Textvergleichs kommen Ähnlichkeiten zum Tragen, die aufgrund analoger Produktions- bzw. Rezeptionsbedingungen entstanden sind. Vgl. Peter V. Zima: Komparatistik: Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft. 2., überarb. und erg. Aufl. Tübingen [u. a.]: Francke 2011, S. 94. Bezüglich der typologischen Verwandtschaft ist in diesem Kontext freilich nur auf die Parallele zwischen aufstrebendem Industriezeitalter (Zola) und Globalisierung (Saviano) im Sinne
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des Körpers in den Stadttexten fällt auf, dass nicht nur die Stadt zum Körper wird, sondern vor allem auch, dass menschliche Körper zunächst der Ware angeglichen und zuletzt völlig zur Ware werden. Die Ware ist mit Punkt 3 des zugrundegelegten Ordnungssystems als erzählter Protagonist angenommen worden. Die in den Texten geschaffenen Analogien – Körper und Stadt und Körper und Ware – sollen im Folgenden näher beleuchtet und in ihrer Funktion im Textganzen analysiert werden. Gomorras Einstieg hebt bereits stark eine Analogie von Mensch und Ware heraus.1333 Schon die Eingangsszene, in der Dutzende toter und eingefrorener Chinesen aus einem Container am Hafen fallen, arbeitet mit diesem Vergleich: Il container dondolava mentre la gru lo spostava sulla nave. Come se stesse galleggiando nell’aria, lo sprider, il meccanismo che aggancia il container alla gru, non riusciva a domare il movimento. I portelloni mal chiusi si aprirono di scatto e iniziarono a piovere decine di corpi. Sembravano manichini. Ma a terra le teste si spaccavano come fossero crani veri. Ed erano crani. Uscivano dal container uomini e donne. Anche qualche ragazzo. Morti. Congelati, tutti raccolti, l’uno sull’altro. In fila, stipati come aringhe in scatola.1334
Es sind Dutzende Körper, Leichname, die den ersten Schauplatz – den Hafen von Neapel – dominieren. Sie fallen aus einem der Container, die im Regelfall zum Transport von Waren verwendet werden. Giglioli spricht in Bezug auf diese Darstellung vom Inbegriff des homo oeconomicus.1335 Die erste Spezifizierung der Leichname erfolgt über einen Vergleich mit Schaufensterpuppen (»manichini«), deren Köpfe wie echte Schädel am Boden zerschellen. Menschliches Dasein wird damit verdinglicht. Erst dann folgt das Korrektiv, dass es sich tatsächlich um Schädel und damit um menschliche Körper handelt. Die Gleichstellung zwischen Mensch und Produkt wird noch durch den Vergleich verschärft, dass die toten, tiefgefrorenen Männer, Frauen und Kinder wie Heringe in Dosen aufbewahrt worden waren (»In fila, stipati come aringhe in scatola«). Die Reduktion der Chinesen im Tod zur Sache bezeichnet Giglioli als die Wahrheit dessen, was ihr Leben gewesen ist: »il loro ruolo di quantit8 n8gligeable che secondo Marx H il destino implicito nella progressiva degradazione del lavoro vivo«.1336 Das Warenexempel erhält seine Bestätigung dadurch, dass sofort im
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kapitalistischer Einflüsse zu verweisen, nicht auf die wissenschaftlich-medizinischen Erkenntnisse. Casadei bezeichnet dieses Metaphernfeld als das Stärkste im gesamten Text. Vgl. ders. 2009, S. 240. Saviano 2008, S. 11. Im Original heißt es: »Sono l’epitome di un homo oeconomicus al quale anche la morte si calcola come una percentuale di salario. Non a caso entrano in scena gi/ morti, congelati, confusi con la sterminata distesa di merci che transita ogni giorno per il porto di Napoli […]«. Giglioli 2013, S. 65. Ebd. Saviano selbst erwähnt Marx im 2. Kapitel, »Angelina Jolie«, in Zusammenhang mit
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Anschluss eine bereits mit dem alles einschließenden tutto beginnende Beschreibung tatsächlicher Waren im Hafen von Neapel folgt. So scheint sich die Ware Mensch in die Aufzählung der dinglichen Ware einzureihen, es entsteht eine Art metonymische Beziehung. Syntaktisch unterstreichen die stakkatoartige Sätze und Aufzählungen die Gleichstellung von Mensch und Sache: Tutto quello che esiste passa di qui. Qui dal porto di Napoli. Non v’H manufatto, stoffa, pezzo di plastica, giocattolo, martello, scarpa, cacciavite, bullone, videogioco, giacca, pantalone, trapano, orologio che non passi per il porto.1337
Es ist das erste große Bild, das in Gomorra heraufbeschworen wird und die Waren wie den Mensch als Ware im Mittelpunkt als federführend inszeniert. In den einleitenden Szenen des Incipits von Zolas Le Ventre de Paris, der mit dem Warentransport Richtung Markthallen beginnt, werden die Waren sogar zu den ersten Handlungsträgern, die den schlafenden Figuren als geradezu aktiv gegenüberstehen.1338 […] les voitures de mara%chers montaient vers Paris, […] Un tombereau de choux et un tombereau de pois, au point de Neuilly, s’8taient joints aux huit voitures de navets et de carottes qui descendaient de Nanterre; et les chevaux allaient tout seuls, …1339
Die Wagen der Gemüseverkäufer kommen wie von selbst nach Paris. Ein Karren Kohl trifft auf einen Karren Erbsen und diese wiederum auf mehrere Wagen mit Steckrüben und Karotten. Das reflexive Verb se joindre / unterstreicht die Personifizierung der Marktkarren, die hier ohne menschliches Zutun auf ihr Ziel zuzusteuern scheinen. Die Reaktion der zuvor passiven Fahrer in der folgenden Szene, in der Florent im Halbschlaf vor die Karren gerät und fast überfahren wird, macht die Wertzuweisung zwischen Mensch und Ware deutlich: »Eh! La mHre, avanÅons! Cria un des hommes, qui s’8tait mis / genoux sur ses navets … C’est quelque cochon d’ivrogne.« Elle s’8tait pench8e, elle avait aperÅu, / droite, presque sous les pieds du cheval, une masse noire qui barrait la route. »On 8crase pas le monde«, dit-elle, en sautant / terre. […] Mais les charretiers s’impatientaient. Celui qui 8tait agenouill8 dans ses l8gumes, reprit den Tränen Luisas, der Ehefrau Pasquales, der von der illegalen Modeindustrie ausgenutzt und verraten wird. Es heißt: »Il pianto di Luisa mi sembrk anch’esso un giudizio sul governo e sulla storia. Non uno sfogo. Non un dispiacere per una soddisfazione non celebrata. Mi H sembrato un capitolo emendato del Capitale di Marx, un paragrafo della Ricchezza delle Nazioni di Adam Smith, un capoverso della Teoria generale dell’occupazione di John Maynard Keynes, una nota dell’Etica protestante e lo spirito del capitalismo di Max Weber.« Saviano 2008, S. 45. 1337 Ebd., S. 12. 1338 Vgl. dazu Lombardi 2014, S. 77. 1339 Pmile Zola: »Le Ventre de Paris«, In: ders.: Les Rougons-Macquart. Hg. v. Armand Lanoux. Paris: Gallimard 2008, S. 603–895, hier S. 603.
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de sa voix enrou8e: »Fouettez donc, la mHre! … Il en a plein son sac, le sacr8 porc! Poussez-moi Åa dans le ruisseau!«1340
Florent wird von den Fahrern nur als Ärgernis, das der pünktlichen Lieferung und damit dem Verkauf und Gewinn im Wege steht, wahrgenommen, nicht jedoch als menschliches Wesen. Schließlich landet er auf Mme FranÅois’ Karren, auf dem er teilnahmslos inmitten der Waren nach Paris gefahren wird. Mme FranÅois’ Aussagen, ihn mit ihrem Gemüse in Paris abladen zu wollen (»Je vais aux Halles, je vous d8ballerai avec mes l8gumes.«),1341 rundet das Bild des Transfers Ware – Mensch, Mensch – Ware ab. Scholler schreibt, der am Straßenrand aufgelesene Florent werde »vor dem dinglichen Hintergrund der Gemüseberge wie ein verlorenes Detail in Szene gesetzt«.1342 Dabei stellt sich hier die Frage, ob Florent, dessen Beine im Rübenhaufen verloren scheinen und der in einem Berg Karotten verschwindet,1343 sich so nicht vielmehr der Ware angleicht und in ihr unter- beziehungsweise aufzugehen scheint. Er sticht in der Szene weniger als Detail hervor, sondern geht in der Masse unter. Noch einmal wird das Bild anthropomorphisierter Waren in den Markthallen aufgerufen, wenn Zola Kälber vorführt, die wie Kinder in Tücher gewickelt sind: »Sur le trottoir oppos8, d’autre camions d8chargeaient des veaux entiers, emmaillot8s d’une nappe, couch8s tout du long, comme des enfants, dans des mannes qui ne laissaient passer que les quatre moignons, 8cart8s et saignants.«1344 Der Vorzug der Waren und des Warentransports vor menschlichen Bedürfnissen begegnet uns gleichermaßen im Hafen von Neapel. In der Deskription wird die Ware in einem ersten Schritt über die Staatsangehörigkeit sowie den Geburtsstatus personifiziert und in einem zweiten durch ihre weitreichende Bewegungsfreiheit über den Menschen gestellt: I prodotti hanno cittadinanze molteplice, ibride e bastarde. Nascono per met/ nel centro di Cina, poi si completano in qualche periferia slava, si perfezionano nel nord est d’Italia, si confezionano in Puglia o a nord di Tirania, per poi finire in chiss/ quale magazzino d’Europa. La merce ha in s8 tutti i diritti di spostamento che nessun essere umano potr/ mai avere.1345
Darüber hinaus haben die Waren nicht nur eine höhere Flexibilität, auch ihre ›Bedürfnisse‹ stehen über denen der ›mit ihnen‹ arbeitenden Menschen. Wichtig 1340 Zola 2008, S. 604. 1341 Ebd., S. 606. 1342 Scholler 2013, S. 63. Er bemerkt jedoch auch, dass die »als realistischer Hintergrund dargestellten Lebensmittel schon im Incipit zum beinahe unheimlichen Agens der erzählten Geschichte promoviert werden«. Ebd. 1343 Zola 2008, S. 605. 1344 Ebd., S. 631. 1345 Saviano 2008, S. 15.
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ist nicht, dass den Menschen die Arbeit nicht körperlich beschwerlich wird, sondern nur, dass die Qualität der Waren nicht unter der Hitze verliert. Das verwendete Verb soffrire vermittelt einmal mehr den Personenstatus der Produkte, die sich für den zu erwirtschaftenden Profit verbürgen: Le persone che scaricavano provenivano da ogni angolo della terra. Ghanesi, ivoriani, cinesi, albanesi, e poi napoletani, calabresi, lucani. Nessuno chiedeva, tutti constatavano che le merci non soffrono il caldo e questa era condizione sufficiente per non spendere soldi in condizionatori.1346
So wie die Produkte unterschiedliche Staatsangehörigkeiten aufweisen, kommen auch die Arbeiter am Hafen aus den verschiedensten Ländern der Erde, eine Analogie, die erneut Ware und Mensch hierarchisiert. Dies führt zu einer außergewöhnlichen Dynamik, in der die Figuren den Objekten untergeordnet werden und damit in ihrem Handeln durch diese determiniert sind, ein Vorgang, den Scholler auch in Le Ventre de Paris beobachtet. Hier wirkt es – so Scholler – »als treibe das Leben der Lebensmittel den Erzähler vor sich her«.1347 Er bezieht sich hier auf eine lange Beschreibung verschiedener Käsesorten1348, die jedoch in der Deskription nicht dazu dienen, »positivistische Episteme näher zu bestimmen«, sondern durch ein »Netz aus brutalen bis unflätig assoziativen Metaphern […] Isotopien eines Schlachtfeldes, der Krankheit und Verwesung entstehen lassen«.1349 Durch diese »anthropomorphisierenden Bildsequenzen« entstehe ein ungezügeltes Leben, das sich zu einem gefährlichen Organismus zusammenschließe.1350 Aber nicht nur die Produkte erhalten den Status eines menschlichen Körpers, auch die Stadt selbst wird anthropomorphisiert und im Vergleich zu einem übermächtigen Organismus, sowohl bei Saviano wie auch bei Zola. Die eindrücklichste Szene, in der die Stadt Paris letztlich zum Körper und die Hallen zum Konsum- und Verdauungsorgan werden, ist sicher die folgende, in der der Kiefer und damit der Kauvorgang in einem kolossalen Zoom zur Ernährung der gesamten Stadt herangezogen wird: Maintenant il entendait le long roulement qui partait des Halles. Paris m.chait les bouch8es / ses deux millions d’habitants. C’8tait comme un grand organe central battant furieusement, jetant le sang de la vie dans toutes les veines. Bruit et m.choires colossales, vacarmes fait du tapage de l’approvisionnement, depuis les coups de fouet
1346 1347 1348 1349 1350
Ebd., S. 19. Scholler 2013, S. 67. Vgl. Zola 2008, S. 826ff. Scholler 2013, S. 70. Vgl. ebd., S. 70f.
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des gros revendeurs partant pour les march8s de quartiers, jusqu’aux savates tra%nantes des pauvres femmes qui vont de porte en porte offrir des salades, dans des paniers.1351
Borsk-Borgarello spricht in Bezug auf diese Metapher, die schon im Titel angelegt ist, davon, dass man einer fressenden, konsumierenden, zerstörenden und ausscheidenden Stadt gegenübersteht.1352 Das Bild des mahlenden Kiefers überlappt sich mit dem des Zentralorgans, des Herzens, das Blut durch die Adern pumpt. Das Adverb »furieusement« unterstreicht bereits ein unterschwelliges Gewaltpotenzial. Der hier entstehende Chronotopos stellt eine dominante Bedeutungsebene dar, da eine bestimmte Zeit- und Ortsrelation und eine bestimmte Gesellschaft mit einer auf Aggression basierenden Konsumhaltung das Hauptthema stellten, so Borsk-Borgarello.1353 Dass die Metapher des Kiefers und Kauens (»Paris m.chait«) stärker als der Vergleich des Herzens (»grand organe central«) wahrgenommen wird, mag an seiner Einpassbarkeit in den Kontext der Verdauungsorgane liegen, die das Gesamtwerk in den Vordergrund stellt. Die in Bezug auf Körpermetapher und Chronotopos gemachten Beobachtungen sind mit einigen Verschiebungen gut auf Gomorra übertragbar.1354 In diesem Text allerdings verlagert sich der Hafen, seines Zeichens Stellvertreter von Handel und Warentreffpunkt und damit Pendant zu den Pariser Hallen, in der Körpermetaphorik weiter nach unten. Der Hafen wird zum Anus, der sich schmerzhaft weiten muss, um die ankommende Ware aufzunehmen: Prue che si scontrano, file indiane di enormi bastimenti fuori dal golfo che aspettano la loro entrata tra confusione di poppe che beccheggiano, rumoreggiando con languori di ferri, lamiere e bulloni che lentamente entrano nel piccolo foro napoletano. Come un ano di mare che si allarga con grande dolore degli sfinteri.1355
Wie bereits bei Zola wird durch die Körpermetaphorik, die spezifisch auf den Verdauungstrakt verweist, ein zyklischer Vorgang aufgerufen. Allerdings funk1351 Zola 2008, S. 631. 1352 Borsk-Borgarello 1985, S. 43. 1353 Vgl. Borsk-Borgarello 1985, S. 43. Zum Chronotopos Paris im Realismus und Naturalismus schreibt auch Rainer Warning 1999, S. 284ff. 1354 Das besondere Zeit-Raumgefüge, das am Hafen Neapels entsteht, lässt sich in einigen Passagen explizit ablesen, so zum Beispiel im folgenden Abschnitt: »Nel silenzio del buco nero del porto la struttura molecolare uscita dal perimetro della costa. La merce dal porto deve uscire subito. Tutto avviene talmente velocemente che mentre si sta svolgendo, scompare. Come se nulla fosse avvenuto, come se tutto fosse stato solo un gesto. Un viaggio inesistente, un approdo falso, una nave fantasma, un carico evanescente. Come se non ci fosse mai stato. […] Nel porto di Napoli, nei suoi 1.336.000 metri quadri per 11,5 chilometri, il tempo ha dilatazioni uniche. Cik che fuori riuscirebbe a essere compiuto in un’ora, nel porto di Napoli sembra accadere in poco piF di un minuto.« Saviano 2008, S. 13. 1355 Ebd., S. 14.
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tioniert die jeweilige Metaphorik unterschiedlich. Während der Kiefer bei Zola auf das Verschlingen der Ware zugunsten einer – auf den ersten Blick – lebensspendenden Aktion hinweist, nämlich der Ernährung der Stadt, ist Savianos »ano« von Beginn an in zweierlei Hinsicht negativ konnotiert. Zum einen ruft das langsame Eindringen in die in der Metapher stilisierte Körperöffnung (»il picolo foro«) die Erinnerung an einen Befruchtungsvorgang hervor, der jedoch dadurch pervertiert wird, dass die aufgerufene Öffnung eben der Anus und damit unfruchtbar ist. Gleichzeitig wird dieses Bild dadurch komplettiert, dass der große Schmerz, mit dem sich der Schließmuskel weitet, an einen Akt sexueller Gewalt denken lässt. Ein ursprünglich positiv besetztes Bild, das der Befruchtung, die zur Geburt und damit Hervorbringung neuen Lebens führt, wird auf groteske Art ad absurdum geführt. Der Anus verweist per se auf Endprodukte und spielt somit bereits auf das letzte Romankapitel an, das sich mit dem Ende des Produktionszyklus, nämlich der Müllvernichtung befasst. In der Überleitung vom vorletzten zum letzten Kapitel wird dieser im ersten Kapitel angerissene pervertierte Geburtsvorgang expliziert und in den ewigen Zyklus der unfruchtbaren Schwangerschaft und des Geld gebärenden Aborts überführt bis hin zum absoluten Verfall des Körpers, das heißt, der Stadt: I rifiuti avevano gonfiato la pancia del sud Italia, l’avevano estesa come un ventre gravido, il cui feto non sarebbe mai cresciuto e che avrebbe abortito danaro per poi subito ringravidarsi, fino di nuovo abortire, e nuovamente riempirsi sino a sfasciare il corpo, ingolfare le arterie, otturare i bronchi, distruggere i sinapsi. Continuamente, continuamente, continuamente.1356
Das Bild des perpetuierten Zyklus einer ständigen Transformation hat Saviano zu Ende des ersten Kapitels bereits vorweggenommen, indem er Antoine de Lavoisier zitiert und dessen chemisches Gesetz auf den kapitalistischen Warenzyklus überträgt: »niente si crea, niente si distrugge, tutto si trasforma. In natura, ma soprattutto nelle dinamiche del capitalismo«.1357 Das groteske Bild des degenerierten Körpers wird weitergesponnen, indem auch der Hafen zum entzündeten Blinddarm wird, der im Abdomen der Küste liegt: »Il porto H staccato dalla citt/. Un’appendice infetta mai degenerata in peritonite, sempre conservata nell’addome della costa.«1358 Metapher und reale Geographie scheinen hier nahe beieinander zu liegen, wenn man beachtet, dass man im Hafen Neapels tatsächlich die Form des Wurmfortsatzes sehen kann. Die bildliche Übertragung findet somit zudem eine referenzielle Legitimation. Der Bildbereich spitzt sich mit der Beschreibung des Leerens der Schiffslatrinen im Hafen weiter zu, die so durch ihre Ausscheidungen den Golf von 1356 Saviano 2008, S. 309. 1357 Ebd., S. 24. 1358 Ebd., S. 16.
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Neapel zum Abfallcontainer werden lassen. Die neu angekommene Ware, die eigentlich auf Produktion verweisen sollte, wird bereits hier durch ausgeschiedene Exkremente überlagert: Le navi scaricano le loro latrine, puliscono stive lasciando colare la schiuma gialla in acqua, i motoscafi e i panfili spurgano motori e rassettano raccogliendo tutto nella pattumiera marina. E tutto si raccoglie sulla costa, prima come massa molliccia e poi crosta dura. Il sole accende il miraggio di mostrare un mare fatto d’acqua. In realt/ la superficie del golfo somiglia alla lucentezza dei sacchetti della spazzatura. Quelli neri.1359
Die Schmutz- und Abfallmetapher ist auch in Zolas Le Ventre de Paris zu finden.1360 Zu Ende des fünften Kapitels lässt ein Platzregen gelbe, ekelerregende Brühe durch die Straßen Montmartres fließen1361 und die zu Beginn des Romans frische Ware zeigt sich im Zustand der Fäulnis: La pluie de l’aprHs-midi avait empli les Halles d’une humidit8 infecte. Elles lui soufflaient / la face toutes leurs mauvaises haleines, roul8es au milieu de la ville comme un ivrogne sous la table, / la derniHre bouteille. Il lui [Florent] semblait que, de chaque pavillon, montait une vapeur 8paisse. Au loin, c’8taient la boucherie et la triperie qui fumaient, d’une fum8e fade de sang. Puis les march8s aux l8gumes et aux fruits exhalaient des odeurs de choux aigres, de pommes pourries, de verdures jet8es au fumier. Les beurres empestaient, la poissonnerie avait une fra%cheur poivr8e. Et il voyait surtout, / ses pieds, le pavillon aux volailles d8gager, par la tourelle de son ventilateur, un air chaud, une puanteur qui roulait comme une suie d’usine. Le nuage de toutes ces haleines s’amassait au-dessus des toitures, gagnait les maisons voisines, s’8largissait en nu8e lourde sur Paris entier.1362
In dieser Passage taucht nun ebenfalls ein erkrankter Körper auf (die Hallen sind von infizierter Feuchtigkeit erfüllt), der sich durch schalen Blutdunst und Gestank auszeichnet. Auch hier stehen eher Produkte in ihrem Endstadium und der Fäulnis im Mittelpunkt. Pl8onore Reverzy bemerkt: »Cette histoire de faim et de d8voration, au milieu d’une grande mise en scHne excr8mentielle – aux Halles on ne produit rien, on excrHte –, rappelle aux repus les vrais app8tits et la sauvagerie d’une nature oF l’homme vaut peu.«1363 Borsk-Borgarello weist daraufhin, dass die Schmutzmetaphorik sich aus der Perspektive Florents entwickelt, der nach und nach die verschiedenen Aspekte des Schmutzes aufdeckt.1364 »Die Zuspitzung der Fabel korreliert mit der Zuspitzung des Aufklärungsprozesses des 1359 1360 1361 1362 1363
Ebd., S. 16. Zur Schmutz- und Abfallmetaphorik siehe Borsk-Borgarello 1985, S. 67ff. Vgl. Zola 2008, S. 865. Ebd., S. 868. Pl8onore Reverzy : La chair de l’id8e. Po8tique de l’all8gorie dans Les Rougon-Macquart. GenHve: Droz 2007, S. 119. 1364 Vgl. Borsk-Borgarello 1985, S. 68.
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latenten inneren Verderbens«.1365 Neben ähnlichen Herangehensweisen in Deskription und Bildwahl verbindet die Autoren die zugrunde liegende Intention, Verbrechen, Korruption und Machtspiele aufzudecken. Besonders interessant ist in diesem Kontext einmal mehr das Schicksal des von der Camorra ausgebeuteten Schneiders Pasquale, der zum einen als eine dem erlebenden und erzählenden Ich sehr nahestehende Figur dargestellt wird1366 und zum anderen in seiner Physis an die Charaktere der »maigres« in Zolas Le Ventre de Paris rückzukoppeln ist, denn: »Aveva una figura allampanata. Alto, magrissimo e un po’ ›scuffato‹: la sua altezza si piegava sulle spalle, dietro il collo. Un fisico unico.«1367 Pasquale gehört zu den Verlieren des kapitalistischen Systems, die bereits an ihrer Physis zu erkennen sind. Bezeichnenderweise wird die nördliche Peripherie Neapels in diesem Kapitel auch zum »cranio nudo«1368, also zum kahlen Schädel, der sich in das Gesamtbild des degenerierten Stadtkörpers einfügt. In Gomorra ist im Vergleich zu Le Ventre de Paris das Verderben nicht latent und versteckt angelegt, sondern wird durch das gesamte Werk offen zur Schau gestellt. Gelenkt wird die Darstellung durch den nach Wissen und Aufklärung suchenden Blick des Ich-Erzählers. Ein ähnlicher Kulminationspunkt der Degeneration wie in Le Ventre de Paris am Ende des fünften Kapitels beschrieben, findet sich auch im letzten Kapitel von Gomorra. Hier entscheidet sich der erzählende Protagonist Saviano, die terra dei fuochi zu Fuß zu besuchen. Die beschriebenen illegalen Mülldeponien in der nördlichen Peripherie Neapels sind jedoch zunächst nicht allzu stark metaphorisch konnotiert, sondern vor allem referenziell. Nichtsdestotrotz wird die Metapher des degenerierten Körpers, wie im Eingangskapitel angelegt, auch hier mitverarbeitet. So etwa ist der besprochene Landstrich vom Krebs (»cancro«)1369 befallen. Der Krebs symbolisiert die örtliche Vormachtstellung der Camorra, eine Analogie, die bereits im Kapitel »Cemento armato« zu finden ist, wo von der »terra malata di Camorra« gesprochen wird.1370 In seiner vollen Kraft kommt das Metaphorische jedoch 1365 Ebd. 1366 Bereits aufgeführt in Kap. 6.2.2: »Io e Pasquale legammo molto.« Saviano 2008, S. 43. 1367 Ebd., S. 39. Sowohl Florent als auch vor allem Claude Lantier werden bei ihrer Einführung im Text ähnlich beschrieben. Zu Florent heißt es: »Il parassait d’une longueur extraordinaire, maigre comme une branche sHche;« Zola 2008, S. 604; zu Claude: »C’8tait un garÅon maigre, avec de gros os, une grosse tÞte, barbu, le nez trHs fin, les yeux minces et clairs. […] Un peu courb8, agit8 d’un frisson d’inqui8tude nerveuse qui devait lui Þtre habituel, il restait plant8 dans ses gros souliers lac8s;« Zola 2008, S. 617. Die Figur des Pasquale oszilliert zwischen dem ausgebeuteten ›Künstler‹ (Schneider) und einer Führerfigur des Autor-Erzählers. Daher wäre es interessant, ihn mit der Figur des Claude Lantier aus Le Ventre de Paris zu vergleichen. 1368 Ebd., S. 34. 1369 Ebd., S. 311. 1370 Ebd., S. 239.
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erst auf der letzten Seite wieder zum Tragen. Der Erzähler expliziert, dass die Mülldeponien am besten geeignet sind, um den Wirtschaftskreislauf zu veranschaulichen, da sich auf ihnen sammelt, was der Konsum hinterlassen hat.1371 Während sich das erlebende und berichtende Ich am Hafen am Ursprung der Welt (»origine del mondo«)1372 wähnt, so meint es nun, sich zwischen Zivilisationsresten (»residui di civilt/«)1373 zu bewegen. Der Zyklus schließt sich, nicht nur jener der Ware, sondern auch der der menschlichen Entwicklung, die hier an einem Endpunkt der Zivilisation angekommen zu sein scheint. Wie in Zolas Text bildet auch in Gomorra eine verregnete Landschaft mit Rauchschwaden den Hintergrund, in der der Protagonist uns seinen Blickpunkt leiht: Una volta avevo deciso di attraversare a piedi la terra dei fuochi. Mi ero coperto naso e bocca con un fazzoletto, l’avevo legato sul viso, come facevano anche i ragazzini ROM quando andavano a incendiare i rifiuti. Sembravamo bande di cowboy tra deserti di spazzatura bruciata. Camminavo tra le terre divorate dalle diossina, riempite dai camion e svuotate dal fuoco, cos' da non rendere mai saturi questi buchi. Il fumo che attraversavo non era denso, era come se fosse una patina collosa che si posava sulla pelle lasciando una sensazione di bagnato.1374
In einer wüstenähnlichen Landschaft, die von klebrigem Qualm dominiert wird, ist einmal mehr ein Verdauungsvorgang erkennbar. Diesmal ist es das Land, das vom toxischen Giftmüll zerfressen wird (»terre divorate«), nur, um wieder mit neuen ›Produkten‹ gefüllt werden zu können. Es wird das Bild einer andauernden, rotierenden Apokalypse erschaffen (»un’apocalisse continua e ripetuta«)1375, der nichts mehr entgegenzusetzen ist. Diese wird in der Beschreibung von einer quasi-bukolischen, pervertierten Idylle unterbrochen, in der Hirten zu Hütern der Camorra umfunktioniert werden: »Usavano i pastori come pali […]. I migliori pastori in circolazione venivano assunti per badare agli intrusi, piuttosto che a montoni e agnelli. […] Li vedevo spesso gironzolare con i loro greggi rinsecchiti e obbedienti al seguito.«1376 In dieser Szenerie, im Dauerregen, verschmelzen Apokalypse, pervertierte Bukolik und das wahrnehmende Ich: Continuava a piovere. In pochissimo tempo l’acqua inzuppk la terra che ormai non riusciva piF ad assorbire piF nulla. I pastori impassibili si andarono a sedere come tre santoni emaciati sotto una specie di pensilina costruita di lamiere. Continuavano a fissare la strada mentre le pecore si mettevano in salvo, arrampicandosi su una collina di spazzatura. […] Ero completamente zuppo, ma tutta l’acqua che mi crollava addosso non riusciva a spegnere una sorta di bruciore che mi saliva dallo stomaco e si irradiava 1371 1372 1373 1374 1375 1376
Vgl. ebd., S. 310. Ebd., S. 14. Ebd., S. 313. Ebd., S. 327. Ebd., S. 328. Ebd., S. 328.
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sino alla nuca. Cercavo di capire se i sentimenti umani erano in grado di fronteggiare una cos' grande macchina di potere, […].1377
So wie die Stadt bisher zum Körper geworden ist, bildet sich im Verfahren der literarischen Darstellung nun eine Landschaft aus Müll (»collina di spazzatura«) heraus. So wie der Boden nicht mehr in der Lage ist, das Regenwasser zu absorbieren, ist auch der Protagonist völlig durchnässt – es kommen in einer figura etymologica sogar verwandte Begriffe zum Einsatz: Das Verb inzuppare und das Adjektiv zuppo haben die gleiche Herkunft. So wie all das Wasser die in der terra dei fuochi brennenden Feuer nie endgültig zu löschen vermag, kann auch der Regen das Brennen, das das erzählende und erlebende Ich physisch verspürt, nicht lindern (»tutta l’acqua […] non riusciva a spegnere una sorta di bruciore…«). Die verseuchte Erde weist also die gleichen Reaktionen auf wie der Körper des erzählenden Ich, das aus eben dieser Erde hervorgegangen ist: »Sono nato in terra di camorra, nel luogo con piF morti ammazzati d’Europa, nel territorio dove la ferocia H annodata agli affari, dove niente ha valore se non genera potere.«1378 Hier wird noch einmal auf den Punkt gebracht, warum der menschliche Körper im Chronotopos des an Gewalt gekoppelten Konsumdenkens nichts weiter als Ware ist. Die Ware, die Profit bringt, generiert Macht und ist so dem schlichten menschlichen Dasein überlegen. Hier schließt sich noch einmal der Kreis zur im Incipit im Gespräch mit dem Chinesen Xian beschworenen Ideologie des Geldes und Profits: »Euro, dollaro, yüan. Ecco la mia triade.« Xian sembrava sincero. Nessun altra ideologia, nessuna sorta di simbolo e passione gerarchica. Profitto, business, capitale. Null’altro.1379
In der Szenerie der aufgeweichten, schmutzigen Landschaft scheint der IchErzähler zu versinken, in ihr unter- oder aufzugehen, ähnlich wie Florent bereits zu Beginn von Le Ventre de Paris im Gemüsekarren. Eine Rettung gelingt nur, indem der Protagonist Saviano sich auf einen dort entsorgten, vorbeischwimmenden Kühlschrank wirft und sich so in seinem Status noch einmal dem der Ware angleicht. Im Text heißt es: Avevo i piedi immersi nel pantano. L’acqua era salita sino alle cosce. Sentivo i talloni sprofondare. Davanti ai miei occhi galleggiava un enorme frigo. Mi lanciai sopra, lo avvinghiai stringendolo forte con le braccia e lasciandomi trasportare.1380
Das Verb galleggiare, das ausdrückt, dass jemand oder etwas auf einer Wasseroberfläche schwimmt, führt in ein ähnliches Bild zurück, das den Leser zu 1377 1378 1379 1380
Ebd., S. 329f. Ebd., S. 330. Ebd., S. 21. Ebd., S. 331.
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Beginn des Textes am Hafen in Empfang genommen hat. Ein Meer voller Waren, die absolut dominant sind. Hier treten sie dem Rezipienten nun in ihrem Endzustand vor Augen. Der Verbalkomplex »lasciandomi trasportare« verweist auf den – zumindest in diesem Moment – zur Passivität verdammten Menschen, der der Ware gleich durch den Sumpf schwimmt, auf sie angewiesen ist und keinesfalls einen höheren Wert besitzt. Ein Aufbegehren seitens der Figur Saviano, die mit der absorbierten Choralität repräsentativ für die neapolitanische Bevölkerung steht, findet jedoch durch die Hinzunahme eines Filmzitats statt. An den Kühlschrank gekrallt erinnert sich der Ich-Erzähler an Franklin J. Schaffners Film Papillon nach dem gleichnamigen Roman von Henri CharriHre, in dem es dem Protagonisten zuletzt gelingt, aus der Strafkolonie auf den Teufelsinseln zu fliehen. Gomorra endet mit den Worten: Avevo voglia di urlare, volevo gridare, volevo stracciarmi i polmoni, come Papillon, con tutta la forza dello stomaco, spaccandomi la trachea, con tutta la voce che la gola poteva ancora pompare: »Maledetti bastardi, sono ancora vivo!«1381
Dieses Ende ist zwiespältig. Zum einen wird ein Wechsel vom zuvor passiven hin zu einem aktiven Vorgehen aufgerufen, zu einem vitalen Schrei, der den ganzen Körper in Anspruch nimmt. Aufgeführt werden in sezierender Genauigkeit alle Körperpartien, die vom Schrei in Mitleidenschaft gezogen würden: Lunge, Magen, Luftröhre, Stimme, Hals. Zum anderen bleibt es eben bei einem Vorsatz (»Avevo voglia«). Der Schrei wird nicht ausgeführt, zumindest wird dies dem Rezipienten nicht mehr zuteil. Nichtsdestotrotz endet der Text, der in allen möglichen Formen das gewaltsame Sterben von Menschen in einer der Sünde verfallenen Stadt zur Darstellung gebracht hat, mit dem Wort »vivo«, Leben, und nimmt so eine positivere Grundhaltung ein. Außerdem grenzt sich der an den Kühlschrank geklammerte Ich-Erzähler damit in seinem Status von der Ware ab, an die er zuvor assimiliert worden war. Zugleich wird durch das Filmzitat eine letzte Modellierung der Stadt vorgenommen. Durch das implizite Aufrufen des Übersee-D8partements Französisch-Guayana wird die »terra di camorra«1382 zur %le du diable, zur Teufelsinsel, der es zu entfliehen gilt. Zudem festigt sich hier erneut die Bindung an Zolas Le Ventre de Paris, kommt doch Florent von den Teufelsinseln und wird zu Ende des Romans wieder dorthin deportiert. Die semantische Richtung der sich bewegenden Protagonisten Florent und Saviano ist mithin eine zumindest angedeutet gegensätzliche. Während Florents revolutionäres Unterfangen definitiv scheitert, bleibt in Gomorra zumindest ein Funken Hoffnung bestehen. Wie bereits im Titel überlagern sich in der Gleichsetzung von »terra di camorra« und Teufelsinsel Referenz und Allegorie. 1381 Ebd., S. 331. 1382 Ebd., S. 330.
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Zuletzt bestätigt Gomorra durch diese Zitatanleihe aus Papillon sein stets diskutiertes Genre: Der autobiographische Text Henri CharriHres gilt als Dokufiktion. 6.3.1.2 Zur Bedeutung von Blick und Imagination: Die Deskription bei Zola und Saviano Das spiegelverkehrte Rollenverhältnis von Mensch und Ware führt in einen weiteren Bereich naturalistischen Erzählens, in den sich Saviano in weiten Teilen einzuschreiben scheint, den der Deskription. Pellini konstatiert für das literarische Universum Zolas, dass es objektzentriert sei und der Anthropozentrismus durch das quantitative wie qualitative Verhältnis von Beschreibung und Narration sowie von Mensch und Ware eine implizite Negierung erfahre.1383 Die Figuren werden vornehmlich zu passiven Rezeptoren des multiformen Chaos’ der Waren, die die modernen Metropolen überschwemmen.1384 Pellini spricht in Bezug auf den naturalistischen Roman von einem Roman der Dinge, deren überbordende Präsenz die Kommerzialisierung anklagt und die Figuren marginalisiert.1385 Die Charaktere erscheinen als eine Art Linse auf das Detail, das als Basis einer gut dokumentierten, vollständigen Darstellung im Kontext einer Anklage gesellschaftlicher Missstände notwendig ist.1386 Die Beschreibung hat somit Beglaubigungsfunktion1387 und das sei der Grund – so Irene Albers – »warum sich für Zola und seine Generation das Projekt des Naturalismus weniger über Verfahren der Narration als über solche der Deskription definiert«.1388 Die Deskription scheint sich neben der Narration als gleichwertiges und autonomes literarisches Verfahren zu etablieren.1389 Zola selbst sieht in der Deskription einen Zustand des Milieus, der den Menschen determiniert und komplettiert.1390 Er führt aus: Nous estimons que l’homme ne peut Þtre s8par8 de son milieu, qu’il est compl8t8 par son vÞtement, par sa maison, par sa ville, par sa province; et, dHs lors, nous ne noterons pas un seul ph8nomHne de son cerveau ou de son cœur, sans en chercher les causes ou le contrecoup dans le milieu. De l/ ce qu’on appelle nos 8ternelles descriptions.1391 1383 Pierluigi Pellini: Naturalismo e verismo. Zola, Verga e la poetica del romanzo. 5. Überarb. u. akt. Auflage. Firenze: Le Monnier Universit/ 2010, S. 85. 1384 Ebd., S. 82. 1385 Ebd., S. 62. 1386 Ebd., S. 83. 1387 Vgl. Annika Spieker : Der doppelte Blick. Photographie und Malerei in Pmile Zolas RougonMacquart. Heidelberg: Winter 2008, S. 98. 1388 Albers 2002, S. 193. 1389 Vgl. ebd. 1390 Vgl. Zola 2004, S. 425. 1391 Ebd.
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In den meisten Kapiteln von Gomorra alternieren Deskription und episodische Narration im von der Rezeptor-Figur des Ich-Erzählers zusammengehaltenen Romanganzen. So etwa in den bereits angerissenen weitläufigen Beschreibungen des Hafens im Incipit oder der terra dei fuochi im Excipit, die sich auf die Darstellung der Orte und der sich dort befindlichen Waren konzentrieren. In einem kleinen Exkurs sei erlaubt, auf ein Kapitel des Werks zu verweisen, das in totum deskriptiv ist. Das mit »Il sistema« überschriebene dritte Kapitel des ersten Teils lässt keinerlei Spielraum für Handlung, sondern ist allein der Beschreibung der in Neapel herrschenden, mafiösen Gruppierung gewidmet. Es liefert die theoretische Basis mit aller Detailtreue, die der Dokumentarismus eines der Wahrheit verschriebenen Werkes bedarf. Il sistema ist ein Begriff »qui a tutti noto, ma che altrove resta ancora a decifrare«1392. Er stellt das von den Einheimischen gebrauchte Synonym zur im Titel paronomastisch eingebrachten und weithin bekannteren Bezeichnung Camorra.1393 Durch kumulative Aufzählung und Beschreibung der verschiedenen Familien der Clans mit Namen, Spitznamen und deren örtlich und zeitlich eingeordneten Tätigkeitsbereichen entsteht ein regelrechtes Panorama des Systems, dessen lokale Vormachtstellung Neapel und seine Bewohner in ihrem Sein und Handeln determiniert. In Bezug auf die Hypertextualität zwischen Zola und Saviano jedoch interessanter sind die in Bezug auf die Körpermetaphorik bereits analysierten Passagen am Hafen und im Feuerland. Dabei sind verschiedene Spezifika hervorzuheben, wie zum Beispiel die Funktion des Blicks und der Zusammenhang zwischen Sehen und Macht sowie die durch die Akkumulation der dargestellten Masse erfolgte Sublimierung der Ware, die teils in ähnlichen Deskriptionssituationen entsteht wie die im Werk Zolas. Albers kritisiert, dass über die häufige Befragung von Zolas Text nach einem impressionistischen Hintergrund des Beschreibungsstils die Tatsache übersehen wird, dass Le Ventre de Paris »nicht so sehr ein Roman über den ästhetischen Blick […] als ein Roman über die soziale Funktion und Perversion des Blicks und über das Verhältnis von Macht und Sehen« ist.1394 Auf Ebene des Plots exemplifiziert sich dies anhand der Verhaftung Florents, die nur durch die präzisen Beobachtungen und darauf aufbauenden Berichte der Figuren im Roman habe zustande kommen können.1395 Der »ästhetische Blick« der De1392 Saviano 2008, S. 48. 1393 In Bezug auf den Begriff Camorra führt Saviano aus: »ð una parola che fa sorridere gli affiliati, H un’indicazione generica, un termine da studiosi, relegato alla dimensione storica. Il termine con cui si definiscono gli appartenenti a un clan H Sistema: […]«, ders. 2008, S. 48. 1394 Albers 2002, S. 172f. 1395 Albers zeichnet im Kapitel »Totale Sichtbarkeit« die Isotopie des Sehens und des Blicks, die in Le Ventre de Paris aufgebaut wird, anschaulich nach. Vgl. dies. 2002, S. 178.
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skription gewinne seine eigentliche Funktion in Le Ventre de Paris daher erst im Kontrast zu den identifizierenden und spionierenden Blicken der »honnÞtes gens«.1396 Sehen steht also im Zusammenhang mit Verstehen und Macht über eine gegebene Situation. Nicht-Sehen oder schlechtes Sehen hingegen führt zu Verwirrung und Unverständnis, was Albers anhand des Incipits und der ersten Konfrontation des Protagonisten mit den Markthallen ausführt.1397 Besonders in Szene gesetzt wird der Blick hier sicher durch die einsetzende Dämmerung, den Wechsel von nächtlichem Dunkel im undeutlichen Gaslaternenlicht zum nur allmählich heranbrechenden Tag, in dem dem Protagonisten langsam ein Erund Wiedererkennen der Stadt zugestanden wird.1398 Eine ähnliche Verschränkung des direkten Blicks auf die Umwelt, eines Sehens und Beobachtens, das zum Verstehen führt, zum Wissen, das Grundlage möglicher Veränderung ist, wird in Kapitel 1 von Gomorra zunächst angerissen, später aber zum Fundament des Romans. In einer kindlichen Geste bedeckt der Kranführer, der die Geschichte der aus dem Container fallenden Chinesen übermittelt, im Gespräch mit den Händen sein Gesicht und sieht sein Gegenüber nur noch durch die Fingerritzen an: »[…] si mise le mani in faccia e continuava a guardarmi attraverso lo spazio delle dita.«1399 Trotz des eingeschränkten Sichtfelds besteht noch Blickkontakt zwischen den Gesprächspartnern, der eine vermittelt dem anderen das von ihm Gesehene, sein Wissen. Wenig später jedoch heißt es: »Chiuse le dita coprendosi completamente il volto e continuk a parlare piagnucolando, ma non riuscivo piF a capirlo.«1400 Die Kommunikation kommt in dem Moment zum Erliegen, in dem einer der beiden die Augen verschließt. Indirekt ist dieser Gestus eine Bejahung des herrschenden Systems um des eigenen Überlebens Willen, die sich auf die Maxime der omert/, des nicht Sehens, nicht Hörens und nicht Sprechens stützt. Im Kapitel »La guerra di Secondigliano« wird expliziert: »[…] le persone […] hanno imparato ad avere uno sguardo selettivo, come se gli occhi, quando capitano su qualcosa di orrendo, oscurassero l’oggetto o la situazione. Un’abitudine a prescegliere cosa vedere, un modo per continuare a vivere.«1401 Der Aufruf, genau diesen selektiven Blick zu eliminieren und stattdessen hinzusehen, steckt jedoch implizit schon im Titel Gomorra. Im Kapitel »Don Pepino Diana« lässt der Autor Saviano die Figur des Cipriano, einen engen Freund des Priesters, aus einem handgeschriebenen 1396 Vgl. ebd., S. 172f. 1397 Albers verweist auf die Ankunft Florents in Paris mit »le ventre pli8« und »la vue troubl8e« (Zola 2008, S. 606) sowie auf sein Erstaunen beim Anblick der gigantischen Hallen: »Mais ce qui le surprenait, c’8tait, aux bords de la rue, de gigantesques pavillons, …« Ebd., S. 609. 1398 Vgl. Zola 2008, S. 608ff. 1399 Saviano 2008, S. 11. 1400 Ebd., S. 12. 1401 Saviano 2008, S. 77.
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Pamphlet zitieren, das eine Analogie zwischen der Zerstörung der biblischen Städte Sodom und Gomorrha und der Situation in Neapel herstellt: Allora il Signore fece piovere dal cielo su Sodoma e Gomorra zolfo e fuoco; egli distrusse quella citt/ e quanto cresceva sul suolo. Ma la moglie di Lot si volse a guardare indietro e diventk una statua di sale (Genesi 19, 12–29). Dobbiamo rischiare di divenire di sale, dobbiamo girarci a guardare cosa sta accadendo, cosa si accanisce su Gomorra, la distruzione totale dove la vit/ H sommata o sottratta alle vostre operazioni economiche.1402
So formuliert sich im Blick, der zum Wissen führt, das erklärte Ziel Gomorras, das jedoch bis auf die letzten Seiten immer wieder auf seine Umsetzbarkeit, nicht jedoch auf seine Notwendigkeit hin infrage gestellt wird. Auch der Ich-Erzähler selbst fragt nach einem Leben mit verdecktem Blick und stellt sich so in den Kreis seiner Figuren: Mi tormentavo, cercando di capire se fosse possibile tentare di capire, scoprire, sapere senza essere divorati, triturati. O se la scelta era tra conoscere ed essere compromessi o ignorare – e riuscire quindi a vivere serenamente. Forse non restava che dimenticare, non vedere.1403
Die Antwort auf diese Frage gibt der Autor-Erzähler bereits einige Zeilen später und negiert ein Leben in omert/ kategorisch zugunsten eines über moralisches Engagement hinausgehenden Überlebenskampfes im Zeichen des Wissens und Verstehens.1404 Sehen und Erkennen stehen also vielfach im Fokus der beiden Romane. Bei Saviano formuliert sich das aus dem Blick geborene Wissen, das in den Beschreibungen Gomorras zur Darstellung kommt, aus einem revolutionären Gegenkonzept zum tief verwurzelten Schweigen über kriminelle Straftaten im Süden Italiens. Bei Zola liegt dem »methodischen Sehen«, das in Beschreibung kulminiert, »der vom Positivismus geprägte Glaube daran [zugrunde], daß die präzise Beschreibung des Sichtbaren Hypothesen über Gesetzmäßigkeiten hervorbringt, das Sichtbare auch ›Wahrheit‹ produziert«.1405 Aus der Beobachtung erhofft er sich Einsicht in die »lois de ph8nomHne«.1406 Dies ist jedoch auch Savianos erklärtes Ziel, dessen der Aufklärung verbundener Blick darauf gerichtet ist, die Mechanismen der 1402 Ebd., S. 264. Im Einzelnen wird auf die Funktion der intertextuellen Verweise im Kapitel »Don Peppino Diana« in der vorliegenden Arbeit im Kap. 6.3.3 eingegangen. 1403 Ebd., S. 330. Auch hier wird im Übrigen in der Frage des Sprechers, ob es möglich sei, zu wissen, ohne verdaut und zermahlen zu werden, wieder auf die Körpermetapher und den Verwertungszyklus zurückgegriffen. 1404 »E cos' conoscere non H piF traccia di impegno morale. Sapere, capire diventa una necessit/. L’unica possibile per considerarsi ancora uomini degni di respirare.« Ebd., S. 331. 1405 Albers 2002, S. 200. Sie verweist weiterhin auf die Nähe von Zolas Schriften zu den Texten des Mediziners Claude Bernard und Auguste Comtes. Vgl. ebd., S. 199f. 1406 Ebd.
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ökonomischen Machenschaften der Clans zu erkennen und somit die eigene Zeit zu verstehen.1407 Der Blick als gnoseologisches Instrument wird jedoch in beiden Werken an seine Grenze gebracht. »Tutto quello che esiste passa di qui.«1408 Diese durch einen Allquantor eingeleitete Passage aus Gomorra führt ein Phänomen vor, das in der Rhetorik Zolas und Savianos sehr rekurrent ist, nämlich das Beschreiben von alles umfassender Quantität, von Masse, von schierer Größe, die ihresgleichen sucht. In der bereits vorgestellten Szene, in der Schiffe ihre Latrinen im Hafen leeren,1409 werden Unmengen angehäuften Drecks zu einer wundersamen Fata Morgana unter der Sonne am Meer. Zum einen wird hier fast mise en abymeartig ein Endprodukt im Organ des Endprodukts – dem Hafen als metaphorischen Anus – entleert. In dieser Passage folgt auf die Anhäufung allen Drecks an der Küste, das von der Sonne geschaffene und entzündete Blendwerk eines Meeres, das tatsächlich aus Wasser zu bestehen scheint.1410 Die Beschreibung oszilliert zwischen Ekel und Überwältigung, zwischen Grauen und Wunder. Auch im Weiteren finden sich im Vokabular der Beschreibungen Begriffe, die auf die enorme Anzahl und Masse des Schmutzes, aber auch der Waren verweisen (»un’enorme vasca di percolato« oder »La banchina con migliaia di container«)1411. Zum anderen lässt sich hier einmal mehr das im Incipit fast schon anaphorisch verwendete tutto konstatieren (»E tutto si raccoglie sulla costa, prima come massa moliccia, poi come crosta dura.«)1412, das stets auf das die allumfassende Quantität und die Omnipräsenz der Produkte hinweist, sei es in ihrem Anfangs- oder Endzustand (Produktion / Vertrieb vs. Entsorgung). Dieser auf die Masse der Waren bezogene Allquantor wird in Opposition zur Singularität des Ortes gesetzt, die damit den hyperbolischen Eindruck noch verstärkt. Der Hafen wird in Kapitel 1, das bereits nach diesem Ort benannt ist, 19 Mal aufgeführt, davon sieben Mal in der Spezifizierung »il porto di Napoli« und zwei Mal als »il solo porto di Napoli«, also in der Engführung, dass allein an diesem Ort die Masse der Güter ihren Weg findet. So heißt es z. B.: »Il solo porto di Napoli movimenta il 20 per cento del valore dell’import tessile dalla Cina, ma oltre il 70 per cento della quantit/ del prodotto passa di qui.«1413 Die vom Erzähler vorgenommenen Aufzählungen und Beschreibungen des Hafens führen 1407 1408 1409 1410
Vgl. Saviano 2008, S. 331. Ebd., S. 12. Vgl. dazu Kap. 6.3.1.1 der vorliegenden Arbeit. Im Original heißt es: »E tutto si raccoglie sulla costa, prima come massa molliccia e poi crosta dura. Il sole accende il miraggio di mostrare un mare fatto d’acqua. In realt/ la superficie del golfo somiglia alla lucentezza dei sacchetti della spazzatura. Quelli neri.« Saviano 2008, S. 16. 1411 Ebd., S. 16f. 1412 Ebd., S. 16. 1413 Ebd., S. 12.
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beim erlebenden Ich zu Überwältigung und einer mit dem Verstand nicht auflösbaren Verwirrung: »Gli occhi non riuscivano a contare, quantificare, il numero dei container presenti. Non riuscivo a tenerne il conto. Puk apparire impossibile non riuscire a procedere con i numeri, eppure il conto si perdeva, le cifre diventavano troppo elevate, si mescolavano.«1414 Auch Florent wird vom Staunen überwältigt beim Anblick der »gigantesques pavillons, dont les toits superpos8s lui semblaient grandir, s’8tendre, se perdre, au fond d’un poudroiement de lueurs.«1415 Ebenso wird das Innere der Markthallen als eigene Welt hyperbolischen Übermaßes beschrieben.1416 Chiara Lombardi konstatiert für Zolas Le Ventre de Paris den Eindruck des Erstaunens stets als von etwas in seiner Größe Hervorstechendem provoziert. Sie plädiert für eine moderne re8criture des Sublimen, das sich aus Folgendem speist: »Dall’aspetto gigantesco, colossale e prodigioso della nuova struttura architettonica, tra metamorfosi reali e simboliche, tra abiezione e trasfigurazione.«1417 Sie analysiert das Erhabene im naturalistischen Text Zolas als eine Kategorie, die man in diesem Umfeld so nicht erwartet haben dürfte. In der Betrachtung dieser re8criture bezieht sie sich nicht nur auf die architektonische Anlage und die Struktur der Hallen, sondern auch auf »quel cuore di merci in trasformazione e in vendita e persino in putrefazione, nobilitate proprio da cik che di meno nobile esista, cioH il denaro, motore immobile di questo incessante ingranaggio.«1418 Das, was bei Longinus ›gemein‹ und bei Cicero ›elend‹ oder ›schmutzig‹ sei, würde hier durch den Filter des 1414 Ebd., S. 15. 1415 Zola 2008, S. 609. 1416 »La grande voix des Halles grondait plus haut; […] Florent levait les yeux, regardait la haute vo0te, dont les boiseries int8rieures luisaient, entre les dentelles noires des charpentes de fonte. Quand il d8boucha dans la grande rue du milieu, il songea / quelque ville 8trange, avec ses quartiers distinct, ses faubourgs, ses villages, ses promenades et ses routes, ses places et ses carrefours, mise tout entiHre sous un hangar, un jour de pluie, par quelque caprice gigantesque. […] et c’8tait, au-dessus de la ville, jusqu’au fond des t8nHbres, toute une v8g8tation, toute une floraison, monstrueux 8panouissement de m8tal, dont les tiges qui montaient en fus8e, les branches qui se tordaient et se nouaient, couvraient un monde avec ses l8gHret8s de feuillages d’une futaie s8culaire.« Zola 2008, S. 621. 1417 Lombardi 1985, S. 87. Um ihre These zu untermauern zeichnet sie knapp den Weg von der ursprünglichen Definition des Sublimen bei Pseudo-Longinus bis hin zu Lyotard nach. Besonders wichtig ist in dieser Entwicklung die Rezeption Burkes und Baillies, die das Sublime von der Entität der Seelengröße, die es seit Longinus innehatte, abkoppeln und Komponenten wie das Grauen, Angst und eine Art negative Lust (»delight«) für das Konzept nutzbar machen. Sie hebt den Übergang des objektiven Wertes dessen, was das Sublime hervorruft, zum subjektiven Gefühl der Wahrnehmung hervor, das unabhängig von jeder idealen oder moralischen Größe ist, die Austauschbarkeit von Kunst und Natur und in der Folge zwischen Natur und jedweden künstlich hergestelltem Objekt, Waren oder architektonischen Bauwerken. Diese Voraussetzungen führten zu einer »estetica moderna, ›disincantata‹ e ibrida, dove il sublime segna l’unione ambigua tra terrificante ed entusiasmante.« Siehe dies., S. 86. 1418 Ebd., S. 87.
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Schrecklichen und des Grauens zu einer wirkungsvollen Quelle des Sublimen.1419 Die stilistische Qualität und Potenzialität von Zolas Suche und Umschreibung des Sublimen speise sich aus dem Triumph der Ware und ihrer Transfiguration, die von jeder Korrespondenz mit der Innerlichkeit der Figur abgeschnitten bleibe und vielmehr an dessen Sinne gebunden sei, an eine Phantasie oder merklich an Emotion gekoppelter Wahrnehmung in malerischer Form.1420 So wird etwa die Anhäufung der Waren unter der aufgehenden Sonne zu einem metaphorischen Meer : Il [Claude] forÅa son compagnon [Florent] / admirer le jour se levant sur les l8gumes. C’8tait une mer. Elle s’8tendait de la pointe de Saint-Eustache / la rue des Halles, entre les deux groupes de pavillons. Et, aux deux bouts, dans les deux carrefours, le flot grandissait encore, les l8gumes submergeaient les pav8s.1421
Es folgt die Deskription einer Akkumulation verschiedener Gemüsesorten, die in einer Freudenbekundung Claudes gipfelt, der hier selbst das Sublime des Bildes veranschlagt: Claude battait des mains, / ce spectacle. Il trouvait »ces gredins de l8gumes« extravagants, fous, sublimes. Et il soutenait qu’ils n’8taient pas morts, qu’arrach8s de la veille, ils attendaient le soleil du matin pour lui dire adieu sur le pav8.1422
Diese mit der Zeit immer mehr ins Überbordende getriebene Masse an Waren, die aus den Hallen quellen und von ihnen verdaut werden, werden in den Worten Zolas zum Treibstoff der Krise und in Lombardis Interpretation zum Ausgangspunkt von Florents utopischer Rebellion gegen das imperialistische System:1423 Les Halles g8antes, les nourritures d8bordantes et fortes, avaient h.t8 la crise. Elles lui [Florent] semblaient la bÞte satisfaite et dig8rant, Paris entripaill8, cuvant sa graisse, appuyant sourdement l’Empire.1424
Der jeweilige Blickpunkt Florents und Claudes auf die Hallen weist Unterschiede auf, zielt jedoch auf das gleiche Phänomen ab. Die Markthallen in ihrer Größe und ihrem Überfluss »symbolisieren […] den Sieg des Physischen, Materiellen und der satten ›Gras‹ über den ›Maigre‹ Florent«.1425 So wie Claude und Florent staunend vor den Massen des zu verkaufenden 1419 Ebd. 1420 Vgl. ebd., S. 88. Lombardi bezieht sich in ihren Aussagen nicht nur auf Florent, sondern auch auf den Maler Claude Lantier. 1421 Zola 2008, S. 626f. 1422 Ebd., S. 628f. Es sei in diesem Kontext wieder auf die rekurrente Personifikation der Ware, hier des Gemüses, hingewiesen. 1423 Lombardi 1985, S. 84. 1424 Zola 2008, S. 733. 1425 Albers 2002, S. 186.
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Gemüses stehen und die Hallen als gigantischer Organismus die Bissen der zwei Millionen Einwohner von Paris verschlingen,1426 so steht das erzählende Ich in Gomorra im Hafen Neapels den ankommenden Waren gegenüber, stets mit dem Gefühl, etwas sehr Ursprüngliches zu erleben. Der Chronotopos des Hafens steht hier analog zu dem der Hallen in Paris für die wirtschaftliche Übermacht des herrschenden Systems. Stilmittel, die rekurrent zum Einsatz kommen, sind der immer wieder anaphorisch auftauchende Allquantor tutto sowie die Akkumulation in der Deskription, die diese hyperbolisch werden lässt. So heißt es in der vormals bereits anzitierten Szene am Hafen: Tutto quello che esiste passa di qui. Qui, dal porto di Napoli. Non v’H manufatto, stoffa, pezzo di plastica, giocattolo, martello, scarpa, cacciavite, bullone, videogioco, giacca, pantalone, trapano, orologio, che non passi per il porto. Il porto di Napoli H una ferita. Larga. Punto finale dei viaggi interminabili delle merci. Le navi arrivano, si immettono nel golfo avvicinandosi alla darsena come cuccioli a mammelle, solo che loro non devono succhiare, ma al contrario essere munte. Il porto di Napoli H il buco nel mappamondo da dove esce quello che si produce in Cina […].1427
Und weiter wird im Verlauf des ersten Kapitels ausgeführt: »Tutto quello che si produce in Cina viene sversato qui«,1428 »Tutti i sofficini e i bastoncini di pesce della terra sono stipati in quei contenitori ghiacciati«,1429 »[… ] la seta di tutti i vestiti inglesi d’una stagione«1430. Neapel ist ein »luogo del tutto«, der Ort, an dem alles vorbei- und ankommt, der Nabel der kapitalistischen Welt.1431 Es ist ein totalitäres Prinzip, das in der Warenbeschreibung angelegt ist und auf Syntax und Wortwahl des Werkes übertragen wird.1432 Besonders hervorstechend sind in diesem Kontext folgende Textstellen, die das Gigantische und Allumfassende der zum Protagonisten stilisierten und als Wunder sublimierten Waren greifbar machen: Mi perdo sempre, al molo. Il molo Bausan H identico alle costruzioni Lego. Una struttura immensa, ma che sembra non avere spazio, piuttosto pare inventarselo. C’H 1426 1427 1428 1429 1430
Vgl. Zola 2008, S. 631. Saviano 2008, S. 12. Ebd. Ebd., S. 14. Ebd., S. 14f. Die hier vorgestellten Zitate stammen jeweils aus dem ersten Kapitel. Dieses Vorgehen zieht sich jedoch durch den gesamten Roman. »Tutta la moda delle passerelle, tutta la luce delle prime piF mondane proviene da qui. Dal napoletano e dal Salento. […] Da qui partono. Da questo buco. Tutte le merci hanno origine oscura. ð la legge del capitalismo.«, heißt es z. B. in Kapitel 2 (S. 39) oder auch im Kapitel »Cemento armato«:«Supermercati dove tutto cik che poteva essere comprato e consumato deve permettere alla cartamoneta di far battezzare capitali e danari che altrimenti non avrebbero trovato precisa origine legittima.« Ebd., S. 229. 1431 Vgl. Migliaccio 2012, S. 140. 1432 Vgl. ebd.
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un angolo del molo che sembra un reticolo di vespai. […] Quando vado al molo Bausan ho la sensazione di vedere da dove passano tutte le merci prodotte per l’umana specie. Dove trascorrono l’ultima notte prima di essere vendute. Come fissare l’origine del mondo.1433
Während bei Zola die Hallen die Ware für ganz Paris verschlingen, steht der Erzähler in Gomorra der kompletten, globalen Produktion für die gesamte Menschheit gegenüber. Die immense Struktur des Piers muss sich den von ihr eingenommenen Platz auf hyperbolische Weise erfinden und findet ihr bildliches Äquivalent im geschäftigen Treiben eines Wespennests. Eingeleitet wird das Schauspiel bereits dadurch, dass sich das erzählende Ich an der Mole verliert, da es etwas zu Großem gegenübersteht. Zur Darstellung kommt mit der Warenproduktion beziehungsweise -beförderung ein recht abstraktes Thema. Der kognitive Prozess, der nötig ist, um die Größen des kapitalistischen Systems zu begreifen, läuft hier nicht allein über das Verarbeiten von Sinneswahrnehmung, sondern ebenso über den Einsatz von Phantasie und Vorstellungskraft, was explizit verbalisiert wird: »Bisogna rifondare la propria immaginazione per cercare di comprendere come l’immensit/ della produzione cinese possa poggiare sullo scalino del porto napoletano.«1434 Schon bei Longinus wollte Phantasie – ob rhetorische oder dichterische – erregen. Erstere mit Fokus auf Erschütterung, Zweitere mit Gewicht auf Verdeutlichung.1435 Das Erhabene bei Kant definiert sich – im Gegensatz zur Schönheit – dadurch, dass es auch in der Formlosigkeit zu finden ist, solange es sich durch Unbegrenztheit oder Totalität auszeichnet, also durch quantitative Merkmale.1436 »Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist.«1437 Dieses Zuschreiben von Größe ist nach Kant ein »bloßes Reflexionsurteil über die Vorstellung desselben, die für einen gewissen Gebrauch unserer Erkenntnis-
1433 Saviano 2008, S. 14. 1434 Ebd. 1435 Bei Longinus heißt es: »15 (1) Ferner rufen […] die Bilder der Phantasie auch Erhabenheit, Größe und Energie des Stils hervor – so jedenfalls nenne ich sie; manche sprechen von Bilderzeugungen. Denn gewöhnlich heißt Vorstellung jeder aufsteigende Gedanke, der einen sprachlichen Ausdruck hervorruft; das Wort hat sich aber auch für die Fälle eingebürgert, wo man das Gesagte in Begeisterung und leidenschaftlich erregt zu schauen meint und es den Hörern vor Augen stellt. (2) Daß jedoch die rhetorische Phantasie etwas anderes will als die dichterische, wird dir nicht entgangen sein, auch nicht, daß das Ziel der dichterischen Phantasie Erschütterung ist, das der rhetorischen aber Deutlichkeit, beide freilich in gleicher Weise … und erregen wollen.« Ders.: Vom Erhabenen. griech. / dt. Übers. u. hg. v. Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam 1988, S. 44ff. 1436 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Beilage: Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Heiner F. Klemme. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2006, § 23, B 75ff., S. 105f. 1437 Ebd., § 25, S. 110.
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kräfte in der Größenschätzung subjektiv zweckmäßig ist«.1438 Hier findet sich eine Parallele zu Savianos literarischem Vorgehen, denn auch hier soll Phantasie verdeutlichen und erklären, was nicht greifbar ist. Auch die im ersten Kapitel aufgeführte Problematik findet ihr Korrelat am Ende des Werks in der Beschreibung der illegalen Müllentsorgung. Hier reflektiert der Erzähler zunächst auf der Metaebene den Zugang zum Verständnis abstrakter Prozesse über die Vorstellungskraft. Generell sei es nicht schwer, sich eine Person, eine Geste oder auch etwas, was gar nicht existent ist, vorzustellen, nicht einmal die Imagination des eigenen Todes. Das Komplizierteste aber sei es, in die Wege der Ökonomie einzutauchen, die Finanzflüsse und Prozente des Profits nachzuvollziehen, die Unterhandlungen, Schulden und Investitionen.1439 Genau um solche Größen zu vermitteln, greift der Autor auf Analogien zurück, die traditionellen Bildern des Sublimen entsprechen, wie jenen eines Gebirges. In Gomorra heißt es: Se i rifiuti sfuggiti al controllo ufficiale – secondo una stima di Legambiente – fossero accorpati in un’unica soluzione, nel loro complesso diverrebbero una catena montuosa da quattordici milioni di tonnellate: praticamente come una montagna di 14.600 metri con una base di tre ettari. Il Monte Bianco H alto 4.810 metri, l’Everest 8.844. Questa montagna di rifiuti, sfuggiti ai registri ufficiali, sarebbe la piF grande montagna esistente sulla terra. ð cos' che ho immaginato il DNA dell’economia, […]: come questa enorme montagna.1440
Die »rifiuti«, also Abfälle, Produkte in ihrem Endstadium, werden in einem ersten Schritt wieder in die bereits vorher aufgebaute Körpermetapher eingebunden. Das verwendete Verb accorpare geht etymologisch auf corpo zurück. Sodann wird der so evozierte Müllberg in einer Klimax syntaktisch zunächst neben den höchsten Berg der Alpen (»Monte Bianco«) und dann den höchsten Berg der Welt (»l’Everest«) gestellt, die er in diesem von der Phantasie beschworenen und grammatikalisch im Konditional dargestellten Bild der Superlative noch überragt (»sarebbe la piF grande montagna esistente«). Das imaginierte Bild, das in Anlehnung an gravitätische Bergmassive entsteht, lässt ein grauenerregendes, sublimes Phantasma entstehen, das zur Bewusstmachung der Realität beiträgt, deren Erkenntnis allein durch den Blick nicht möglich ist. Ästhetisierung und in der Deskription beschworene Imagination sind mithin kein Selbstzweck, sondern unterliegen dem Erkenntnisanspruch des jeweiligen Werks. Bislang kann also festgehalten werden, dass die auf das Sehen gestützten Beschreibungen des Milieus einem Erkenntnisanspruch dienlich sind, das Milieu jedoch nie um seiner selbst willen beschrieben wird, sondern in seiner die 1438 Ebd., S. 112. 1439 Saviano 2008, S. 310. 1440 Ebd., S. 311.
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Figuren determinierenden Funktion. Diese Elemente finden sich sowohl in dem als Hypotext gelesenen Werk Zolas als auch in der hypertextuellen Schrift Gomorra von Saviano. Das Milieu ist eines der drei im Naturalismus als determinierend angesehenen Momente (race, moment, milieu). Inwiefern es auch im literarischen Werk Roberto Savianos noch eine Rolle spielt, soll im Folgenden kurz umrissen werden.
6.3.1.3 Die Determination durch das milieu: Einlösung und Widerspruch einer Tradition Der naturalistische Roman ist ein sozialkritischer Roman, der das Milieu in den Mittelpunkt stellt und dessen Einfluss auf das Leben der Menschen untersucht.1441 Die determinierende Rolle des Milieus im 19. Jahrhundert findet ihre Wurzeln in den Werken Auguste Comtes, Claude Bernards und schließlich Hippolyte Taines. Comte entwickelt seine Milieutheorie im Cours de philosophie positive (1830–1842), in dem er von einem unabdingbaren, reziproken Zusammenspiel von Organismus (Mensch) und umgebendem Milieu ausgeht.1442 In einem gegebenen System bestimmter äußerer Umstände agiere der Mensch »d’une maniHre necessairement d8termin8e«.1443 Im medizinischen Bereich spricht Bernard bei höher entwickelten Lebewesen von einem inneren und einem äußeren Milieu,1444 bei denen das innere zwar auf das äußere Milieu reagiert, jedoch eine relative Eigenständigkeit bewahrt.1445 Um ein natürliches Phänomen zu beobachten – so Bernard – brauche man mindestens zwei ›Körper‹, von denen einer das Milieu stelle. Es heißt: »Il est impossible de supposer un corps absolument isol8 dans la nature; il n’aurait plus de r8alit8, parce que, dans ce cas, aucune relation ne viendrait manifester son existence.«1446 Um Phänomene beobachten zu können, müsse man stets die Reaktionen des einen auf den anderen Körper berücksichtigen, das heißt den Körper, der das Phänomen manifestiert und »les circonstances ext8rieures ou le milieu qui d8ter1441 Vgl. Pellini 2010, S. 62. 1442 Comte schreibt: »Nous avons reconnu, en effet, que l’id8e de vie suppose constamment la co-r8lation n8cessaire de deux 8l8ments indispensables, un organisme appropri8 et un milieu convenable.« Ders.: Cours de philosophie positive. Bd. 3. Paris 1948, S. 301. Unter Milieu versteht Comte »l’ensemble totale des circonstances ext8rieures«. Ebd. 1443 Ebd., S. 303. 1444 »[…] chez les Þtres vivants 8lev8s, il y a au moins deux milieux / consid8rer : le milieu ext8rieur ou extra-organique et le milieu int8rieur ou intraorganique.« Claude Bernard: Introduction / l’8tude de la m8dicine exp8rimentale. Chronologie et pr8face par Claude Bernard. Paris: Garnier-Flammarion 1966, S. 104. 1445 Vgl. ebd. 1446 Vgl. ebd., S. 113.
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mine ou sollicite le corps / manifester ses propri8t8s«.1447 Taine formuliert schließlich im literarischen Kontext das bekannt gewordene Determinationstryptichon von race, milieu und moment. In seiner Histoire de la Litt8rature anglaise heißt es: Trois sources diff8rentes contribuent / produire cet 8tat moral 8l8mentaire, la race, le milieu et le moment. […] Car l’homme n’est pas seul dans le monde; la nature l’enveloppe et les autres hommes l’entourent; sur le pli primitif et permanent viennent s’8taler les plis accidentels et secondaires. Et les circonstances physiques ou sociales d8rangent ou complHtent le naturel qui leur est livr8. Tantit le climat a fait son effet. […] Tantit les circonstances politiques ont travaill8, […]. Il y a pourtant un troisiHme ordre de causes; car avec les forces du dedans et du dehors, il y a l’œuvre qu’elles ont d8j/ faite ensemble, et cette œuvre elle-mÞme contribue / produire celle qui suit; outre l’impulsion permanente et le milieu donn8, il y a la vitesse acquise. Quand le caractHre national et les circonstances environnantes opHrent, ils n’opHrent point sur une table rase, mais une table oF des empreintes sont d8j/ marqu8es. Selon qu’on prend la table / un moment ou / un autre, l’empreinte est diff8rente; et cela suffit pour que l’effet total soit diff8rent.1448
Die Formulierung Taines wird unter den Naturalisten zu einer Art Losungswort.1449 Auch Zola gibt im Vorwort der Rougon-Macquart an, die »Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le second Empire«1450 darstellen und der doppelten Frage nach »temp8rament«1451 und »milieux«1452 nachgehen zu wollen.1453 Nach Savianos Angaben ist auch sein eigenes Schreiben milieubestimmt: wie und was er schreibe, ergebe sich aus seinem Herkunftsort Neapel: Altrove si puk crescere e vivere e scegliere tenendo una qualche distanza dalla realt/ in cui si vive. La determinazione del proprio circostante non ha sempre la medesima manipolazione sui corpi e le anime e quindi gli stessi risultati. Esistono territori dove non puoi venire venirne fuori senza attraversare pantani e senza venire ai ferri corti con la propria quotidianit/. Ecco io vengo da uno di questi territori.1454 1447 Ebd., S. 117. 1448 Hippolyte Taine: Histoire de la Litt8rature anglaise. Tome I. Deux. ed. revue et augment8e. Paris: Hachette 1966, S. XXIIIff. 1449 Vgl. Nathalie Richard: Hippolyte Taine. Histoire, psychologie, litt8rature. Paris: Classiques Garnier 2013, S. 172. 1450 Zola 2008, S. 4. 1451 Ebd., S. 3. 1452 Ebd. 1453 Den Milieu-Begriff Zolas sieht Elke Kaiser vor allem in den Schriften Claude Bernards und Prosper Lucas begründet. Vgl. dies.: Wissen und Erzählen bei Zola: Wirklichkeitsmodellierung in den Rougon-Macquart. Tübingen: Narr 1990, S. 37. 1454 Saviano in Redazione 2014, S. 78. An anderer Stelle führt Saviano diesbezüglich weiter aus: »Relazionarsi a certi territori, a certe logiche H molto difficile. Io vengo da una terra complicata dove ogni cosa H gestita dai poteri criminali. Quello che alcuni filosofi hanno
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Diese Determination, durch die Saviano sein Schreiben als gelenkt empfindet und die ihm ein sich Messen mit der Realität aufdrängt, findet sich auch inhaltlich, in Bezug auf die von ihm beschriebenen Menschen wieder. Es ist eine durch das Milieu gekennzeichnete Deskription, in der man durch Milieu gesteuerte und determinierte Figuren jeden Alters findet. Die 90er Jahre sind in Süditalien, in Kampanien, berühmt für die Strategie, bereits Kinder zu Soldaten auszubilden, Jugendliche aus der Arbeitslosigkeit herauszuholen und für das ortsansässige System nutzbar zu machen.1455 Lara Santoro gibt an: Nelle periferie dei grandi centri urbani del Sud la situazione appare particolarmente drammatica. I bambini a rischio vivono, infatti, per la maggior parte in quartieridormitorio, privi di servizi, dove i fenomeni di violenza sono all’ordine del giorno e anche gli omicidi sono considerati eventi normali. […] Indicativo H il caso di Napoli, dove interi quartieri costituiscono vere e proprie fabbriche della devianza in cui si producono i futuri boss camorristi.1456
Auch Nicola De Blasi, der die Kultur und Sprache Neapels erforscht, benennt die parthenopäische Peripherie als »zone criminogene per eccellenza, con il maggior saggio di crescita di criminalit/ minorile e il piF alto numero di morti ammazzati«.1457 Das hat zur Folge, dass in durch die Camorra beherrschten Gegenden Neapels die Menschen in ihren Erfahrungen und ihrer Lebenseinstellung von den Umständen der Örtlichkeit bestimmt sind. Dieser Umstand findet sein Korrelat in Gomorra im vierten Kapitel, »La guerra di Secondigliano«, wo es heißt: A Secondigliano i ragazzi, i ragazzini, i bambini hanno perfettamente idea di come si muore e di come H meglio morire. Stavo per andarmene dal luogo dell’agguato a Carmela Attrice quando sentii parlare un ragazzino con un suo compagno. I toni erano serissimi: »Io voglio morire come la signora. In testa, pam pam … e finisce tutto.« »Ma in faccia, l’hanno colpita in faccia, in faccia H peggio!« »No, non H peggio, H un attimo comunque. Avanti o dietro, sempre in testa H!«1458
Dass es sich hier um ein besonderes Wissen und eine spezifische Erfahrung handelt, die am Umfeld festzumachen ist, zeigt schon der Einstieg, in dem die
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definito ›biopotere‹ H molto piF facile riconoscerlo dalle mie parti che nelle metropoli del Centro-Europa. Tuttto H a esso sottoposto e tutto H sua espressione, dalla sessualit/ alla cronaca locale.« Roberto Saviano 2013, S. 15. Vgl. Saviano 2008, S. 92f. Lara Santoro: I bambini e la mafia. Rappresentazione dell’infanzia nel genere-mafia del XXI secolo. New Brunswick / New Jersey 2011, S. 19f. Nicola De Blasi: Storia linguistica di Napoli. Roma: Carocci 2012, S. 143f. Er fügt hinzu, dass das organisierte Verbrechen diese Realität ›gefunden‹ und nicht ›erfunden‹ habe und attestiert Savianos Werk Gomorra einen guten Überblick zu diesem Thema. Vgl. ebd. Saviano 2008, S. 114.
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Ortsbezeichnung vorangestellt ist. Sodann ist die Frage unter den Jungen nicht, ob man stirbt oder wann, sondern wie. Der unnatürliche und gewaltsame Tod, der eigene oder der eines Mitmenschen, ist in diesem Umfeld dem Leben stets eingeschrieben. Dass den Jungen dieses Fatum schon von Kindesbeinen an bestimmt ist, zeigt die auf den ersten Blick redundant erscheinende, klimaktische Juxtaposition der Begriffe ragazzi, ragazzini, bambini. Während im Italienischen der ragazzo durchaus auch ein junger Mann sein kann, verweist der Terminus ragazzino definitiv auf einen Jungen, der seine Steigerung noch im bambino, dem Kind findet. Die Szene wirkt umso eindrücklicher, als es sich hierbei um eine der wenigen Passagen des Werkes handelt, die den Dialog zulassen und den Figuren eine eigene Stimme geben: »Io voglio morire come…«.1459 Der Tod als determinierendes Element des Milieus lässt sich erneut rückkoppeln an die Dominanz der Ware, die Macht generiert, wie folgendes Zitat veranschaulicht: »Questo H il nuovo tempo scandito dagli imprenditori criminali. Questa H la nuova potenza dell’economia. Dominarla, a costo d’ogni cosa. Il potere prima d’ogni cosa. La vittoria economica piF preziosa della vita. Della vita di chiunque e persino della propria.«1460 Die Vorherrschaft des Todes gibt den Lebenden dieser Gegend symbolbeladene Namen und macht sie zu Zombis: »[…] morti parlanti, morti viventi, morti che si muovono… Bello e buono prendono e ti uccidono, ma tanto la vita H gi/ persa.«1461 Eine alte Redensart gibt an – so wird es in Gomorra aufgeführt – dass Leben und Tod vor Ort äquivalent sind: »›Vita e morte per me H ’a stessa cosa!‹«1462 Umgekehrt ist den ragazzi aus Neapel auch der Waffengebrauch und damit das Töten von Beginn ihres Lebens schicksalhaft beschieden.1463 Schießen zu lernen ist ein Initiationsakt, ein Ritus, der von den Vätern gefördert und gefordert wird und die Jungen zu Männern macht.1464 So stellt der Vater des IchErzählers eines Tages fest, dass der gleichaltrige Cousin seines Sohnes bereits 1459 1460 1461 1462 1463
Ebd. Ebd., S. 129. Ebd. Ebd., S. 207. Santoro gibt an: »Ad appena sette-otto anni cominciano come ›muschilli‹, cioH corrieri della droga in motorino; a quattordici hanno incarichi importanti e sanno usare la pistola e a diciassette sono gi/ diventati ›capizona‹. Costano poco e rendono molto, perch8 non sono punibili dalla legge e dunque piF idonei a svolgere mansioni rischiose. La mobilit/ H altissima e rapidissima (non H questione di decenni, bens' di pochi mesi), ma spesso la carriera di questi piccoli boss finisce con la morte violenta.« Siehe dies. 2011, S. 20. 1464 Dieser wird mit den Jungen von Vätern oder väterlichen Figuren durchgeführt. In Diego De Silvas Certi bambini etwa ist es die Figur des Damiano, ein Mafiamitglied, der die Lehrerfunktion des jugendlichen Protagonisten Rosario einnimmt und die Initiation des Schießenlernens begleitet und überwacht. Siehe Diego De Silva: Certi bambini. Torino: Einaudi 2001.
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schießen könne, während seinem Sohn diese Erfahrung noch fehle und er räumt diese Unzulänglichkeit aus. Die Szene wird dem Leser in einem Flashback zugänglich, der die Gedanken des jugendlichen Protagonisten übermittelt: Quando centrai finalmente il primo bersaglio della mia vita provai una sensazione mista di orgoglio e senso di colpa. Ero stato capace di sparare, finalmente ero capace. Nessuno poteva piF farmi del male. Ma ormai avevo imparato a usare un arnese orrendo. Uno di quelli che una volta lo sai usare non puoi piF smettere di usarlo. Come imparare ad andare in bicicletta.1465
Die Erfahrung des Schießens wird hier an widersprüchliche Emotionen gekoppelt; an Stolz und Schuld, da das einmal Erlernte unwiderruflich zum Einsatz kommen und Tote fordern wird. Das Schießen – so die Textpassage – ist für die Jugendlichen vor Ort so alltäglich wie Kindern andernorts das Fahrradfahren. Das zu frühe Erwachsenwerden der parthenopäischen Jugendlichen ist zwar genderspezifisch, jedoch nicht allein den Jungen vorbehalten. Auch für die Mädchen der neapolitanischen Peripherie ist das Ende der Kindheit in der literarischen Darstellung festgelegt: »Le ragazze dei quartieri popolari di Napoli a quattordici anni sembrano gi/ donne vissute. I volti sono abbondantemente dipinti, i seni sono mutati in turgidissimi meloncini dai pushup, portano stivali appuntiti con tacchi che mettono a repentaglio l’incolumit/ delle caviglie.«1466 Dass es sich hierbei um ein negatives und künstlich erzwungenes Erwachsenwerden handelt, zeigen die pejorativen Beschreibungen für die üppig bemalten Gesichter, die durch Push-ups zu Melonen mutierten Brüste und die Absätze, die um die Unversehrtheit der Knöchel bangen lassen. Die geschaffene Schönheit scheint hier nur der rechtzeitigen Selbstvermarktung zu dienen. Der Deskription der jungen Mädchen folgt die Beschreibung des realen Todesfalls der Annalisa Durante, die zufällig in einen Schusswechsel auf der Straße geraten war und in Gomorra zum Exempel für das Leben der jungen Frauen vor Ort wird. Verflochten sind die beiden Geschichten, die allgemeine und die spezifische, durch eine resümierende Schlussbemerkung: »Qui perk non esiste attimo in cui il mestiere di vivere non appaia una condanna all’ergastolo, una pena da scontare attraverso un’esistenza brada, identica, veloce, feroce. Annalisa H colpevole d’essere nata a Napoli. Nulla di piF, nulla di meno.«1467 Das einleitende »qui«, ›hier‹, der Textpassage legt wiederum zunächst den Ortsbezug fest, die Umgebung, in der das Handwerk oder auch Gewerbe des Lebens zur Gefängnisstrafe wird. Das erinnert erneut an die zum Ende des Romans hergestellte Verbindung der terra di camorra zur %le de diable, der Teufelsinsel, die als Gefangenenlager diente. Zudem kann man wieder, wenn man »mestiere« als 1465 Saviano 2008, S. 187. 1466 Ebd., S. 168. 1467 Ebd., S. 172.
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Gewerbe versteht, eine Ökonomisierung des Lebens sehen. Gleichzeitig wird eine Verbindung zum gleichnamigen Werk Il mestiere di vivere1468 des vor allem als neorealistischen Schriftsteller bekannten Cesare Pavese hergestellt. Es ist sicher kein Zufall, dass ausgerechnet auf das diario des Autors verwiesen wird. Die jung verstorbene Annalisa Durante wurde nach ihrem frühen Tod durch das von ihr geführte und von den Eltern mithilfe von Matilde Andolfo veröffentlichte Tagebuch berühmt, in dem sie ihr Leben mit allen Hoffnungen und Ängsten vor dem neapolitanischen Alltag offenlegt.1469 In diesem Tagebuch hatte Annalisa ihren Tod intuitiv vorausgesagt. Dort heißt es: »Vivo e sono contenta di vivere anche se la mia vita non H quella che avrei desiderato. Ma so che una parte di me sar/ immortale. ð presto andrk in paradiso.«1470 Durch seine Allusion an Paveses Tagebuchtitel ruft Saviano die darin aufgeführte Fatalität des Lebens1471 genau wie Annalisas eigenes Schreiben auf den Plan und macht das Mädchen zur Heldin und zum Opfer. Der letzte Satz des zitierten Paragraphen synthetisiert noch einmal das Schicksal, das Neapels Bewohnern eingeschrieben wird, beziehungsweise die ›Erbsünde‹, die auf den dort lebenden Menschen zu liegen scheint: Die einzige ›Schuld‹ der erschossenen Annalisa wird in ihrem Geburtsort gesehen und legt damit absolute Determination durch das Milieu offen. Ob man überlebt oder stirbt scheint in Gomorra eher zum Glücksspiel zu werden, ein Gedanke, der durch den häufig verwendeten, regionalen Ausdruck morto ammazzato für assassinato untermalt wird.1472 Der ›ermordete Tote‹ – wie die tautologische Konstruktion in wörtlicher Übersetzung heißen müsste – findet sein dialektales Korrelat in o muorto acciso, was der Bezeichnung der Nummer 621473 des neapolitanischen Glücksspiels La Smorfia Napoletana entspricht.1474 Das Glücksspiel, vor allem das Lottospiel, hat in Neapel eine lange 1468 Cesare Pavese: Il mestiere di vivere (Diario 1935–1950). Torino: Einaudi 1952. 1469 Matilde Andolfo: Il diario di Annalisa. Überarb. v. Mario Fabbroni. Napoli: Tullio Pironti 2005. 1470 Andolfo 2005, S. 7. 1471 Vgl. zur Fatalität Giorgio B/rberi Squarotti: »L’eroe della tragedia. Pavese e il ›Diario‹«, Cuadernos di filolog&a italiana 2011, S. 33–48. 1472 Vgl. Saviano 2008, S. 112 (2x), 113, 114, 256, 330. 1473 Vgl. zu den verschiedenen Nummern der neapolitanischen Tombola Bruno Amato / Anna Pardo: A Napoli si parla cos'. Manuale di conversazione per conoscere e praticare la lingua partenopea. Milano: Vallardo 1999, S. 166–170, hier besonders S. 168. 1474 Die Monographie des Verlags Sigma Libri [o. A.] I 90 numeri della smorfia napoletana gibt an, dass das moderne Lottospiel seit 1576 existiert, jedoch zunächst vor allem in Genua bekannt war. Von dort aus verbreitete es sich in alle Regionen Italiens, bis nach Frankreich, fasste jedoch vor allem in Neapel Fuß (vgl. ebd., S. 7f.). Dort ist es zu einer Art Institution geworden, um die sich eine eigene Mythologie und Philosophie rankt (ebd., S. 8). Jedem Ereignis, allen Objekte und realen ›Figuren‹ lässt sich eine Nummer des Lottospiels zuordnen, sodass die Smorfia als ein großes Buch des Lebens funktioniert und alles sich andersherum alles auf eine Zahl reduzieren lässt. Vgl. ebd., S. 13, [IQ]. Die Unterkategorie der Smorfia leitet sich etymologisch von Morfeo, dem Gott des Schlafes ab und hat damit
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reale wie literarische Tradition und nimmt bereits in Matilde Seraos Il ventre di Napoli einen weiten Beschreibungsraum ein. Dort wird es zum Ausdruck der Verzweiflung neapolitanischer Armut und beschreibt Menschen, die in der Hoffnung auf den großen Gewinn, »das letzte im Hause befindliche […] Geldstück« opfern.1475 Bei Saviano hingegen wird der Mensch selbst Teil des Glücksspiels und das Leben wird zur letzten zu opfernden Münze in einer nahezu ausweglosen Partie. Ähnlich, wenn auch weniger dramatisch, wird auf diese Determination im Kapitel »Cemento armato« verwiesen, in dem dem Leser das Schicksal des Ortes Casal di Principe vor Augen geführt wird, dem seit Langem der Ruf der Hauptstadt der Camorra anhaftet.1476 Benito Mussolini soll versucht haben, die Gemeinde von diesem Klischee zu befreien, indem er sie mit San Cipriano d’Aversa zusammenschloss und dem Verbund einen symbolträchtigen neuen Namen gab: Albanuova.1477 Doch noch heute heißt es – so ein altes Sprichwort aus der Gegend: »Camorristi si diventa, ma casalesi si nasce.«1478 Aus dem Titel des Kapitels »Cemento armato« – zu Deutsch ›Stahlbeton‹ – könnte man in einer Dekonstruktion des Begriffs (»armato« im Sinne von ›bewaffnet‹) bereits das kriegerisch-zerstörerische der in diesen Passagen beschriebenen Bauindustrie herauslesen, die Land und Leute formt.1479 Der in der Außenperspektive traditionell durch seine Schönheit konnotierte Süden Italiens wird in Gomorra im Kontext der kapitalistischen Welt des Stahlbetons in einer dantesken Anleihe vom Paradies zum real wie metaphorisch blinden Höllenschlund: Qualcuno ha detto che a sud si puk vivere come in un paradiso. Basta fissare il cielo e mai, mai osare guardare in basso. Ma non H possibile. L’esproprio d’ogni prospettiva ha sottratto anche gli spazi della vista. Ogni prospettiva si imbatte in balconi, soffitte, mansarde […]. Qui non pensi che qualcosa possa cadere dal cielo. Qui scendi giF. Ti inabissi. Perch8 c’H sempre un abisso nell’abisso.1480
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einen Zusammenhang zum Traum und dem Buch der Träume. Auch außerhalb des Spieles findet die Smorfia Anwendung im euphemistischen Gebrauch einiger numerischer Ausdrücke als Ersatz für Alltagssprachliches. Vgl. Paola De Sanctis Ricciardone: Il tipografo celeste. Il gioco del Lotto tra letteratura e demologia nell’Italia dell’Ottocento e oltre. Pref. di Vitorio Lanterni. Bari: Dedalo 1987, S. 122f. Seraos Il ventre die Napoli widmet gleich zwei Kapitel dem Lottospiel (»Il lotto« und »Ancora il lotto«). Dies.: Il ventre di Napoli. Roma: Avagliano 22003, S. 66–71 sowie S. 72– 78.Vgl. dazu außerdem Christine Asiaban: Thematisierung weiblicher Realität in Werken italienischer Autorinnen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Bonn: Romanistischer Verlag 1999, S. 94f. Vgl. Saviano 2008, S. 206. Vgl. ebd. Ebd. In Gomorra heißt es: »Il potere dei clan rimaneva il potere del cemento«. Saviano 2008, S. 231. Ebd., S. 239. Die danteske Höllenfahrt ist bereits im Untertitel des Werkes Viaggio
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Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gegend beziehungsweise die Verwurzelung in einem bestimmten Milieu hat in einem je anderen Umfeld verschiedene Konsequenzen. Während der Verbleib am Geburtstort das Leben zur Gefängnisstrafe werden lässt oder unausweichlich in die Kriminalität oder den Tod führt, kann es andernorts zu Chancen und ›positiver‹ Wertung beitragen.1481 Im vorletzten Kapitel wird der Leser nach Aberdeen in Schottland geführt, wo Ableger der Camorra ein eigenes Imperium aufgebaut haben. Ein Freund des Ich-Erzählers findet dort aufgrund seiner Herkunft eine Arbeitsstelle. Matteo aveva avuto bisogno di un’origine campana, aveva avuto bisogno di quell’alone per essere valutato per il suo curriculum, la sua laurea, per la sua voglia di fare. La stessa origine che in Scozia lo portava a essere un cittadino con tutti i normali diritti, in Italia l’aveva costretto a essere considerato poco piF di uno scarto d’uomo, senza protezione, senza interesse, uno sconfitto in partenza perch8 non aveva fatto partire la propria vita nei percorsi giusti. D’improvviso gli era esplosa una felicit/ mai vista prima. PiF andava su di giri, piF mi saliva un’amara malinconia. Non sono mai riuscito a sentirmi distante, abbastanza distante da dove sono nato, lontano dai comportamenti delle persone che odiavo, realmente diverso dalle dinamiche feroci che schiacciavano vite e desideri. Nascere in certi luoghi significa essere come il cucciolo del cane da caccia che nasce gi/ con l’odore di lepre nel naso.1482
Noch einmal erscheint in dieser Passage – zumindest in Italien – der aus Kampanien stammende Mensch als seiner Umgebung untergeordneter, chancenloser Abschaum. Er ist von Beginn an allein aufgrund seiner Herkunft ein Besiegter. Bei aller Determinanz seitens des Geburtsortes deutet sich in diesem Abschnitt des Werks jedoch auch die Möglichkeit einer Abkehr an, die sich allerdings schwierig zu gestalten scheint. »Non sono mai riuscito a sentirmi distante«1483, heißt es, nicht, dass eine Distanzierung nicht möglich ist. Diese Möglichkeit des Ausstiegs, die Alternative, einen Krieg gegen die Camorra statt mit und in ihr zu führen, wird im bereits zitierten Schlussteil des Werkes vorgeführt.1484 Erneut dominieren vorangestellte Ortsangaben (»In terra di camorra«), die auf den das Werk abschließenden Seiten drei Mal anaphorisch wie-
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nell’impero economico e nel sogno di dominio della camorra angelegt, zumindest wenn man das impero als Paronomasie auf inferno liest. Es heißt im Text: »Mondragone era la porta per la Gran Bretagna. D’improvviso dalla fine degli anni ’90 avere un amico a Mondragone significa poter essere valutato per quanto valevi, senza necessit# di presentazione o di raccomandazione. Cosa rara, rarissima, impossibile in Italia e ancora piF al sud.« Saviano 2008, S. 284f. Und außerdem: »Nascere in terra di camorra per quei miei coetanei scozzesi significava avere un vantaggio, portare su di s8 un marchio impresso a fuoco che ti orientava a considerare l’esistenza un’arena dov’H l’imprenditoria, le armi, e persino la propria vita sono solo e esclusivamente un mezzo per raggiungere danaro e potere: […].« Ebd., S. 293. Ebd., S. 308. Ebd. Vgl. Kap. 6.2.1 der vorliegenden Arbeit.
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derholt werden und so eine gewisse Endgültigkeit zu besiegeln scheinen.1485 Mit jedem Aufführen der terra di camorra wird diese entweder spezifiziert als »luogo con piF morti ammazzati d’Europa«1486 oder eine ihr entgegenzusetzende Notwendigkeit angeführt, nämlich: »combattere i clan« und »conoscere i meccanismi«.1487 Die Figuren in Gomorra können stellvertretend für die Menschen im Einzugsbereich der Camorra wählen, welches Kampfgebiet das ihre ist: gegen oder mit und in der Camorra. Savianos Werk ruft zum Ausbruch aus dem kapitalistischen Kriegsgebiet auf, zur Ablösung aus der Determination durch das Milieu. Gleichzeitig jedoch führt er genau dieses Moment durch das ganze Werk hindurch konsequent aus und stellt sich somit einmal mehr in die Tradition alter Realismen.
6.3.2 Korrektive Nachbildung Pasolinis: Savianos Poetik der Wahrheit Während Zolas Le Ventre de Paris als Hypotext einen Bogen zum Naturalismus des 19. Jahrhunderts schlägt, führen die im Folgenden analysierten Textanleihen zu einem dem Neorealismus des 20. Jahrhunderts nahestehenden Autor, der selbigen mit einem eigenen Realismus-Konzept überwindet: Pier Paolo Pasolini. Saviano installiert im Kapitel »Cemento armato« eine Poetik der Wahrheit, die vor allem auf Erfahrungen, im speziellen auf körperlicher Wahrnehmung und auf den daraus folgenden Empfindungen basiert. Sie legitimiert sich durch intertextuelle Bezüge zu Werken Pasolinis. Saviano gehört zu den italienischen Autoren der letzten zehn Jahre, die nicht nur eine Ethik des Erzählens wiederbeleben möchten, sondern ihr Schreiben auch erneut auf einem wiedergewonnenen Vertrauen in das Wort an sich und seine Funktion als Bedeutungsträger basieren.1488 Ihre Werke sollen nicht nur Realität darstellen, sondern auch agieren, etwas, was die meisten Kritiker, Verleger und auch viele Schriftsteller selbst für unmöglich halten, da die Bücher in einem Meer der Ineffizienz und dem Ende der Erfahrung zu treiben scheinen.1489 Dagegen jedoch wendet sich Gomorra eindeutig. Die produzierte Literatur entsteht in erster Instanz aus Wissen, das in weiten Teilen außerliterarischer Natur ist. Es handelt sich somit um Literatur, die eine extratextuelle Realität voraussetzt.1490 Diese wird dem Rezipienten jedoch nicht direkt zugänglich, sondern ist bewusst gefiltert und 1485 1486 1487 1488 1489
Vgl. Saviano 2008, S. 308. Ebd. Ebd., S. 330f. Vgl. Gallippi 2013, S. 502. Vgl. Benedetti (20.05.08), [IQ]. Benedetti spricht in Bezug auf Gomorra und vergleichbare Werke von einer »forza agente« und dem Text als »atto di parola«. 1490 Vgl. Donnarumma 2014, S. 12.
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muss ständige Kontrollen durchlaufen. Sie wird durch das wahrnehmende und erzählende Ich zu einer Wahrheit, die in der Schrift synthetisiert wird und Gleichgesinnte anspricht. Donnarumma bezeichnet Savianos schriftstellerische posture1491 als eine kämpferische und persuasive, die einen Feind benennt und Alliierte sucht.1492 Zum Ausdruck kommen diese poetologischen Aspekte im Kapitel »Cemento armato«, aber auch in den beiden darauffolgenden zu »Don Peppino Diana« und »Hollywood«. »Cemento armato« legt seinen Fokus zunächst auf die sich als Unternehmer verstehenden Mafiamitglieder, die die italienische Bauindustrie unterminieren. In einer darauffolgenden korrektiven Nachbildung der Anklageschrift »Il romanzo delle stragi«1493 von Pier Paolo Pasolini werden zum einen die herrschenden Verhältnisse weiter ausgebaut, zum anderen formuliert sich hier explizit die dem Werk zugrunde liegende Poetik Savianos, die an den früheren Autor und Intellektuellen anschließt, ihn jedoch noch zu übertreffen sucht. Savianos Artikel mit dem evidenten, korrektiven Zitat des pasolinianischen Vorläufertextes »Io so e ho le prove« wurde bereits im Jahr 2005 in der Zeitschrift Nuovi Argomenti veröffentlicht.1494 In Gomorra erfährt diese Passage eine Rahmung, die sie ihren Platz im Gesamtkontext finden lässt. Sie steht nicht länger isoliert, sondern erscheint – so Samuel Ghelli – als »naturale risvolto di un’esperienza maturata sul campo […] che offre l’occasione di conoscere dolorosamente dall’interno i meccanismi criminosi del mercato del cemento«.1495 Indem der erzählende Protagonist Saviano selbst in den Stahlbau einsteigt und in der Arbeit seine Erfahrungen macht – hervorgehoben werden vornehmlich körperliche Erfahrungen – wird er zum Medium, das die Mechanismen der Macht zu spüren bekommen hat und daher übermitteln kann: Il potere dei clan rimaneva il potere del cemento. Era sui cantieri che sentivo fisicamente, nelle budella, tutta la loro potenza. Per diverse estati ero andato a lavorare nei 1491 Der Begriff der posture erlangte im literaturwissenschaftlichen Kontext seine Bedeutung durch den Schweizer Schriftsteller und Literaturkritiker J8rime Meizoz, der seinen Terminus der posture auf die Theorien des Historikers und Soziologen Alain Viala gründet, der wiederum im Rückgriff auf Bordieu arbeitet. Meizoz definiert die posture folgendermaßen: »Une faÅon personnelle d’investir ou d’habiter un rile voire un statut: un auteur rejoue ou ren8gocie sa ›position‹ dans le champ litt8raire par divers modes de pr8sentation de soi ou ›posture‹.« Siehe ders.: »›Postures‹ d’auteur et po8tique. Ajar, Rousseau, C8line, Houellebecq«, Vox poetica. Lettres et sciences humaines (4. September 2004), [IQ]. Ausführlicher beschäftigt er sich mit diesem Thema in seinem Werk Posture litt8raire. Mises en scHne modernes de l’auteur. Essai. GenHve: Slatkine 2007. 1492 »La postura di Saviano H dunque insieme agonistico e persuasivo, individua un nemico cercando alleati: […]«, Donnarumma 2014, S. 12. 1493 Pier Paolo Pasolini: »Il 14 novembre 1974. Il romanzo delle stragi«, In: Scritti corsari. Pref. di Alfonso Berardinelli. Milano: Garzanti 31992, S. 88–93. 1494 Roberto Saviano: »Io so e ho le prove«, Nuovi Argomenti 32 (2005), [IQ]. 1495 Ghelli 2013, S. 92.
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cantieri, […]. Un lavoro bestiale che non sono mai riuscito a imparare particolarmente bene, un mestiere che ti puk fruttare un gruzzolo cospicuo solo se sei disposto a giocarti ogni forza, ogni muscolo, ogni energia. Lavorare in ogni condizione climatica, con il passamontagna in viso cos' come in mutande. Avvicinarmi al cemento, con le mani e col naso, H stato l’unico modo per capire su cosa si fondava il potere, quello vero.1496
Der starke Rekurs auf das Physische als gnoseologisches Instrument negiert hier die reine Erkenntnis im kartesianischen Sinne.1497 Gleichzeitig wird der Körper zur Garantie der Aufrichtigkeit dessen, der berichtet, da das Wort aus dem Erlebten und Gefühlten gleichsam ungefiltert hervorzubrechen scheint.1498 Diese Darstellung von Körperlichkeit, die einen jeden betrifft, die Darstellung eines Körpers, der auf äußere Reize reagiert – so Palumbo Mosca – dient in Gomorra in erster Linie dazu, eine möglichst direkte Verbindung zum Leser herzustellen.1499 Körperliche Reaktionen auf das Erlebte und Gesehene, wie etwa die Mitteilung über einen weiteren Toten, den hundertsten im Kontext einer der vielen ungenügend gesicherten Baustellen, ist dann auch der Auslöser zur imaginären Kontaktsuche mit Pasolini, der neben Zola als ein weiterer Vorläufer in Sachen Anklage fungiert. Die folgende Textpassage führt vor, wie die von Palumbo Mosca beschriebene physische Verbindung zwischen erlebendem und rezipierendem Subjekt funktioniert. Denn auch der Erzähler in Gomorra erfährt von dem Toten nur mittelbar (»notizia di morte«),1500 diesmal ist er nicht als direkter Zeuge anwesend. Nichtsdestotrotz beschreibt das rezipierende Ich, dass sich diese Nachricht des Todesfalles in seinen Körper ramme (»si era come ficcata in qualche parte del mio corpo«),1501 so wie sich die Inhalte Gomorras im Akt der körperlichen Gleichstellung in den Rezipienten des Werks einbrennen sollen. Die Reaktion der Figur Saviano ist Wut, die wiederum zu einer physischen Reaktion (»attacco di asma«) und dann zu Pasolini führt: Con la morte di Iacopino mi si innesck una rabbia di quelle che somigliano piF un attacco d’asma piuttosto che a una smania nervosa. […] appena entrai nella crisi asmatica di rabbia mi rimbombk nelle orecchie l’Io so di Pasolini come un jingle musicale che si ripeteva sino all’assillo.1502 1496 Saviano 2008, S. 231f. 1497 Vgl. Palumbo Mosca 2009, S. 317. Der starke Rekurs auf das Physische – und zwar der Gebrauch aller Sinne – führt wiederum zum Naturalismus Zolas, der neben dem Blick auch die anderen Sinne, vor allem das Olfaktorische zum Einsatz kommen ließ. Vgl. dazu das Kapitel »La rivincita dei sensi« in Pellini 2010, S. 41–43. 1498 Vgl. Raffaello Palumbo Mosca: L’invenzione del vero. Romanzi ibridi e discorso etico nell’Italia contemporanea. Roma: Gaffi 2014, S. 160. 1499 Vgl. ebd., S. 164. 1500 Saviano 2008, S. 232. 1501 Ebd. 1502 Ebd.
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Beim Besuch von Pasolinis Grab geht es dem erzählenden Ich – so formuliert es der Autor-Erzähler – nicht um eine Hommage, nicht darum Pier Paolo Pasolini, der die Dreifaltigkeit im Namen trägt, als laizistischen Heiligen oder literarischen Christus zu feiern. Es geht um den Ort, der durch den dort Begrabenen symbolträchtig geworden ist. Für den Autor-Erzähler scheint es der einzige Ort, an dem man noch über die Möglichkeit des Einsatzes des Wortes nachzudenken vermag.1503 Aber auch hier reicht das Wort im Dienste der Wahrheit allein nicht aus. Die Materialität des Körpers wird unterstützend herangezogen, wie am sich stets steigernden Dreischritt Namen nennen, Gesichter zeigen, Körper entkleiden nachvollziehbar wird: »Riflettere se era ancora possibile fare i nomi, a uno a uno, indicare i visi, spogliare i corpi dei reati e renderli elementi dell’architettura dell’autorit/.«1504 Das Übersteigern der Namensnennung deutet auch bereits eine superatio Pasolinis an, der sich in seiner Anklageschrift genau auf die Kenntnis der Namen fixiert. Er führt in den ersten zwei Abschnitten des »Romanzo delle stragi« auf: Io so i nomi dei responsabili di quello che viene chiamato golpe […]. Io so i nomi della strage di Milano […]. Io so i nomi dei responsabili delle stragi di Brescia e Bologna […]. Io so i nomi del ›vertice‹ […]. Io so tutti questi nomi e so tutti i fatti […] di cui sono resi colpevoli. Io so. Ma non ho le prove. Non ho nemmeno indizi.1505
Dies ist das Herzstück von Pasolinis »Io so«, das sich aus dem persönlichen Wissen um Namen und Fakten speist, dem jedoch nach eigener Aussage die Beweiskraft fehlt.1506 Genau diese Passagen zieht Saviano im Zitat heran, um einerseits eine genealogische Legitimation vorzuweisen, andererseits aber auch im Korrektiv seine ganz persönliche Poetik zu formulieren. Das Wissen und die Wahrheit des Schriftstellers Pasolini, die noch unzulänglich erscheinen, erhalten bei Saviano eine höhere Macht, die sich durch den eigenen körperlichen Einsatz legitimiert.1507 Der Status des Beweises wird verändert, er wird subjektiv und 1503 1504 1505 1506
Vgl. ebd. Ebd., S. 233. Pasolini 1992, S. 88f. Auch bei diesem Text gibt es Reflexionen über die Genrezugehörigkeit. Carla Benedetti schreibt: »Certamente non era un testo poetico. Ma non era nemmeno un semplice articolo di giornale. Era un pezzo efficace da un punto di vista retorico, costruito sulla ripetizione di un modulo […].« Siehe dies.: Il tradimento dei critici. Torino: Bollato Boringhiei 2002, S. 133. 1507 An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass auch Pasolini als Autor sich selbst und seine körperliche Präsenz durchaus zum Einsatz brachte – man denke etwa an seine Aufenthalte in Rom und sein Zusammenleben mit den Straßenjungen, die zu den Protagonisten der Ragazzi di vita geworden sind – allein bringt der vorliegende als Hypotext genutzte Abschnitt dies nicht zur Geltung.
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gerade deshalb aussagekräftig. Am Grab in Casarsa formuliert Saviano das Kernstück seiner Poetik, die sich an Pasolinis »Io so« abarbeitet: Inizia a articolare il mio Io so, l’io so del mio tempo. Io so e ho le prove. Io so come hanno origine le economie e dove prendono l’odore. L’odore dell’affermazione e della vittoria. Io so cosa trasuda il profitto. Io so. E la verit/ della parola non fa prigionieri perch8 tutto divora e di tutto fa prova. E non deve trascinare controprove e imbastire istruttorie. Osserva, soppesa, guarda, ascolta. Sa. […] Io so e ho le prove. Io so dove le pagine dei manuali d’economie si dileguano mutando i loro frattali in materia, cose, ferro, tempo e contratti. Io so. Le prove non sono nascoste in nessun pen-drive celata in buche sotto terra. Non ho video compromettenti in garage nascosti in inaccessibili paesi di montagna. N8 possiedo documenti ciclostilati dei servizi segreti. Le prove sono inconfutabili perch8 parziali, riprese con le iridi, raccontate con le parole, temprate con le emozioni, rimbalzate su ferri e legni. Io vedo, trasento, guardo, parlo, e cos' testimonio, brutta parola che ancora puk valere quando sussurra: »ð falso« all’orecchio di chi ascolta le cantilene a rima baciata dei meccanismi di potere. La verit/ H parziale, in fondo se fosse riducibile a formula oggettiva sarebbe chimica. Io so e ho le prove. E quindi racconto. Di queste verit/.1508
Der Fokus dieses poetologischen Absatzes liegt immer wieder auf den menschlichen Sinneswahrnehmungen, die der Wahrheit des Wortes ihre Beweiskraft verleihen. Die Wirtschaft hat einen eigenen Geruch (»l’odore«), den auch der Profit ausschwitzt (»trasuda«). Diese von den Sinnen durch den Körper übertragene Wahrheit wird bereits zu Beginn des Kapitels »Donne« vorbereitet, wo es heißt: »Come se esistesse nel corpo qualcosa in grado di segnalarti quando stai fissando il vero. Con tutti i sensi. Senza mediazioni. Una verit/ non raccontata, riportata, fotografata, ma H l' che ti si d/.«1509 Bereits hier wird den erlebten und erfühlten Beweisen eine stärkere Kraft zugeschrieben als gängigen, wie etwa der Photographie oder Dokumenten. In der vorliegenden Textpassage werden diese Sinneswahrnehmungen zunächst syntaktisch noch direkt der Wahrheit des Wortes zugeordnet und nicht ihrem Medium, dem Ich-Erzähler. Die Reihe »Osserva, soppesa, guarda, ascolta. Sa.« steht grammatikalisch in der dritten Person Singular und bezieht sich auf »la verit/ della parola«. Im kurz darauf erneut folgenden »Io so e ho le prove« jedoch kommt es zur Übertragung auf den menschlichen Protagonisten: Ich beobachte, höre, sehe, spreche und lege so Zeugnis ab. Casadei bemerkt, dass Savianos Poetik erstaunlich wenig theoretisiert oder systematisch konstruiert ist. Es scheine vielmehr ein schamanistisches Verhältnis zur Realität zu geben, in dem es darum gehe, möglichst großen Anteil unumstößlicher Wahrheit zu erfassen.1510 Gerade dieser sehr subjektive Status, der 1508 Saviano 2008, S. 233f. 1509 Ebd., S. 151. 1510 Vgl. Casadei 2008, S. 23.
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den Beweisen hier verliehen wird, führt dann jedoch zu ihrer Legitimierung (»inconfutabili perch8 parziali«). Ghelli schreibt: Quel che conta in Gomorra non H la verit/ che appartiene alle cose, ma H la veridicit/ che invece H propria delle parole, perch8 legata alla credibilit/ di chi racconta. Il patto che il lettore stabilisce con il testo non H dunque sulla base dell’autenticit/ degli eventi, ma sull’attendibilit/ del testimone che rimane un fatto puramente testuale, e quindi non valutabile in rapporto al mondo esterno.1511
Der Wahrheitsbegriff, der in Gomorra postuliert wird, ist nicht der im Postmodernismus ad absurdum geführte objektive, sondern ein subjektiver. Wahrheit ist parteiisch (»La verit/ H parziale«) und – wie das Ende des Abschnitts verkündet – auch nicht im Singular, sondern im Plural zu sehen: Der Autor-Erzähler spricht von »queste verit/«. So wie bereits die Realisten und Naturalisten des 19. Jahrhunderts sich der Subjektivität von Beobachtung und Darstellung der außertextlichen Realität bewusst waren, kann man auch Saviano in diesem Punkt keine Naivität unterstellen. »Non c’H in Gomorra nessuna pretesa di verit/ assoluta«, hebt Ghelli hervor.1512 Der Unterschied zwischen den alten und den neuen Realismen liegt in der Darstellungsweise. Während die Realismen des 19. Jahrhunderts diese Subjektivität im Gestus des Zurücktretens der Erzählinstanz zu kaschieren suchten, wird sie in Gomorra ganz im Gegenteil bewusst thematisiert und sogar zum legitimierenden Element erklärt. Während im 19. Jahrhundert Distanz das Mittel der Wahl war, so kommen nun Nähe und Intimität zum Einsatz, um Authentizität zu schaffen.1513 Das Zitat des Textes von Pasolini in Savianos Gomorra baut jedoch noch eine weitere Brücke, die zu den Realismen des 19. Jahrhunderts reicht. Sie betrifft die Legitimation beziehungsweise vor allem die Vorgehensweise der Literaten. Wenn auch die folgende Passage von Saviano nicht explizit aufgerufen wird, so gehört sie doch zum verwendeten Hypotext und schwingt damit implizit im Hypertext mit. Bei Pasolini heißt es: Io so perch8 sono un intellettuale, uno scrittore, che cerca di seguire tutto cik che succede, di conoscere tutto cik che se ne scrive, di immaginare tutto cik che non si sa o che si tace; che coordina fatti anche lontani, che mette insieme i pezzi disorganizzati e frammentari […], che ristabilisce la logica l/ dove sembrano regnare l’arbitrariet/, la follia e il mistero. Tutto cik fa parte del mio mestiere e dell’istinto del mio mestiere.1514
Nicht nur der die Realität beobachtende Schriftsteller wird hier hervorgehoben (»seguire« und »conoscere«), sondern vor allem der imaginierende (»immaginare«) und produzierende Autor (»coordina«, »mette insieme« und »rista1511 1512 1513 1514
Ghelli 2013, S. 93. Ebd., S. 93f. Vgl. hierzu Benedetti 2008, [IQ]. Pasolini 1992, S. 89.
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bilisce«). Dies erinnert an die Aussage Capuanas in seinem Manifest Per l’arte, in dem er fragt, ob man denn wirklich glaube, ein Zola oder Verga brauche in seiner Darstellung weniger »fantasia« als die vorherigen Schriftsteller.1515 Theoretischer Hintergrund und Vorgehensweise der Literaten finden durch die Jahrhunderte bei aller Weiterentwicklung und Differenz also durchaus noch Berührungspunkte, die hier durch den konstruktiven, legitimierenden Gebrauch des Intertextes besonders zur Geltung kommen. Die bereits aufgeführte, unterschiedliche Wahrnehmung und Rezeption steht im vorliegenden Kapitel jedoch besonders im Fokus und wird etwas weiter in Savianos Text noch einmal explizit und unter Beachtung unterschiedlicher nationaler und damit kultureller und wirtschaftlicher Parameter diskutiert: Non tutta la materia viene recepito allo stesso modo in ogni luogo. Credo che in Qatar l’odore di petrolio e benzina rimandi a sensazioni e sapori che sanno di resistenze immense, occhiali da sole e limousine. Lo stesso odore acido del carbonfossile, a Minsk, credo rimandi a facce scure, fughe di gas, e citt/ affumicate mentre in Belgio rimanda all’odore d’aglio degli italiani e alla cipolla dei maghrebini. Lo stesso accade col cemento per l’Italia, per il Mezzogiorno. Il cemento. Petrolio del sud. Tutto nasce dal cemento.1516
Die Ausführungen zur Subjektivität des Wahrnehmungs- und damit Wahrheitsbegriffes kulminieren in einer erneuten Anspielung auf ein Werk Pier Paolo Pasolinis. Mit den elliptischen Phrasen »Il cemento. Petrolio del sud.« rekurriert Saviano auf Pasolinis posthum erschienenes Romanfragment Petrolio, in dem der Autor das Aufkommen einer hedonistischen Konsumgesellschaft beklagt und den Erdölkonzern ENI als Symbol der neokapitalistischen Revolution und als Zentrum von Macht und Zerstörung darstellt.1517 Pasolini greift in diesem Werk Themen auf, die er bereits in den Scritti corsari verarbeitet hat, die jedoch hier eine neue, imaginäre Dimension erhalten.1518 Der intertextuelle Verweis bei Saviano verbindet so die metaliterarischen Ausführungen noch einmal mit dem den Gesamttext rahmenden Thema von Gomorra, einem ausufernden Kapitalismus und seinen Folgen. Bei aller Selbstbezüglichkeit durch Intertextualität, die auch Savianos Literatur definitiv aufweist, geht eine Verbindung zum ursprünglich gewählten Sujet nicht verloren. Die verarbeiteten Verweise werden nicht spielerisch eingesetzt, ironisiert oder parodiert. Der Intertext stabilisiert sowohl eine werkimmanente 1515 1516 1517 1518
Vgl. Capuana 1994, S. 42. Saviano 2008, S. 235. Pier Paolo Pasolini: Petrolio. Torino: Einaudi 1992. Vgl. dazu Marco Antonio Bazzocchi: Pier Paolo Pasolini. Milano: Mondadori 1998, S. 151ff. Donnarumma weist darauf hin, dass Pasolini parallel an dem Romanzo delle stragi, in dem der Artikel »Io so« veröffentlich wurde, und an Petrolio gearbeitet hat. Vgl. ders. 2014, S. 15.
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Poetik als auch das grundlegende Thema des Romans, er weist Tiefenwirkung, nicht Oberflächenzentrierung auf und löst Gomorra aus dem postmodernistischen Kontext, den er in seiner Ablösung dennoch mitverarbeitet. Mit dem Rückbezug auf Pasolini bringt Saviano seine Präferenz für eine performative Literatur zum Ausdruck und wird zum »corsaro«.1519 Pasquale Sabbatino beobachtet in dieser Verwandtschaft eine literarische Verwurzelung in Pasolini. Mit der Identifikation geht zeitgleich der Prozess der Bewusstwerdung eines sich bereits veränderten narrativen Verlaufs einher :1520 »Cos' Saviano avanza ora per la sua strada, nel nome del padre, certo, di cui non a caso riprende l’Io so, ma segnando una svolta e quindi un inevitabile allontanamento, reso necessario dai tempi nuovi e dalle nuove emergenze della storia.«1521 Donnarumma hebt in Bezug auf Savianos Korrektiv die verschiedenen Standpunkte der beiden Autoren hervor : Saviano schreibe aus einer Stellung ohne jegliches symbolisches Kapital heraus, während Pasolini bereits auf eine lange und erfolgreiche Karriere als Autor und Kritiker zurückblicken könne.1522 Zudem definiere Pasolini politische und literarische Akte sehr viel klarer, als das bei Saviano der Fall sei.1523 Auch der Begriff der ›Wahrheit‹ sei mithin ein anderer. Pasolini behalte dieses Wahrheitsmoment sehr bewusst den Intellektuellen vor, während es bei Saviano jedem ›aufrechten Bürger‹ offensteht.1524 Der jüngere Autor reiht sich somit in einem Akt der Sodalisierung, das heißt in einer Verschränkung des Selbstentwurfs mit Anderen,1525 in die Tradition von Schriftstellern ein, deren Anliegen es ist, mächtige und machthabende Systeme zu demaskieren und anzuklagen.1526 »Nel caso di Saviano, la denuncia vuole rendere visibile e accessibile al pubblico di massa il punto estremo di quello che gi/ Pasolini denunciava scagliandosi contro il sistema capitalistico borghese, rifiutando di accettare un potere che lui riteneva anarchico.«1527 In einem weiteren Schritt zielt Saviano aber auch auf eine 1519 Vgl. Gallippi 2013, S. 515f. 1520 Vgl. Pasquale Sabbatino: »L’›io so‹ di Pasolini e Roberto Saviano«, Corriere del Mezzogiorno (07. 06. 2008), [IQ]. 1521 Ebd. 1522 Vgl. Donnarumma 2014, S. 15. 1523 Vgl. ebd., S. 16f. 1524 Vgl. ebd. 1525 David Nelting etabliert die Begriffe Sodalisierung und Singularisierung im Kontext einer Selbtsautorisierung der Schriftsteller der frühen Neuzeit, die sich als diskursmächtige Leitfigur zu etablieren suchen und in diesem Prozess auf die eben genannten Dispositive zurückgreifen, »die morphologisch gegenläufig und funktional komplementär zueinander stehen«. Vgl. ders.: »Die Produktion poetischer Autorität im Spannungsfeld von Sodalisierung und Singularisierung (Pietro Bembo, Pietro Aretino)«, In: Valeska Rosen / David Nelting [u. a.] [Hg.]. Poeisis: Praktiken der Kreativität in den Künsten der Frühen Neuzeit. Zürich: Diaphanes 2013, S. 173–192, hier besonders S. 174 u. S. 178ff. 1526 Vgl. Gallippi 2013, S. 515f. 1527 Ebd.
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Singularisierung, also auf eine Stilisierung in seinem Weg als einzigartige Ausnahmefigur, ab1528 und überschreitet und erweitert das unterlegte Raster Pasolinis.
6.3.3 Savianos Don Peppino Diana-Kommentar: Die Macht des Wortes Im Anfang war das Wort, / und das Wort war bei Gott, / und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden / und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.1529
Das Kapitel »Don Peppino Diana« ist vielleicht das inhaltlich homogenste des ganzen Werkes. Es kommentiert Leben und Werk sowie den gewaltsamen Tod des gleichnamigen kampanischen Priesters, dessen bekannteste Schrift, der Brief Per amore del mio popolo non tacerk, fast zur Gänze aufgeführt ist. Dabei fokussiert es immer wieder die Einstellung des Priesters zur Funktionalität des Wortes, die in einer Übertragung auf das Werk Savianos eine Gomorra zugrunde liegende Poetologie der Macht des Wortes formuliert. Das Kapitel ist das titelgebende und stellt somit eine gewisse Basis für das Gesamtwerk dar. In Hinblick auf das intertextuelle Vorgehen ist vom Verfahren der m8tatextualit8 zu sprechen, dem dritten Typ textueller Transzendenz nach Genette.1530 Bei der m8tatextualit8 ist nach Auffassung Genettes das direkte Benennen oder Zitat des Bezugstexts nicht zwingend nötig,1531 wird im vorliegenden Fall jedoch explizit vorgenommen. Eine Poetik der Macht des Wortes zu entwerfen, ist in den Nachwehen des Postmodernismus jedoch nicht unproblematisch. Walter Siti formuliert dieses Problem folgendermaßen: Saviano, coi suoi libri e col suo esempio, pone un problema cruciale che H quello del potere della parola. Da molto tempo, ormai, le parole si mostrano usurate dalla marea montante della comunicazione; la parola letteraria, in particolare, dissipata in mille travestimenti e umiliata dalla forza degli immagini, ha preso la strada dell’intrattenimento sempre piF effimero e tranquillizzante.1532
In Savianos poetologischem Gegenentwurf ist der Priester Don Peppino Diana Schlüsselelement, eine Galionsfigur des Kampfes gegen die Camorra von christlicher Seite. Die Ikonisierung (und anschließende Verleumdung seitens der Mafia) des Priesters begann, als er am 19. März 1994 in der Sakristei seiner 1528 Vgl. Nelting 2013, S. 178ff. 1529 Johannes 1. 1–3, In: Die Bibel. Einheitsübersetzung Altes und Neues Testament. Freiburg [u. a.]: Herder 2001, S. 1189. 1530 Vgl. Genette 2003, S. 11. 1531 Vgl. ebd. 1532 Siti 2013, S. V.
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Kirche in Casal di Principe während der Vorbereitung für eine Messe erschossen wurde.1533 Kirche und Camorra sind oder waren bislang keine sich ausschließenden Prinzipien. Es hat sich mit der Zeit eine Art toleriertes und tolerierendes Miteinander zwischen beiden Institutionen entwickelt. Die Kirche kümmert sich um das geistliche Leben und die Camorra stört sie nicht dabei, im Gegenteil, sie unterstützt sogar die Festlichkeiten oder nötige Restaurationen an Bauwerken.1534 Am 29. Juni 1982 gab es in der kampanischen Kirche mit dem Erscheinen einer »Nota pastorale«, die sogar internationale Resonanz aufweisen konnte,1535 jedoch einen Wendepunkt: Per amore del mio popolo non tacerk. Dieses Dokument, das im Titel ein geflügeltes Wort des Propheten Jesaja evoziert, umfasst eine ausführliche Reflexion über die Camorra und ruft zu Zeugenschaft und Widerstand auf.1536 Zum ersten Mal traten kirchliche Vertreter öffentlich nicht nur gegen Gewalt auf, sondern explizit gegen die Camorra. Es ist diese Schrift, die Don Peppino Diana Jahre später zu seinem Weihnachten 1991 veröffentlichten gleichnamigen Brief inspiriert und wiederum dieser Brief, der zum Fundament von Savianos literarischem Schaffen wird. Der Autor-Erzähler von Gomorra qualifiziert den Text als ein über das Religiöse hinausgehendes universales Werk, das mit seinen Worten zum Instrumentarium des AntimafiaKampfes wird. Er benennt es als: […] un documento inaspettato, un testo religioso, cristiano, con una traccia di disperata dignit/ umana, che rese quelle parole universali, capaci di superare i perimetri religiosi e di far tremare sin nella voce le sicurezze dei boss, che arrivarono a temere quelle parole piF di un blitz dell’Antimafia, piF del sequestro delle cave e delle betoniere, piF delle intercettazioni telefoniche che tracciano un ordine di morte.1537
Die Camorra ist laut Don Peppino Diana eine Form des Terrorismus, den es zu bekämpfen gilt.1538 »La camorra ha assassinato il nostro paese, non lo si deve far risorgere, bisogna risalire sui tetti e riannunciare la ›Parola della vita‹ […]«, formuliert er in einem seiner Schriften.1539 Für Saviano scheinen Pier Paolo Pasolini und Don Peppino Diana zwei offensichtlich antithetische Figuren zu sein, die jedoch zum Maßstab und zur Möglichkeit werden, den Ernst der Lage im von der Camorra beherrschten Gebiet aufzuzeigen und Verhaltensweisen vorzustellen, die zu einer Verbesse1533 Rosario GiuH: Il costo della memoria. Don Peppe Diana. Il prete ucciso della camorra. Pref. di Luigi Ciotti. Milano: Paoline Ed. 2007, S. 9. 1534 Vgl. GiuH 2007, S. 58. 1535 Vgl. Maurizio Esposito: Uomini di camorra: La costruzione sociale dell’identit/ deviante. Pref. di Maria Immacolata Macioti. Milano: FrancoAngeli 2009, S. 119. 1536 Vgl. GiuH 2007, S. 59. 1537 Saviano 2008, S. 244. 1538 Vgl. GiuH 2007, S. 13. 1539 Don Peppino Diana zitiert nach GiuH 2007, S. 12.
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rung der Situation führen.1540 Stand in der Pasolini-Anleihe vor allem der Wahrheitsbegriff im Fokus, so wird in Kommentar und Zitat Don Peppino Dianas vor allem die Macht des Wortes als Handlung unterstrichen, also Sprache als im extraxtuellen Bereich intervenierendes Instrument. Mit den Worten Hesekiels, Jesajas, Jeremias und der Genesis beschwört Don Peppino die tätige Kirche in ihrer Wächter- (»Il profeta fa da sentinella«) und Prophetenrolle (»Dio ci chiama a essere profeti«) zu einer mutigen Zeugenaussage (»si richiede una testimoninanza coraggiosa«) aufzubrechen, um ein neues Bewusstsein zu schaffen (»produrre nuova coscienza«).1541 Durch das Zitat im Kontext seines – zumindest in Teilen – poetologisch anmutenden Kapitels, überträgt Saviano diese Charakteristika auf seine eigene Literatur. So wie Don Peppino eine Revision der Handlungsstrategien der Kirche anstrebte (»una revisione e integrazione dei contenuti e dei metodi dell’azione pastoral«)1542, möchte er die Literatur in ihrem Aktionskreis revolutionieren. Das Ziel des Priesters, wie es von Saviano dargelegt wird, ähnelt in hohem Maße den poetologischen Ideen des Autors: »L’obiettivo era […] comprendere, trasformare, testimoniare, denunciare, fare l’elettrocardiogramma al cuore del potere economico come un modo per comprendere come spaccare il miocardio dell’egemonia dei clan.«1543 So wird eine Parallele zum Vorgehen in Gomorra aufgebaut. Wie Don Peppino Dianas anticamorristisches Projekt von einer religiösen Kraft getrieben wurde, so zeigt sich der Motor von Savianos Schreiben gegen das organisierte Verbrechen in laizistischer Wut.1544 Über die Figur des Priesters heißt es weiter : »Aveva deciso di interessarsi delle dinamiche di potere: non solo dei corollari della miseria, non voleva solo nettare la ferita, ma comprendere i meccanismi della metastasi, bloccare la cancrena, fermare l’origine di cik che rendeva la sua terra una miniera di capitali e un tracciato di cadaveri.«1545 Der Leitspruch »conoscere i meccanismi« ist Gomorra im Ganzen eingeschrieben.1546 Ebenso werden in dieser Passage die Metaphern physischer Krankheit des Landes wieder aufgegriffen (»metastasi« und »cancrena«). Don Peppino Diana wird zum Vorbild und zur Inspiration für Widerstand und Tatkraft. Selbst sein Gesicht wird zum Stempel einer Wahrheit, die für gewöhnlich in den Masken der camorristischen Strukturen verborgen zu bleiben hatte: 1540 1541 1542 1543 1544 1545 1546
Vgl. Gallippi 2013, S. 515f. Vgl. Saviano 2008, S. 245f. Ebd., S. 247. Ebd., S. 250. Vgl. Casadei 2009, S. 244. Saviano 2008, S. 242. Auf der letzten Seite des Werkes wird es noch einmal in den Fokus gestellt. Vgl. Saviano 2008, S. 331.
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Don Peppino aveva deciso di lasciare somigliare la sua faccia sempre piF a se stesso, come una garanzia di trasparenza in una terra dove i volti invece devono orientarsi in smorfie pronte a mimare cik che si rappresenta, aiutati dai soprannomi che caricano il proprio potere che si vuole suturare alla propria epidermide.1547
Besonders hervorgehoben wird immer wieder die Schlüsselrolle, die Don Peppino Diana in seinem Kampf gegen das organisierte Verbrechen der Sprache zukommen lässt, denn der Priester hat – so Saviano: »Una fiducia nella possibilit/ di azzannare la realt/, senza lasciarla se non dilaniandola. Una parola capace di inseguire il percorso del danaro seguendone il tanfo.«1548 Wiederum wird mit den verwendeten Verben azzannare und dilaniare auf eine Metapher der – hier animalischen – Nahrungsaufnahme verwiesen. Ebenfalls wieder aufgegriffen wird die Verbindung von Sehen und Verstehen, die durch die Komponenten anklagen (»denunciare«) und verändern (»mutare«) komplettiert wird, wie in den folgenden Abschnitten ersichtlich wird: Don Peppino aveva compreso che doveva tenere la faccia su quella terra, attaccarla sulle schiene, sugli sguardi, non allontanarsi per poter continuare a guardare e denunciare, e capire dove e come le ricchezze delle imprese si accumulano e come si innescano le mattanze e gli arresti, le faide e i silenzi. Tenendo sulla punta della lingua lo strumento, l’unico possibile per tentare di mutare il suo tempo: la parola.1549
Das Wort wird zum Werden, das Wort wird Aktion. Carla Benedetti spricht in Bezug auf den literarischen Text von einem »atto di parola«, der eine illokutive Kraft enthalte.1550 Man fühlt sich an Annahmen Jean-Paul Sartres erinnert, der postulierte: »L’8crivain ›engag8‹ sait que la parole est action: il sait que d8voiler, c’est changer et qu’on ne peut d8voiler le monde qu’en projetant de le changer«.1551 Karl Kohut sieht Sartres Bemühungen, die Literatur einem Zweck zuzuführen und aus den Fängen der L’art pour l’art zu befreien, als eine »moderne Version des Horaz’schen prodesse«.1552 Ein ähnlicher Vorsatz steckt hier sicher im Vorgehen Roberto Savianos, der sich stets bewusst gegen die postmodernistisch-ludischen Texte positioniert.1553 Der Enthüllung durch das Wort ist – sei es bei dem zitierten und kommentierten Text des Don Peppino, sei es in den Texten Savianos – die Aktion und Veränderung durch das Wort, zumindest 1547 1548 1549 1550
Ebd., S. 242f. Ebd., S. 250. Ebd., S. 251. Vgl. Carla Benedetti: Disumane lettere. Indagini sulla cultura della nostra epoca. Roma / Bari: Laterza 2011, S. 116. 1551 Jean-Paul Sartre: Qu’est-ce que la litt8rature? [Paris]: Gallimard 1970, S. 30. 1552 Karl Kohut: Was ist Literatur? Die Theorie der »litt8rature engag8e« bei Jean-Paul Sartre. Marburg: Univ., Diss. 1965, S. 1. 1553 Vgl. dazu Saviano 2009, S. 242.
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intentional, bereits eingeschrieben.1554 Zudem – darauf weist Paolo Fabbri hin – beschränkt sich die literarische Darstellung nicht allein auf die Anklage: »attraverso la singolarit/ dei racconti puk spostare un sistema di parole e ridefinirne il senso«.1555 Die starke Wertigkeit, die Don Peppino Diana dem Wort und der Sprache zuschreibt, die zum ›Instrument‹ des Widerstandes wird, ist keine Erfindung Savianos, sondern lässt sich aus den Texten des Priesters entnehmen und durch Zeitgenossen bestätigen. Allerdings ist dabei nicht zu übersehen, dass das Wort im Sinne des Kirchenmannes stets die Verbindung zum Wort Gottes aufweist. So erklärt Rosario GiuH: »[…] H evidente la centralit/ della parola di Dio nel cammino di fede personale ed ecclesiale. Don Peppino H convinto che la Scrittura si apre e cresce essa stessa con chi la legge. […] Don Clemente Petrillo ricorda ancora: ›Peppe diceva che H la forza della Parola che ci fa liberi‹.«1556 Neben dem religiösen Standpunkt des Priesters sticht hier auch die Rolle des Lesers ins Auge, die Saviano ganz ähnlich formuliert. In La bellezza e l’inferno merkt er an: »perch8 le mie parole, nelle mani di tanti lettori, hanno saputo dimostrare come le storie che quelli credevano controllabile, ascoltabile solo per pochi, potessero invece divernire uno strumento per cambiare. Sono divenuto storie di tutti.«1557 Auch diese Übergabe des Wortes vom Autor zum Leser, die eine Übertragung des Engagements auf eine größere Gruppe vorsieht, kann man mit Theorien Sartres abgleichen, die hervorheben, dass: »l’8crivain a choisi de d8voiler le monde et singuliHrement l’homme aux autres hommes pour que ceux-ci prennent en face de l’objet ainsi mis / nu leur entiHre responsabilit8«.1558 Das Wort erhält hier seine Wirkkraft in der bewussten Abkehr vom Schweigen,1559 in einer
1554 In den Augen Carla Benedettis findet dieses Anliegen Umsetzung. Sie schreibt: »I libri agiscono. Non solo ›raccontano la realt/‹ ma la modificano. Gomorra ha modificato la nostra percezione della criminalit/ organizzata, dell’economia, persino delle griffes della moda e dei loro simboli. Niente di cui stupirsi per chi crede nella forza agente delle idee e dell’invenzione. ð sempre stato cos', e lo H ancora. I Canti di Leopardi, il Trattato teologicopolitico di Spinoza hanno scosso le menti di generazioni di uomini e di donne. […] Ma oggi molti critici, editori e persino scrittori sono persuasi che questo non sia possibile, e che i libri galleggino in un mare di ineffettualit/ e di fine dell’esperienza. Agendo tanto fortemente sulla nostra consapevolezza, aprendo nuove domande e provocando ulteriori inchieste, Gomorra li ha fatto presi in contropiede.« Vgl. dies.: »Le quattro forze di ›Gomorra‹«, Il primo amore. (20. 05. 2008), [IQ]. 1555 Fabbri 2013, S. XXI. 1556 GiuH 2007, S. 51. 1557 Saviano 2009, S. 10, [Hervorhebung im Original]. 1558 Sartre 1970, S. 31. 1559 Auch zum Schweigen äußert sich Sartre und versteht es als Akt der Sprache, was in Bezug auf die bereits behandelte omert/ von Interesse ist. Es heißt: »Ce silence est un moment du langage; se taire ce n’est pas Þtre muet, c’est refuser de parler, donc parler encore.« Sartre 1970, S. 32.
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Sprache, die eine Geschichte zur Geschichte aller werden lässt und zur Eigenverantwortlichkeit aufruft, zu einem Kant’schen sapere aude.1560 Auch die religiöse Anbindung an die Macht des Wortes seitens des Priesters ist dem Autor-Erzähler in Gomorra präsent. Allerdings übersteigt für ihn die in diesem Kontext entstandene Macht des Wortes den rein christlich-kirchlichen Rahmen. Er merkt an: »Mai per un momento in vita mia mi sono sentito devoto, eppure la parola di don Peppino aveva un’eco che riusciva ad andare oltre il tracciato religioso. Foggiava un metodo nuovo che andava a rifondare la parola religiosa e politica.«1561 Bei Negation der eigenen Religiosität erkennt er doch die Kraft des vom Priester im Rückgriff auf göttliche Lehren verfassten Wortes an. In dieser mittelbaren Rekurrenz auf das göttliche Wort aktualisiert er somit gleichzeitig die Kraft einer weitreichenden Tradition. Annemarie Schimmel führt diesbezüglich auf: Das Wort an sich ist, wie in der Überlieferung wohl der meisten Völker […] etwas mit Kraft Geladenes. Es wirkt, weil es im Zusammenhang mit dem krafterfüllten göttlichen Wort steht. Es ist […] besonders machtgeladen, weil der Gott Nahestehende gewissermaßen an das zentrale Kraftnetz angeschlossen ist. Ein Wort auszusprechen, bringt sogleich Realisierung mit sich.1562
Auch Walter Benjamin verweist auf die schaffende Kraft des Wortes in Anlehnung an die biblische Tradition: »Mit der schaffenden Allmacht der Sprache setzt er [Gott] ein, und am Schluß einverleibt sich gleichsam die Sprache das Geschaffene, sie benennt es. Sie ist also das Schaffende und das Vollendende, sie ist Wort und Name. In Gott ist der Name schöpferisch, weil er Wort ist, und Gottes Wort ist erkennend, weil es Name ist.«1563 Selbst in der Negation seiner eigenen Gläubigkeit legitimiert Saviano also sein Schaffen in Anlehnung an ein altes Denkbild, das umso stärker ist, als der katholische Diskurs besonders auf italienischem Boden bis heute eine starke Verwurzelung bis in den Alltag hinein 1560 In dem 2010 erschienen Werk Savianos La parola contro la camorra, das zum Teil auf einer Transkription von Videoaufnahmen aus dem Jahr 2009 basiert, expliziert der Autor die Rolle des Lesers beziehungsweise die Wichtigkeit der Verbreitung des Wortes bei der Verbrechensbekämpfung: »La parola, se smette di essere mia, di altri dieci, di altri quindici, di altri venti e diventa di migliaia di persone, non si puk piF deliggittimare, perch8 anche se si delegittima me quelle parole sono gi/ diventate di altri. E se anche si dovesse eliminare fisicamente la persona che per prima le ha pronunciate, sarebbe comuque troppo tardi.« Saviano 2013, S. 12. 1561 Saviano 2008, S. 250. 1562 Annemarie Schimmel: »Das Wort ist ein Fächer«, In: Tilo Schabert / R8mi Brague [Hg.]: Die Macht des Wortes. München: Fink 1996, S. 187–231, hier S. 188. Schimmel bezieht sich in ihrem Text vor allem auf den Islam. 1563 Walter Benjamin: »Über Sprache überhaupt und über die Sprache der Menschen«, In: ders.: Gesammelte Schriften II. 1. Unter Mitw. v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem. Hg. v. Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 140–157, hier S. 148.
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findet. Gleichzeitig mag hier an eine Reaktualisierung des Begriffes ›Autor‹ im ursprünglichen lateinischen Sinne gedacht werden, in der der auctor der Urheber oder Schöpfer war.1564 Das Schöpferische bleibt in diesem poetologischen Kontext jedoch nicht allein auf das Werk bezogen, sondern soll sich im Sinne Sartres in extratextuellen Bereichen materialisieren. Das Wort erhält eine neue auctoritas1565 und die Macht zu intervenieren. Erneut führt der Autor-Erzähler in Bezug auf den Priester aus: Don Peppino scavk un percorso nella crosta della parola, erose dalle cave della sintassi quella potenza che la parola pubblica, pronunciata chiaramente, poteva ancora concedere. Non ebbe l’indolenza intellettuale di chi crede che la parola ormai abbia esaurito ogni sua risorsa che risulta capace solo di riempire gli spazi tra un timpano e l’altro. La parola come concretezza, materia aggregata di atomi per intervenire nei meccanismi delle cose, come malta per costruire, come punto di piccone.1566
Die konkrete Übertragung dessen, was Saviano im Kommentar des PeppinoTextes feststellt, auf das eigene Werk, erfolgt explizit in der folgenden Passage: Mentre i suoi assassini parlavano di tagliare la carne per suggellare una posizione, pensavo ancora una volta alla battaglia di don Peppino, alla priorit/ della parola. A quanto fosse davvero incredibilmente nuova e potente la volont/ di porre la parola al centro di una lotta contro i meccanismi di potere. Parole davanti a betoniere e fucili. E non metaforicamente. Realmente. L' a denunciare, testimoniare, esserci. La parola con l’unica sua armatura: pronunciarsi: Una parola che H sentinella, testimone: vera a patto di non smettere mai di tracciare. Una parola orientata in tal senso la puoi eliminare solo ammazzando.1567
Versteht man das realisierte Wort als eine Art Bewaffnung, führt das erneut zu Sartres Vorstellung von engagierter Literatur zurück. Mit Blick auf den französischen Philosophen Brice Parain formuliert er : »Il [l’8crivain] sait que les mots […] sont des ›pistolets charg8s‹. S’il parle, il tire. Il peut se taire, mais puisqu’il a choisi de tirer, il faut que ce soit comme un homme, en visant des cibles et non comme un enfant […] pour les seul plaisir d’entendre les d8tonations.«1568 Engagierter Literatur ist das ludische Moment postmodernistischer Texte fremd. Der Textausschnitt »Non lo vedete che questa terra H Gomorra, non lo vedete? 1564 Als erste Bedeutung von auctor, o¯ris gibt der Georges ›Urheber, Stifter, Schöpfer, Vollbringer‹ an. Vgl. Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Bd. 1. [A-H]., 8. verb. u. verm. Aufl. von Karl Ernst Georges Basel [u. a.]: Schwabe 1967, S. 703. 1565 Hier im weiteren Sinne nach Georges Bedeutung 4. II angegeben als ›Geltung, Gewicht, Einfluss, Autorität‹. Vgl. Georges 1967, S. 707. 1566 Saviano 2008, S. 244. 1567 Ebd., S. 258. 1568 Sartre 1970, S. 31.
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[…] ð giunto il tempo che smettiamo di essere una Gomorra …«1569, den Don Peppino mit seinem Freund Cipriano laut des Romans angeblich hatte veröffentlichen wollen, besiegelt endgültig den Zusammenhang zwischen dem Vorgehen des Priesters und der Poetik Savianos. Casadei stellt fest: »Il collegamento tra il martirio del sacerdote e l’azione del nuovo scrittore, tra la parola profetica del primo e quella ›corporea‹ del secondo, trova qui la sua massima evidenza.«1570 Der Text enthält die titelgebenden Zeilen von Savianos Bestseller. Die Bedeutung des Titels erweitert sich dadurch über die allegorische Variante hinaus, die Neapel zur biblischen Stadt der Sünde werden lässt, hin zu einer Leseanleitung und zu einem Verhaltenskodex, der das Wegsehen und ewige Schweigen durchbrechen soll. An diesem Punkt jedoch überschreitet Saviano – wie bereits in der Zitatanleihe des Pasolini-Textes – die Schriften des zugrunde liegenden Autors und Priesters. Wie Samuel Ghelli richtig bemerkt – was sonst von der Kritik jedoch häufig überlesen wird –1571 wechselt Saviano hier von der umfänglichen Wiedergabe des Briefes Per amore del mio popolo non tacerk in die fingierte und fiktive Wiedergabe einer handschriftlich festgehaltenen Rede, die dem Erzähler durch die Figur des Cipriano zugänglich wird.1572 Diese findet jedoch im Gegensatz zum zitierten Brief keine oder zumindest keine nachweisbare historische Entsprechung.1573 In Bezug auf das Heft, in dem der Text niedergeschrieben ist, wird in Gomorra lediglich über die Mitautorschaft des Priesters Don Peppino Diana spekuliert. Diese Mutmaßung endet grammatikalisch sogar im Konjunktiv : »Chiss/ se tra quei fogli c’era anche la grafia di don Peppino. Non osai chiederlo. Un discorso che avrebbero voluto firmare insieme.« Ghelli konstatiert: »La parola Gomorra in questo contesto H quindi una originale e felice invenzione di Saviano […]«.1574 Der christlich-katholische Exkurs in der metatextuellen Don Peppino-Anleihe hat im Werk mithin eine polyvalente Funktion. Das Kapitel berichtet zum einen eine wahre Geschichte, die ein historisches Korrelat nachweisen kann: die des von der Camorra erschossenen Priesters Don Peppino Diana. Sodann markiert der metatextuelle Kommentar poetologische Grundzüge des Werks, die bei gleichzeitiger Negation der persönlichen Religiosität ihre innere Kraft in biblischen Anleihen finden. Der Erzähler Saviano, so Casadei, »cerca di raccogliere e prolungare proprio la forza della parola«.1575 Wie der Rekurs auf Pasolini 1569 Saviano 2008, S. 264f. 1570 Casadei 2009, S. 245. 1571 Vgl. z. B. Benevento 2010, S. 84 sowie den bereits im Fließtext zitierten Casadei 2009, S. 245. 1572 Vgl. Saviano 2008, S. 262ff. 1573 Vgl. Ghelli 2013, S. 91. 1574 Ebd., S. 91. 1575 Casadei 2009, S. 245.
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indirekt Wut provoziert, die die Bereitschaft zur Anklage erhöht, so erlangen die Diskurse des Autors durch das Zitat der prophetischen Nachrichten Don Peppino Dianas das nötige Charisma, um mit symbolischer Macht der ›guten‹ und ›richtigen‹ Worte auf die zerstörerische Kraft camorristischer Taten zu antworten.1576 In der Beschreibung der Rhetorik des Priesters und deren Übertragung auf sein eigenes Schaffen wendet sich Saviano in seltsamer Ambiguität gegen das vorherrschende Denkmodell einer durch Sprache erschaffenen, jedoch nicht durch sie beschreibbaren und beherrschbaren Welt der Postmoderne. Er kritisiert diejenigen, die eben jene Macht des Wortes verloren glaubten. Dass mediale Einflussnahme in der Welt – sei es durch Schrift, Bild oder Text – nicht nur zu Simulakren einer dem Menschen direkt entgleitenden Realität führen, sondern tatsächlich einen Einfluss auf diese eine, an körperliche Grenzerfahrungen zwischen Leben und Tod gekoppelte Wirklichkeit haben, zeigt der Autor im dritten hier zu analysierenden Kapitel »Hollywood« auf, das gleichzeitig Deskription einer veränderten, neapolitanischen Lebenswelt wie metamedialer und metatextueller Kommentar ist.
6.3.4 Extratextuelle Transzendenz: inszenierte versus realisierte Fiktion in »Hollywood« Die starke Präsenz verschiedener Filme im Kapitel »Hollywood« führt bei der Betrachtung zunächst zur Einordnung in den Bereich der Intermedialität. Eine ganze Reihe Filme werden ausdrücklich aufgeführt, so zum Beispiel: Scarface (1983, Brian De Palma und 1932, Howard Hawks), Il padrino (The Godfather, 1972, Francis Ford Coppola), The Crow (1994, Alex Proyas), Kill Bill (2003, Quentin Tarantino), Nikita (1990, Luc Besson), Il camorrista (1986, Giuseppe Tornatore), Pulp Fiction (1994, Quentin Tarantino), Taxi Driver (1976, Martin Scorsese), Quei bravi ragazzi (Goodfellas 1990, Martin Scorsese), Donnie Brasco (1997, Mike Newell). Da das Bezugssystem Film hier lediglich benannt und reflektiert wird, ohne dass es jedoch zu einer »fremdmedial bezogenen Modifikation des narrativen Diskurses«1577 kommt und ohne, dass »ein ›Als ob‹ des Filmischen«1578 auf Textebene vermittelt wird, ist mit Rajewsky von einer expliziten Systemerwähnung zu sprechen.1579 Es handelt sich mithin ähnlich wie bei »Don Peppino Diana« um ein kommentierendes Kapitel, das dabei gleich1576 1577 1578 1579
Ebd. Rajewsky 2003, S. 66. Ebd. Vgl. ebd.
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zeitig neapolitanischen Alltag vor Augen führt. Welche Rolle die Intermedialität hier konkret spielt, ist auf den ersten Blick nicht eindeutig lokalisierbar. Was sofort ins Auge sticht, ist, dass das Kapitel ein Sammelbecken moderner Mythen zu sein scheint. Gleich drei Lemmata des dazu im Jahr 2014 von Metzler herausgegebenen Lexikons stehen im Mittelpunkt dieses Abschnitts von Gomorra: das bereits im Titel enthaltene Hollywood, das Kino und die Mafia.1580 Im Verlauf des Kapitels wird ersichtlich, wie sehr die jeweils mythisierten Themen sich in ihrer gegenseitigen Rezeption beeinflussen. Da Hollywood ein Ort, die verschiedenen Kinofilme fiktionale Darstellungen und die Mafia eine real existierende Gruppierung sind, scheint es zu einer Grenzüberschreitung zwischen Text und Wirklichkeit zu kommen und damit in Gennettes Worten zu einem weiteren Typ von Transzendenz, nämlich demjenigen, der die extratextuelle Realität mit Fiktion, hier vermehrt im Medium des Films, verbindet.1581 Die vorgestellte These dieser Arbeit lautet, dass dies zum einen Muster postmoderner Lebensgestaltung darstellt, zum anderen aber die vom Autor aufgestellte Poetik eines in der Realität intervenierenden ›Wortes‹ stützt und legitimiert. Das Hollywoodkino hat »wesentlich zur Ästhetisierung der Mafia« beigetragen.1582 Allerdings füllen die großen Filme mythische Leerstellen selbstständig auf.1583 Diese Leerstellen wiederum werden – so führt das Kapitel »Hollywood« es vor – in der Rezeption in die Realität zurückgeworfen und dort umgesetzt. So zum Beispiel die Villa des Bruders von Sandokan, Walter Schiavone, die nach den filmischen Vorgaben aus Scarface erbaut wurde.1584 In Savianos Text, der bezüglich der Villen der Mafiabosse selbst von »miti metropolitani«1585 spricht, stellt sich das folgendermaßen dar : Il film [Walter Schiavone] l’aveva visto e rivisto. L’aveva colpito sin nel profondo, al punto da identificarsi nel personaggio interpretato da Al Pacino. […] Tutto ha il tono di leggenda. Al suo architetto, raccontano in paese, il boss consegnk direttamente il VHS del film. Il progetto doveva essere quello del film Scarface e nient’altro.1586
1580 Metzler Lexikon moderner Mythen. Hg. v. Stephanie Wodianka / Juliane Ebert. Stuttgart / Weimar 2014. 1581 Vgl. Genette 2003, S. 11, Fußnote 1. »extratextuell« soll hier verstanden werden als außerhalb fiktionaler Erzählweise sei es in Text oder Film. 1582 Vgl. Metzler Lexikon moderner Mythen, [LW]. 1583 Vgl. ebd. 1584 Im Text bekräftigt der Autor-Erzähler : »Con Hollywood la villa die Walter Schiavone c’entra davvero«, Saviano 2008, S. 267. 1585 Ebd. 1586 Ebd.
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Indem die Villa Schiavones in ihrer Nachempfindung auf den Film nahezu als Kunstwerk zu verstehen ist, erscheint die Deskription Savianos in Gomorra als eine Art Ekphrasis: La villa appariva imponente, luminosa, la facciata incuteva la stessa soggezione che si prova dinanzi a un monumento. Le colonne sorreggevano due piani con timpani di diversa grandezza organizzati in struttura verticale decrescente, con al centro un semicerchio mozzato. L’entrata era un delirio architettonico, due enormi scalinate si arrampicavano come due ali di marmo al primo piano che si affacciava a balconata sul salone sottostante. L’atrio era identico a quello di Tony Montana. C’era anche il ballatoio con un’entrata centrale allo studio, lo stesso dove si conclude tra piogge di proiettili Scarface. La villa H un tripudio di colonne doriche intonacate di rosa all’interno e di verde acquamarina all’esterno. I lati dell’edificio sono formati da doppi colonnati attraversati da preziose rifiniture in ferro battuto.1587
Die Deskription stützt sich vor allem in der ersten Hälfte auf eine Rhetorik, die auratische Größe und Macht des Gebäudes hervorstechen lässt, wie an dem isotopischen Feld »imponente, monumento, delirio architettonico, enormi scalinate« erkennbar. Die zweite Hälfte fokussiert die Kongruenz der neapolitanischen Realisation und des fiktionalen Gebäudes aus dem Film (»L’atrio era identico«, »lo stesso«). Die Villa ist eine Kopie aus einem Film, der sich an der US-amerikanischen Gangster-Realität orientiert und diese fiktionalisiert. Mise en abyme-artig entsteht in der neapolitanischen Lebenswelt nun ein Faksimile, das die Filmwelt auferstehen lässt und in Gomorra wiederum zum Objekt der Darstellung wird. Die Villa ist in der neapolitanischen Realität sozusagen ein der Filmwelt entnommenes Zitat, das in Gomorra in einer Deskription wiederum Literatur mit dem Ziel der Realitätsdarstellung wird. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion scheint zu verschwimmen und in dem aufzugehen, was man mit Jean Baudrillard und Umberto Eco als eine Art ›verkehrten‹ Hyperrealismus verstehen kann, also Hyperrealismus in umgekehrter Form. Als Hyperreal definiert Baudrillard eine Simulation, die sich verschiedener Modelle bedient, um ein Reales ohne Ursprung und Realität zu generieren.1588 Es gehe hierbei nicht mehr um Imitation, Verdopplung oder Parodie der Realität, sondern um deren Substitution. Das Reale verliert damit die Möglichkeit sich zu produzieren, es reduziert sich auf die Funktion eines Modells in einem System der vorweggenommenen Auferstehung, das das Ereignis, auch das des Todes, eliminiert.1589
1587 Ebd., S. 268. 1588 Jean Baudrillard: Simulacres et simulation. Paris: Ed. Galil8e 1985, S. 10. 1589 »Il ne s’agit plus d’imitation, ni de redoublement, ne mÞme de parodie. Il s’agit d’une substitution au r8el des signes du r8el, c’est-/-dire d’une op8ration de dissuasion de tout processus r8el par son double op8ratoire, […] Plus jamais le r8el n’aura l’occasion de se produire – telle est la fonction vitale du modHle dans un systHme de mort, ou plutit de
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Eco wendet den Begriff des Hyperrealen zunächst auf Museen allgemein und vor allem auf die amerikanischen Wachsfigurenkabinette an: »[P]erch8 tutto deve essere uguale alla realt/ anche se in questi casi la realt/ era la fantasia.«1590 Sowohl Baudrillard als auch Eco ziehen in ihrer Definition des Hyperrealen und den verschiedenen Stadien von Simulakren Disneyland als Bezugspunkt heran. Disneyland sei weder wahr noch falsch, sondern »une machine de dissuasion mise en scHne pour r8g8nerer en contre-champ la fiction du r8el«, so Baudrillard.1591 Nach Eco präsentiert Disneyland sich gleichzeitig als vollkommen realistisch und vollkommen phantastisch. Die lebensgroßen Häuser vermittelten den Eindruck, bewohnbar zu sein, gehörten jedoch einer phantastischen Vergangenheit an, die nur imaginär erreichbar sei. Die Fassaden der Hauptstraße luden zum Eintreten ein und seien doch nur versteckte Supermärkte, die wiederum den Spielcharakter betonen.1592 Dominique Fontaine stellt fest, Disneyland vermittle im Sinne der Postmoderne eine »vollkommene Illusion des perfekten Seins, suggeriert sie doch Unschuld und grenzenlose Lebensfreude«.1593 Die in Neapel realisierte ›Filmlandschaft‹ scheint zunächst im Zeichen postmodernistischer Philosophie zu stehen. Die in Gomorra dargestellte Villa präsentiert jedoch eine Umsetzung, die über dieses Konzept hinausgeht und es verkehrt. Nicht das ›Kunstwerk‹ muss realistischer als das Original sein, sondern die Realisierung von etwas Fiktivem ist realer als ihr Vorbild. Zu betonen ist an dieser Stelle zum einen, dass es hier noch um das Dargestellte im Roman und nicht um die Darstellungsweise im Text geht. Auf dieser Ebene ist zu vermerken, dass die Realisierung der Fiktion in der Realität nicht auf Inszenierungsebene verbleibt, nicht Ausstellungsstück für ein Museum ist, sondern tatsächlich im Alltagsleben funktionalisiert wird. Über den von Eco vermerkten Status der Fassade Disneylands geht die realisierte Fiktion der Scarface-Villa des Camorrista Schiavone hinaus, auch wenn sie – beschützt von Mauern und Videokameras – eine eigene, abgeschlossene Welt verkörpert.1594 Während Disneyland ein imaginäres Zentrum ist, »[une] ville d’une 8tendue fabuleuse, mais sans espace, sans dimension«,1595 stellt sich die Holly-
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r8surrection anticip8e qui ne laisse plus aucune chance / l’ev8nement mÞme de la mort.« Baudrillard 1985, S. 11. Umberto Eco: Dalla periferia dell’impero. Cronache da un nuovo medioevo. Milano: Bompiani 2003, S. 22ff., hier besonders S. 25. Baudrillard 1985, S. 26. Vgl. Eco 2003, S. 54f. Dominique Fontaine: Simulierte Landschaften in der Postmoderne: Reflexionen und Befunde zu Disneyland, Wolfersheim und GTA V. Wiesbaden: Imprint Springer VS 2017, S. 117, [IQ]. Eine Aussage, die allgemein über die Villen der Bosse getroffen wird: »Le ville dei camorristi sono le perle di cemento nascoste nelle strade dei paesi del casertano, protette da mura e telecamere.« Saviano 2008, S. 267. Baudrillard 1985, S. 26.
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wood-Villa als ultimatives reales Zentrum der Macht dar, nicht wie Disneyland als Spielparadies infantiler Träume. Die Darstellung der Villen in Gomorra zeichnet ein Spiel der Imitation nach, das Ernst geworden ist.1596 Disneyland wirkt real, ist es aber nicht, es ist nicht in eine ›ernste‹ Alltagswelt integriert. Die in Neapel errichtete Villa nach Hollywood-Vorgaben ist real, wirkt aber nach Aussagen des Autor-Erzählers nicht so; im Text heißt es: »Un appartamento surreale, illuminato da luci al neon e pavimenti di maiolica bianca.«1597 Und etwas weiter wird konkretisiert: Quella villa sembrava la conferma di un luogo comune, la realizzazione concreta di una diceria. Avevo la sensazione ridicola che da una stanza stesse per uscire Tony Montana, e accogliendomi con gesticolante, impettita arroganza stesse per dirmi: »Tutto quello che ho al mondo sono le mie palle e la mia parola. Non le infrango per nessuno, capito?«1598
Ausschlaggebend für eine Unterscheidung von Hyperrealismus und Simulakrum mag sein, dass tatsächlich immer von einer ›Realisierung‹, nicht von einer ›Inszenierung‹ oder ›Simulierung‹ zu sprechen ist.1599 So sehr sind die Darstellungen der Mafiosi in amerikanischen Gangsterfilmen zur Vorbildfunktion geworden, dass das Bewusstsein um die Fiktionalität, das beim Filmrezipienten normalerweise zumindest latent vorhanden ist, mehr und mehr verdeckt wird.1600 Es manifestiert sich im realistischen Anliegen Gomorras das, was Michael Wetzel als die Potenz des Mediums Film beschreibt, die in der »kinematografischen Konstruktion einer Realität« liegt, die zuvor inexistent war, aber »glaubhaft wirklich« beziehungsweise wahrscheinlich erscheint.1601 Er führt aus: Rein poetologisch steht im aristotelischen Sinne der Film zusammen mit der Literatur auf Seiten des Möglich-gewesen-Seins. Im Spiele mit den Techniken der Illusion kommt
1596 Der Autor-Erzähler Saviano spricht zwar von einem »gioco all’imitazione« (ebd., S. 266), aber er bezeichnet selbst die verlassenen Villen noch als »simbolo di dominio«. Vergleiche ders. ebd. 1597 Ebd., S. 269. 1598 Ebd., S. 272. 1599 Baudrillard spricht im Kapitel »La strat8gie du r8el« davon, Illusionen zu inszenieren, etwa in der Simulation eines Raubüberfalls. Dies müsse misslingen, da die Inszenierung nicht von einem realen Raubüberfall zu unterscheiden sei. Baudrillard 1985, S. 36ff. 1600 Vgl. zum Bewusstsein um die Fiktionalität Doris Pichler : »Die literarische Fiktion als Erklärungsmodell für moderne Realitätskonstruktionen«, In: Susanne Knaller [Hg.]: Realitätskonstruktionen in der zeitgenössischen Kultur. Beiträge zu Literatur, Kunst. Fotografie, Film und zum Alltagsleben. Wien [u. a.]: Böhlau 2008, S. 95–115, hier S. 105. 1601 Michael Wetzel: »Authentizität als Schwindel oder: Vertigo der Autorschaft«, In: Susanne Knaller [Hg.]: Realitätskonstruktionen in der zeitgenössischen Kultur. Beiträge zu Literatur, Kunst. Fotografie, Film und zum Alltagsleben. Wien [u. a.]: Böhlau 2008, S. 23–35, hier S. 24.
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ihm aber eine Nähe nicht zur Wirklichkeit als Werk, sondern zur Wirklichkeit als Werden, als Entstehen und Vergehen zu.1602
Es ist dieser Mechanismus, der im Kapitel »Hollywood« zur Darstellung kommt, kommentiert und in seiner Historie zurückverfolgt wird. So stellt der AutorErzähler den ersten bewusst gesteuerten Kontakt zwischen mafiöser Realität und Filmproduktion auf amerikanischem Boden vor, in dem der kampanische, in Miami ansässige Mafiaboss Al Capone im Bewusstsein um die lebendig-auratische Qualität von Filmen auf die Umsetzung seiner Figur achtet: Anche Al Capone era campano d’origine. […] Fu il primo boss a misurarsi col cinema. Il suo soprannome, Scarface, lo sfregiato, dovuto a una cicatrice sulla guancia, poi ripreso nel 1983 da Brian De Palma per il film sul boss cubano, era gi/ stato il titolo di un film di Howard Hawks nel 1932. Al Capone si faceva vedere sul set, arrivava con la sua scorta ogni volta che c’era qualche scena d’azione e qualche esterna a cui poteva assistere. Il boss voleva controllare che Tony Camonte, il personaggio di Scarface a lui ispirato, non venisse banalizzato. E voleva somigliare il piF possibile a Tony Camonte, certo che dopo l’uscita del film sarebbe diventato lui l’emblema di Capone, e non piF Capone il suo modello.1603
Die beiden bisher herausgegriffen Beispiele zeigen die Bipolarität von Realität und Fiktion auf, auf die es Saviano in seinem intermedial (und intertextuell) angelegten Kapitel anzukommen scheint. Doris Pichler weist darauf hin, dass es Theorien gibt, »die Fiktion gerade über ihre Referenz nach ›außen‹ – also gerade über die Bezüge auf die empirische Wirklichkeit« definieren.1604 Sie bezieht sich dabei auf das sogenannte ›Rekursargument‹.1605 Es werde dabei jedoch außer Acht gelassen, »dass mediale und reale Erfahrung mittlerweile kaum mehr trennbar ist […], und der Einfluss der beiden aufeinander nicht als monodirektional (real ! medial) sondern vielmehr als bidirektional (real $ medial) beschrieben werden muss«.1606 Im Kommentar des Autor-Erzählers Saviano 1602 1603 1604 1605
Ebd. Saviano 2008, S. 273f. Pichler 2008, S. 101. Wolfgang Welsch führt dieses weiter aus. Es besagt, dass Fiktion oder auch Medienerfahrung niemals einen Wirklichkeitsersatz bieten könne, da alles Erfahrene nur durch einen Rückgriff auf Alltagserfahrung verständlich werde. Fiktion und Medienerfahrungen können gelesen werden, weil sie in einem Verhältnis zu etwas außerhalb ihrer selbst steht. Welsch widerspricht dem teilweise. Vgl. ders.: »›Wirklich‹. Bedeutungsvarianten – Modelle – Wirklichkeit und Virtualität«, In: Sybille Krämer [Hg.]: Medien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 169–212, hier S. 208. 1606 Pichler 2008, S. 101. Auch hier stellt Pichler einen Rückbezug auf Welsch her, der konstatiert, dass: »eine generelle Trennung zwischen künstlicher und realer Erfahrung nicht möglich [ist] – unsere Realerfahrung ist dafür, wie gesagt, selbst schon zu vielfach durch Muster der Fiktion, der Kunst, des Ritus usw. geprägt«. Welsch 1998, S. 209.
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erhält diese Feststellung nicht nur für die Gegenwart Bedeutung, sondern bereits für die vorchristlichen Spartiaten, die er mit den jungen camorristi parallelisiert. Es heißt: »Come i giovani spartani andarono in guerra con in mente la gesta di Achille ed Ettore, in queste terre si va ad ammazzare e farsi ammazzare con in mente Scarface, Quei bravi ragazzi, Donni Brasco, Il Padrino.«1607 In diesem Kommentar wird die kinematographische Macht der literarischen angenähert beziehungsweise gleichgesetzt. Zum Ende des Kapitels verweist der Autor-Erzähler zudem auf die Instrumentalisierung der Literatur in der Anwendung von Jung, Freud und Lacan, die der Boss La Torre einsetzte »come una inaspettata arma manageriale e militare«.1608 Forciert wird generell die Vorstellung des Einflusses der Fiktion durch Wort und Bild auf den Lebensalltag, auf die sich letzten Endes auch das Engagement Savianos stützt.1609 Die Grenzüberschreitung von Fiktion zu Realität ist in der Tat nicht neu. Im Bereich der deutschsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts brachte Goethes Werk Die Leiden des jungen Werther (1774) eine Selbstmordwelle mit sich,1610 die sogar dazu führte, dass in man in der heutigen Psychologie bei medien-induzierten Selbsttötungen vom »Werther-Effekt« spricht.1611 In der französischsprachigen Literaturszene des 19. Jahrhunderts steigert sich der Autor Alfred Jarry in einer »Gleichsetzung von Leben und Literatur« bis zum Exzess in eine seiner literarischen Figuren hinein und wird so zum Vorbild der Surrealisten, die ihre Kunst lebten.1612 Auch gegenwärtig gibt es Beispiele dafür, dass Leser versuchen, Fiktion in ihrem Alltag »als Realität zu akzeptieren und in ihre Lebenswelt zu integrieren«.1613 Es ist nicht mehr von nur von einer Welt als Si1607 Saviano 2008, S. 279. 1608 Ebd., S. 281. 1609 Inwiefern ein solches Vorgehen planbar und sinnvoll einsetzbar ist, wäre eine andere Diskussion, die an dieser Stelle nicht geführt werden kann und soll. 1610 Martin Andree erklärt die »Epidemie von Selbstmorden« als zentralen Teil des WertherMythos. Diese Selbstmörder »markieren seitdem den unüberbietbaren Superlativ literarischer Wirkung«. Vgl. ders.: Wenn Texte töten: über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt. München: Fink 2006, S. 9f., [IQ]. Es gibt quellentechnisch belegte Fälle von Suiziden im zweistelligen Bereich in verschiedenen europäischen Ländern, »die in direkter Verbindung mit Goethes Buchpublikation stehen«. Vgl. Walther Ziegler / Ulrich Hegerl: »Der Werther-Effekt. Bedeutung, Mechanismen, Konsequenzen«, Nervenarzt 73 (2002), S. 41–49, hier S. 41. 1611 David P. Phillips spricht 1974 erstmals vom Werther-Effekt. Vgl. ders.: »The Influence of Suggestion on Suicide: Substantive and Theoretical Implications of the. Werther Effect«, American Sociological Review 39/3 (1974), S. 340–354. 1612 Vgl. Jürgen Grimm: Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895–1930. München: Beck 1982, S. 42f. Alfred Jarry verkörperte im Laufe seines Lebens zum Beispiel nach und nach immer mehr die Figur des Ubu Roi aus dem gleichnamigen Theaterstück (Uraufführung 1896). 1613 Pichler 2008, S. 112. Sie bezieht sich auf Ecos Vorlesungen »Six Walks in the Fictional Woods«, in denen er von zwei Lesern von Il pendolo di Foucault berichtet, die aufgrund
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mulakrum oder der Integration hyperrealistischer Orte zu sprechen. Laut Pichler läuft die Fiktion im Gegenteil Gefahr, »von der Realität verschluckt zu werden.«1614 Nicole Weigel-Klinck formuliert diesbezüglich: »Filme reflektieren nicht nur unsere Gesellschaft, sie formen auch unsere Einstellung zu ihr. […] Filme schaffen Realität. Deshalb ist die Qualität der amerikanischen Filme nicht nur eine ästhetische Frage, sie ist auch ein politisches und soziales Problem.«1615 Ähnlich formuliert es der Autor-Erzähler in Gomorra, wo es heißt: »Non H il cinema a scrutare il mondo criminale per raccoglierne i comportamenti piF interessanti. Accade esattamente il contrario.«1616 Im Kapitel »Hollywood« wird beispielhaft ausgeführt, dass man nach Quentin Tarantinos Filmen nicht mehr mit gerade gehaltenem Lauf gezielt schießt, sondern schief, sodass man eher in den Bauch trifft, was viel Blut produziert und einen langen Leidensweg zur Folge hat.1617 Die Leibwächterinnen der weiblichen Bosse zögen sich an wie Uma Thurmann in Kill Bill.1618 Man zitiere Cutolo nachempfundene und von Ben Gazzara reklamierte Phrasen aus dem Film Il Camorrista.1619 Bevor Jugendliche den Abzug der Pistole betätigten, gäben sie Passagen aus Hesekiel wieder, Texte, die sie jedoch nicht der Bibel entnommen haben, sondern Tarantinos Pulp Fiction.1620 Stets geht es um die Übertragung auratischer Aspekte, die den Filmfiguren zugeschrieben werden und die auf diese Weise erst im Nachhinein tatsächlich ihr reales Korrelat finden (sollen). Auf den ersten Blick könnte man bei diesen Darstellungen verleitet sein, doch nur von einer gelebten Welt filmischer Simulakren zu sprechen. Jedoch ist die dem Kapitel »Hollywood« immanente Intention das Herausstellen einer Differenz, die die Realität hervorbrechen lässt; in einer Art Kommentar heißt es: Non H vero che il cinema H una menzogna, non H vero che non si puk vivere come nei film e non H vero che ti accorgi mettendo la testa fuori dallo schermo che le cose sono diverse. C’H un momento solo che H diverso, il momento in cui Al Pacino si alzer/ dalla fontana in cui i colpi di mitra hanno fatto cascare la sua controfigura, e si asciugher/ il viso pulendosi dal colore del sangue, Joe Pesci si laver/ i capelli e far/ cessare la finta emorragia. Ma questo non ti interessa saperlo, e quindi non lo comprendi.1621
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»vermeintlich realer Referenzen dazu verleitet wurden, einen Teil der fiktiven Welt in ihrer realen wieder zu finden«. Vgl. ebd., S. 102. Ebd. Nicole Weigel-Klinck: Die Verarbeitung des Vietnam-Traumas im US-amerikanischen Spielfilm seit 1968. Alfeld / Leine: Coppi-Verl. 1996, S. 19. Saviano 2008, S. 273. Ebd., S. 274. Ebd. Ebd., S. 275. Ebd., S. 276f. Ebd., S. 279f.
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Der Autor-Erzähler bei Saviano greift hier auf dieselbe Grenzerfahrung, die mediale Realitäten von einer faktualen Wirklichkeit trennen, wie Somigli und Eco zurück, nämlich den Tod.1622 In der aufgeführten Passage wird zunächst eine postmodernistische These der Übereinstimmung der verschiedenen Realitäten (Simulakren) von Kino und ›Welt‹ aufgeführt, indem das Kinogeschehen als zunächst ›ununterscheidbar‹ vom Alltagsgeschehen dargestellt wird. Die Differenz wird jedoch in dem Moment sichtbar, in dem Verletzung, Krankheit und Tod auf das Kinogeschehen beziehungsweise auf das darstellende Personal keinen tatsächlichen Einfluss haben und Kunstblut einfach abgewischt wird. In der Imitation und letztlichen Realisierung der Fiktion jedoch bleibt diese Geste der schlichten ›Reinigung‹ dem Imitator verwehrt. Im Kapitel »Hollywood« wird dies anhand der Geschichte der beiden Jugendlichen Giuseppe und Romeo exemplifiziert, die im Schatten, nicht aber im Dienst der ortsansässigen Camorra und nach Vorbild von Gangsterfilmen ihr Leben zu inszenieren suchen und in deren Realisierung als Kadaver am Strand enden.1623 Das Lebensende Romeos wird in der Aufrufung des Films Goodfellas mit dem filmischen Ende Tommy De Vitos parallelisiert. Der Ich-Erzähler gibt an: »Sono certo che Romeo avr/ visto dinanzi a s8 la scena di Quei bravi ragazzi quando Tommy De Vito viene invitato a sedere nella dirigenza di Cosa Nostra in America, e invece di accoglierlo in una sala con tutti i boss lo portano in una stanza vuota e gli sparano alla testa.«1624 Worum es im dictum des Kapitels also letztendlich geht, ist, dass eine simulakrenhafte Konstruktion der Wirklichkeit durchaus der heutigen Realität entspricht, dass diese Simulakren jedoch – zumindest im mafiösen Umfeld Neapels – nicht in einem Status der Film- oder Kunstillusion verbleiben, sondern sich die Realität in Form des gewaltsamen Todes unvermeidlich Bahn bricht. Das durch Baudrillard als eliminiert dargestellte Ereignis des Todes erfährt eine Renaissance. Der illusionäre Spielplatz der postmodernen Welt, auf dem sich die Menschen in Disneyland oder mit Realityshows vergnügen, bricht an genau dieser Stelle auf und weicht einer humanitären Wirklichkeit, die sich einer weiterführenden fiktiven Alternativ-Konstruktion verweigert. Es ist die Materialität des Körpers, die Somigli bereits für die Opfer von 9/11 reaktiviert hat. Wie der Fall der Twin Towers wird das literarische Beispiel Neapels in Gomorra zum Zeichen einer nicht auszulöschenden materiellen Realität, auch wenn diese sich aus einer virtuellen speist und daher bis zu einem gewissen Punkt medial konstruiert ist. Die besondere Rolle der süditalienischen Stadt wird dabei vom Autor-Erzähler noch einmal in den Vordergrund gestellt, die den Unterschied 1622 Vgl. dazu Kap. 1.2 der vorliegenden Arbeit. 1623 Zur Geschichte von Giuseppe und Romeo vgl. Saviano 2008, S. 275ff., hier besonders S. 280. 1624 Saviano 2008, S. 279.
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zwischen gefühlter »als ob«-Umsetzung der Filme in der Lebensrealität und ontologischem Sein mit allen Konsequenzen bis hin zum Tod vor Augen führt. Für eine bestimmte Zeit befindet man sich auf der Bühne des pirandellianischen Theaters der Sei personaggi in cerca d’autore,1625 in einem Moment der Parallelsetzung von Schein und Sein, der jedoch im nächsten Moment zerschlagen wird. Es heißt: Non c’H una reale differenza tra gli spettatori dei film in terra di camorra e qualsiasi altro spettatore. Ovunque i riferimenti cinematografici sono seguiti come mitologie d’imitazione. Se altrove ti puk piacere Scarface e puoi sentirti come lui in cuor tuo, qui puoi essere Scarface, perk ti tocca esserlo fino in fondo.1626
Ein ›wahrer‹ Held zu werden, »un essere superiore nella realt/ e non nella finzione«,1627 scheint hier im ersten Moment leicht. »[I]l principio dell’imitazionemediazione H portato al livello piF alto nella vita dei camorristi«, konstatiert Casadei.1628 Neapel wird so in der Darstellung zum Stellvertreterort1629 postmoderner Spitzenkonstruktion wie vor allem auch deren Durchbrechung. Es bleibt festzuhalten, dass die intermedialen Verweise in Form von expliziter Systemerwähnung weniger auf der Ebene des modus eine Rolle spielen als auf der des dictums. Es handelt sich um Textelemente, die aus der Narration nicht wegzudenken sind, da sie die dargestellte Wirklichkeit konstituieren. Sie sind Teil von Deskription und Kommentar eines realistisch-engagierten Schreibens. In der Aufführung und Vorführung der bipolaren Wechselwirkung zwischen medialer Darstellung und realer Aktualisierung bestätigt die Literatur Savianos die von Merten proklamierte »aktuelle Wirklichkeit«, die aus der Verschmelzung von Fiktion und »realer« Wirklichkeit entsteht und die mit Ferroni niemals die Endlichkeit und Begrenztheit einer natürlichen Realität einbüßt, die sich in ihrer Körperlichkeit manifestiert.1630 In der Bejahung von Wirklichkeitskonstrukten durch die Medien (Film und Buch) bei zeitgleicher Widerlegung des Status des reinen Simulakrums, erscheint das Kapitel als Ergänzung der zwei vorherigen, 1625 Ein Werk das beispielhaft die Verwirrung zwischen Sein und Schein demonstriert und damit endet, dass ein vermeintlicher Bühnen-Tod echt sein könnte. 1626 Saviano 2008, S. 280. 1627 Vgl. Casadei 2008, S. 20. 1628 Ebd. 1629 Als Stellvertreterort habe ich die Textstadt Neapel bereits im Aufsatz zu »Neapel als NichtOrt in der Gegenwartsliteratur« bezeichnet, hier vor allem im Hinblick auf die Darstellung als Ort des Verbrechens, der einerseits zu spezifisch ist, um als Nicht-Ort klassifiziert zu werden und andererseits eben als austauschbares Exempel fungiert. Vgl. Christiane Conrad von Heydendorff: »Neapel als Nichtort in der Gegenwartsliteratur (De Luca, De Silva, Saviano)«, In: Oy-Marra, Elisabeth / Scholler, Dietrich [Hg.]: Parthenope – Neapolis – Napoli. Bilder einer porösen Stadt. Göttingen: V& R unipress (im Druck). 1630 Vergleiche dazu die Ausführungen in der vorliegenden Arbeit Kapitel 3.3.
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die eine Poetik der Wahrheit und der verändernden Macht des Wortes postulierten.
Zwischenfazit Der italienische Autor und Journalist Roberto Saviano besetzt mit seinen Werken eine Position in der gegenwärtigen Literatur, die das infrage stellen eines neuen Realismus nicht mehr zulässt. Seine betont anti-postmodernistischen Ansätze verweben sich in einer Art des Schreibens, die im Rückgriff auf alte Realismen aktuelle Wirklichkeitsdarstellung neu denkt und dabei postmodernistische Muster mitverarbeitet. Das in der vorliegenden Arbeit im Fokus stehende Werk Gomorra zeichnet sich als hybrider Text aus, der sich vor allem in Bezug auf eine eindeutige Genre-Zuordnung verweigert. Bei gleichzeitigem Anspruch auf Faktualität, arbeitet es mit literarisierenden Methoden und wird daher hier als referenzieller Roman gelesen. Ebenso wird dem Autor nicht der Status eines Schriftstellers zugunsten einer rein intellektuellen Tätigkeit abgesprochen: Gomorra ist engagierte Literatur. Die Hybridität des Romans ist kein Problem, sondern für eine realistische Vermittlung der Gegenwart von Vorteil. Saviano agiert dabei weniger im Sinne eines postmodernistischen anything goes als vielmehr mit dem Gedanken eines äußerst zielgerichteten whatever works. Bezüglich des von der Kritik als fraglich eingestuften, ›nicht vorhandenen‹ Plots, ist Widerspruch einzulegen. Es ist nicht allein der starke Ich-Erzähler Roberto Saviano, der die Geschichte(n) zusammenhält. Die Kapitel von Gomorra mögen einzeln lesbar sein und dabei durchaus Inhalte vermitteln, das Gesamtwerk verliert in einer solchen Fragmentierung jedoch beträchtlich. Wie das Genre ist auch die Struktur hybrid und plural angelegt und folgt drei Hauptkriterien: Einer inneren und geographisch angelegten Ordnung, einer das Ich in seiner Reise und Entwicklung in den Mittelpunkt stellenden Ordnung und einer äußeren Ordnung, die dem Warenzyklus folgt, der wiederum von der Ankunft neuer Produkte bis hin zur Abfallproduktion zur Darstellung kommt. Der IchErzähler konnte in der vorliegenden Analyse als erzählender Protagonist klassifiziert werden, während die Ware als erzählter Protagonist bezeichnet wurde. Das makrostrukturell zweiteilig angelegte Werk folgt also zunächst einer räumlichen Ordnung, die im Süden der Stadt beginnend in die nördliche Peripherie fortschreitet. Zudem besteht eine Koppelung an verschiedene Mafiagruppierungen, die neapolitanische Camorra, die in der Prima parte vorgeführt wird und die casertanische Camorra, die die Seconda parte einnimmt. Das letzte Kapitel des Romans führt beide Parteien zusammen. Zudem strukturiert sich Gomorra um eine inhaltliche, innere Ordnung, in der nach und nach ein Gesamtbild der ortsansässigen Camorra geschaffen wird, das vom Aufbau der
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Familie über die verschiedenen Tätigkeitsfelder reicht. In der Seconda parte überlagern sich zunehmend inhaltliche Aussagen mit poetologischen Ansprüchen, die auf Wahrheit, Macht des Wortes und Interferenz von Fiktion und Wirklichkeit fußen. Das zweite Ordnungselement, das den Text maßgeblich prägt und bisher in der Kritik den größten Diskussionsraum gefunden hat, ist der ubiquitäre IchErzähler. Der durch den Untertitel bereits angekündigte Reiseweg dieser Erzählinstanz ist keineswegs ein zufälliger, sondern folgt den ihn umgebenden Ordnungsprinzipien und durchläuft dabei eine Entwicklung. Die Rolle, die das erlebende und erzählende Ich spielt, wurde in der bisherigen Kritik einmal in der Tradition der Autobiographie, einmal im Status der Autofiktion gesehen. Beide Genres tragen Komponenten einer extratextuellen Grenzüberschreitung in sich, während aber die Autobiographie einen dezidiert referenziellen und wahrhaftigen Anspruch ins Feld führt, spielt die Autofiktion offen mit ihrem ambigen Konstruktcharakter und stellt damit ihre Gemachtheit und die Unmöglichkeit der Darstellung des Selbst und der Realität in einem postmodernistischen Sinne in den Mittelpunkt. Gomorra präsentiert ein durchgängig starkes Ich, das zu keiner Zeit an seinem eigenen Status zweifelt und seine autobiographisch geprägte Erzählung eher in die Tradition der Selbstbiographie Diltheys stellt, als die am meisten instruktive Form in Bezug auf das Verstehen des Lebens. Wie in Bezug auf Genre und Plot erscheint auch dieses Ich der Selbsterzählung zunächst polyvalent: Es tritt als Journalist auf, als Einheimischer, als junges und erwachsenes Ich. Bei intensiver Lektüre lässt sich jedoch herausarbeiten, dass diese ›verschiedenen‹ Ich-Perspektiven im Gesamtkontext zu einer sich entwickelnden Instanz zusammenfließen, die in ursprünglicher ›Unwissenheit‹ und aus Neugierde in mafiöse Machenschaften hineingerät, um nach und nach bewusstere Recherchemethoden anzuwenden und sich als wissendes und dem Leser Wissen vermittelndes Medium zu positionieren. Ursprüngliche Neugier und Faszination weichen jeweils in dem Maße zunächst Unglauben und dann Ärger, in dem es dem erlebenden und erzählenden Protagonisten gelingt, interne Eindrücke zu erlangen und die beobachteten Vorgänge zu verstehen. Als Mittel des Verständnisses kommt hierbei häufig eine gewisse Körperlichkeit ins Spiel. Das ›Grauen‹ und ›Verbrechen‹ wird erspürt und ›begriffen‹. Als zusätzliche Verständnis- und Vermittlungsinstanzen werden kindliche Sichtweisen und Wissensfelder angeführt. Im Rückblick auf seine eigene Biographie zieht der erzählende Protagonist Kindheitserinnerungen zum Verständnis heran, das er so mit der doppelten Identifikationsfigur des kindlichen wie erwachsenen Ich auf den Leser zu übertragen sucht. Der Leseakt dient mithin der indirekten Erweiterung des Erfahrungshorizonts. Ist dem jugendlichen Ich-Erzähler selbst in seinen Kindertagen schon einiges aus dem mafiösen und kriminellen Alltag Neapels zu Augen gekommen und bekannt, so wird dieses Wissen bei Weitem
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übertroffen von dem der Kinder, die eine Generation später befragt werden. Diese Differenz zwischen früherer und heutiger Jugend wird im Text erneut zum Gradmesser eines sich wandelnden und verstärkenden Bildes krimineller Machenschaften im Einzugsbereich der Camorra. Deuteten sich die unmissverständlich autobiographisch lesbaren Abschnitte im ersten Teil des Romans nur an, so bekommen sie weit mehr Gewicht im zweiten Teil von Gomorra, in dem der lejeunsche Pakt de facto geschlossen werden kann. Unterfüttert wird dieser mit weiteren Kindheitserinnerungen, die den Autor-Erzähler noch tiefer im dargestellten Süden verankern und zudem in der Auseinandersetzung mit den Werten des Vaters bereits die spätere Rebellion gegen herrschende Systeme vorwegnehmen. Im zweiten Teil schlägt auch die Stimmung des erzählenden Protagonisten endgültig in Wut über die Umstände um, die sich beispielsweise im Trauerprozess um den ermordeten Priester Don Peppino Diana äußert. Diese Wut drückt sich zum einen in teils grotesken und Verachtung ausdrückenden Gesten, wie etwa dem Urinieren in die goldene Badewanne in der Villa eines inhaftierten Bosses aus, als auch in kurzfristiger Resignation und müder Hysterie während geführter und beobachteter Gerichtsprozesse. Diese wiederum Menschlichkeit evozierenden Momente der Schwäche werden jedoch im Excipit überwunden, das in seiner Machart einem typisch autobiographischen Incipit ähnelt und Gomorra damit in den Stand einer retrograd klimaktischen Autobiographie erhebt, die ihren Erzähler abschließend noch einmal als Teilhaber und Wissensinstanz legitimiert. Das subjektive Erzählen in Gomorra steht in einem auffälligen Gegensatz zu realistischem Schreiben wie man es aus dem 19. Jahrhundert kennt. Dieses bevorzugte einen unpersönlichen Stil und zielte auf kollektive Breite in der Narration; es ist dies eine Art des Erzählens, die gerade um das Werk Vergas herum den Begriff der Choralität geprägt hat. Diese arbeitet mit direkter und erlebter Rede sowie mit dem Einschub sprichwörtlichen Redens als Echo des Kollektivs. Auch in Gomorra hat der erzählende Protagonist nicht durchgängig das StimmMonopol; regelmäßig ›leiht‹ er seine Figur den ihn in Gomorra umgebenden realen wie fiktiven Charakteren aus der parthenopäischen Stadt. Diese Figuren haben in den wenigsten Fällen eine eigene Stimme. Ihr Schicksal, ihre Geschichte und sogar ihre Gefühle werden durch das Medium des Ich-Erzählers vermittelt, was ihnen den Status von Dummy-Figuren zuweist. Mittel, die Verga zur Erzeugung der kollektiven Stimme einsetzte, sind in Gomorra ausgeschaltet und doch erhält die Gemeinschaft, absorbiert im Körper des erzählenden Protagonisten, ein Sprachrecht. Der Wahrheitsvermittlung zuträglich ist dabei die Überkreuzung realer, aber fiktionalisierter Geschichten wie die der Annalisa, mit erfundenen, aber in diesem Kontext als wahrscheinlich anzusehenden Erzählungen wie der des Emanuele. Durch diesen Kunstgriff verquickt Saviano
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Anspruch auf Referenz sowie das Formulieren einer höheren Wahrheit im literarischen Sinn. Eine hervorstechende Rolle im Kanon der Nebenfiguren spielt der Schneider Pasquale, dessen Rolle in einigen Punkten gegenläufige Tendenzen aufweist. In einem ersten Schritt wird er dem Ich-Erzähler nach und nach als gleichgestellt gezeichnet und im Kontakt des erzählenden Ich mit der Familie als einziger Quell von Freude markiert. Doch auch seine Empfindungen in Krisensituationen im camorristischen Kontext werden dem Leser nur über den ›Spiegel‹ des IchErzählers zuteil. Auch der Schneider verbleibt im Rahmen des ›Erzählens‹ zunächst eine Dummy-Figur. In der Entwicklung der Geschehnisse vermag er sich jedoch zu emanzipieren und wächst zu einer aktiveren Vater-Figur heran. Genau aus dieser Rolle väterlicher Sorge heraus befeuert er jedoch die Rebellion des erlebenden und erzählenden Ich, der sich in der Folge wiederum von dem Schneider emanzipiert; indem die Figur seine führende Rolle verliert, verschwindet sie auch aus dem Text und bleibt ein Schatten im vom Ich-Erzähler absorbierten Kollektiv, dessen Geschichte auf diesem Weg dem Leser trotzdem zugänglich wird. Der dritte Ordnungsstrang von Gomorra, der sich im Zyklus der Waren, also der Bewegung des erzählten Protagonisten widerspiegelt, lässt sich am besten mit Blick auf die starken intertextuellen Anleihen im Roman vorführen. Denn eine dieser Darstellung verwandte inhärente Kapitalismuskritik findet man schon in einigen Texten Zolas. Auch der im zweiten Teil herangezogenen Pier Paolo Pasolini dient als Vorläufer engagierten Schreibens gegen ein kapitalistisches, menschenverachtendes System. Der Funktion dieser quantitativ stark vertretenen intertextuellen und intermedialen Anleihen in Savianos Gomorra wurde dabei theoretisch wie praktisch ein umfassender Blick zuteil, da intertextuelle Verfahren zunächst auf postmodernistische Literatur hinzuweisen schienen. In der vorliegenden Ausarbeitung wurde jedoch davon ausgegangen, dass im Gegensatz zu postmodernistischen Verfahrensweisen, die auf eine Poetik der Oberfläche im ludisch-dekonstruktiven Prozess abzielen, wieder vermehrt konstruktive, Tiefenstruktur anstrebende Anwendungen in den Vordergrund treten. In der Analyse der einzelnen Textrelationen wurde auf das im Vergleich zu Kristeva restriktivere System Genettes sowie dessen Terminologie zurückgegriffen, der die verschiedenen intertextuellen Verfahrensweisen zunächst unter der Begriff der Transtextualität subsumiert. Mit dieser Herangehensweise war es besonders fruchtbar, Savianos Gomorra als Hypotext zu Zolas Le Ventre de Paris zu lesen. Der Rückgriff auf den bekanntesten und produktivsten Naturalisten des 19. Jahrhunderts wird als Legitimation der eigenen realistischen Ansprüche gewertet. Trotz narratologischer Unterschiede vor allem bezüglich der Erzählinstanz, weisen beide Texte er-
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staunliche Parallelen in dictum und modus auf. Beide befassen sich kritisch mit den Folgen eines zum Exzess getriebenen Kapitalismus und dessen Folgen, ein Phänomen, das sich in Le Ventre de Paris in der französischen Hauptstadt des 19. Jahrhundert spiegelt und in Gomorra im glokalen Neapel der Gegenwart. Beide Stadttexte anthropomorphisieren ihren Darstellungsgegenstand. Die Stadt wird zum Körper. Im Zentrum steht jeweils der Zyklus der Verdauung, der die Massenproduktion an den jeweiligen Orten in ihrer Vormachtstellung und unendlichen Wiederholung symbolisiert. Während in Zolas Text der Prozess des Verderbens zu Beginn versteckt ist und erst peu / peu in den Fokus gerät, sind die Darstellung von Missständen und deren Anklage in Gomorra von Beginn an ein offensichtliches Anliegen. So läuft in Gomorra auch von vornherein die Beschreibung der Endprodukte, des Abfalls, mit, während die Schmutzmetaphorik in Le Ventre de Paris erst viel später Raum findet. Wie in beiden Texten die Stadt zum Körper wird, werden auch in beiden Texten Körper reifiziert, während die Ware anthropomorphisiert wird. Der Mensch ist damit der Ware gleichgesetzt, wenn nicht gar untergeordnet. Er ist Teil der kapitalistischen Massenproduktion, jedoch nur insofern er nützlich und der Warenproduktion oder dem Warentransport dienlich ist. Seine eigenen Bedürfnisse werden eliminiert. Als Systemgegner muss Florent, der Protagonist aus Le Ventre de Paris, zur Herstellung der alten Ordnung zuletzt wieder ausgeschaltet werden und erfährt erneut eine Exilierung. Der anklagende und revoltierende Ich-Erzähler aus Gomorra schwimmt zuletzt passiv im Müllmeer der terra dei fuochi, begehrt jedoch in einer Papillon-Anleihe noch einmal auf, sodass das herrschende System, wenn auch nicht besiegt, so doch als weiterhin bekämpfbar und zu bekämpfen stehen bleibt. Weitere Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den beiden Texten lassen sich anhand typischer Deskriptionsmerkmale ablesen, die stets auf einen Erkenntniswert abzielen. In beiden Romanen spielt der Blick als Verständnis- und Machtwerkzeug eine besondere Rolle. Neben methodischer Aufklärungsarbeit ist in Gomorra besonders noch die sich der omert/ widersetzende Geste des ›Hinschauens‹ trotz realer Gefahr zu vermerken. Neben detailgenauen Beschreibungen in den Texten sticht im Besonderen der erzählerische Fokus auf hervorstechende Größe (Hallen und Hafen) und allumfassende Masse (Waren) ins Auge. Lombardi hat dieses Phänomen in Le Ventre de Paris als moderne r88criture des Sublimen gelesen, was die vorliegende Analyse für die Lektüre von Gomorra adaptiert. Das Sublime wird generell nicht als genuin realistisches Merkmal gewertet. An dieser Stelle wird es jedoch entsprechend funktionalisiert und wirkt wiederum als Instrument eines Erkenntnisprozesses immer genau in dem Moment, in dem die Grenzen visueller Wahrnehmung und daraus abgeleiteter kognitiver Prozesse überschritten werden. So etwa wird ein der Realität
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angenähertes Bild der Masse der Müllberge im imaginierten Gebirge der Abfälle greifbar, das den Mount Everest noch übersteigen würde. In die Analyse der Deskriptionen in den beiden Texten ist in Teilen bereits das beschriebene Milieu miteingegangen. Das Milieu als Teil des Triptychons race, moment, milieu, das im naturalistischen Denken und Schreiben eine große Rolle spielt, hat auch in den Geschichten von Gomorra noch massiven Einfluss auf die dargestellten Figuren. Besonders manifestiert sich das in der stetigen Präsenz des Todes, des Tötens und Getötetwerdens von Kindesbeinen an. Das Leben wird ökonomisiert, zum mestiere und zum Glücksspiel. Als beeindruckendstes Exempel wird der Tod der Annalisa Durante angeführt, deren einzige ›Schuld‹ fast erbsündenhaft in ihrem Geburtsort veranschlagt wird. In einem ersten Schritt scheint das Schreiben Savianos sich damit umfänglich in das determinierende Moment naturalistischer Sichtweise einzureihen und der Tradition zu folgen. Im zuletzt platzierten Aufruf zum Widerstand jedoch erwächst eine Ambiguität, die durch ein kant’sches sapere aude ein Ausbrechen aus der Determination möglich zu machen scheint. Die Legitimation durch intertextuelle Rückgriffe auf frühere Autoren, die realistischem und engagiertem Schreiben und Auftreten verbunden waren, setzt sich in der korrektiven Nachbildung von Pasolinis berühmtem »Romanzo delle stragi« fort. Indem Saviano Pasolini nicht nur reproduzierend aufruft, sondern dessen Text kritisch verändert, nutzt er zum einen erneut die Möglichkeit, im Akt der Sodalisierung mit Pasolini eine auf die Vergangenheit fußende Autorität zu erlangen. In der Absetzung und Singularisierung eröffnet er sich zudem ein neues, eigenes Feld im Kontext einer Poetik der Wahrheit, die dezidiert Anspruch auf Authentizität erhebt, jedoch die Pluralität und Heterogenität der postmodernen, globalisierten Welt mitverarbeitet. Besondere Wichtigkeit erhält wiederum der Körper als Instrument zur Erfassung der Wahrheit und als Medium und Garant für deren aufrichtige Weitergabe. Ergänzt werden diese poetologischen Passagen, die eine Wahrheit des Wortes etablieren, mit dem metatextuellen Kommentar des Werkes Don Peppino Dianas, durch den eine Poetik der Macht des Wortes installiert wird. Damit wird der Anspruch auf Erkennen und Wiedergeben der Realität in der Literatur durch die Intention, eine Veränderung der Wirklichkeit herbeizuführen, verschmolzen. Der Kunstgriff des Kapitels, das gleichzeitig neapolitanischen Alltag in seiner Verschränkung von mafiösem und kirchlichem Leben vorführt und poetologische Immanenz aufweist, besteht darin, gegen Ende den tatsächlichen Intertext durch einen fiktiven abzulösen. Die titelgebenden Zeilen, die die Stadt Neapel im Text zum biblischen Gomorra werden lassen, sind kein Zitat, sondern dem Autor selbst zuzuschreiben. Die Anlehnung an ein biblisches Verständnis von der Macht des Wortes verleiht dem Schriftsteller bei gleichzeitiger Negation eigener Frömmigkeit eine Art neue auctoritas, da die Macht des literarischen Wortes
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erneut mit schöpferischer und schaffender Kraft aufgeladen wird, die das Wort als Handlung in der Welt und Instrument potenzieller Veränderung der Umstände einschließt. Die Frage, ob Fiktion eine Einflussnahme auf die Lebenswelt ausübt und ausüben kann, ist keine neue, aber eine umso stärker diskutierte. Im Kapitel »Hollywood« führt der Autor-Erzähler dieses Phänomen anhand von im neapolitanischen Umland realisierter fiktiver Szenen aus Mafiafilmen vor. Diese Darstellungen erinnern zunächst an das Konzept des Hyperrealismus nach Baudrillard und Eco, das jedoch bei Saviano subvertiert beziehungsweise noch übertroffen wird, indem die Realität nicht im Simulakrum aufgeht und sich verflüchtigt, sondern im Gegenteil die Fiktion zu verschlucken scheint. Dieses Bild ist Spender und unabdingbar für Savianos Poetik. Als Marker hervorbrechender Realität wird das von Baudrillard eigentlich aufgehobene Ereignis des Todes gesetzt, das keinerlei alternative Konstruktionen zulässt. In einer Bejahung des Vorhandenseins von Simulakren, die nicht nur, aber vor allem durch Filmvorbilder zustande kommen, trägt Saviano der Postmoderne Rechnung und stützt gleichzeitig seine poetologischen Annahmen, durch Fiktion Einfluss auf die Wirklichkeit nehmen zu können. In einer Verneinung der absoluten Gleichsetzung von Simulakrum und Realität zugunsten eines Erstarken der Letzteren, bricht er jedoch mit gängigen postmodernistischen Ansätzen. Intertextualität und Intermedialität haben Darstellungscharakter. Zudem sind sie – wie mehrfach vorgeführt – Instrumente der Legitimation und der Konstruktion einer Poetologie realistischen Schreibens nach der Postmoderne. Hybridisierung im Sinne des whatever works, Repräsentation durch ein starkes post-postmodernes Subjekt und eine umfunktionalisierte Intertextualität und Intermedialität stehen im Fokus von Roberto Savianos Realismus im 21. Jahrhundert.
Schlussbemerkung zur Rückkehr realistischer Tendenzen in der italienischen Gegenwartsliteratur
Die vorliegende Arbeit konnte in ihren Analysen die Annahme festigen, dass das Konzept des Postmodernismus für die italienische Literatur der Gegenwart nicht mehr genügt. Tendenzen mit Anspruch auf Darstellung der aktuellen Realität des Landes und seiner Konflikte brechen sich Bahn und fügen sich zu einer neuen Strömung zusammen. Im historisch-systematischen Einstieg der Arbeit wurde mit Ceserani konstatiert, dass Postmoderne und Postmodernismus in Italien zwar spät angekommen sind, dann jedoch durchaus spürbar gelebt und künstlerisch umgesetzt wurden. In Politik und Alltag prägte die Medienwelt Berlusconis weite Strecken des öffentlichen Lebens. In der Literatur bilden Vertreter wie Eco, der späte Calvino, Tondelli, Tabucchi oder De Carlo das Gesicht der Strömung. Mit den jungen Autoren des Pulp erlangte die künstlerisch-literarische Umsetzung des Postmodernismus einen Höhe- und Wendepunkt, an dem sich eine neue Ethik Bahn brach, deren sichtbarster Marker der Austausch postmodernistischer Ironie mit ›kannibalistischem‹ Sarkasmus und Zynismus ist. In der letzten Dekade des 20. und ersten Dekade des 21. Jahrhunderts sind jedoch Faktoren in Zeit und Zeitgeist offenbar geworden, die für spürbare Veränderungen im Klima sorgten und zwangsläufig zu Auswirkungen im philosophischen wie literarischen Bereich führten. Die äußersten Spitzen der Globalisierung provozierten den Zusammenbruch tragender postmodernistischer Ideen. Krisen in und um Italien (Kriege, Flüchtlinge, schwacher Arbeitsmarkt, Erstarken mafiöser Tendenzen) führten zur erneuten Forderung nach Faktenwissen, Wahrheit, Ernsthaftigkeit und Widerstand. Im Besonderen kehrte die Materialität des toten Körpers verstärkt zurück ins Bewusstsein. Auch wenn es in der Literatur bereits zuvor Tendenzen eines neuen Realismus gab, so war es doch die deutsch-italienische Zusammenarbeit von Gabriel und Ferraris, die in der Philosophie den New Realism offiziell benannte und diesem eine breite Diskussionsplattform bot. Der Grundgedanke, der zu dieser Benennung führte, war die konstatierte ständige Pendelbewegung des pensiero zwischen anti-realistischen und realistischen Tendenzen. Mit Blick auf Italien
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und hier insbesondere auf die Schriften von Ferraris und Eco wurde ein moderater Realismus mit Kompromissbereitschaft gegenüber einem gemäßigten Konstruktivismus herausgearbeitet, der das nietzscheanische Primat der Interpretationen zumindest wieder eindämmen möchte, da immer ›etwas Widerstand leiste‹ und man stets einen Ausgangspunkt für die ›Lesarten der Welt‹ veranschlagen müsse. Ein realistisches Herangehen an gegenwärtige Situationen sieht Ferraris als Basis eines neuen und notwendigen sapere aude. Den praktischen Analysen ausgewählter Autoren neuen realistischen Schreibens wurde ein Überblick von theoretischen Positionen alter Realismen vorangestellt, der den vielfach postulierten Vorwurf der Naivität außer Kraft setzen konnte. Der Januskopf des Realismus, der sich zwischen exakter Weltwiedergabe und medialisierter Subjektivität zu zerreiben scheint, löst sich auf, wenn realistischen Werken bei allem Anspruch auf Darstellung der Wirklichkeit nicht der Kunstwerkcharakter abgesprochen wird. Mimesis und Poiesis entsprechen sich in ihrem Stellenwert. Der stets mitzudenkende subjektive (Autor) wie mediale (Schrift) Filter ist bereits im Denken der Realisten des 19. Jahrhunderts verankert. Literarische Darstellung von Wirklichkeit beruht auf Evokation von Wirklichkeitsillusion. Genau hier kommt die Imagination des Autors zum Einsatz. Dem eigenen Anspruch an realistische Darstellungsweise und dem Lesevertrag auf Referenz widerspricht das jedoch nicht. Realistische und anti-realistische Tendenzen schließen einander nicht aus, sondern bedingen sich und stehen in einem reziproken Verhältnis. Nur in der Abgrenzung des einen von dem anderen können sie sich konturieren. Literatur wird sich immer in irgendeiner Form auf die uns umgebende Welt beziehen und deren Angesicht doch niemals vollständig reproduzieren können. Pffets de r8el führen in einem hohen Aufkommen in Texten einer historischen Epoche dazu, dass sie sich in ihrer Benennung als Realismen niederschlagen (Bigazzi). Aus diesem Gedanken heraus wurde ein Modell entwickelt, das als eine Art Skala der verschiedenen literarischen Ausformungen von den extremen Tendenzen über moderatere Formen vorstellbar ist. Das von Ferraris gedachte Pendel schöpft mit der Zeit in einer Wechselbewegung die verschiedenen Ausführungen unter Berücksichtigung des historischen Kontexts aus und führt so zu immer neuen Formen realistischen, phantastischen oder explizit selbstbezüglichen Schreibens. So ergibt sich ein zeitlich gebundener Fundus verschiedener Themen (dicta) und Darstellungsweisen (modi), die jeweils realistisches Schreiben charakterisieren. Neben dem Naivitätsverdacht im Hinblick auf realistische Literatur scheint ein weiterer Umstand tatsächliche Erfahrung im Alltag und Referenz in der Literatur infrage zu stellen: der stetig wachsende Einfluss der Neuen Medien. Die vorliegende Arbeit hat jedoch im Gegenteil auch hier ein Miteinander nachzeichnen können. Der Zuwachs von Medialität ging historisch gesehen häufig Hand in Hand
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mit dem Aufkommen realistischen Schreibens. Als Beispiele sind dafür ist die im 19. Jahrhundert rasante Entwicklung der Presse parallel zu den literarischen Strömungen des Realismus, Naturalismus und Verismus zu nennen. Der italienische Neorealismus ›konkurrierte‹ nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Popularität des sich immer weiter entwickelnden Films, was letztendlich zu gegenseitiger Befruchtung führte. Mitte des 20. Jahrhunderts brachte ein gefühltes ›Zuviel‹ medialer Information den New-Journalism und die Nonfiction Novel hervor, die Kompensationsarbeit leisten sollten und sich an Realismen aus dem 19. Jahrhundert inspirierten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis zur Jahrtausendwende ist medialer Konsum in größerem Stil zur Gewohnheit geworden. Die Mediengesellschaft wird proklamiert. Direkte Erfahrung und Traumata werden von einigen Wissenschaftlern für die gegenwärtige Gesellschaft negiert (Giglioli, Scurati). Mit Merten und Ferroni wurde jedoch einer durch Simulakren entleerten Welt widersprochen und den folgenden Analysen ein Modell zugrunde gelegt, das von einer aktuellen handlungsleitenden Realität ausgeht, die tatsächliche Erfahrung und mediale Rezeption in sich vereint (Merten). Virtualität führt nicht zu Limitierung und Erleichterung der ›Schwere des Realen‹ (Ferroni). Die Aufnahme altermedialer Aspekte in der Literatur muss im Zeitalter der Mediengesellschaft neu bewertet werden und führt zu aktuellen dicta und modi im Paradigma literarischer Tendenzen der Gegenwart. In einem solchen Paradigma steht für das 19. Jahrhundert beispielhaft der Fortschritt in Technik, Wissenschaft und Medizin thematisch im Fokus; zudem Darstellungen städtischen Lebens (Frankreich) oder ländlicher Armut im sich bildenden Einheitsstaat (Meridionalismus in Italien). Der darstellerische Gestus ist vermehrt der der Zurücknahme einer erkennbaren Autor- und Erzählerinstanz zugunsten der Erzeugung der Illusion von Wissenschaftlichkeit und Objektivität sowie einer Art der Darstellung, die das Kollektiv in den Mittelpunkt rückt (chorales Erzählen). Ausführliche Deskriptionen können etwa im Zeichen einer literarischen Bildung des für die Figuren ausschlaggebenden Milieus stehen (Zola, Verga), tragen aber auch aktuellen künstlerischen Strömungen wie dem Impressionismus Rechnung. Im Mittelpunkt realistischer Darstellung im 20. Jahrhundert in Italien stehen die Verarbeitung des Zweiten Weltkrieges, im Besonderen der Resistenza oder Lagererfahrungen, sowie die Re-formierung der Republik und die sich neu formulierende Südfrage. Schreiben über die aktuelle Welt wird aus einem persönlichen Bedürfnis und ethischen Ansprüchen heraus geboren. Im Fokus steht ein Erlebnis- und Erfahrungssubstrat mit hohem Anspruch auf referenzielle Qualität. Allerdings scheint nicht nur realistische Darstellung konzeptuell ins Wanken geraten zu sein, die historischen Ereignisse haben auch das Fundament eines gemeinsamen Wahrheitsbegriffs zerschlagen. Die sich unter der Etikette des Neorealismus subsumierenden Stimmen sind entsprechend ›bunt‹ und
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bringen die ›verschiedenen Italien‹ zur Darstellung. Die Herangehensweise an die Realität erfolgt über unterschiedliche ästhetische Mittel (z. B. bei Calvino), die Verwendung besonderer sprachlich-dialektaler Muster (z. B. Calvino, Pasolini) oder im Modus der individuellen Zeugenschaft (z. B. bei Primo und Carlo Levi). Pasolinis realistische Kunst setzt sich generell bewusst von rein neorealistischen Tendenzen ab und versteht Schreiben als performativen Akt mit dem Willen zur Veränderung in der Welt. Der literarische Metadiskurs zu neuen Realismen, der gegenwärtig von Journalisten, Kritikern und Autoren in Italien gleichermaßen geführt wird, spiegelt plurale Meinungen wider. Bei einigen schwingen nach wie vor Bedenken aufgrund der Stigmatisierung mit Blick auf den Naivitätsvorwurf mit. Realismus scheint theoretisch ein Tabu zu sein. Strukturalismus, Poststrukturalismus sowie Positionen von Freud und Lacan stehen im Denken einiger der offenen Zustimmung neuer realistischer Tendenzen entgegen (Siti, Nove u. w.). Andere hingegen postulieren, die Zeit für eine post-zynische Phase sowie die Abkehr von allzu selbstbezüglichem Schreiben sei gekommen, man müsse sich mit der Welt auseinandersetzen und aufhören, zu sehr in Oppositionen zu denken; Kunst und Realität sind vereinbar (Covacic, Benedetti). Teilweise kristallisieren sich sogar schon Versuche heraus, die als ›neu‹ und ›realistisch‹ erkannten Tendenzen in Phasen und Typen zu systematisieren (Savettieri, Asor Rosa). Die zeitliche Einteilung reicht hier wiederum von den späten 90er Jahren bis zur philosophischen Diskussion um Ferraris, die Typisierung spricht von journalistisch-dokumentarischer Literatur (Saviano u. w.), schwerpunktmäßig allegorisch-imaginärer Wirklichkeitsaneignung (Giordano u. w.) und regionalantik gezeichnetem Interesse (Desiati, Lagioia u. w.). In der vorliegenden Arbeit konnte ein ausschnitthafter Blick auf den breiten Fächer des Panoramas gegenwärtiger italienischer Literatur geworfen werden, mit dem sich folgende Themen (dicta) aktueller Realismen konstatieren lassen: 1) eine ernsthafte, nicht idealisierende Auseinandersetzung mit dem Alltag der italienischen Mafia. Der Blick richtet sich dabei nicht nur auf die immer stärkeren wirtschaftlichen Interessen und die Korruption, sondern vor allem auch auf den bisher unantastbaren Bereich der Kindheit, den das System für seine Zwecke vereinnahmt hat sowie auf eine Globalisierung dieser Strukturen (De Silva, De Cataldo, Saviano u. w.). 2) soziale Aspekte rund um die neue Schicht des Prekariats, schlechte Arbeitsbedingungen, die immer höhere Arbeitslosigkeit und aufkommender Rassismus, Gewalt und Verbrechen aus Verzweiflung, kurz ein Land in ökonomischem und ethisch-moralischem Verfall (Ammaniti, Lolli, Murgia, Desiati u. w.). In diesem Kontext 3) negative Seiten einer ›unbegrenzten‹ Industrialisierung mit der Fabrik und ihren Arbeitern im Mittelpunkt des Schreibens (Desiati, Avallone).
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4) ein generelles Interesse an der eigenen Region, insbesondere bezogen auf den Süden mit seinen Problemen (Desiati, Abate u. w.). 5) Flüchtlings- und Migrantenliteratur aus autochthoner wie ›fremder‹ Sicht (Pap Khouma, Abate, Desiati u. w.). Exemplarisch wurden in der vorliegenden Arbeit die Texte dreier Autoren analysiert, deren Werke in Teilen oder zur Gänze im Kontext neuer realistischer Tendenzen zu verorten sind. Dabei wurden die Erzählungen und Romane von Niccolk Ammaniti, die sich in einer Phase des Übergangs bewegen, einem kritisch-ästhetischen Realismus zugeordnet, der zum literarischen Gradmesser des Elends einer sich in Dekadenz befindenden Gesellschaft wird. Mario Desiati ist als literarischer Vertreter eines modernen Meridionalismus mit poetischen, dokumentarischen und didaktischen Ansprüchen zu sehen. Roberto Savianos Schaffen steht im Zeichen eines hybriden Realismus im Sinne eines whatever works, der Aufklärung mit einem aktualisierten sapere aude, Engagement und Veränderung einfordert. Vergleicht man die Werke der drei Autoren, so fällt auf: Der etwas frühere Autor Ammaniti verwendet im Vergleich sichtlich abweichende Strukturen und modi als die späteren Schriftsteller Desiati und Saviano, die direkter in die neuen Tendenzen ›hineinwachsen‹. Ammaniti nimmt seine literarischen Anfänge noch in den Ausläufern des Pulp und vertritt eine ambigue Poetik, die sich erst nach und nach bewusster Realitätsdarstellung verschreibt. Trotzdem sind bereits in seinem pulp-affinsten Erzählband Fango erste realistische Tendenzen festzumachen, die sich in den Romanen Ti prendo e ti porto via, Io non ho paura und schließlich Come Dio comanda stetig mehren. Im Fokus stehende Themen sind psychologische und pathologische Abgründe der Gesellschaft und die soziale Unterschicht. Beides lässt eine Rückbindung an Autoren aus früheren Realismen zu, etwa an Verga und Capuana sowie an Pasolini oder Calvino. Die bei ihm auffälligsten narrativen Vorgehensweisen sind ein schnelles, szenisches und parataktisches Erzählen, das bereits in den ›kannibalistischen‹ Texten angewandt wurde und das in seinen späteren Werken teils bis zu einer Art Prosa-Stichomythie verstärkt wird. Generell bewegt sich sein Schreiben in einem ›dramatischen‹, distanzverringernden Modus. Besonders an Quantität und Qualität der Gewaltdarstellung in den einzelnen Texten, aber auch anhand veränderter Ver- und Bewertung altermedialer Elemente sowie an der Besetzung durch Kinderprotagonisten an einigen Stellen seiner Texte werden Bruchstellen im Übergang vom pulpistischen zum realistischen Schreiben sichtbar. Gewaltdarstellung ist nicht mehr grotesk und dient dem Divertissement, sondern hebt auf eine Reflexionsebene ab; die medialen Einschübe haben keinen ludisch-zitationistischen Charakter, sondern explizieren die bereits im Pulp implizierte Kritik an der
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Mediengesellschaft. In der Darstellung der Rezeption von Welt und Medien lässt Ammaniti seine Figuren die von Merten proklamierte aktuelle handlungsleitende Wirklichkeit zur Darstellung kommen. Vermehrt gleicht das Erzählen Ammanitis einer Art Kaleidoskop, das die Innensicht all seiner Figuren enthält; so bekommt das Kollektiv eine Stimme. Der Leser wird in der Direktheit des Stils und ›ohne‹ zusätzliches Medium (etwa durch einen Ich-Erzähler) in einer narrativen ›Verga-Anleihe‹ mit den präsentierten Umständen konfrontiert. Trotzdem wird das so entstehende Bild der literarischen Wirklichkeit teilweise durch einen zusätzlich in den Mittelpunkt gerückten Kinderblick unterstützt, der in einer Art didaktischen Reduktion die Welt intuitiv vermittelt. Mario Desiati und Roberto Saviano arbeiten beide mit einem homo- beziehungsweise sogar autodiegetischen Erzähler und bringen damit das Ich, eine dezidiert subjektive Komponente, mit in das Paradigma neuen realistischen Erzählens. Ebenfalls gemein ist ihren Werken die Offenlegung ihres methodischen Vorgehens, das thematisiert, jedoch nicht überhöht oder in den Mittelpunkt gestellt wird. Man mag in der erzählerischen Aufnahme dieser Metaebene ein Aufgehen postmodernistischer Residuen in der neuen realistischen Literatur sehen. Desiatis Schreiben widmet sich in vielen seiner Romane dezidiert den Problemen, aber auch der Schönheit seiner Heimat Apulien. Er bringt die korrupte Politik, die zerstörerischen Kräfte einer exzessiven Industrialisierung, das Prekariat und eine nie versiegende Emigration zur Darstellung. Dabei umfasst sein Schreiben ein Spektrum von allegorischem und poetischem Ausdruck bis hin zum Dokumentarismus. In großer Offenheit schließt er an frühere theoretische wie literarische Meridionalisten an (Fortunato, Levi, Scotellaro), verarbeitet aber auch Statistiken aktueller Institutionen. In der gemeinsamen Betrachtung der Werke Il paese delle spose infelici und Foto di classe – beides autobiographisch geprägte Romane – ergibt sich ein sich stetig ergänzendes Portrait der Region, das auf Mythen und alten Zeiten gebaut ist und das ein Bild Apuliens zeichnet, das bislang vergeblich, aber nicht hoffnungslos, den Anschluss an die ›moderne‹ Gesellschaft sucht, die jedoch gleichzeitig in Form des Stahlriesen Ilva zum Verhängnis wird. Desiatis Erzählen ist im Vergleich zu Ammanitis ein ›langsames‹, das in seiner Gesamtheit Chronologie berücksichtigt, im Einzelnen aber mit Zeitsprüngen und episodenhaften Berichten arbeitet. Sein Ich-Erzähler ist ein Teilhaber, der sich immer wieder zu distanzieren weiß und somit als ›innerer‹ und ›äußerer‹ Experte zugleich gelten kann. Seine Figuren sind ausgestaltete Charaktere und doch auch häufig Prototypen, die damit nicht einer spezifischen, sondern einer allgemeinen Darstellung des Südens dienen. Elemente, die im Besonderen Authentizität erzeugen, sind etwa der bewusste Einsatz des apulischen Dialekts in Verbindung mit Erinnerungen und Riten, eine Kombination, die in ihrer Gänze aktuelle lieux de m8moire formuliert und das
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identitäre Bild der Region zum Ausdruck bringt. In Desiatis intertextuell unterfütterten und dokumentarisch belegten Landschaftsbeschreibungen invertiert der Autor ursprüngliche Heterotopien wie Friedhof, Fabrik oder Zug und formuliert die Südfrage neu. Roberto Saviano ist der Autor, der sich am explizitesten von postmodernistischem Schreiben abwendet und das ebenso klar verbalisiert wie sein Anliegen, die Realität zu erzählen. Thematisch widmet er sich schwerpunktmäßig kriminellen Organisationen, die den aktuellen glokalen Wirtschaftsmarkt unterwandern. Die von ihm erzählte Stadt Neapel in Gomorra ist dabei sehr eindeutig referenzialisiert, soll jedoch auch als Exempel für vergleichbare Metropolen stehen. Die vom Autor in Anschlag gebrachten narrativen Strukturen sind fast immer im ›Plural‹ zu sehen. Der Genremix ist kein Produkt postmodernistischer Spielerei, sondern setzt gezielt auf eine Narrativisierung von Fakten durch unterschiedliche Herangehensweisen, die zu einem höheren Verständnis beim Leser führen soll. Auch der Plot unterliegt mehreren Handlungslinien, ist jedoch nicht wie in der Kritik postuliert zufällig oder inexistent. Es überlagern sich geographische und thematische Strukturen; das Werk operiert mit einem erzählenden (Ich) und einem erzählten Protagonisten (Ware). Der in der Rezeption am stärksten wahrgenommene und diskutierte Ich-Erzähler, der sichtbar ein Autor-Erzähler ist, stellt ein starkes post-postmodernes Subjekt dar, das mit autobiographischen Elementen als Medium im Text agiert und den Leser führt. Die Nebenfiguren haben vermehrt nur Dummy-Status, werden in ihren Geschichten jedoch von dem erzählenden Ich absorbiert und erhalten so eine Stimme. Es bildet sich eine moderne Form choralen Erzählens als modus dieser neuen realistischen Tendenz heraus. Die sich immer stärker zuspitzende Kapitalismuskritik äußert sich in einer Anthropomorphisierung von Stadt und Ware und einer Reifizierung der dargestellten Personen. Diese Themen und Strukturen werden maßgeblich durch eine zugunsten von Sinnkonstruktion und Tiefenwirkung umformulierte Intertextualität gestützt und finden ihren stärksten Vorläufer in Zola. Intertextualität bietet auch den Zugang zu einer expliziten textimmanenten Poetik Savianos, die in ihren Schwerpunkten die subjektive Wahrheit und verändernde Macht des Wortes formuliert. In der Thematisierung einer durch Fiktion geprägten und veränderten, aber durch Realität beherrschten Welt Neapels, greift Saviano postmodernistische Gedanken wie die Idee des Simulakrums oder der Hyperrealität auf, demontiert sie aber zugunsten einer sich indiskutabel Bahn brechenden Realität. Er lässt damit im Text zum einen ebenfalls eine aktuelle Realität nach Merten zur Darstellung kommen, zum anderen schließt er an Konzepte von Somigli, Ferraris oder Eco an, die das Widerständige und den Tod als Basis eines neuen Realismus verstehen. In diesem Akt legitimiert Saviano gleichzeitig seine Poetik, die auf Handlung und Eingriff in die gegenwärtige Realität abzielt.
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Namensregister
Abate, Carmine 81, 95, 411 Abirached, Robert 49 Adamo, Giuliana 101, 137, 170 Adinolfi, Gerardo 20 Agamben, Giorgio 232 Albers, Irene 52–53, 255, 356–358, 361 Alighieri, Dante 15, 106–117, 129, 231– 232, 314, 371 Alvaro, Corrado 56, 211, 213, 246–247, 276 Amato, Bruno 370 Ammaniti, Massimo 103 Ammaniti, Niccolk 12, 17–18, 31–33, 79, 81, 89–90, 95, 99–112, 114–197, 410–412 Andolfo, Matilde 326, 370 Andree, Martin 395 Arcangeli, Massimo 109 Aristoteles 15, 46, 62, 116, 144–145, 337 Arnold, Klaus 87, 88 Asiaban, Christine 371 Asor Rosa, Alberto 14, 19, 32, 75, 203– 204, 410 Auerbach, Erich 15, 46, 64, 184 Aug8, Marc 259, 268–269 Bachtin, Michail M. 333–334 Bagnoli, Vincenzo 259 Bajani, Andrea 199 Balicco, Daniele 34 B#rberi Squarotti, Giorgio 128, 370 Barenghi, Mario 115 Baron, Christine 64 Barra, Francesco 209
Bartalesi-Graf, Daniela 319 Barthes, Roland 53–54, 66–67, 94, 287, 333, 336 Battaglia, Salvatore 57 Battistini, Andrea 242, 244 Baudrillard, Jean 391–393, 397, 405 Bazzanella, Emiliano 39 Bazzocchi, Antonio 379 Becker, Sabina 85 Beckerath, Erwin von 205 Behler, Ernst 112 Belpoliti, Marco 60, 104 Ben Jelloun, Tahar 80 Benedetti, Carla 12, 70, 73–74, 76, 289, 292, 373, 376, 378, 384–385, 410 Benevento, Aurelio 294 Benjamin, Walter 144, 319, 386 Berardinelli, Alfonso 14, 28, 33, 36, 92, 338, 374 Bernard, Claude 343, 358, 365–366 Bertini, Anna 293 Bertoni, Clotilde 85, 301–302 Bertoni, Federico 13, 50–51, 59, 65–67 Bescherer, Peter 174 BessiHre, Jean 64 Bevilacqua, Piero 209 Biazzo Curry, Corrada 251 Bigazzi, Roberto 66, 94, 408 Boldrini, Anna 210 Bonifazio, Paola 177, 182 Bonini, Carlo 78–79 Bordoni, Carlo 174–175 Borgese, Giuseppe Antonio 56
446 Borsk (Borsk-Borgarello), Vittoria 58– 59, 341, 348, 350 Bozzi, Francesco 293 Bremer, Thomas 180, 184 Briganti, Annarita 99 Brockmeier, Peter 117, 121 Broich, Ulrich 333–335 Brolli, Daniele 102–103, 105, 110 Bronzini, Giovanni Battista 213, 215 Brunetta, Gian Piero 86 Buffoni, Franco 200 Bukowski, Charles 109, 115 Calabrese, Stefano 34, 316 Calcavecchia, Chiara 100, 104 Calvino, Italo 19, 31, 56–59, 70, 83, 86, 92, 94, 99, 113–114, 175, 185–190, 192, 196– 197, 407, 410–411 Caprara, Fulvia 228 Capuana, Luigi 47, 50–52, 55, 121, 143– 144, 167, 194, 211, 379, 411 CardeÇa, Etzel 165 Carlino, Maria Luisa 100, 106 Casadei, Alberto 37, 67, 107, 112, 300, 306, 316, 339, 344, 377, 383, 388, 398 Casini, Silvia 100 Cassac, Michael 55–56, 59 Cassese, Sabino 207–210 Castaldi, Simone 90, 96, 114 Catalano, Ettore 204–205, 233, 237, 251 Cavaluzzi, Raffaele 56 Cesari, Severino 105 Ceserani, Remo 13, 26–28, 30–31, 121, 407 Chamarat, Gabrielle 53 Chimenti, Dimitri 336 Colby, Georgine 120 Collodi, Carlo 314–316 Comte, Auguste 243, 358, 365 Conrad von Heydendorff, Christiane 398 Conterno, Chiara 35 Conti, Eleonora 287 Corbisiero, Antonio 81 Cordazzo, Isadora 183 Cortellessa, Andrea 281–283, 286–287, 292
Namensregister
Cortez, Donoso 43 Covacich, Mauro 28, 71–72 Croce, Benedetto 209, 274 Crovi, Raffaele 210–213, 239 Cucchi, Maurizio 32 D’Arcais, Paolo Flores 226 D’Arcangelo Liviano, Giancarlo 200 D’Arrigo, Stefano 252, 261–262, 278 Dahms, Christiane 166 Dainotto, Roberto M. 56, 61 Dal Lago, Alessandro 288, 300–301, 324, 331, 340, 342 Dalmas, Davide 33 Darra, Daniele 35 De Blasi, Nicola 204, 367 De Cataldo, Giancarlo 78–79, 83, 95, 410 De Core, Francesco 290 De Crescenzo, Assunta 213 De Marchi, Emilio 121 De Martino, Ernesto 222, 242 De Rooy, Ronald 114, 149 De Sanctis Ricciardone, Paola 371 De Seta, Cesare 258 De Silva, Diego 60, 77–79, 95, 101, 296, 368, 398, 410 Deeds Ermath, Elisabeth 76 Deleuzes, Gilles 185 DeLillo, Don 13 Derrida, Jacques 27, 29–30, 70, 304 Desiati, Mario 17–19, 36, 75, 80–82, 95, 199–279, 410–413 De Viti, Antonio 209 Di Giacomo, Antonio 204 Di Paolo, Paolo 99 Di Stefano, Paolo 107 Dickie, John 295, 309 Dilthey, Wilhelm 307–308, 400 Donadio, Rachel 282 Donnarumma, Raffaele 26–27, 33, 38, 65, 70–74, 286, 292, 307, 373–374, 379–380 Dorso, Guido 209 Dostoevskij, F[dor Mihajlovicˇ 185, 224, 286 Doubrovsky, Serge 302, 304–305 Dufief, Pierre-Jean 53
447
Namensregister
Easton Ellis, Bret 120 Eco, Umberto 14, 16, 28, 30–32, 38–43, 63, 65, 92–94, 154, 161–162, 336, 391– 392, 395, 397, 405, 407–408, 413 Ehlers, Fiona 289 Engels, Friedrich 174 Epifani, Maria Antonietta 255–256 Esposito, Maurizio 382 Fabbri, Davide 103 Fabbri, Paolo 285, 315, 385, Farinelli, Giuseppe 115 Ferraris, Maurizio 16, 29, 37–43, 63–65, 71, 93–95, 407–408, 410, 413 Ferroni, Giulio 17, 88–89, 92, 95–96, 398, 409 Feyerabend, Paul 29 Firlej, Agnieszka 106, 109–111 Fischer, Carolin 117 Flaubert, Gustave 47–48, 50–51, 54, 67, 135 Fontaine, Dominique 392 Fontanella, Luigi 56, 58, 61 Forgacs, David 35 Fortunato, Giustino 201, 209–210, 216, 227, 237, 245, 274, 276, 412 Foschini, Giuliano 229, 265 Foster, Hal 33, 92 Foucault, Michel 42, 263–264, 266, 268, 279, 304 Francese, Joseph 62 Franchetti, Leopoldo 209 Fukuyama, Francis 30 Gabriel, Markus 39 Gaetano, Pascale 321 Galasso, Giuseppe 205–208 Gallippi, Franco 289, 373, 380, 383 Gatti, Laura 289 Geisser, Franziska 224 Genette, G8rard 21, 305, 337–338, 381, 390, 402 Genna, Giuseppe 14, 27, 72, 200 Geyer, Paul 304 Ghelli, Samuel 293, 322, 374, 378, 388 Giannola, Adriano 207
Giglioli, Daniele 17, 81–83, 90, 95, 301– 302, 344, 409 Giordano, Emilio 261 Giordano, Paolo 75, 200, 410 Giovannetti, Paolo 281, 283 Girard, Ren8 117, 122, 155, 158 GiuH, Rosario 382 Giura Longo, Raffaele 210 Gnisci, Armando 80 Goethe, Johann Wolfgang von 316, 395 Goldmann, Julius 268–269 Grabienski, Olaf 109–110, 114 Gramsci, Antonio 209 Grasso, Aldo 154, 161, 285 Green, Michael 107–108 Griffo, Maurizio 210 Grimaldi, Mirko 251–252 Grimm, Jürgen 395 Grimminger, Rolf 144 Grochowska, Anna 251–252 Gronemann, Claudia 304–305 Gubert, Carla 61 Gurisatti, Giovanni 39 Haas, Hannes 86, 88 Halliday, Jon 181–182, 184 Harman, Graham 38 Hassan, Ihab 30 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 112– 113, 316, 335 Hegerl, Ulrich 395 Hellmann, John 87 Helmstetter, Rudolf 47, 84, 87–89, 91 Höfner, Eckhard 65 Huss, Bernhard 99, 120 Huyssen, Andreas 25–27, 30 Imarisio, Marco 284 Inglese, Andrea 288 Jakob, Michael 218 Jameson, Fredric 13, 27–28, 30–31, 33–36 Jarry, Alfred 395 Jerez, Jos8 Luis 38 Jung, Fernand 106
448
Namensregister
Kaiser, Elke 366 Kant, Immanuel 40, 42–43, 93, 308, 363, 386, 404 Khouma, Pap 81, 411 Kilian, Sven Thorsten 145–146, 148, 158 Kleinert, Susanne 128 Kleinhans, Martha 81 Klettke, Cornelia 129, 140, 145 Klüver, Henning 38 Koch, Thomas 244 Kohut, Karl 384 Kollmann, Susanne 34 Korthals, Holger 143 Kött, Martin 85, 292 Krieg, Judith 131–132, 136, 139–140 Kristeva, Julia 70, 110, 333–334, 337, 402 Landa, Manuel de 38 La Porta, Filippo 101 Lacis, Asja 319 Lamer, Annika 271 Lejeune, Philippe 302–304 Leogrande, Alessandro 205, 218, 225 Levi, Carlo 19, 56–57, 60, 204, 209–215, 219–220, 223, 229, 233, 236, 242, 269, 272, 274–275, 410, 412 Levi, Primo 56, 94, 285, 289, 315 Litherland, Kate 106 Lo Castro, Giuseppe 121–124 Lolli, Massimo 79, 95, 410 Lombardi, Chiara 340–341, 345, 360–361, 403 Longinus 360, 363 Lucamante, Stefania 113–114 Luperini, Romano 13, 16, 26–27, 30–37, 57, 66, 70, 72, 90, 92, 107, 288 Lupo, Salvatore 210 Luti, Giorgio 50, 56 Lyotard, Jean-FranÅois 27, 29–30, 33, 360 Machiedo, Mladen 60 Macr', Gabriella 11 Mahler, Andreas 259 Maistre, Joseph Marie de Manzi, Attilio 107 Manzon, Federica 200
42–43
Marchese, Dora 260 Marmo, Marcella 324 Marrone, Gianfranco 307 Martinez, Matias 335–336 Marx, Karl 40, 120, 173–174, 344–345 Maupassant, Guy de 47–51, 54 Meizoz, J8rime 374 Merten, Klaus 17, 87–91, 95, 164, 398, 409, 412–413 Meurer, Ulrich 259 Migliaccio, Francesco 299, 340, 362 Mignone, Mario B. 28, 211 Missiroli, Marco 104 Missiroli, Mario 79 Moliterni, Fabio 212 Mondello, Elisabetta 32, 140, 142 Montesano, Giuseppe 342 Moresco, Antonio 32–33, 70, 73 Morris, Penelope 247 Murgia, Michela 79, 410 Nelting, David 16, 45–46, 50, 54, 56, 59, 67, 86, 107, 175, 186, 380–381 Neuberger, Christophe 87–88 Nietzsche, Friedrich 40–43, 93, 408 Nitti, Franceso 240 Nocentini, Claudia 186 Nora, Pierre 249–250, 255, 277 Nove, Aldo 25, 28, 31–33, 72–73, 79, 90, 95, 106, 110–112, 114–115, 410 Oei, Bernd 178, 243 Osterhammel, Jürgen 243 Ott, Christine 306 Paci, Viva 149 Pallavicini, Piersandro 75 Palumbo Mosca, Raffaello 283, 285, 301, 306, 311, 316–317, 375 Paolino, Marco 209–210 Parente, Massimiliano 203 Pascale, Antonio 326 Pasolini, Pier Paolo 19, 21, 57, 61–62, 70, 79, 94, 106, 117, 175–185, 187, 196–197, 199, 203, 252, 287, 289–290, 298, 316,
Namensregister
318, 332, 338–339, 373–383, 388, 402, 404, 410–411 Pasquini, Lucia 210 Patti, Emanuela 62, 176 Pavese, Cesare 56, 59, 211, 332, 370 Pellini, Pierluigi 46, 69, 292–293, 300, 325–326, 339, 355, 365, 375 Perusˇko, Tatjana 137 Pessina, Emanuela 154 Petrarca, Francesco 232 Pfister, Manfred 332, 334–336 Phillips, David P. 395 Picamus, Daniela 141, 155–156, 170 Pichler, Doris 393–396 Pirandello, Luigi 11, 170–172, 211, 213, 398 Pischedda, Bruno 107 Placido, Beniamino 154 Platon 15, 29, 40, 46, 62, 67–68, 342 Pocci, Luca 289–290 Poggi, Stefano 39 Polese, Ranieri 115, 141, 201, 216–217 Policastro, Gilda 70, 289, 292 Prada, Vittorio 28–29, 226 Prudenzano, Antonio 237–239 Raccis, Giacomo 305–306 Rajeswky, Irina O. 31–32, 89–90, 95, 106, 108–111, 118, 304, 336, 389 Räwel, Jörg 113 Re, Lucia 186 Regn, Gerhard 21, 30, 167, 332 Reichel, Kristin 188 Reverzy, Pl8onore 350 Riccardi, Andrea 154 Ricciardi, Stefania 289 Richard, Nathalie 366 Rinaldi, Antonio 290 Rivoletti, Christian 289 Rollo, Alberto 185 Roos, Hans Dieter 184–185 Rosa, Giovanna 142, 167 Rossi-Doria, Manlio 209, 213, 241, 274 Rovatti, Pier Aldo 29, 39 Sabbatino, Pasquale 380 S#ez-Llorens, Xavier 166
449 Salvemini, Gaetano 209, 240 Santagostini, Mario 200 Santoro, Lara 367–368 Santoro, Vito 74, 92 Sartre, Jean-Paul 384–385, 387 Saviano, Roberto 14, 17–21, 40, 69, 75– 76, 79, 91–92, 95–96, 199–200, 203, 209, 245, 281–302, 306–332, 336–405, 410– 413 Scarpa, Tiziano 31–32, 90, 112, 114, 326 Schade, Sigrid 219 Schaefer, Christina 304–305 Schehr, Lawrence R. 63 Schenk, Irmbert 85 Schimmel, Annemarie 386 Schmeling, Manfred 259 Schmitz-Emans, Monica 259 Schödel, Kathrin 34 Scholler, Dietrich 32, 81, 84, 88, 143–145, 340, 346–347, 398 Schrader, Sabine 90, 111–112, 115 Schulte-Middelich, Bernd 333–335 Schwaderer, Richard 81 Scipioni, Chiara 100 Scotellaro, Rocco 19, 57, 204, 212–215, 236, 239–244, 274–277, 412 Scurati, Antonio 17, 81–84, 88, 90, 95, 316, 409 Sebastio, Leonardo 233 Seeßlen, Georg 105–106, 110 Selbmann, Rolf 316 Selvaggi, Caterina 286–287 Senior, Kathryn 294 Sennett, Richard 342–343 Serao, Matilde 85, 128, 342–343, 371 Serkowska, Hanna 28, 307 Shakespeare, William 146 Short, Samuel 227 Simbürger, Brigitta Elisa 60 Simonetti, Gianluigi 71 Sinibaldi, Marinon 107–108 Siti, Walter 70–71, 74–75, 285–286, 306, 381, 410 Sollazzo, Federico 179–180 Somigli, Luca 37, 397, 413 Sorrentino, Piero 200
450
Namensregister
Spiegel, David 165 Spieker, Annika 355 Spinazzola, Vittorio 34, 69, 92 Spitzer, Leo 323, 329 Standing, Guy 173–174 Stöber, Thomas 45 Swennen, Myriam 61, 176 Taglietti, Cristina 104 Taine, Hippolyte 48, 365, 366 Tarchetti, Igino Ugo 121 Taticchi, Paolo 227 Tempesta, Immacolata 251 Terravecchia, Gian Paolo 39 Thode, Anna Charlotte 205–207 Todorov, Tzvetan 64 Tonelli, Flavio 227 Tranfaglia, Nicola 213 Trecca, Michele 203 Trocino, Alessandro 20, 282 Ulivi, Stefania
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Valerio, Chiara 216 Vattimo, Gianni 29, 35, 39, 92 Vecchio, Benedetto 13 Verga, Giovanni 47–48, 51–52, 54–55, 69, 121–128, 176, 193, 211, 213, 216, 221, 237, 251, 260, 274, 277–278, 323–324, 326, 329, 379, 401, 409, 411, 412 Vergata, Isabella 319 Viano, Maurizio 181 Viesti, Gianfranco 207–208 Villalta, Gian Mario 77 Villari, Pasquale 208–210, 274
Vinken, Barbara 51 Vitti, Antonio 56, 61 Vittorini, Elio 56–57, 59, 86, 211, 213, 274 Vöchting, Friedrich 206 Vogel, Berthold 174–175 Voltoni, Dario 33, 70 Wagner, Birgit 181–182 Wagner, Monika 219 Wagner-Egelhaaf, Martina 303 Wagstaff, Christopher 86 Wallisch, Gianluca 88 Warning, Rainer 16, 45–46, 53, 64, 264, 348 Weigel, Sigrid 219 Weigel-Klinck, Nicole 396 Welsch, Wolfgang 394 Wertheimer, Jürgen 116–117 Wetzel, Dietmar J. 36–37 Wetzel, Michael 393 Wiedner, Saskia 305 Wieseler, Max 105–106 Willson, Perry 247 Witte, Karsten 180 Wocher, Martin 206 Wolfe, Tom 86 Wu Ming 1 326 Ziegler, Walther 395 Zima, Peter V. 333–336, 343 Zipfel, Frank 291 Zola, Pmile 21, 47–49, 51–55, 69, 71–72, 85, 143, 178, 271, 287, 329, 332, 338, 339–343, 345–352, 354–363, 365–366, 373, 375, 379, 402–403, 409, 413