Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur: Ein struktural-funktionaler Entwurf 9783110962031, 9783484350212


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German Pages 195 [196] Year 1988

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Table of contents :
Vorwort
Probleme und Perspektiven einer theoretisch-systematischen Grundlegung für eine ›Sozialgeschichte der Literatur‹
Sozialgeschichte der Literatur. Neuere Konzepte der Literaturgeschichte und Literaturtheorie. Zur Standortbestimmung des Untersuchungsmodells der Münchener Forschergruppe
1. Neuere Orientierungen in der Literaturgeschichtsschreibung
2. Zum gegenwärtigen Stand der Theoriebildung für eine Sozialgeschichte der Literatur
3. Zum theoretischen und forschungspragmatischen Status des Münchener Untersuchungsmodells
4. Theoretisch fundierte Konzeptionen einer Sozialgeschichte der Literatur. Das Modell der Münchener Forschergruppe im Vergleich
4.1. Werkästhetisch akzentuierte Ansätze
4.2. Konzeptionen der literarischen Institution
4.3. Kommunikations- und handlungstheoretisch fundierte Konzeptionen
Konzept eines struktural-funktionalen Theoriemodells für eine Sozialgeschichte der Literatur
1. Theoretische Voraussetzungen einer Sozialgeschichte der Literatur: Einige Grundzüge diachroner Modellbildung (Claus-Michael Ort)
1.1. Literarischer Wandel als sozialer Wandel
1.2. Komponenten eines Mehrebenenmodells für das Sozialsystem ›Literatur‹
1.3. Sozialer Wandel als interaktiver Mehrebenenprozeß
1.4. Fünf theoretische Forderungen an ein Synchroniemodell für das Sozialsystem ›Literatur‹
2. Das Systemmodell nach Talcott Parsons: Handlungstheorie und Systemtheorie (Claus-Michael Ort)
2.1. Zum Systembegriff bei Parsons: Funktionale Differenzierung und soziale Integration
2.2. Die vier Handlungssubsysteme: Subsystembeziehungen und Handlungsmedien (Systemebene S0)
2.3. Die vier Subsysteme des Sozialsystems ›Gesellschaft‹ Subsystembeziehungen und soziale Interaktionsmedien (Systemebene S1)
3. Komponenten eines struktural-funktionalen Mehrebenenmodells für das Sozialsystem ›Literatur‹
3.1. Konstruktionsprobleme eines objektbereichspezifischen Systemmodells (Claus-Michael Ort)
3.2. Die intermediäre Struktur des Sozialsystems ›Literatur‹: Interne Subsysteme und ihre Beziehungen (Systemebene S2) (Friederike Meyer)
3.3. Die aktorbezogene Mikrostruktur des Sozialsystems ›Literatur‹: Interne Handlungssubsysteme und ihre Beziehungen (Systemebene S3) (Friederike Meyer)
4. Vorbereitende Bemerkungen zu einem Diachroniemodell (Claus-Michael Ort)
Literaturverzeichnis
Personenregister
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Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur: Ein struktural-funktionaler Entwurf
 9783110962031, 9783484350212

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STUDIEN UND TEXTE ZUR DER LITERATUR

SOZIALGESCHICHTE

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil

Band 21

Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur Ein struktural-funktionaler Entwurf Herausgegeben im Auftrag der Münchener Forschergruppe »Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770-1900« von Renate von Heydebrand, Dieter Pfau und Jörg Schönert

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur : e. struktural-funktionaler Entwurf / hrsg. im Auftr. d. Münchener Forschergruppe „Sozialgeschichte d. Dt. Literatur 1770-1900" von Renate von Heydebrand ... - Tübingen : Niemeyer, 1988 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 21) NE: Heydebrand, Renate von [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-35021-0

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: pagina GmbH, Tübingen. Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Einband: Heinr. Koch, Tübingen.

Inhaltsverzeichnis

RENATE VON HEYDEBRAND, Vorwort

VII

DIETER PFAU / JÖRG SCHÖNERT, Probleme und Perspektiven einer theoretisch-systematischen Grundlegung für eine >Sozialgeschichte der Literatur
Literatur
Literatur
Gesellschaft: Subsystembeziehungen und soziale Interaktionsmedien (Systemebene Sj) 3. Komponenten eines struktural-funktionalen Mehrebenenmodells für das Sozialsystem >Literatur< 3.1. 3.2.

3.3.

Konstruktionsprobleme eines objektbereichspezifischen Systemmodells (Claus-Michael Ort) Die intermediäre Struktur des Sozialsystems >LiteraturLiteratur^ Interne Handlungssubsysteme und ihre Beziehungen (Systemebene S3) (Friederike Meyer)

4. Vorbereitende Bemerkungen zu einem Diachroniemodell (Claus-Michael Ort)

90 94 103 104 113 122 131 131

141

152 163

Literaturverzeichnis

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Personenregister

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Vorwort

Der vorliegende Band dokumentiert die ersten Phasen eines größer angelegten Versuchs, für Einzelstudien wie für übergreifende Darstellungen einer >Sozialgeschichte der Literatur< eine theoretische Grundlegung zu schaffen. Anlaß für diesen Versuch waren zunächst nicht so sehr wissenschaftstheoretische Interessen, sondern die Gegebenheiten der »Münchener Forschergruppe für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770-1900«. In ihr hatten sich, wie bereits im Vorwort zu ihrer ersten Sammelpublikation - Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Jahrhundertwende (Tübingen 1985) - dargestellt, eine Reihe sozialgeschichtlich arbeitender Literaturwissenschaftler, beraten von Soziologen und Historikern, zusammengeschlossen und - von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert - Einzelprojekte zur Literaturgeschichte verfolgt. Die Vielfalt der Phänomene und Prozesse, die in diesen vorwiegend empirisch-hermeneutisch angelegten Projekten erforscht wurden, provozierte sehr bald die Frage nach den meist unausgesprochenen Annahmen über kausale oder funktionale Zusammenhänge zwischen der Literatur, den Vorgängen und Institutionen des literarischen Lebens und den historisch-gesellschaftlichen Verhältnissen überhaupt sowie nach den Bedingungen historischen Wandels in diesen Bereichen und Beziehungen. Die Projekte brachten dazu eine Fülle von Material und Hypothesen hervor; sie zu strukturieren und übergreifend zu systematisieren wurde zu einer Aufgabe, die nur mit Hilfe eines relativ abstrakten theoretischen Rahmens lösbar schien. So verbanden sich einige Projektleiter und wissenschaftliche Mitarbeiter zu einer »Theoriegruppe«; neben den Herausgebern haben besonders Georg Jäger, der auch dieses Vorwort mitverantwortet, sowie Monika Dimpfl, Werner Hahl und John Ormrod mitgearbeitet und ihre theoretische Kompetenz wie ihr historisches Wissen eingebracht. Im übrigen hat immer wieder die gesamte Forschergruppe verschiedene Fassungen des Konzepts interessiert und kritisch diskutiert. Jörg Schönen und Dieter Pfau haben die Entscheidung für einen struktural-funktionalen Ansatz in Anlehnung an die Systemtheorie von Talcott Parsons getroffen und damit eine, bei allen gebotenen Modifikationen, feste Anbindung der Sozialgeschichte von Literatur an die Soziologie gesichert. Als das Projekt, auf dieser Basis, noch für insgesamt zweieinhalb Jahre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft als eigenständige Unternehmung gebilligt wurde, hat zunächst Bernhard Jendricke die konzeptionellen und terminologischen Abgrenzungen zwischen dem Münchner Entwurf - allerdings

VIII

Vorwort

auf dem vorläufigen Stand von 1983 - und vergleichbaren Ansätzen in Literaturtheorie und -geschichtsschreibung deutlich zu machen gesucht. Nach ihm haben Friederike Meyer und Claus-Michael Ort die konstruktive Adaption und Variation von Parsons und anderen Vertretern der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie für ein synchrones Modell der Zusammenhänge im Sozialsystem >Literatur< und seiner Verbindungen zu den Vorgängen der Gesamtgesellschaft - unter anderem auch durch den Brückenschlag zur Semiotik - geleistet. Die Perspektive historischen Wandels konnte vorerst nur angedeutet werden. Allen Beteiligten ist klar - und war von Anfang an klar, daß sie mit dem neuen Konzept den zumeist theoriemüden und im soziologisch-systemtheoretischen Denken ungeübten Fachkollegen einiges zumuten. Die Frage, ob die Anstrengung, sich hier einzuarbeiten, die Mühe lohne, der Einwand, daß sozialhistorisch doch recht gut auch ohne ein solches Modell gearbeitet werden könne, kam wiederholt auch aus der Forschergruppe selbst. Die Herausgeber und Mitarbeiter am Projekt dagegen betonen, u. a. gestützt auf eigene Erfahrungen in Vorlesungen und Seminaren, daß das Modell für den Beobachtungsbereich der Sozialgeschichte von Literatur einen hohen heuristischen Wert hat: es verhindert vorschnelle Korrelationen, öffnet den Blick für bisher nicht gesehene Verbindungsmöglichkeiten, macht Forschungslücken in großer Zahl sichtbar und fordert insgesamt zu einem ebenso reflektierten wie kontrollierten methodischen Verfahren heraus. Bei alledem ist freilich unbedingt festzuhalten: Das Modell kann seinen Wert für die historische Analyse erst erweisen, wenn einerseits durch die Einarbeitung von kompatiblen Theorien zu übergreifenden gesellschaftlichen Prozessen auch die Wandlungsperspektive voll entwickelt sein wird, und wenn andererseits wenigstens für die wichtigsten Epochenschwellen in unserem Zeitraum, also um 1770 und um 1900, exemplarische historische Fallstudien vorliegen. An beidem wird - in Dissertationen und in Veröffentlichungen der Herausgeber - weiter gearbeitet. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft und ihren Gutachtern sei abschließend dafür gedankt, daß sie unsere Arbeit mit wichtigen Anregungen, mit produktiver Kritik und nicht zuletzt durch die Gewährung finanzieller Mittel - bis hin zum Druckkostenzuschuß für diesen Band - unterstützt haben. Renate v. Heydebrand

Dieter Pfau / Jörg Schönen

Probleme und Perspektiven einer theoretisch-systematischen Grundlegung für eine >Sozialgeschichte der Literatur< l. Der Rückenwind, den seit Ende der 60er Jahre Theorie-Diskussionen in der Literaturwissenschaft gespürt und genutzt haben, hat sich heute gelegt. >Theoriemüdigkeit< macht sich breit, so daß selbst dort nicht mehr theoretisiert wird, wo theoretische Besinnung und Grundlegungen notwendig wären.1 Gleichzeitig mit dem Engagement für >Theorie< entwickelte sich in der Germanistik der Bundesrepublik das Interesse an einer >Sozialgeschichte der Literature Es fand vor allem in den neuen Literaturgeschichten, die seit Ende der 70er Jahre erscheinen, ein breites Aktionsfeld. Daß dabei Literaturgeschichte als >Sozialgeschichte der Literatur< geschrieben wurde, ehe überhaupt die theoretischen Grundlagen und methodischen Prämissen hinreichend diskutiert und formuliert waren, hat der Neuorientierung erheblich geschadet.2 Dem ersten Anschein nach ist das landauf, landab verkündete Programm bereits verschlissen, noch ehe es eigentlich theoretisch begründet und systematisch ausgearbeitet wurde.3 Angesichts solcher Erfahrungen hatte die Münchener Forschergruppe 1981 die Anregungen der DFG-Gutachter-Kommission aufgegriffen, nach den er1

Vgl. zur Stimmung in der scientific community< der Bundesrepublik etwa Kursbuch 78 (1984) mit dem ironischen Titel »Lust an der Theorie«. 2 Vgl. beispielsweise die folgenden Besprechungen: Anz, Thomas (1980): Auf der Suche nach dem ganzen Bild. Anmerkungen zu den neuen Sozialgeschichten der deutschen Literatur, in: Süddeutsche Zeitung, 4. Nov. 1980. Hinck, Walter (1981): In jedem Buch steckt ein weiteres Buch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Febr. 1981. Auch in: W. H.: Germanistik als Literaturkritik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 281-288. Kreutz, Wilhelm (1981): Der lange Abschied von der Autonomie der Literatur. Zur >Renaissance der Literaturgeschichte als SozialgeschichteTheorie-Projekt< zu beantragen und zu betreiben. Damit waren die organisatorischen Möglichkeiten geschaffen, um die theoretischen Überlegungen, die bis dahin - mehr oder weniger intensiv - in den Einzelprojekten und bei den Kolloquia der Forschergruppe geleistet wurden,4 in einem systematisch entwickelten und theoriegeleiteten Untersuchungsmodell zusammenzufassen und weiterzuführen. Vor allem zwei Perspektiven mußten dabei verfolgt werden: Zum einen war der interdisziplinäre Ausgriff - im Blick auf Soziologie und Sozialgeschichte ernstzunehmen, zum anderen sollten die Ansprüche des Theorie-Projekts mit den Erfahrungen und Ergebnissen der historischen Arbeit in den Teilprojekten vermittelt werden, um wechselseitig Vorgaben und Korrekturen einzubringen. Bei diesem Vorgehen hat es sich als notwendig erwiesen, unser Untersuchungsmodell einerseits so zu entwerfen, daß der synchrone Zusammenhang von literarischen und gesellschaftlichen Prozessen thematisiert werden kann. Andererseits war darauf zu achten, daß über die detaillierte Ausarbeitung der synchronen Beziehungen nicht die Perspektiven der Diachronie, die Prozeßdimensionen des Modells beschnitten würden. Sie wären in einer Weiterführung des hier vorzustellenden Theorieprojekts zur zweiten, >historischem Achse des Untersuchungsmodells zu entwickeln.5 Der forschungspraktische Wert unseres Konzeptes kann sich letztlich erst in der literarhistorischen Anwendung zeigen. Die Diskussionen über eine Neubegründung der Literaturgeschichtsschreibung, die 1967 mit der Konstanzer Universitätsrede von Hans R. Jauß (Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft) begonnen und in den 70er Jahren verstärkt sowohl in der Bundesrepublik wie in der DDR 4

Zum frühen Stadium der Theorie-Entwürfe vgl. das Kapitel »Zu einem strukturfunktionalistischen Untersuchungsmodell für die Sozialgeschichte der Literatur« in: Schönen, Jörg (Hrsg.) (1983a): Literatur und Kriminalität. Tübingen: Niemeyer 1983, S. 33-46. 5 Vgl. dazu im Beitrag von Friederike Meyer u. Claus-Michael Ort (in diesem Band) die Abschnitte 1.1 bis 1.3. und 4; zudem: Ort, Claus-Michael (1985): Problems of Interdisciplinary Theory-Formation in the Social History of Literature. In: Poetics 14, 1985, No. 3/4, S. 321-344. Intra- und intersystematische Austauschprozesse, wie wir sie im Sozialsystem >Literatur< sowie zwischen dem Literatur-System und anderen gesellschaftlichen SubSystemen verfolgen wollen, sind ohnehin ohne Zeitdimension nicht darstellbar. Allerdings ergeben sich für eine Sozialgeschichte der Literatur - je nach theoretischer Orientierung - wesentliche Unterschiede in den Zeitkonzepten (etwa von den Zeitstrukturen sozialer Systeme bis hin zum Zeitkonzept aktororientierter Ereignisgeschichte). Vgl. zum Problemkreis u. a. Bergmann, Werner (1981): Die Zeitstrukturen sozialer Systeme. Berlin: Duncker und Humblot 1981; Luhmann, Niklas (1973): Weltzeit und Systemgeschichte, in: N. L: Soziologische Aufklärung. Bd. 2. Opladen: Westdeutscher Vlg. 1975, S. 103-133; Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984; Schöps, Martina (1980): Zeit und Gesellschaft. Stuttgart: Enke 1980; Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas (1975): Die zeitliche Struktur der alltäglichen Lebens weit, in: A. Sch./Th. L: Strukturen der Lebenswelt. Neuwied: Luchterhand 1975, S. 61-73.

Grundlegung für eine >Sozialgeschichte der Literatur*

3

geführt wurden,6 hatten folgende Schwerpunkte: Fragen zum Literaturbegriff und damit auch zum Gegenstandsbereich für die Geschichte von >LiteraturMakro- und Mikroanalysen^ Werk- und Systemgeschichte, Ereignis- und Prozeßgeschichte, Modelle zur literarischen Evolution und zur Gliederung des Entwicklungsablaufes in Perioden, Epochen usf., Fragen der Kanonbildung und Wertung). Mit der Wahl und Ausarbeitung unseres Untersuchungsmodells haben wir einzelne Fragestellungen aus dem skizzierten Spektrum favorisiert. Damit sind Festlegungen getroffen, die wir im Blick auf die Ziele der historischen Arbeit in der Forschergruppe und unter forschungsstrategischen Aspekten - also in der gegenwärtigen Situation der Literaturwissenschaft - als sinnvoll und nützlich erachten. Wir erheben durchaus nicht den Anspruch eines umfassenden theoretischen Entwurfs. Unser theoriegeleitetes Modell übernimmt Theorie-Vorgaben aus der Sozialwissenschaft und entwickelt sie weiter für den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft. Dieses Vorgehen zielt vorerst noch nicht auf eine selbständige >Theorie der Literatun oder eine Theorie zum Verlauf literaturgeschichtlicher Prozesse. Wir können und wollen zunächst nur eine differenzierte Untersuchungspraxis systematisch begründen und kontrolliert entfalten. Dazu waren eine Reihe von Vorentscheidungen notwendig.

1.

Zum Literaturbegriff

Wir gehen von einem handlungs- und systemorientierten Verständnis der Literatur aus und sehen als Gegenstand einer >Sozialgeschichte der Literatur< den Zusammenhang von literarischen, literaturbezogenen und weiteren gesellschaftlichen Interaktionen, soweit diese als soziale Handlungssysteme rekonstruiert werden können.8 Damit sind zum einen Kommunikations*Vgl. dazu Müller, Jan-Dirk (1982): Literaturgeschichte/Literaturgeschichtsschreibung, in: Dietrich Harth/Peter Gebhardt (Hrsg.): Erkenntnis der Literatur. Stuttgart: Metzler 1982, S. 195-227. Schönert, Jörg (1983): Neuere theoretische Konzepte in der Literaturgeschichtsschreibung. Positionen, Verfahren und Probleme in der Bundesrepublik und DDR, in: Thomas Cramer (Hrsg.): Sprache und Literatur im historischen Prozeß. Bd. 1. Tübingen: Niemeyer 1983, S. 91-120. Schönert, Jörg (1984): >Der letzte Band< - Gegenwartsliteratur als Problem für die Literaturgeschichtsschreibung, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 31, 1984, H. l, S. 4-14; sowie das Themaheft On Writing Histories of Literature (hrsg. v. Siegfried J. Schmidt) von Poetics (14, 1985, No. 3/4). 7 Vgl. zum Literaturbegriff im Sinne der Münchener Forschergruppe Heydebrand, Renate von (1984): Literarische Wertung, in: Klaus Kanzog/Achim Masser (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte Bd. 4. Berlin/New York: de Gruyter 1984, S. 828-871. 8 Die noch immer anzutreffende Position, Handlungstheorie und Systemtheorie als sich gegenseitig ausschließende Orientierungen aufzufassen, dürfte eigentlich seit Parsons' Integrationsversuchen unhaltbar geworden sein, vgl. dazu etwa: Klaus Türk

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Dieter Pfau / Jörg Schönen

Handlungen gemeint, die zum Entstehen von solchen Texten führen, die als literarisch angesehen werden, oder von diesen Texten ausgehen. Zum anderen beziehen wir uns auf Interaktionen, die literarische Verständigung ermöglichen, regeln, kontrollieren, fördern, verhindern usf. (>literaturbezogenes Handeln literarischen Handelns< zumeist um einen Interaktionstyp handelt, der nicht allein von einer der unterschiedlichen handlungstheoretischen Positionen, die von Sozialwissenschaften vorzugsweise verwendet werden, her entwickelt werden kann. Entwürfe der Verhaltenstheorie sind ebenso zu beachten wie solche des Funktionalismus, der Konflikttheorie, der verstehenden Soziologie oder des symbolischen Interaktionismus. Zumindest die funktionalistische (Parsons) und symbolisch-interaktionistische (Mead)9 Theorietradition müssen verbunden werden, um eine hinreichend komplexe Theorie literarischen Handelns zu erreichen. Zudem ergeben sich bei der Verständigung mit Hilfe von literarischen Texten zumeist Situationen asymmetrischer Kommunikation; die Rolle des vorzustellenden Kommunikationspartners ist oft nur aus Vorgaben der Texte - mit allen Beliebigkeiten des Textverstehens - zu erschließen. Literarisches Verständigungshandeln ist weithin von festen Einbindungen in alltägliche gesellschaftliche Interaktionen >entkoppelt< und die Steuerung durch interpretative Normen dominiert. Diese Konstellation wird bei der >objektspezifischen Aneignung< entsprechender Theorie-Elemente aus der Soziologie zu beachten sein.10 Die Orientierung am >Handlungssystem Literatur< begründet eine - Literaturgeschichte perspektivierende - >Sozialgeschichte der Literatur^11 Sie versteht sich nicht als Grundlegung der Literaturwissenschaft im Allgemei(Hrsg.) (1978): Handlungssysteme. Opladen: Westdeutscher Vlg. 1978; Richard Münch (1982): Theorie des Handelns. Zur Rekonstruktion der Beiträge von Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982. 9 Vgl. dazu jetzt Hans Joas (Hrsg.) (1985): Das Problem der Intersubjektivität. Neuere Beiträge zum Werk G. H. Meads. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985 (= stw 573). 10 Vgl. zu diesem Problemkomplex: Anz, Thomas (1984): Vorschläge zur Grundlegung einer Soziologie literarischer Normen, in: IASL9, 1984, S. 128-144. 11 Dieser Hinweis auf die >Partialität< der sozialgeschichtlichen Konzeption schützt unser Modell zumindest teilweise vor jüngst geschleuderten »Giftpfeilen« - vgl. Müller, Harro (1984): Einige Giftpfeile wären nicht schlecht. Zehn Einwürfe zum Zusammenhang von Geschichtstheorie, Hermeneutik, Literaturgeschichtsschreibung, in: Delfin 4, 1984, S. 77-83.

Grundlegung für eine >Sozialgeschichte der Literatur

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nen.12 Dennoch ergeben sich gegenüber dem traditionellen literaturwissenschaftlichen Zugang zu literarischen Texten erhebliche Abweichungen. Mit einer >ontologischen< und substantialistischen Auffassung vom >literarischen Werk< ist unser Ansatz nicht zu vermitteln; eher mit einem prozessualen Verständnis von Literatur, in dem Texte als Träger einer spezifischen - literarischen - Kommunikationsleistung gelten (wobei die Texte jedoch nicht einfach Information transportieren^. In unserer Sicht erscheint die >Differenzqualität< der literarischen Sinnverständigung gegenüber anderen Verständigungshandlungen vor allem als Resultat einer sozio-historisch variablen Zuschreibung für besondere Funktionen literarischer Kommunikation, die durch vielfältige Sozialisationsformen, Forderungen und Kontrollen weithin gesichert, wenn auch nicht determiniert werden. Die besonderen > Leistungen literarischer Verständigung können somit nicht aus dem >Wesen des Dichterischem oder aus überzeitlich gültigen Erscheinungsformen des >Kunstwerks< erklärt werden. Sie sind in variablen >situativen Kontexten< darzustellen, die sich in der Regel aus der Wechselwirkung von literarischem, literaturbezogenem und allgemein gesellschaftlichem Handeln ergeben. Da dieser Zusammenhang gerade für historische Situationen oft nicht mehr hinreichend zu rekonstruieren ist, sieht sich die sozialgeschichtliche Praxis der Literaturwissenschaft immer wieder darauf verwiesen, aus - entsprechend reflektierten - Textanalysen solche Konstellationen in Annäherungen zu ermitteln13 sowie der Verarbeitung von sozialgeschichtlichen Verhältnissen und Erfahrungen (oder auch nur den Spuren davon) in den Texten >interpretierend< nachzugehen - ohne jedoch dabei die literarischen Texte wie Quellenmaterial für den Historiker zu lesen oder gar als >Daten< zu benutzen.14 Die historischen Studien, die aus den Projekten der Forschergruppe hervorgegangen sind, folgen - mit unterschiedlichen Einschränkungen - diesem Prinzip.15 12

Darin unterscheidet sich unser Modell etwa von dem umfassenden Ansatz in Siegfried J. Schmidts Entwurf der »Empirischen Literaturwissenschaft«. - Vgl. dazu in diesem Band Bernhard Jendricke, S. 76-84. 13 Wissenschaftstheoretisch abzusichern ist diese Argumentation und Vorgehensweise beispielsweise durch Verweis auf: Wolfgang Stegmüller (1979): Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel. Stuttgart: Reclam 1979. 14 Freilich muß erst noch hinreichend begründet und theoretisch ausgearbeitet werden, wie in unserem Modell systemische Zusammenhänge von Handlungen und semantischen Systemen (als >Ergebnis< und >Ausgangspunkt< von Handlungen) im Kontext >Gesellschaft< aufeinander bezogen und analysiert werden können, vgl. dazu auch S. J. Schmidts »agent-text-context-syndrom« als Bezugspunkt literaturgeschichtlicher Darstellung: Schmidt, Siegfried J. (1985): On writing Histories of Literature. Some Remarks from a Constructivist Point of View, in: Poetics 14, 1985, No. 3/4, S. 279-301. Hier S. 296. - Vgl. insbesondere Meyer/Ort 1984 und Ort 1985. Damit sind Probleme angesprochen, die sich in dem an Parsons orientierten Modell lokalisieren, aber nur im Überschreiten seiner Grenzen lösen lassen. 15 Vgl. Häntzschel, Günter/Ormrod, John/Renner, Karl N. (Hrsg.) (1985): Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Von der Aufklärung bis zur Jahrhundertwende. Einzelstudien. Tübingen: Niemeyer 1985; ferner Schönen, Jörg (1983b): Kriminal-

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Dieter Pfau / Jörg Schönen

Im Kernbereich des >literarischen Handelns< ist ein besonderer Interaktionstyp zu beschreiben, für den - nach H. P. Dreitzels Klassifikationsschema für soziale Rollen16 - vorzugsweise das interpretative Handlungs- und Rollenmodell der Mead'schen Theorietradition und erst in zweiter Linie das integrative Handlungs- und Rollenmodell der Parsons'schen Theorietradition herangezogen werden kann, während das imperative Handlungs- und Rollenmodell Dahrendorfs nur in Ausnahmefällen eine zureichende Beschreibung und Analyse literarischer Sinnverständigung gestattet. Da alle drei Handlungs- und Rollenmodelle letztlich eine unzulässige Generalisierung begrenzter empirischer Erfahrungsbereiche^7 vornehmen, ist das angemessene Zuordnungsverhältnis der zur Analyse zu verwendenden Handlungs- und Rollenmodelle jeweils für die besondere historische Konstellation zu bestimmen. So ergeben sich - in idealtypischer Verkürzung - beispielsweise für Verständigungshandlungen unter den Aspekten von hochgewerteter Literatur, Unterhaltungsliteratur und belehrender Literatur unterschiedliche Strukturmuster in der Verteilung von Gestaltungs-, Qualitäts- und Vollzugsnormen. Sie sind abhängig von der Verteilung imperativer Herrschaftsnormen, integrativer kultureller Normen bzw. interpretativer Interaktionsnormen im jeweiligen literarischen Handlungssystem. Diese deskriptive und analytische Kombinatorik wäre weiter zu ergänzen - zum Beispiel durch Abstufungen der erwarteten Identifikation bzw. Ich-Leistungen seitens derjenigen, die am jeweiligen Handlungssystem beteiligt sind.18 Mit Hilfe einer solchen differenzierten Matrix könnten systemhafte Kommunikationsprozesse beschrieben werden, die sich zu typischen und relativ stabilen Konstellationen - im Sinne von >Teilsystemen< des Literatursystems - zusammenschließen lassen. Weiterhin wären die Zusammenhänge von abstrakten Deutungsmustern und Weltbildannahmen, von Gesellschaftsbild und Selbstbild in den verschiedenen gesellschaftlichen Erfahrungsbereichen und den zugeordneten Interaktionen literarischer Verständigung zu beschreiben und zu systematisieren.19 Weitere Möglichkeiten eröffnen sich bei der Diskussion der Zusamgeschichte in der deutschen Literatur zwischen 1770 und 1890. Zur Entwicklung des Genres in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft 9, 1983, H. l, S. 51-68; Schönert, Jörg (1985b): Identität und Alterität zweier literarischer Kulturen in der Bundesrepublik und in der DDR als Problem für eine interkulturelle Germanistik, in: Alois Wierlacher (Hrsg.): Das Fremde und das Eigene. München: iudicium 1985, S. 212-233. 16 Dreitzel, Hans Peter (1980): Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft, Stuttgart: Enke 31980. 17 Vgl. in Bezugnahme auf H. P. Dreitzel: Reinhard Kreckel: Soziologisches Denken, Opladen: Leske 1975, S. 162ff. 18 Vgl. zu diesen und ähnlichen Problemen: Mohr, Hans-Ulrich (1983): Literaturgeschichte als systemtheoretisch und rollentheoretisch orientierte Rekonstruktion der Funktion ästhetischer Erfahrung, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 30, 1983, H. l, S. 18-28; Anz (1984). - Ein genauer Vergleich mit unserem Ansatz wäre noch auszuarbeiten. 19 Grundlegend sind: Schütz, Alfred: Theorie der Lebensformen, in: A. Seh.: Frühschriften. Hrsg. v. Ilja Srubar. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981; Ders.: Gesammelte

Grundlegung für eine >Sozialgeschichte der Literatur

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menhänge zwischen Reduktion und Erhalt von komplexer Wirklichkeit (der Erfahrungen, Gefühle, Vorstellungen und Handlungsmöglichkeiten) in den literarischen Texten >zugeschriebenen< Wirklichkeitsentwürfen im Blick auf Reduktion und Erhalt von Komplexität in sozialen Handlungssystemen.20 Die Praxis der Forschergruppe hat gezeigt, daß in den Herausforderungen und wechselseitigen Ergänzungen zwischen handlungsbezogener und textbezogener Analyse von >Literatur< durchaus mit Gewinn gearbeitet werden kann, wenn die unterschiedlichen Voraussetzungen und Ziele des Vorgehens offengelegt sind.

2.

Literarische Sinnverständigung im Kontext sozialer Handlungen

Als weitere Bestimmung des Gegenstandsbereichs für die Sozialgeschichte der Literatur ist uns wichtig, die Interaktionen literarischer Verständigung stets in Konkurrenz und Komplementarität zu anderen kommunikativen Handlungen im gesellschaftlichen Erfahrungsbereich zu sehen, d. h. im jeweiligen historischen Zusammenhang die identitätsbildenden und gesellschaftlichen Funktionen der unterschiedlichen Typen literarischer Verständigung zu beachten und zu beschreiben.21 Damit ist klar, daß >Sozialgeschichte der Literatur< einen erheblich erweiterten Literaturbegriff einschließt, daß literarische Handlungen, die zu >hochgewerteten< Texten führen (oder von ihnen ausgehen), ebenso berücksichtigt werden wie Interaktionen im ZusamAufsätze, Bd. 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Den Haag: Nijhoff 1971; Berger, Peter/Luckmann, Thomas (1966): The Social Construction of Reality. Eine Theorie der Wissenssoziologie. New York: Doubleday 1966 (dt. Frankfurt/M.: Fischer 1969), sowie Mannheim, Karl: Strukturen des Denkens. Hrsg. v. David Kettler u. a. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980. - Vgl. zur literaturwissenschaftlichen Auswertung dazu aus dem Projektbereich der Münchener Forschergruppe bei Häntzschel (1*985) den Beitrag von Monika Dimpfl. 20 Vgl. dazu Voßkamp, Wilhelm (1977): Gattungen als literarisch-soziale Institutionen, in: Walter Hinck (Hrsg.): Textsortenlehre - Gattungsgeschichte. Heidelberg: Quelle & Meyer 1977, S. 27-42. Erweiterungen könnten sich ergeben, wenn die von Parsons oder Luhmann skizzierten Modelle der Systemsteuerung durch symbolisch generalisierte Interaktionsmedien - wie Geld, Macht, Einfluß, Wertbindung (Parsons), positives Recht, passionierte Liebe usf. (Luhmann) - auf die Systemebenen literaturbezogener Institutionen bzw. literarischer Institutionalisierungen übertragen werden oder wenn Literatur selbst als spezifisch modernes, evolutionäres Kommunikationsmedium konzipiert wird. Vgl. die Ansätze bei: Luhmann, Niklas (1976): Ist Kunst codierbar? in: N. L.: Soziologische Aufklärung. Bd. 3. Opladen: Westdeutscher Vlg. 1981, S. 245-266, sowie Jensen, Stefan (1984): Aspekte der Medien-Theorie: Welche Funktion haben die Medien in Handlungssystemen? In: Zs. f. Soziologie 13, 1984, S. 145-164. 21 Vgl. bei Häntzschel (1985) etwa die historischen Studien von Monika Dimpfl, Werner Hahl, Konstantin I mm/Joachim Linder oder Karl N. Renner.

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Dieter Pfau / Jörg Schönen

menhang >mindergewerteter< Texte oder Verständigungshandlungen mit Hilfe para-literarischer oder nicht-literarischer Texte (sofern sie konstrastierend oder ergänzend mit literarischen Verständigungshandlungen in Beziehung stehen).22 Ebenso sind prinzipiell die literaturbezogenen Handlungen in den Handlungsbereichen von Produktion, Distribution und Rezeption zu berücksichtigen, die in der Regel den engeren situativen Kontext für literarische Verständigung mit Hilfe entsprechender Texte bilden.23 Mit diesem Aufriß eines umfassenden Objektbereichs soll jedoch kein historisierender Positivismus vertreten werden, dem alle Texte gleich viel wert wären. Zum einen bevorzugt die gesellschaftlich dominierende Überlieferung Texte und textbezogene Zeugnisse aus dem Bereich der >hochgewerteten< Literatur, zum anderen ist damit in der Regel auch ein komplexes und besonders >geschichtshaltiges< Material gegeben, das empirisch und hermeneutisch >ertragreiche< Konstruktionen des Vergangenen zur Ausbildung und Reflexion gegenwärtiger Identität ermöglicht.

3.

Literatur und Gesellschaft: das Sozialsystem >Literatur
Sozialgeschichte der Literatur

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Austauschbeziehungen, der funktionalen Leistungsdifferenzierung, der segmentären Größendifferenzierung und der Differenzierung der sozialen Interaktionsmedien, insbesondere im Bereich der symbolischen Formen von Religion, Wissenschaft, Kunst, Literatur ableitet. Die aus solchen Perspektiven zu gewinnenden Kriterien einer Periodisierung könnten die bequemen strukturgeschichtlich jedoch irreführenden - geistes-, verfassungs-, mentalitäts- und stilgeschichtlichen M i x t u r e n ablösen. Doch auch bei einer weniger >radikalen< Position, etwa bei einer Orientierung der Periodisierungen an den typischen Stadien und Trends sich modernisierender Gesellschaften, etwa an - nach Zapf/Lepsius - psychischer Moblisierung (Empathiesteigerung, Steigerung der Leistungsmotivation), sozialer Mobilisierung (Bevölkerungswachstum, Urbanisierung, Wachstum und Differenzierung der Bildungsinstitutionen, Steigerung der Kommunikation), wirtschaftlicher Entwicklung (Kapitalakkumulation, technischer Fortschritt, Massenkonsum), politischer Entwicklung (Staatenbildung, Nationenbildung, Partizipation, Umverteilung), kultureller Entwicklung (Säkularisierung, Rationalisierung, Wissenschaftsentwicklung), ergeben sich noch hinreichende Bezugspunkte, um ein bloßes Umschreiben vertrauter literaturgeschichtlicher Epochenbegriffe auf eine Sozialgeschichte der Literatur zu vermeiden. Spezifische Fragen einer sozialgeschichtlich orientierten Historiographie und die Aspekte der neueren Grundlagendebatten in der Geschichtswissenschaft32 wurden in diesem Stadium unserer Projektarbeit noch zurückgestellt und in der Ausarbeitung unseres Modells vernachlässigt.33 32

Beispielsweise Kocka, Jürgen (Hrsg.) (1977): Theorien in der Praxis des Historikers. (= Geschichte und Gesellschaft, Sonderhefts) Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1977; Kocka, Jürgen: Sozialgeschichte, Begriff - Entwicklung - Probleme. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1977; Kocka, Jürgen/Nipperdey, Thomas (Hrsg.): Theorie und Erzählung in der Geschichte. München: dtv 1979; Baumgartner, Hans Michael/Rüsen, Jörn (Hrsg.): Seminar: Geschichte und Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976. - Einen Überblick über ältere Diskussionen gibt Schulze, Winfred: Soziologie und Geschichtswissenschaft. München: Fink 1974. Zu den quantitativen sozialwissenschaftlichen Analysen von historischen und prozeßproduzierten Daten vgl. die von Heinrich Best herausgegebene Reihe Historisch-sozialwissenschaftliche Forschungen (Stuttgart: Klett-Cotta 1977ff.) - vgl. ferner: Meran, Josef: Theorien in der Geschichtswissenschaft. Die Diskussion über die Wissenschaftlichkeit der Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1985; Rossi, Pietro (Hrsg.): Theorie der modernen Geschichtsschreibung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987; Kocka, Jürgen (Hrsg.): Interdisziplinarität, Praxis, Herausforderung, Ideologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987. 33 Daß eine solche Vernachlässigung expliziter Diskussion das Risiko einschließt, von neuen Entwicklungen überholt zu werden, ließe sich argwöhnen, folgt man den >Trends< in der Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik, die - weg von den Orientierungen an >harten< sozialwissenschaftlichen Theorien - hinführen zu recht offenen Konzepten der Ethno- und Kulturhistorie oder zu den Alltags- und Lebensgeschichten und die anthropologische Dimension< in der Geschichte suchen, vgl. etwa das Themaheft von Geschichte und Gesellschaft 10, 1984, H. 3. - Doch bringt dieser Schwung des Diskussionspendels nicht die Restitution des Subjektkonzeptes aus der Tradition des 19. Jahrhunderts (von der sich Analogien zum Begriff des

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II. Unser Untersuchungsmodell versteht sich also zunächst als heuristisches Konzept, das die systemtheoretischen Annahmen als analytisches Instrument verwendet.34 Die Entscheidung, unser Modell auf der Basis der Theoreme von Parsons und der Parsons-Diskussion zu entwerfen, soll durch den Bezug auf ein streng konstruiertes und zu strikten Adaptionen zwingendes Konzept metaphorische oder nur eklektische Übernahmen verhindern, so daß >Sozialgeschichte der Literatun eine umfassende und konsistente sozialwissenschaftliche Grundlegung erfährt. Der erhebliche Stellenwert des >Kulturbereichs< (und der >kulturellen Musterobjektspezifische Weiterentwicklung< für die Gegenstände einer sozialwissenschaftlich begründeten Literaturforschung. Damit sind freilich die bisherigen Probleme wissenschaftlicher Theorie und Praxis nicht etwa >auf einen Schlag gelösK, sondern eher noch vermehrt - zumal dort, wo es um literaturgeschichtliche Aufgaben geht. Ein Untersuchungsmodell kann in seiner Planung und Konstruktion kritisiert, jedoch nicht >verifiziert< (oder >falsifiziertKunstwerkes< ergeben), sondern befestigt die Perspektive, das »Individuum als sozial konstituiert« und die »kulturelle Sphäre der Bedeutungen« im »Kontext von Sozialbeziehungen« zu betrachten - Zitate nach Medick, Hans (1984): »Missionare im Ruderboot«? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderungen an die Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 10, 1984, S. 259-319. Hier S. 318f. 34 Damit soll der häufig zu beobachtende Umschlag systemtheoretischer Begriffe und Modellvorstellungen in reifizierende und essentialistische Aussagen - das System >handeltsteuertSozialgeschichte der Literatur

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daß sich auf der Grundlage dieses Modells ein umfassendes und differenziertes Forschungsprogramm zur >Sozialgeschichte der Literatun entwickeln läßt.35 Es soll - über Parsons hinaus - an aktuelle Theorien der Sozialwissenschaften anschließbar sein und mit konsistenten Begriffsbildungen arbeiten. Kontrollierbare begriffliche Festlegungen und systematisch entwickelte Kategorien36 ermöglichen einen stabilen interdisziplinären Austausch, der sich bloßen Trend-Orientierungen und Revisionen zugunsten einer metaphorischen Terminologie verschließt. In der hier vorgelegten Publikation wird dieses Ziel zunächst im Blick auf die struktural-funktionalen Konzepte im Bereich der sozialwissenschaftlichen Handlungs-, Medien- und Systemtheorien verfolgt. Das von Friederike Meyer und Claus-Michael Ort entwickelte detaillierte Konzept eines Theoriemodells geht von soziologischen G r u n d lagen aus, die hin zur literaturwissenschaftlichen Anwendbarkeit ausgebaut werden. Unter diesen Voraussetzungen und in größerer Nähe zu soziologischen Diskussionen werden dort im Kapitel l nochmals die Probleme behandelt und vertieft, die in unserer Einleitung in vereinfachter Form (und in der Reichweite der literaturwissenschaftlichen Debatten) angesprochen sind. Die notwendigen Ausgriffe in die Sozialgeschichte werden in der Studie von Meyer/Ort zunächst nur im Grenzbereich der soziologischen Debatten vollzogen und hier in der Einleitung durch Literaturverweise in den Fußnoten signalisiert. Diese Angaben zu einem kontroversen Stand der Diskussion erschließen ein heterogenes Material, das auch nicht in einem vorläufigen Arrangement von zentralen und marginalen Positionen geordnet ist, da eine solche Ordnung nur Illusionen über rasche >Problemlösungen< in einer komplexen Forschungslage erwecken würde. Eigentlichen Lösungen konnten wir uns zunächst nur in ersten Schritten nähern. Wie der Beitrag von Meyer/Ort (in diesem Band) zeigt, ging es uns in einem ersten Schritt darum, in möglichst enger Orientierung an Parsons unser Modell auszuarbeiten. Der Eindruck einer >puristischen Parsons-OrthodoxieGermanistik< nicht das primäre Fachgebiet ist, zeigen die Beiträge von Mohr (1983) und Gottlieb Gaiser (1982): Institutionen und Institutionalisierungsprozesse im System der Literatur, in: Sprachkunst 13, 1982, S. 269-281. Die beiden Autoren gehen von sozialwissenschaftlichen Konzepten (Rolle, Institution) aus, die in unserem umfassenderen Modell als (intermediäre) Teilperspektiven eingesetzt sind. - Mögliche Verschränkungen mit diesen Entwürfen wären - im Vergleich der jeweiligen theoretischen Grundlagen und Erkenntnisinteressen - im einzelnen zu diskutieren. 36 Die terminologischen Vorzüge, die sich aus unserem Modell ergeben, werden - in unserer Sicht - etwa deutlich beim Vergleich mit dem Kapitel »Die Institution der Literatur« in: Hohendahl, Peter Uwe (1985): Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1830-1870. München: Beck 1985, S. 11-54. - Wenn anstelle von Institution der Literatur< mit unserer Kategorie Sozialsystem >Literatur< gearbeitet würde, könnten sich viele der Schwierigkeiten beim Versuch, die Ausdifferenzierung der Institution Literatun terminologisch zu erfassen, vermeiden lassen.

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unseren Entwurf zunächst innerhalb der sozialwissenschaftlichen Vorgaben Schritt für Schritt ausführen (vgl. insbesondere den Abschnitt 1.4. bei Meyer/Ort) und ihn nicht vorschnell mit möglicherweise inkongruenten Erweiterungen aus der neueren literaturwissenschaftlichen Adaption von Kultur-, Zivilisations- und Mentalitätengeschichte verbinden.37 Für den Anschluß im literaturwissenschaftlichen Bereich gilt, daß wir uns nicht darauf beschränken, bereits erarbeitetes Wissen und erprobte Analyseverfahren neu zu formulieren und zu organisieren. Wichtigstes Ziel in der Anwendung unseres Modells ist es, neue und komplexe Perspektiven zu erschließen, um entsprechende Fragestellungen entwickeln zu können. Dabei versteht es sich, daß die vielfältigen Aspekte einer - auf diese Weise systematisch entwickelten - Untersuchungspraxis in den einzelnen Projekten der Forschergruppe nicht erschöpfend aufgenommen und verfolgt werden konnten. Unser Modell bietet jedoch die Möglichkeit, den Ort des jeweiligen Vorgehens - gleichsam in einer Topographie der Untersuchungspraxis - genau zu bezeichnen und notwendige Anschluß- und Verbindungsprojekte (nach Maßgabe des vorhandenen oder erst zu gewinnenden Datenmaterials) zu entwerfen. Im Aktionsbereich der Literaturwissenschaft von heute verstehen wir eine so begründete Sozialgeschichte der Literatur nicht als Verfahren, das alle möglichen literaturwissenschaftlichen Fragestellungen aufnehmen kann. Eine reflektierte Kooperation mit anderen Interessenlagen und Vorgehensweisen ist notwendig. Bezogen auf die systemtheoretischen Voraussetzungen unseres Untersuchungsmodells wird deutlich, daß wir, Parsons' Theorie modifizierend und erweiternd, vor allem die wert- und musterbildenden Funktionen der Literatur in der sozialintegrativen Perspektive (Funktion >I< der Systemebene0, dazu Meyer/Ort. S. 116) verfolgen, wobei andere Funktionen über die Ausdifferenzierung der Subsysteme benannt werden. Komplementäre Modelle ließen sich im Blick auf die -Funktionen im Persönlichkeitssystem entwickeln (indem beispielsweise die Geschichte der spezifisch literarischen Verarbeitung von Umwelterfahrung verfolgt wird). Bezogen auf die G-Funktion wären die persönlichkeitsbildenden Leistungen literarischer Sinnverständigung oder der von >Herrschaftsinteressen< gelenkte Umgang mit Literatur zu verfolgen. In der L-Funktion ließe sich die kulturelle Relevanz des literarisch vermittelten und konstruierten >sozialen Wissens< oder die Geschichte des Beitrags von literarischen Sinnbildungen in den kulturellen Symbolwelten< beschreiben und analysieren.38 37

Dazu u. a. Gleichmann, Peter u. a. (Hrsg.): Materialien zu N. Elias' Zivilisationstheorie. Frankfurt: Suhrkamp 1977; Wild, Rainer: Literatur im Prozeß der Zivilisation. Zur theoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft. Stuttgart: Metzler 1982; Reichardt, Rolf: »Histoire des Mentalites«. In: IASL3, 1978, S. 130-166; Gumbrecht, Hans-Ulrich u. a. (Hrsg.): Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich. Bd. l und 2. München: Oldenbourg 1981; Hutton, Patrick H.: Die Geschichte der Mentalitäten. Eine andere Landkarte der Kulturgeschichte, in: Ulrich Raulff (Hrsg.): Vom Umschreiben der Geschichte. Berlin: Wagenbach 1986, S. 103-131.

Grundlegung für eine >Sozialgeschichte der Literatur

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Zusammenfassend gesagt: Sozialgeschichte der Literatur soll - im Sinne unseres Vorgehens - eine Perspektive literaturwissenschaftlicher Praxis entwerfen, die im zugeordneten Untersuchungszusammenhang theoretisch begründet, systematisch entwickelt und in ihren Erkenntniszielen kontrolliert ist. Wir halten den analytisch-klassifikatorischen Aufwand bei der Entwicklung der synchronen Perspektive unseres Untersuchungsmodells für gerechtfertigt, weil wir dadurch angeleitet bzw. gezwungen werden, die diachronen Dimensionen des noch zu erarbeitenden Wandlungsmodells in vergleichbarer Komplexität zu entwerfen. Unser Ziel ist ein Mehrebenenmodell zum sozialen und kulturellen Wandel bzw. ein Prozeßmodell für das Sozialsystem >LiteraturDynamisierung< des Synchronmodells zu einem Prozeßmodell entstehen. Trotz der Fülle sozialwissenschaftlicher Theorien des sozialen Wandels existiert kein Wandlungsmodell, das für unsere Interessen hinreichend komplex ausgearbeitet ist. Zu erklären ist dieser Mangel mit dem in den Sozialwissenschaften bislang dominierenden Interesse an der e i n e n , der globalen Theorie des Wandels bzw. mit der Tendenz zu bereichstypischen und sich isolierenden Spezialisierungen, die für die Entwicklung makrosoziologischer Wandlungstheorien ungünstig sind. Sichtbar wird dieses Defizit - als eines 38

Hier wären - unter den Stichworten >Soziologie symbolischer FormenSoziologie kulturellen Wissenskulturelle Codes und Muster< - Verbindungen zu der sich formierenden Diskussion in der >Kultursoziologie< herzustellen (vgl. die Gründung einer entsprechenden Sektion auf dem 22. Deutschen Soziologentag 1984 in Dortmund, dazu die Publikation der Vorlagen, hrsg. v. Hans-Werner Franz, Opladen: Westdeutscher Vlg. 1985, S. 212-214); - siehe auch Thurn, Hans P. (1981): Perspektiven der Kultursoziologie. Zur Rekonstruktion ihres Problemfeldes. In: Soziologie in weltbürgerlicher Absicht. Fs. f. König. Hrsg. von Heine v. Alemann und Hans P. Thurn. Opladen: Westdeutscher Vlg. 1981, S. 11-44; vor allem aber Neidhardt, Friedhelm u.a. (Hrsg.): Kultur und Gesellschaft. (= KZSS Sonderheft 27) Opladen: Westdeutscher Verlag 1986.

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der gegenwärtigen Literatursoziologie39 - nicht nur beim Versuch einer gleichermaßen >vertikalen< wie >horizontalen< Ausdifferenzierung des Sozialsystems >Literaturvertikale< Ausdifferenzierung des kulturellen Subsystems der Gesamtgesellschaft (vgl. Meyer/Ort, S. 167, Fig. 11) in Kunst, Religion, Wissenschaft etc. und deren analog zu unserem Modell vorzunehmenden >horizontalen< Differenzierungen auf mehreren Systemebenen. Schließlich gilt es nicht minder - zwar in geringerem Umfang, jedoch noch deutlich genug - für die Ausdifferenzierungen und raum-zeitlichen Konkretisierungen der vier Subsysteme des Sozialsystems >Gesellschaft< und ihrer Austauschbeziehungen in synchroner und diachroner Dimension (vgl. Meyer/Ort, S. 128, Fig. 3). Auf entsprechende Vorarbeiten müßten wir uns jedoch stützen können, wenn wir mit Hilfe unseres Untersuchungsmodells die interne Differenzierung und relative funktionale Autonomie des Sozialsystems >Literatur< beschreiben sowie Integration und Interpenetration im Sozialsystem >Literatur< mit den globalen Indikatoren, Stadien und Trends in Beziehung setzen wollen, die für die Modernisierung im Sozialsystem >Gesellschaft< relevant sind. Das Defizit liegt jedoch nicht nur bei den Sozialwissenschaften; es wird dadurch stabilisiert, daß die für unsere Problemstellung wichtigen Arbeiten historischer Disziplinen mit wenigen Ausnahmen an theoriebezogener Projektarbeit nicht bzw. nur in Ansätzen interessiert sind.40 Obwohl viele der notwendigen interdisziplinären Anschlußmöglichkeiten fehlen, wollen wir mit Nachdruck daran festhalten, daß die >horizontale< wie >vertikale< Ausdifferenzierung unseres Systemmodells (vgl. Meyer/Ort, S. 167, Fig. 11) von Anfang an das Ziel verfolgt, ein Prozeßmodell in strukturgeschichtlicher, modernisierungstheoretischer und evolutionstheoretischer Grundlegung zu entwickeln. Erst eine derartige Dynamisierung des Systemmodells im Bezug auf die problemorientierende und problemselegierende Vorgabe >Modernisierung< kann unseren Entwurf aus dem Visier der weithin berechtigten Kritik an Funktionalismus und Systemtheorie führen.41 Auch wenn unser Konzept 39

Literatursoziologische Fragestellungen bewegen sich in der Regel in der horizontalen Ebene< unseres Modells; sie verfolgen in jüngster Zeit auch Perspektiven (wie etwa gesellschaftliche Institutionalisierung und Sozialisationsformen des literarischen Handelns, Steuerungsmechanismen von Markt, Macht und Prestige), die als Teilperspektiven - auch in unserem Konzept eine wichtige Rolle spielen, vgl. dazu die Themenhefte von Poetics 12, 1983, No. 4/5 und Poetics 14, 1985, No. 1 (dort u. a. die Beiträge von Richard A. Peterson und Hugo Verdaasdonk). 40 Vgl. etwa Thomas Nipperdeys »Fallstudien zur Modernisierung« in: Nipperdey, Thomas: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Göttingen 1976 (S. 174ff., S. 206ff.), die ohne Bezug auf sozialwissenschaftliche Modernisierungskonzepte auskommen. 41 Zur Kritik an Funktionalismus und Systemtheorie, z. B.: Schütte, Hans Gerd: Der empirische Gehalt des Funktionalismus. Meisenheim: Hain 1971; Schmid, Günter: Funktionsanalyse und politische Theorie. Funktionalismuskritik, Faktorenanalyse, Systemtheorie. Düsseldorf: Berteismann 1974; Bühl, Walter Ludwig (Hrsg.): Funktion und Struktur. Soziologie vor der Geschichte. München: Nymphenburger 1975; Gouldner, Alvin W.: Die westliche Soziologie in der Krise. Bd. 1. Reinbek: Rowohlt 1974; Döbert, Rainer: Die methodologischen Probleme eines sozialwissenschaftli-

Grundlegung für eine >Sozialgeschichte der Literatur

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notwendigerweise zunächst als synchrones, analytisches Klassifikationsmodell entwickelt werden mußte (das als ein >statisches< erscheinen mag), sind wir zuversichtlich, daß wir die bei Parsons wohl implizit bereits geltende Vorstellung der Systemsteuerung durch negative Rückkoppelung (die für historische Analysen entschieden zu strukturarm und undynamisch konzipiert ist) zu einer komplexeren Steuerungslogik erweitern können. In dieser Sicht ist Systemsteuerung nicht nur als >Ausregelung von Abweichungen von einem vorgegebenen und feststehenden ZielwertFähigkeit der positiven Berücksichtigung von Abweichungen einzubeziehen, um die Dynamik des Strukturwandels überhaupt konzipieren zu können. Zugleich kann eine bereichsspezifische Ausarbeitung der hochabstrakten systemtheoretischen bzw. strukturfunktionalistischen Modellvorgaben die gerade in sozialwissenschaftlicher Literatur - häufig unter der Hand vorgenommene Reifizierung des Systemmodells und die Ontologisierung funktionaler Beziehungen verhindern.43 Damit ist die - zumindest beim gegenchen Funktionalismus, in: R. D.: Systemtheorie und die Entwicklung religiöser Deutungssysteme. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 7-71; Esser, Hartmut u. a.: Wissenschaftstheorie. Bd. 2: Funktionsanalyse und hermeneutisch-dialektische Ansätze. Stuttgart: Teubner 1977; Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971. Zudem die Fülle der Arbeiten aus den folgenden Diskussionen, etwa: Giegel, Hans-Joachim: System und Krise. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975; Grimm, Klaus: N. Luhmanns »Soziologische Aufklärung« oder das Elend der apriorischen Soziologie. Hamburg: Hoffmann und Campe 1974; Loh, Werner: Kritik der Theorieproduktion von Niklas Luhmann und Ansätze für eine kybernetische Alternative. Frankfurt/M.: Athenäum 1972; Friedrich, Jürgen/Sens, Eberhard: Systemtheorie und Theorie der Gesellschaft, in: KZSS 28, 1976, S. 27-47, zuletzt: Habermas (1981), Bd. 2, S. 295-443: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. - Eine Aufzählung primär ideologiekritischer Arbeiten zur Systemtheorie unterbleibt, da sie eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung eher behindert als befördert haben. Zur Einführung für Nichtsoziologen sind besonders geeignet: Münch, Richard (1976): Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung in Grundbegriffe, Grundannahmen und logische Struktur. Opladen: Westdeutscher Vlg. 1976; Lenk, Hans/Ropohl, Günter (Hrsg.): Systemtheorie als Wissenschaftsprogramm. Königstein/Ts.: Athenäum 1978; Willke, Hellmut: Systemtheorie. Eine Einführung in die Grundprobleme. Stuttgart: G. Fischer 1982; sowie Münch 1982. 42 Vgl. Bühl, Walter L. (1982): Methodologische Prinzipien einer Systemanalyse, in: W. L. Bühl: Struktur und Dynamik menschlichen Sozialverhaltens. Tübingen: Mohr 1982, S. 54-77. 43 Vgl. Lenk, Hans: Wissenschaftstheorie und Systemtheorie. Zehn Thesen zu Paradigma und Wissenschaftsprogramm des Systemansatzes, in: Lenk/Ropohl (Hrsg.) 1978, S. 256ff. - H. Lenk ist einer der wenigen Autoren - vgl. etwa auch Habermas 1981, Bd. l, S. 120ff. -, der klare Unterscheidungen vornimmt zwischen dem Modellcharakter von Systemkonzepten, dem wissenschaftstheoretischen Status empirisch-analytischer Theorien und dem Systemrealismus, der durch Reifizierung und Ontologisierung des Systemdenkens »metaphysische Aussagen über die Welt« - mehr oder weniger begründet - behauptet (S. 259). Parsons und zumal Luhmann haben die o. a. Unterscheidungen nicht konsequent und deutlich genug in ihren Arbeiten durchgehalten.

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wältigen Forschungsstand - illusionäre oder auch grundsätzlich unhaltbare Erwartung abzubauen, Systemmodelle könnten eine Simulation >ganzer< Gesellschaften bzw. von Gesellschaften an sich < leisten. Solche Ansprüche haben bisher das >methodische Ansehen< von Funktionalismus und Systemtheorie in unnötiger Weise belastet. Die bisherige Kritik an Strukturfunktionalismus und soziologischer Systemtheorie sei hier nur in einer Auswahl von Stichworten zitiert: inadäquate Gleichgewichtsannahme, unklare Bestandsaufnahme, verkappte funktionale Teleologie, zirkuläre ex post-Erklärung; pseudoempirische, normative Funktionalitätskriterien; statische Modellkonstruktion, unklarer Status und Anspruch der Modellbildung; a priorische Funktionsunterstellungen, Generalisierung von Leerformeln (»Reduktion von Komplexität«). Ein solcher Negativkatalog verliert durch die von uns geplante Festlegung eines problemorientierenden Bezugswegs der Systemprozesse erheblich an Gewicht. Beim Bezug auf >Modernisierung< müssen freilich sowohl die >transnational< typischen wie die national einmaligen Komponenten von Modernisierung für unser Prozeßmodell als spezifische, in ihren Relationen einmalige Konfiguration erkannt werden. Damit kann Kritik abgewendet werden, die zu Recht auch noch der >zweiten Generation< von Modernisierungstheorien gilt. Sie bleiben weithin korrektur- und erweiterungsbedürftig. Die entsprechenden Einwände sind - als Stichworte - in Auswahl: Inkonsistenz, Umdeutung definitorisch-klassifikatorischer Aussagen in quasi kausale Entwicklungs>GesetzeSozialgeschichte der Literatur^

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Gemäß der - im Anspruch unserer Modellbildung begründeten - antireduktionistischen Absicht muß deutlich bleiben, daß die Forschergruppe nur in exemplarischen Einzelstudien einzelne Segmente der im Prinzip unausschöpflichen analytischen Beziehungslogik des Systemmodells historischempirisch umsetzen und ausarbeiten konnte. Das Untersuchungsmodell müßte als orientierender Bezugsrahmen über den Kreis der Forschergruppe hinaus in Einzelprojekten weiter erprobt werden. Funktionalismus, Systemtheorie, Modernisierungstheorie entfalten ihre Qualitäten ohnehin erst, wenn sie zu korrelierbaren Untersuchungen führen und diese organisieren. In systematisch durchgeführten vergleichenden Analysen, die nicht auf eine Gesellschaft bzw. - in unserem Fall - nicht auf eine Nationalliteratur zu beschränken sind, liegt ohne Zweifel ein noch ungenutztes Leistungspotential, das auch von entschiedenen Kritikern strukturfunktionalistischer und systemtheoretischer Theoriebildung nicht geleugnet wird. Obwohl in der vorgesehenen Ausarbeitung der Diachronie-Dimension unseres Modells (Ausbildung und Institutionalisierung des Sozialsystems >Literatur< im Modernisierungsprozeß) ein bestimmtes Spektrum möglicher Themen- und Problemstellungen bevorzugt wird, sorgt die modellimmanente Systematik einer analytischen Kombinatorik für eine schlagartige und weitreichende Ausweitung der Felder unseres Nichtwissens im Bereich einer Sozialgeschichte der Literatur. So strapazierend eine derartige Einsicht auch sein mag, so rechtfertigt sich hier doch - nach unserem Ermessen - unser Konzept in einer entscheidenden Perspektive. Es erlaubt nicht die Illusion eines sich schnell sättigenden kumulativen Wissensfortschritts; es produziert vorerst >Nicht-Wissen< bzw. erschließt neue Horizonte des Nichtwissens über grundlegende inter- und intrasystemische Austauschbeziehungen des Sozialsystems >LiteraturLiteratur< deutlich vor Augen führen. Die heuristische Verwendung eines Systemmodells bringt eine Zäsur gegenüber den traditionellen historisch-philologischen Forschungsinteressen, jedoch keinen Bruch, sondern eher eine Ergänzung bzw. Erweiterung der historisch-philologischen Forschungsmethoden. Zunächst hat dieses Vorgehen die Konsequenz, darauf zu dringen, daß Bemühungen, die gegenwärtig unter dem Begriff >Sozialgeschichte der Literatur< zusammengefaßt werden, in theoretisch-methodischer Grundlegung erweitert und im Erschließen bzw. Auswerten von Datenmaterials intensiviert werden müssen. Unser Untersuchungsmodell und unsere künftige Theoriearbeit sollen dazu beitragen, den überzeichneten Konflikt von Theorie und Geschichte, narrativer Darstellung und systematischer Analyse zu entschärfen; denn bei diesen vermeintlichen Gegensätzen handelt es sich eigentlich nur um die »komplementären Elemente« historischer Kenntnis.45

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III. Im Blick auf die derzeitigen Diskussionen und Entwicklungen in der Literaturwissenschaft - insbesondere der Germanistik46 - wären Anspruch und Grenzen unseres Modells unter folgenden Aspekten zu beschreiben und zu diskutieren.

1.

Ein bewegliches Forschungsprogramm

Die Systematik und analytische Logik des Untersuchungsmodells wendet sich zum einen gegen einfache Determinismus-Erklärungen und monokausale Ableitungen für den Zusammenhang von Literaturprozeß und gesellschaftlicher Entwicklung, zum anderen gegen die Einsinnigkeit funktionsgeschichtlicher Ideologiekritik und gegen die formelhafte Festlegung von Austauschbeziehungen im Sinne einer >Dialektik der Literatur- und GesellschaftsverhältnisseÄsthetisierung des literaturgeschichtlichen DiskursesAufbruch< in die arabeskenhafte >Beziehungsgeschichteungenauen Wissenschaft aufgegeben werden, sondern es wäre zu versuchen, gerade diese Leistungen der philologischen >Auslegungskunst< (z. B. in der Tradition methodisch begründeter Textinterpretation) als komplementäre Forschungspraxis zu verfolgen, um zu überprüfen, ob sie sich zu Konstrukten einer spezifisch literarischen >historischen Semantik< zusammenschließen lassen, die ihrerseits mit den Ergebnissen zu Konstellationen und Wandel in unserem Sozialsystem >Literatur< in Verbindung zu bringen wären. 45

Mommsen 1979, S. 369. Vgl. dazu: Schönen, Jörg (1985a): Empirische Literaturwissenschaft: Verschlossene wissenschaftliche Anstalt oder Bastion mit offenen Toren? Überlegungen zur Organisation literaturwissenschaftlicher Theorie und Praxis. Siegen: LUMIS-Schriften 5, 1985. 47 Vgl. dazu Japp, Uwe (1980). Beziehungssinn. Ein Konzept der Literaturgeschichte. Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt 1980. 46

Grundlegung für eine >Sozialgeschichte der Literatur

2.

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>Mehr Empirie< in der Literaturwissenschaft?

Ein Mißverständnis entstünde, wenn im Plädoyer für die untersuchungspraktische Nützlichkeit des struktural-funktionalen Systemmodells ein >Paradigmawechsel< von einer hermeneutisch begründeten zu einer >empirischen Literaturwissenschaft vermutet würde.48 Unser Konzept bleibt in den Grenzen eines kritisch reflektierten geschichtlichen Verstehens Datenmaterial zu beziehen. Die Fragen, die sich aus der Anlage des Modells ergeben (und seine besondere >Suchlogik< markieren), werden zum einen dazu führen, bislang vernachlässigte Aspekte zu erschließen, und zum anderen dazu, das Privileg tradierter Perspektiven zu bedenken. Die mehrfachen intra- und intersystemischen Beziehungen, die sich für die Beschreibung literarischer Verständigung aus unserem Modell ableiten lassen, können verdeutlichen, welches und wieviel historisches Material für eine Sozialgeschichte der Literatur noch fehlt und bereitgestellt werden sollte; zudem sollen die komplexen Konstruktionen von >Austauschbeziehungen und Interpenetrationen< im Rahmen unseres Modells eingefahrene Ableitungen und Begründungen in der Sozialgeschichte der Literatur in Frage stellen und die Reichweite literarhistorischer Interessen in einem theoretisch begründeten Zusammenhang erweitern. Solche Korrekturen und das nachhaltige Plädoyer für >mehr Empirie< können die hermeneutisch-konstruierenden Aneignungen von >Vergangenheit< als Ziel der Literaturgeschichtsschreibung auf eine breitere Basis empirisch kontrollierbaren Wissens stellen.

3.

Sozialgeschichte der Literatur als Paradigma der Literaturwissenschaft ?

Mit dem Anspruch, zunächst nicht mehr als eine komplementäre Praxis zu traditionellen Konzepten der Literaturgeschichtsschreibung zu entwerfen, distanziert sich unser Ansatz auch von voreiligen Versuchen, die Sozialgeschichte der Literatur im derzeitigen theoretisch ungesicherten und praktisch unentwickelten Zustand zu einem universalistischen Paradigma zu erheben, das für innovative oder gar >revolutionäre< Literaturgeschichtsschreibung sorgt.49 Wir verstehen xSozialgeschichte der Literatun als eine abgrenzbare 48

Vgl. zum Problem hermeneutischer und empirischer Praxis der Literaturwissenschaft vor allem Kreuzer, Helmut/Viehoff, Reinhold (Hrsg.) (1981): Literaturwissenschaft und empirische Methoden. Eine Einführung in aktuelle Projekte. Göttingen: Vandenhoeck 1981, dort insbesondere die Abgrenzungen bei Viehoff (S. 10-13) und Faulstich (S. 178-180). 49 Vgl. Schönen 1985, S. 303.

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Perspektivengeschichte der literarischen Entwicklung, als >Geschichte des Sozialsystems Literature Dabei sind die Perspektiven: >Literatur als soziales Handelm, >Soziales Handeln als SystemWandel des Sozialsystems Literatur im Modernisierungsprozeß< dominant gesetzt; andere Prioritäten und Perspektivierungen wären zu bedenken.

4.

Notwendige Einschränkungen

Die von uns zu verfolgende sozialgeschichtliche Perspektive ist auch insofern selektiv angelegt, als sie die Verschränkung des Sozialsystems >Literatur< mit anderen Sozialsystemen, die intersystemischen Austauschbeziehungen und intrasystemischen Subsystembildungen des Sozialsystems >Literatur< unter die leitende Problemvorgabe der Modernisierung stellt. >Modernisierung< gibt den thematisch integrierenden Bezugsweg für die diachrone strukturfunktionale Systemanalyse. Die umfassende sozialgeschichtliche Sicht verhält sich erweiternd und korrigierend zum Verstehen der einzelnen Texte und der individuellen Werkreihen zugeordneten >SinnbildungenLiteratur< beziehen lassen. Die Modernisierung des Sozialsystems >Literatur< soll in ihrem Doppelaspekt - sowohl als funktionale Konsequenz der gesamtgesellschaftlichen Modernisierung wie auch in ihrer Schrittmacher- oder Kritikerfunktion< für diesen Prozeß - untersucht werden. Es liegt auf der Hand, daß in einer theoriegeleiteten Sozialgeschichte der Literatur nicht alles gleich wichtig sein kann; denn es ist kein theoretischer Ansatz denkbar, der nicht selektiv vorgehen muß. Gerade unter Berufung auf eine vermeintliche >Ganzheit< und >Totalität< werden in der Regel einschneidende Reduktionen gerechtfertigt und gegen Kritik abgeschirmt. Nur wenn unrealistisch oder naiv die Möglichkeit einer Sozialgeschichte >an sich< (d. h. ohne explizite thematische Problemperspektive) unterstellt wird, wären die von uns vorzunehmenden Auswahlschritte als Reduktionen einzuordnen. Doch selbst von dieser fiktiven Position aus müßte die antireduktionistische Dynamik in der Systemlogik unseres Untersuchungsmodells erkennbar sein, zielt sie doch auf die vergleichende Untersuchung einzelner Systeme und Subsysteme, auf eine Analyse ihrer Interpenetration, die nur im kooperativen und interdisziplinären Vorgehen erreicht werden kann. Es ist vermessen genug, ein solches Untersuchungsprogramm zu skizzieren. Unsere bisherige Arbeit hat es nur in Detailbereichen aufnehmen und umsetzen können. Als Entwurf erhält dieses Programm jedoch zunächst seinen Wert als systematisch entwickelte Heuristik und als Korrektur eilfertiger sozialgeschichtlicher Synthesen sowie als ein denkbarer Lösungsweg für die gegenwärtigen Probleme in den Methodenfragen einer Sozialgeschichte der Literatur.

Grundlegung für eine >Sozialgeschichle der Literatur

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IV. Wohl wissend, daß wir mit unserem Untersuchungsmodell dem Leser ohne soziologische Erfahrung einiges zumuten, wollen wir den bislang ausgearbeiteten Entwurf in vier Schritten vorstellen. Sie bezeichnen die Stufen in der >Entstehungsgeschichte< unseres Konzepts. Im Beitrag von Jendricke geht es darum, in einem wissenschaftsgeschichtlichen Überblick der Bedeutung und Verwendung von Kategorien und Begriffen nachzugehen, die für unser Modell eine wichtige Rolle spielen (z. B. >FunktionInstitutionSystem Literatur< und seinen Komponenten weiterentwickelt werden. So haben wir versucht, folgende Komponenten des Sozialsystems >Literatur< >abzuleiten< bzw. selbst zu entwickeln (Meyer/Ort, Abschnitte 2 und 3): (a) die idealtypisch-analytischen Subsystembildungen des Sozialsystems >Literatun (vgl. ebd. S. 137, Fig. 6), (b) die analytische Logik der für das Literatur-Subsystem spezifischen Austauschbeziehungen (vgl. ebd. S. 141, Fig. 7), (c) die analytische Ebene der sozialen Makrostruktur des Systems literaturbezogener Institutionen (vgl. ebd. S. 144, Fig. 8), (d) die analytische Ebene der MikroStruktur des Systems literarischer Institutionalisierungen (vgl. ebd. S. 155, Fig. 9).

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Dieter Pfau / Jörg Schönen

Die Figuren 2 und 3 geben also die >Prototypen< zur Weiterentwicklung des Untersuchungsmodells - von seinen bislang erreichten, objektbereichsspezifischen Differenzierungen in den Figuren 9 und 8 - für eine Sozialgeschichte der Literatur. Mit den »Vorbemerkungen zu einem Diachroniemodell« (Meyer/Ort, Abschnitt 4) sind schließlich erste Schritte zum Entwurf eines weiterführenden und modellkonformen Konzeptes getan, das die systematische und theoriegeleitete Analyse des Struktur- und Funktionswandels im Sozialsystem >Literatur< ermöglichen kann. Damit waren die zeitlichen Grenzen der Theoriearbeit (und ihrer Förderung durch die DFG) in der Münchener Forschergruppe erreicht. Wir sind uns dessen bewußt, daß der >Aufbruch< im Zeichen des >Mutes zur Theorie< vielleicht in allzu unwegsames Gelände geführt hat. Die Aufnahme und die kritische Diskussion des hier vorgestellten Konzepts in Literaturwissenschaft, Soziologie und Sozialgeschichte werden notwendige Wegweiser setzen können. Es gilt abschließend noch einmal dem Mißverständnis vorzubeugen, daß unser Untersuchungsmodell etwa auch die literaturwissenschaftliche und literaturgeschichtliche Darstel lungs weise festlegen oder simulieren will. Es geht uns darum, zu einer systematischen und kontrollierbaren Untersuchungspraxis anzuleiten sowie der Analyse entsprechend begründete Perspektiven und Kategorien vorzugeben. Auf dem so erschlossenen und vermessenen Terrain sind unterschiedliche Entscheidungen für begrenzte Projekte und kompatible Untersuchungen ebenso zu akzeptieren wie eine Darstellungsweise, die auf die hier benutzte Terminologie verzichtet, aber in ihren Begriffen und Zuordnungen anschließbar bleibt. Der theoretische Rahmen des Untersuchungsmodells soll eine Vorgabe darstellen, die praktische Arbeit stimuliert, >leitet< und intersubjektiv vermittelt, sie dabei jedoch nicht in die Anwendungsmechanik einer bloßen Reproduktion der theoretischen Folie zwingt.50

50

Dank für kritische Lektüre des Manuskripts und für Literaturhinweise gilt Friedrich Vollhardt (Universität Hamburg).

Bernhard Jendricke

Sozialgeschichte der Literatur: Neuere Konzepte der Literaturgeschichte und Literaturtheorie. Zur Standortbestimmung des Untersuchungsmodells der Münchener Forschergruppe* 1.

Neuere Orientierungen in der Literaturgeschichtsschreibung

Es hat den Anschein, als erlebe die Literaturgeschichtsschreibung gegenwärtig eine neue Blütezeit. Ein Blick in die entsprechenden Verlagsprogramme von Rowohlt, Hanser und Athenäum zum Beispiel - genügt, um diese Vermutung augenscheinlich bestätigt zu finden. Die Fülle, in der in den siebziger Jahren umfangreiche historiographische Projekte zur deutschen Literatur angekündigt, aufgenommen oder zu Ende geführt wurden, könnte leicht dazu verführen, vorschnell Parallelen zu einer ähnlich geschichtseuphorischen Phase in der Tradition der literaturwissenschaftlichen Disziplin zu ziehen: zu der vom Positivismus und von der Historischen Schule stimulierten Aufschwungepoche der Literaturgeschichtsschreibung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Für einen direkten Vergleich der heutigen mit der damaligen Entwicklung fehlen jedoch alle Voraussetzungen. Die Bedingungen und Absichten, die zu jener Zeit die Literarhistoriographie bestimmt haben, lassen sich nicht auf die gegenwärtigen Verhältnisse übertragen. Bei der Suche nach den Ursachen für die bemerkenswerte >Wiederentdeckung< der Literaturgeschichtsschreibung stößt man - zumindest was die Germanistik und Literaturwissenschaft in der Bundesrepublik betrifft fast zwangsläufig auf die Schrift Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft (1. Auflage 1967) von Hans R. Jauß. Sie gilt allgemein als Wegbereiter für neue Richtungen in der Literaturgeschichtsschreibung nach 1970. Der von Jauß begründeten Konzeption gebührt das Verdienst, in einer kontroversen Situation auf die Bedeutsamkeit der Literaturgeschichte »als b e s o n d e r e Geschichte [...] in dem ihr eigenen Verhältnis zu der allg e m e i n e n G e s c h i c h t e « 1 aufmerksam gemacht zu haben, und sein Plädoyer für die Überwindung der Kluft »zwischen ästhetischer und historischer Erkenntnis«2 hat der Diskussion um das Für und Wider von Literaturgeschichtsschreibung wichtige Anregungen vermittelt. * Das Manuskript wurde 1983 abgeschlossen. 1 Hans R. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: H. R. J.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970, S. 144-207. Hier S. 199. 2 Ebd. S. 207.

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Bernhard Jendricke

Daß Jauß' Schrift gegen Ende der sechziger und zu Anfang der siebziger Jahre eine so breite und nachhaltige Aufnahme erfahren hat, daß sie mittlerweile zum Kanon der literaturwissenschaftlichen >Klassiker< gezählt werden muß, liegt nicht allein am Wert des neuen Paradigmas, das Jauß mit der historisch orientierten Rezeptionsästhetik zu konstituieren beabsichtigte. Die breite Resonanz, im positiven wie im negativen Sinn, die er erzielte, ist in besonderem Maße dem Umstand zuzuschreiben, daß es ihm als einem der ersten gelungen war, das nach 1960 immer deutlicher artikulierte Bedürfnis nach einer theoretischen und methodischen Neuorientierung der philologischen Disziplinen in eine innovative und erfolgversprechende Konzeption umzusetzen. Jauß' Ankündigung, »im Gang der literarischen Evolution< jene im eigentlichen Sinn g e s e l l s c h a f t s b i l d e n d e Funktion«3 der Literatur entdekken zu wollen, muß in direktem Zusammenhang gesehen werden mit dem zu jener Zeit oftmals geäußerten Umbehagen über die »Vernachlässigung des politischen und sozialen Kontextes von Dichtungen«:4 diesen Vorwurf richtete Hans-Wolf Jäger gegen die am klassischen Autonomie-Ideal ausgerichtete intuitive und introspektive Hermeneutik. Die Entwicklung der Rezeptionsästhetik als eines historisch-hermeneutischen Verfahrens fand zu einem Zeitpunkt statt, als die Diskussion über die Notwendigkeit, der literaturwissenschaftlichen Disziplin, ihrer Methodik und ihren Gegenständen ein kritisches geschichtliches Bewußtsein entgegenzubringen, einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte - bedingt nicht zuletzt durch Veränderungen, die außerhalb der Universitäten, auf gesellschaftspolitischer Ebene vollzogen wurden. Die Publikation Germanistik eine deutsche Wissenschaft und die von Jürgen Kolbe herausgegebenen Ansichten einer künftigen Germanistik ließen deutlich werden, daß diese Diskussion vor allem von jüngeren Vertretern des Fachs mit der Absicht geführt wurde, gegen das an der »Wesensschau« und an lebensphilosophischen Positionen sich orientierende Wissenschaftsverständnis der Repräsentanten der »immanenten Interpretation« einen rational begründeten Gegenentwurf zu erstellen. Die ideologiekritische Analyse der bis dahin vorherrschenden »Dichtungswissenschaft«, die ihrem eigenen Bekunden nach ja weniger als Wissenschaft im analytischen Sinn denn als Kunst der kongenialen Werkdeutung verstanden werden wollte, konnte zwar - um einen Begriff Herbert Marcuses aufzunehmen - den affirmativen Charakter der werkimmanenten Ästhetik bloßlegen. Für die »Neubegründung der Literaturgeschichtsschreibung«5 war damit freilich noch wenig gewonnen. So ist zu verstehen, daß 3 4

Ebd.

Hans-Wolf Jäger: Gesellschaftskritische Aspekte der Germanistik. In: Ansichten einer künftigen Germanistik. Hg. v. Jürgen Kolbe. Frankfurt/M.-Berlin-Wien: Ullstein 1973, S. 58-69. Hier S. 59. 5 Herbert Singer: Literatur, Wissenschaft, Bildung. In: Ansichten einer künftigen Germanistik, S. 43-57. Hier S. 55.

Neuere Konzepte der Sozialgeschichte der Literatur

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selbst diejenigen Vertreter der Disziplin, die den Bemühungen um eine theoretische Reform des Fachs so wohlwollend gegenüberstanden wie etwa Herbert Singer, Zweifel am Erfolg anmeldeten: es ist leicht gefordert, man müsse ein literarisches Werk als Ergebnis der politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen seiner Entstehung beschreiben. Dieser Forderung aber genüge zu tun, so berechtigt sie auch ist, fehlen uns heute noch fast alle Mittel.6

Zumindest in retrospektiver Sicht erscheint Singers Urteil als nicht völlig berechtigt. Bereits gegen Ausgang der sechziger Jahre wurden strukturalistische Verfahren, die die Werkstruktur mit dem wie auch immer definierten Kontext in Verbindung zu setzen suchten, eingehend rezipiert (bekannt wurden vor allem die Studien der Petersburger G e s e l l s c h a f t zur E r f o r s c h u n g der p o e t i s c h e n Sprache - Opojas, des ersten Zusammenschlusses russischer Formalisten, und die Forschungen der P r age r Schule). Kultur- und literatursoziologische Ansätze aus Frankreich (von Claude Levi-Strauss, Michel Foucault, Jacques Lacan, Pierre Bourdieu und Lucien Goldmann), die Arbeiten von Roland Barthes und der No u ve lie C r i t i q u e trugen ebenfalls dazu bei, daß eine theoretisch hinreichend stabile Basis für die Neuformulierung des literaturwissenschaftlichen und literaturgeschichtlichen Interesses geschaffen werden konnte: Jauß' Rezeptionsästhetik gibt Zeugnis für den nachhaltigen Einfluß, den der tschechische Strukturalismus in der Grundlagendiskussion gewonnen hatte. Die gegenwärtige Literarhistoriographie, deren Aufschwung ohne die Reformdebatte der sechziger Jahre kaum denkbar gewesen wäre, verdankt ihre theoretische und methodische Orientierung in hohem Maße aber auch der (Wieder-) Entdeckung literatur- und kunstsoziologischer Verfahren, deren jahrzehntelange Tradition in Deutschland während der Herrschaft des Nationalsozialismus unterbrochen worden war und die nach Kriegsende fast völlig in Vergessenheit gerieten. Das Spektrum dieser sozialwissenschaftlich ausgerichteten Ansätze reicht von marxistischen und materialistischen Positionen, wie sie etwa von Bloch und Lukäcs, aber auch in Marcuses und Adornos Kritischer Hermeneutik vertreten werden, bis zu Konzeptionen, die unter dem Einfluß der Wissenssoziologie von Karl Mannheim und Max Scheler entwickelt worden waren: Hierbei ist vor allem an die in den zwanziger und dreißiger Jahren entstandenen Arbeiten von Ludwig L. Schücking, Ernst Kohn-Bramstedt, Leo Löwenthal, Arnold Hauser und Erich Rothacker zu erinnern.7 6 7

Ebd. Hinzuweisen ist v. a. auf folgende Schriften: Erich Rothacker: Der Beitrag der Philosophie und der Einzelwissenschaften zur Kunstsoziologie. In: Verhandlungen des Siebenten Deutschen Soziologentages 1931, S. 132-156. - Ders.: Bausteine der Kultursoziologie. In: Gegenwartsprobleme der Soziologie. Hg. v. G. Eisermann. Potsdam 1949, S. 79-99. - Ernst Kohn-Bramstedt: Probleme der Literatursoziologie. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung (1931), S. 719-731. - Levin L. Schücking: Soziologie der literarischen Geschmacksbildung. Bern-München:

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Bernhard Jendricke

Die Haupttendenz der a k t u e l l e n Forschung auf literarhistorischem Gebiet läßt sich mit einer einfachen Formel charakterisieren: Literaturgeschichte wird heute vor allem unter dem Motto »Sozialgeschichte der Literatur« geschrieben; jedoch bilden die mit dem Etikett »Sozialgeschichte« versehenen Konzeptionen alles andere als eine theoretisch-methodisch homogene Gruppe. Man kann feststellen, daß die Anlehnung an die »Sozialgeschichte« in den historischen Wissenschaften nicht selten rein metaphorisch bleibt, d. h. daß es oft an einer sozialwissenschaftlich begründeten Systematik der Problemstellung und an der zureichenden Überprüfung und Diskussion der realgeschichtlichen Kategorien fehlt, auf die zurückgegriffen wird (vgl. den Abschnitt zu Horst A. Glasers Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, S. 34 f.). Daneben finden sich aber auch Ansätze in der Literaturwissenschaft, in denen versucht wird, die erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundprobleme einer sozialgeschichtlichen Konzeption zu reflektieren, um so im Anschluß an die historiographische Theorie eine spezielle Historik und Hermeneutik für ihr literarisches Arbeitsfeld zu gewinnen. Es darf aber nicht übersehen werden, daß das Interesse an »Sozialgeschichte«, an Literaturgeschichtsschreibung generell, nicht überall auf ungeteilte Zustimmung stößt. Die heute wieder intensiv diskutierten Probleme der Literaturgeschichtsschreibung (so der Titel von Beiheft 10 der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 1979) haben Zweifel aufkommen lassen am Sinn von Literarhistoriographie im allgemeinen und insbesondere am »Fortschritt«, der sich aus der Theoretisierung der literaturgeschichtlichen Praxis ergibt. Aus verschiedenen Richtungen werden Bedenken geäußert gegen eine - wie man meint - übersteigerte Theoriebildung, vor deren Hintergrund die Individualität und Singularität des literarischen Kunstwerks verdeckt zu werden drohe. Jürgen Sörings Argumentation ist hierfür ein typisches Beispiel.8 Seiner Meinung nach übersehen die historischen Rekonstruktionsverfahren, die nur nach den allgemeinen Konstanten in der geschichtlichen Entwicklung fragen, allzu leicht den eigentlichen Kernpunkt der literaturwissenschaftlichen Arbeit, nämlich die Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit des ästhetischen Werks. Wo das Augenmerk vor allem den abstrakten historischen Strukturen gelte und der theoriebezogenen Beschreibung von Wandlungsprozessen, gehe die Erfahrung des Einzelnen und Besonderen verloren. Dagegenzuhalten ist, daß die Rekonstruktion übergeordneter Strukturen und die Einzelanalyse sich nicht gegenseitig ausschließen müssen, sondern einander bedingen. Auch scheint es voreilig, aus der Skepsis Franke 1961 (1. Auflage München 1923). - Ders.: Soziologie und Literatur. In: Forschung und Fortschritte (1931), S. 372-373. - Leo Löwenthal: Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur. In: Zeitschrift für Sozialforschung 1/2 (1932), S. 85-102. - Arnold Hauser: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. 2 Bde. München: Beck 1953. 8 Jürgen Söring: Zur poetischen Erfahrung von >GeschichtlichkeitLebensgeschichte< der an literarischer Kommunikation beteiligten Personen. Mit dieser Konstruktion soll die Zusammengehörigkeit von Bewußtsein und Unbewußtem, die Einheit von Empfinden, Denken und Handeln wieder erfahrbar werden. Die »Diskursanalyse«,10 verstanden als Entdeckung der »kontingenten und historischen Bedingungen unseres Sprechens und Schreibens«,11 löst bei Friedrich Kittler und Horst Turk das Bemühen um die Rekonstruktion von überindividuellen Entwicklungen ab. Der Zugang zur Historizität von Literatur wird durch die diagnostisch-emphatische Beobachtung ihrer Teilnehmer, nicht aber über die distanzierte Analyse von gesellschaftlichen Strukturen gesucht. Aus einer anderen Position kritisiert Uwe Japp die Literaturgeschichtsschreibung. Seine Bedenken richten sich gegen ganzheitliche und universalistische Konzeptionen, wie sie aus der Tradition der Literarhistoriographie im 19. Jahrhundert bis in unsere Zeit überliefert wurden. Japp setzt dagegen auf das Prinzip der Dekonstruktion und empfiehlt die »Beziehungsgeschichte«,12 die historische Veränderungen im literarischen Prozeß ohne den obligatorischen Bezug zur linearen Kausalität zu beschreiben versucht: Es gibt weder eine Wahrheit noch eine Substanz der Literaturgeschichte; alles, was wir hier entdecken können, sind Beziehungen, die in den geschriebenen Literaturgeschichten einer bestimmten Ordnung unterworfen werden.13

9

Ebd. S. 49. Friedrich Kittler/Horst Turk (Hg.): Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977. 11 Ebd. S. 7. 12 Uwe Japp: Beziehungssinn. Ein Konzept der Literaturgeschichte. Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt 1980. Die Differenz zwischen Verlaufs- und Strukturgeschichte und der »Beziehungsgeschichte« erklärt Japp folgendermaßen: »Man kann sagen, daß die Idee des Ganzen an unserem historischen Horizont verblaßt. Zwar bleibt sie als ausgesprochene oder unausgesprochene Utopie des Ganzen der Literatur gegenwärtig, als Element der Praxis ist sie aber mehr und mehr vergangen. Dagegen und deshalb entstehen die zahlreichen Perspektiv-Geschichten, die >BeziehungsOffenheit< der Grundeinstellung ermöglicht jedoch, unterschiedliche Positionen, Verfahrensweisen und Themenschwerpunkte >stillschweigend< zusammenzuführen. Im Vorwort zum ersten Band erklärt Zmegac, worauf es methodisch ankommt: nachzuweisen, in welchen Formen sich eine allgemeine Wandlung der Produktions- und Kommunikationsbedingungen auf das künstlerische Schaffen einer Zeit auswirkt und wie sich Geschichte, Veränderung also, in der Werkfaktur ausprägt. Die Wirkungen, die dabei zu berücksichtigen sind, erscheinen in der Regel auf vielfache Weise vermittelt, kanalisiert in einem Netz komplexer Beziehungen.20

Da »namentlich in der Dialektik von Gestalt und Stoff [...] die soziale Signatur der Werke am deutlichsten ausgeprägt ist«,21 steht die traditionelle Werkanalyse im Mittelpunkt. Die Leitlinien des historischen Interesses sind damit vorgezeichnet: es geht in Zmegacs Literaturgeschichte darum, den Funktionswandel der gesellschaftlich Institution Literatur im Kontext der sich verändernden Kommunikationsbedingungen in Produktion und Rezeption nachzuzeichnen.

20

Viktor Zmegaö: Einleitung. Zum Problem der Literarhistorie. In: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. I/1 1700-1848. Hg. v. V. Z. Königstein: Athenäum 1979, S. XI-XXXIH. Hier S. XXIII. 21 Ebd. S. XXVI.

Neuere Konzepte der Sozialgeschichte der Literatur

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Noch mehr fehlt der von Glaser herausgegebenen »Sozialgeschichte« der Literatur eine verbindliche theoretische Begründung. Skepsis scheint angebracht, ob die von Glaser in der Einleitung zum fünften Band empfohlene Rückbesinnung auf die methodischen Ansätze von Gervinus und Hettner22 als heuristische Orientierung für eine umfassend angelegte Literaturgeschichte ausreicht. Auf welch unsicheren Füßen Glasers Konzept tatsächlich steht, bezeugen Äußerungen wie die programmatisch gemeinte Forderung, daß »der Geist der Werke [...] weniger idealistisch als materialistisch mit dem Geist der Epoche vermittelt werden«23 solle; offenbar als Ersatz für eine einheitliche Konzeption, die die Beiträge der einzelnen Bände untereinander verbinden könnte, wird in jedem Band ein »sozialgeschichtlicher Abriß« mit den wichtigsten politischen, sozialen und ökonomischen Daten der jeweiligen Epoche vorangestellt und als Schlußbeitrag die »Epoche in der Literaturgeschichtsschreibung« brevierartig charakterisiert. Die zweite Gruppe sozialgeschichtlich orientierter Ansätze ist verknüpft durch literarhistorische Forschungen, deren Ziel in der t h e o r i e g e l e i t e t e n E x p l i k a t i o n d e s Z u s a m m e n h a n g s v o n l i t e r a r i s c h e r u n d sozialer E v o l u t i o n besteht. Als Vertreter dieses Ansatzes sind etwa Peter und Christa Bürger, Jochen Schulte-Sasse und Rolf Grimminger zu nennen.24 Während Peter und Christa Bürger ihr Interesse hauptsächlich der theorieorientierten Analyse des historischen Prozesses zuwenden, konzentrieren sich die Arbeiten von Schulte-Sasse und Grimminger vor allem auf das Problem, anhand sozioökonomisch und geistesgeschichtlich fundierter Modelle die geschichtliche Entwicklung zu rekonstruieren. Auch in dem 1983 erschienenen, von Peter Bürger herausgegebenen Band Zum Funktionswandel der Litera22

Horst A. Glaser: Einleitung. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 5. Zwischen Revolution und Restauration. Hg. v. H. A. G. Reinbek: Rowohlt 1980, S. 7-13. Hier S. 8. 23 Glaser bezieht zwar diese Äußerung auf Werner Kohlschmidts Überlegungen zum Verhältnis von Literaturgeschichte und historischer Soziologie; aus den folgenden Ausführungen wird aber unmißverständlich deutlich, daß er damit auch die Leitlinie seiner eigenen literarhistorischen Arbeit meint. 24 Wichtige Veröffentlichungen dieser Autoren sind u.a.: Peter Bürger: Institution Kunst als literatursoziologische Kategorie. Skizze einer Theorie des historischen Wandels der gesellschaftlichen Funktion der Literatur. In: P. B.: Vermittlung - Rezeption - Funktion. Ästhetische Theorie und Methodologie der Literaturwissenschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 173-199. - Seminar: Literatur- und Kunstsoziologie. Hg. v. P. B. Frankfurt/M.: Suhrkamp: 1978. - Christa Bürger: Der Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst im höfischen Weimar. Literatursoziologische Untersuchungen zum klassischen Goethe. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977. - Jochen Schulte-Sasse: Literarische Struktur und historisch-sozialer Kontext. Zum Beispiel Lessings >Emilia Galottk Paderborn: Schöningh 1975. - Aufklärung und literarische Öffentlichkeit. Hg. v. Christa Bürger, Peter Bürger und Jochen Schulte-Sasse. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980. - Rolf Grimminger: Die Utopie der vernünftigen Lust. Sozialphilosophische Skizze zur Ästhetik des 18. Jahrhunderts bis zu Kant. In: Christa Bürger u. a.: Aufklärung, S. 116-132. Zu Grimminger vgl. auch Anm. 26.

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Bernhard Jendricke

tur25 werden explizit theoriebezogene Deskription und historiographische Rekonstruktion getrennt, wie bereits aus der Gliederung in »Theorie« und »historische Fallstudien« hervorgeht. Die vier genannten Autoren stimmen in der Absicht überein, anstelle von Beschreibungen großräumiger, jahrhunderteübergreifender Entwicklungen die Konzentration auf einen systematisch abgegrenzten historischen Zusammenhang zu lenken. Keineswegs zufällig steht das 18. Jahrhundert dabei im Vordergrund: In diesem geschichtlichem Zeitabschnitt hat sich die - in Bürgers Diktion - »gesellschaftliche Institution Literatur« in der heute noch bestehenden Form konstituiert. (An späterer Stelle dieses Beitrags soll gezeigt werden, worin sich Bürgers Kategorie der »Institution Literatur« von unserem Institutionsbegriff unterscheidet). Peter Bürgers Studien behandeln vornehmlich die institutionsgeschichtlich relevanten Aspekte der literarischen Evolution. Mit Bezug auf die geschichtsphilosophisch begründeten Theoreme des historischen Materialismus' und die Verfahren der Kritischen Hermeneutik will Bürger die Entwicklung der Autonomieästhetik und die Herausbildung des institutionellen Status von Kunst und Literatur im 18. Jahrhundert als einen Prozeß der Ideologisierung von Kunstproduktion und -rezeption in der bürgerlich verfaßten Gesellschaft rekonstruieren. Primäres Ziel ist daher die Ideologiekritik an der bürgerlichkapitalistischen Kunstauffassung. Die Arbeiten von Christa Bürger und Jochen Schulte-Sasse folgen im wesentlichen dieser Linie. Rolf Grimminger wählt einen anderen Ansatzpunkt. In seinem Einleitungsessay zur Hanser-Literaturgeschichte26 will er am Beispiel der Aufklärung die literarhistorische Entwicklung in Beziehung setzen mit einer Gesellschafts- und Bewußtseinsgeschichte, die die soziokulturell dominanten Strukturen der Zeitepoche nachzeichnet. »Bewußtsein« wird dabei verstanden als bestimmte historische Form der heterogenen und oftmals auch widersprüchlichen Integration von Mentalitäten, Wertorientierungen und Interessen, von Geistesströmungen und affektiven Regungen der am Geschichtsprozeß beteiligten Gruppen und Individuen. Mit dem Begriff des Bewußtseins, der an das Konzept der Mentalite-Forschung erinnert,27 entwirft 25

Zum Funktionswandel der Literatur. Hg. v. Peter Bürger. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983. Bürgers neueste Veröffentlichung konnte in diesem Beitrag inhaltlich nicht mehr berücksichtigt werden, da sie erst nach Abschluß des Manuskripts erschien. Die Inhaltsangabe allein signalisiert schon eine deutliche Zweiteilung zwischen theoretischen und analytischen Aspekten. Teil A beschäftigt sich mit dem »Funktionswandel der Literatur als theoretischem Problem«, Teil B bietet »Historische Fallstudien«. 26 Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 3. Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution. 1680-1789. Hg. v. Rolf Grimminger. München-Wien: Hanser 1980. 27 Vgl. Rolf Reichardt: >Histoire des Mentalitesstrukturalistischen< Wissenschaftstheorie nach Sneed und Stegmüller. Das von ihm entworfene Raster literarhistorischer Problemlagen ist integriert in die umfassende Empirische Theorie literarischen Handelns, der zufolge von der prinzipiellen »Historizität und Sozialität« aller Elemente, Konstellationen und Aktionen im gesellschaftlichen »Handlungssystem LITERATUR« auszugehen sei. Mit dieser universalen Konzeption versucht Schmidt den Weg zu ebnen für die Aufhebung und Überführung der bisherigen »Teildis28

Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin: Volk und Wissen 1958ff.

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Bernhard Jendncke

ziplin Literaturgeschichte« in den globalen Rahmen einer autonomen, empirisch-analytisch begründeten Literaturwissenschaft. Die Bemühungen um eine Neuorientierung der historiographischen Praxis und um die Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Literaturgeschichte machen - unabhängig davon, von welcher theoretisch-methodischen Position aus sie unternommen werden - eines jedenfalls deutlich: Literaturgeschichtsschreibung ist heute ohne literatur- und handlungstheoretische Fundierung nicht denkbar. Es gibt keine >voraussetzungslose< Literaturgeschichte, die sich auf Ordnungskriterien stützen könnte, welche das historische Material gleichsam von selbst anbietet. Fortschritte auf literaturgeschichtlichem Gebiet lassen sich deshalb nur dann erzielen, wenn der Objektbereich der literarhistorischen Forschung exakt definiert und ein systematischer Zusammenhang zwischen dem literarischen Prozeß und seinem sozialen, politischen und ökonomischen >Umfeld< erschlossen wird. Es ist daher als eine vordringliche Aufgabe anzusehen, die Literaturgeschichte mit Modellen der Gesellschaftsgeschichte in Beziehung zu setzen und den Literaturbegriff so zu bestimmen, daß es möglich wird, ihn an den in der sozialwissenschaftlichen Diskussion entwickelten System- und Handlungsbegriff anzuschließen.

2.

Zum gegenwärtigen Stand der Theoriebildung für eine Sozialgeschichte der Literatur

Verfolgt man die gegenwärtige Debatte über Fragen der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung, so fällt zunächst ein Faktum auf: Die seit dem Ende des zweiten Weltkrieges in der Bundesrepublik vorherrschende, von Wolfgang Kayser und Emil Staiger angeführte Tradition der philologischen Hermeneutik ist als grundlegende Methodik literaturgeschichtlicher Rekonstruktion nicht mehr unbestritten. Zwei Entwicklungen bestimmen heute das Bild der theoretischen Neuansätze in der Literaturwissenschaft. Zum einen ist dies der Versuch, den Anschluß an interdisziplinäre Fragestellungen herzustellen, wobei in erster Präferenz die Verbindung zu sozialwissenschaftlichen Struktur-, Funktions- und Systemmodellen gesucht wird. Zum anderen wird aber auch die Übernahme von sozialphilosophischen, ideologiekritischen und empirisch-analytischen Ansätzen verfolgt. Diese Neuorientierungen haben ihren guten Grund. Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Probleme der Theoriebildung, die im wesentlichen auf den »methodologischen Autonomieanspruch«29 der bislang favorisierten historisch-hermeneutischen und interpretatorischen Verfahren zurückgehen (also hauptsächlich, wenn auch nicht allein, der »Theoriefeindlichkeit der immanenten Interpretation«30 zuzuschreiben sind), für die Literaturwissenschaft und insbesondere 29

Gerhard Pasternack: Theoriebildung in der Literaturwissenschaft. Einführung in Grundfragen des Interpretationspluralismus. München: Fink 1975, S. 9. 30 Aufklärung und literarische Öffentlichkeit. Hg. v. Christa Bürger, Peter Bürger und Jochen Schuhe-Sasse. Frankfurt: Suhrkamp 1980, S. 9.

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für die Germanistik eine doppelte Gefahr bedeuten: Zum einen droht das Risiko der tendenziellen Isolation gegenüber den Nachbardisziplinen, zum anderen besteht die Gefahr, den Blick für die geltenden metatheoretischen Kriterien von Wissenschaftlichkeit31 zu verlieren. So wünschenswert ein höherer Grad an Theoretisierung in der Germanistik sein mag, darf das legitime >Nachholbedürfnis an Theorie< freilich nicht zu dem Trugschluß verleiten, die Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft sei durch eine einzige theoriereiche Kraftanstrengung zu bewerkstelligen. Nach dem bisherigen Verlauf der Theoriediskussion, die erst seit etwa einem Jahrzehnt in nennenswertem Umfang Beachtung und Beteiligung findet, kann eine globale Theoriebildung, die alle Mängel und Versäumnisse der zurückliegenden Jahre auf einen Schlag zu überwinden imstande wäre, ernsthaft wohl kaum erwartet oder gefordert werden. Überdenkenswert ist deshalb der von Gerhard Pasternack eingebrachte Vorschlag einer »stufenweisen Theoretisierung«.32 Mit diesem Begriff bezeichnet Pasternack den Versuch, unter Berücksichtigung bereits vorliegender Ergebnisse und durch kritisch-kontrollierte Weiterentwicklung des Repertoires an traditionellen Ansätzen und Modellen Schritt für Schritt immer jeweils höhere Ebenen der Erarbeitung komplexer und expliziter Theorien anzusteuern. Dieses Verfahren, das die Annahme einschließt, der Grad an Theoretizität ließe sich kontinuierlich verbessern, setzt zwar - wie Pasternack einräumt - »weitreichende erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fragen«33 nach den Bedingungen und Kriterien von Theoriegebäuden voraus. Unabhängig davon glaubt Pasternack auf literaturwissenschaftlicher Seite eine Orientierungslinie vorzeichnen zu können, die den ersten Schritt auf dem Weg des Theoriebildungsprozesses einleitet: Voraussetzung aller weiterführenden Überlegungen sollte die Differenzierung und Relationierung der literaturwissenschaftlichen Beschreibungssysteme nach ihrem theoretischen Status sein. Pasternack selbst unterscheidet drei mögliche Entwicklungsstufen: (1) die vortheoretisch intuitiv gewonnenen Paraphrasen; (2) die deskriptiven und taxonomischen Aussagen im Rahmen tradierter, theoretisch zwar nicht abgesicherter, aber teilnormierter Kategoriensysteme, z. B. der Rhetorik; (3) die explanativen Aussagen auf der Grundlage nomologischer oder quasi-nomologischer Systeme (Gesetzeshypothesen).34 31

Vgl. Pasternack, Theoriebildung, S. 157-174. - In wünschenswerter Deutlichkeit reflektiert S. J. Schmidt die metatheoretischen Vorannahmen der Empirischen Literaturwissenschaft (Titelangabe vgl. Anm. 147): Die »drei allgemeinen metatheoretischen Ziele, die eine ETL [Empirische Theorie der Literaturwissenschaft] zu erreichen versucht« (Schmidt: Grundriß Bd. l, S. 5), nämlich »Empirizität«, »Theoretizität« und »Relevanz« (bzw. »Applikabilität«) sollten eigentlich bei jeder der neueren literaturwissenschaftlichen Konzeptionen als selbstverständlich vorausgesetzt werden dürfen. 32 Pasternack: Theoriebildung, S. 171. 33 Ebd. 34 Ebd. S. 173.

40

Bernhard Jendricke

Dieses Schema mag als zu vereinfachend kritisiert werden. Berechtigte Zweifel sind auch anzumelden, ob die von Pasternack so bezeichnete dritte mögliche Stufe an Theoretizität: »Beschreibungssysteme mit explanativer Kraft«35 auf der Basis nomologischer Konstruktionen jeweils erreicht und was dieser Frage noch vorausgeht - ob dies überhaupt als Ziel der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung angesehen werden kann. Zumindest für das Untersuchungsmodell der Münchener Forschergruppe, das im folgenden Abschnitt skizziert werden soll, liegt die weiterführende Perspektive in der Entwicklung einer historisch-systematischen Konzeption, nicht jedoch im nomologischen Ideal. Wie immer man Pasternacks Drei-Phasen-Schema beurteilen mag: in jedem Fall sollte Klarheit darüber herrschen, daß zum jetzigen Zeitpunkt der Weg der »stufenweisen Theoretisierung« nicht mit Sieben-Meilen-Stiefeln zurückgelegt werden kann und deshalb die Ergebnisse der aktuellen Diskussion keinesfalls Endgültigkeit beanspruchen wollen oder dürfen.

3.

Zum theoretischen und forschungspragmatischen Status des Münchener Untersuchungsmodells

Auch das Untersuchungsmodell der Münchener Forschergruppe gehört zur Gruppe der w o r k s in progress. Beim gegenwärtigen Stand der Problemklärung beansprucht unser Theorieentwurf den Status eines h e u r i s t i s c h e n Modells. Seine Leistungsfähigkeit im Sinne der Theoriebildung beweist sich vor allem darin, daß es möglich ist, auf seiner Grundlage Aussagen deskriptiver und systematisierender Art zu treffen (nomologische oder prognostische Aussagen werden hingegen, wie bereits erwähnt, nicht angestrebt). Der Modellcharakter des Untersuchungskonzepts reagiert in forschungspragmatischer Hinsicht auf die theoriebezogenen Erfordernisse und Bedürfnisse der Münchener Projektgruppe. Die historisch-empirischen Einzelstudien der Forschergruppe zur »Sozialgeschichte der deutschen Literatur 17701900« sind auf ein breites Themenfeld hin angelegt, wobei die Schwerpunkte auf der Erforschung von Institutionen des literarischen Lebens und literarischen Institutionalisierungen, Untersuchungen über die Funktion sozialer und ästhetischer Normen und Analysen zu Distributionsformen literarischer Texte liegen (vgl. Bd. l, Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Jahrhundertwende. Einzelstudien. Hrsg. im Auftrag der Münchener Forschergruppe »Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770 bis 1900«. Hrsg. von Günter Häntzschel, John Ormrod, Karl Renner. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 13) Tübingen: Niemeyer 1985). Das Interesse an der spezifischen Beziehung zwischen sozialem und literarischem Handeln in ihrer geschichtlichen Entwicklung seit Mitte des 35

Ebd.

Neuere Konzepte der Sozialgeschichte der Literatur

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18. Jahrhunderts steht dabei immer im Vordergrund. Zur Rekonstruktion dieser Beziehung bedarf es eines systematischen Modells, das die Korrelation von Gesellschaftsgeschichte und Literaturgeschichte ermöglicht. Weder seine Genese aus der literatunvissenschaftlichen Praxis noch das pragmatische Interesse an einem handhabbaren Begriffsinstrumentarium bindet jedoch das Untersuchungsmodell an temporäre Forschungsziele oder beschränkt es auf singuläre Untersuchungsprojekte. Ohne damit der Verselbständigung der literaturtheoretischen Arbeit gegenüber dem materialen Gegenstandsbereich einer Sozialgeschichte der Literatur, den literarischen Texten und historischen Dokumenten, Vorschub zu leisten, richtet sich die Perspektive des Untersuchungsmodells auf eine »Theorie mittlerer Reichweite«.36 Robert Merton, von dem dieser Terminus stammt, bezeichnet damit Theorien, die eine mittlere Position einnehmen zwischen reinen Arbeitshypothesen, die aus empirischen Beobachtungen und Datensammlungen gewonnen werden, und umfassenden systematisierten und formalisierten Theoriegebäuden. Theories of the m i d d l e range werden von Merton ursprünglich im Bereich der Soziologie angesiedelt, ihrem Charakter nach sind sie aber auch für andere Disziplinen praktikabel. Ausgehend von der Einsicht, daß die zentrale sozialgeschichtliche Fragestellung nach den Beziehungen von >Literatur< und >Gesellschaft< ohne handlungstheoretische und makrosoziologische Konzepte nicht angegangen werden kann, stellt unser Modell den Versuch dar, genuin soziologische und literaturwissenschaftliche Ansätze zu kombinieren.37 Die Systemtheorie Parsons', die eine mikrosoziologische handlungstheoretische Perspektive mit einer makrosoziologischen gesamtgesellschaftlichen verbindet, schien daher nach bestimmten grundlegenden Modifikationen des Parsons'schen Systemmodells - als theoretische Basis geeignet. Das Systemmodell, das wir als zentrales Organon der Analyse unseres Untersuchungsfeldes verwenden, stützt sich vor allem auf die späten Arbeiten von Talcott Parsons und die sich daran anschließende Diskussion (vgl. Meyer/Ort, S. 103ff.). Parsons' Systemkonstruktion ermöglicht es, vier Voraussetzungen der unserer Meinung nach sinnvollen Entwicklung eines Untersuchungskonzepts zur Sozialgeschichte der Literatur zu schaffen: 36

Robert K. Merton: Social Theory and Social Structures. New York: Free Press; London: Collier-Macmillan 1968, S. 39-40. Mertons Definition der Theories of the m i d d l e range lautet: »It [d.i. Theorie mittlerer Reichweite] is intermediate to general theories of social systems which are too remote from particular classes of social behavior, organization and change to account for what is observed and to those detailed orderly descriptions of particular that are not generalized at all. Middle-range theory involves abstractions, of course, but they are close enough to observed data to be incorporated in propositions to permit empirical testing. Middle-range theories deal with delimited aspects of social phenomena, as is indicated by their labels.« (Ebd.) 37 Vgl. Pasternack: Theoriebildung, S. 166.

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(1) Interdisziplinarität Während das Charakteristikum v. a. älterer Arbeiten, die mit den Attributen »sozialgeschichtlich« versehen wurden, häufig darin besteht, daß sich ihre Beziehung zu den sozialwissenschaftlichen Disziplinen in bloß metaphorischen Anleihen aus der Terminologie oder in der Übernahme eines kausalen Basis-Überbau-Schemas erschöpft, wird es durch die Orientierung am Systemmodell38 möglich, eine kontrollierte und reflektierte Verbindung zwischen literaturwissenschaftlichen Konzeptionen und sozialwissenschaftlichen Kategorien herzustellen. Die Anwendung des Systemmodells soll und kann nicht die Arbeit an literarischen Texten ersetzen; das Systemmodell ist aber in der Lage, die bisherige Interpretationspraxis und Literaturgeschichtsschreibung um Bezüge zu erweitern, die außerhalb des Blickfeldes traditioneller Hermeneutik liegen: den literarischen Text nicht allein als spezifisch ästhetisches Werk bzw. Werksystem zu sehen, sondern als Ergebnis und Ausgangspunkt sozialer Handlungen, die nicht allein aus dem Text erschlossen werden können.

(2) Theoretizität Die Orientierung am sozialwissenschaftlichen Systemmodell ermöglicht eine hinreichende theoretische Fundierung der forschungspraktischen Arbeit zur Sozialgeschichte der Literatur. Die Systemtheorie39 stellt Kategorien für die Beschreibung von Handlungszusammenhängen bereit und bietet der literarhistoriographischen Rekonstruktion einen elaborierten und expliziten Theorierahmen, auf dessen Basis sinnvolle Hypothesen formuliert werden können (vgl. Meyer/Ort S. 131 ff.). Gemäß der Strukturierungsvorgaben dieser Hypothesen werden die empirischen Daten selegiert und organisiert. Die so erarbeiteten Befunde erlauben es, die Gültigkeit der historisch-analytischen Hypothesen empirisch zu kontrollieren. Die Forderung nach einem reflektierten Theoriebezug, die Pasternack als Bedingung für eine weiterführende Theoriebildung stellt, kann somit eingelöst werden.40

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Ebd. S. 166-167. Zwar bezieht Pasternack das Modell des »beispielimitierenden Theoretisierens« hauptsächlich auf den Bereich der Linguistik, doch scheint dieses Verfahren auch für die Literaturwissenschaft praktikabel. 39 Wir beziehen uns vor allem auf die Arbeiten des »späten« Parsons, insbesondere auf: T. P.: The System of Modern Societies. Englewood Cliffs: Prentice-Hall 1971. Ders.: Social Systems and the Evolution of Action Theory. New York: Free Press 1977. - Ders. /Platt, Gerald M.: The American University. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press 1973. 40 Vgl. Schmidts metatheoretische Postulate: Grundriß Bd. l, S. 5-6 und Bd. 2, S. 4-9 (Titelangabe vgl. Anm. 147).

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(3) Rationalität Das Systemmodell Parsons' beruht auf strukturfunktionalistischen Konzeptionen, steht daher nicht unter dem Einfluß der monokausalen Denktradition. Im Hinblick auf den qualitativen Status der Aussagen, die auf der Basis unseres Untersuchungsmodells getroffen werden können, bringt dies den Vorteil, daß - bei adäquater Anwendung des Modells - kurzschlüssige Deutungsmuster ebenso vermieden werden wie deterministische Ableitungen oder geschichtsphilosophische Spekulationen.

4.

Theoretisch fundierte Konzeptionen einer Sozialgeschichte der Literatur. Das Modell der Münchener Forschergruppe im Vergleich

4.1.

Werkästhetisch akzentuierte Ansätze

4.1.1. Der Prager Strukturalismus: Jan Mukafovsky, Felix Vodicka Zwei Gründe sprechen dafür, den Vergleich bei den Konzeptionen des Prager Strukturalismus' beginnen zu lassen. Zum einen nämlich steht der Prager Strukturalismus in chronologischer Sicht an erster Stelle der literaturtheoretischen Ansätze, die in Betracht zu ziehen sind. Seine Rezeption, die mit nahezu dreißigjähriger Verspätung Mitte der sechziger Jahre in der Bundesrepublik einsetzte, vermittelte nicht nur den Bemühungen um die Ablösung der werkimmanenten Interpretation wichtige Impulse, sie förderte auch Entwicklungen, die innerhalb der Theoriediskussion heute noch von weitreichender Bedeutung sind. Zum anderen aber, und hierin liegt der eigentliche Grund, ist nicht zu übersehen, daß zwischen dem Begriffsinventar des Prager Strukturalismus und unseres Untersuchungsmodells terminologische Übereinstimmungen herrschen. Termini wie »System« »Struktur« und »Funktion« stehen auch im Mittelpunkt des literaturtheoretischen und literaturästhetischen Gesamtentwurfs von Jan Mukafovsky, dem zweifellos wichtigsten Vertreter des »Circle linguistique de Prague«. Doch wäre es voreilig, hieraus bereits den Schluß auf eine mögliche Kongruenz der beiden Theoriekonzeptionen zu ziehen. Das System-Denken Mukafovskys steht - besonders in der Frühphase des Prager Linguistenkreises (1926-1932) - unter dem bestimmenden Einfluß der russischen Formalen Schule, der unmittelbaren Vorläuferin des tschechischen Strukturalismus.41 Nach Auffassung der Formalisten sind literarische 41

Sowohl personell (v. a. durch Roman Jakobson) als auch in der Orientierung der theoretischen Arbeit (Verbindung von Linguistik und Literaturwissenschaft) knüpft der Prager Strukturalismus unmittelbar an den Russischen Formalismus an. Eine übersichtliche und differenzierte Darstellung der Genese des Prager Strukturalismus und des Verhältnisses zwischen dem Russischen Formalismus und der »Prager Schu-

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Werke (allgemein: Kunstwerke) als in sich geschlossene Systeme zu denken, auf die jedes Element des Werkaufbaus bezogen ist. Die einzelnen WerkSysteme konstituieren in ihrer historisch je verschiedenen Gesamtheit das System Literatur (in formalistischer Diktion: die »literarische Reihe«), welches wiederum mit den außerliterarischen Reihen (der gesellschaftlichen Umwelt in ihrer Entwicklung) zu korrelieren sei.42 In praxi blieben die Formalisten die Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen der literarischen Reihe und den angrenzenden Umwelt-Systemen schuldig. Mukafovsky folgt auch hierin zunächst der russisch-formalistischen Tradition und richtet sein Interesse hauptsächlich auf die Frage nach den konstitutiven Faktoren des Kunstwerks und deren Verhältnis zueinander. Der Umstand, daß Mukafovskys normativer, am Maßstab des künstlerisch Hochwertigen orientierter Literaturbegriff unvereinbar ist mit dem von ästhetischen Wert- und Qualitätskriterien unabhängigen Begriff des literarischen Textes, den unser Untersuchungsmodell vertritt, verdient zwar Beachtung, hat aber für die Unterscheidung beider Ansätze keine grundsätzliche Bedeutung. Der wesentliche Unterschied ist zurückzuführen auf die Divergenz der Systembegriffe, auf denen die beiden Modelle basieren. Mukafovskys frühe Arbeiten konzentrieren sich auf das zentrale Problem, wie der ästhetische Charakter des Kunstwerks im Verhältnis zu den nicht-ästhetischen Merkmalen der Kunst gekennzeichnet und begrifflich expliziert werden kann. Den Systembegriff verwendet Mukafovsky zur Differenzierung der verschiedenen (phonologischen, lexikalischen und semantischen) Schichten und Komponenten (Gattungsform, Versschema etc.) des literarischen Werks. Unsere Untersuchungsperspektive, die die strukturelle Rekonstruktion des Sozialen Handlungssystems Literatur zum Ziel hat, ist demgegenüber nicht auf die Frage des ästhetischen Besonderheit literarischer Werke oder Texte festgelegt. Im Mittelpunkt des Untersuchungsmodells steht nicht der »ästhetische Charakter« eines Werkes, sondern die Frage nach den verschiedenen Formen literarischer Kommunikation und literarisch-kommuniktiven Handelns und anderen Typen sozialer Interaktion. Diese Problembereiche lassen sich nur dann sinnvoll erschließen, wenn nicht das Kunstwerk an sich, sondern dessen Relationalität im literarischen Handlungskontext das Untersuchungsfeld bildet. Victor Erlich hat darauf hingewiesen, daß die Prager Strukturalisten zu den Vertretern einer funktionalen (anstelle der genetischen) Sprachauffassung le« bietet Jurij Striedter in: Felix Vodicka: Die Struktur der literarischen Entwicklung. Mit einer einleitenden Abhandlung von Jurij Striedter. München: Fink 1976, S. VII-CIII. Speziell zur Traditionsfrage des tschechischen Strukturalismus: S. IXLIX. Dazu auch: Hans Günther: Form und Struktur. In: H. G.: Struktur als Prozeß. Studien zur Ästhetik und Literaturtheorie des tschechischen Strukturalismus. München: Fink 1973, S. 37-46. 42 Vgl. Jurij Tynjanov: Die literarischen Kunstmittel und die Evolution in der Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967, S. 37-45.

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zählen.43 Mukafovskys Funktionsbegriff bezieht sich jedoch - wie es vor dem Hintergrund des reduzierten Systembegriffs auch gar nicht anders möglich ist - auf den Bereich der im literarischen System, im Werk- und Traditionskontext wirksam werdenden literarisch-ästhetischen Elemente: Es geht Muk a f o v s k y in erster Linie um die B e s t i m m u n g des K u n s t w e r k e s in s e i n e r b e s o n d e r e n E i g e n s c h a f t als K u n s t w e r k , erst an sek u n d ä r e r Stelle wird f ü r i h n d i e E i g e n s c h a f t d e s K u n s t w e r k s als P r o d u k t g e s e l l s c h a f t l i c h e n H a n d e l n s und als M i t t e l sozialer K o m m u n i k a t i o n r e l e v a n t . Die Wechselwirkungen und Austauschbeziehungen, die sich aufgrund der funktionalen Verflechtung zwischen literarisch-kommunikativem Handeln und nicht-literarischen Formen sozialen Handelns bilden und das Sozialsystem >Literatur< als solches gegenüber seinen Umweltsystemen abgrenzen, bleiben bei ihm weitgehend ausgespart oder werden bestenfalls angedeutet. Selbst dort, wo bei Mukafovsky vom werkexternen bzw. außerkünstlerischen Funktionszusammenhang die Rede ist, steht nicht das Soziale in der K u n s t , sondern die »Frage nach dem Ästhetischen außerhalb der Kunst«44 im Vordergrund. Zur Verdeutlichung des Unterschieds: Während in unserem Untersuchungsmodell die Kategorie der Funktion verwendet wird zur Analyse verschiedener F u n k t i o n s l e i s t u n g e n und I n t e r p e n e t r a t i o n s b e z i e h u n gen innerhalb eines Systems, setzt Mukafovsky den Funktionsbegriff vornehmlich ein zur Rekonstruktion der Beziehungen der im Kunstwerk versammelten literarischen Elemente. Dabei steht die Erkenntnis der ästhetischen Funktion im Vordergrund, da diese - als Leistung der poetischen Sprache45 - per definitionem das Kunstwerk erst als solches konstituiert und die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf das Werk lenkt. Um die Literarizität des Werkes erschließen zu können, greift der frühe Strukturalismus46 auf das technische Funktionsverständnis zurück, das die russische Formale Schule entwickelt hatte. Nach deren Meinung gelten als Funktionen (a) - auf der Ebene des Einzelwerks - der Konstruktionszusammenhang der (ästhetischen) Faktoren, die den Werkaufbau konstituieren (»Synfunktion«) und (b) - auf der Ebene der literarischen Reihe - der formale Stellenwert des jeweiligen Werkes (z. B. innovatorische Leistung) im Kontext vergleichbarer Werke (»Autofunktion«).47 43

Victor Erlich: Russischer Formalismus. Frankfurt: Suhrkamp 1973, S. 173. Jan Mukafovsky: Der Standort der ästhetischen Funktion unter den übrigen Funktionen. In: J. M.: Kapitel aus der Ästhetik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970, S. 113137. Hier S. 113. 45 Vgl. Striedter (Anm. 41), S. XIX-XXXIII. Dazu auch: Miroslav Cervenka: Grundkategorien des Prager literaturwissenschaftlichen Strukturalismus. In: Victor Zrnegac und Zdenko Skreb (Hg.): Zur Kritik literaturwissenschaftlicher Methodologie. Frankfurt/M.: Athenäum 1973, S. 137-168. Hier S. 147-148. 46 Cervenka: Grundkategorien, S. 147-148. - Dazu auch: Striedter (Anm. 41), S. XIXXXV. 47 Vgl. Striedter (Anm. 41), S. XX-XXI. 44

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In direktem Gegensatz zu dieser betont werkästhetischen Anwenwendung des Funktionsbegriffs wird in unserem Untersuchungsmodell der Versuch unternommen, den Systemzusammenhang als >Vernetzung< der über das Werk bzw. den Text hergestellten Handlungen darzulegen. Es ist nach den Maßstäben des sozialwissenschaftlichen Systemmodells als eine latente Ontologisierung des Textes zu werten, wenn - wie in den Konzeptionen des Prager Strukturalismus' zu beobachten ist - durch Funktionszuschreibung die vom Text resp. Werk intendierten Wirkungen bzw. projektierten Sinnrealisationen als Wesenseigenschaften des Werkes bzw. Textes oder als dessen Konstruktionsprinzipien festgeschrieben werden. Dagegen beabsichtigen wir mithilfe des Untersuchungsmodells, den über die Vermittlung durch das Werk bzw. den Text zustandegekommenen Handlungskonnex als p o l y f u n k t i o nale V e r k n ü p f u n g aller am System beteiligten individuellen und kollektiven Aktoren zu rekonstruieren (vgl. Meyer/Ort S. 131 ff). In den Konzeptionen des Prager Strukturalismus und insbesondere bei Jan Mukafovsky wird hingegen die Werkstruktur als Funktionsträger hypostasiert auf Kosten der Erforschung der durch die Vermittlung literarischer Kommunikation realisierten und manifest gewordenen Handlungen und kollektiven Handlungsfolgen. Definiert Mukafovsky in den Frühschriften die ästhetische Funktion als Ergebnis eines besonderen Sprachverfahrens (Verwendung »poetischer Sprache« anstatt »praktischer Sprache«48), so modifiziert er in den späteren Arbeiten diese Auffassung und versucht, die ästhetische Funktion als einen negativen Faktor zu erschließen, der die Zweckorientierung des Kunstwerks und seine referentiellen Bezüge zur Wirklichkeit zwar abschwächt, doch nicht völlig aufhebt: Die ästhetische Funktion hat zum Ziel, das künstlerische Zeichen aus seinen praktischen Bezügen zu befreien und die Aufmerksamkeit des Wahrnehmenden auf seinen Aufbau und seine Bedeutung zu lenken,49

bemerkt hierzu Hans Günther. Das Kunstwerk wird von Mukafovsky definiert als ein Ensemble von unterschiedlich ausgerichteten - in Mukafovskys Diktion: »praktischen, theoretischen und symbolischen« Funktionen - deren Negation die ästhetische Funktion konstituiert.50 Die Realisation der ästhetischen Funktion wird dabei durch gesellschaftliche Konventionen, Normen und Werte geregelt, die als historisch variabel und als sozial differenziert gelten. Über diese Werte- und Normencodices, die darüber entscheiden, ob einem Werk der ästhetische Charakter zuerkannt oder abgesprochen wird, verfügt Mukafovsky zufolge nicht das einzelne Individuum, sie sind vielmehr Angelegenheit des »kollektiven Bewußtseins«, das er »als den Ort der einzelnen Systeme kultureller Erscheinungen wie z. B. 48

Vgl. Günther: Struktur, S. 20. Ebd. S. 51. 50 Vgl. Mukafovsky: Ästhetik, S. 128-136. - Dazu auch Günther: Struktur, S. 14-25. 49

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der Sprache, der Religiosität, der Wissenschaft, Politik usw.«51 bezeichnet. Dem kollektiven Bewußtsein fällt auf diese Weise die Aufgabe zu, die literarische Reihe mit den angrenzenden Reihen zu verbinden. Die Einschaltung des Werte- und Normensystems, genauer gesagt des »kollektiven Bewußtseins« als Vermittlungsinstanz zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit ist deshalb notwendig, weil Mukafovskys Funktionsbegriff allein die Verbindung von Literatur und sozialer Realität nicht hinreichend gewährleistet. Gerade die zentrale und dominante Stellung der ästhetischen Funktion, durch die das Kunstwerk im Strukturalismus definiert wird, verhindert oder erschwert zumindest die Rekonstruktion eines Interaktionszusammenhangs zwischen außerliterarischer Wirklichkeit und ästhetischem Gegenstand auf der Basis funktionaler Verflechtung. Wenn Funktionalität paraphrasiert wird als potentielle Eigenschaft des Werkes, bleiben Funktionsbestimmungen zum einen rein literaturimmanent und besitzen zum anderen dort, wo das Werk mit dem sozialen Kontext in Verbindung gebracht werden soll, lediglich metaphorische Bedeutung. Der grundsätzliche Unterschied in der Bestimmung von Funktionen, der sich zwischen der Konzeption Mukafovskys und unserem Untersuchungsmodell abzeichnet (s. Meyer/Ort S. 103ff.), berührt erkenntnisintentionale Fragen: Mukafovskys funktionalistische Auffassung des Kunstwerks hat die Analyse der Bedeutungskomponenten des als komplexes sprachliches Zeichen verstandenen Werkes zum Ziel, d. h. in strukturalistischer Perspektive werden als Funktionen die bedeutungstragenden Elemente des Werks, ihr Verhältnis zueinander und gegenüber dem Rezipienten klassifiziert. Das Untersuchungsmodell hingegen erschließt die Funktionen der im Sozialsystem >Literatur< stattfindenden Handlungen mithilfe der systematischen Rekonstruktion von Handlungsmustern und ihrer systemischen Vernetzung zu kollektiven Handlungsfolgen. Diese Betrachtungsweise klammert keineswegs die Frage aus nach den funktionalen Aspekten der semiotischen Eigenschaften, des Zeichencharakters eines Einzelwerks oder einer Werkgruppe, sie verhindert aber, daß Analysen der Funktionszusammenhänge mit Aussagen über die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens oder Textes konfundiert werden. Kompatibilitätsprobleme ergeben sich auch hinsichtlich der Kategorie der Struktur. Im Unterschied zu unserem Untersuchungsmodell verwendet der Prager Strukturalismus den Begriff der Struktur nicht im analytischen Sinn. Mukafovsky konzipiert einen dichotomischen Strukturbegriff, der sich eng an Saussures Theorie sprachlicher Zeichen anschließt. In Analogie zur Differenzierung zwischen l a n g u e und parole unterscheidet Mukafovsky zwischen dem Kunstwerk als materiell gegebenem Zeichen, dem Artefakt, und dem bedeutungstragen ästhetischen Objekt, als das sich das Kunstwerk im Bewußtsein des Rezipienten konstituiert. Das sprachliche Zeichen, d. h. das 51

Mukarovsky: Ästhetik, S. 31.

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einzelne semiotische Segment wie auch das Kunstwerk in seiner zeichenhaften Gesamtheit, gewinnt Strukturcharakter durch seine »Kontextbindung«.52 Miroslav Cervenka, ein zeitgenössischer Vertreter der Prager Strukturalismus', erklärt, daß diese Kontextbindung nicht die Beziehung des Zeichens zur gegenständlichen Realität meint, »sondern den Kontext der übrigen Zeichen, in den es sich durch seine Bedeutung eingliedert«.53 Von einer Struktur des Werk-Zeichens im eigentlichen, d. h. immateriellen Sinne läßt sich jedoch - wie Mukafovsky betont - erst dann reden, wenn die Rezeption vollzogen wird. Die Konkretisationen der Struktur des ästhetischen Objekts finden vor dem Hintergrund der sich ständig wandelnden Normensysteme statt. Da die Struktur des ästhetischen Objekts sich in der Beziehung zwischen Werk und Rezipient konstituiert, der Rezipient jedoch eine historisch und sozial variable Größe darstellt, ist es nach Mukafovsky nicht möglich, von einer unveränderlichen Struktur zu sprechen. Der >dynamische< Charakter der Struktur resultiert aus der Tradition der Bedeutungsrealisationen, die das Werk im historischen Ablauf erfahren hat. Im Werk ist immer nicht nur das anwesend, was gerade vorhanden ist, also seine aktuelle Struktur, sondern auch das, was war, der vorangehende Stand der künstlerischen Struktur, die lebendige Tradition. Das wechselseitige Verhältnis dieser beiden Stadien ist jedoch dynamisch, sie befinden sich in ständig sich erneuernden Widersprüchen, die immer aufs neue einen Ausgleich suchen. Man kann also sagen, daß auch die Struktur des einzelnen Werks Geschehen ist, Prozeß, kein statisches, genau abgegrenztes Ganzes.«54

Festzuhalten bleibt, daß in Mukarovskys Konzeption die Struktur des Zeichens bzw. Werkes sich nicht durch die Beziehung zur Wirklichkeit bzw. zu bestimmten Wirklichkeitsausschnitten konstituiert, sondern allein in der historisch variablen Zuordnung von Zeichen und Rezipient. Auch bei Felix Vodicka, dem »Hauptrepräsentanten des literaturhistorischen Spezialbereichs«55 innerhalb der Prager Schule, tritt der werksystemimmanente Ansatz des Strukturalismus deutlich zum Vorschein. Zwar steht in seinen Schriften zur »Theorie der Konkretisation« und zur strukturalistischen Rezeptionsgeschichte die Werk-Leser-Beziehung stets als dominanter Bezugspunkt im Zentrum, selbst dort, wo Vodicka - intensiver als Mukafovsky - Fragen stellt nach den kollektiven Voraussetzungen der Konkretisation, nach den kommunikativen Bedingungen ästhetischer Erfahrung im Kollektiv und nach den Konstituenten des individuellen Akts ästhetischer Wahrnehmung. 52

Vgl. Cervenka: Grundkategorien, S. 155-156. Ebd. S. 155. 54 Jan Mukafovsky: Pojem celku v teori umeni. In: J. M.: Cestami poetiky a estetiky. Praha 1971, S. 92. Zitiert nach Günther: Struktur, S. 43. Ich stütze mich auf Günthers Übersetzung, da eine Ausgabe des zitierten Werks von Mukafovsky in einer westlichen Sprache m. W. noch nicht vorliegt. 55 Striedter (Anm. 41), S. VIII. 53

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Aber Vodickas Versuche zur Rekonstruktion des »Kontextes«, seine Studien über die historischen Bedingungen der Konkretisation eines Werkes oder einer Werkgruppe zeigen, daß er den Strukturbegriff primär auf die literarische Tradition bezieht (wie nach ihm der polnische Strukturalist Janusz Slawinski56), die der jeweiligen Werkstruktur übergeordnet ist. Als Konsequenz dieser Auffassung richtet sich sein Interesse hauptsächlich auf die Erforschung der literarischen Konvention einer bestimmten historischen Epoche, nicht aber auf die sozialen, ökonomischen, technischen usw. Bedingungen und Voraussetzungen literarischer Kommunikation. Wenn Vodioka die »literarische Entwicklung« - damit ist die Ausbildung der literarischen Tradition gemeint - in den Mittelpunkt rückt, so muß darin die entscheidende Differenz seines Ansatzes gegenüber unserer Untersuchungsperspektive gesehen werden, da im Verständnis des Untersuchungsmodells (s. Meyer/Ort, S. 163ff.) die literarische Entwicklung ohne Berücksichtigung außerliterarischer Bedingungen und wechselseitiger Einflüsse - soweit sie im Sozialsystem >Literatur< wirksam werden - nicht problemadäquat erfaßt werden kann. 4.1.2. Hans N. Fügens soziologische Roman-Interpretation Zwischen dem Prager Strukturalismus und der empirischen Literatursoziologie, als deren wichtigste Vertreter in der Bundesrepublik Alphons Silbermann und Hans N. Fügen zu nennen sind, besteht auf theoretisch-konzeptioneller Ebene kaum eine Verbindungslinie. Grundsätzliche theoretische Inkompatilibität schließt aber partielle Annäherungen in Einzelfragen und gemeinsame Grundorientierungen nicht gänzlich aus. Dies wird deutlich an Fügens zuletzt erschienenem Beitrag Zur Wissenschaftlichkeit und Systematik der Roman-Interpretation?1 In bewußt schafter Akzentuierung ließe sich die Gegenüberstellung so formulieren: Fügens Ansatz ist nicht weniger werkzentriert als die Arbeiten der Prager Strukturalisten, im Gegensatz zu ihnen bleibt er aber nicht der Werkimmanenz verhaftet. Der Grund für diesen Unterschied ist darin zu sehen, daß Fügen das Problem der Ästhetizität - das beim Prager Strukturalismus im Mittelpunkt steht nicht einmal am Rande thematisiert. Als ästhetisches Gebilde ist der Roman kein Gegenstand des soziologischen Interesses. Fügens soziologischer Zugriff 56

Vgl. Janusz Slawinski: Synchronie und Diachronie im literarhistorischen Prozeß. In: J. S.: Literatur als System und Prozeß. Strukturalistische Aufsätze zur semantischen, kommunikativen und historischen Dimension der Literatur. Ausgewählt, übersetzt, kommentiert und eingeleitet von Rolf Fieguth. München: Nymphenburger 1975, S. 151-172. - Ders.: Literatursoziologie und historische Poetik. In: J. S.: Literatur, S. 173-202. - Ders.: Jan Mukafovsky - Programm einer strukturalistischen Ästhetik. In: J. S.: Literatur, S. 203-217. 57 Hans N. Fügen: Zur Wissenschaftlichkeit und Systematik der soziologischen Roman-Interpretation. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 7 (1982), S. 1-20.

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auf das »soziale Phänomen« Literatur geht aus von der Prämisse, daß »sich mit [Literatur], an ihr und für sie spezielles zwischenmenschliches Handeln vollzieht«.58 Insofern scheint es nur folgerichtig, zu versuchen, den Nachweis für diese Interaktion mit, an und für Literatur in der Literatur selbst zu führen, oder genauer gesagt: auf der Ebene des »Werkinhalts« das besondere Verhältnis zwischen sozialem Handeln und Literatur zu rekonstruieren. (Um Mißverständnissen vorzubeugen: Fügens »soziologische Roman-Interpretation« hat nicht zu tun mit der sozialwissenschaftlichen Inhaltsanalyse oder der strukturalen Textanalyse, auch wenn Fügens Terminologie dies vermuten ließe59). Hinter Fügens Entwurf steht die Vorstellung von in Texten eingeschriebenen Handlungszusammenhängen. Man kann leicht erkennen, daß die handlungstheoretische Begründung der W e r k i n h a l t s a n a l y s e , die Fügen anstrebt, Grundannahmen unseres Untersuchungsmodells berührt und z. B. dem Konzept des funktionalen Zusammenhangs der im Sozialsystem >Literatur< stattfindenden Interaktionen nahe kommt. Warum gerade die Gattung Roman immer wieder als Paradigma der Korrelation von Literatur und Gesellschaft gewählt wird, hat offenbar einen plausiblen Grund: Bekanntlich wird seit jeher - erinnert sei nur an das vielbemühte Zitat von A. W. Schlegel60 - zwischen Roman und Gesellschaft eine besondere Beziehung angenommen. Romantheoretische Untersuchungen, die auf der Grundlage textsemiotischer, sprachphilosophischer oder sprachanalytischer Methoden sich der gattungsgenetischen Problemstellungen annehmen, dabei aber außerliterarische Voraussetzungen des Romans außer acht lassen, verkennen laut Fügen die Tatsache, daß die Entstehung der Romanform nicht bloß auf gattungs- und sprachimmanente Wandlungsprozesse zurückgeführt werden kann. Hinter der Sprachentwicklung sei stets ein gesellschaftlicher Wandel zu vermuten. Historisch konkretisiert bedeute dies, daß die Ausbildung der poetischen Gattung Roman in direktem Zusammenhang gesehen werden müsse mit jener geschichtlichen Phase, die, so Fügen, in der Soziologie als Übergang von der segmentären zur komplexen Gesellschaft bezeichnet wird.61 Neue soziale Organisationsformen und Integrationsweisen 58

Hans N. Fügen: Die Hauptrichtungen der Literatursoziologie und ihre Methoden. Ein Beitrag zur literatursoziologischen Theorie. Bonn: Bouvier. 2. Aufl. 1966, S. 14. 59 Zur sozialwissenschaftlichen Inhaltsanalyse: Werner Früh: Inhaltsanalyse und strukturale Textanalyse. In: Analyse und Kritik. Zeitschrift für Sozialwissenschaften l (1981), S. 93-116. (Dort auch weiterführende Literaturhinweise). - Speziell zur strukturalen Textanalyse: Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. München: Fink 1977; ders.: Zum Verfahren der strukturalen Textanalyse - am Beispiel eines diskursiven Textes. In: Analyse und Kritik l (1981), S. 64-92. 60 Gemeint ist das Zitat: »Der Punkt, wo die Literatur das gesellige Leben am unmittelbarsten berührt, ist der Roman«, aus den Beyträgen zur Kritik der neuesten Litteratur von 1798. Es findet sich sowohl bei Fügen als auch bei Voßkamp (vgl. Anm. 75). 61 Fügen: Roman-Interpretation, S. 3.

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verlangten nach der ihnen adäquaten sprachlich-literarischen Darstellungsform. Der Roman nehme so die »fortschreitende soziale Vielfalt sprachlich und inhaltlich in sich (auf)«,62 und zwar nicht in mimetisch-reproduzierender Weise, sondern im funktionalen Sinne: er repräsentiere »das der arbeitsteiligen Komplexität des gesellschaftlichen Lebens funktional entsprechende Medium«.63 Diese »system-funktionale Leistung [der Romanform] im Rahmen des sozialen Gesamtsystems«64 wird - so lautet Fügens Hypothese - auf der Inhaltsebene des Romans realisiert. Als geeignete Methode, den »Inhalt als formale Wiederholung primärer sozialer Erfahrung«65 zu analysieren, sieht Fügen deshalb die »soziologische Interpretation«. Soweit Fügen die Gattung Roman als literarisches Medium und Funktionsträger sozialen Handelns paraphrasiert, ist sein Ansatz an das Untersuchungsmodell der Münchener Forschergruppe anschließbar. Divergenzen ergeben sich aber aus den Folgerungen, die der Primat des Inhalts nach sich zieht. Die beiden konstitutiven Momente, die Fügen für den Roman voraussetzt, reichen zwar aus, um mithilfe der »soziologischen Interpretation« (die nur eine systematische Gliederung der Oberflächenstruktur der Romanhandlung wiedergibt) das Handlungsgeschehen zu rekonstruieren, für eine differenzierte Funktions- und Strukturanalyse des Handelns mit und über Literatur ist ihre theoretische Tragfähigkeit jedoch zu gering. Die erste Voraussetzung besagt, daß - in abstrahierender Distanz zur jeweiligen konkreten Ausgestaltung - »der Inhalt des Romans nichts anderes sein kann als die dargestellte Interaktion von Personen«.66 Das in eine bestimmte Situation eingebettete Zusammenspiel mehrerer Akteure zum Zweck der Veränderung dieser Situation, nach Fügen der »Kern der Erfahrung allen sozialen Handelns«,67 werde in jeder Handlungsdarstellung des Romans rekonstruiert, stelle somit sein »universelles Grundmuster«68 dar und präge die Struktur des Romaninhalts: dies ist für Fügen das empirische Element des Romans, und, da nicht allein für innerliterarische Handlungen konstitutiv, in seiner »Wiedererkennbarkeit als internalisierte Grunderfahrung dem Leser [zugleich] Garant für die Verstehbarkeit des Romans«.69 Als zweites konstitutives Moment nennt Fügen die Fiktionalität der Romanhandlung. Der fiktionale Charakter des Geschehens, verstanden als Negation der außerliterarischen Realität der Romanhandlung, trage dafür Sorge, »daß nichts vom Inhalt des Romans aus der kontrollierbaren Wirklichkeit übernommen werden muß, als das für den Roman konstitutive empirische Element: das Grundmuster sozialen Handelns«.70 62 Ebd. 63 64

Ebd.

Ebd. S. 3-4. Ebd. S. 5. 66 Ebd. S. 6. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Ebd. 65

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Dem Erkenntnisinteresse der »soziologischen Interpretation« ist mit der Kennzeichnung dieser beiden (inhaltlichen) Strukturmerkmale (im Grunde zählt nur das eine konstitutive empirische Element; die Fiktionalität kann vernachlässigt werden, weil sie nur dazu dient, das empirische Grundmuster sozialen Handelns zu stabilisieren) Genüge getan. Wie Fügens Ausführungen zeigen, eignet sich die »soziologische Interpretation« dazu, das Romangeschehen durch Rekonstruierung von »sozialen Situationen (Szenen)«, die sich zu »sozialen Konstellationen« summieren und schließlich in »soziale Konfigurationen« überleiten, segmentartig zu gliedern. Auf dieser Ebene kann die »soziologische Interpretation« auch den Anspruch auf Systematik und Überprüfbarkeit, den Fügen für sie reklamiert, einlösen. Zweifel sind aber angebracht, ob die beiden konstitutiven Momente - soziales Handlungsmuster und Fiktionalität - als Kriterien für den Nachweis der Korrelation von Roman und Gesellschaft ausreichen und ob allein auf der Grundlage der Rekonstruktion des Handlungsgerüstes die strukturellen und funktionalen Beziehungen zwischen Roman (Literatur) und Wirklichkeit bzw. gesellschaftlichem Gesamtsystem hinreichend begründet werden können. (Die Frage nach den w e c h s e l s e i t i g e n B e z i e h u n g e n zwischen Roman und sozialem System stellt Fügen erst gar nicht). Der Erkenntniswert der »soziologischen Interpretation« ist gering genug und reicht m. E. keineswegs aus, die »systemfunktionale Leistung« von Romanproduktion und -rezeption im Sozialsystem >Literatur< überzeugend nachzuweisen. Mit der Beschränkung auf den »Inhalt als strukturelle(r) Basis der beiden Grundfunktionen des Romans«71 wird die Funktionalität der Romangattung unnötigerweise eingeengt auf die zwei Aspekte: einerseits Vermittlung von »Einsichten in soziale Sachverhalte«, andererseits »Diskussion konkurrierender Wertalternativen«.72 Es leuchtet keineswegs ein, warum man annehmen sollte, daß sich hierin die Funktionalität des Romans bereits erschöpft. Daran ändert auch Fügens Versuch wenig, im Nachgang das zuvor aufgestellte duale Funktionsspektrum um eine dritte Komponente zu erweitern: Fügen erklärt, daß zwischen dem Spannungsbogen der beiden genannten Funktionen »Objektivationen« entstehen. Danach objektivieren sich in der dargestellten Handlungssituation Erkenntnisse, die »jenseits dessen [liegen], was die Regeln intendieren und jenseits dessen, was der Autor wollen kann, Erkenntnisse, die die dargestellte Handlungssituation transzendieren«.73 Es wäre hier sinnvoll, ein in unserem Untersuchungsmodell verwendetes Kriterium der Funktionsdifferenzierung aufzunehmen und zwischen latenten und manifesten Funktionen zu unterscheiden. Die von Fügen festgestellten »transzendenten«, von den Handelnden nicht-intendierten Wirkungen 70 Ebd. 71 72 73

Ebd. S. 15.

Ebd. S. 16. Ebd. S. 18.

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(»Erkenntnisse«) ließen sich auf diese Weise eindeutig von Funktionen abgrenzen, die von den Aktoren des Kommunikationsprozesses bewußt herbeigeführt werden. Das Dilemma der »Inhaltsanalyse«, so wie Fügen sie praktiziert, beruht auf ihrem in dreifachem Sinne eingeschränkten Ansatz. Zum einen reduziert Fügen die Korrelation von Literatur und sozialem Handeln auf das Paradigma des Romans, was ja aufgrund der Koinzidenz von Romangenese und Entwicklung der »komplexen Gesellschaft« evident zu sein scheint. Diese Begründung für den direkten Bezug von Roman und Gesellschaft ist aber so allgemeiner Natur, daß sie ohne Not auf beliebig andere literarische Gattungen, vor allem aber auf alle dramatischen Gattungen und Genres, übertragen werden kann. Abgesehen davon, daß Fügen die Gattungsevolution nicht problematisiert, den Roman also enthistorisiert und einen Idealtypus impliziert, sind die beiden konstitutiven Merkmale, die Fügen dem Roman zuschreibt, ebenso wenig allein für den Inhalt des Romans spezifisch. Jede Interaktionsanalyse der Oberflächenstruktur einer Dramenhandlung würde als Ergebnis die gleichen Merkmale erschließen. Zum zweiten, und dies schließt direkt an das eben Gesagte an, reduziert Fügen die Korrelation von Roman und Wirklichkeit auf die Werkinhaltsebene. Damit wiederholt er unter umgekehrtem Vorzeichen den Fehler, den er textsemiotischen und sprachanalytischen Romanuntersuchungen zum Vorwurf macht: Er vereinseitigt die wechselseitige Bedingtheit sprachlich-formaler und inhaltlich-thematischer Strukturen des Werks zuungunsten der sprachlichen Aspekte. Eine funktionalistische Analyse, wie wir sie mit dem Untersuchungsmodell anstreben, wird nicht umhin können, die besondere Art der Sprachgestaltung und Sprachverwendung eines literarischen Textes zu berücksichtigen (s. Meyer/Ort S. 94ff.), da gerade die Sprachformung Aufschluß gibt über ausdrucke- und sprachnormenreflexive Funktionen, die der Text erfüllt. Drittens schließlich reduziert Fügen die Funktionalität der Gattung Roman auf die zwei »Grundfunktionen« und übersieht dabei, daß sie für die Gattung Roman fakultative, aber nicht obligatorische Funktionen darstellen. Sie gelten nur für den bereits angesprochenen Idealtypus, der der »Höhenkammliteratur« angehört. Dagegen können etwa dem Trivialroman, der sich eher am Kriterium des (ökonomischen) Erfolges als am Kriterium der »Wahrheit einer konkreten Handlungssituation« oder der »wahrheitsgetreuen Darstellung« (Fügen)74 orientiert, Funktionen der Erkenntnisvermittlung über 74

Fügens >Wahrheits-Metaphorik< geht zurück auf die Annahme, daß in den »Objektivationen« des Romans die »Wahrheit des Wirklichen« (Hegel) (bei Fügen S. 17) erkennbar wird. So spricht er von »der in die Handlung eingepackten Wahrheit« (S. 17) und vom »Bemühen um die Wahrheit einer konkreten Handlungssituation« (S. 18). Am Beispiel von Goethes Hermann und Dorothea versucht er die Bedeutung einer »wahrheitsgemäß geschilderten Situation« (ebd.) darzulegen und weist in diesem Zusammenhang auf »das Versessensein [des Autors Goethe] auf Wahrhaftigkeit« (ebd.) hin und betont dessen »wahrheitsgetreue Darstellung« (ebd.). Es wäre

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soziale Gegebenheiten und der Wertdiskussion kaum oder zumindest nicht in dem gleichen Maße zugesprochen werden. Die Übereinstimmungen zwischen Fügens Ansatz und unserem Untersuchungsmodell, die eingangs angedeutet wurden, betreffen demnach nur bestimmte gemeinsame Grundannahmen. Die Fügensche Methode der »Inhaltsanalyse« ist deshalb mit unserem Systemmodell nicht vereinbar, weil Fügen vorschnell den Gesellschafts- und Systembegriff mit dem Werkbegriff zu vermitteln versucht. Die direkte Übertragung der Struktur gesellschaftlichen Handelns auf das Handlungsgeschehen des Romans führt zu kurzschlüssigen Aussagen über die Funktionalität des Werks. Gegen eine »Inhaltsanalyse« ist prinzipiell nichts einzuwenden. Sollen aber die strukturellen Bezüge und die funktionale Leistung literarischer Texte (bzw. der Inhalte literarischer Texte) differenziert rekonstruiert werden, so ist es notwendig, die gesellschaftlichen Bezugsfelder zu untersuchen, in die das Werk hinsichtlich seiner Produktion, Distribution und Rezeption, hinsichtlich der Verständigungshandlungen, die über das Werk stattfinden und hinsichtlich der sozialen Institutionen, die die sozialen und literarischen Handlungsabläufe regeln, eingebettet ist. Eine »Inhaltsanalyse«, die den Text aus seinen Bezugsfeldern isoliert, beschränkt sich selbst in ihrer Aussagekapazität und wird allein aus der Inhaltsstruktur kaum Erkenntnisse über den funktionalen Charakter des Werks im gesellschaftlichen Gesamtsystem gewinnen. Nimmt man ihre begrenzte Anwendungsmöglichkeit jedoch in Kauf, so läßt sich die »soziologische Interpretation« als ein nützliches Instrumentarium verwenden, da sozial relevante Daten über Texte liefert. 4.2. Konzeptionen der literarischen Institution 4.2.1. Wilhelm Voßkamps »Institution Roman« Auch Wilhelm Voßkamp wählt die Gattung Roman als Paradigma der Beziehung zwischen Literatur und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Im Vergleich zum eher geringen heuristischen Wert des Modells der »soziologischen Interpretation« aber zeigt Voßkamps romansoziologisches Konzept einen hohen Grad an Differenziertheit und Problembewußtsein gegenüber dem Zusammenhang von Gattungsevolution und gesellschaftlichem Wandel. Deutlich wird dies vor allem in Voßkamps Beitrag zu den Methoden und Problemen der Romansoziologie,,75 wo er ein breit angelegtes Spektrum von Fragestellungen hier der Frage nachzugehen, ob Fügens Bemühen um den Nachweis der impliziten »Wahrheit« bzw. »Wahrhaftigkeit« der Romanhandlung nicht zu einer Reontologisierung des literarischen Textes führt. 75 Wilhelm Voßkamp: Methoden und Probleme der Romansoziologie. Über Möglichkeiten einer Romansoziologie als Gattungssoziologie. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 3 (1978), S. 1-37. Im folgenden Abschnitt wird auch behandelt: Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Probleme sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie. In: Walter Hinck (Hg.): Textsortenlehre - Gattungsgeschichte. Heidelberg: Quelle & Meyer 1977, S. 27-44.

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entwirft, das wichtige Hinweise zur Entwicklung sozialgeschichtlich orientierter Literaturanalysen liefert. - Auf diese sozialgeschichtlich relevanten Aspekte in Voßkamps Konzeption soll sich auch die Gegenüberstellung seines Entwurfs mit dem Untersuchungsmodell der Münchener Forschergruppe in erster Linie beziehen. Seine Auseinandersetzung mit den literatursoziologischen Positionen von Fügen, Adorno, Lukäcs und Goldmann kann hier dagegen vernachlässigt werden. Bei der Bestimmung der Beziehung von Roman und außerliterarischer Wirklichkeit nimmt für Voßkamp die Kategorie der Institution eine Schlüsselstellung ein. Zum besseren Verständnis seines Institutionenbegriffs ist es notwendig, zuerst den konzeptuellen Rahmen seines Ansatzes näher zu erläutern. Voßkamps Überlegungen zielen auf eine kommunikationssoziologische Begründung der Literaturwissenschaft. So erklärt er im Hinblick auf die Frage nach der Zuordnung von Roman und Gesellschaft, daß jeder Roman, »wie jeder andere Text auch, im Rahmen des Systems literarischer Kommunikation bestimmt werden [kann], wobei dieses differenzierte Kommunikationssystem selbst Teil eines umfassenden sozialen Gesamtsystems ist«.76 Der Systembegriff, auf den Voßkamp sich stützt, darf nicht mit demjenigen unseres Untersuchungsmodells in eins gesetzt werden, da Voßkamp sich nicht an Parsons' Modell, sondern explizit an die funktional-strukturalistische Systemtheorie Niklas Luhmanns anschließt. Kernpunkt des Luhmannschen Systemmodells ist das Problem der Reduktion von Komplexität: Die Weltkomplexität, charakterisiert als Kontingenz der Erfahrung und Überschuß an Handlungsmöglichkeiten, macht Systembildung notwendig. Wie Handeln überhaupt, bedeutet - so Luhmann - Systembildung Selektion, Verminderung von Komplexität mit dem Ziel der Sinnbildung. Soziale Systeme sollen als »ein Sinnzusammenhang von sozialen Handlungen verstanden werden, die aufeinander verweisen und sich von einer Umwelt nicht dazugehöriger Handlungen abgrenzen lassen«.77 Ohne hier auf die weitreichenden Unterschiede, die zwischen den Systemkonzeptionen von Parsons und Luhmann liegen, eingehen zu können, ist festzustellen, daß Voßkamps Systemverständnis auf der Annahme beruht, zwischen den konstitutiven Faktoren von sozialen Systemen (Komplexitätsreduktion und Sinnbildung) und denjenigen des Bereichs literarischer Gattungsformen bestehe eine direkte Analogie. Dies ist der Grund, warum er literarische Gattungen »generell als >möglichkeitsreiche Selektionen< [.. .]«78 bezeichnet, »in der [?] die Komplexität des literarischen Lebens auf bestimmte kommunikative Modelle reduziert ist«.79 Und mit Blickrichtung auf 76

Voßkamp: Methoden, S. 19. Ebd. 78 Voßkamp: Gattungen, S. 29. 79 Ebd. 77

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den Prozeß der Sinnbildung heißt es, der Roman sei »durch seine sinnkonstituierende >Selektionsstruktur< charakterisiert, systemtheoretisch ließe sich daher von einer >verwirklichten Selektion< bzw. einer >Komplexitätsreduktion< gegenüber der Komplexität des literarischen Lebens und der sozialen Wirklichkeit sprechen«.80 Offen bleibt dabei die Frage, ob die direkte Übertragung der von Luhmann entworfenen Kriterien für soziale Systeme auf den Bereich der literarischen Gattungsformen zulässig und sinnvoll ist - schließlich selegieren die Gattungen nicht unmittelbar »soziale Wirklichkeit«: Zur Vermittlung zwischen der Ebene des gesellschaftlichen Gesamtsystems und der Ebene der in literarischen Gattungen eingeschriebenem Handlungsstrukturen müssen - so lautet die Grundannahme unseres Modells - zwei weitere Ebenen von Subsystemen, die zwischen den beiden genannten liegen und mit diesen wie auch untereinander verknüpft sind, berücksichtigt werden (vgl. Meyer/Ort, S. 131), da nur auf diese Weise die Interpenetrationsbeziehungen und Selektionsprozesse hinreichend plausibel und ohne »Sprünge« zwischen nicht direkt aufeinander bezogenen Analyseniveaus rekonstruiert werden können. Voßkamps Ausführungen geben zur Konzeption des »Kommunikationssystems« und auch des »literarischen Lebens« wenig Aufschluß. Theorieorientierte Explikationen zu dieser zentralen Frage fehlen, aus seinen Erklärungen ist nur zu entnehmen, daß er Textproduktion und -rezeption als die »Hauptfaktoren jeder literarischen Kommunikation«81 ansieht. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht unscharf ist Voßkamps Bestimmung des Institutionenbegriffs. Wie bereits erwähnt, steht die von Voßkamp so bezeichnete »Institution der literarischen Gattung« im Mittelpunkt des Zuordnungsproblems von Literatur und sozialer Wirklichkeit. Diesen Status erlangt, so Voßkamp, die Gattung aufgrund ihrer besonderen Eigenschaft, gleichsam mikrokosmisch das literarisch-soziale Verhältnis zu repräsentieren und dadurch ein genuines, »relativ autonomes« Sinn-System zu konstituieren. Der Begriff der Institution bezeichnet nach Voßkamp »das struktural-funktionale Verhältnis des Romans und dessen deutlich abhebbares Organisationsprinzip«.82 Zum Vergleich noch einmal unsere Bestimmung des Institutionenbegriffs: Im Kontext des strukturfunktionalistischen Untersuchungsmodells werden Institutionen allgemein definiert als objektivierte Interaktionszusammenhänge. Institutionen kontituieren sich über Handlungsstrukturen, wobei es unerheblich ist, ob diese in bewußter Reflexion der Handelnden oder unbewußt gleichsam »hinter dem Rücken« der Aktoren - sich ausbilden. Da sie mit Autoritäts- und Machtansprüchen ausgestattet sind, können Institutionen Verhaltenserwartungen der Interaktionsteilnehmer regeln und so auf die Handlungsabläufe steuernd einwirken. Die funktionale Reichweite von In80

Voßkamp: Methoden, S. 28. Ebd. S. 19. 82 Ebd. S. 31. 81

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stitutionen wird durch Systemgrenzen nicht eingeschränkt, sie erstreckt sich sowohl auf die intrasystemischen, d. h. auf die internen Systemstrukturen, als auch auf die intersystemischen Beziehungen, d. h. auf die wechselseitigen Interpenetrationsprozesse der Systeme untereinander. Durch die Unterscheidung zwischen System-internen und system-externen Institutionen wird eine genauere Lokalisierung der jeweiligen Institution hinsichtlich ihres >Standorts< in einem bestimmten (Sub-) System bzw. auf einer bestimmten Systemebene möglich. Für einen Vergleich mit Voßkamps Institutionenbegriff kommt nur der Typus der »literarischen Institutionalisierungen« innerhalb des Sozialsystems >Literatur< in Betracht (s. Meyer/Ort S. 136, 155). Darunter sind literarische Genres, »Schreibweisen« und Gattungen zu verstehen, die sich durch unterschiedliche Handlungsstrukturen im Produktions- und/oder Rezeptionsbereich voreinander abgrenzen. Bei oberflächlicher Sichtweise ließe sich Voßkamps »Institution Gattung« in unsere Kategorie der »literarischen Institutionalisierung« einordnen. Die nähere Analyse zeigt jedoch, daß es sich bei Voßkamps »sozial- und funktionsgeschichtlich« orientierter Konzeption der Institution um ein Modell der G a t t u n g s e v o l u t i o n handelt, das auf literaturimmanenten Annahmen beruht. Die systemtheoretische Terminologie, derer sich Voßkamp bedient, und die konzeptuelle Anlehnung an Luhmann sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß es Voßkamp nicht darum geht, die Funktionalität der »Institution Gattung« (abstrakt: Komplexitätsreduktion) systematisch mit dem sozialen Zusammenhang in Beziehung zu setzen. Da handlungstheoretische Annahmen in Voßkamps Konzeption fehlen, auf deren Grundlage sich die Interdependenz von literarischem und sozialen Handeln begründen ließe, können sowohl das »struktural-funktionale Verhältnis« der »Institution Gattung«, d. h. ihre Selektionsleistung, als auch ihr »deutlich abhebbares Organisationsprinzip« nur im Verhältnis zum Gattungssystem selbst, allenfalls noch unter Produktions- und Rezeptionsgesichtspunkten erschlossen werden. Was Voßkamp als Institutionalisierungs- und Entinstitutionalisierungsprozesse beschreibt, ist nicht die Funktion und das Ergebnis eines komplexen, historisch sich stets wandelnden und empirisch begründbaren Handlungszusammenhangs, sondern eine Folge des »Auskristallisieren(s) und Festwerden(s)«, der Auf- und Ablösung bestimmter literarisch-ästhetischer Formen, Muster und Strukturen, die in nicht näher bezeichneter Weise (als »Werkantworten«) an variable Text- und Lesererwartungskonstanten gebunden sind. Obgleich Voßkamp immer wieder versucht, zwischen dem »dynamischen Prozeß« der Reduktionen und den »realgeschichtlichen Konstellationen« eine Brücke zu schlagen, muß er eingestehen, daß die Reduktionsleistungen, die die »Institution Gattung« erst als solche definieren, nicht in erster Linie die Komplexität der sozialen Wirklichkeit, sondern des literarisch-poetischen Kontextes betreffen. Somit sind »funktionsgeschichtliche Aussagen über die einzelne Gattung im Blick auf ihre initiatorische, summierende, speichernde,

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affirmative oder kritische Tendenz«83 nicht für das soziale, wohl aber für das System der Gattungen von Bedeutung. Der Rekurs auf den gesellschaftlichen Kontext der Gattung hat dabei mehr illustrativen als argumentativen Wert, da Voßkamp auf die funktionale Verknüpfung seines historisch-genetischen Gattungsmodells mit dem gesellschaftlichen Systemmodell verzichtet und es unterläßt, den Interpenetrationsbeziehungen zwischen dem literarischen System und seinen Umweltsystemen in einem eigenen Modellzusammenhang nachzugehen. (Erst in späteren Arbeiten Voßkamps tritt dieses Problem stärker in den Vordergrund). Wie er in der Antwort auf die Diskussion seines Entwurfs beim Germanistentag 1976 betont, muß sich die auf diesem immanenten Modell basierende Struktur- und Funktionsanalyse dem hermeneutischen Zirkel stellen, »insofern die besondere Gattung nur aus dem System aller vorhandenen, dieses wiederum lediglich auf Grund der genauen Bestimmung einzelner literarischer Formen vollständig erklärt werden kann«.84 Um die Institution der literarischen Gattung mit ihrem sozialen und realhistorischen Bezugsfeld in Verbindung zu setzen, d. h. um den Zusammenhang zwischen dem literarischen und dem gesellschaftlichen System herstellen zu können, wäre ein anderer Handlungsbegriff nötig, als ihn Voßkamp in den beiden hier vorgestellten Arbeiten konzipiert. Wie aus seinen jüngsten Forschungen, vor allem aus dem Vortrag auf dem Aachener Germanistentag 1982 deutlich wird, kann aber sein (hermeneutisches) Modell im Hinblick auf die Systemkonzeption weiterentwickelt werden. 4.2.2. Peter Bürgers »Institution Kunst und Literatur« Die von Peter Bürger eingeführte Kategorie der »Institution Kunst/Literatur«85 unterscheidet sich von Voßkamps Institutionenbegriff durch die Weite ihres Bezugsfeldes: sie umfaßt den gesamten Funktionsbereich der sozialen und literarischen Sinnverständigung im gesellschaftlichen Zusammenhang. Bürgers Bemühungen richten sich - so könnte man seinen Ansatz charakterisieren - auf die Erkenntnis der »strukturellen Wirkungsmechanismuen« (Adorno) von Kunst und Literatur in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Kritik, die er gegen Lukäcs und Adorno vorbringt, wendet sich vor allem gegen die Auffassung, die Funktionalität der Kunst lasse sich durch die Analyse des sozialen Gehalts von Einzelwerken und Werkgruppen bestimmen. Er betont, daß statt dessen die »institutionelle Rahmenbedingung der Kunstproduktion und -rezeption in der bürgerlichen Gesellschaft«86 als Voraussetzung der spe83

Voßkamp: Gattungen, S. 31. Ebd. S. 44. 85 Peter Bürger: Institution Kunst als literatursoziologische Kategorie. In: P. B.: Vermittlung - Rezeption - Funktion (vgl. Anm. 24), S. 173-199. 86 Ebd. S. 174. 84

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zifischen sozialen Funktion von Kunst deutlich gemacht werden muß. Mit dem Begriff der »Institution Kunst« sei dafür die Möglichkeit geschaffen. »Institution Kunst« meint nämlich nicht den gesellschaftlichen Status und die Wirkungsmöglichkeiten eines singulären ästhetischen Werks, sondern »vielmehr die epochalen Funktionsbestimmungen von Kunst und Literatur in ihrer sozialen Bedingtheit«,87 wobei Bürger die gesellschaftlichen Vermittlungsinstanzen und Einrichtungen wie Buchhandel, Verlags- und Theaterwesen etc. explizit aus diesem Institutionsbegriff ausschließt. In rein formaler Definition versteht Bürger »unter I n s t i t u t i o n K u n s t die in einer Gesellschaft (bzw. in einzelnen Klassen/Schichten) geltenden allgemeinen Vorstellungen über Kunst (Funktionsbestimmungen) in ihrer sozialen Bedingtheit [...] Dabei wird angenommen, daß diese Funktionsbestimmungen an materiellen und ideellen Bedürfnissen der Träger festgemacht sind und in einem bestimmbaren Verhältnis zu den m a t e r i e l l e n Bedingungen der K u n s t p r o d u k t i o n und - r e z e p t i o n stehen. Die Ausdifferenzierung der Funktionsbestimmungen erfolgt, vermittelt über ästhetische Normen, auf der Produzentenseite durch das k ü n s t l e r i s c h e M a t e r i a l , auf der Rezipientenseite durch die Festlegung von R e z e p t i o n s h a l t u n gen«. 88 Aus dieser Definition geht hervor, daß Bürger in seinem Entwurf des Institutionsbegriffs H a n d l u n g s z u s a m m e n h ä n g e nicht miteinbezieht. Die Institutionalisierung der Kunst ist nach Bürger als Ausdruck des historischen Wandels von der höfisch-feudalen, ständisch gegliederten zur entfalteten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform zu begreifen. Erst seit dem 18. Jahrhundert könne von einem entwickelten Kunstbegriff, von einer gesellschaftlich verankerten Kunstauffassung die Rede sein, erst von da an wird als »Kunst« ein von der Lebenspraxis abgegrenzter Bereich bezeichnet, in dem nicht rationales Zweckdenken und -handeln, sondern »zweckfreies Schaffen« und »interesseloses Wohlgefallen« herrschen.89 Wie man Bürgers Ausführungen zur gesellschaftlichen Funktion der Kunst entnehmen kann, hat die pauschale Gleichsetzung des Institutionsbegriffs mit der »epochalen Funktionsbestimmung« eine problematische Verengung der funktionalen Perspektive zur Folge. Ausgangspunkt von Bürgers funktionaler Bestimmung der Kunst und Literatur ist nämlich allein die in der bürgerlichen Gesellschaft als vorherrschend angesehene Kunstauffassung der ästhetischen Autonomie: Der autonome Status der Kunst begründet seiner Meinung nach sowohl ihren institutionellen Charakter als auch die Funktion, die die Kunst innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ausübt. In der vom Prinzip der Zweckrationalität bestimmten bürgerlichen Gesellschaft, in der - hervorgerufen durch die immer weiter fortschreitende Arbeitsteilung - die Menschen unter der Erfahrung der Entfremdung leiden, wird Kunst »als der ein87

Ebd. Ebd. S. 176. 89 Ebd. S. 176-177. 88

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zig mögliche Bereich gefaßt [...], in dem die verlorene Totalität des Menschen wiedergewonnen werden kann«.90 Kunst und Literatur übernehmen in der bürgerlichen Gesellschaft die in der Aufklärung überwundene bzw. zerstörte Funktion der Religion, das »Versöhnungsparadigma«,91 indem sie zwar Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen artikulieren, diese aber zugleich folgenlos werden lassen. Als Aufgabe der Kunst wird es angesehen, »die durch ein streng zweckrational geordnetes Alltagsleben zerstörte Harmonie der menschlichen Persönlichkeit«92 wiederherzustellen. Durch ihren autonomen Status ist dafür gesorgt, daß die ideelle Erfahrung der Freiheit, die die Kunst vermittelt, als reale aufscheinen kann, ohne daß dies Auswirkungen auf die tatsächlichen Lebensbedingungen hätte. Der autonome Charakter, »der Gegensatz zur Lebenspraxis ist Bedingung dafür, daß die Kunst ihre kritische Funktion zu erfüllen vermag, und verhindert doch zugleich, daß ihre Kritik praktisch folgenreich werden kann«.93 Insofern also »die Kritik an der zweckrationalen Gesellschaft, institutionalisiert als scheinhafte Erfahrung von Harmonie, zugleich die Möglichkeit ihrer Verwirklichung unterbindet, ist sie«, so lautet Bürgers Fazit, »Ideologie bzw. [...] affirmativ«.94 Diese Skizze des Argumentationsgangs sollte gezeigt haben, daß Bürger den institutionellen Status der Kunst gänzlich auf die Erfüllung der ideologischen Funktion zurückführt, oder - wie er schreibt -, »daß die Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft als Ideologie im strengsten Wortsinne institutionalisiert ist«.95 Bürgers Ideologiebegriff orientiert sich an den in den Frühschriften von Marx, vor allem in der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie entwickelten Thesen zur Funktion der Religion in der kapitalistischen Gesellschaft.96 Unter Ideologie ist, wie Bürger betont, das » w i d e r s p r ü c h liche Verhältnis von geistigen Objektivationen und gesellschaftlicher Realität«97 zu verstehen, oder genauer gesagt: die ideologischen Formen des Bewußtseins sind »die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse« (Marx). Sie verschleiern jedoch gleichzeitig diese Verhältnisse, indem sie von der gesellschaftlichen Praxis des Menschen, von der materiellen menschlichen Tätigkeit abstrahieren und das Partikularinteresse der herrschenden Minderheit als das Allgemeininteresse der Mehrheit ausgeben. Diesen Antagonismus von Sein und Bewußtsein aufzudecken, stellt nach Bürger die Aufgabe der Ideologiekritik dar. 90

Ebd. S. 178. Ebd. 92 Ebd. 93 Ebd. S. 179. 94 Ebd. S. 180. 95 Ebd. 96 Vgl. Peter Bürger: Hermeneutik - Ideologiekritik - Funktionsanalyse. In: P. B.: Vermittlung, S. 147-159. Hier S. 150-155. 97 Ebd. S. 150. 91

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Der Prozeß der Institutionalisierung von Kunst und Literatur gründet auf dem Zusammenwirken zwischen der herrschenden Kunstauffassung (dem Autonomie-Prinzip), einer spezifischen ökonomischen Basis (dem kapitalistischen Warenmarkt), der kulturellen und politischen Trägerschicht (dem Bürgertum) und einem mehr oder weniger eigengesetzlichen System ästhetischer Normen, das die Geltung sozialer Normen, soweit sie in das Kunstwerk Eingang finden, überlagert oder aufhebt und dadurch verhindert, daß die kritische Funktion der Kunst gesellschaftlich wirksam werden kann. Unter dem Begriff der »Institution Kunst« versteht Bürger demnach das für die bürgerliche Gesellschaft charakteristische Wechselverhältnis zwischen der herrschenden Kunstpraxis und den ästhetischen Forderungen, die die gesellschaftlich Herrschenden an die Kunst richten. Bürger gebraucht jedoch den Institutionsbegriff nicht in eindeutiger Weise. Zum einen nämlich bezeichnet er damit den Gesamtaspekt der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft (»epochale Funktionsbestimmung«), zum anderen dient ihm der Institutionsbegriff zur Kennzeichnung des s p e z i f i s c h b ü r g e r l i c h e n N o r m e n s y s t e m s der Kunst, d. h. nur eines - wenngleich des dominierenden - Teilbereichs der historischen Kunstpraxis im 18./19. Jahrhundert. Es trägt zur Klärung dieser Ambivalenz in der Verwendungsweise auch wenig bei, daß Bürger ausdrücklich darauf verweist, mit dem »Singular I n s t i t u tion K u n s t [solle] die Vorherrschaft e i n e r Kunstauffassung in der bürgerlichen Gesellschaft«98 hervorgehoben werden, und zwar die Vorherrschaft des Autonomie-Prinzips. Obgleich die ideologiekritische Absicht, die hinter der Bürgerschen Konzeption steht, nicht gering zu werten ist, darf nicht übersehen werden, daß von dieser Position aus eine Differenzierung des funktionalen Spektrums der (bürgerlichen) Literatur, eine kritische Analyse verschiedener synchroner Institutionalisierungen nicht geleistet werden kann. Zwar räumt Bürger ein, daß durch die Prädomination der instituionalisierten autonomen Kunst »alternativen Kunstvorstellungen (z. B. der art social oder der Literaturauffassung des J u n g e n D e u t s c h l a n d ) ein institutioneller Status [keineswegs] von vornherein abgesprochen«99 wird. Dann bleibt aber unverständlich, warum Bürger, allein schon um der begrifflichen Präzisierung willen, nicht von gegensätzlichen, historisch und sozial bedingten literarischen Institutionalisierungen spricht, die innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft miteinander konkurrieren, und warum er, von der ideologiekritischen Basiskonzeption ausgehend, nicht ein (im materialistischen Sinne) dialektisches Konzept von Funktionsbestimmungen entwirft, das die Gleichzeitigkeit einander entgegengesetzter Institutionalisierungen als notwendigen ideologischen Ausdruck der gesellschaftlichen Widersprüche begreift. Die globale Perspektive der »epochalen Funktionsbestimmung« verleitet offenbar dazu, alle funktiona98

Peter Bürger: Institution Kunst, S. 177. "Ebd.

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len Aspekte, die sich nicht unmittelbar aus der dominanten Institution der autonomen Kunst definieren lassen, im Sinne des entwicklungslogischen Verlauf smodells als q u a n t i t e negligeable einzuschätzen und aus dem Blickfeld zu verdrängen. Für die theoretische Bestimmung und Analyse unterschiedlicher gesellschaftlicher Institutionalisierungen von Kunst und Literatur kann der Systembegriff, der unserem Untersuchungsmodell zugrundeliegt, mehr leisten als Bürgers Kategorie der »Institution Kunst«. Mit seiner Hilfe ist es möglich, ein Modell verschieden strukturierter, interdependenter literarischer und literaturbezogener Sub- und Teilsysteme zu entwerfen mit der Möglichkeit, Phänomene der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« als unterschiedliche Grade der Systemdifferenzierung - ein Problem, das Bürger umgeht - zu erklären und den gesellschaftlich-historischen Zusammenhang durch die Analyse konkurrierender Funktionsbestimmungen systematisch und ohne Rückgriff auf lineare Entwicklungen zu erschließen (s. Meyer/Ort S. 163ff.). 4.2.3. Die Weiterentwicklung der Bürgerschen Kategorie bei Hans Sanders Hans Sanders' Konzeption der »Institution Literatur«100 stellt eine Weiterentwicklung des Bürgerschen Institutionsbegriffs dar. In weit stärkerem Maße als Bürger nimmt Sanders Bezug auf die soziologische Theoriediskussion v. a. auf Habermas' Modell der Öffentlichkeit und die in der Kritischen Theorie formulierte Negationsästhetik. Sein Versuch, zwischen der makro- und mikroanalytischen Ebene (d. h. in diesem Fall zwischen der Ebene der Gesellschaft und der Ebene literarischen Handelnsnegative Funktionalität (»Folgenlosigkeit«) hält Sanders somit den Einwand, daß der besondere Status der Kunst (d. h. ihre Autonomie) erst die Voraussetzung für spezifische Funktionen schafft, die »im Zusammenhang einer differenzierten Zerlegung des Begriffs Lebenspraxis (ökonomisch, politisch, sozial) [.. .]«104 zu sehen sind. Hinter dieser Auffassung steht, wie man vermuten darf, das dialektische Denkmodell der Negation der Negation: die als autonom verstandene Kunstpraxis intendiert zwar Folgenlosigkeit, schafft sich damit aber zugleich die ihr spezifischen gesellschaftlichen Funktionsmöglichkeiten. Sanders' Überlegung zielt auf eine funktionale Differenzierung des sozialen Gesamtsystems, auch wenn er diese nicht systematisch durchführt. Durch den Rekurs auf die relative Eigenständigkeit der »SuperStrukturen« und mit der Kritik am negativen Funktionalismus der Bürgerschen Konzeption schafft Sanders die Voraussetzungen, die Institutionalisierung von Kunst und Literatur zu korrelieren mit einem komplexen Funktionsspektrum, das mit der Komplexität der bürgerlichen Gesellschaft korrespondiert. Sanders kritisiert Bürgers Entwurf als ein genetisch-entwicklungslogisches Modell, das zwar die historisch bedingte Isolation der Kunst vom lebenspraktischen Zusammenhang richtig erfaßt, die subjektiv-intentionale Dimension literarischen Handelns dabei aber zu wenig berücksichtigt. Seine eigene Absicht richtet sich hingegen auf die Vermittlung von historiographischer und funktionaler Perspektive, von makro- und mikrostrukturellen Bedingungen der Kunstpraxis. In Anlehnung an Mathias Waltz, der den »Subjektbezug literarischer Objektivationen«105 besonders hervorhebt, versucht Sanders die Kategorie der Institution zu erweitern, indem er ihr den Begriff des »Sinnhandelns« zuordnet. Unter »Sinnhandeln« versteht Sanders einen Typus von Handeln, für den »zweierlei charakteristisch [ist]: Er realisiert sich nicht in einer einfachen, dualen Relation zwischen einem Subjekt und einem Objekt« ( - solches Handeln ist als »Zweckhandeln« zu bezeichnen). »Vielmehr realisiert er sich als 103

Ebd. S. 19. Ebd. S. 20. 105 Ebd. S. 30. Sanders bezieht sich hier auf Mathias Waltz: Handlung als Kommunikation. Zur Soziologie des Romans. (Unveröffentlichtes Manuskript). (Vgl. Anm. 20 bei Sanders, Teil A). 104

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Relation zweier Personen. Als >Zweck< der Relation ist gedacht die Realisierung von gesellschaftlich als sinnvoll interpretierten Werten. Man kann solches Handeln in Abgrenzung von Zweckhandeln Sinnhandeln nennen.«106 Unter deutlicher Abgrenzung gegenüber Bürgers Konzeption geht Waltz, auf den Sanders sich beruft, von den Strukturen des Einzelwerks aus und gelangt über die Analyse von Handlungsstrukturen und Handlungsträgern in narrativen Texten zu dem Schluß, daß die »Institution Erzählung« (die er nicht kategorial von der »Institution Literatur« trennt) als »institutionelle Kommunikation zur Explikation von Sinnhandeln«107 anzusehen sei. Dies will besagen, daß in literarischen (narrativen) Texten sich Handlungsmodelle der sozialen Wirklichkeit objektivieren, deren Charakteristikum darin besteht, daß das Handlungsziel nicht von politischen, ökonomischen oder anderen »Zwecken« bestimmt, sondern durch »gesellschaftlich sanktionierte Normen«108 definiert wird. Die Normen müssen dabei nicht von übergeordneten Instanzen vorgegeben sein, sondern werden in der Regel von den Individuen als Internalisierungen erfahren und bilden somit einen Teil ihrer Identität. Diesem Konzept entsprechend spricht Sanders von den historisch-objektiven Rahmenbedingungen (»nicht-normativen« Bedingungen) und den auf Sinnhandeln gerichteten (»intentional-normativen«) Voraussetzungen literarischen Handelns. Diese zweifache Bestimmung sieht Sanders im »Doppelcharakter« der einzelnen Institutionen realisiert: »Sie sind zugleich materieller Apparat (Krankenhäuser, Schulen, umfassen Gebäude, Instrumente usw.) und System von verhaltensregulierenden Normen«.109 Aus den bisherigen Erläuterungen zu dem Institutionenbegriff, den wir in unserem Untersuchungsmodell verwenden, dürfte ersichtlich geworden sein, daß diese Auffassung von den konstitutiven Merkmalen der Institution, die Sanders entwirft: »objektiv gegebene Faktizität und Sinnstruktur«,110 sich nicht mit dem Konzept der »literaturbezogenen Institution« deckt. Die Frage nach der »Faktizität«, d. h. nach dem organisatorischen und materiellen Apparat einer Institution ist im Kontext des strukturfunktionalistischen Modells von untergeordneter Bedeutung; an vorderster Stelle steht hingegen die Analyse der f u n k t i o n a l e n L e i s t u n g e n , die die literarischen und literaturbezogenen Institutionen im Rahmen der Interpenetrationsbeziehungen des Sozialsystems >Literatur< mit seiner Umwelt übernehmen. Gerade an diesem Punkt, bei der Vermittlung der »Institution Literatur« und dem gesellschaftlichen Gesamtsystem, unterscheidet sich Sanders' Entwurf erheblich von unserer systemtheoretischen Konzeption. Sanders leitet die Zuordnung von Literatur und Gesellschaft nämlich aus den geschichts106

Sanders: Institution, S. 38. Waltz: Handlung, S. 36. Zitiert nach Sanders: Institution, S. 33. 108 Sanders: Institution, S. 31. 109 Ebd. S. 37-38. 110 Ebd. S. 38. 107

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philosophischen Prämissen des Habermas'schen Öffentlichkeitsmodells ab, wonach »das Grundmuster zweidimensionaler bürgerlicher Identität«, kritische Vernunft und Subjektivität, »in der Unterscheidung von literarischer und politischer Öffentlichkeit als seiner institutionellen Ausformung«111 wieder zu Tage tritt. »Literatur als Medium von Subjektivität«112 biete in der zweckrational bestimmten Gesellschaft gleichsam ein Residuum für normatives, d. h. subjektiv-intentionales und sinnvermittelndes Handeln. Nach den Annahmen einer strukturfunktionalistischen Theorie sozialer Systeme muß es jedoch als fraglich gelten, ob die institutionelle Trennung zwischen zweckrationalem und normativ-sinnvermittelndem Handeln derart dichotomisch gedacht werden kann und die gesellschaftliche Funktion von Literatur i. d. Sinne tatsächlich ausreichend beschrieben ist (s. Meyer/Ort S. 99ff.). 4.3.

Kommunikations- und handlungstheoretisch fundierte Konzeptionen

4.3.1. Zur neueren Theoriebildung in der Literaturwissenschaft der DDR Fragen zur Sozialität literarischen Handelns, Probleme der Vermittlung von werkgenetischen und kommunikationsorientierten Aspekten - Diskussionspunkte also, die im Zentrum unseres Untersuchungsmodells stehen -, bestimmen auch die gegenwärtigen Arbeiten zur Literaturtheorie der DDR. Seit etwa einem Jahrzehnt ist in der Literaturwissenschaft der DDR ein verstärktes Interesse an funktionalistischen Konzeptionen zu beobachten, bei den Forschergruppen um Manfred Naumann und Dieter Schlenstedt im Sinne der ästhetisch-literaturtheoretischen Fundierung, bei Dietrich Sommer und Günther K. Lehmann im Sinne empirisch-sozialwissenschaftlicher Forschung.113 111 112

Ebd. S. 99.

Ebd. 113 Als wichtigste Veröffentlichungen sind zu nennen: Manfred Naumann (Hg.): Gesellschaft - Literatur - Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht. BerlinWeimar: Aufbau 1973. - Ders.: Werk und Literaturgeschichte. In: Weimarer Beiträge 28 (1982), H. l, S. 50-61. - Ders.: Probleme geschichtlichen Funktionswandels der Literatur. In: Funktion der Literatur. Hg. v. Dieter Schlenstedt. Berlin: Akademie 1975, S. 19-39. - Dieter Schlenstedt (Hg.): Funktion der Literatur. Aspekte Probleme - Aufgaben. Berlin: Aufbau 1975. - Ders.: Wirkungsästhetische Analysen. Poetologie und Prosa in der neueren DDR-Literatur. Berlin: Aufbau 1979. - Ders.: Orientierungen auf funktionale Zusammenhänge im Widerspiegelungsprozeß. In: Weimarer Beiträge 27 (1981), H. 6, S. 40-65. - Ders. (Hg.): Literarische Widerspiegelung. Geschichtliche und theoretische Dimensionen eines Problems. Berlin-Weimar: Aufbau 1981. - Günther K. Lehmann: Die Theorie der literarischen Rezeption aus soziologischer und psychologischer Sicht. In: Weimarer Beiträge 20 (1974), H. 8, S. 49-70. - Ders.: Die ästhetische Kultur und ihre soziologische Erforschung. In: Weimarer Beiträge 22 (1976), H. 2, S. 151-171. - Dietrich Sommer: Zum Begriff der gesellschaftlichen Funktion der Literatur. In: Funktion der Literatur. Hg. v. D. Schlenstedt. Berlin 1975, S. 70-76. - Ders. (Hg.): Funktion und Wirkung. Soziologische Untersuchungen zur Literatur und Kunst. Berlin-Weimar: Aufbau 1978.

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Erstmals allgemein deutlich wurde diese Neuorientierung beim Erscheinen des 1973 von Naumann, Schlenstedt u. a. publizierten Bandes GesellschaftLiteratur-Lesen, mit dem nicht nur der Anschluß an die Rezeptionsästhetik hergestellt, sondern wo auch programmatisch die künftige Zielperspektive formuliert wurde: die »historisch-genetische« Forschungsperspektive sollte durch die »historisch-funktionale« ergänzt werden.114 Die gegenwärtigen Bemühungen um die Erforschung der Wechselwirkung zwischen den am literarischen Prozeß beteiligten Elementen und Handlungsträgern und um die begriffliche Explikation der Komplexität dieses Prozesses stehen in direktem Zusammenhang mit dem Versuch, das traditionelle Modell der Widerspiegelung zu revidieren. Zurecht als undialektisch kritisiert Schlenstedt das bislang favorisierte »gnoseologische« Verständnis von Widerspiegelung, dem zufolge sich die Abbildeigenschaft von Kunst und Literatur in der Leistung »objektiver Erkenntnisgewinnung« erschöpfe. Diese am Basis-Überbau-Modell ausgerichtete kausal-deterministische Auffassung beschränkt den Zusammenhang von Kunst und Gesellschaft bzw. Kunst und Wirklichkeit darauf, daß Kunst »geschlossene Gebilde [herstellt], die sich als positive Entsprechung zu vorhandener Ideologie beziehungsweise zu den ihr zugrundeliegenden Verhältnissen und als sinnlich-anschauliche Reproduktion von objektiv Bestehendem zum Zwecke des Nachvollzugs darbieten«.115 Die unmittelbare Folge davon ist die Verabsolutierung der kognitiven Funktion und die Reduktion des gesellschaftlichen Charakters von Kunst und Literatur auf den Ideologie-Aspekt. Das gnoseologische Widerspiegelungsmodell und der daraus abgeleitete Realismusbegriff sind nicht geeignet, die Sozialität von Kunst und Literatur auf andere Weise zu bestimmen als allein aus den »objektiven Bedingungen« ihrer Produktion. Dagegen stellen sich die Gruppen um Naumann und Schlenstedt die Aufgabe, die im traditionellen Widerspiegelungsmodell vernachlässigten Bereiche des subjektiven Handelns der künstlerisch Tätigen und aller übrigen am Kunstprozeß Beteiligten, vor allem aber die Frage nach den individuellen, kollektiven und gesellschaftlichen Wirkungen ästhetischer Produkte stärker in das Blickfeld zu rücken. Bezogen werden diese Ansätze einer differenzierten Kommunikationsästhetik auf die - offenbar durch J. R. Bechers »Literaturgesellschaft«116 angeregte - Vorstellung von der »Dichtung [...] als ein gesellschaftliches Ganzes« (Schlenstedt).117 Das heißt, es wird ein umfassender Begriff von Literatur angestrebt, der es ermöglichen soll, die Gesamtheit der Produktions-, Distributions- und Rezeptionsvorgänge zu erfassen. 114

Vgl. Naumann: Gesellschaft - Literatur - Lesen, S. 17-18. Schlenstedt: Orientierungen, S. 41. 116 Johannes R. Becher: Über Literatur und Kunst. Hg. v. Marianne Lange unter Mitarbeit des J. R. Becher-Archivs. Berlin: Aufbau 1962, S. 282-283. - Vgl. auch Naumann: Gesellschaft - Literatur - Lesen, S. 292-297. 117 Schlenstedt: Funktion, S. 40. 115

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Dieser Entwurf eines ganzheitlichen Literaturprozesses - im Grunde handelt es sich dabei um ein Arbeitskonzept, das bisher nur in groben Umrissen skizziert wurde - hat, soweit der Stand der Diskussion dies erkennen läßt, wenig mit dem Systembegriff unseres Untersuchungsmodells gemeinsam. Im Unterschied zum Systemmodell der Münchener Forschergruppe fehlt es ihm sowohl an der strukturfunktionalistischen Fundierung als auch an der systematischen Entwicklung und Explikation. In diesem Konzept treffen Annahmen, Hypothesen, Theoreme und Befunde von unterschiedlichstem Erklärungswert, verschiedenartigster Reichweite und Konsistenz und nicht selten auch von gegensätzlicher Perspektive unvermittelt aufeinander. So vertreten Naumann und Schlenstedt etwa die Auffassung, dem literarischen Handlungsbereich müsse aufgrund spezifischer Kommunikationsformen und Wirkungsweisen innerhalb des Ensembles der menschlichen Verhältnisse, deren Teil er ist, relative Selbständigkeit zugebilligt werden. Diese - wie es zunächst scheint - Präferenz der kommunikationsorientierten Sichtweise wird aber sofort wieder zurückgenommen, indem man die Literaturproduktion, als besondere Form der Aneignung von Wirklichkeit, weiterhin rückbezieht auf die allgemeine gesellschaftlich-materielle Produktionsweise. Zwar setzt dies die deterministische Auslegung der Basis-Überbau-Beziehung (übertragen auf das Verhältnis Gesellschaft/Wirklichkeit - Literatur) nicht wieder ins alte Recht, dürfte aber die Entwicklung einer komplexen Subjekt-Objekt-Dialektik, gedacht als Grundlage sozialkommunikativer Funktionen innerhalb des Literaturprozesses, erheblich stören. Abbildfunktion und kommunikative Funktion schließen sich keineswegs gegenseitig aus, sie lassen sich auf kategorialer Ebene aber erst dann überzeugend zusammenführen, wenn das zu entwerfende Theoriemodell des ganzheitlichen Literaturprozesses einen höheren Differenzierungsgrad erreicht haben wird als dies unter der Annahme einer bloßen Strukturhomologie von Literatur und Gesellschaft möglich zu sein scheint.118 Welche Argumentationsakrobatik die Absicht verlangt, ohne funktionalistischen Theorierahmen die Eigenständigkeit des Literaturprozesses allein aus der Produktionsästhetik, d. h. aus dem Aneignungsbegriff herleiten zu wollen, demonstriert Günter Härtung.119 Sein mißglückter Versuch, ohne Konflikt mit der materialistischen Theorie ein marxistisches Verständnis der »Autonomie der Kunst« zu begründen, und die heftige Kritik, die Winfried Schröder an Hartungs Entwurf übte (sogar der Idealismus-Verdacht kam dabei zur Sprache),120 zeigen deutlich die Schwierigkeiten bei der Ablösung des Widerspiegelungs-Paradigmas, dem bis jetzt keine elaborierte Theorie literarischen kommunikativen Handelns (mit entsprechenden Verbindungen zu sozialwissenschaftlichen Modellen) entgegengesetzt wurde. 118

Vgl. ebd. S. 42.

'"Günter Härtung: Zu einer marxistischen Theorie der »Autonomie der Kunst«. In: Weimarer Beiträge 26 (1980), H. 7, S. 44-58. 120 Winfried Schröder: Ist eine »marxistische Theorie der >Autonomie der KunstLiteratur< stattfinden. Sie darf aber einerseits nicht der Interaktion zwischen zwei Partnern gleichgesetzt werden (der Text selbst kann nicht handeln), muß andererseits jedoch (als Datenbasis) in den Aspekt der sozialen Interaktionen einbezogen werden, die integriert sind in ein bestimmbares gesellschaftliches Bezugsfeld, welches die Bedingungen ihrer Modalitäten prägt. Wenn unser systemtheoretisches Untersuchungsmodell die Frage nach den Handlungszusammenhängen in den Mittelpunkt stellt, wenn ein Hauptaugenmerk den Funktionen gilt, die durch Handlungsvollzüge stabilisiert oder unterbunden werden, so bedeutet dies nicht, daß dadurch das Problem der in die Textstruktur eingeschriebenem Absichten, Fähigkeiten, Motivationen und Intentionen, d. h. der Bereich der subjektiv-individuellen Handlungspositionen, aus dem Blickwinkel gerückt werden soll (s. Meyer/Ort, Kap. 3.3., S. 152ff.). Es erscheint uns unzulässig, die kommunikative Beziehung allein aus der Untersuchung subjektiver Rezeptionshaltungen rekonstruieren zu wollen und den komplexen Handlungszusammenhang zwischen Produktion, Distribution und Rezeption auf die Werk-Leser-Dyade zu verkürzen. 4.3.2. Günter Sasse: Das kommunikative Handeln des Rezipienten Die Begrenzung der handlungstheoretischen Perspektive auf das kommunikative Wechselspiel zwischen literarischem Werk und Leser kennzeichnet Sasses Aufsatz über Das kommunikative Handeln des Rezipienten.,128 Seine Überlegungen zu einer pragmatischen Begründung der Literaturwissenschaft werden von der Absicht geleitet, die Beziehung zwischen literarischem Text 128

Günter Sasse: Das kommunikative Handelns des Rezipienten. Zum Problem einer pragmatischen Literaturwissenschaft. In: Günter Sasse/Horst Turk (Hgg.): Handeln, Sprechen und Erkennen. Zur Theorie und Praxis der Pragmatik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1978, S. 101-134.

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und Rezipient als einen a u t o n o m e n H a n d l u n g s v o r g a n g zu rekonstruieren. Dabei stützt sich Sasse vor allem auf das von Wittgenstein angeregte und in der Sprechakttheorie weiterentwickelte Konzept der »Verständigungsrelation«, wonach nicht die referentiellen Bezüge der Sprache zur außersprachlichen Realität, sondern »erst die zwischen den Kommunikationsteilnehmern ablaufenden Sprachspiele über den ontologischen Status der Welttatsachen entscheiden«.129 Diese Auffassung wird für die von Sasse durchgeführte Bestimmung kommunikativen Handelns insofern relevant, als dadurch erstens die Bedeutung des Kommunikationsprozesses und seines funktionalen Status' sich allein durch den Zusammenhang der Interaktionsteilnehmer, nicht jedoch durch die außerhalb der Sprache resp. des kommunikativen Kontextes liegende gesellschaftliche Wirklichkeit definiert, und zweitens die symmetrische Kommunikation als Modellform der kommunikativen Beziehung vorgestellt wird. Um zunächst den letztgenannten Punkt aufzunehmen: Sasse weist zwar ausdrücklich darauf hin, daß die Werk-Leser-Relation nicht einfach mit der üblichen »face-to-face-Kommunikation« gleichgesetzt werden kann; bei einem Text ist ein abwechselnder Rollentausch zwischen Sprecher und Hörer nicht möglich.130 Trotzdem wird klar, daß Sasses Vorstellung das Bild zweier gleichwertiger Kommunikationspartner zugrundeliegt, wie sich schon in seiner Metaphorik (»Das Werk und der Rezipient [...] als die beiden Pole eines Kommunikationsprozesses [.. .].«)131 andeutet. Entscheidend für Sasses Ansatz und damit auch für die Frage nach dessen (In-)Kompatibilität mit unserem Untersuchungsmodell ist aber die Differenzierung zwischen gebrauchssprachlichen und literarischen Texten. Sasses Textsortentypologie geht nämlich aus von der Hypothese, daß bestimmte institutionelle Bedingungen, zusammengefaßt unter dem Stichwort der »Autonomie der Literatur« verantwortlich sind für die »Ausgliederung des ästhetischen Textes aus vorgängigen Handlungszusammenhängen«,132 oder anders gesagt, daß nach der konventionalisierten gesellschaftlichen Vorstellung über »Literatur« ästhetische Texte von zweckrationalen Gesichtspunkten, vom praktischen Lebenszusammenhang abgekoppelt sind. Gebrauchstexte hingegen »funktionieren in Handlungszusammenhängen und werden von ihnen her von einem Autor aufgrund einer bestimmten Mitteilungsintention produziert, die beim Adressaten eine bestimmte Wirkung hervorrufen soll«.133 So ist nach Sasse der kommunikative Zweck, konkret: die Informationsvermittlung, dafür ausschlaggebend, »daß sich die gebrauchssprachliche Textproduktion in eingelebten, normativ abgesicherten und in Handlungszusammenhängen integrierten Sprachspielen vollzieht, die durch gesellschaftlich 129

Ebd. S. 101. Ebd. S. 105. 131 Ebd. 132 Ebd. 133 Ebd. S. 107. 130

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vorgegebene Bezugsfelder bestimmt sind, auf die hin sie codiert werden«.134 Daraus folgert Sasse, daß »die vom Autor gebrauchssprachlicher Texte gestifteten Bezüge zwischen den Textkonstituenten funktionalisiert [sind] durch eine vom kommunikativen Zweck gesteuerte, in Handlungszusammenhänge eingebettete Absicht, während diese bei literarischen Texten fehlt, so daß die Textkonstituenten auf vielfältigste Weise verknüpft werden können«.135 Wie fragwürdig diese Unterscheidung indes ist, läßt sich an einem von Sasse selbst zitierten Beispiel demonstrieren, an der Präsentation von Gebrauchstexten in Handkes Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Um die Aufstellungsliste einer Fußballmannschaft als literarischen Text rezipieren zu können, muß diese aus ihrem »angestammten Kontext herausgehoben und in den Rahmen eines Gedichtbandes gestellt werden«,136 bemerkt Sasse völlig zurecht. Zuzustimmen ist auch seiner Feststellung, daß »historisch entstandene Normen«137 letztlich darüber entscheiden, ob dieser Text aufgrund seiner Präsentationsform den >funktionalen< Charakter der bloßen Mitteilung verliert und sich die (ästhetisch eingestellte) Rezeption nicht mehr an der Struktur des Inhalts orientiert (wie dies bei gebrauchssprachlichen Texten der Fall sein soll), sondern an der sprachlichen Darbietungsweise. Mit dieser Bemerkung widerlegt Sasse jedoch sich selbst. Denn die Möglichkeit, einen >ursprünglich< gebrauchssprachlichen Text ästhetisch zu präsentieren, und was noch entscheidender ist, diesen als ästhetischen zu rezipieren, kann in keiner Weise in Einklang gebracht werden mit der zuvor aufgestellten Behauptung, der Unterschied zwischen literarischen und gebrauchssprachlichen Texten sei allein eine Frage der sprachlich-textuellen Organisationsweise. Mehr noch: Dieses Beispiel macht deutlich, daß Texte, unabhängig davon, ob sie als literarische oder gebrauchssprachliche >codiertLiteraturKunst< bezeichnet wird und das theoretisch als ein System Ästhetischer Handlungen konstruiert werden kann; als System insofern, als dieser Handlungsbereich über eine angebbare Struktur verfügt, über Außen-Innen-Differenzierungen gegenüber anderen gesellschaftlichen Handlungs154

Schmidt: Grundriß, Bd. 2, S. 31. Schmidt: Grundriß, Bd. l, S. 38. 156 Dagmar Hintzenberg, Siegfried J. Schmidt, Reinhard Zobel: Zum Literaturbegriff in der Bundesrepublik Deutschland. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1980 (Konzeption Empirische Literaturwissenschaft Bd. III/IV). 155

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Bernhard Jendricke bereichen abgrenzbar ist und Funktionen erfüllt, die spezifisch für diesen Handlungsbereich sind. Innerhalb dieses Systems Ästhetischer Handlungen läßt sich ein Teilbereich ausgliedern, der selbst wieder Systemcharakter besitzt und traditionellerweise als >Literatur< bezeichnet wird. Dieser Bereich wird in der Empirischen Theorie der Literatur (ETL) konstruiert als ein System von Handlungen, die auf solche sprachlichen Objekte abzielen, die von den Handelnden gemäß der von ihnen vertretenen Normen >für literarisch< gehalten werden. Die Struktur dieses Systems wird bestimmt durch die zeitlichen und kausalen Relationen, die zwischen den vier für elementar gehaltenen Handlungsrollen (des Produzenten, Vermittlers, Rezipienten und Verarbeiters Literarischer Kommunikate) bestehen.«157

Wie man dieser Theorieskizze entnehmen kann, beruht der Systemzusammenhang des »gesellschaftlichen Handlungsbereichs LITERATUR« auf drei konstitutiven Elementen: der Außen-Innen-Differenzierung des Systems Ästhetischer (Literarischer) Handlungen, seiner »angebbaren Struktur« und seinen »spezifischen Funktionen«. Das Problem der Außen-Innen-Differenzierung, d. h. der Abgrenzung des literarischen Systems gegenüber den übrigen sozialen Handlungsbereichen, versucht Schmidt durch die Einführung spezifischer Handlungskonventionen zu lösen. Seine Hypothese lautet, daß im System Literarischer Kommunikationshandlungen zwei bestimmte Konventionen, die sogenannte Ästhetikund die Polyvalenz-Konvention, alle übrigen Handlungskonventionen dominieren. Vereinfacht ausgedrückt, besagt die Ästhetik-Konvention, daß innerhalb des literarischen Handlungsystems literarische Texte nicht im Hinblick auf ihren handlungspraktischen Nutzen bzw. auf ihren »Wahrheitswert« im Sinne der Übereinstimmung mit den Wirklichkeitsmodellen der an literarischer Kommunikation Beteiligten rezipiert und bewertet werden, sondern in erster Linie nach den zum jeweiligen Zeitpunkt gültigen expliziten oder impliziten ästhetischen Normen.158 Die Anerkennung der ÄsthetikKonvention durch die Teilnehmer an literarisch-kommunikativem Handeln 157 158

Ebd. S. 13. Schmidts Definition der ÄL-Konvention lautet: »Für alle Kommunikationsteilnehmer unserer Gesellschaft G, die Kommunikatbasen als sprachliche Ästhetische Kommunkate zu realisieren beabsichtigen, ist es im Rahmen unserer Gesellschaft G gegenseitig unterstelltes Wissen, daß sie bereit und in der Lage sein müssen: (a) unter Vernachlässigung der T-Konvention [= tatsachenbezügliche Konvention] ihre Handlungsmöglichkeiten und die Handlungsmöglichkeiten anderer Teilnehmer über die Kriterien wahr/falsch und nützlich/nutzlos hinaus zu erweitern und primär an solchen Kategorien zu orientieren, die als Ästhetisch relevant akzeptiert werden; (b)als Literarisch intendierte Kommunikationshandlungen durch geeignete Signale auszuzeichnen bzw. bei der Rezeption solche Signale zu erwarten und zu befolgen; (c) als Referenzrahmen für referentialisierbare Bestandteile des Textes nicht primär oder ausschließlich das soziale Wirklichkeitsmodell W zu wählen, was als Produktions-, Rezeptions-, Vermittlungs- und Verarbeitungskontext betrachtet wird, sondern andere Referenzrahmen zuzulassen, um den Text als sprachliches Ästhetisches Kommunikat zu realisieren.« (Schmidt: Grundriß Bd. l, S. 325).

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ist nach Schmidts Hypothese die unabdingbare Voraussetzung für einen adäquaten Umgang mit literarischen Texten, für die - im Unterschied zu nichtliterarischen Äußerungen - anstelle der referenzsemantischen Beziehung die Ästhetizität als primäres Kriterium der Beurteilung zu gelten habe. Schwieriger noch als bei der Ästhetik-Konvention dürfte für die zweite Konvention, die Schmidt in sein Theoriekonzept einführt, die empirische Überprüfbarkeit sein. Die Polyvalenz-Konvention besagt nämlich, daß - wiederum im Gegensatz zu nicht-literarischen Texten, die »möglichst eindeutige intersubjektiv festlegbare Rezeptionsresultate«159 verlangen - literarischen Texten sowohl von verschiedenen Rezipienten zum selben Zeitpunkt als auch vom selben Rezipienten zu jeweils verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche und einander entgegengesetzte Rezeptionsresultate zugeordnet werden können.160 »Polyvalenz« meint demnach die Bedeutungsmehrwertigkeit literarischer Produkte, die Polyvalenz-Konvention beschreibt die prinzipiell als positiv erachtete Möglichkeit, die >Bedeutungsangebote< auf vielfältige und verschiedenartige Weise zu realisieren. Ungeachtet der in der Linguistik diskutierten Frage, ob nicht auch nicht-literarischen Textsorten unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit polyvalenter Sinnrealisation zugeschrieben werden kann, handelt es sich bei der von Schmidt beschriebenen »Polyvalenz«- wie »Ästhetik«-Konvention um unzulässige Generalisierungen bestimmter historischer literarischer Teilsysteme, die somit nicht gut als distinkte Kriterien für die Definition von >Literatur< als solcher dienen können. Mithilfe der Ästhetik- und der Polyvalenz-Konvention versucht Schmidt die generellen Handlungsregularitäten zu bestimmen, die die Einstellung zu und den Umgang mit literarischen Texten regeln. Sie stellen seiner Meinung nach die generellen Bedingungen literarischen kommunikativen Handelns dar. Die Annahme allein, daß diese Konventionen das Kriterium für die Abgrenzung des literarischen Handlungsbereichs gegenüber anderen Handlungsbereichen abgeben, besagt freilich noch nichts über die jeweilige historischen Verhaltensweisen im Handeln mit und über Literatur. Im Unterschied zu unserem Untersuchungsmodell, das ein praktikables Instrumentarium zur Erforschung historischer Entwicklungen und sozialer Prozesse im Sozialsystem >Literatur< anbieten möchte, geht es Schmidt vorrangig um die Absicht, möglichst vollständig und eindeutig die Voraussetzungen, Bedingungen und Faktoren zu erfassen, unter denen literarisch kommunikatives Han159 160

Hintzenberg: Literaturbegriff, S. 15. Schmidts Definition der PL-Konvention lautet: »Für alle Kommunikationsteilnehmer unserer Gesellschaft G, die Kommunikatbasen als sprachliche Ästhetische Kommunikate zu realisieren beabsichtigen, ist es im Rahmen unserer Gesellschaft G gegenseitig unterstelltes Wissen, daß sie bereit und in der Lage sein müssen, sich nicht an die M-Konvention [ = Monovalenz-Konvention] zu binden, sondern bei der Produktion und Rezeption sprachliche Ästhetische Kommunikate polyvalent [. . .] zu realisieren.« (Schmidt: Grundriß Bd. l, S. 325326).

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dein möglich ist. Erst dann sei auch auf metatheoretischer Ebene die Möglichkeit dafür gegeben, auf sinnvolle Weise von einem literarischen System, von einem »gesellschaftlichen Handlungsbereich LITERATUR« zu sprechen. Wie diese Voraussetzungen, Bedingungen und Elemente des literarischen Systems unter historischen Aspekten in Beziehung zueinander zu setzen sind, kann von der Theorieebene her nicht entschieden werden, dazu bedarf es einer elaborierten empirischen Forschungsmethodik. Die Theoriekonstruktion der ETL selbst beruht auf formaldefinitorischen, nicht jedoch auf analytischen Aussagen. Schmidts Konzeption der Binnenstruktur des »Handlungssystems LITERATUR« sieht vier Handlungsrollen vor, die das literarische System strukturieren: den Produzenten, Vermittler, Rezipienten und Verarbeiter. (Ich verzichte hier darauf, die Problematik zu erörtern, die sich aus der Differenzierung zwischen Rezeptions- und Verarbeitungshandlungen ergibt; Reinhold Viehoff behandelt diese Frage ausführlich in seiner Rezension des »Grundrisses«).161 Jeder dieser vier Handlungsrollen ist ein spezifischer Handlungsbereich zugeordnet, der sich durch ein jeweils besonderes Voraussetzungssystem, durch bestimmte Handlungssituationen und Handlungsstrategien definiert. Auf diese Weise erschließt Schmidt für die vier Handlungsrollen formalisierte Standardmodelle. Mit deren Hilfe soll es wiederum möglich werden, die zeitlichen und kausalen Relationen zwischen den einzelnen Handlungsrollen festzulegen, oder in seinen Worten: »die historische(n) Einzelvorkommen als damit strukturgleich oder strukturell davon abweichend repräsentieren zu können«.162 Unklar bleibt allerdings, auf welchem methodischen Wege dies erreicht werden könnte. Die ETL bietet bis jetzt noch keine Methodologie, mit der die empirische Theorie auch forschungspraktisch zu realisieren wäre. Man muß daher Reinhold Viehoff zustimmen, der warnend darauf verweist, daß ohne die Entwicklung eines überzeugenden methodischen Verfahrens die ETL Gefahr läuft, ihre selbstgestellten Ansprüche einzubüßen.163 Die von der Arbeitsgruppe NIKOL herausgegebene Studie Zum Literaturbegriff in der Bundesrepublik Deutschland,,164 die sich explizit auf die Empirische Konzeption bezieht, bietet, zumindest was die methodischen Aspekte anbelangt, nichts wesentlich Neues. Die in diesem Band vorgestellten Untersuchungen zum Rezeptionsverhalten - hauptsächlich gestützt auf die Konversationsanalyse - hätten auch vor einem anderen theoretischen Hintergrund als dem der ETL durchgeführt werden können und berühren nur einen Aspekt der ETL, nämlich die Ästhetik- und Polyvalenz-Konvention. 161

Viehoff: Empirische Literaturwissenschaft, Manuskript S. 9-11. Schmidt: Grundriß Bd. l, S. 176. 163 Vgl. Viehoff: Empirische Literaturwissenschaft, Manuskript, S. 7-8. 164 Vgl. die methodenkritischen Anmerkungen von Walther Kindt in: Hintzenberg: Literaturbegriff, S. 217-238 und die Anlagen der Untersuchung zum »Komplexitätskonzept« und zum »Hamburger Verständlichkeitskonzept«, ebd. S. 239-256. 162

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Schmidts eigener Vorschlag, wie mit den bisher bekannten Fragestellungen und Problemlagen der literaturwissenschaftlichen Praxis zu verfahren sei, ist wiederum von so grundsätzlicher Art, daß daraus schwerlich ein entscheidender Gewinn für die Entwicklung innovativer Forschungstechniken und -methoden gezogen werden kann. Im zweiten Band des »Grundrisses« tritt er dafür ein, die »bisherigen Teil- und Bindestrich-Disziplinen«165 Literaturgeschichtsschreibung, Literatursoziologie und Literaturpsychologie (außerdem, als Teilnahmeformen am LITERATUR-System, die Literaturkritik und Literaturdidaktik) in eine »autonome Literaturwissenschaft« überzuführen, die gemäß der ETL konzipiert sein soll. Als Hauptargument für diesen Vorschlag nennt Schmidt die »prinzipielle Historizität und Sozialität«166 aller Elemente im System literarischen kommunikativen Handelns, was nichts anderes zu bedeuten habe, als daß die Problemlagen und Aufgabestellungen der genannten >Sektordisziplinen< in der universellen Gesamtkonzeption der ETL bereits grundsätzlich aufgehoben sind. Die Integration der Problembereiche der traditionellen literaturwissenschaftlichen Teildisziplinen in die ETL gelingt ihm aber nur deshalb, weil er sich großzügig über grundlegende konzeptionelle Unterschiede zwischen den einzelnen Ansätzen, so z. B. zwischen handlungsorientiertem und werkorientiertem Literaturbegriff hinwegsetzt. Die bisherige Praxis der Interpretation ordnet er kurzerhand dem Objektbereich der ETL zu: sie zählt für Schmidt zum Handlungstyp der Verarbeitung von Literatur. Die derzeit wichtigste Frage, mit der sich die sozialwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft auseinandersetzt, die Frage nämlich nach der Verbindung zwischen einem diachronen Modell für das literarische System und der Evolutionskonzeption für Geschichte und Gesellschaft, kann auch Schmidt nur pauschal beantworten.167 Sein Modell der literarischen Evolution, das sich auf Karl Eibls Konzeption vom literarischen Wandel stützt, ist nicht frei von werkästhetischen Annahmen und steht damit zumindest partiell im Widerspruch zur handlungstheoretischen Grundkonzeption der ETL. Schmidts globaler Entwurf des »Handlungssystems LITERATUR« besitzt nicht zu leugnende Vorzüge: Die ETL gründet auf reflektierten metatheore165

Schmidt: Grundriß, Bd. 2, S. 1. Vgl. ebd. S. 30-31: Schmidt weist mehrmals darauf hin, daß »in der ETL kein Moment im System LITERATUR von der kategorialen Bestimmung der Historizität ausgenommen« bleibt, »daß die »fundamentale H i s t o r i z i t ä t aller Momente im System LITERATUR« stets vorausgesetzt wird. Im Hinblick auf die sozialwissenschaftlich relevanten Aspekte heißt es, daß »die ETL aufgrund ihrer literaturwissenschaftlichen Zielsetzung und der Wahl ihres Untersuchungsbereichs die Sozialität aller Momente des LITERATUR-Systems untersuchen muß« (ebd. S. 54). 167 Vgl. ebd. S. 11, Fußnote 12: »Ohne hinreichend komplexe und plausible Theorien von Gesellschaft und Geschichte kann die systematische Zuordnung von LITERATUR und GESELLSCHAFT nicht gewährleistet werden.« - Dazu die von Schmidt entworfenen Gesetzeshypothesen zur Diachronie des LITERATUR-Systems, S. 46-51. 166

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tischen Annahmen, verfügt über eine konsistente Terminologie und ist in der Entwicklung ihrer Konstruktion intersubjektiv überprüfbar. Die Verwendung eines soziologisch kaum reflektierten Handlungsbegriff bedeutet aber eine Schwachstelle, die unbedingt behoben werden müßte. Zu fragen bleibt, ob und inwieweit die Bezugs- und Orientierungsaspekte der Handlungen, angefangen bei den komplexen Voraussetzungssystemen der Kommunikationspartner, sich tatsächlich empirisch rekonstruieren lassen. Man vermißt insbesondere konkrete Hinweise darauf, wie das historische Material erschlossen und verarbeitet werden kann. Die Nagelprobe auf die Realisierbarkeit der ETL steht noch aus. Es bedarf aber keiner besonderen Weitsicht um vorherzusagen, daß die empirische Rekonstruktion umso schwieriger werden wird, je weiter die zu untersuchenden literaturgeschichtlichen Prozesse zeitlich zurückliegen. Welche Probleme sich hieraus für die Praktikabilität der ETL ergeben, ist bereits abzusehen.

Friederike Meyer / Claus-Michael Ort

Konzept eines struktural-funktionalen Theoriemodells für eine Sozialgeschichte der Literatur*

l.

Theoretische Voraussetzungen einer Sozialgeschichte der Literatur: Einige Grundzüge diachroner Modellbildung (Claus-Michael Ort)

1.1.

Literarischer Wandel als sozialer Wandel

Eine scheinbar einfache Frage führt in den Kern der theoretischen Probleme, nämlich die Frage: Welches ist der Gegenstandsbereich einer Sozialgeschichte der Literatur? (objektivistisch formuliert) oder (konstruktivistisch gewendet): Welches Auflösungsvermögen, welchen Grad an Komplexität und welche Referenzebenen müßte eine struktural-funktionale Modellkonstruktion mindestens aufweisen, um den >Gegenstand< einer solchen Sozialgeschichte überhaupt erst systematisch definieren (konstruieren) zu können? Vorhandene Sozialgeschichten der Literatur stellen sich diese Fragen selten explizit, beantworten sie jedoch implizit allein schon durch die jeweilige synchrone und diachrone Auswahl der verfügbaren (und oft sehr heterogenen) >Daten< sowie durch eine meist von vornherein unterstellte Evidenz der je vorgenommenen historischen Phasengliederung in homogene >Epochen< (zu den Problemen von Epochengliederungen vgl. auf systemtheoretischer Basis Luhmann 1985). Wenn dann auch noch Literaturgeschichte, >IdeenBewußtseinsgeschichteZurechnung< von >GattungenGenresWerkenMotivenThemenStilen< usf. auf produzierende, rezipierende oder distribuierende >Trägerkollektive< (bzw. auf die entsprechenden Institutionen des sogenannten literarischen Lebens) untermauert werden können, soll gar nicht bestritten werden. Ebensowenig ist allerdings auch zu leugnen, daß diese >Ergebnisse< vielfach lediglich darin bestehen, immer mehr Datenmaterial so einzubeziehen und anzuordnen, daß es der oder den a priori zugrunde gelegten Wandlungsannahme(n) subsumiert werden kann. * Das Manuskript wurde 1985 abgeschlossen.

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Da Prozesse des sozialen W a n d e l s den eigentlichen Forschungsgegenstand von >.S0z/fl/geschichte< bilden, hätte demgegenüber eine systematische Sozialgeschichte der Literatur zuallererst die ihr adäquaten Wandlungsannahmen und -ebenen zu explizieren; >literarischer Wandel< als sozialer Wandel bzw. sein Bezug auf (nicht-literarischen) sozialen Wandel wird nicht stillschweigend und vorweg als gegeben unterstellt werden dürfen, sondern erweist sich vielmehr als ein theoretisches und (hoffentlich) heuristisch fruchtbares >KonstruktSynthesediachron< sein, dürfte also ein Modell von Systemzuständen nicht nur zu einem Modell synchroner Schnitte diachron extrapolieren, sondern wird darüber hinaus auf kurzschlüssige > Erklärungen literarischen Wandels verzichten müssen und zunächst versuchen, die >Gegenstände< möglicher Erklärung (wie etwa Prozesse, Zustände, Strukturen, Funktionen von/in Systemen) zu bestimmen. Bevor somit von >literarischem< oder sozialem Wandel< überhaupt sinnvoll die Rede sein kann, ist zu klären, >was< sich hinsichtlich welcher Kriterien und auf welcher Abstraktionsebene jeweils >wandeltrepräsentierendes< Modell (verstanden als >KonstruktionAbbildungBlack-Box-Modellen< vor allem dadurch, daß etwas von der inneren Struktur und Dynamik einer Untersuchungseinheit aufgezeigt wird, daß also nicht nur Output- auf Inputgrößen bezogen werden, der innere Mechanismus oder Prozessualismus aber im Dunkeln bleibt.« (Bühl 1982:56). Hieraus ergeben sich theoretische Konsequenzen: ein Modell für eine Sozialgeschichte der Literatur hätte nämlich nun genau anzugeben, was in seinem Rahmen mit dem Begriff >Literatur< gemeint sein soll. Für ein sozialwissenschaftlich fundiertes, struktural-funktionales und diachrones Modell sind Prozesse des sozialen Wandels als Prozesse des Strukturwandels und des Funktionswandels sozialer Systeme (oder Subsysteme) beschreibbar, literarischer Wandel< kann somit nur als Wandel der Strukturen und Funktionen eines Sozialsystems >Literatur< (ab jetzt als SLit be-

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zeichnet) Gegenstand soziologischer Analyse werden. Folglich ist erstens zu präzisieren, welche Systemebenen und internen Subsysteme für SLit sinnvollerweise anzunehmen sind und zweitens, welcher funktionale Differenzierungsgrad der gesellschaftlichen >Umwelt< von SLit zuzuschreiben ist, um SLit als relativ abgrenzbares und mit anderen sozialen Systemen interagierendes Sozialsystem begreifen zu können. Ohne hier schon im Detail auf die Fülle an soziologisch-theoretischen Konstruktionsproblemen einzugehen, welche eine Strukturale und funktionale Modellbildung für SLit aufwirft Andeutungen finden sich bei Schönert (1983:102-112), Meyer/Ort (1984) sowie bei Plumpe (1985) - erscheinen zunächst doch einige grundsätzliche Anmerkungen zu beiden Problemen unverzichtbar. 1.2.

Komponenten eines Mehrebenenmodells für das Sozialsystem >Literatur< (SLit)

Drei komplementäre Dimensionen soziologischer Analyse prägen das hier zu skizzierende Modell und weisen es als ein >Mehrebenenmodell< aus, welches eine mikrosoziologische, eine i n t e r m e d i ä r e sowie eine m a k r o s o ziologische Referenzebene umfaßt. Diese drei Untersuchungsperspektiven logisch zu unterscheiden, bedeutet jedoch nicht, die unfruchtbaren Dichotomien einer inzwischen obsoleten, binär aufgebauten Soziologie zu reproduzieren, sondern bildet gerade die Voraussetzung dafür, daß die traditionellen Entgegensetzungen von >Individuum< und >KollektivSubjekt< und >ObjektHandeln< und >StrukturWandel< und >StabilitätHandlungstheorie< und >SystemtheorieGesellschaft< und >Gemeinschaft< usf. in einem integrativen theoretischen Bezugsrahmen systematisch rekonstruiert werden können. Wie Bühl mehrmals hervorgehoben hat (1980 und 1982:4-16), liegt darin eine der noch kaum entfalteten Entwicklungsmöglichkeiten einer nicht-reduktiven, systemtheoretischen Sozialwissenschaft. Die >klassischen< intermediären Komponenten soziologischer Theorie - Normen- und Rollentheorie, Bezugsgruppentheorie, Institutionentheorie - bleiben ohne mikrosoziologischen und makrosoziologischen Kontext ebenso sinnlos, wie eine Makrosoziologie ohne Mikrosoziologie und vice versa. Die gegenwärtigen diesbezüglichen theoretischen Defizite der Soziologie vermag eine interdisziplinäre Modellbildung für sozialgeschichtliche Literaturforschung zwar nicht zu überwinden, sie sollte sich ihrer aber bewußt sein und sie zum Ausgangspunkt ihrer theoretischen Überlegungen machen. Genuin soziologisches Denken, soweit besteht Konsens, zeichnet sich dadurch aus (und findet darin seine Grenzen), menschliches Verhalten und Handeln, die Verhaltens- und Handlungssituationen von >AktorenKognitionen< und Bedürfnisse als >sozial< und >interaktiv< zu interpetieren und diese auf z. B. gruppenspezifische oder institutionenspezifische Rollen und Normen, auf kollektive Verhaltens- und Handlungsmuster sowie auf

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makrosoziale Strukturen als relativ verfestigten Folgen kollektiven Verhaltens zu beziehen, wie etwa auf bestimmte gesellschaftliche Differenzierungsund Interaktionsformen, kulturelle Wertmuster, Deutungsschemata usf. (Bühl 1982:162f., »Vom einzelnen Individuum her ist, strenggenommen, überhaupt nicht von >Handlung< zu sprechen - so wenig von >Handlungssubjekt< zu sprechen ist; denn im Grunde ist nur das Handlungssystem als ganzes >Subjekt< der Handlung.«). Daß umgekehrt etwa eine struktural-funktionale Systemanalyse von >Gesellschaft< oder eine soziologische Systemtheorie den >Weg< zurück bis auf eine aktorbezogene Referenzebene einzuschlagen hat, versteht sich dabei fast von selbst; so verdankt auch Talcott Parsons seine, zumindest in der Bundesrepublik Deutschland festzustellende, >Renaissance< hauptsächlich der integrativ-systematischen Leistung seiner Theoriebildung, welche >Handlungstheorie< und >Systemtheorie< zu verbinden versucht (vgl. dazu Münch 1982 und 1984 und Abschnitt 2.). Vor diesem Hintergrund fällt einigen, primär mikrosoziologisch-handlungstheoretisch bzw. intermediär orientierten Ansätzen in der Literaturwissenschaft die Funktion wichtiger Vorarbeiten für ein nicht-reduktives Mehrebenenmodell von SLit zu. So koexistieren systematische Konzepte zu literarischen Normen und Werten (von Heydebrand 1984), rollentheoretische (z. B. systemtheoretisch fundiert Böhler 1975, Mohr 1983 und 1985) und institutionentheoretische Versuche (so u. a. von Voßkamp 1977 und Köhler 1977 zu Gattungen als >Institutionen< oder - funktionalistisch orientiert Gaiser 1982) mit historischen Untersuchungen zu »literarischen Institutionen«, wie z. B. Leihbibliotheken (Jäger/Schönert 1980 und Jäger 1982). Es käme darauf an, diese vereinzelten und ersten Fragmente einer systematischen intermediären Literatursoziologie sozialwissenschaftlich breiter >abzustützen< und gleichzeitig zu überprüfen, ob und inwieweit sie etwa mit dem theoretisch schon ausgearbeiteten, primär mikrosoziologisch-handlungstheoretischen (und funktionalistischen) Entwurf einer »empirischen Literaturwissenschaft« (Schmidt 1980 und 1982) - wenigstens in den zentralen Grundpositionen - verträglich sind. Schmidts »Theorie literarischen kommunikativen Handelns« und seine »Theorie der kommunikativen Handlungsrollen in literarischer Kommunikation« (»Produktionshandlungen«, »Vermittlungshandlungen«, »Rezeptionshandlungen« und »Verarbeitungshandlungen«, Schmidt 1980) harren zwar noch weitgehend einer empirischen Überprüfung bzw. Operationalisierung (siehe allerdings u. a. Viehoff 1983a zu Rezeption und Verarbeitung); davon unberührt zeichnet sich jedoch schon jetzt ab, daß Schmidts konsistenter handlungstheoretischer Entwurf einen ausnehmend fruchtbaren Ausgangspunkt für zweifache sozialwissenschaftliche Ergänzung und Erweiterung bildet. Zum einen ist die in ihm angelegte, makrosoziologische Dimension systematisch zu entfalten, was Schmidt (1984:318-324) selbst bereits andeutet; erst dann erscheint es beispielsweise möglich, die spezifischen gesellschaftlichen und historisch variablen - Funktionen literarischen Handelns bzw. eines So-

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zialsystems >Literatur< im Unterschied etwa zu anderen kulturellen (Religion, Wissenschaft) oder künstlerischen Handlungssystemen (z. B. >Bildende KunsK, Musik) oder auch die Funktion literarischer Diskurse im Verhältnis zu nicht-literarischen Diskursen zu bestimmen (vgl. dazu erste Anmerkungen auf der Basis des funktionalistisch-systemtheoretischen Ansatzes von Parsons bei Meyer/Ort 1984:77-83 und Schönen 1983:103-110). Zum anderen bietet sich, sozusagen in entgegengesetzter >RichtungRealitätsProfanierung< des literarischen Handelns< bzw. des damit implizierten emphatischen >SubjektHandeln< im engeren Sinn aufzufassen sein; darüber hinaus umfaßt literarische Kommunikation< jedoch zweifellos affektive, emotive und auch >unbewußte< Produktions- bzw. Rezeptionsvorgänge, die von einem an bewußtem, >zweckvoll< selektiven, zielgerichteten Handeln orientierten Konzept nicht erfaßt werden können (man denke - um zwei beliebige Beispiele zu nennen - etwa an die sogenannte >ecriture automatique< der französischen Surrealisten1 oder auch nur an >spannende< RomanlektüreLiteratur (SLit)2 gegenüber1

Eine z. T. gruppenspezifische >rationale< Wahlentscheidung für diese (oder eine andere) Verfahrensweise geht dem eigentlichen Produktionsvorgang zwar voraus, >steuert< diesen selbst jedoch nicht mehr. 2 Aus einer komplexen Modellbildung darf nicht ihre historische Hypostasierung gefolgert werden: Daß sich viele der im Modell konstruierten Handlungsrollen, Institutionen und Subsysteme, daß sich SLit als solches erst historisch ausdifferenziert hat (etwa ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts), mindert den heuristischen Wert des Modells als systematischem Bezugspunkt diachroner Analyse in keiner Weise.

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steht, betreffen noch nicht deren - wie oben gefordert - spezifisch >diachrone< Komponenten. Bevor dazu einige, wiederum nur ganz allgemeine Anmerkungen folgen, bleibt für die quasi >synchronaufgesucht< werden können (und müssen!), daß somit (2.) Strukturen und Funktionen auf allen drei Ebenen - nicht nur auf der makrosoziologischen - festzumachen sind und daß schließlich (3.) damit noch keine Entscheidung darüber getroffen worden ist, welche >strukturalistischenfunktionalistischen< oder >systemtheoretischen< Ansätze aus Literaturwissenschaft und Soziologie sich im einzelnen für die notwendige >bereichsspezifische< Konkretisation der mikrosoziologischen, der intermediären und der makrosoziologischen Systemebene eignen. Festzuhalten ist weiterhin (4.), daß der Struktur- und Funktionswandel von Subsystemen und Systemen von allen drei Ebenen aus rekonstruiert werden kann. 1.3.

Sozialer Wandel als interaktiver Mehrebenenprozeß

Im folgenden soll angedeutet werden, weshalb >Wandel< systematisch zwar nicht ausschließlich auf der, aber auch keinesfalls ohne Bezug auf eine makrosoziologische Systemreferenz zu konzipieren ist. Daß >Synchronie< und >Diachronie< keine kontradiktorischen Gegensätze bilden,3 daß jedes Wandlungsmodell ein Synchronmodell relativ stabiler und dauerhafter Systemzustände notwendig voraussetzt, daß >Wandel< somit also nicht absolut, sondern nur in Beziehung auf jeweils bestimmte Systemzustände beschrieben werden kann, heißt nicht, daß eine diachrone Modellbildung für SLit auf der Stufe des »Querschnittvergleichs« (Waldmann 1971:135-138) stehen bleiben muß, also lediglich fähig wäre, synchrone Schnitte diachron zu vergleichen. Wie Waldmann hervorhebt (1971:136) liegen die Schwächen eines solchen Vorgehens nämlich darin, daß es »zwar den sozialen Wandel (mißt), (...) aber paradoxerweise über den Wandel selbst nichts aus(sagt). Das Geschehen zwischen den Querschnitten, der Wandlungsprozeß, wird weder analysiert noch erklärt.« Weiter führt Waldmann (1971:136) dazu aus: »Das Fehlen einer integrierenden Bezugsgröße hinsichtlich des prozessualen Geschehens zwischen den Querschnitten verleitet dazu, die Verbindungsklammer in den Prozeßverlauf selbst hineinzuprojizieren, ihm ein kausales, ein finales oder ein dialektisches Bewegungsprinzip zu unterstellen. Auf diese Weise wird das Hauptproblem einer Untersuchung des sozialen Wandels: die systematische Erfassung des Wandlungsprozesses, die Erforschung seiner Funktion und seiner Strukturen übergangen.« 3

Nicht nur Wandel, sondern auch >Nicht-Wandel< bzw. die Stabilität eines Systems verläuft in der Zeit und setzt systeminterne Prozesse voraus, die diese Stabilität bewahren; das systemtheoretische Problem der >Zeit< ist also dem des >Wandels< vorgeordnet, vgl. Luhmann (1984:70-83).

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Um sozialen Wandel nun nicht nur als »Vorstufe oder als Nachstufe sozialer Systeme«, sondern »als deren Bestandteil«, also nicht nur seine »strukturbildende oder strukturauflösende Wirkung«, sondern auch ihn selbst als »in sich strukturiertes Phänomen« (Waldmann 1971:138) erfassen zu können, muß ein strukturales und funktionales Systemmodell mindestens drei Grundbedingungen erfüllen. Die erste Bedingung ist darin zu erblicken, daß das Modell komplex genug zu sein hat, um in ihm Strukturwandel von Funktionswandel unterscheiden zu können; d. h. es muß ein Konzept für die Kommunikation und Interaktion (oder um mit Parsons zu sprechen: für die >Interpenetrationumweltrelativen< und >interaktiven< Vorgang - zu beschreiben. Sozialer Wandel erweist sich somit weder als rein kausal erklärbar (bezüglich des sich wandelnden Systems als rein exogen) noch als rein immanent und autonom (>teleologischSystemen< Abschied genommen hat, muß auf monokausale Erklärungen von Wandel ebenso verzichten, wie auf bruchlos evolutionäre Entwicklungsmodelle: »Alle modernen Theorien sozialen Wandels (...) sind - nachdem die unilinearen Entwicklungstheorien gescheitert sind - in der einen oder anderen Form Interaktions-Theorien.« (Bühl 1982:454). Wenn sozialer Wandel aus systemtheoretischer Sicht demnach als jeweils selbst wieder historisch variables - >Mischungsverhältnis< von Stabilität und Dynamik aufzufassen ist und von den beiden Extremen der »nahezu deterministischen Homöostase« (System ohne Wandlungs- und Lernfähigkeit) und der »nahezu indeterministischen Verflüssigung« (Bühl 1982:420) (Dynamik ohne Systemhaftigkeit) begrenzt wird, dann könnte eine der Aufgaben einer struktural-funktionalen und diachronen Modellbildung darin bestehen, in der Geschichte von Gesellschaften die verschiedenen Phasen sozialen Wandels auf ihre spezifische >Verteilung< von stabilen Strukturen bzw. Funktionen und sich wandelnden Strukturen bzw. Funktionen (also auf ihre Wandlungsstruktur) hin zu untersuchen. Welche >Verteilung< von Stabilität und Wandel dabei jeweils vorliegt, hängt wesenlich davon ab, wie die Systemgrenzen definiert werden: Ohne die für die Identität eines Systems unerläßliche Abgrenzung gegenüber seiner >Umweltgrenzerhaltend< wirken (>U1trastabilitätGrenzziehung< ab. Für eine systematische Sozialgeschichte der Literatur - für die >Geschich-

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te< des Sozialsystems >Literatur< - ergibt sich folglich zuallererst die Aufgabe, SLit zu definieren, d. h. von anderen, z. B. kulturellen Sozialsystemen funktional abzugrenzen. Die jeweils gewählte Definition bedeutet zugleich schon eine implizite Vorentscheidung darüber, zu welchen Ergebnissen eine spätere diachrone Analyse von SLit führt. Es muß genügen, auf dieses ausnehmend schwierige Problem soziologischer Systemtheorie hier lediglich hinzuweisen. Vor allem funktionalistische Traditionen der Soziologie haben bisher immer wieder versucht, das Problem der Systemgrenzen (und damit auch das Problem der Systembeziehungen) befriedigend zu lösen und haben zu diesem Zweck die Theorie der sozialen Interaktionsmedien (vgl. Parsons/Platt 1973) bzw. der generalisierten Kommunikationsmedien (vgl. Luhmann 1974) entwickelt. Zweifellos bilden diese Theorien einen sinnvollen Ausgangspunkt, um die Beziehungen zwischen sozialen Systemen als Prozesse selektiver und partieller >Interpenetration< zu begreifen, welche es ihnen ermöglichen, relativ dauerhafte Umweltbeziehungen aufzubauen und ihre Grenzen diesen Beziehungen anzupassen, ohne jene zu gefährden (zur Medientheorie vgl. zuletzt Jensen 1984 und Meyer/Ort 1984). Die forschungspraktische Relevanz der obigen, theoretischen Überlegungen besteht vorerst v. a. darin, den Gegenstandsbereich einer systematischen Sozialgeschichte der Literatur zu erweitern: Diese sollte sich nämlich nicht mehr nur auf die Handlungsprozesse, Institutionen und Diskurse innerhalb des SLit beschränken; vielmehr erweist es sich nunmehr als notwendig, die >Geschichle< von SLit als die Geschichte seiner Kommunikations-, Interaktionsbzw. Interpenetrationsbeziehungen zu anderen Sozialsystemen zu konzipieren und zu zeigen, mit welchen sozialen Systemen in welchem Zeitraum besonders intensive oder für SLit und dessen Wandel konstitutive Interaktionen anzunehmen sind sowie, ob und auf welche Weise sich diese intersystemischen »Vermittlungssysteme« ihrerseits wandeln (worauf Münch 1984:14 hinweist; dazu auch Büß/Schöps 1979:318). Von einem Wandel von »Vermittlungssystemen« zu sprechen, scheint nur sinnvoll zu sein, wenn damit nicht die vielfach relativ eigenständigen Wandlungsstrukturen der beteiligten und voneinander abgegrenzten (gleichwohl umweltoffenen) Systeme aus dem Blick geraten. Die Rekonstruktion verschiedener, nicht vorschnell synthetisierter und synchronisierter >Teilgeschichten< ist gerade als die Voraussetzung dafür anzusehen, daß deren Beziehungen, ihre Interferenz und die Funktionen, die sie möglicherweise füreinander erfüllen, untersucht werden können. Ein weiteres - zweites - wesentliches Merkmal eines diachronen Modells von SLit ergibt sich unmittelbar aus dem vorangehenden. Da sich nämlich, wie Waldmann ausführt (1971:145), »das Problem des sozialen Wandels (...) nur auf der Ebene eines umfassenderen Systems aufwerfen (läßt), dessen Identität bestehenbleibt«, erfordert eine diachrone Modellbildung mindestens zwei Referenzebenen; nur in einem Mehrebenenmodell lassen sich diejenigen Ebenen, auf denen Wandlungsprozesse verortet werden, auf die je-

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weils nächst höhere, relativ invariante Makroebene beziehen. Wer also beansprucht, #eja/nfgesellschaftlichen Wandel zu beschreiben, sollte sich dessen bewußt sein, daß er sich damit - will er nicht zu metaphorischen Entwicklungsprinzipien oder Geschichtsphilosophien Zuflucht nehmen - bereits notwendigerweise auf der Ebene des Vergleichs mehrerer Gesellschaften befindet, die ihrerseits ein >System< bilden. Wer aber weiterhin folgern zu können glaubt, die Soziologie verwandle sich dadurch in eine >Stufen-Ontologie< und suche infinit nach der >letzten< Bezugsebene, der überschreitet selbst bereits die Grenzen sozialwissenschaftlichen Denkens; letzteres wird sich, zumindest in seiner systemtheoretisch reflektierten Form, auf die Ebenen beschränken, auf denen noch sinnvoll soziologische Fragen zu formulieren sind. Das angesprochene theoretische Problem ist also eines der sozio-logischen Modellkonstruktion und kein >onto-logischesEmergenz< der Systemebenen beantwortet hat (so v. a. natürlich die Phänomenologie, vgl. z. B. Berger/Luckmann 1966, aber auch systemtheoretische Ansätze, wie z. B. der von Bühl 1982). Die Annahme, daß z. B. das soziale Verhalten und Handeln von Aktoren ebenso wie die Strukturen (Verhaltensund Handlungsmuster, Wahrnehmungsmuster usf.), von denen Verhalten gesteuert wird und an denen sich Handeln und Kommunikation orientieren, nicht vollständig aufeinander reduzierbar (also >emergentWandel< soziologisch überhaupt erfassen zu können. Gemeint ist damit, daß sich zu >Institutionen< verfestigte, relativ dauerhafte Handlungsmuster oder den Aktoren unbewußte Verhaltens- und Wahrnehmungsstrukturen zwar nur über das aktuelle Handeln, Verhalten und Kommunizieren dieser Aktoren herausbilden - >Ergebnis< von Handeln sind -, diese Muster zugleich aber nicht vollständig auf ihre generierenden Verhaltens- und Handlungsprozesse zurückgeführt werden können, sondern als stabile Strukturen am Anfang weiteren >Anschlußstrukturloser Dynamik< und deterministischer Stabilität als Extremfällen auf und wird von den zwischen diesen >Polen< ablaufenden Rückkoppelungsprozessen bestimmt sein. Wird sozialer Wandel als Mehrebenen-Phänomen verstanden, dann bedarf die Soziologie also um so mehr eines integrativen Theorierahmens, der mikrosoziologische, intermediäre und makrosoziologische Referenzebenen systematisch zu verbinden versucht. Ein Minimalkonsens in dieser Richtung zeichnet sich für die Theorien sozialen Wandels ab (vgl. etwa Wiswede/Kutsch 1978, Bühl 1982, Schmid 1982 sowie Bühl 1984).

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Manchem Leser mag bereits am Ende dieser wenigen und zudem vereinfachenden theoretischen Überlegungen das Unterfangen eines analytischen, strukturalen und funktionalen, diachronen Mehrebenenmodells für das Sozialsystem >Literatur< bzw. für >literarischen Wandel< hybrid und - zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt - aussichtslos vorkommen. In der Tat scheint sich >Interdisziplinarität< bisher noch hauptsächlich auf eine Bestandsaufnahme der wichtigsten Defizite und Desiderate beschränken zu müssen. Dabei werden nicht nur literatursoziologische Defizite deutlich, wie etwa im verhaltenstheoretischen und im makrostrukturellen Bereich, sondern auch soziologisch-theoretische Schwachstellen; noch immer beispielsweise liegt von strukturfunktionalistischer und systemtheoretischer Seite kein befriedigendes Modell sozialen Wandels vor. Daß also die Literaturwissenschaft in diesem Fall kaum auf soziologische Problemlösungen zurückgreifen kann, sondern diese selbst erst anzuregen hätte, sollte jedoch positiv eingeschätzt werden: als zwar schwieriger aber auch fruchtbarer Ausgangspunkt einer erst beginnenden, interdisziplinären Theoriebildung. 1.4.

Fünf theoretische Forderungen an ein Synchroniemodell für das Sozialsystem >Literatur
synchrone< Beziehungen erfassendes Modell für >Literatur< als Sozialsystem zu stellen sind. Die ersten vier dieser Anforderungen betreffen jeweils zentrale Probleme systemtheoretischer Modellbildung generell, welche ein Synchronmodell sozialer Systeme gelöst haben muß, soll auf seiner Basis deren Wandel systematisch erfaßt werden. Die fünfte Forderung schließlich bezieht sich auf einen objektbereichspezifischen Problemkomplex, dem sich ein Systemmodell für >Literatur< wird stellen müssen. (1.) Sozialen Wandel als Wandel sozialer Systeme zu konzipieren, impliziert mindestens zwei Systemreferenzen·, eine mikrosoziologische und eine makrosoziologische. Sollen Wandlungsprozesse (potentiell) von allen zwei Systemebenen aus beschrieben werden können, so ist zuvor das Verhältnis dieser beiden Referenzebenen, d. h. also im wesentlichen die Beziehung von >Handlungstheorie< und >Systemtheorie< (im engeren Sinn) zu bestimmen und eine >aktorbezogene Systemtheorie< wenigstens in den Grundzügen zu entwerfen. Wenn Prozesse des sozialen Wandels als - nicht notwendig nur evolutivunilineare - Prozesse der Ausdifferenzierung von Systemen bzw. der (partiellen) Systemauflösung verstanden werden, d. h. etwa als Prozesse funktionaler D i f f e r e n z i e r u n g bzw. entdifferenzierender (Re-) I n t e g r a l ion beschrieben werden (wie zuletzt von Münch 1984 für die >moderne< Gesellschaft), dann setzt dies die Lösung zweier weiterer, einander bedingender theoreti-

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scher Probleme voraus: Gemeint sind (2.) das Problem der (Sub-)Syslemgrenzen und (3.) das Problem der (Sub-)Systembeziehungen (vgl. insbesondere Büß/Schöps 1979 zur Beziehung von Differenzierung/Systemabgrenzung und Entdifferenzierung/integrierende Systembeziehung). Um diese miteinander verknüpften Probleme zu bewältigen, werden sich (4.) die Komplementärbegriffe > S t r u k t u r < und > F u n k t i o n < als hilfreich erweisen; so können sich Systeme bzw. die Subsysteme eines Systems durch äquivalente Strukturen und differierende Funktionen für ihre >Umwelt< oder durch äquivalente Funktionen und unterschiedliche Strukturen unterscheiden. Deutlich wird dabei zudem, daß eine Abgrenzung von Systemen (etwa durch je verschiedene, spezifische Leistungen bzw. Funktionen für andere Systeme) konzeptuell nicht möglich erscheint, ohne zugleich auch die Umweltbeziehungen dieser Systeme zu berücksichtigen. Unter Systemwandel wird folgerichtig das seinerseits historisch variable Verhältnis von Strukturwandel und Funktionswandel zu verstehen sein. Festzuhalten bleibt darüber hinaus, daß >Struktur(wandel)< und >Funktion(swandel)< einander logisch voraussetzen; der im folgenden zu skizzierende theoretische Rahmen für eine Sozialgeschichte der Literatur wird insofern >struktural< oder >strukturalistisch< sein müssen, als er Systemstrukturen zumindest so komplex zu erfassen versucht, daß ein sinnvoller Übergang zu funktionalen oder >funktionalistischen< Fragestellungen überhaupt möglich wird. Erst vor dem Hintergrund strukturaler Analysen lassen sich dann nämlich bestimmte Teilstrukturen (Subsysteme z. B.) angeben, die mit Teilstrukturen anderer Systeme >interpentrieren< und je bestimmte, spezifische Funktionen übernehmen. Funktionalität (bzw. funktionale Differenzierung) impliziert somit notwendig Selektivität. Als objektbereichsspezifische Variante des Problems der Systembeziehungen erscheint (5.) ein weiteres Problem, dessen Lösung insbesondere von einer Theoriebildung für eine Sozialgeschichte der Literatur zu fordern ist. Zu klären wäre nämlich, ob und auf welche Weise in ein diachrones und synchrones Mehrebenenmodell des Sozialsystems >Literatur< neben einer makrosoziologischen, einer intermediären und einer mikrosoziologisch-aktorbezogenen auch eine primär textbezogene Analyseebene Eingang finden könnte, auf welche Weise somit also nicht nur Handlungssysteme, sondern auch die semantisch-logischen Strukturen semiotischer Systeme (Diskurse, Symbolsysteme) und deren Beziehungen zu bzw. Funktionen für soziale(n) Systeme(n) dem Gegenstandsbereich eines solchen Modells zuzurechnen wären (dazu einführend Ort 1985). Zweifellos sollte ein Strukturales und funktionales, im weitesten Sinn systemtheoretisches Modell von SLit - will es seine theoretische Konsistenz nicht gefährden - nur an ihrerseits bereits >theoretisierte< systematische (etwa semantische) Analyseverfahren Anschluß suchen. Weiterhin können derartige Verfahren im Rahmen einer dezidiert sozialwissenschaftlichen, struktural-funktionalen Modellbildung niemals beanspruchen, die >objektiven< und >wahren< Bedeutungsstrukturen von Texten

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oder Diskursen, >die< Semantik ganzer Kulturen bzw. Gesellschaften oder gar die logischen >Tiefenstrukturen< des menschlichen >Geistes< im Sinne anthropologischer Konstanten (Levi-Strauss) zu rekonstruieren. Als theorieabhängigen, wissenschaftlichen Konstrukten kommt strukturalistischen bzw. semiotischen Ansätzen im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Modellbildung kein prinzipiell anderer Aussagewert zu, als er etwa einer soziologischen Systemtheorie oder Handlungstheorie zuzubilligen ist; in beiden Fällen wird jeweils mit Hilfe einer Metasprache und bestimmter methodischer Verfahrensweisen, deren theoretische Prämissen zu explizieren sind, ein theoretisches >Objekt< konstruiert.4 Wenn im folgenden von >semantischen< oder >semiotischen Systemem oder >Strukturen< die Rede sein wird, dann nur in diesem Sinne. Der Versuch, die im weitesten Sinn semiotische Referenzebene in ein Struktur- und Funktionsmodell von SLit zu integrieren, aktualisiert all diejenigen soziologischen Probleme, welche seit der >Wissenssoziologie< Karl Mannheims und der >Soziologie symbolischer Formen< Bourdieus (1974) noch immer auf ihre Lösung warten.5 Wenn es gelänge, diese Probleme im Rahmen einer systemtheoretischen, struktural-funktionalen Modellbildung zu reformulieren, dann wären davon wichtige Anstöße für die Entwicklung einer systematischen und diachronen Soziologie des > Wissens< und der symbolischen Formen< zu erwarten. Daß eine solche Soziologie noch weitgehend fehlt, bedeutet eine empfindliche theoretische Lücke für eine Sozialgeschichte der Literatur, die nicht nur literarisches Verhalten und Handeln, Institutionen von SLit usw. in der Diachronie zu analysieren versucht, sondern auch die >Symbolstrukturen< und Zeichensysteme, welche dieses Sozialsystem produziert, >speichertFolgen< kollektiven Verhaltens- und Handelns sowie als kollektive, sich historisch wandelnde, literarische Wirklichkeitskonstruktion interpretiert.6 Diese 4

Wie sehr sich das >Objekt< strukturaler Textanalyse - verstanden als ein möglichst widerspruchsfreies »System von Hypothesen über den >TextTextesObjekt< z. B. einer soziologischen Handlungstheorie auch unterscheidet: für die Ergebnisse beider gilt gleichwohl, daß sie durch nicht-wissenschaftliche Rezeptionen eines Textes im einen Fall bzw. durch die Selbstdeutungen sozial >Handelnder< im anderen Fall weder bestätigt noch widerlegt werden können. 5 Mannheims frühe theoretische Schriften enthalten einen systematischen Rahmen für die soziologische >Interpretation< semiotischer >Objekte< (»geistiger Gebilde«, Mannheim 1926), der zwischen »auf >Innenbetrachtung< beruhenden Interpretationen« und »auf >Außenbetrachtung< beruhenden Interpretationen« (Mannheim 1926:406), sowie zwischen »immanentem Sinn« und »Funktionssinn« (1926398) unterscheidet (siehe auch Mannheim 1922:104-109); semiotischer >Kontext< und pragmatischer, sozialer >Kontext< werden also nicht aufeinander reduziert, sondern systematisch und auf mehreren Ebenen korreliert (siehe hierzu Simonds 1975). So obsolet Mannheims methodische Prämissen im einzelnen auch sein mögen, seit Bourdieus >HabitusRealität< bilden während bestimmter Zeiträume relativ dauerhafte kulturelle Repertoires, welche - schriftlich fixiert - auch unabhängig von der Aktorsituation ihrer Hervorbringung und entkoppelt von den ursprünglichen Intentionen und Motivationen ihrer Produzenten für späteres, rezeptives oder produktives >Anschlußverhalten< und -handeln zur Verfügung stehen. Eine diachrone Soziologie literarischen Verhaltens, Handeln und Kommunizierens, die beansprucht, theoretische Vorgaben für eine Sozialgeschichte der Literatur zu erarbeiten und die soziale Funktion und Handlungsrelevanz bestimmter >Semantiken< oder diskursiver Makrostrukturen (im Sinne von van Dijk 1980) erfassen möchte, wird die relative >Dauer< solcher Strukturen theoretisch zu berücksichtigen haben. Die in der Literatursoziologie verbreitete Orientierung an mikrosoziologischen und intermediären (z. B. handlungs- und rollentheoretischen oder gar sprechakttheoretischen) Konzeptionen tendiert dazu, die Komplexität literarischer Kommunikation als eines Mehrebenenphänomens implizit auf die Merkmale mündlicher Kommunikation (>face-to-face-communicationLiteratur< - dann auch kulturell-semiotische Strukturkomponenten umfaßt, scheint plausibel. So haben beispielsweise die Autoren eines beliebigen diachronen Textkorpus' (etwa dem der >Bildungsromane< der Goethezeit 1770 bis 1830) bestimmte semantisch-logische Strukturen dieses Korpus' zwar kollektiv produziert, und diese Strukturen werden sodann in bestimmten, je historisch signifikanten Selektionen rezeptives bzw. produktives >Anschlußhandeln< latent steuern. Dennoch sind diese Strukturen aber gerade nicht (oder doch nur in Ausnahmefällen) den bewußten Intentionen einzelner Autoren zuzurechnen.7 Ebensowenig (oder nur in Ausnahmefällen) werden sie von rezeptiven oder produktiven Anschlußhandlungen unverändert und vollständig reproduziert; eine je nach Handlungskontext unterschiedliche, selektive Aktualisierung und Verarbeitung ermöglicht gerade deren Umstrukturierung und Wandel. Die historisch variablen Muster literarischer Wertung, literarischer Produktion und Rezeption usf. sind dabei als Selektionsmuster zu beschreiben. In diesem Zusammenhang wird überdies deutlich, daß ein Wandel semiotischer Strukturen nicht als autonome >Selbstbewegung< verstanden wird wie es >geistesgeschichtlicheinteraktiver< bindungen zu einer »Histoire des Mentalites« (vgl. Reichardt 1978) ergeben könnten. 7 Zu solchen Fiktionen führt allerdings eine auf zweckrationales Handeln verengte Handlungstheorie (siehe Abschnitt 1.2.).

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und intermediärer Mehrebenenprozeß aktorenbezogene wie makrostrukturelle Dimensionen umfaßt (vgl. Abschnitt 1.3.)· Aufgabe einer diachronen Soziologie der Literatur (als Soziologie literarischen Wandels) wird sein müssen, die Relationen zwischen beiden Referenzebenen zu systematisieren. Damit ist auch bereits angedeutet, auf welch komplexe Weise sich einer nichtreduktiven diachronen Wissenssoziologie das Problem der >Zurechnung< von >Handeln< auf >semiotische Strukturen stellt.8 Wenn nun in den folgenden Abschnitten ein Mehrebenenmodell des Sozialsystems >Literatur< (SLit) auf der Basis der soziologischen Systemtheorie von Talcott Parsons skizziert wird, so keineswegs deshalb, weil mit Hilfe des Parsons'schen Ansatzes etwa die oben genannten fünf theoretischen Anforderungen an ein Synchronmodell von SLit bereits voll zu erfüllen wären, wohl aber deshalb, weil er es als sozialwissenschaftlicher Theorierahmen erlaubt, nicht nur jene fünf Probleme systematisch aufeinander zu beziehen, sondern z. T. auch entwicklungsfähige Lösungen für diese Probleme nahelegt. Mögen einige dieser Lösungen inzwischen auch obsolet geworden sein - v. a. Parsons' wandlungslogische und >kybernetische< Positionen sind systemtheoretisch zu revidieren -, so kann dies den forschungspraktischen Wert seiner Theoriebildung zunächst jedoch nicht mindern. Dieser besteht in erster Linie darin, ein heuristisch fruchtbares, allgemeines und analytisches Ordnungsschema zur Verfügung zu stellen, welches die Komplexität des Gegenstandsbereichs einer Sozialgeschichte zu reduzieren und verschiedene Untersuchungsebenen und Problemniveaus zu unterscheiden gestattet. Darüber hinaus ermöglicht es Parsons' integrative Theorie, Handlungstheorie und Systemtheorie in einem Mehrebenenmodell zu verbinden (Problem 1); dies und sein Konzept >sozialer Interaktionsmedien< und >HandlungsmedieninterpenetrierenMedientheorie< - zuletzt in Luhmann 1982 und 1984a -, wären u. a. Jensen 1976, 1980, 1980a, und 1983, Münch 1982 und 1984 sowie der Versuch einer formalen Rekonstruktion des Parsons'schen Erklarungsprogramms durch Miebach 1984 zu nennen). Nicht zuletzt lassen sich ausgehend von Parsons' Modellbildung auch wissens- und kultursoziologische Fragestellungen systematisch rekonstruieren, da sein VierfelderSchema (AGIL-Schema, siehe Abschnitt 2.) das Problem der Beziehung semantisch-logischer (kultureller) Systeme zu sozialen Systemen impliziert (Problem 5).9 8

Dies betont Luhmann (1980:15): »Während die Wissenssoziologie ihr Hauptproblem parallel zur Relation Subjekt - Objekt als ein Zurechnungsproblem gestellt hatte, das heißt nach Trägern des Wissens gefragt hatte (...), stellt die Frage nach einer Korrelation oder Kovariation von Wissensbeständen und gesellschaftlichen Strukturen theoretisch erheblich höhere Anforderungen.«

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Insbesondere mit den Termini > m a k r o s o z i o l o g i s c h versus m i k r o s o z i o l o g i s c h < und > s y s t e m t h e o r e t i s c h versus h a n d l u n g s t h e o r e tisch < läßt sich die Spannweite sozialwissenschaftlicher Theorie- und Begriff sbildung bei Parsons abstecken (Problem 1), wenn erstens die je gegenübergestellten Pole nicht exklusiv und dichotomisch verabsolutiert werden und sich zweitens ihre Kombination nicht in einer direkten und parallelisierenden Korrelation beider Paare erschöpft. In diesem Fall würde nämlich eine tendenziell holistische Makrosoziologie als Soziologie überindividuell objektivierter >Gesellschaft< den bevorzugten Gegenstandsbereich der >Systemtheorie< und eine tendenziell individualistische Mikrosoziologie als Soziologie des subjektiv-persönlichen >Handelns< den überwiegenden Anwendungsbereich der >Handlungstheorie< bezeichnen. Während sich die Gegenstandsbereiche von Mikro- und Makrosoziologie durch das Konzept des >Orientierungshandelns< seit Max Weber und durch die >intermediärem Konzepte der (Bezugs-)Gruppen-, Rollen- und Institutionentheorie traditionell vermittelt gegenüberstehen, trifft dies für das Verhältnis von Systemtheorie und Handlungstheorie nicht zu; mikrosoziologische Handlungstheorie und makrosoziologische Systemtheorie bilden vielmehr noch immer eine Grundpolarität sozialwissenschaftlicher Theorie.10 An Versuchen, diese Gegensatzstruktur zu durchbrechen oder zumindest zu differenzieren hat es dennoch nicht gefehlt.11 Überwindet eine > makrosoziologische Handlungstheorie< die Überbetonung des >handlungstheoretischen Individualismus< - Aktoren als theoretische Konstrukte können auch Kollektive sein12 -, so ist es die Aufgabe einer >mikrosoziologischen Systemtheories das soziologische Systemdenken aus einer einseitigen Fixierung auf die >Gesellschaft< als Makrosystem zu befreien.13 Darüber hinaus kann eine 9

Siehe dazu auch Ort 1985; die vorliegende Modellbildung ist zwar selbst (noch) nicht explizit wissenssoziologisch dimensioniert, kann aber als notwendige Vorstufe einer literaturbezogenen, systematischen und diachronen Soziologie des >Wissens< verstanden werden. 10 Zwei beliebige Beispiele hierfür mögen genügen: Käsler 1974 entwickelt in seinem soziologischen >Leitfaden< zwar eine differenzierte Merkmalskasuistik, kontrastiert aber nach wie vor mikrosoziologische Handlungstheorie und makrosoziologische Systemtheorie (vgl. ebd. 8-11); - Reimann/Giesen/Goetze/Schmid 1977 bilden zwei konträre Begriffsreihen aus »Makrosoziologie - System - (Gesamt-)Gesellschaft methodischer Kollektivismus« einerseits und »Mikrosoziologie - Elemente - Gesellschaftsmitglieder - methodologischer Individualismus« andererseits (ebd. 77; vgl. auch 121-174, v. a. 145). 11 Bühl 1980 beispielsweise setzt den »binären Oppositionen« (100) der traditionellen Soziologie eine »System-Epistemologie« (120) entgegen; zum Gegensatz von Handlungs- und Systemtheorie vgl. auch S. 103-106. 12 Als Beispiel ist die »Theorie makroskopischen Handelns« bei Etzioni 1968 zu nennen. 13 Wieder müssen zwei Hinweise hierzu genügen; anzuführen sind z. B. Kraussers Bemerkungen zu einer »Systemtheorie rational selbstgesteuerter Handlungsprozesse« (Krausser 1972) und der Entwurf eines »systemtheoretischen Beschreibungsmodells des Handelns« durch Ropohl 1980.

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theoretische Vermittlung von Handlungstheorie und Systemtheorie so lange nicht gelingen, als >System< und >Handeln< (bzw. >Struktur< und historisches >EreignisGesellschaft< und >IndividuumSystemstruktur< und individuell-autonomes, ereignishaftes Aktor->Handeln< erweisen sich vor diesem obsoleten, begrifflich-logischen Hintergrund als soziologisch von vornherein nicht vermittlungsfähig. Aus der Verabsolutierung der beiden, analytisch gleichermaßen unverzichtbaren Perspektiven ergibt sich sodann per se das >sozialphilosophische< (Schein-)Problem ihrer (etwa >dialektischenVermittlungkommunikativenlebensweltlichen< und das heißt: >systemfreien< Handelns dient; >lebensweltliche Sozialintegration< wird also erst da möglich, wo die gesellschaftliche Systemintegration< endet. Die Unterstellung einer Art >Nullsummenverhältnis< zwischen >Sozialintegration< und >Systemintegrationmodernen Gesellschaft als Sozialsystem >auf Kosten< der menschlich-individuellen >Lebenswelt< erinnert, kann dem Ansatz Parsons' >jedoch nicht gerecht werdenAGIL-SchemaInteraktionsmedientheorie< zu). Niklas Luhmann benennt die Schwierigkeiten explizit, mit denen Leser und Autoren rechnen müssen, haben sie sich einmal für den komplexeren, - unanschaulicheren Weg der Systemtheorie entschieden. Auch der hier vorgelegte Entwurf kann diesen praktischen Schwächen nicht entgehen: »Der (...) nötige begriffstechnische Apparat ist sehr aufwendig, der Duktus der Argumentation weder linear, noch 15

Schon statistische Gesetzesprämissen lassen sich in ein deduktiv-nomologisches Erklärungsschema im strengen Sinn nicht mehr einbringen: ein solches läßt nur Kausalerklärungen zu. 16 Zur >TheorieModellAktors< und dessen jeweiliger situativer >Umwelt< bzw. >Handlungssituatiom. Parsons präzisiert ihr wechselseitiges Verhältnis als eine Relation der >Orientierung< wie folgt (Parsons/Shils 1951:54; die deutsche Übersetzung wurde aus Jensen 1980:115 übernommen.): Alles Handeln ist Handeln eines Aktors, und es findet in einer Situation statt, die aus Objekten besteht. Diese Objekte können sowohl weitere Aktoren oder aber physikalische oder schließlich kulturelle Objekte sein. Jeder Aktor hat ein System von Objektbeziehungen; hier soll von seinem >Orientierungssystem< gesprochen werden. (Hervorhebung C.-M. O.)

Um einem konkretistischen Mißverständnis dieser Begriffe entgegenzuwirken, sei ausdrücklich betont, daß durch sie »Handeln rekonstruiert (wird) als eine Relation, die >actor< und >situation< verbindet, wobei diese Begriffe sofort wieder aufgeschlüsselt werden: Der Aktor wird in der nächsten analytischen Schicht ersetzt durch das Konzept von >OrientierungssystemenHandeln< konkreter Individuen, sondern deren systematische Abstraktionen gehen so in

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ein System analytisch aufeinander bezogener, d. h. sich wechselseitig definierender Begriffe ein. >Situation< und >Aktororientierung< an einer >Situation< als Grund->elemente< des >Handelns< werden nun weiter differenziert zu einem komplexen Bezugsrahmen des >HandelnsOrientierungen< an >ZielenMitteln< und >Normen< unterschieden werden. Somit können als wesentliche Komponenten des Verhaltens, insofern es sich als >Handeln< an situativ relevanten >ZielenMitteln< zur Erreichung weiterer Ziele und an >Normen< >orientiertAxiome< bei Lenk 1975:119)

Zielorientierung und Mittelaufwendung >motivationaler EnergieUmweltobjekten< lassen bereits drei der späteren Subsysteme des Handelns, nämlich das >zielerreichendeadaptive< und sozial >integrative< Subsystem erkennen. Die schlüssige Ableitung eines in vier funktionale Subsysteme differenzierten Systemzusammenhangs des >Handelns< wird jedoch nur aus den beiden logisch-analytischen >Achsen< verständlich und nachvollziehbar, welche Parsons aus den bisher getroffenen Definitionen der Handlungskomponenten entwickelt und seiner weiteren Modellkonstruktion zugrunde legt. Er ergänzt die traditionelle Unterscheidung des zweckrationalen Handlungsbegriffs zwischen >Zielen< (>ZweckenMitteln< um das Raster >intern versus extern< bzw. >interne Normen versus externe Bedingungen und bildet aus beiden >Achsen< eine Kreuztabelle, die als Urform des später generalisierten >AGILMittelbezug< bezeichnet er dabei als >instrumentell< und den >Zielbezug< als >konsumatorischexternen< und >internen< Bezügen charakterisiert werden. In diesem Sinne ist der erste Funktionskomplex darauf spezialisiert, die Beziehungen zwischen dem System und seiner externen Situation zu vermitteln. Der zweite Funktionskomplex bezieht sich auf die Erhaltung der Strukturstabilität der Elemente und 17

Dieser Terminus bezieht sich auf die Metaphorik von >motivationalem Energieaufwand< bzw. > Energie w£rawcAengagiertZielerreichungIntegrationAdaptionRessourcen< der Elemente in ihren internen funktionalen Bezügen den Schwerpunkt (>Strukturerhaltung und SpannungsbewältigungProbleme< von Systemstruktur und -prozeß« (Parsons 1958 in Jensen 1976:87) bezeichnet, die nicht nur ein Handlungssystem, sondern jede Systembildung generell ausdifferenziert bzw. >gelöst< haben muß, soll sie nach Parsons als >System< gelten können. Mit ihnen rückt darüber hinaus der logische Nexus zwischen >Handlungstheorie< und >Systemtheorie< in den Blick; das sogenannte >AGILkategorialen< Kohärenz von >Systemtheorie< und >HandlungstheorieHandeln< als auch Subsystembildung sind dabei als Selektionsvorgänge zu begreifen. Jensen (1980) betont dementsprechend die verhaltensstabilisierende Funktion des >HandelnsHandeln< als konstitutiv für die Ausdifferenzierung von Handlungssystemen versteht (und die Handlungstheorie damit zugleich konstitutiv für seine funktionalistische Systemtheorie wird), sind Systembildungs- bzw. Handlungsprozesse als Selektionsprozesse zu interpretieren, durch welche sich die ausdifferenzierten Systeme voneinander abgrenzen und unterscheiden. Die generelle Leistung jedes der vier funktional differenzierten Systeme besteht somit darin, diejenigen spezifischen Handlungsmuster (also Muster der Selektion) dauerhaft und übertragbar >anzubietenLösungen< der Probleme der >AdaptionZielerreichungIntegration< und der >Strukturbildung und -erhaltung< institutionalisieren. Als systemhaft verfestigte Handlungsorientierungen begrenzen sie die Vielfalt möglicher Selektionsakte: subsystemspezifisches Aktorhandeln vermag ohne (partielle) interne Umstrukturierung des jeweiligen Handlungssystems den entsprechenden >Code< nicht zu durchbrechen, der das Repertoire an subsystemtypischen Handlungsmöglichkeiten, Handlungsmotivationen und Handlungssituationen selektiv >reguliertGesellschaft< (>Geld< für das A-Subsystem >WirtschaftMacht< für das G-Subsystem >PolitikEinfluß< für das ISubsystem gesellschaftliche Gemeinschaft; >Wertbindung< für das sozialkulturelle L-Subsystem; vgl. Abschnitt 2.3.) von den Handlungsmedien der vier Handlungssubsysteme (>Intelligenz< für das >Verhaltenssystem< A, >persönliche Handlungskapazität< für das >Persönlichkeitssystem< G, Effektivität für das >Sozialsystem< I und >Definition der Situation< für das kulturelle L-System; vgl. Abschnitt 2.2.). Luhmann führt demgegenüber >GeldMacht< sowie >Liebe< und >Wahrheit< als >KommunikationsmedienKern< beider Medienkonzepte festhalten: (1) die Ausdifferenzierbarkeit medienspezifischer Subsysteme der Gesellschaft; (2) (...) Kompatibilität mit Umweltsystemen (...); (3) Möglichkeiten der Leistungssteigerung in den medienspezifisch regulierten Kommunikationsprozessen; und (4) die Verfügbarkeit und Institutionalisierbarkeit geeigneter Symbolisierungen. (Luhmann 1974:180)

Parsons begreift zwar die Ausdifferenzierung von Medien in erster Linie als Folgeleistung der Ausdifferenzierung von Subsystemen, während für Luhmann die Medien gerade die Voraussetzung für den evolutionären Erfolg von 19

Einführungen in die Interaktions- und Handlungsmedientheorie bieten Jensen/Naumann 1980:80/81, Jensen 1980:164-194, Jensen 1976:52-57, Jensen 1980a:7-55 und ausführlicher Münch 1982:123-167 (Abschnitt 2.6. Die Theorie der generalisierten Medien, v. a. S. 125-128).

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Systembildung bzw. bestimmter Problemlösungen bilden, das im folgenden entwickelte Modell wird jedoch beide Aspekte umfassen. Luhmann deutet darüber hinaus zwei Probleme an, die sich aus der immanenten >Logik< des Medienkonzeptes ergeben und die seit Parsons theoretisch kaum weiterverfolgt worden sind. Sie zu lösen, ist für die praktische Anwendung der Medientheorie unabdingbar: Zum einen das Problem, wie sich verschiedene Medien zu komplexen >sekundären< Medienkonfigurationen verbinden (Medien als >Ressourcen< für die Ausbildung neuer Medien) und wie deren wechselseitige »Konvertibilität« (Luhmann 1974:181/182) vorzustellen ist und zum anderen das Problem eines >Reflexivwerdens< von Medien (ebd.:182). Udo H. A. Schwarz gibt in seiner medientheoretisch geprägten Studie über die historische Ausdifferenzierung eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium >Mode< zu letztgenanntem Problem einige theoretische Hinweise, wenn er als »Abschluß der Ausdifferenzierung« eines Mediums dessen »vollständige Autonomie« nimmt (Schwarz 1982:35). Schwarz präzisiert dies wie folgt: Das Maß der Reflexivität ist (...) ein Maßstab für den Generalisierungsgrad des Kommunikationsmediums - ablesbar an der erfolgreichen Ausdifferenzierung von Normen, Rollen und Institutionen im Bereich des jeweiligen Mediums. (Schwarz 1982:35)

Luhmanns eigene Ausführungen zur Geschichte von >Liebe< als sozialem Kommunikationsmedium (in »Liebe als Passion - Zur Codierung von Intimität« 1982) tragen zur theoretischen Klärung der genannten Fragen leider nichts bei; die postulierte Funktion einer vorwiegend literatursprachlich tradierten Liebes-Semantik als Medium des Selektionstransfers und der Handlungsmotivation bleibt theoretisch folgenlos. Soll das Parsons'sche Medienkonzept jedoch für die Interpretation historisch spezifischer Phänomene (wie z. B. der Mode oder auch bestimmter literarischer Traditionen) empirisch fruchtbar gemacht werden, muß es theoretisch weiterentwickelt werden; Kooperationsmöglichkeiten mit Zeichentheorie, Kommunikationstheorie, Sprachwissenschaft und sozialwissenschaftlicher Inhaltsanalyse bieten sich an. Aus der Perspektive der Medientheorie Parsons' sollen hierzu einige erste Anmerkungen folgen. Schwarz betont im Anschluß an Luhmann, daß die jeweiligen Medien (wie >GeldMacht< usf.) einen generalisierten Selektionscot/e bereitstellen, welcher die Übernahme von SelektionsaA:te» zwar fördert, aber noch nicht garantiert: Das konkrete Kommunikationsmedium ist (...) eine in medienspezifischer Weise codegesteuerte Kommunikation. Sie wird gebildet durch den spezifischen generalisierten Code und den Selektionsprozeß, in dem der Code die Art der kommunikativen Selektion durch den Aufbau spezifischer Erwartungen regelt. (Schwarz 198230)

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Eine fundamentale Verwandtschaft der Medientheorie mit zeichentheoretischen bzw. linguistischen Kategorien wird hieran ebenso deutlich wie der semiotische Charakter der Interaktions- bzw. Handlungsmedien - also ihre Fähigkeit, die individuellen Selektionshandlungen zweier Aktoren oder Subsysteme in eine gemeinsame >SpracheCode< zu übertragen (bzw. diesen gerade erst hervorzubringen), der unabhängig von den internen >Codes< der beteiligten Aktoren oder Subsysteme als emergente Voraussetzung der Interaktion hinzukommt. Eine Selektion (Handlung) von >Ego< hat sich demnach nicht derjenigen von >Alter< unterzuordnen oder anzugleichen, sondern beide werden auf einer dritten, übergreifenden Ebene kommunikabel. Individuelle Befindlichkeiten eines personalen Aktors (oder Zustände eines Systems) sind beispielsweise durch die Alltagssprache >transferierbarGeld< auf einen gemeinsamen Maßstab beziehen, der ihre Vermittlung als divergierende Handlungsorientierungen ermöglicht. Der Logik des Medienmodells liegt dabei eine Denkfigur zugrunde, die Parsons zunächst am ökonomischen Paradigma (d. h. am Beispiel von >GeldSprachesinnhafte< soziale Handlungsakt als selektive Aktualisierung einer institutionalisierten Hintergrundstruktur verstehen, welche auch andere Selektionen ermöglicht und die Verwendung des jeweiligen Mediums >regeltRahmens< entlastet die Aktoren von permanentem Selektionsaufwand und einer jeweils erneut anfallenden Aktualisierung des gesamten >CodesTheorie des literarischen Handelns< zu erblicken ist und schließlich, daß es (...) nicht die rein ökonomischen Eigenschaften des Geldes (waren), die Parsons zur Theorie der generalisierten Medien des sozialen Handelns führten, sondern (...) vielmehr die innere Logik der auf die Analyse von Interpenetrationsbeziehungen ausgerichteten Theorie des Handelns. (Münch 1982:143)

Eine systemtheoretische Re-Interpretation des Parsons'schen Systemmodells wird v. a. auf dessen medientheoretischen Grundlagen aufbauen müssen und sich nicht durch Parsons' eigene, systemtheoretisch inzwischen obsolete Kybernetik-Metaphorik behindern lassen, die zudem ihre z. T. ökonomische und >tauschtheoretische< Herkunft nicht verleugnen kann (»Austauschbeziehungen«, »Input«, »Output«, »Steuerung« usf.). Das Konzept wechselseitiger »Austauschbeziehungen« zwischen Subsystemen ist um so mehr zu revidieren, als Parsons später diese Beziehungen als >mediengesteuerte< Interpenetrationsrelationen definiert, also als komplexe >Durchdringung< und >Uberlagerung< von subsystemspezifischen Selektionscodes (bzw. Handlungsmustern). Derartige Subsystembeziehungen sind jedoch nicht mehr mit den Begriffen jener Kybernetik formulierbar, die Parsons' Metaphorik impliziert und die sich weitgehend in einer Systemtheorie der >negativen Rückkoppelung< und des stabilisierten, homöostatischen Gleichgewichts erschöpft. Angesichts von Parsons' medientheoretisch konzipiertem Systembegriff genügt es nicht, für Subsystembeziehungen lediglich Prozesse der Ausregelung von Störungen und der Erhaltung von Gleichgewicht anzunehmen. Es handelt sich im Gegenteil um weit komplexere System-Umwelt-Beziehungen, die sich zudem je nach Subsystemtyp unterscheiden und als Symbolisations- und 21

Erst dann wäre auch eine Theorie der Literatur als sozialem Medium des Handelns denkbar; in der von den >Musterbildungen< dieses Mediums mitgeprägten Aktorsituation des literarischen bzw. literaturbezogenen Handelns >interpenetrieren< die Selektionsangebote von Texten (semantische Codes) mit vielfältigen pragmatischen und z. T. sozial institutionalisierten Handlungsmustern.

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Zeichenprozesse, als Prozesse der Kommunikation und Interaktion, d. h. als Prozesse des Selektionstransfers zu beschreiben sind. Einer >Handlungssteuerung< durch die Interpenetration von Mediencodes kann somit die Kybernetik reziproker »Austauschbeziehungen« nicht mehr gerecht werden. Soll das Medienkonzept als wesentliche Leistung der Parsons'schen Theoriebildung erhalten bleiben, so bedarf es hierzu einer Systemtheorie, welche gerade Kommunikations- und Symbolisationsprozesse, die handlungssteuernde Funktion kulturell-semiotischer (>diskursiverKonfliktdimensionUltrastabilitätultrastabiler< Systeme zu umweltoffenen, >multistabilen< MehrEbenen-Systemen, Selbststeuerung, >zielsuchende< Systeme) (ebd.) erweisen. Nur im Rahmen einer »Kybernetik III« kann es der Systemtheorie gelingen, soziale Systeme angemessen zu beschreiben bzw. zu rekonstruieren, ohne in unfruchtbaren kybernetischen Reduktionismus zu verfallen und nur in ihrem Rahmen schließlich scheint das Parsons'sche Medienkonzept systemtheoretisch reformulierbar. Insofern sich die vorliegende Modellbildung dezidiert an Parsons' Systemund Medienbegriff orientiert (nicht jedoch an der von ihm unterstellten »Kybernetik I«), versteht sie sich zugleich als eine erste und bescheidene Exposition eines Desiderats sozialwissenschaftlicher und interdisziplinärer Theoriebildung, das von ihr selbst allerdings vorerst noch in keiner Weise überwunden und ausgeräumt werden kann, welches aber den theoretischen Hintergrund einer struktural-funktionalen Konzeption des Sozialsystems >Literatur< bildet. Der theoretische Anspruch einer derartigen Konzeption wird voraussichtlich nur von einer komplexen und >integrativen s o z i a l e S y s t e m < (I) 2 3 akzentuiert die >Verbundenheit< der Aktoren im sozialen Handeln: »Mit der Betrachtung der Sozialsysteme haben wir (...) den gesamten Handlungszusammenhang vor uns, allerdings unter einer funktional spezifischen Perspektive: der Perspektive der Integration.« (Jensen 1980a:30). Über die kollektive Orientierung an gemeinsamen Wertestandards, die zu gruppenbezogenen Normen spezifiziert sein können, sowie über die personale Internalisierung oder zumindest Übernahme von Rollenmustern24 sichert dieses Handlungssubsystem somit die soziale Integration der einzelnen, aus den situativ vorgegebenen Handlungsalternativen selegierten Handlungen. Als >Medium< dieser impliziten oder expliziten >Solidarität< der individuellen oder kollektiven Aktoren erweist sich deren affektive Verbundenheit (Münch 1982:89): Maximale Integration ist abhängig von hoher positiver affektiver Verbundenheit der Handlungselemente, der Akteure, untereinander. (...). Im sozialen Handeln muß sich Solidarität auf (...) affektuelle Verbundenheit, unabhängig von Situation und Nutzenerwartung, stützen.

Um effektive Bindung< als Medium des Transfers sozialer Orientierungsmuster auffassen zu können, genügt es jedoch nicht, auf die Interpenetrationsbeziehungen zwischen dem Persönlichkeits- und dem Sozialsystem hinzuweisen, wie es mit den Begriffen der >GruppeRolle< und der >Internalisierung< geschieht; hinzu kommt darüber hinaus ein >AustauschKultursystemBewahrung latenter Strukturen (Münch 1982:83) - also das > k u l t u r e l l e S y s t e m < (L) - kann mit Münch (1982:88) folgendermaßen charakterisiert werden: Eine latente Struktur oder eine Tiefenstruktur ist ein dem alltäglichen Handeln zugrundliegendes Wert- und Normensystem, aus dem die unterschiedlichsten Handlungsakte generiert werden können. So ist die Grammatik die latente Struktur der Sprache, auf deren Basis die unterschiedlichsten Sprechakte ausgeführt werden können. (Hervorhebung C.-M. O.)

Als symbolischer Bezugsrahmen< (Münch 1982:88) des Handelns umfaßt dieses Subsystem jedoch nicht nur die kulturell relativ stabilen Basisstruk23

Das Sozialsystem >Gesellschaft< bildet für Parsons lediglich die makroskopische Variante eines sozialen Systems. Auch eine Bürokratie oder ein Industriebetrieb ist nach Parsons als Sozialsystem aufzufassen. 24 Parsons favorisiert einen integrativen Rollenbegriff; hier sind zweifellos rollentheoretische Revision und Ergänzung nötig (vgl. Dreitzel 1980).

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turen sprachlicher, d. h. semantisch-logischer Realitätsklassifikation, sondern auch die motivationalen Selektionsmuster latenter und überindividueller >Einstellungsmentalitätsgeschichtliche< Ansätze, aber auch eine >strukturalistische Geschichte des Denkens< entwickelt haben, welche sich als >immanente< Analyse symbolischer Tiefenstrukturen (aber ohne wissenssoziologische Zurechnung auf deren historische Träger) versteht.25 Die spezifische Funktion des >kulturellen Systems< ist dabei in der »Fähigkeit zur Bewahrung der Grundstruktur« des jeweiligen Handlungssystems »in Verbindung mit der Fähigkeit der Anpassung an veränderte Bedingungen« im Rahmen dieser abstrakten Tiefenstruktur zu erblicken (Münch 1982:83). So bilden beispielsweise abstrakte Wertstrukturen den gemeinsamen Rahmen verschiedener, sozial ausdifferenzierter und möglicherweise sogar konfligierender gesellschaftlicher Werte und Normen (I-Subsystem), die mit dieser Eigenschaft den Bestand des Systems nicht nur nicht bedrohen, sondern vielmehr bewahren. Das damit korrespondierende Handlungsmedium, das den Selektionstransfer entsprechender Grundmuster ermöglicht, bezeichnet Parsons als >Definilion der Situation. Wiederum vermag die Interpretation dieses Mediums im Zusammenhang mit den >kognitiven Lernprozessen< des Persönlichkeitssystems, wie sie Münch (1982:146) vornimmt, das Verständnis erleichtern: Jeder Lernprozeß setzt (...) die Durchdringung des Lernvorganges durch einen gemeinsamen kategorialen Bezugsrahmen voraus, wenn er generalisierbar und kommunizierbar sein soll. (...) dies (ist) die Funktion des im kulturellen System, also außerhalb der Persönlichkeit verankerten Wissens. Das Eindringen des kulturellen Wissens in verschiedene Persönlichkeitssysteme erfordert jedoch einen Übertragungsmechanismus, durch den von konkretem Wissen abstrahiert werden kann und dennoch die Identität dieses Wissens bewahrt bleibt, d. h. das Wissen nicht vollkommen >personalisiert< wird. Dies ist nur bei genügender Generalisierung des Wissens über konkrete Situationen hinweg möglich, wodurch sich generalisierte Definitionen der Situation als Medien herausbilden, durch welche eine übergreifende gemeinsame Perspektive bei jeder konkreten Wissensbildung sichergestellt wird. Das Wissen kann dadurch für die verschiedensten Probleme spezifiziert werden, ohne eine gemeinsame Identität zu verlieren. (Hervorhebungen C.-M. O.)

Münch (ebd. 144) schlägt außerdem zu Recht vor, das spezifische Medium des L·Subsystems mit dem Ausdruck »Sinnhaftigkeit des Handelns in einem kulturellen Bezugsrahmen« zu bezeichnen, um das wesentliche Kriterium der >wertrationalen< Generalisierbarkeit von Situationsdefinitionen als Voraussetzung sinnhaften Handelns hervorzuheben. Festzuhalten bleibt vorerst, daß der Rahmen, den die Modellbildung von Parsons hiermit absteckt, rollentheoretische, bezugsgruppentheoretische, institutionalisierungstheoretische sowie norm- und werttheoretische Konkretisationen gestattet, die von seiner Interpretation durch Parsons selbst abwei25

so etwa die Arbeiten von Foucault (vgl. theoretisch Foucault 1969).

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eben bzw. anderen >Schulen< soziologischer Theorie verpflichtet sind (wie etwa sozialpsychologischen, phänomenologischen oder symbolisch interaktionistischen< Ansätzen). Darüber hinaus kann in der angedeuteten interdisziplinären Offenheit des Parsons'schen Konzepts der Handlungssubsysteme eine wesentliche Voraussetzung seiner einzelwissenschaftlichen Spezifizierbarkeit - in unserem Fall für die Aktorsituation des >literarischen< bzw. >literaturbezogenen Handeln< (siehe 3.3.) - erblickt werden. Zwischen den vier Handlungssubsystemen setzt Parsons insgesamt sechs verschiedene, >mediengesteuerte< Austausch- bzw. Interpenetrationsbeziehungen an, deren Komplexität hier terminologisch nicht im einzelnen nachzuvollziehen ist, sondern auf vier (bzw. zwei in der schematischen Darstellung Figur 2) Subsystembeziehungen reduziert wird. Figur 2 basiert auf der Darstellung in Parsons/Platt (1973:435-440, v. a. Figur A.5, 435 und Figur A.7, 439) und den Übersetzungen der Parsons'schen Begriffe durch Münch (1982: 149-155, v. a. Diagramm 12, 150). Im >System der Handlungsorganisatiom, das über die wechselseitigen Beziehungen zwischen dem >Verhaltenssystem< (A) und dem >Persönlichkeitssystem< (G) die >Handlungsausführung< organisiert, leistet das Medium des >Verhaltenssystems< - die >Intelligenz< - für das >Persönlichkeitssystem< die Kontrolle der kognitiven Kapazität, d. h. sie mobilisiert kognitive Fähigkeiten (A), die dann »im Persönlichkeitssystem (G) in zielgerichtetes Handeln umgesetzt werden« (Münch 1982:153). Außerdem ist die >Kompetenz< des Individuums - ein Ergebnis >intelligenten Lernens< - als adaptives Potential (A) anzusehen, das »durch persönliche Handlungskapazität erst in zielgerichtetes Handeln« (G) überführt werden muß. Das Medium der persönlichen Handlungskapazität< (G) stellt dagegen umgekehrt für das >Verhaltenssystem< (A) >Lernchancen für effektives Handelm bereit und verteilt entsprechend den persönlichen Dispositionen darüber hinaus Kompetenzen auf unterschiedliche Ziele (in sachlicher wie zeitlicher Hinsicht), die dann mittels >Intelligenz< realisiert werden können ^intelligente Allokation von Kompetenz unter verschiedenen ZielenMotivationale Integrationssystem< welches die Interpenetrationsbeziehungen zwischen dem >Persönlichkeitssystem< (G) und dem >sozialen System< (I) herstellt, >steuert< das Medium des Persönlichkeitssystems, also die >persönliche Handlungskapazitätx, die ^gefühlsmäßigen Einstellungen zu sozialen Objektem (I), d. h. zu anderen Individuen, zu Gruppen sowie zu Normen und Werten; um diese affektiven Einstellungen zu bilden und zu erhalten, muß das Individuum jeweils seine persönliche Handlungskapazität aufwenden (ebd.). Dagegen läßt sich die jeweilige >Reaktion< oder >Antwort< »der sozialen Interaktionspartner auf Einstellungen und Handlungen des Individuums« (ebd.) als Funktion des sozialen Handlungsmediums effektive Bindung< verstehen: »Ohne diese affektiv fundierte Antwort der anderen kann das Individuum kein Vertrauen und damit kein kompetentes Handeln entwickeln.« (ebd.). - Weiterhin geht vom >Persönlichkeitssystem< (G) die

Konzept eines struktural-funktionalen Ao

Vertialtenssystem: selektive Mobilisierung von kognitiven/ emotiven Ressourcen für Aktorhandeln

Theoriemodells

... bildet je spezifische kognitive/emotive Handlungsfähigkeiten aus

119 Go Persönlichkeitssystem: persönliches Handeln von Aktoren..

... ermöglicht Überprüfung und Umstrukturierung des persönlichen Ressourcenbestandes (.Lernen')

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Kulturelles System: kulturell stabilisierte Definitionen von Handlungssituationen (Handlungsmuster)...

... konkretisieren sich zu sozialen Wert- und Normstandards

... werden generalisiert zu kulturellen Handlungsmustern

soziales System: affektuelte Bindungen an die kollektiven Handlungserwartungen im jeweiligen sozialen System...

Figur2: Die vier Handlungssubsysteme und ihre Interpenetrationsbeziehungen (Systemebene S0). Vgl. für SLit Figur 9 auf S. 155.

> Identifikation des Individuums mit anderen als vorgreifende Basis der Solidarität < (ebd.) (I) aus; die Fähigkeit zur Identifikation wird im sozialen Handeln durch effektive Bindungem mobilisiert (Münch 1982:154). In der Gegenrichtung fließt in das >Persönlichkeitssystem< aus dem >sozialen System< die >Anerkennung von Handlungsausführungen des Individuums durch seine soziale Umwelt< ein (ebd.). Die Sicherheit des individuellen Handelns durch Anerkennung wird vom Individuum somit in der »Mobilisierung persönlicher Handlungskapazität >konsumiertAffektive Bindungen< (I) stellen

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die Solidarität gemeinsamer Identifikation in einer institutionellen Ordnung< (L) her«: »Dem kulturellen Muster wird aus dem sozialen Kontext heraus ein normativer Bezugsrahmen gesetzt, der wiederum im kulturellen Kontext generalisiert werden kann.« (ebd.). Generalisierte >Definitionen der Situation< steuern dagegen vom >kulturellen System< (L) aus die Bildung handlungsrelevanter moralischer Standards für die soziale Ordnung (I), während die sozialen Tatsachen des >sozialen Systems< (I) ihrerseits >die soziale Umwelt definieren< (ebd.), d. h. zu kulturell generalisierten Situationsdefinitionen (L) führen. Aus kulturell-normativen Definitionen der Situation (L) gehen schließlich umgekehrt >Gerechtigskeitsgefühle< hervor, die in sozialen Handlungssituationen als affektive Entscheidungshilfen fungieren (I). Der >kognitive Komplex< konstituiert sich aus dem >Verhaltenssystem< (A) und dem kulturellen System< (L). Für das >Verhaltenssystem< (A) stellt das >kulturelle System< (L) mit seinem spezifischen Medium der generalisierten Situationsdefinition< »kognitive Standards der Gültigkeit und Signifikanz« (Münch 1982:149) zur Verfügung: »Ohne solche in kulturellen Mustern verankerten Standards ist intelligente Wissensbildung im Verhaltenssystems unmöglich.« (Münch 1982:151). Ebenso regt das >kulturelle System (L) im >Verhaltenssystem< (A) intelligenzgesteuerte ^Nachfrage nach unterschiedlichen Wissenskategorien< an. »Welches Wissen gefragt wird, ist eine Sache der Einbettung des Intelligenzgebrauchs in die Kultur« (ebd.). Für das >kulturelle System< wiederum ermöglicht das >Verhaltenssystem< über das Medium >Intelligenz< die Beurteilung der Relevanz kognitiver Standards^ bei der Wissensbildung und leistet außerdem die Produktion von >WissenVerhaltenssystem< (A) und dem >sozialen System< (I) ist das >System der Belohnungsallokation< anzusiedeln, das die effektive Fundierung kognitiven Lernens< (Münch 1982:154) ermöglicht. Das >Verhaltenssystem< (A) liefert mittels seines Mediums >Intelligenz< nationale Gründe für die Allokation effektiver Bindungen< (I) (ebd.) insofern ein Individuum nicht nur askriptiv an Gruppen gebunden ist, sondern seine »Mitgliedschaften in Vereinigungen frei und nach rationalen Gründen wählen (kann).« (ebd.). Auch das > Verlangen nach affektiver Reziprozität geht vom >Verhaltenssystem< (A) aus: »Gemeint ist hier, daß aus dem Verhaltensrepertoire des Individuums die verschiedensten Verhaltensweisen mobilisiert werden, die dann durch affektuelle Unterstützung in der sozialen Umwelt in regelmäßiges Handeln umgesetzt werden.« (»affektiv bestimmter, sozialer >Konsum< des Verhaltensrepertoires«) (ebd.). Das >soziale System< (I) dagegen induziert dem >Verhaltenssystem< (A) die jeweiligen effektiven Bedeutungen von kognitiv definierten HandlungsalternativenRangordnung von Ansprüchen der Identifikation für das

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>Verhaltenssystem< (A): »Mit welchen Individuen, Gruppen, Ideen und dgl. sich ein Individuum indentifiziert und welche Rangfolge es dabei bildet, ist ein Produkt affektueller Bindungen im sozialen Handeln.« (Münch 1982:154/155). Durch >Intelligenz< (A) gesteuerte kognitive Lernprozesse aktualisieren diese Identifikationen. Das >System der expressiven Standards* entwickelt sich in der Interpenetrationszone des >Persönlichkeitssystems< (G) und des >kulturellen Systems< (L). Von der jeweiligen >persönlichen Handlungskapazität< (G) hängt dabei die Herausbildung der ^Muster eines persönlichen Stils* des Handelns ab, welche im >kulturellen System< (L) verankert werden. »Persönliche Verhaltensstile werden (...) im kulturellen Kontext in kulturell generell definierte Verhaltensstile umgesetzt.« (Münch 1982:151). Die ^Herausbildung von Identität^ wie sie das >Persönlichkeitssystem< (G) leistet, hat insofern Konsequenzen für das >kulturelle System< (L), als »die persönliche Identität eine kulturelle Definition und Generalisierung« (Münch 1982:151/152) durch ihre >Einbettung< in den kulturellen Bezugsrahmen generalisierter Situationsdefinitionen erfährt. - Das >Persönlichkeitssystem< verarbeitet seinerseits jene kulturell definierten ^expressiven Standards*, die über die Situationsdefinitionen des >kulturellen Systems< transferiert werden, zu persönlichen Verhaltensstilen. Des weiteren >konsumiert< (d. h. aktualisiert) das persönliche Handeln (G) über das Medium der jeweiligen >Handlungskapazität< den kulturell verankerten und generalisierten >Sinn< von Verhaltensstilen in Gestalt von »>sinnvollen< persönlichen Verhaltensstilen« (Münch 1982:152). (^kulturelle Bedeutung von Verhaltensstilenkulturellem System< (L), >sozialem System< (I) und >Persönlichkeitssystem< (G), d. h. von >kultureller Tiefenstruktur< bzw. symbolischem Code< (L) zu >Werten< und >Normen< (I) sowie deren Relation zum >persönlichen Handeln< (G) als quasi kybernetische Steuerungshierarchie (L-I-G): >L< >steuert< die Bildung von sozialen Werten und von gruppenbezogenen Normen insofern, als dieses Subsystem für die je spezifischen und divergierenden Normen und Werte einen kulturellen, selbst bereits selektiven >Hintergrundscode< darstellt, den die jeweils institutionalisierten Werte und Normen wiederum nur partiell und selektiv aktualisieren. Die Selektion bestimmter Ziele des Handelns im >Persönlichkeitssystem< (G) kann sich sodann nur mehr an den bereits eingeschränkten Wahlmöglichkeiten des sozial normativen Rahmens bzw. Wertehorizonts orientieren.26 Die >Steuerungshierarchie< nach Parsons impliziert somit einen 26

Das L-Subsystem betrifft dabei die grundlegenden Selektionsmuster und Standards der Realitätsklassifikationen einer Kultur, z. B. die Sprachstrukturen. Es wird in seiner Stabilität von sozialem Wandel in der Regel nicht tangiert. Innerhalb des

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Friederike Meyer / Claus-Michael Ort

Prozeß der zunehmenden Spezifikation d. h. der zunehmend eingeschränkten Wahlmöglichkeiten, der sich als Bedingung sozialen Handelns und zugleich als logische Grundkategorie einer systematischen Handlungstheorie erweist. 2.3.

Die vier Subsysteme des Sozialsystems >GesellschaftSystem< gleichermaßen erfüllen muß, bezeichnet Parsons zugleich die funktional spezifizierten Subsysteme, in die sich jedes System zur >Lösung< der genannten vier >Systemprobleme< intern ausdifferenziert. Dies gilt auch für >soziale Systeme< als Subsysteme des Handelns (in I-Funktion auf der Ebene S0): im folgenden sollen demnach die internen A-, G-, I- bzw. I^Subsysteme des Sozialsystems >Gesellschaft< erläutert werden. Unter >Gesellschaft< versteht Parsons ein soziales Makrosystem, welches selbst kein Subsystem eines Sozialsystems darstellt, sondern als hierarchisch übergeordnetes, umfassendes Sozialsystem aufzufassen ist (Parsons 1968 in Jensen 1976:281): Alle Sozialsysteme sind Interaktionssysteme. Den besten Bezugspunkt für die Ziele allgemeiner Theorie unter den vielen Arten von Sozialsystemen dürfte allerdings die Gesellschaft bieten. (...). Für unsere Zwecke definiere ich Gesellschaft als die Klasse von Sozialsystemen, die - auf den jeweiligen Stufen evolutionärer Entwicklung und Kontrolle über die Bedingungen der Umwelt - den höchsten Grad an Autarkie besitzt. (Hervorhebungen C.-M. O.)

Je nach der Untersuchungsperspektive können auch einzelne Subsysteme der >Gesellschaft< als handlungsorientierende Sozialsysteme, d. h. als jeweils integrative Handlungssubsysteme gelten. Unter der handlungsrelevanten Integrationsfunktion auf der Systemebene S0 subsumiert Parsons sowohl das übergeordnete Sozialsystem >Gesellschaft< als auch soziale Subsysteme wie z. B. einen Industriebetrieb oder eine kirchliche Organisation. Dementsprechend unterscheidet das vorliegende Untersuchungsmodell zwischen einer gesamtgesellschaftlichen, makrosoziologischen Systemebene S, und einer hierarchisch untergeordneten (intermediären) Ebene sozialer Subsysteme von >Gesellschaft< (Systemebene S2), auf welcher u. a. auch das Sozialsystem >Literatun anzusiedeln ist. Zunächst sei jedoch die interne Differenzierung des übergeordneten Sozialsystems >Gesellschaft< mit seinen spezifischen Interaktionsmedien skizziert (vgl. wieder summarisch und einführend Parsons 1961, Parsons 1966, Parsons 1968 - jeweils deutsch in Jensen 1976 - sowie Jensen 19765-67, Jensen 1980a und Münch 1982:123-143).

>sozialen Systems< sind Werte dem L· und Normen dem I-Subsystem zuzuordnen, also der sozial institutionalisierten Kultur und der sozialen Gemeinschaft^

Konzept eines strukturell-funktionalen Theoriemodells

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Das adaptive gesellschaftliche Subsystem ( w i r t s c h a f t l i c h - t e c h n i sches System: A) dient der Bildung und Mobilisierung ökonomischer und technischer Ressourcen, d. h. es stellt Mittel zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele zur Verfügung und organisiert deren Produktion. »Auf der Makroebene des Sozialsystems« bildet die Funktion »der Adaption den Fokus ökonomischer Organisation« (Parsons 1961 in Jensen 1976:175/176), welche dann zur Institutionalisierung von Märkten und von Geld als Interaktionsmedium führt (Parsons 1961 in Jensen 1976:176): Die wichtigsten Mittel gewähren Kontrolle über physische Objekte sowie Zugang zu menschlichen Leistungen und Kulturelementen. Damit ihre Kontrollmechanismen einen hinreichenden Grad an Generalisierung erreichen können, müssen diese Ressourcen mindestens teilweise >übertragbarVorteil< und garantiert auf diese Weise die soziale Übertragbarkeit aber auch Selektion von ökonomischem >Nutzen< (vgl. Parsons 1963 in Jensen 1980a:139-143 und Jensen 1980a:35-36): Das ubiquitäre Medium des Nutzentransfers ist >GeldEgos< nach Art eines >Geschäftsabschlusses< für >A1ter< als vorteilhaft - monetär >nützlich< - ausweisen. Die relative Selbständigkeit des »instrumentell-ökonomischen Subsystems« (Münch 1982:114) kann schließlich mit Münch (1982) wie folgt charakterisiert werden (115): In modernen Gesellschaften wird das instrumentell-ökonomische Subsystem durch den Wert der ökonomischen Rationalität, die Normen der Marktordnung, die Rollen von Produzenten, Konsumenten, Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Verkäufern, Käufern usw. und durch die Kollektive der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände getragen.

Münch (1982) bestimmt weiterhin das zielerreichende Subsystem des Sozialsystems >Gesellschaft< - das > P o l i t i s c h e S y s t e m < (G) - so, daß als dessen Aufgabe die »Selektion, Gliederung und Verfolgung kollektiver Ziele« (Parsons 1966 in Jensen 1976:149) deutlich hervortritt (Münch 1982:114): Je heterogener die Zielsetzungen sind und je mehr die verschiedenen Individuen und Kollektive über Macht verfügen, um so mehr erfordert die gesellschaftliche Entscheidungsfindung und -durchsetzung die Monopolisierung legitimer Gewalt durch das Gesellschaftskollektiv und die Übertragung von Entscheidungskompetenzen auf bestimmte Entscheidungsgremien und Entscheidungsträger. Dadurch bildet sich ein politisches Subsystem heraus, das zwischen dem Gesellschaftskollektiv und

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Friederike Meyer / Claus-Michael On

den besonderen individuellen und kollektiven Zielsetzungen vermittelt. (Hervorhebungen C.-M. O.)

Der Gebrauch des Begriffes >polity< bei Parsons (anstelle von >policyPolitikpolitische< Subsystem von >Politik< im alltäglichen Verständnis unterscheidet, definiert es sich doch v. a. als »Prozeß des Ausgleichs von Interessen in Kollektiven« (Jensen 1980: 135). Jensen (1980) führt hierzu weiter aus (135): >Polity< (...) bezieht sich auf den Prozeß des Ausgleichs von Interessen (...)- angefangen auf der >primären< Ebene von persönlichen Interaktionsprozessen, etwa in der Familie und allen anderen Kleingruppen, über die >Verwaltungsebene< in formalen Organisationen mit ihrer explizit definierten Entscheidungshierarchie (Autorität), weiter über die >Institutionen-EbeneBedürfnisse< des Persönlichkeitssystems in andere Begriffe übersetzt und sozialsystemisch thematisiert werden. Sie nehmen hier den Ausdruck von >Interessen< an, der sich auf den unterschiedlichen Ebenen in je anderer Fassung artikuliert: (...).

Soll diese Vielfalt kollektiver Interessen und >Ziele< die innere Integration des Systems nicht gefährden, so bedarf es einer Ordnung der Ziele »in einer Folge relativer Dringlichkeit (...), wobei diese Folge hinreichend flexibel sein muß, um Variationen der Situation begegnen zu können.« (Parsons 1961 in Jensen 1976:174). Eine derartige, übertragbare und durchsetzbare Hierarchisierung und Selektion kollektiv relevanter Ziele leistet das Interaktionsmedium der >Machtsocietal communitydas Volk< oder im klassischen Griechenland als Polis oder in der modernen Welt als Nation. Das gesellschaftliche Gemeinwesen ist die Kollektivstruktur in der die Mitglieder vereinigt oder (...) assoziiert sind. Seine wichtigsten Merkmale sind Art und Grad der Solidarität (...), die die Beziehungen zwischen seinen Mitgliedern charakterisiert. (Hervorhebungen C.-M. O.)

Konzept eines struktural-funktionalen Theoriemodells

125

Demnach weist sich eine Gesellschaft als >organisiertes Gemeinwesen< v. a. dann aus, wenn sie »einen hinreichenden Grad an Integration oder Solidarität sowie einen klar abgegrenzten Status der Mitgliedschaft (aufweist).« (Parsons 1966 in Jensen 1976:138). Für eine »Universalisierung affektueller Verbundenheit und ihre Abstützung in Riten und Symbolen«, wie Münch (1982) das »gesellschaftliche Gemeinschaftssystem« kennzeichnet (114), erweisen sich abgegrenzte Statuspositionen als notwendig, da nur sie das Funktionieren des spezifischen Interaktionsmediums >Einßuß< sicherstellen. Gerade dessen Orientierung an Solidarität und sozialem Konsens ermöglicht es, daß »fremde Selektionen« (bzw. Handlungsvorschläge) »auf der Basis differenzierter sozialer Positionen (Status) (...) mit Hilfe eines Mediums, das am besten als >Einfluß< bezeichnet wird« (Münch 1982:128) übernommen werden können: »Einfluß hat, wer als Spezialist einen Informationsvorsprung für sich beanspruchen und auf dieser Basis anderen seine eigene Meinung als Selektionsleistung zumuten kann.« (Jensen 1980a:38; vgl. generell zum Medium >Einfluß< Parsons 1963 in Jensen 1980a:150 bis 160). »Einfluß als symbolisches Medium der Überredung« oder besser: der »Meinungsbildung« (Parsons 1963 in Jensen 1980a:150) beruht somit auf einer Inanspruchnahme von Informationsvorsprüngen, die zumeist mit anderen sozialen Interaktionsmedien gekoppelt sind. So vermag Geld die Herausbildung gesellschaftlichen Einflusses ebenso zu steuern, wie umgekehrt Einfluß auch Geldströme lenken und mobilisieren kann (vgl. Jensen 1980a:40). Als Beispiel für die Kombination der Medien >Einfluß< und >Macht< im Rahmen des integrativen Subsystems einer Gesellschaft kann das Rechtssystem mit seinen Gesetzesnormen, institutionalisierten Gerichten und den Berufsrollen des Juristen gelten. Die enge Verbindung z. B. des Bereichs der >Justiz< zum zielselegierenden Subsystem (G) ermöglicht es dem gesellschaftlichen >Einfluß< des Systems von Rechten und Pflichten (I), einen begrenzten und gezielten Einsatz von >Macht< zur Bewahrung und Durchsetzung der Rechtnormen herbeizuführen. Die Funktion der Bildung und Erhaltung kultureller und motivationaler Strukturmuster wird im Bereich der Gesellschaft vom Subsystem der sozial i n s t i t u t i o n a l i s i e r t e n n o r m a t i v e n K u l t u r (L)27 wahrgenommen. Parsons versteht darunter ein System von sozial je verschieden konkretisierbaren, d. h. institutionalisierbaren und persönlich internalisierbaren Werten, das die Varietät möglicher Handlungen und möglicher Institutionen nicht beschneidet und auf dem >motivationalen Engagement der Handelnden ihrer Bindung an Werte - basiert; gerade darin ist nach Parsons der Grund für seine Stabilität zu erblicken. Parsons schreibt hierzu (Parsons 1961 in Jensen 1976:173): 27

Münch 1982 spricht vom »sozial-kulturellen Subsystem« (114) im Unterschied zum kulturellen Handlungssubsystem auf der Systemebene S0. Die adäquate Übersetzung des Parsons'schen Begriffs fiduciary subsystem< wäre kulturelles Treuhandsystemkulturelle Tiefenstrukturen^ sofern sie sich sozial in den Ausdrucksstandards von Kunst, Religion oder Wissenschaft objektivieren. Münch (1982) nennt dementsprechend als Voraussetzungen der Entstehung eines >sozial-kulturellen Subsystems< (114) »diskursive Prozesse«, die das gesellschaftliche Handeln in einen »sinnhaften Bezugsrahmen einbetten«. Als Handlungsorientierungen sozial institutionalisierbar und internalisierbar - d. h. als kulturelle Basis-Selektionen generell übertragbar - werden sozialkulturelle Wertmuster mit Hilfe des Mediums der >Wertbindungen< (>commitmentsNutzens< (wie im Fall von >GeldMachtEinflußWertbindungen< als generalisierte Verpflichtungen, normativ verbindliche Selektionen zu übernehmen, wird durch von vornherein akzeptierte, latente kulturelle Muster garantiert. Jensen (1980a) verdeutlicht die spezifische Funktionsweise der >Wertbindungen< vor dem Hintergrund der generellen Aufgabe der Medien, Handlungsvorschläge selektiv zu übertragen (Jensen 1980a:47): Warum (können) Selektionen kraft >innerer Gültigkeit übertragen werden (?) Betrachtet man die vier Systematisierungsformen, die die Antworten auf die Frage ordnen: >Warum soll ein anderer meine Selektionen übernehmen?Wertbindungletzte Gründe< für die mit ihrem Bestand verbundenen Selektionen zu finden, (...).

Mit Parsons (1961, in Jensen 1976:179) sei abschließend nochmals betont, daß auch das soziale L-Subsystem immer den Gesamtzusammenhang sozialen Handelns - allerdings aus kultureller Perspektive - erfaßt; zugleich wird sichtbar, wie sehr auch die interne Differenzierung des Sozialsystems >Ge-

Konzept eines struktural-funktionalen Theoriemodells

127

sellschafK dem handlungstheoretischen Kern der Parsons'schen Modellbildung verhaftet bleibt: selbst ein (. ..) elementares Zweiersystem sozialer Interaktion (besitzt) fast sämtliche Strukturmerkmale eines Sozialsystems. Das wesentlichste Merkmal ist Gegenseitigkeit der Orientierung, die durch gemeinsame Muster normativer Kultur definiert ist. Solche normativen Muster sind Werte; der normativ gesteuerte Verhaltenskomplex eines Teilnehmers ist eine Rolle; und das durch die Interaktion der beiden Teilnehmer gebildete System - soweit dieses eine gemeinsame normative Kultur aufweist (...)- stellt ein Kollektiv dar. (Hervorhebungen C.-M. O.)

Wie für die vier Handlungssubsysteme (Systemebene S0) setzt Parsons auch für die internen Subsysteme des Sozialsystems >Gesellschaft< insgesamt sechs Austauschbeziehungen an, die wenigstens in Umrissen erläutert werden sollen. Die nachfolgende Figur 3 kann dabei lediglich einen groben Überblick über die mediengesteuerte Interpenetration der vier gesellschaftlichen Subsysteme geben. Sie faßt die entsprechenden Darstellungen bei Parsons/Platt (1973:426-434, v. a. Figur A.I., 426 und Figur A.3., 432) vereinfachend zusammen und orientiert sich wiederum an den jeweiligen Übersetzungsversuchen von Jensen (1980:134), Jensen (1980a:116 und 119) und v. a. Münch (1982:123-143, insbesondere die Diagramme 9, 129 und 10, 131). Eine Interpenetration des ökonomisch-technischen Systems< (Ressourcenmobilisierung: A) und des politischen Systems< (kollektive Zielsetzung: G) bildet die Voraussetzung, daß ökonomisch-technische Ressourcen für kollektive Ziele mobilisiert werden können. Mit Münch (1982) lassen sich die Beziehungen zwischen den beiden gesellschaftlichen Subsystemen folgendermaßen charakterisieren (128): Die Verwendung von Geld erleichtert die Mobilisierung ökonomischer Ressourcen für kollektive und individuelle Zwecksetzungen. Die langfristige Sicherung ökonomischer Ressourcen bedarf jedoch einer über Einzelinteressen hinausgehenden kollektiven Verantwortung, die unabhängig ist von partikularen Machtgruppen und sich auf legitimierte und generalisierte politische Macht stützt.

Das politische Subsystem< (G) ermöglicht also die Kontrolle wirtschaftlicher Produktivität und steuert deren Einsatz für kollektive Zielsetzungen (Münch 1982:140: »Die Durchführung politischer Programme ist ohne (...) ökonomische Grundlagen unmöglich.«). Dienstleistungen für das Gesellschaftskollektiv gehorchen ebenfalls den Bedingungen des ökonomischen Systems (ebd.): Dienstleistungen des Personals des öffentlichen Dienstes oder Dienstleistungen privater Betriebe im öffentlichen Auftrag werden durch ökonomische Motivation und nach ökonomischen Kriterien bereitgestellt, ihre Verwendung innerhalb des politischen Systems wird jedoch durch politische Macht gesteuert.

Umgekehrt prägt die politische Gesetzgebung (G) die Rahmenbedingungen effektiven ökonomischen Handelns (A; Chance zu Effektivität). Darüber hinaus »ist die Allokation beweglicher Kapitalressourcen ein politisches Pro-

128 ökonomisch-technisches System... (Mobilisierung von ökon.-techn. Ressourcen) Interaktionsmedium .Geld'

Friederike Meyer / Claus-Michael Ort ,.. stellt ökonomisch-technische Ressourcen für kollektive Ziele bereit

G1 Politisches System

(Konkurrenz u. Ausgleich kollektiver Interessen) organisiert d. Einsatz ökonom.-techn. Ressourcen für ' kollektive Ziele u. schafft Rahmenbedingungen Interaktionsmedium für Ökonom.-technisches Handeln .Macht'

• 2. 5;

D

I

« (

•o Q.

l sozial-kulturelles System ... (Bildung, Erhaltung u. soziale Institutionalisierung kultureller u. motivationater Strukturen) Interaktionsmedium .Wertbindung'

. erleichtert die Mitgliedschaft in Vereinigungen und legitimiert deren Loyalitätsansprüche

, ermöglicht und rechtfertigt die soziale Bindung an gemeinsame Werte

l, gesellschaftliche Gemeinschaft ... (Solidarität u. effektive Verbundenheit der Gesellschaftsmitglieder)

Interaktionsmedium .Einfluß'

Figur 3: Die vier Subsysteme des Sozialsystems .Gesellschaft' und ihre Interpenetrationsbeziehungen (Systemebene S t ) Vgl. für SLit Figur 8 auf S. 144 und Figur 7 auf S. 141.

dukt, das durch die Geldpolitik der politisch verantwortlichen Zentralbanken und auch der Regierungen und Parlamente bestimmt wird.« (ebd.). Das Beziehungssystem der politischen Verantwortlichkeit und Unterstützung, welches sich durch das politische System< (G) und das Subsystem der gesellschaftlichen Gemeinschaft (I) konstituiert, kann nach Münch (1982:128-130) so zusammengefaßt werden: Die verbindliche Geltung kollektiver Entscheidungen erfordert die Verankerung der Artikulation von Interessen in einer umgreifenden Gemeinschaft durch den Erwerb von Einfluß in dieser Gemeinschaft. Die Umsetzung der innerhalb dieser Gemein-

Konzept eines struktural-funktionalen Theoriemodells

129

schaft als legitim definierten Interessen in kollektive Entscheidungen muß wiederum in politischen Entscheidungsverfahren durch legitimierte politische Macht abgestützt werden. (Hervorhebungen C.-M. O.)

Die politischen Entscheidungen von Machtinhabern werden sich demnach nur durch die damit erbrachten Leistungen für die soziale Gemeinschaft legitimieren können, d. h. die Wahrnehmung politischer Führungsverantwortlichkeit durch die Träger von Macht wird sich an den normativ verankerten Bedürfnissen des Gemeinwesens (I) orientieren müssen und ist dessen >Einfluß< ausgesetzt: »Je mehr (...) politische Unterstützung nach Kriterien der Leistungen politischer Repräsentanten für die Gemeinschaft vergeben wird, um so mehr ist der Erwerb politischer Macht (...) durch die Gemeinschaftsordnung bestimmt!« (Münch 1982:141). Gesellschaftlich einflußreiche Interessenartikulation (I), die wiederum die Basis der gesellschaftlichen Unterstützung politischer Entscheidungen bildet, stößt umgekehrt auf die durch das Medium >Macht< transferierten politischen Zielvorgaben, welche die Durchsetzung dieser gesellschaftlichen Interessen kanalisieren. Im Austausch zwischen dem >sozial-kulturellen System< (L) und der gesellschaftlichen Gemeinschaft^ (I) vollzieht sich die gesellschaftliche Institutionalisierung kultureller Wertmuster mittels der Bindung an gemeinsame Werte: »Durch den Gebrauch von (Wertbindungen) wird die Normorientierung im Gemeinschaftshandeln in einen generellen Bezugsrahmen gestellt.« (ebd. 128). Das Gemeinschaftssystem (I) ermöglicht dabei die Bindung an gemeinsame Werte (L) insofern, als »die Verpflichtung auf gemeinsame Werte letztlich nicht auf rationaler Argumentation beruhen kann, sondern nur aus der gemeinsamen affektuellen Bindung der Gemeinschaftsmitglieder an Werte entsteht.« (ebd. 139). Weiterhin steuert das Medium des gesellschaftlichen Einflusses (I) die »Verteilung von Loyalitäten auf Sinndeutungen, Normen, Expressionen und Kognitionen, (...)« (ebd.); eine soziale Rechtfertigung für die Loyalität gegenüber kulturellen Wertestandards ist also nicht innerhalb des sozial-kulturellen Systems möglich, sondern setzt eine soziale Verankerung und Konkretisation dieser Bindungen in einer sozialen Gemeinschaft voraus. Der kulturelle Diskurs des L-Subsystems erleichtert umgekehrt für das ISubsystem die Bindung an wertgeschätzte Vereinigungen wie politische Parteien oder Vereine, da die Mitgliedschaft in ihnen auf kulturellen Wertentscheidungen beruht. Auf ähnliche Weise legitimiert das sozial-kulturelle System auch die Loyalitätsansprüche gesellschaftlicher Vereinigungen bzw. Verbände. Die Interpenetration des ökonomisch-technischen Systems< (A) mit dem >sozial-kulturellen System< (L) betrifft die »kulturelle Definition von ökonomischer Produktion und Konsumtion« (Münch 1982:128): »(Wertbindungen) definieren den kulturellen Bezugsrahmen ökonomischen Handelns. Die Verwendung von Geld erweitert den Spielraum kulturellen Handelns, da es die Orientierung an kulturellen Standards von askriptiven Bindungen befreit.«

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(ebd.)·28 Im wesentlichen läßt sich die Interpenetration dieser beiden Systeme als Beziehung wirtschaftlicher Unternehmen (A) zu den konsumierenden Haushalten (L) verstehen, da Haushalte »als Bereitsteller von Arbeitskräften« (ebd. 132) und von Konsumenten (Warennachfrage) zwar eine Verbindung mit dem ökonomischen System eingehen, zugleich aber als Orte der Sozialisation und der Herausbildung eines - an kulturellen Wertvorstellungen orientierten- spezifischen >Lebensstils< »Träger der kulturellen Ordnung« (ebd.) sind. Bildet das Lohneinkommen (Medium >GeldLebensstils< (ebd. 134), so lenken die entsprechenden Wertbindungen an kulturelle und motivationale Muster (L) wiederum die Warennachfrage (A) (Münch 1982:133): »Im (...) Austausch von Arbeitskräftebereitstellung und Lohneinkommen bedeutet die Interpenetration von sozial-kulturellem System und wirtschaftlichem System, daß die Qualifikation der Arbeitskräfte - z. B. in ihren Wertorientierungen, kognitiv-technischen Fähigkeiten und in ihrer Arbeitsdisziplin - durch die Sozialisation in der Familie und in anderen Feldern, mit primär kultureller Verantwortlichkeit bestimmt wird und dadurch ein kulturell geprägtes Datum für ein wirtschaftliches Unternehmen darstellt.«

Die Verpflichtung der Unternehmen zur Güterproduktion ist »jedoch keine unmittelbare Folge der kulturellen Konsumstandards, diese werden vielmehr gebrochen durch die Orientierung des Unternehmens an ökonomischer Rationalität, zu der es durch die Marktkonkurrenz gezwungen wird.« (ebd. 134). Münch (1982) definiert die Entstehung einer Marktordnung und einer > Marktgemeinschaft< in der Interpenetrationszone des ökonomisch-technischen Systems< (A) und des gesellschaftlichen Gemeinwesens< (I) wie folgt (130): Die Verpflichtung des ökonomischen Handelns auf eine ökonomische Ordnung ergibt sich aus dem Erwerb von Einfluß in einer Gemeinschaft (...). Die Verwendung von Geld erweitert den Spielraum des Handelns innerhalb der Gemeinschaftsgrenzen.

Während also das -Subsystem ökonomisch motivierte und gesellschaftlich durchzusetzende Ansprüche auf Ressourcen erhebt und darüber hinaus ökonomische Gründe für die Rechtfertigung von Ansprüchen >liefert< - »das ökonomische Kriterium der Knappheit ist der Bezugsrahmen, auf dem die Rechtfertigung von Ansprüchen im Gemeinschaftshandeln aufbaut« (ebd. 142) bildet das I-Subsystem über das Medium als gesellschaftlichen Einflusses die normativen Standards der Verteilung (Allokalion) wirtschaftlich-technischer Ressourcen. Außerdem erstellt das Gemeinschaftssystem (I) für das ökonomische System (A) eine Rangordnung seiner Ansprüche, welche normativgemeinschaftlich verankert und legitimiert werden müssen (Budgetierung). 28

>Askriptive Bindung< meint eine von vornherein bestehende, keiner bewußten Begründung zugängliche, sondern stillschweigend übernommene Bindung.

Konzept eines struktural-funktionalen Theoriemodells

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Die Beziehungen des politischen Systems< (G) und des sozial-kulturellen Systems< (L) können - wieder in der Formulierung durch Münch (1982) folgendermaßen dargestellt werden (128): Durch (Wertbindungen) erfahren kollektive Entscheidungen eine Einbettung in einen symbolischen Bezugsrahmen, eine Generalisierung, während umgekehrt generelle Werte in Verfahren kollektiven Entscheidens durch Anwendung legitimierter politischer Macht spezifiziert werden.

Das L-Subsystem dient einerseits der Legitimation von Herrschaft (G), da sich »Herrschaft (...) nicht selbst legitimieren (kann). Sie ist stets nur so weit legitimiert, als sie in sozial-kulturellen diskursiven Verfahren rational-argumentativ in bezug auf generelle Werte begründet werden kann.« (ebd. 138). Entsprechende Begründungen durch den Bezugsrahmen kultureller Wertstandards (L) erfahren die Entscheidungsbefugnisse öffentlicher Ämter, deren somit gewonnene Legalität in politischen Handlungsentscheidungen aktualisiert wird (G). In umgekehrter Richtung bezieht sich die operative Verantwortlichkeit politischer Repräsentanten auf die erforderliche »Integration politischer Entscheidungen in den kulturellen Bezugsrahmen« bindender Wertvorstellungen (ebd. 138). Die moralische Verantwortlichkeit (L) der politisch Handelnden für kollektive Interessen (G) umfaßt schließlich v. a. den Bereich »kulturpolitischer Entscheidungen«, die »einen Bezugsrahmen (setzen), innerhalb dessen sozial-kulturelles Handeln in Schulen, Universitäten, Theatern (...) und dgl. abläuft.« (Münch 1982:138).

3.

Komponenten eines struktural-funktionalen Mehrebenenmodells für das Sozialsystem >Literatur< (SLit)

3.1.

Konstruktionsprobleme eines objektbereichspezifischen Systemmodells (Claus-Michael Ort)

Im folgenden sind einige wesentliche Probleme und Desiderate eines strukturalen und funktionalen Modells für das Sozialsystem >Literatur< (SLit) aus sozialwissenschaftlicher wie aus literaturwissenschaftlicher Sicht wenigstens anzudeuten. Dabei wird u. a. die interne Struktur von SLit soziologisch und literaturwissenschaftlich zu präzisieren sein und aufzuzeigen sein, welche theoretischen Desiderate sich aus einer Anwendung der Theorie sozialer Interaktionsmedien und Handlungsmedien auf SLit ergeben. Mit der mikroanalytischen Systemebene S0 (Interpenetration der vier Handlungssubsysteme) und der makroanalytischen Systemebene Sj (Interpenetration der vier gesellschaftlichen Subsysteme) übernimmt das vorliegende Modell seine beiden wesentlichen Abstraktionsebenen von Talcott Parsons. Sie bezeichnen hier einerseits die >Umwelten< von SLit (>Literatur< als gesellschaftliches Subsystem) und dienen andererseits dazu, SLit auch intern zu strukturieren. Sowohl für das Sozialsystem >Gesellschaft< als Umweltsy-

132

Friederike Meyer / Claus-Michael Ort

stem des Sozialsystems >LiteraturLiteratur< selbst bilden somit die makroanalytische Abstraktionsrichtung (St) und die mikroanalytische Abstraktionsrichtung (S0) zwei nicht (vollständig) auf einander reduzierbare, emergente Komplementärperspektiven, welche beide gleichermaßen dazu dienen können, einen Systemzusammenhang analytisch zu entfalten (sozusagen einmal >von oben< und einmal >von untenLiteratur< steht nicht nur in Beziehung zu anderen Sozialsystemen, sondern ist auch intern in seiner sozialen Makrostruktur (Systemebene S2) und seiner aktorbezogenen MikroStruktur (S3) zu rekonstruieren. Bevor jedoch die interne Differenzierung von SLit bzw. ein analytischer Raster für dessen Differenzierung in interne Subsysteme aufgezeigt werden soll, ist die gesellschaftliche Funktion von SLit zu bestimmen, durch welche es sich von anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen (Systemebene S,: A,, G b I,, L,) unterscheidet und sich somit überhaupt erst als relativ abgrenzbares System ausdifferenziert. Mit Luhmann (1981) kann »die Entstehung moderner Literatur als Ausdifferenzierung eines sozialen Subsystems im Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Systemdifferenzierung« beschrieben werden (Plumpe 1985:253). Wie Plumpe (1985:253) weiter ausführt, ist nichtdifferenzierte Literatur (...) von >diffuser< Funktionenintegration gekennzeichnet, etwa der Integration religiöser, wissenschaftlicher, politischer und literarischen Funktionselemente innerhalb eines Diskurses. Ausdifferenzierte Literatur ist demgegenüber gerade durch die Etablierung und Stabilisierung von Systemgrenzen gegen eine Umwelt gekennzeichnet, zu der nun Wissenschaft, Religion, Politik oder Moral als ebenfalls spezialisierte Subsysteme gehören können. Auf sie kann Literatur sich selektiv beziehen, ohne ihre Identität als Literatur zu gefährden.

Die Entscheidung, ob das Sozialsystem >Literatur< im Rahmen des in Abschnitt 2.3. entwickelten Funktionsspektrums nun als integratives (I t ) oder strukturbildendes und -erhaltendes Subsystem (L,) anzusehen ist, ob es also primär integrative oder primär strukturbildende Leistungen für das Sozialsystem >Gesellschaft< erbringt, wird letztlich dezisionistisch bleiben. Wenn nun - Parsons folgend - >Literatur< als L-Subsystem einer Klasse funktional äquivalenter Systeme subsumiert wird, zu der auch die Sozialsysteme >ReligionWissenschaft< und >Kunst< zu zählen sind, so bedeutet dies nicht, >Literatur< ausschließlich auf ihre >latencyRechtWandel als Problemlösung^ >UltrastabilitätReligion Wissenschaft < und >Künste< der gesellschaftlichen L,-Funktion subsumiert und somit als ein Lj-Subsystem bezeichnet wird, so ist zwischen zwei Umweltperspektiven von Systemen prinzipiell zu unterscheiden: zwischen den Beziehungen eines Systems (wie SLit) zu Systemen in gleicher Funktion (in diesem Fall die anderen gesellschaftlichen L,-Systeme) und Beziehungen eines Systems zu Subsystemen in anderen Funktionen (also z. B. die A,-, G,- und ,-Subsysteme). Die funktional verschiedenen Subsystemtypen A, G, I und L erweisen sich folglich auf allen Systemebenen jeweils als Klassen funktional äquivalenter Teilsysteme. Jeder der senkrechten Pfeile in nachstehender Figur 4 repräsentiert eine dieser funktionalen Äquivalenzklassen, die auf allen Systemebenen mit beliebig vielen Teilsystemen >aufgefüllt< werden können (in der Figur ist jeweils nur ein Teilsystem und auch jeweils nur bei L, und L2 eingetragen; an sämtlichen A-, G- und I-Positionen hat man sich jedoch beliebig viele Teilsysteme vorzustellen). L, als Subsystem des Sozialsystems >Gesellschaft< (Systemebene Sj) wird hier also vertreten durch ein System mit wiederum vier internen Subsystemen (z. B. SLit), welche selbst wieder Elemente von Klassen äquivalenter Teilsysteme darstellen. Die L-Funktion in SLit (Systemebene S2: L2) erfüllt demnach ein Handlungssystem mit vier internen Subsystemen (A3G3l3L3) usf. Jedes System auf jeder Systemebene kann also unter zwei komplementären Umweltperspektiven betrachtet werden, nämlich als Subsystem eines funktional differenzierten Systems (SLit z. B. als L,-Subsystem des Sozialsystems >GesellschaftReligionWissenschaft< usf.). Die bei Parsons dominierende >bestandsfunktionalistische< Komponente (Subsystembeziehungen) wird durch das vorliegende Systemmodell also um eine >äquivalenzfunktionalistische< Dimension (Teilsystembeziehungen) erweitert. Daraus ergeben sich für eine Diachronisierung des Modells wichtige und fruchtbare Konsequenzen: Ob ein System primär als >Subsystem< oder primär als >Teilsystem< angesehen wird, erweist sich als historisch variabel; eine >Strukturgeschichte< von SLit wird jedenfalls beide Perspektiven zu verbinden haben (vgl. hierzu Abschnitt 4.). Um die Modellkonstruktion möglichst wenig mit impliziten historischen Vorentscheidungen zu belasten, muß vorerst darauf verzichtet werden, die

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Figur 4

komplexen Beziehungen von SLit zu den anderen LJ -Teilsystemen a priori festzulegen und zu konkretisieren. Möglicherweise tendiert ein beliebiges Ensemble von quasi segmentär differenzierten Teilsystemen seinerseits zu funktional differenzierten Beziehungen, so daß nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen den Teilsystemen einer Funktionsklasse >AGILKunst< beispielsweise, siehe Abschnitt 4.) nicht zu vertreten. Ob das L,Teilsystem >Kunst< also innerhalb der Lj-Klasse primär zielerreichende Funktionen übernimmt (wie es Fararo im Anschluß an Parsons vorschlägt) oder eine andere Funktion erfüllt oder ob sich schließlich die Beziehungen zwischen Teilsystemen überhaupt funktional ausdifferenzieren, läßt sich ohne empirisches Datenmaterial und unabhängig vom jeweiligen historischen Zeitpunkt nicht entscheiden. Nachfolgende Figur 5 soll den Überblick über die Umweltsysteme und die internen Subsysteme von SLit (als Teilsystem der gesellschaftlichen L,-Subsystemfunktion) erleichtern; über die Art seiner Umwelt- und Subsystembeziehungen sagt es jedoch noch nichts aus (siehe hierzu unten die Abschnitte 3.2. und 3.3.). Die durch das Systemmodell umrissene Struktur von SLit verlangt nach soziologischer und literaturwissenschaftlicher Präzisierung und >AuffüllungLiteratursoziologie< bereits begonnen, sich systemtheoretischer, handlungstheoretischer aber auch

Konzept eines struktural-funktionalen Theoriemodells

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>intermediärerLiteratur< erscheinen die intern prinzipiell ebenso komplex differenzierbaren gesellschaftlichen Subsysteme A!, G! und I] als soziale Umweltsysteme, die über bestimmte, auf SLit >bezogene< Teilsysteme mit SLit interpenetrieren: diese Teilsysteme von A,, G t und I, können demnach als SLit-bezogene I n s t i t u t i o n e n bezeichnet werden. Von den ökonomisch-technischen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft (A,) hängt z. B. das ökonomisch-technische Ressourcen- und Distributionssystem von SLit (A2: Buchherstellung, Drucktechnik, Verlagswesen usf.) wesentlich ab. Analoges gilt für das politische System (G,) im Verhältnis zur literaturbezogenen Komponente von >Kulturpolitik< (G2) und das I,System im Verhältnis zu den Institutionen literaturbezogener Sozialisation und Normvermittlung (I2) (Makrosoziologische Referenzebene S,). SLit-intern lassen sich demnach die auf A,, Gj und I, beziehbaren sozialen Subsysteme A2, G2 und I2 (bzw. die jeweiligen Teilsysteme innerhalb dieser Subsystemklassen) als l i t e r a t u r b e z o g e n e I n s t i t u t i o n e n charakterisie-

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Friederike Meyer / Claus-Michael Ort

ren. Hierunter fallen Institutionen der Distribution von Literatur (Verlagswesen, Buchhandel: A2) ebenso wie institutionalisierte staatliche Literaturförderung bzw. >Literaturverhinderung< (Zensur) (G2) und Institutionen literaturbezogener Sozialisation bzw. Literaturvermittlung (z. B. an Schule und Universität: I2) (Intermediäre Referenzebene S2). Der genuin >literarische< Bereich der Rezeption und Produktion literarischer Texte, der Bildung und Erhaltung von gattungs- oder auch genrespezifischen Konventionen, der Bildung und Reproduktion ästhetischer Wertstandards und motivational verankerter Einstellungsmuster gegenüber Literatur wird schließlich durch die internen Handlungsprozesse von L2 - dem System l i t e r a r i s c h e r I n s t i t u t i o n a l i s i e r u n g e n < - gebildet (Mikrosoziologische Referenzebene S3). Die interne Subsystemstruktur von SLit stellt Figur 6 schematisch dar. Die terminologische Unterscheidung von >Institution< und >Institutionalisierung< will nicht darüber hinwegtäuschen, daß der hier vorausgesetzte Institutionenbegriff zwischen >Insitutionalisierung< als Prozeß und >Institution< als relativ fixierbarem Bezugspunkt sozialer Handlungsprozesse nicht prinzipiell unterscheidet: Institutionen konstituieren sich durch Institutionalisierungsprozesse und erhalten sich durch erwartbares Handeln (dies gilt für A2, G2 und I2 von SLit genauso wie für L2). Statische und dynamische Perspektive setzen einander dabei wechselseitig voraus.29 Für die SLit-bezogenen und literaturbezogenen Institutionen soll allerdings deren statische Komponente hervorgehoben werden, da sie v. a. als Bezugsgrößen für L2 relevant werden, während für das 1^-Subsystem, also das System des literarischen Handelns, der prozessuale Aspekt akzentuiert werden soll: mit L2 treten v. a. die Institutionalisierungsprozesse literarischer Handlungsmuster in den Blick, wie sie sich zwischen den Subsystemen des Handelns (Systembene S3) abspielen. Als Ergebnisse bzw. Ausgangspunkte solcher Handlungsprozesse erscheinen einzelne literarische Texte oder Textcorpora dann als >InstitutionalisierungenTheorie des literarischen Handelns< bezeichnen können, die sich im Überschneidungsfeld von funktionalistischer Interaktionsmedientheorie, soziologischer Handlungstheorie, Systemtheorie sowie Zeichen-, Sprach- und Kommunikationstheorie als ein interdisziplinäres Desiderat erweist. Erst eine derartige Theorie, zu welcher es von literaturwissenschaftlicher Seite wenigstens vereinzelt bereits Vorarbeiten gibt (so u. a. von R. Viehoff 1983 mit systemtheoretischem, von H.-U. Mohr 1985 mit rollentheoretischem und von G. Gaiser 1982 mit funktionalistisch-institutionen29

im Sinne von Berger/Luckmann 1966.

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Konzept eines struktural-funktionalen Theoriemodells 5·'CD c Φ N (0

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