146 34 58MB
German Pages 218 [222] Year 1960
ERIKA
ENGELMANN
ZUR STÄDTISCHEN VOLKSBEWEGUNG IN SÜDFRANKREICH Kommunefreiheit und Gesellschaft • Arles 1200—1250
FORSCHUNGEN ZUR MITTELALTERLICHEN
GESCHICHTE
Herausgegeben von H. Sproemberg, H. Kretzschmar und E. Werner
BAND 4
A K A D E M I E - V E R L A G 19 5 9
•
B E R L I N
ERIKA
ENGELMANN
ZUR STÄDTISCHEN VOLKSBEWEGUNG IN SÜDFRANKREICH Kommunefreiheit und Gesellschaft • Arles 1200—1250
Mit 1 Tafel und 3 Karten
A K A D E M I E - V E R L A G 19 5 9
•
B E R L I N
Alle Rechte vorbehalten Copyright 1959 by Akademie - Verlag GmbH, Berlin Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, Berlin W 1, Leipziger Straße 3-4 Lizenz-Nr. 202 • 100/181/59 • Mdl der DDR Nr. 4594 Satz, Druck und Bindung: IVy2/14 • VEB Werkdruck Gräfenhainichen • 1074 Bestellnummer 2090/4 Printed In Germany ES 14 D
INHALT Abkürzungen
VII
Einleitung Die Quellen:
1 1. Beschreibung 2. Verzeichnis
8 13
Das Schrifttum: 1. Nicht speziell die Stadtgeschichte von Arles betreffende Werke 2. Literatur speziell zur Stadtgeschichte von Arles . . . .
15 19
ERSTER TEIL
Wirtschaft und Gesellschaft I. Die Agrikultur
28
1. Die Früchte des Bodens 2. Agrarstruktur und ländliche Sozialverhältnisse I I . Handel und Wucher
28 36 41
1. Die inländischen Waren und die kommerziellen Beziehungen mit den Märkten des Inneren 2. Die äußeren Handelsverbindungen 3. Die Handels- und Finanzmethoden
43 47 53
I I I . Die Stadtgesellschaft
58
1. Das Stadtbild 2. Die Städter
58 66
ZWEITER TEIL
Die I. Emanzipation oder Depression?
Kommunefreiheit 94
1. Die Konsulatsverfassung zu Beginn des 13. Jahrhunderts 95 2. Die soziale Basis der Konsulatsherrschaft zu Beginn des 13. Jahrhunderts 107 3. Das Ringen zwischen kommunalen und antikommunalen Kräften bis 1220 109 V
II. Bedeutung des Podestat für die Kommunebildung
117
1. Sozialer und politischer Inhalt des Podestat 117 2. Höhepunkt der äußeren Erfolge der kommunalen Emanzipation des 13. Jahrhunderts 121 I I I . Die Schwurgemeinschaft
130
1. Die Confratria der baiuli: Verbindung von Häresie und Emanzipation . . 132 2. Die Bildung der arlesischen Confratria im Lichte der provenzalischen Schwurbrüderbewegung 142 3. Der Zerfall der Schwurgemeinschaft 151
DRITTER TEIL
(Schluß) Neue Lösungen
des Konfliktes
zwischen Kommunefreiheit
und
Gesellschaft
I. Verfall der Kommunefreiheit
157
II. Neue Erhebung der Confratria und Sieg Karls von Anjou
161
ANHANG
I. Urkunden
"169
1. Vereinbarungen zwischen Pfandschaftsteilhabern und Konsuln des burgus und der civitas über „salnaria" und andere Rechte. (Arles 1207, März) . . 169 2. Auszüge aus Testamenten einiger Einwohner (Arles 1211—1234)
171
3. Vier Arlesiens erhalten den Auftrag der civitas, einen Podesta auszuwählen (Arles 1221, 6. Februar) 177 4. Vereinbarung zwischen Arles und Ventimille (Arles 1230, 30. Dezember)
. 178
5. Vergleich des Podesta Percevallus de Auria namens der universitas und der seigneurs von Arles über gewisse Rechte der seigneurs. (Arles 1232, 28. März) 180 ,6. Verzicht gewisser Bürger von Arles auf die confratria (Arles 1236, 29. Juni) 185 7. Erzbischof Johann vermittelt zwischen milites und probi homines (Arles 1237, 18. Dezember) 186 8. Friede zwischen milites und probi homines (Arles 1237, 24. Dezember) . . 186 9. Zeugenverhör einiger Geistlicher nach Art der Inquisition über die Ausschreitungen der confratria gewisser Bürger von Arles (Arles 1238, 27. April) 189 10. Schäden, dem Erzbischof durch die Bürger der Stadt zugefügt. (Arles 1250) 191 II. Verzeichnis arlesischer Vollbürger- und Ratsfamilien (1220—1232)
VI
194
ABKÜRZUNGEN AESC Arch. BdR Arch. Comm. Bibl. Mun. BU Enc. Dép. PH RH VSWG Z. f. G. ZRG
Annales Economies-Sociétés-Civilisations, Paris Archives Départementales des Bouches-du-Rhône Archives Communales d'Arles Bibliothèque Municipale d'Arles Beweisurkunden Encyclopédie Départementale des Bouches-du-Rhône Provence Historique, Marseille Revue Historique, Paris Viertel]ahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Stuttgart Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Weimar
EINLEITUNG Gegenstand unserer Untersuchung ist die Stadtgeschichte von Arles 1200—1250. Für eine Erstlingsarbeit mag es gewagt erscheinen, ein so spezielles Thema außerdeutscher Stadtgeschichte auszuwählen. Es mußte nicht nur eine zahlreiche Spezialliteratur durchgearbeitet werden, die heute noch oft schwer zu beschaffen ist, es bedurfte darüber hinaus vor allem des Archivstudiums. Sowohl bei meinem Archivaufenthalt als auch bei Literaturfragen haben mir französische Wissenschaftler, insbesondere die Herren Professoren Latouche und Duby stets ihre großzügige Hilfsbereitschaft dargeboten. Es ist mir ein tiefes Bedürfnis, ihnen ebenso wie den französischen Archivaren und Bibliothekaren, die mich in großem Maße bei der Bereitstellung des Urkundenmaterials und der Spezialliteratur unterstützt haben, an dieser Stelle aufrichtig zu danken. Die Wahl unseres Themas ergibt sich aus der gegenwärtigen Situation in der Erforschung der mittelalterlichen Stadtfreiheit. Der Literaturnachweis ist von bürgerlichen Arbeiten beherrscht. Darunter befinden sich neben den wertvollen, aufschlußreichen Werken der französischen progressiven Schule auch solche, vor allem westdeutsche, auf die in vollem Umfang zutrifft, was L E O S T E R N über die philosophische Grundhaltung der bürgerlichen Historiker geschrieben h a t : „Die Freiheit — Traum und Sehnsucht der unterdrückten und ausgebeuteten Menschen aller Zeiten, seitdem es Klassen, Klassenprivilegien und Klassenherrschaft gibt, ein Panier, das alle Volksbewegungen und Revolutionen zu allen Zeiten hoch vorangetragen haben, wird in der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolutionen von ausgesprochenen Feinden der Freiheit pervertiert, verfälscht, ihres Inhalts beraubt, zu einer abstrakten Kategorie erhoben, wobei sie in erster und letzter Instanz für eine soziale Elite, aber keineswegs für die Volksmassen gedacht i s t . " 1 Die von den Interessen der Klassenunterdrückung befreite marxistische Wissenschaft erkennt in dem Begriff Freiheit dagegen eine zutiefst menschliche, historische Kategorie, deren Formen sich beständig verändern, wie die Beziehungen der Menschen zu den Kräften der Natur und untereinander. Gleichzeitig verändert sich in den verschiedenen sozial-ökonomischen Formationen der „historisch-konkrete Inhalt und das Ziel" des Kampfes um die Freiheit. 2 E s galt daher, die Entwicklung der mittelalterlichen Stadtfreiheit immer nach ihrem tatsächlichen historischen Gehalt zu untersuchen, vor allem die enge Beziehung zwischen Kommunefreiheit und Gesellschaft aufzudecken. 1
STERN, L., Die bürgerliche Soziologie und das Problem der Freiheit. „Z. f. G.", 4, S . 679 (1957).
3
Ebenda, S. 689F; ENGELS, FB., Anti-Dühring. Dietz Verlag, Berlin 1956, S. 138F.
1
Der Eintritt in das Arbeitsgebiet südfranzösischer Stadtgeschichte ergab sich dabei nicht zufällig, wie es vielleicht erscheinen möchte. Nach der Veröffentlichung der problemreichen Untersuchung von EDITH ENTTEN3, die sehr stark das Bedürfnis der modernen deutschen Stadtgeschichtsforschung nach vergleichender Stadtgeschichte zum Ausdruck bringt 4 , aber nur wirklich tief, so tief als es der westdeutschen bürgerlichen Forschung möglich ist, den Rhein-Maas-Raum zu erfassen vermag 5 , von dem sie j a auch ausgeht, schien der Zeitpunkt gekommen, der, um künftige komplexe Betrachtung der mittelalterlichen S t a d t als eines Hauptzentrums gesellschaftlichen Zusammenlebens, deutscherseits auf sichere Füße zu stellen, eine stärkere Beschäftigung mit südwesteuropäischer Stadtgeschichte dringend anrät. 6 " Eine ernsthafte Begegnung mit diesen ältesten Verbreitungsgebieten der Stadtkultur, die als Vermittler eines „irrationalen", „übergesellschaftlichen" „Urphänomens" S t a d t gern von der bürgerlichen Wissenschaft angezogen werden 6 , ohne daß eine ernsthaft begründete, konkrete Vorstellung von dem Wesen der südwesteuropäischen Kommune besteht, da teils noch Einzeluntersuchungen ausstehen und andererseits die Forschungsergebnisse der italienischen und südfranzösischen Stadtforschung und ihre neuen Fragestellungen nur ungenügend ausgewertet werden, läßt sich nicht mehr aufschieben. Diese Notwendigkeit für die marxistische Stadtgeschichtsforschung verstärkt sich, da die bürgerliche deutsche Forschung 7 , besonders auch über den südENNEN, E., Frühgeschichte der europäischen Stadt. Bonn 1953. ENNEN, E., Die europäische Stadt des Mittelalters als Forschungsaufgabe unserer Zeit u. Zur niederrheinischen Stadtgeschichte, „Rheinische Viertel]ahrbll." 12 (1942) u. 1 (1941). 4 1925 schon hat Luise von Winterfeld in einer Besprechung über KOEBNER, R., Die Anfänge des Gemeinwesens der Stadt Köln. Zur Entstehung und ältesten Geschichte des deutschen Städtewesens, Bonn 1922, dieses Anliegen ausgesprochen: „Noch stärker als er müssen wir die alten deutschen Städte mit den übrigen Munizipalitäten und Schwurgemeinschaften vergleichen, um Klarheit über die Anfänge des Kölner und des deutschen Gemeinwesens zu erlangen." Vgl. „VSWG.", 8 (1915) S. 25. 5 Vgl. DOLLINGER, PH., über Edith Ennens Frühgeschichte der europäischen Stadt. Bonn 1953, „ R H " , Bd. 242 (1955); WERNER, E., Besprechung von Cinzio Violante, La Società milanese nell età precomunale. Istituto italiano per gli studi storici in Napoli, Bari 1953, „Z. f. G.", 6 (1956) S. 1321. 6 a Diese Erkenntnis findet auch in den nach Abschluß dieser Arbeit erschienenen „Studien zu den Anfängen des europäischen Städtewesens" ihren Niederschlag, die in einigen Ergebnissen gegenüber Ennen bereits beachtliche Fortschritte erzielen. Das gilt besonders für die Untersuchungen von Ammann, H., mit deren Ergebnissen wir in wesentlichen Punkten übereinstimmen. Vgl. Studien zu den Anfängen des europäischen Städtewesens, Reichenau-Vorträge 1955—1956, in Vorträge und Forschungen, Herausgeg. vom Institut für geschichtliche Landesforschung des Bodenseegebietes in Konstanz, Bd. 4. Konstanz 1958. — Die Verfasserin wird sich in der „Z. f. G." demnächst mit diesem Band eingehender auseinandersetzen. • Vgl. STEINBACH, F., Stadtgemeinde und Landgemeinde. Studien zur Geschichte des Bürgertums. „Rheinische Vierteljahrblätter", 13 (1948). 7 Außer den schon zitierten Arbeiten von ENNBN, E., a. a. 0., vgl. besonders STEIN3
BACH, F . , a. a . 0 .
2
westeuropäischen Raum, die von der namhaften italienischen und französischen Stadtforschung längst begrabene 8 unfruchtbare Kontinuitätstheorie Wiederaufleben läßt 9 a und andererseits der Sonderstellung der nordeuropäischen Entwicklung eine zu starke Betonung zu geben scheint. Diese Überbetonung birgt für die Stadtgeschichte die Gefahr in sich, die auch auf anderen Arbeitsgebieten der Mediävistik, besonders aber, wie das 1955 erschienene Buch von H U G E L M A Î T N 9 handgreiflich beweist, in der Betrachtung des mittelalterlichen Staates in Westdeutschland schon wieder höchst aktuell geworden ist; nämlich die Gefahr eines neuerlichen Emporwachsens nationalistischer germanistischer Theorien, von denen her die deutsche Geschichtswissenschaft bereits einmal auf einen verhängnisvollen Irrweg geleitet wurde. Die Provence als eine jener geographisch und physikalisch bevorzugten südfranzösischen Landschaften, in denen sich günstige Fernhandelslage mit besonderer kommerzieller Eignung der Bodenprodukte paaren, eignet sich durch frühe, starke Entwicklung des Handels und der Stadtwirtschaft besonders gut zum Einsatzpunkt der Untersuchung. Eine Reihe für die politische und Verfassungsgeschichte aufschlußreicher Monographien liegt seit Beginn unseres Jahrhunderts für eine Anzahl provenzalischer Städte vor: für Marseille von B U S Q T T E T 1 0 und B O U R I L L Y 1 1 , für Avignon von L A B A N D E 1 2 , für Tarascon von D E L E B E C Q U E 1 3 , für Grasse von G A U T I E R 1 4 , von L A T O U C H E über Nizza 1 5 . 8
Für Italien besonders V I O L A N T E , C . , La società milanese . . . , a. a. 0 . ; für die französische Forschung vgl. ESPINAS, G., Villes du midi et villes du nord. „Mélanges d'Histoire", 6 (1944) ESPINAS, G., Les origines du patriciat urbain. Henri Pirenne s'est-il trompé? „AESC", (1946). 93 Über die rückwärtsgewandten geschichtsphilosophischen und politischen Hintergründe dieser starken Betonung der Kontinuität der geschichtlichen Entwicklung vgl. die demnächst in der ZfG. erscheinenden Bemerkungen der Verfasserin über „Studien zu den Anfängen des europäischen Städtewesens" a. a. 0 . 9 HTJGELMANN, K. G., Stämme, Nation und Nationalstaat im deutschen Mittelalter. S t u t t g a r t 1955. 10 BUSQTTET, R., Histoire de Marseille. Paris 1945; BTTSQUET, R., L'organisation de la justice à Marseille au Moyen-Age. „Provincia, Bd. 2, 1922. 11 BOURILLY, V. L., Essai sur l'histoire politique de la commune de Marseille des origines à la victoire de Charles d'Anjou (1264). Aix- en- Provence 1925 ; BOURILLY, V. L., La crise municipale de 1229-1230 à Marseille. „Provincia", Bd. 1 (1921). 12 L A B A N D E , L . H., Avignon au X I I I siècle. (L'évéque Zoèn Tencarari et les Avignonais), Paris 1908. 13 DELEBECQTTE, C . , Histoire de la ville de Tarascon depuis les origines jusqu' à l'avènement de la reine Jeanne 1343. Thèse ms. des Stadtarchivs von Marseille, Teilabdruck in „Mémoires de l'Institut Historique de Provence", Bd. 7 ( 1 9 3 0 ) ; F R E D E T - D E L E B E C QTTE, C . , Le consulat de Tarascon, les dernières luttes pour l'indépendance 1 2 2 9 — 1 2 5 6 . „ P H " , ( 1 9 5 6 ) Mélanges Busquet fascicule hors série. 14 G A U T I E R , G . , Histoire de Grasse au Moyen-Age depuis les origines du consulat jusqu' à la reunion de la Provence à la couronne 1155—1482. Paris 1935. 16 LATOUCHE, R., Histoire de Nice. Nizza 1951, Bd. 1.
3
Diese unentbehrlichen Forschungen stützen sich auf einen reichen Urkundenbestand, geben eine Fülle von Einzelheiten und leisten Pionierarbeit in der Erforschung interessanter und wesentlicher Zusammenhänge. Ihre Einengung liegt aber häufig in zu geringer Berücksichtigung der Verknüpfung der S t a d t mit der gesamten F e u d a l s t r u k t u r , in Vernachlässigung einer tiefschürfenden Analyse der sozialen und ökonomischen Ursachen für die verfassungsgeschichtlichen Veränderungen, was besonders eine ernste Unterschätzung der kommunalen Bewegung zur Folge hat, im Verzicht auf Systematisierung und vergleichende S t a d t geschichte im weiteren Sinne; ganz im Gegensatz zur stadtgeschichtlichen Forschung im benachbarten Languedoc. — E i n wissenschaftliches Forschungszentrum von hohem Wert gruppiert sich besonders u m die Stadtgeschichte von Toulouse. Die Arbeiten von J . H . MUNDY 16 , PHILIPPE WOLFF 1 7 und ANDRÉ DUPONT18 ragen hauptsächlich heraus. — Dabei ist besonders das B u c h von MUNDY interessant, in dem der Verfasser eine enge Verbindung zwischen der Entwicklung der Bürgerfreiheit und der Entwicklung der politischen K r ä f t e findet. E r gelangt jedoch letzten Endes nicht auf den Grund der Probleme, da er ebenfalls die der politischen Macht zugrunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse und die sozialen Veränderungen nicht tief genug analysiert. — Der Anschluß an dieses stadtgeschichtlich äußerst interessante Material ist noch nicht gefunden, sowohl von der provenzalischen Stadtgeschichte als auch von der Rechtsgeschichte her 1 9 . Da ihre Arbeiten oft zu stark nur von juristischen Formen ausgehen und die ökonomischen und sozialen Veränderungen zu wenig beachten, sind sie nicht immer imstande, die verfassungsgeschichtlichen Entwicklungslinien klar zu erkennen. Nicht selten werden Verfassungsformen gegenübergestellt oder eingeschätzt, ohne daß die ihnen zugrunde liegenden unterschiedlichen historischen Entwicklungsstufen ausreichend Berücksichtigung finden. E s würde den R a h m e n einer Dissertation überschreiten, wollte sich die Verfasserin der A u f g a b e unterziehen, die zudem einen erfahreneren Kenner provenzalischer Stadtgeschichte erwartet, eine allgemeine Untersuchung der provenzalischen S t a d t zu unternehmen, die die genannten Momente weitgehendst berücksichtigt. B e s c h r ä n k u n g des Arbeitsgebietes auf monographische Behandlung einer provenzalischen K o m m u n e , die starke eigene B e d e u t u n g und gleichzeitig genügend Gemeinsamkeiten mit anderen provenzalischen S t ä d t e n besitzt, um einen soliden Baustein für eine solche systematische Darstellung provenzalischer
16 17
18
19
4
MUNDY, I. H., Liberty and politicai power in Toulouse 1050—1230. New York 1954. WOLFF, PH., France du Nord, France du Midi, les luttes sociales dans les villes du Midi français X I I I e - X I V e siècles. „ A E S C " , 2 (1947). Commerce et marchands de Toulouse (vers 1350-1450). Thèse Principale, Paris 1954. DUPONT, A., Les cités de la Narbonnaise première depuis les invasions germaniques jusqu'à l'apparition du consulat. Thèse, Nîmes 1942. Für die letztere seien hier nur die Beiträge von TIMBÀL, P. C., Les villes de consulat dans le Midi de la France; und von BOULET-SAUTEL, M., Les villes du centre de la France angeführt. Recueil de la société Jean Bodin. Bd. 6; La ville, Brüssel 1954.
Stadtgeschichte und für die vergleichende stadtgeschichtliche Betrachtung zu bilden, empfahl sich daher dringend an. Arles, die Rhonemetropole, fand sich besonders geeignet. Einerseits boten die a u s g e z e i c h n e t e n A r b e i t e n v o n F . BENOIT 2 0 , K I E N E R 2 1 u n d STERNFELD 2 2 u n d die
zwar sehr alten, aber durch ihre Ernsthaftigkeit noch heute mit Nutzen verwendbaren Untersuchungen von ANIBERT23 einen soliden Aufbruchspunkt für unsere Studie; andererseits bildet die Abwesenheit einer modernen Monographie für die civitas, die auch ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung genügend berücksichtigt, eine empfindliche Lücke für die provenzalische Stadtgeschichte. Es zeigte sich aber bald auch, daß die Stadtgeschichte von Arles Beziehung hat zu einer Fülle allgemein stadtgeschichtlich und allgemein historisch interessanter Probleme. Als eine einzelne Zelle allerdings nur, aber eine Hauptzelle, bietet sie ein unwahrscheinlich getreues Abbild des aufgewühlten Lebensorganismus' der südlichen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. STERNFELD hat über ihn geschrieben: „Der Süden Frankreichs bietet in der ersten Hälfte des 13. Jh. einen merkwürdigen und fesselnden Anblick dar, ein Bild unruhiger, rastloser Bewegung . . . kaiserliche und päpstliche, französische und englische, tolosanische und aragonische, provenzalische und italienische Interessen und Einflüsse bekämpfen und durchdringen sich auf diesem Gebiet; alle Gegensätze der Zeit, Orthodoxe und Ketzer, Guelfen und Ghibellinen, Adel und Geistlichkeit, Fürsten und Kommunen, treten hier scharf hervor und suchen sich geltend zu machen. So entsteht auf dem blühenden und reichen Boden dieser alten Kulturländer ein Zustand steter Gärung und leidenschaftlichen Streites; . . . Im Kern der Sache aber handelt es sich bald um die Frage: wer wird in den Besitz des Südens gelangen, werden die alten nationalen Herrschaften sich erhalten und zusammenschließen, oder wird das Nordfranzosentum seine Macht über Languedoc bis zum Mittelmeer und zu den Pyrenäen ausdehnen?" 2 4 Aus dieser weitgespannten Problematik läßt sich die Geschichte der civitas nicht herauslösen. Die Entscheidung dieser Lebensfrage bereitet sich an der Basis der provenzalischen Gesellschaft und in bedeutendem Maße in ihren großen Städten, den entscheidenden Kraftreserven dieser Feudalherrschaften, vor. „Caput regni Burgundionum", „République", „Ville sonelle", drei Titel, darunter verborgen drei stolze Ansprüche, darf Arles auf sich beziehen. Für sich allein gestellt vermag jeder einzelne davon in die Irre zu leiten, zusammengenom10
21
22
23
11
Aus der großen Zahl seiner Veröffentlichungen, die in ihrer Mehrzahl der Topographie gewidmet sind, sei hier nur eine genannt: Arles monographie communale. L'évolution, Enc. Dép. Bd. 14. KIENER, F., Verfassungsgeschichte der Provence seit der Ostgotenherrschaft bis zur Errichtung des Konsulats 5 1 0 - 1 2 0 0 . Leipzig 1900. STERNFELD, R . , Karl von Anjou als Graf der Provence 1245—1265. Historische Untersuchungen. Herausgeg. von J . J a s t r o w , H. 10, Berlin 1888. A N I B E R T , M., Mémoires historique et critique sur l'ancienne république d'Arles. Yverdon 1779-1781, 4 Bände, I., II., I I I . T. S T E R N F E L D , R . , a . a . O . , S . 1.
5
men können sie jedoch schlagartig die in der civitas wirkenden politischen Tendenzen beleuchten. Das Maß ihrer Wirksamkeit bestimmen vorwiegend die Faktoren der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Stadt und der provenzalischen Gesellschaft, der sie unlösbar verkettet ist. Diese Momente in ihrer Wirkung auf die Stadtgesellschaft und die Veränderung der Verfassungsformen herauszuarbeiten, hat sich die Verfasserin besonders angelegen sein lassen. Als eine der bedeutenden südfranzösischen Kommunen des Mittelalters, auf die der methodische Fingerzeig des großen bürgerlichen Historikers H E N R I P I R E N N E bezogen werden kann, „C'est seulement dans les localités assez grande" 2 5 que sont nées les institutions municipales." 26 zeigt Arles die Entwicklung der mannigfaltigen Gegensätze, die im Schöße der Stadt aus dem zugrunde liegenden Widerspruch zwischen den ökonomischen Bedingungen der provenzalischen und der arlesischen société und der juristischen Stellung ihrer Bevölkerungsschichten herangereift sind, mit großer Klarheit, was mich zu weiterer Spezialisierung und zur vorliegenden Themenstellung veranlaßt hat. Als Civitas und Nebenschauplatz des Albigenserkreuzzuges offenbart die Stadt dazu mit großer Deutlichkeit das Zusammenwirken von kommunaler Emanzipation und Häresie. Von hier aus kann daher erneut auch Licht in das interessante Problem der soziologischen Interpretation des Katharismus fallen 27 . Die temporale Abgrenzung unseres Themas mag auf den ersten Blick etwas willkürlich erscheinen. Sie verliert ihren zufälligen Anstrich, sobald um die civitas der weitere Rahmen der provenzalischen Stadtgeschichte herumgelegt ist. Es erscheint daher nützlich, eingangs die Abschnitte der kommunalen Emanzipation in der Provenze bis zur Mitte des 13. Jh., dem Zeitpunkt des endgültigen Eintritts Karl von Anjous und des stärker einsetzenden französischen Einflusses, kurz zu skizzieren. Die Herausbildung der Stadtfreiheit in den provenzalischen Seestädten und in den großen Städten um Mündung und Unterlauf der Rhône läßt sich in zwei Hauptphasen erfassen, die als frühkommunale und kommunale Periode bezeichnet werden können. Diese Einteilung bietet den Vorteil, klar das Charakteristische in der Geschichte der provenzalischen Kommunen hervortreten zu lassen. Die frühkommunale Periode allmählicher Übernahme von Selbstverwaltungsfunktionen durch die zur politischen Emanzipation erwachten Bürger 25
2S
27
6
Bewußt läßt das Zitat die folgende Feststellung von Pirenne: ,,. . . Pour attirer de nombreux immigrants . . . " aus, denn sie trifft für Arles nicht zu. PIRENNE, H., Les villes et les institutions urbaines. Paris-Brüssel 1939, Bd. 1; S. 181. In neuester Zeit haben diese Aufgaben sehr glücklich in Angriff genommen: BBTJ, CH. P., Elements pour une interprétation sociologique du Catharisme occitan. Spiritualité de l'hérésie, le catharisme. (Nouvelle Recherche Études et essais publiés sous la direction de Georges Hahn), Paris 1953; MUNDY, J . H., Liberty and political power . . . , a. a. 0., S. 77f.; für die Mailänder Pataria mit großem Erfolg auf marxistischer Grundlage ; WERNER, E., Pauperes Christi. Studien zu sozial-religiösen Bewegungen im Zeitalter des Reformpapsttums. Leipzig 1956.
fällt in Südfrankreich mit der Herausbildung der Konsulatsverfassung zusammen. Noch vermögen die feudalen Stadtherren in diesem häufig lautlosen Ringen trotz zahlreicher Zugeständnisse Kontrolle über die Kommunebewegung zu bewahren. Den ökonomischen Hintergrund für diese erste Phase kommunaler Emanzipation bildet in der Provenze, das ist allgemein anerkannt, die Belebung der Fernhandelsbeziehungen im Gefolge der Kreuzzüge. Sie wird ergänzt durch die Intensivierung des Handels nach Innerfrankreich und entlang der mittelmeerischen Küste, die, stark beeinflußt durch Salzernte und Viehwirtschaft der Seeprovence, der des Fernhandels temporal wahrscheinlich noch vorausgeht. Einen wichtigen Hebel, ohne den diese Handelsrenaissance nicht denkbar wäre, bildet die Verbesserung der Produktivkräfte, die sich besonders im 12. J h . rasch gesteigert h a t ; aber schon bald nach der Vertreibung der, Sarrazenen von Garde Freinet, noch am Ende des 10. und zu Beginn des 11. J h . sichtbar geworden war. Es ist jedoch nicht diese frühe Phase des erwartungsvollen Erblühens, sondern die kurze Zeit der Blüte selbst, mit ihren drängenden Entscheidungen und unsanften Erschütterungen der jungen Kommunen, die uns vollkommen gefesselt hat. In höherem Maße als die vorangegangene, noch durch die jeweiligen Stadtherrschaften weitgehend subjektiv beeinflußte, zeigt diese, die eigentliche kommunale Periode, die bestimmende Kraft des hauptsächlich durch Handel und Wucher mit großen finanziellen Mitteln ausgestatteten Stadtbürgertums. Die Schwäche der großen Feudalmächte und den Vorteil der Rivalität zwischen den mächtigen italienischen Konkurrenten Pisa und Genua klug ausnutzend, strebt es unablässig, alle noch hemmenden Fesseln abzuschütteln. Günstige handelspolitische Verträge, Privilegien aller Art und Erweiterung der städtischen Territorien, möglich durch Erwerb feudaler Rechte, spornen die Einwohner von neuem zur Vervielfachung ihrer Energien an. Die zunehmende Initiative der universitas für die Neugestaltung der Stadtverfassung findet ihren stärksten Ausdruck in dem eindeutigen Vorrang, den die wirtschaftlich und politisch mächtigste Stadt, Marseille, innerhalb der kommunalen Bewegung jetzt eindeutig einnimmt. Der Konflikt beginnt jeweils zu Marseille und schwingt in Intervallen die Rhone hinauf. Gleichzeitig mit der allmählichen Bildung von Keimen einer Bürgerklasse 28 schreitet der Prozeß der politischen Bewußtseinsbildung des Bürgertums ununterbrochen vorwärts. Im Inneren der einzelnen Stadt beschleunigt diese Entwicklung die soziale Differenzierung spürbar. Besonders die ersten Jahrzehnte des 13. Jh. werden erfüllt von feindlichen Parteiungen der milites und probi homines. Sie führen hin auf die zwiespältigen wirtschaftlichen und politischen Interessen innerhalb der städtischen Oberschicht, die durch die neuen wirtschaftlichen Impulse erweckt 28
Auf die Verwandlung der gemeinsamen Bedingungen der Sadtbürger in Klassenbedingungen infolge der nivellierenden Wirkung der sich reicher entfaltenden Beziehungen zwischen den Städten verweisen MARX, K., und ENGELS, FE., Die Deutsche Ideologie. Dietz Verlag, Berlin 1957, S. 52. Dieser Prozeß findet im behandelten Zeitraum keinen Abschluß, im Gegenteil, an der Wende vom 12. zum 13. Jh. liegt erst sein Beginn.
7
wurden. Ein tiefer Gegensatz zwischen der universitas und dem engen Kreis der Nutznießer der Zollrechte ist darein verflochten. In den zwanziger Jahren melden dazu die Handwerker verstärkt ihre Forderungen an, was sich noch verschärfend auf die innerstädtischen Spannungen auswirkt. Temporal und regional findet diese zweite Etappe, deren Abschluß durch den endgültigen Sieg Karl von Anjous gekennzeichnet ist, nicht einfach ihre Incarnation in einer neuen Form der Stadtverfassung, wie die frühkommunale Periode im Konsulat. Die Gestalt der bürgerlichen Selbstverwaltung ist wechselhafter, vielfältiger geworden: der Podesta löst den Konsulat, den Konsulat die Kommune ab. Die Variationen scheinen unbegrenzt. Aber die Tendenz liegt dennoch im Schwurverband. Instrument des revolutionären Weges für die französische, italienische, deutsche oder niederländische Kommune, stellt er den Kristallisations- und Höhepunkt der kommunalen Emanzipationsbewegung in der Provence dar. Seine episodenhafte Erscheinung beweist keineswegs, daß er hier ohne Bedeutung blieb, sie vermag jedoch die Episodenhaftigkeit der wirklich großen Entwicklung dieser Städte sehr klar widerzuspiegeln. Das ist eine Tatsache, die uns veranlaßt hat, dieser Seite der kommunalen Bewegung mehr Beachtung zu schenken, als sie in der Literatur bisher gefunden hat. In diese kurz aufgerissene allgemeine Problematik der südostfranzösischen Stadtentwicklung findet sich die Existenz der civitas Arles eingebettet. Diesen Rahmen, der das Typische und Einmalige der arlesischen Kommune erst richtig hervorzuheben vermag, waren wir bemüht immer zu berücksichtigen. Das gilt natürlich in erster Linie auch für die Benutzung der Quellen und der Literatur.
Die Q u e l l e n 1. Beschreibung Die Provence des ausgehenden 12. und frühen 13. J h . ist nicht nur verschiedensten Wirtschaftseinflüssen, sondern auch mannigfaltigen Kulturströmungen eine Wegekreuzung 29 . So bietet Arles — getreu seiner antiken Tradition, die auch während der Stürme der Sarazeneneinbrüche niemals ganz verschüttet worden war — dem neu erblühenden geistigen Leben eine vorzügliche Heimstatt. Aufgeschlossen empfängt es die kulturellen Anregungen, die sich in dem Tempo vermehren, in dem Wirtschaftsbeziehungen neu entstehen und bereits vorhandene sich festigen, pflegt sie gastfreundlich und gibt sie großzügig weiter. Konnte GEORGES DÜBY mit Recht behaupten, zu Marseille würde der „Charme" der 29
8
„Le Provence était au XII e siècle le pays le plus civilisé, au sens le plus large de l'Europe chrétienne" schreibt Briffault. Vgl. BRIFFAULT, R., Les troubadours et le sentiment romanesque. Paris 1945, S. 113.
Ml«Tl'tt* ^ ,
m iiVtflTdSl ,
fi.nVWi!irS^"v,i»r. ti . mjweti
. ji ttiiÄ-
» i i t i luiAwrtVCra««®'*
tu»
*
-i
fr
• lliTUKM*
«t ü -.
Si^thm- .Xjtrtf-iift' 3 3 1 ' ««WjfVMI H p i i i » «
» t f l c ij; •
N - « m Ä R
i
iKtoaCmMi /Abif .id tv.»nw&w*», n vttHftH*'..
m^rtFVijlClof.i ( • ^ « " • i rtirf.i Mi & • ) « * * AwaovitoHhimnKif.
T x-^Nünt'»*^ \5Pi;»••
a 1 vfi-mmt.lvkfimtUnkf.-:.-i
'w'
^ftI,V.r t*m«£. C\echo - t x v'tf I j i Cin«- «?ic-q
.«»W.u^iV!
1
niiisi^t y"**'"1
^>-.19»«*!"»
/ .
»*r
«db^vn-rtÄWto^hhr
fl^Tfl^äiÄ
\'4rftcamfw^ttiüM i?ti-t opdönil.
fiitHinogr^tdrtir^fiftifit'W »»•IrtSiM««!»»-'^»®»'™' 1 ® .'i'sfpHivtir r^nif
" ¿.Mi"- > j a « 1
n'i fii- .iiCTift j » < n * n < . i - i r t
f*JBtrf*th;rrrrrC ¿ » a i ^ u m t * r » t fVitei+if
des
Co Ci'mett mn«mrV»«aw m o i ^ f w »
ijkwi
«nldp» 3k» rvtftf- #>i«i-r(M»»i
1.
pe^tmimm
M f? iV-fmni$cww