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German Pages [191] Year 2006
Wedig Kolster
Zur Kritik ethischer Urteilbildung Emotionen – Bewertung – Handlungsorientierung
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495997147
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B
Wedig Kolster Zur Kritik ethischer Urteilsbildung
ALBER PHILOSOPHIE
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https://doi.org/10.5771/9783495997147 .
Der Autor über sein Buch: Allgemeine Normen wie z. B. Verantwortung oder Lebensschutz führen heute in vielen ethischen Konflikten zu keiner befriedigenden Lösung, weil sie wie z. B. in den Fällen der Embryonenforschung oder der Sterbehilfe von Befürwortern wie Gegnern in Anspruch genommen werden. Eine Lösung des Konfliktes bietet eine Theorie konstruktivistischer Wissensbildung aus den Reizen der Umwelt, die die Herleitung einer grundlegenden ethischen Orientierung ermöglicht. Sie geht nicht mehr der Frage nach »Was soll ich tun?«, sondern sucht eine Antwort auf die Frage »Soll ich es tun?«. Es ist die Frage nach einer Bewertung dessen, was wir als Umwelt vorfinden, wie z. B. naturwissenschaftliche Machbarkeiten, ob wir sie akzeptieren wollen oder nicht. Eine Erkennbarkeit der Bewertungen erschließen neurowissenschaftliche Ergebnisse, die nicht nur die emotionale Bewertung der Umwelt durch einen Menschen deutlich machen, sondern auch daraus hervorgehende Handlungsorientierungen, die für einen Menschen und dessen in die Zukunft gerichtetes erfolgreiches Handeln unverzichtbar sind. Solchen Handlungsorientierungen muß ein Mensch nicht blindlings folgen, sondern sie bedürfen einer reflexiven Betrachtung hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Umwelt, die anschließend auf den Menschen zurückwirken würden. Die allgemeine Geltung der Theorie ethischer Urteilsbildung läßt sich aus empirischen und epistemischen Aspekten begründen. Ihre Tauglichkeit wird schließlich an den Beispielen des Irakkrieges und einer humanen embryonalen Stammzellforschung überprüft. Der Autor: Dr. Wedig Kolster, geb. 1935, ist Lehrbeauftragter in Politischer Theorie und Ethik an der Universität Freiburg. Er arbeitet auf den Gebieten der Erkenntnistheorie und Ethik.
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Wedig Kolster
Zur Kritik ethischer Urteilsbildung Emotionen – Bewertung – Handlungsorientierung
Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495997147 .
Originalausgabe Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/München 2006 www.verlag-alber.de Einbandgestaltung und Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2006 ISBN-13: 978-3-495-48174-5 ISBN-10: 3-495-48174-5
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Inhalt
A.
B.
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
I. Ethik und Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
II. Inhaltlicher und begrifflicher Überblick . . . . . . . .
12
Kritik ethischer Entwürfe . . . . . . . . . . . . . . .
17
I. Norm und Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
II. Die Erste Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . . .
24
IV. Begründungszusammenhang und Methodisches . . . .
27
Mensch und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
I. Biologische und erkenntnistheoretische Aspekte . . . .
31
II. Informationen über die Umwelt aus der Wahrnehmung
36
III. Informationen über die Umwelt aus den Emotionen . .
44
IV. Wahrnehmung und deren Bewertung durch Emotionen
54
Vom Wissen über die Umwelt . . . . . . . . . . . . .
69
I. Vom Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
. . . . . .
73
III. Wissen der unterschiedlichen Arten in ihrer Beziehung zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
. . .
84
III. Die Bedeutung der Emotionen für eine Ethik
C.
D.
II. Wissen über die Umwelt aus der Reflexion
IV. Individuelle Bewertung und allgemeine Geltung
A
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Inhalt
E.
Handeln aus emotionaler Bewertung . . . . . . . . .
87
I. Bewerten und Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
II. Emotionale Handlungsentscheidung . . . . . . . . . .
91
. . . . . . . . .
95
III. Emotionen und moralisches Handeln
F.
Ethische Urteilsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . 103 I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 II. Ethische Urteilsbildung aus Bewertung der Umwelt . . 113 III. Satz der Grundlegenden Ethischen Orientierung
. . . 114
IV. Empirische Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . 129 V. Epistemische Begründung . . . . . . . . . . . . . . . 135
G.
Tauglichkeit des Satzes grundlegender Ethischer Orientierung für eine Bewertung strittiger Handlungssituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 II. Eine Bewertung der Gewaltanwendung gegen den Irak
145
III. Eine Bewertung humaner embryonaler Stammzellforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
H.
Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Verzeichnis der Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . 187 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
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A. Einfhrung
I.
Ethik und Emotionen
Warum bedürfen wir einer Kritik ethischer Urteilsbildung? Wir sind in eine Umwelt hineingeboren, in der wir ethische Konflikte oft nicht mehr aus allgemein geltenden Normen lösen können. Deutlich werden die Konflikte dort, wo naturwissenschaftliche Machbarkeiten möglich oder denkbar geworden sind, von denen wir nicht mehr wissen, ob wir sie fördern oder ablehnen wollen wie z. B. eine humane embryonale Stammzellforschung. Woran können wir uns orientieren, wie sollen wir uns entscheiden? Die Welt, in der wir leben und in der wir nach Handlungsorientierungen fragen, hat Hondrich so charakterisiert: »Die Weltgesellschaft erschöpft sich nicht in komplexen Systemen, politischen Verfassungen, ökonomischen Interessen, individuellen Rechten. Sie ist auch keine Welt der Werte, die hierzulande von Zeit zu Zeit per Diskussion eingefordert werden. Heraus kommt Schall und Rauch. Der Diskurs verfehlt seinen Gegenstand um so mehr, je fordernder und geschliffener er geführt wird« (Hondrich 2005). Die Welt, damit ist hier die Umwelt des Menschen gemeint. Es ist aber eine einzelne Umweltsituation, in der wir handeln und auf deren Einflüsse sich unser Handeln und Verhalten bezieht. Ob wir Zielsetzungen oder Normen wählen, an denen wir unser Handeln orientieren möchten; ob wir fragen was wir einander antun dürfen und was nicht; was erlaubt sein soll und was nicht; ob wir fragen welche Regeln in der Gemeinschaft, im politischen oder im ökonomischen Bereich gelten sollen, es sind Einflüsse aus der Umwelt, die uns bestimmen, und es sind Auswirkungen unseres Handelns auf die Umwelt. Selbst ein Handeln in Bezug auf den Handelnden, wie z. B. ein gesundes Leben führen, ist ein Handeln in Bezug auf die Umwelt, weil eine Erste Person ein Wissen von dem eigenen Körper herausbildet. Um aber unsere Urteile über unser Handeln und Verhalten in Bezug auf unsere Umwelt treffen zu können, beA
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Einfhrung
dürfen wir eines Wissens über die Umwelt. Erst dieses Wissen befähigt uns, unser Handeln und Verhalten zu beurteilen. Kriterien der Beurteilung erwachsen aus dem Wissen über die Umwelt. Ist es andersherum denkbar, Kriterien losgelöst von einem Wissen über die Umwelt festzulegen und eine Beurteilung unseres Handelns in der Umwelt diesen unterzuordnen? Dieses verlangt nicht nur die Kriterien zu rechtfertigen, und zwar so, dass sie allgemein akzeptiert werden, sondern außerdem sie in einem begrifflichen Verständnis festzulegen, damit sie zu unstrittigen Handlungsorientierungen führen können, und zwar in einer konkreten Situation. Wie aber sollen unstrittig Begriffsinhalt und Geltungsanspruch erhoben werden können, wenn sie von vorausgehenden Annahmen abhängig sind? Hinsichtlich einer Norm wie z. B. Gerechtigkeit zeigt sich in John Rawls Theorie vor dem Hintergrund vieler ähnlicher Entwürfe, dass bestimmte ausgewählte Annahmen über ein Menschenbild zu einer entsprechenden Ausformung von Grundsätzen führen; andere Annahmen über den Menschen ergeben andere Ergebnisse wie z. B. in Robert Nozicks Anspruchstheorie deutlich wird. Der Geltungsanspruch von Normen und ihre Interpretationen – ob als ein höchstes Gebot oder als ziel- oder folgenorientierte Forderung – bleiben strittig, weil sie nicht an ein Wissen über die Handlungssituation zurückgebunden sind. Norm und Umwelt des Handelnden entstammen getrennten Reichen. Sie können unsere Probleme ethischer Beurteilungen wie z. B. die Frage, ob eine Forschung an menschlichen Embryonen erlaubt sein soll oder nicht, nicht unstrittig beantworten. Ein anderer Weg zu einer verbindlichen Handlungsorientierung könnte darin bestehen, einen Konsens in strittigen ethischen Fragen zwischen den urteilenden Menschen herzustellen. Der Konsens als transzendental pragmatische Basis ist ein formales Prinzip. Ob es wirklich ausreicht, in strittigen Urteilen Einvernehmen herzustellen, bleibt fraglich, wie das Stammzellgesetz zeigt. An einem Konsens orientiert konnte zwar eine politisch mehrheitsfähige Ausformung erreicht werden; die strittigen inhaltlichen Auffassungen über die Bewertung des menschlichen Embryos blieben bestehen. Eine ethische Akzeptanz über Mehrheiten zu regeln bleibt unbefriedigend, weil unüberbrückbare ethische Positionen durch Abstimmungsmehrheiten nicht entschieden werden können. Geht man dagegen von dem Wissen über eine konkrete Situation bzw. über einen einzelnen Gegenstand aus und wählt ein Wissen über den Gegenstand als Basis für ein ethisches Urteil, können Inter8
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Ethik und Emotionen
pretationsprobleme einer Norm und deren Anwendung auf die Beurteilungssituation vermieden werden. Inwiefern aber ein Wissen über die Gegenstände als Basis einer Ethik geeignet ist, wird sich zeigen, wenn geklärt ist, was unter Wissen über die Gegenstände verstanden werden kann. Um für eine Handlungsorientierung das Wissen eines Individuums über seine Umwelt zur Geltung zu bringen, bietet sich eine Erklärung des Wissens aus der Theorie des Konstruktivismus an. In seiner radikalen Ausprägung zeigt er, dass ein Subjekt sein Wissen selbst herstellt; die Annahme eines Wissens als Abbildung einer Außenwelt entfällt, weil der Zugang zu einer Außenwelt immer ein subjektiv hergestelltes Produkt bleibt. Es ist eine Erklärungskonzeption, die sich zwar nicht auf die Neurowissenschaften stützt, die aber deren Ergebnisse einbeziehen kann, um die Herstellungsprozesse des Wissens über einen Gegenstand und dessen Differenzierungen zu zeigen. Zu den Differenzierungen gehört die Unterscheidung zwischen einem Wissen aus der Wahrnehmung, aus den Emotionen und aus der Reflexion. Es sind drei unterschiedliche Zugangsweisen, über den Gegenstand ihm Eigentümliches zu erfahren. Während sich herkömmliche Erklärungsentwürfe des Wissens über die Umwelt auf ein Wissen aus der Reflexion stützten und dieses auf das Objekt beschränkten, verlangt diese Konzeption, das Wissen aus der Wahrnehmung und aus den Emotionen zu berücksichtigen. In der Kommunikation eines Subjektes mit seiner Umwelt entsteht ja nicht nur Wissen über das Objekt, sondern auch ein Wissen über dessen Auswirkungen auf das Subjekt, das sich in dessen Emotionen zeigt. Eine Kritik ethischer Urteilsbildung wird untersuchen müssen, welche Rolle Emotionen spielen und was sie mit Ethik zu tun haben. Sind Emotionen als Grundlage einer Ethik geeignet? Sie sind wiederholt für ethische Entwürfe in Anspruch genommen worden. Schopenhauer hat eine Ethik entworfen, die auf Mitleid gründet; für andere waren es Liebe, Scham, Achtung oder Eifersucht. Die Emotionen als Grundlage einer Ethik werden meist psychologisch erklärt. Gegner solcher Erklärungen lehnten dagegen eine konstituierende Bedeutung der Emotionen für eine Ethik vor allem wegen ihrer Subjektivität ab: wie kann aus subjektiven Gefühlen eine allgemeingültige Moralvorstellungen entstehen, so der Vorwurf Kants. Der subjektive Charakter der Emotionen entsteht aber dadurch, dass die Emotionen nicht in ihrer Verbindung zu einem Wissen von den Gegenständen der Welt gezeigt wurden; ohne eine solche Rückbindung A
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Einfhrung
musste emotionale Wirkung auf Handeln und Verhalten individuell unverbindlich und willkürlich erscheinen. Deshalb hat auch keine dieser Ethiken aus moralischen Gefühlen die Bewertungsprobleme lösen können, die heute aus naturwissenschaftlichen Machbarkeiten entstehen wie z. B.: ob die Forschung an embryonalen Stammzellen erlaubt sein soll. Es ist das Verdienst der Neurowissenschaft, die enge Verbindung von Wahrnehmungen und deren gleichzeitiger Bewertung durch Emotionen nachgewiesen zu haben. Emotionen erfüllen eine unverzichtbare Aufgabe, weil sie Wahrnehmungen nach den Bedürfnissen des Subjektes bewerten und diesem Überleben und Wohlbefinden sichern. Emotionale Bewertungen können unbewusste Reaktionen auslösen wie Flucht vor dem Feind; ein Individuum kann sich seiner emotionalen Bewertung bewusst werden und den Feind als Feind erkennen. Und schließlich kann ein Individuum eine aus der emotionalen Bewertung hervorgehende Reaktion zum Anlass einer Reflexion machen, um eine geeignete Handlungsentscheidung zu überlegen. Die Reflexion führt zu einem Urteil über eine Handlungsorientierung in einer einzelnen Situation. Das Urteil wird nicht abgeleitet aus einer von der Situation unabhängigen Norm, sondern geht aus der Situation selbst hervor. Dadurch, dass die Wahrnehmungen, deren emotionale Bewertung und eine Reflexion dieses Wissens unter den ihnen eigentümlichen Aspekten zusammengehören, verlieren die Emotionen ihre Beliebigkeit früherer Entwürfe. Es ist nicht irgendeine Emotion, sondern es sind emotionale Bewertungen der Wahrnehmungen, die erfolgreiches Handeln ermöglichen. An die Stelle der alten Frage: »Was sollen wir tun?« tritt deshalb die Frage: »Sollen wir es tun?« Sollen wir der unmittelbaren Bewertung der Wahrnehmung folgen und ihr entsprechend handeln oder besser einer konkurrierenden Bewertung folgen? Es ist nicht die Frage nach einer von der Umwelt losgelösten normativen Orientierung, sondern die aus subjektiver Bewertung der Umwelt. Ethik entsteht aus der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt. Wie sich aber eine subjektive Bewertung eines einzelnen Gegenstandes zu einer Ethik erweitern lässt, die für alle anderen Individuen und für alle Wiederholungen der Bewertung des einzelnen Gegenstandes gilt, wird aus empirischer Perspektive der Neurowissenschaft zu untersuchen sein. Ethik in einem Zusammenhang mit empirischer Begründung weckt sofort die alte Sein-Sollen-Problematik. Kann eine empirische Rechtfertigung einer Ethik eine notwendige Geltung beanspruchen? 10
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Ethik und Emotionen
Wie soll man von einem empirischen Befund zu dessen notwendiger Geltung gelangen? Er könnte in der Zukunft zutreffen oder nicht zutreffen. Eine empirische Rechtfertigung einer Ethik kann keine notwendige Geltung beanspruchen, weil sie abhängig von dem Beobachtungsergebnis wahr oder falsch sein kann. Eine empirische Überprüfung kann aber Regelmäßigkeiten der Ergebnisse unter gleichen Bedingungen hervorbringen wie es als Naturgesetz formulierte Aussagen leisten. Sie gelten nicht mit Notwendigkeit, aber sie haben sich bewährt. Ähnliches leisten die Neurowissenschaften für eine Ethik, weil sie zeigen können, welche Leistung emotionalen Bewertungen von Wahrgenommenem als Gesetzmäßigkeiten zukommt. Empirische Ergebnisse einer emotionalen Bewertung wie z. B. die Bewertung von Vor- bzw. Nachteilen unterschiedlicher Handlungsmöglichkeiten erlauben eine sinnvolle Orientierung für die Zukunft. Zeigen dagegen die empirischen Ergebnisse, dass eine Bewertung der Vorund Nachteile nicht möglich ist, weil z. B. Verletzungen vorliegen, fehlt dem Individuum eine lebensnotwendige Urteilsmöglichkeit. Die neurowissenschaftlichen Ergebnisse bilden aber keine hinreichende Bedingung für eine Ethik; sie können eine Ethik nicht erschöpfend beschreiben. Sie können aber notwendige Bedingungen angeben, ohne deren Erfüllung eine Ethik undenkbar wird. Notwendige Bedingung heißt, dass ethische Urteile aus unterschiedlichen Perspektiven wie religiösen, liberalen oder traditionellen gebildet werden können, sie dürfen nur nicht gegen die empirischen Ergebnisse emotionaler Bewertungen verstoßen. Subjektive Bewertungen werden als Grundlage einer Ethik verallgemeinerbar, dadurch dass man die gefundenen empirischen Ergebnisse als notwendige Bedingungen angibt. Selbst normative Orientierungen, ob sie durch ein höchstes Gebot, durch teleologische, konsequentialistische oder pragmatische Überlegungen geprägt sind, bleiben aus dieser Perspektive dann möglich, wenn sie nicht gegen emotionale Bewertungen gerichtet sind. Der normative Grundsatz z. B. »die Rechte des Menschen sind unverletzlich« wird keine Geltung beanspruchen können, wenn er dazu führt, eine Solidaritätsabgabe zugunsten von z. B. Katastrophenopfern zu verweigern. Oder der Grundsatz einer »Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates« findet eine Grenze seiner Geltung beim Anblick geschundener Menschen aus ethnischen Säuberungen; eine emotionale Bewertung ihrer Lage wird Hilfsaktivitäten auslösen. A
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Einfhrung
Eine Kritik ethischer Urteilsbildung ist erforderlich, um eine ethische Orientierung nicht von der Umwelt, ihrer Wahrnehmung und Bewertung zu abstrahieren und auf Normen und Werte zu verkürzen, die gefordert, aber nicht akzeptiert werden. Ein Wertehorizont, wenn er nicht vage bleiben will, bedarf einer konkreten Situation und eines individuellen Erlebnisinhaltes, wie ihn die Wahrnehmungsergebnisse und deren Bewertung aus der Kommunikation mit der Umwelt ermöglichen und dem wir uns nicht entziehen können; im Gegenteil, der Umgang mit ihnen ist lebensnotwendig und unverzichtbar. Es ist eine Ethik, die sich nicht allein auf Begrifflichkeiten stützt, weil diese in ihrer Interpretation strittig, unklar und zu gegensätzlichen Orientierungen führen können. Emotionale Bewertungen gehen einer Begrifflichkeit voraus, sie sind empirisch überprüfbar, sie müssen sich in der einzelnen Bewertungssituation bewähren und bei Strittigkeiten verlangen sie nach Begründungen, die sich ihrerseits bewähren müssen. Der Begründungsanspruch emotionaler Bewertungen erwächst aus der Auseinandersetzung eines Individuums mit seiner Umwelt, in der die Bedürfnisse des Individuums bezogen auf sich selbst, auf den anderen und auf die Gemeinschaft entscheidend sind. Da ein Individuum in einem Einzelfall urteilt, erwächst dem einzelnen eine Verbindlichkeit seines Urteils. Es ist eine Ethik der Selbstbestimmung des Individuums aus der Beziehung zu seiner Umwelt.
II.
Inhaltlicher und begrifflicher berblick
Ein inhaltlicher Überblick über den Entwurf einer Ethik aus Emotionen und eine erste Klärung bestimmter Begriffe werden hier gegeben, um dem Leser von Beginn an ein Verständnis des Begründungszusammenhangs zu erleichtern. Ausführlichere begriffliche Untersuchungen folgen in den späteren Abschnitten. Die Untersuchung beginnt mit einer kritischen Betrachtung von Normen. Sie können ethische Konflikte oft deshalb nicht lösen, weil eine Norm wie z. B. Verantwortung von Befürwortern wie Gegnern einer Handlungsmöglichkeit in Anspruch genommen wird. Eine andere Problematik begrifflicher Normen besteht in ihren oft strittigen Interpretationen. Bezüglich des Begriffs der Menschenwürde gibt es keinen Konsens darüber, zu welchem Zeitpunkt sie einer Leibesfrucht 12
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Inhaltlicher und begrifflicher berblick
zukommt oder nicht. Der Ethikentwurf unterscheidet sich von normativen Ansätzen dadurch, dass er die Wahl einer Handlungsorientierung nicht einer abstrakt übergreifenden Norm unterordnet, die unabhängig von der Umweltsituation Geltung beansprucht, sondern umgekehrt den Handelnden und dessen Umwelteinflüsse in die ethische Urteilsbildung einbezieht. In diesem Buch wird eine Ethik entworfen, die aus der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt hervorgeht. Ihre Begründungsgrundlage sind Emotionen, die durch ihr Auftreten eine Wahrnehmung bewerten, die ein Mensch aus der Umwelt herausbildet. Da in dem Entwurf eine ethische Urteilsbildung aus der Beziehung eines Menschen zu seiner Umwelt hergeleitet und begründet wird, ist es erforderlich zu klären, was mit den Begriffen Umwelt, Situation und Emotionen gemeint ist. Umwelt wird unter einem neurobiologischen Aspekt betrachtet und hat einen weit gespannten Inhalt. Reize der Umwelt sind gekennzeichnet durch die Möglichkeit ihrer neuronalen Verarbeitung zu Wahrnehmungen und Emotionen. Mit dem Begriff Umwelt werden alle Reizquellen erfasst, die zur Herausbildung der Wahrnehmung eines Menschen und zu deren Bewertung führen. Dazu gehören ebenso Reize, aus denen Gegenstände der Natur wie z. B. ein Baum entstehen, wie solche, aus denen kulturelle Gegenstände wie z. B. ein Buchinhalt hervorgehen. Reize erlauben keine Beliebigkeit der Wahrnehmungen in einer Situation. Eine Besonderheit betrifft die Reizquellen der Umwelt, die zu einer Begriffsbildung führen; ein Begriff wie z. B. Freundschaft wird einerseits selbst durch Reizquellen der Umwelt zu einem gelesenen oder gehörten; begrifflich abstrahiert er aber von der Umweltsituation, in der sich zwei Menschen in einer Zuneigung verbunden fühlen. In einer Ethik spielt aber nicht nur die Akzeptanz des allgemeinen Begriffes eine Rolle, sondern auch die einzelne Umweltsituation, aus der er hervorgeht. Eine Ethik aus emotionaler Bewertung beruft sich auf eine einzelne Umweltsituation und nicht auf eine allgemeine Norm. Allerdings lassen sich bestimmte Bewertungen möglichst gleicher Situationen verallgemeinern. Eine Situation beschreibt die Bedingungen eines einzelnen Menschen unter den Einflüssen momentaner Reize seiner Umwelt. Eine Situation benennt aus den andauernden und sich verändernden Bedingungen der Umwelt eine nach Zeit und Ort bestimmte Einflussnahme von Reizen, denen sich der Mensch ausgesetzt sieht oder A
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Einfhrung
die er durch eigenes Handeln herbeiführt. Eine Situation ist gekennzeichnet durch individuelle Verarbeitungsergebnisse der Wahrnehmung der Umwelt und ihrer Bewertung. Emotionen gehen aus Umweltreizen hervor und bewerten Wahrnehmungen. Die Bewertungen äußern sich in Erlebniszuständen, in körperlichen Reaktionen und in Handlungstendenzen. Die Wahrnehmung eines aggressiven Hundes kann zu körperlichem Schaudern führen, einen Angstzustand hervorrufen und die Tendenz der Flucht erzeugen. Emotionen sind ein Bewertungssystem, das ermöglicht, Einflüsse der Umwelt hinsichtlich der eigenen Bedürfnisse zu beurteilen. Andere sprachliche Ausdrücke für solche Zustände wie Gefühle, Affekte, Stimmungen, Gemütsbewegungen oder Empfindungen werden hier unter dem Begriff der Emotionen nicht weiter differenziert, sofern es sich um Bewertungsreaktionen auf Reize der Umwelt handelt, auf die es hier ankommt. Als Voraussetzung einer ethischen Urteilsbildung werden im folgenden Abschnitt die Wirkungen der Umwelt auf Wahrnehmungsergebnisse behandelt, die ein Mensch herausbildet und durch Emotionen bewertet. Die Neurowissenschaften ermöglichen, neuronale Prozesse zu beobachten, die mit der Entstehung von Wahrnehmungen und Emotionen verbunden sind. Die von Reizen ausgelösten neuronalen Prozesse können zwar nicht erklären, wie bestimmte inhaltliche Wahrnehmungen zustande kommen; sie können aber deutlich machen, dass ohne die Reize der Umwelt eine Wahrnehmung und eine mit ihr verbundene Emotion nicht möglich wird. Sie erlauben auch Differenzierungen der Wahrnehmungen und Emotionen in Abhängigkeit von entsprechenden Reizen zu erkennen; dadurch ermöglichen sie, Informationen über die Umwelt herauszubilden. Die Ergebnisse aus den Wahrnehmungen und den Emotionen führen erst zu einem Wissen über die Umwelt, wenn sich der Mensch ihrer bewusst wird und sie sprachlich erfasst. Die neurologischen Bedingungen eines kognitiven Verarbeitungsprozesses zeigen die Neurowissenschaften ebenfalls. Was leisten die Neurowissenschaften für die Begründung einer Ethik? Ethik wird nicht aus neurowissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten erkannt. Neuronale Prozesse bilden keine Inhalte und Bedeutungen in den Wahrnehmungen und Emotionen ab. Sie zeigen aber eine Abhängigkeit der Wahrnehmungen und ihrer Bewertung einschließlich daraus entstehender Handlungstendenzen von differenzierbaren Reizen der Umwelt. Die Wahrnehmung des Gesichts14
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Inhaltlicher und begrifflicher berblick
ausdrucks eines Anderen kann nicht beliebig gedeutet werden, ob er Trauer oder Freude oder Wut ausdrückt. Die Neurowissenschaften können die Rückbindung des Menschen an seine Umwelt hinsichtlich deren Bewertung und daraus entstehender Handlungsorientierungen zeigen. Die neurobiologischen Prozesse sind bereits ausführlich in der Veröffentlichung »Wissen und Bewerten. Unterwegs zu einer Ethik der Naturwissenschaften« 1 behandelt worden; vor allem sind dort die Ergebnisse der Neurowissenschaften hinsichtlich ihrer Bedeutung für ein Wissen über die Gegenstände der Umwelt, für eine Naturwissenschaft und für eine Ethik untersucht worden; hier werden diese Ergebnisse zusammengefasst dargestellt. Im nächsten Abschnitt wird untersucht, was Emotionen mit einer Moral zu tun haben. Eine Bewertung der Wahrnehmung kann betroffen machen. Nicht jede Bewertung einer Wahrnehmung berührt die Lebensbedürfnisse des Menschen; aber wenn sie die Bedürfnisse fördert oder hindert, entstehen Handlungsorientierungen, den Umwelteinflüssen nachzugehen oder sie zu vermeiden. Wer z. B. in einem Glücksspiel mit einer bestimmten Zahl Erfolge verbucht, wird sie eher wieder wählen; dagegen eine Zahl, die zu Misserfolgen führt, vermeiden. Als Kriterien der Bewertung erweisen sich Selbsterhaltung und Selbstinteresse. Beide Kriterien werden hier nicht nur aus einer biologischen Perspektive verstanden, sondern darüber hinausgehend in moralischer Hinsicht; ein Selbstinteresse, das als Ziel eine Erfüllung der Selbsterhaltung einschließt, meint auch eine Erfüllung aller Interessen ebenso wie eine Entfaltung der dem Menschen eigentümlichen geistigen, sozialen und politischen Fähigkeiten. Aus Bewertungen hervorgehende Handlungsorientierungen lassen sich reflektieren und erneut bewerten, ob wir ihnen folgen wollen oder nicht. Um zu zeigen, dass Emotionen als Grundlage von Handlungsentscheidungen geeignet sind, wird nach dem moralischen Charakter der Emotionen gefragt. Er zeigt sich in emotionalen Bewertungen und aus ihnen hervorgehenden Handlungsorientierungen, die sowohl auf das eigene Selbstinteresse wie auf das des Anderen oder das der Gemeinschaft gerichtet sind. Unter Moral werden hier Bewertungen von Handlungen verstanden, deren Orientierungen sich auf den Handelnden, den Anderen oder die Gemeinschaft beziehen. Moral unterscheidet sich von Quellenangaben, die sich auf diese Veröffentlichung beziehen, sind abgekürzt als WuB angegeben.
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Einfhrung
einer Ethik dadurch, dass ethische Orientierungen allgemeine Geltung beanspruchen und eine Begründung verlangen. Eine nachdenkende Betrachtung und Bewertung orientiert sich an rationalen Gründen. Emotionen erweisen sich aber oft einflussreicher auf eine Handlungsentscheidung als rationale Gründe. Ethische Urteilsbildung setzt Freiheit voraus, und zwar eine Freiheit des Menschen, der sich selbstursächlich für seine Handlung versteht. Dazu gehört die Möglichkeit, unter verschiedenen Handlungsorientierungen eine geeignete auswählen und die Wahl begründen zu können ebenso wie selbst gewählte Ziele und Zwecke zu verfolgen. In diesem Abschnitt wird gezeigt, dass neurobiologische Prozesse diese Freiheit nicht zu einer Illusion werden lassen, sondern dass sie möglich bleibt. Ethische Urteilsbildung verlangt eine Verallgemeinerbarkeit von Handlungsorientierungen und deren Begründung. Eine Verallgemeinerbarkeit drückt der Satz einer Grundlegenden Ethischen Orientierung aus. Er lautet: Handeln entsteht aus emotionaler Bewertung der Umwelt und Handeln vera¨ndert Umwelt; zu bedenken ist, ob die Handlungstendenzen aus der Bewertung und deren Ru¨ckwirkungen auf die Umwelt die Bedu¨rfnisse erfu¨llen. Dieser Satz wird empirisch und epistemisch begründet. Er formuliert eine Ethik nicht als eine Forderung, sondern als eine deskriptive Aussage; der Handelnde ist ihr nicht unterworfen; er kann sie akzeptieren oder bezweifeln; letzteres fordert allerdings eine reflexive Auseinandersetzung heraus. Er verweist einerseits auf eine Berücksichtigung der Einflüsse der Umwelt für eine ethische Urteilsbildung und zeigt andererseits, dass Handeln die Umwelt verändert und neue Einflüsse erzeugen kann, die sich auf Bewertung und Handlungsorientierung für den Handelnden und für andere auswirken. Als Kriterium nennt er Bedürfnisse des Handelnden, des Anderen und der Gemeinschaft, die aus dem oben erwähnten Selbstinteresse begründet werden. Schließlich wird im letzten Abschnitt untersucht, ob der Satz Grundlegender Ethischer Orientierung geeignet ist, ethische Konflikte zu lösen, wie sie in einer humanen embryonalen Stammzellforschung auftreten oder sich in der Gewaltanwendung im Irakkrieg aus dem Jahr 2003 gezeigt haben.
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B. Kritik ethischer Entwrfe
I.
Norm und Regel
Der Mensch handelt, um sein Leben zu gestalten. Er findet sich – wenn er nicht gerade als Robinson Crusoe auf einer einsamen Insel lebt – unter anderen Menschen, auf die sich sein Handeln auswirkt. Er ist zugleich betroffen von den Handlungen anderer. Welche Handlungen sind aber für einen Menschen zu seiner Lebensgestaltung sinnvoll und erstrebenswert und welche sind möglichst zu vermeiden? Ethik beansprucht, Orientierungen des Handelns für alle Menschen allgemein gültig zu begründen, ihre Ziele und Werte zu benennen. Welche sind solche Orientierungen und wie lassen sie sich so begründen, dass sie für alle gelten? Hinsichtlich einer Begründungsstruktur ihrer Geltung lassen sich Handlungsorientierungen unterscheiden in Normen und Regeln bzw. Grundsätze. Während Normen ihre Geltung aus einer Begründung losgelöst vom handelnden Individuum herleiten, erlangen Regeln und Grundsätze ihre Geltung, weil die Individuen ihnen zugestimmt haben. Jedes Individuum kann sie auf der Grundlage eigener aus seiner Bewertung hervorgehenden Begründung akzeptieren oder ablehnen. Gründe der Akzeptanz können z. B. individueller Nutzen, ein Sicherheitsbedürfnis, eine Rechtssicherheit oder andere Gründe sein. Es gibt Regeln, die stillschweigend akzeptiert werden; dieses können Verabredungen zu bestimmten Zwecken sein wie z. B. Spielregeln, an die sich ein Spieler hält, weil er an dem Spiel teilnehmen will. Manchmal sind sie einfach erlernte Umgangsformen, die Handeln und Verhalten im täglichen Leben erleichtern wie z. B. das Anstellen in einer wartenden Schlange, ohne sich vorzudrängeln. 1 Die Begründung einer Geltung von Normen erfolgt dagegen Geoffrey Brennan und James M. Buchanan (1993) haben den normativen Charakter von Regeln, ihre Entstehung und Erklärungskraft für politisches Handeln untersucht; sie beschreiben Regeln als Verhaltensbeschränkungen der Akteure zu beiderseitigem Gewinn.
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Kritik ethischer Entwrfe
losgelöst vom Individuum aus unterschiedlichen Überlegungen. Eine normative Ethik will ein »Sollen« begründen. Quelle der Normen und Begründungsinstanz können göttliche Herrschaft, menschliche Gesellschaft wie im Utilitarismus oder dem Marxismus, der handelnde Selbst wie in einem Eudämonismus oder die Vernunft wie bei Kant zur Befolgung seines Kategorischen Imperativs sein. Gemeinsam ist diesen Begründungen, dass ihnen ein Individuum weder ausdrücklich noch hypothetisch zustimmen muss, um ihre Geltung zu begründen. Begründungsinstanzen einer normativen Ethik bedürfen allgemeiner Verbindlichkeit und Akzeptanz, um die aus ihnen hervorgehenden Forderungen begründen zu können. Woran kann sich aber Handeln orientieren, wenn die Begründungsinstanzen normativer Ethik nicht mehr allgemein akzeptiert werden und wenn sie nicht mehr geeignet sind, unstrittige Orientierungen zu ermöglichen. Eine erste für alle Normen und Prinzipien geltende Kritik ergibt sich aus einer Konkurrenz, aus ihren Interpretationen und aus ihren Anwendungen: Am Beispiel der Präimplantationsdiagnostik lässt sich zeigen, dass das Prinzip Verantwortung sowohl ihre Befürworter in Anspruch nehmen können wie z. B. betroffene Eltern, die ihren Kindern einen Gendefekt ersparen wollen, als auch die Gegner, die eine Verantwortung für ungeborenes menschliches Leben reklamieren und dessen Schutz nicht bestimmten Auswahlkriterien überlassen wollen. Es ergeben sich zweitens Interpretationsprobleme und Uneinigkeit über Grundbegriffe, die in den Normen und Regeln verwendet werden wie z. B. die Begriffe Menschsein, Leid, Krankheit und Natur. Selbst ein Begriff wie Menschenwürde, der trotz mancher Ungeklärtheit allgemein akzeptiert wird, ist in seiner Anwendung strittig, nämlich dort, wo es um eine Bestimmung des Menschseins geht. 2 Ist ein ungeborener Embryo ein Zellhaufen oder ein Mensch, dem die anerkannte Würde zukommt, oder wird einem Embryo das Menschsein und die Würde erst ab einem bestimmten Zeitpunkt zugesprochen? 3 Der Begriff der Menschenwürde hat die Frage nicht Knoepffler (2004) nennt Menschenwürde in Anlehnung an juristische Überlegungen ein regulatives Prinzip, das keine Handlungsentscheidung im Einzelfall erlaube, sondern eher als Leitlinie für allgemeine ethische Entwürfe diene. 3 Schmoll (2001) hat in einem Aufsatz die Zuschreibungen von Menschsein zu unterschiedlichen Zeitpunkten seiner Entwicklung und ihre Begründungen eindrucksvoll dargestellt. 2
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Norm und Regel
lösen können, ob verbrauchende humane Embryonenforschung erlaubt sein soll oder nicht. Die strittige Diskussion über eine gesetzliche Regelung des Embryonenschutzes zeigt die unversöhnlichen Auffassungen, die weder im Diskurs noch im Konsens zu lösen waren, sondern nur über politische Mehrheiten. Ein dritter Punkt der Kritik an Normen ergibt sich aus einer Konkurrenz gleich gut begründeter Prinzipien wie z. B. zwischen kategorischen Normen einer Moral und pragmatischen des Überlebens; oder zwischen nur kategorischen wie Hilfe für Kranke in Konkurrenz zum Schutz des Embryos; strittig sind auch allgemein akzeptierte miteinander konkurrierende Grundrechtspositionen wie z. B. das Recht auf Leben und das Recht auf Wissen und Forschen, die mancher miteinander zu verrechnen versucht.4 Eine andere Kritik richtet sich nicht nur gegen Normen, sondern auch gegen Regeln. Im Kontraktualismus wird der Geltungsanspruch einer Regel bzw. eines Grundsatzes aus einer hypothetischen Zustimmung des Individuums hergeleitet, die ihrerseits aus bestimmten Annahmen über die menschliche Natur begründet wird. Ein Beispiel dafür sind Rawls’ Gerechtigkeitsgrundsätze. Er hat Annahmen über Eigenschaften der menschlichen Natur so formuliert, dass sie auf alle Individuen zutreffen. Aus den Eigenschaften kann er dann Gerechtigkeitsvorstellungen folgern, die für alle gelten. Das vernünftige, selbstinteressierte und rational handelnde Individuum stimme unter der Bedingung, dass es seine individuellen Eigenschaften und seine soziale Situation nicht kennt, solchen Grundsätzen einer Verteilung ideeller und materieller Güter zu, die allen gleiche ideelle Rechte sichern, und einer ungleichen Verteilung materieller Güter dann, wenn auch der am schlechtesten Gestellte einen Gewinn erhält. Rawls’ Theorie verfügt trotz mancher Einwände über eine Erklärungskraft. Eine Kritik entsteht aber aus zwei Gründen: Ein Nachteil der Vertragstheorie ist, dass nur einem speziellen Grundsatz Geltung verschafft werden kann, für den die Vertragstheorie die Zustimmung herleitet. Rawls’ Gerechtigkeitsgrundsätze können keine Handlungsorientierungen bezüglich des Lebensschutzes eines Embryos leisten. Ob es überhaupt eine Vertragstheorie zur Frage des Lebensschutzes eines Embryos geben kann, erscheint zweifelhaft. Zweitens sind die Grundsätze so verallgemeinert worden, um für Hubig (1997, S. 66 ff.) hat sich ausführlich mit Interpretationsproblemen und konkurrierenden Prinzipien auseinander gesetzt.
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jedes Individuum in jeder Situation gelten zu können, dass sie nicht mehr zu unstrittigen Entscheidungen in bestimmten Situationen führen können und ihre Orientierungsleistung vage bleibt. Den Ärmsten etwas zukommen zu lassen beantwortet nicht die oft strittige Frage, wie viel ihnen zukommen soll. Reicht bei ihnen ein Tropfen, um die Wohlhabenden dagegen sehr viel reicher auszustatten? Gegen eine normative Orientierung wie den Utilitarismus richtet sich folgende Kritik: Aus der Annahme seines Menschenbildes hinsichtlich der Bedürfnisse des Menschen nach Wohlergehen, Glück und Erfüllung seiner Interessen leitet der Utilitarismus ein Kriterium der Nützlichkeit ab: Eine Handlung ist sittlich geboten, wenn ihre Folgen das Glück aller Betroffenen steigert. Das Individuum spielt in diesem Entwurf keine Rolle; es zählt nicht das Wohlergehen des Einzelnen, sondern die Summe des Wohlergehens aller. Das Wohlergehen des Einzelnen, wenn es z. B. gar nicht vorhanden oder nur in geringem Maß gewährleistet ist, ist nicht entscheidend, solange das Wohlergehen aller gesteigert werden kann. Das Individuum wird reduziert auf einen Beitrag zu einem Gesamtmaß einer Gesellschaft. Einwände gegen den Utilitarismus befassen sich vor allem mit der Vernachlässigung des Individuums und mit der strittigen Frage, was als Glück der Menschen gelten soll und wie es zu gewichten ist. Mein Einwand richtet sich gegen die Ungeeignetheit des Utilitarismus, in den Fragen der Machbarkeiten der Naturwissenschaft keine Orientierung geben zu können, ob wir diesen folgen wollen oder nicht. Soll z. B. Klonen von Menschen erlaubt sein, wenn es einigen medizinisch helfen könnte? Oder wie lassen sich Menschenwürde und Lebensschutz hinsichtlich embryonaler humaner Stammzellforschung in einer utilitaristischen Weise in einer Orientierung zum Ausdruck bringen? Kann Kants formales Prinzip des Kategorischen Imperativs die ethischen Konflikte lösen? Er ging davon aus, dass jeder Mensch über Freiheit und Vernunft verfügt, die ihn befähigen, seine Orientierungen zu wählen; nur solche sollen als Ziel oder Wert zugelassen sein, von denen man erwarten kann, dass sie auch von jedem anderen Individuum als Orientierung akzeptiert werden. Kants Vorstellung appelliert an eine Fähigkeit zur Einsicht, eigene Bedürfnisse erst dann als ethisch vertretbar anzuerkennen, wenn man erwarten kann, dass sie für alle gelten und akzeptiert werden könnten. Sein Kategorischer Imperativ verlangt, sich auf solche Handlungen zu beschränken, die von allen akzeptiert werden. Welche Orientierung soll aber in strit20
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Norm und Regel
tigen Einsichten gelten, von denen jeder der Kontrahenten eine Einsicht aus Vernunft geltend macht? Kants formales Kriterium der allgemeinen Geltung aus Vernunfteinsicht kann die Fragen, ob dem Embryo das Menschsein zukommt und ob Menschenwürde und Lebensschutz gelten sollen oder nicht, auch nicht beantworten. Eine Diskursethik, die auch auf Zustimmung der Individuen setzt, aber als ein nur formales Prinzip keine inhaltlichen Vorgaben für einen Konsens enthält, ähnlich Kants Kategorischem Imperativ, verfolgt für ihre Handlungsorientierung eine zustimmungsfähige Lösung eines ethischen Konfliktes durch die Diskursteilnehmer. Dieser Entwurf scheitert aber, wenn unversöhnliche inhaltliche Positionen einen Konsens der Teilnehmer unmöglich machen. In der Debatte über Abtreibung und Schwangerschaftskonfliktberatung gab es zwischen Katholischer Kirche und politischen Vertretern keinen für beide zustimmungsfähigen Konsens: Während politische Instanzen eine Abtreibung nach einer Pflichtberatung dulden wollten, wollte die Katholische Kirche nicht mitschuldig werden an der Tötung unschuldigen Lebens. Weil in der Biologie, in der Medizin und in der Biochemie Forschungsperspektiven und Anwendungen von Forschungsergebnissen möglich geworden sind, die zu einer ungelösten Spannung zwischen Machbarkeiten und Akzeptanz der Machbarkeiten führen, 5 und wegen der unbefriedigenden Orientierungsleistungen bisheriger Normen und Grundsätze, hat es Entwicklungen hin zu Differenzierungen einer Ethik gegeben; dazu gehören z. B. Medizinethik, Bioethik, Wissenschaftsethik, Wirtschaftsethik, Technik- und Umweltethik und Ökologische Ethik 6 . Jede versucht, für einen speziellen Wissenschaftsbereich moralische Prinzipien zur Geltung zu bringen. 7 Eine Aus der Fülle der Literatur zu diesem Thema soll auf eine Veröffentlichungen hingewiesen werden, die aktuelle Probleme der Humanbiotechnologie behandelt: Knoepffler/ Schipanski/Sorgner (Hg.) (2005a). 6 Düwell und Hübenthal (2002) geben einen umfassenden Überblick über gegenwärtig diskutierte Ethikentwürfe. Einen systematischen Überblick über Ethikentwürfe enthält Pieper (1991, S. 115–137); sie unterscheidet Argumentationen im Rückgang auf allgemeine Normen, auf Gefühle, auf Folgen einer Handlung, auf einen moralischen Kodex einer Gruppe, auf moralische Kompetenz und auf Gewissen als sittlicher Leitinstanz; sie verweist auf unterschiedliche Methoden wie logische, diskursive, dialektische, transzendentale, sprachanalytische und hermeneutische. 7 Wegen der Aktualität der Fragen, wegen des Unbehagens über die naturwissenschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und wegen ihrer Dringlichkeit findet die strittige wissenschaftliche Auseinandersetzung oft in den öffentlichen Medien statt. 5
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Kritik ethischer Entwrfe
ökologische Ethik z. B. entstand, um die in der Neuzeit aus den moralischen Diskursen ausgegrenzte, ethisch neutralisierte äußere Natur in die Zuständigkeit der Moral zurückzuholen. 8 Die Entwürfe gehen davon aus, dass Orientierungen für Handlungsentscheidungen am besten in den eigentümlichen Anwendungsbereichen gefunden werden können; aus der Sache selbst, wie z. B. ein Arzt am ehesten weiß, wann lebensverlängernde Maßnahmen geboten erscheinen und wann nicht. In einigen Hinsichten mag eine solche Fachkompetenzzuweisung für ethische Orientierungen zutreffen, in anderer Hinsicht aber auch nicht, wie die vielen strittigen Auseinandersetzungen unter Ärzten in den Fragen der Todesdefinition, der Organentnahme und -transplantation, der Präimplantationsdiagnostik und der Embryonenforschung zeigen. Weder aus den normativen Ethikentwürfen noch aus den zustimmungsnotwendigen Grundsätzen ergeben sich unstrittige Orientierungen für ein Handeln in den gegenwärtigen ethischen Konflikten.
II.
Die Erste Person
Ein wesentlicher Grund der bisherigen Kritik an den ethischen Entwürfen betrifft die unzureichende Einbindung des Individuums in die Handlungsorientierung und deren Begründung. Normen bleiben strittig, weil sie vom Individuum abstrahieren; Regeln und Grundsätze können nur spezifische ethische Orientierungen begründen, weil sie für jeden Orientierungsentwurf den für alle Individuen notwendigen Konsens begründen müssen. Erst wenn nicht vom einzelnen Menschen abstrahiert wird, der Einzelne in seiner singulären Entscheidungssituation nicht unberücksichtigt bleibt und dessen Situation 9 zur Geltung kommt, in der eine Handlungsentscheidung zu treffen ist, wird sich eine ethische Orientierung ergeben können, die alle Einflüsse auf die einzelne Handlung zur Geltung bringt. 10 Vgl. Kersting (2001) Horn (2002, S. 236) verweist auf die Bedeutung des Situationsbegriffs in der Moralphilosophie; einem Kontextprinzip zufolge ließen sich Handlungsbeurteilungen nicht durch abstrakt übergreifende Regeln sondern durch einen Situationsbezug erschließen. 10 Habermas (2005, S. 14 f.) verweist auf die Bedeutung der Ersten Person für eine Ethik, weil ethische Fragen Kontext abhängig mit einer bestimmten Lebensgeschichte 8 9
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Die Erste Person
Ergibt sich daraus nicht ein Widerspruch, dass einerseits der einzelne Mensch und dessen einzelne Entscheidungssituation in den Mittelpunkt gerückt werden und andererseits für eine Ethik verlangt wird, verallgemeinerbare Orientierungen zu begründen? Es gibt naturwissenschaftliche Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften, die diesen scheinbaren Widerspruch auflösen. Es sind Befunde aus der neuronalen Verarbeitung von Umweltreizen, die vom einzelnen Menschen in seiner einzelnen Situation ausgehen und dessen Bewertung der Situation zur Grundlage einer Orientierung für dessen Handeln und Verhalten deutlich machen. Eine Verallgemeinerung dieser Befunde für wiederholbare Situationen, für andere Individuen ebenso wie für verallgemeinerbare Grundlagen der Bewertungen werden im Folgenden untersucht. Aus der bisherigen Kritik an einer normativen Ethik, in der der Mensch von seinen persönlichen Reaktionen und Aspekten absehend sich allgemeinen Orientierungen unterwirft, ergibt sich die Frage, ob ein Entwurf zu einer Ethik, in der ein Mensch in seiner Situation seine Orientierung selbst bestimmt, eher geeignet ist, ethische Konfliktsituationen zu lösen. Gemeint ist eine ethische Urteilsbildung, die die Erste Person, die sich selbstursächlich für ihre Handlungen versteht, in den Mittelpunkt rückt. Wird gegen einen solchen Entwurf eingewandt werden können, dass es sich um eine Ethik handelt, die das Selbstinteresse des Individuums zum Maßstab allen Handelns macht ohne Rücksicht auf die Interessen und Rechte anderer? Wenn es gerechtfertigt wäre, die Natur des Menschen auf ein Selbstinteresse zu reduzieren, wäre so eine geäußerte Kritik berechtigt. Neurowissenschaftliche Befunde zeigen aber, dass sich ein Individuum in seiner Umwelt auch an dem Anderen orientiert, sich auch altruistisch verhält. Wenn in diesem Entwurf die Erste Person zum Ausgangspunkt der Überlegungen zu einer ethischen Urteilsbildung gewählt wird, wird zu untersuchen sein, ob sie geeignet ist, die ethischen Konflikte zu lösen und zugleich einen ausschließlichen Egoismus zu vermeiden.
zu tun hätten und nicht für alle Personen gleichermaßen verbindlichen Antwort verlangten. A
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III. Die Bedeutung der Emotionen fr eine Ethik Emotionen in den Mittelpunkt eines Ethikentwurfes zu rücken, ist nicht neu. In der Einführung wurde auf Schopenhauers Ethik aus der Emotion des Mitleids hingewiesen. Smith hat eine Theorie moralischer Gefühle entworfen. Sartre hat aus den Gefühlen Qualitäten seiner Subjekthaftigkeit, seiner Leiblichkeit und seiner Bezogenheit auf Andere erschlossen. Warum können wir uns heute, wenn erneut eine Ethik aus Emotionen entworfen werden soll, nicht auf die bisherigen Entwürfe zu einer Ethik aus moralischen Gefühlen stützen? All den verschiedenen Entwürfen ist eines gemeinsam: Emotionen wurden meist als psychologische Verfassungen gedeutet, aus denen bestimmte Handlungen erklärt wurden; unterschiedlich war allerdings der Rang, der den Emotionen für eine Moral eingeräumt wurde. Nunner-Winkler meint, dass Emotionen und moralisches Handeln aufeinander bezogen seien, aber nicht so, dass moralisches Handeln aus Gefühlen erklärt werden könne. Sie hat drei Deutungstypen herausgearbeitet. Als Beispiel für die konstitutive Deutung nennt sie Schopenhauer, der Mitleid eine Moral definierende Emotion nennt; Mitleid ließe zu, sich mit dem Anderen zu identifizieren; es sei die Basis aller Gerechtigkeit und aller echten Menschenliebe. Eine funktionalistische Deutung zeigt Kohut, weil von der Erfahrung von Werten das Selbstwertgefühl abhinge; das Selbstwertgefühl und dessen Förderung erlaube die Aufrechterhaltung des Selbst; die Empathie verschaffe einen Überlebensvorteil. Eine indikative Deutung entwirft sie selbst, weil sie meint, dass sich die Fragen »Was ist Moral?« und »Warum soll ich moralisch sein?« ohne Rekurs auf Emotionen explizieren ließen. Moralische Motivation hält sie für unabhängig von moralischen Emotionen; moralische Gefühle seien nicht Grund, sondern Folge moralischen Handelns. 11 Nunner-Winkler rechtfertigt ihre Aussagen aus empirischen Untersuchungen mit Kindern. Eines ihrer Ergebnisse ist, dass die Kinder ihnen erzählte Sachverhalte nach solchen moralischen Regeln bewerteten, die sie kennen. Ihre Bewertung zeige, dass nicht ein moralisches Gefühl, Gertrud Nunner-Winkler (1999, S. 149 ff.) präsentiert Ergebnisse, die aus den empirischen Untersuchungen mit Kindern zeigen, dass sich die moralischen Emotionen auf Wahrnehmungen beziehen, nämlich auf die den Kindern geschilderten Fälle, die sie bewerten sollen.
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Die Bedeutung der Emotionen fr eine Ethik
sondern eine Regel die Bewertung erzeuge, die von moralischen Gefühlen begleitet wird. Kritisch lässt sich zu ihren Untersuchungen fragen, ob wirklich die Beobachtungen der Reaktionen von Kindern im Alter von 4 bis 9 Jahren einfach auf Erwachsene übertragbar sind. Ist nicht der umgekehrte Weg sinnvoller, nämlich den Zusammenhang von Emotionen und Moral bei Erwachsenen zu untersuchen und zu fragen wie er sich auf das Verhalten von Kindern durch Erziehung in deren Lernalter auswirkt? Ein zweiter Einwand ist: Wenn Kinder als Grund ihrer Bewertung Regeln angeben, ist noch nicht geklärt, warum sie die Regeln angeben. Auch wenn als Grund die Autorität eines Erwachsenen oder Strafe ausgeschlossen wird, können doch emotionale Bewertungen im Spiel sein wie »benachteiligt sein«, »Ungerechtigkeit empfinden« oder »einem Freund aus Verbundenheit beistehen«. Wie moralische Regeln zustande kommen, wird hier nicht gefragt und untersucht. Nunner-Winklers Deutungen eines Zusammenhangs von Moral und Emotionen leisten nur unbefriedigende Erklärungen moralischer Urteile, weil die Entstehungsprozesse moralischer Urteile außer Acht gelassen werden. Wenn sich zeigen lässt, dass eine ethische Urteilsbildung aus emotionalen Bewertungen hergeleitet werden kann, dann wäre Nunner-Winklers Behauptung, moralische Gefühle seien nicht Grund, sondern Folge moralischen Handelns, widerlegt. Aus liberalistischen Vorstellungen stammt ein ethischer Entwurf, der Emotionen einbezieht, aber nur in einer untergeordneten Rolle, nämlich nur hinsichtlich der Einhaltung zuvor beschlossener Regeln. Es ist der Entwurf zur Moral in der liberalen Gesellschaft, der unter dem Begriff der Konstitutionellen Ökonomik das Verhalten der Individuen in einer Gesellschaft untersucht. 12 Zusammenarbeit in der Gesellschaft wird durch Regeln charakterisiert, die von den Individuen einstimmig oder mindestens mehrheitlich beschlossen werden. Das Individuum trifft seine Wahl und Entscheidung für eine bestimmte Regel nach einem Kosten-Nutzen-Kalkül, wobei Leschke ein Gerechtigkeits- und Verantwortungsgefühl für das Entscheidungsverhalten zwar erwähnt, aber nicht erläutert, wie es sich Die konstitutionelle Ökonomik geht auf Arbeiten von James M. Buchanan und Geoffrey Brennan aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Sie ist inzwischen in einer großen Zahl von Publikationen vor allem durch James M. Buchanan, F. A. von Hayek, Ingo Pies und Martin Leschke weiterentwickelt worden.
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auswirkt (Leschke S. 80). Erst bei der Frage nach der Einhaltung der Regeln bzw. ihrer Verletzung erhalten Emotionen eine begründende Rolle. Eine Verletzung von Regeln würde als unmoralisch empfunden und Schuldgefühle erzeugen, die wiederum das Individuum veranlassten zu prüfen, ob die Schuldgefühle die Vorteile der Regelverletzung aufwiegen können oder nicht; das Schuldgefühl wird auch noch in Abhängigkeit der Mehrheit der Akteure gewichtet: Wenn es nämlich eine Mehrheit ist, die die Regeln nicht beachtet, könnten die Schuldgefühle abnehmen oder sogar verschwinden. Dieses Verhalten lässt sich tatsächlich z. B. hinsichtlich einer Steuerehrlichkeit beobachten. Ein anderes Beispiel ist die Schwarzfahrermentalität. Ein Akteur, der zwar eine Regel mitbeschlossen hat und anschließend ihre Vorteile nutzt, sich aber nicht an ihren Kosten beteiligt, weckt bei anderen Gefühle der Ungerechtigkeit und veranlasst sie vielleicht zu spontanen Sanktionen. In beiden Beispielen ist es die Regelverletzung, die zur Kennzeichnung unmoralischen Verhaltens genommen wird. Die so gekennzeichnete Moral ist aber eine vage, in gewissem Sinne sogar eine widersprüchliche Moral. Wenn z. B. in einer bestimmten Region die Mehrheit der Akteure eine ethnische Säuberung beschließt, wie es zumindest durch stillschweigende Zustimmung in jüngster Geschichte geschehen ist, dann soll es unmoralisch sein, diese Regel nicht zu befolgen. Nicht zur Geltung kommt, dass die Regel selbst schon unmoralisch ist, wobei noch nicht geklärt ist, woran Moral zu messen ist. Wenn die Nichtbefolgung einer Regel als Moral unabhängig von einem Inhalt gelten soll, führt es zu Ungereimtheiten. Von dem Inhalt sieht aber diese Konzeption ab, weil sie annimmt, moralisch »gut« würde eine Aussage dadurch, dass ihr alle Akteure zustimmen; es ist eine Bestimmung des Guten durch eine Prozedur. Unverständlich ist, dass Gefühle nur im Zusammenhang mit einer Verletzung von Regeln zugelassen werden und nicht auch dort, wo sie durch inhaltliche Bewertungen ausgelöst auftreten wie z. B. hinsichtlich einer Bewertung der Verteilung von ideellen und materiellen Gütern. Als Schwäche aller genannten Entwürfe erweist sich, dass die Emotionen nicht hinsichtlich ihrer Entstehung untersucht wurden wie z. B. in Verbindung zur Umwelt eines Individuums, aus deren Quellen sie verursacht werden können. Deutungen der Emotionen, die ihren Zusammenhang mit ihren auslösenden Ereignissen außer Acht lassen, werden ihre unverzichtbare Leistung für einen Menschen nicht deutlich machen können. Damit ein Mensch aus seinen 26
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Begrndungszusammenhang und Methodisches
Emotionen ein zuverlässiges Kriterium für die Wahl seines Handelns und Verhaltens gewinnt, bedarf es einer Analyse der Rückbindung der Emotionen an die Umwelt, unter deren Einflüssen der Mensch handelt. Um den Einflüssen der Emotionen auf eine Ethik näher zu kommen, wird zu untersuchen sein, welche Rolle sie in einem Prozess ethischer Urteilsbildung spielen.
IV. Begrndungszusammenhang und Methodisches Emotionen sind in den genannten Entwürfen unter verschiedenen Aspekten betrachtet worden wie unter einem psychologischen, einem psychiatrischen und einem neurobiologischen. Einer psychologischen oder psychiatrischen Sichtweise kommt es auf das subjektive Konstrukt des Erlebnisses an. 13 Die Neurobiologie dagegen untersucht die Beziehungen zwischen Emotionen und physiologischen Zuständen. Sie eröffnen die Möglichkeit zu erforschen, welche biologische Bedeutung den Emotionen zukommt, ob sich Informationen über die Umwelt aus Emotionen von denen aus der Wahrnehmung unterscheiden lassen und ob den Emotionen einer Wahrnehmung vergleichbare Umweltreize vorausgehen. Der Begründungszusammenhang stützt sich auf eine Erschließung des Wissens eines Menschen über seine Umwelt. Es sind empirische Ergebnisse der Neurowissenschaften, die einen Zusammenhang zeigen zwischen Reizen der Umwelt und der Herausbildung eines Wissens über die Umwelt durch einen Menschen; es ist dabei zu unterscheiden ein Wissen aus der Wahrnehmung, aus den Emotionen und aus der Reflexion, wobei besonders die Emotionen untersucht werden, die bei bestimmten Wahrnehmungen auftreten. Die empirischen Ergebnisse gründen auf Einzelbefunden aus der Wahrnehmung; es bleibt zu begründen, was zu ihrer Verallgemeinerung berechtigt, wie sie hier geschieht. Oder ist es berechtigt, eine Rechtfertigung eines Allgemeinen aus dem einzelnen Wahrnehmungswissen auf eine beobachtbare Konstanz zu stützen? Konstanz ist selbst ein empirisches Ergebnis. Sie wird in jedem einzelnen wiederholten Wahrnehmungsprozess insofern sichtbar, als nicht irgendeine unterschiedliche Wahrnehmung entsteht und sie sich nicht als 13
Vgl. H. Helmchen, F. Henn, H. Lauter, N. Satorius (1999). A
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Kritik ethischer Entwrfe
eine in das Belieben des Subjekts gestellte erweist. Eine Verallgemeinerung von Einzelwahrnehmungen durch deren Konstanz wird nicht aus rationalen Gründen gerechtfertigt, sondern der Wahrnehmungsprozess selbst wird zur Rechtfertigungsinstanz. Das erkenntnistheoretische Problem, wie ein Schluss von empirischen Ergebnissen auf zukünftige zu begründen ist, wird hier nicht untersucht, weil nur die Wahrnehmungsinstanz selbst entscheidend ist. Wenn sich deren Ergebnisse ändern sollten, hat das Auswirkungen auf die Beschreibung einer bestimmten Konstanz. Konstanz hat deshalb nicht den Rang einer Gesetzmäßigkeit, sondern den einer Erfahrung. Um eine Konstanz zu beobachten, bedarf es keiner Theorie; erst auf einer Reflexionsebene, auf der nach einer Erklärung der Konstanz gefragt wird, erweist sie sich als dasjenige, was Gesetzmäßigkeiten über sie erschließt. Die Untersuchungen erfolgen auf einer Reflexionsebene; sie stützen sich aber auf ein Wissen aus den Wahrnehmungen. Ist es berechtigt, aus empirischen Untersuchungen der Neurowissenschaften allgemeine Grundlagen des Wissens über die Umwelt zu begründen? Man könnte einen Zirkel vermuten, weil ein Wissen vorausgesetzt wird, um Wissen zu begründen. Das wäre auf der Reflexionsebene ein berechtigter Einwand. Das Entscheidende in dem Begründungszusammenhang aus den Neurowissenschaften ist aber, dass keine Theorie über ein Wahrnehmungs-, Emotions- oder Reflexionswissen hergeleitet wird, sondern nur ihre Bedingungen durch Wahrnehmungswissen sichtbar gemacht werden; d. h. bestimmte Beobachtungen in Gehirnprozessen werden durch Wahrnehmung bestätigt oder nicht bestätigt. Dabei tritt kein Zirkel auf. Die sichtbar gemachten notwendigen Bedingungen aus der Wahrnehmung verlangen nur, dass kein Wissen ohne sie möglich ist. Notwendige Bedingungen des Wissens aus empirischen Befunden zu rechtfertigen, ist zirkelfrei, weil sie sich nicht auf ein Reflexionswissen stützen, sondern auf ein Wahrnehmungswissen. Das gilt auch für das Wahrnehmungswissen selbst; während Aussagen über seine Bedingungen zu einer Reflexionsebene gehören, erfolgt deren Bestätigung durch das Wahrnehmungswissen selbst. Einer kritischen Betrachtung bedarf das Verhältnis von Wissen und Umwelt, um herauszufinden, ob Umwelt und Individuum als Entitäten überhaupt begründbar sind. Die Beziehung von Wissen und Umwelt wird hier empirisch und epistemisch erklärt; zu klären bleibt dabei, ob sich aus ihrem Verhältnis Einflüsse und Abhängig28
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Begrndungszusammenhang und Methodisches
keiten auf Handeln und Verhalten erschließen lassen, die Kriterien einer Ethik erfüllen. Ist ein Übergang von empirischen Ergebnissen zu normativen Aussagen möglich, von einem Sein zu einem Sollen, oder ist es ein Problem, das sich in diesem Begründungszusammenhang gar nicht stellt? Sein und Sollen beschreiben zwei getrennte Welten, nämlich eine Welt des Seins, die von empirischen Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist, und eine Welt des Willens und Handelns, die uns eine freie Entscheidung erlaubt. Es sind Welten aus dem Wissen, das aus der einen Welt, in der wir leben, hervorgeht. Warum sollte ein Übergang von einem Sein zu einem Sollen nicht möglich sein, wenn beide Arten des Wissens aus einer Welt hervorgehen?
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C. Mensch und Umwelt
I.
Biologische und erkenntnistheoretische Aspekte
Lässt sich als Folge der bisherigen Kritik eine Ethik denken, in der die Handlungsorientierungen des einzelnen Menschen durch die Einflüsse aus seiner Umwelt bestimmt werden? Um die Frage zu beantworten, wird zu prüfen sein, wie dem Begriff Umwelt näher zu kommen ist, von welcher Art die Einflüsse einer Umwelt auf den handelnden Menschen sind und umgekehrt in welcher Weise sich menschliches Handeln auf die Umwelt auswirkt. Es gibt erkenntnistheoretische Überlegungen ergänzt durch biologische Erkenntnisse, die eine Antwort erschließen können. Biologisch lässt sich der einzelne Mensch als ein sich selbst organisierender Organismus betrachten. Maturana hat im Zusammenhang seines biologischen Austauschkonzeptes die Subjekte autopoietische Systeme genannt (Maturana 1987, S. 94 ff.). Ein autopoietisches System ist dadurch gekennzeichnet, dass es sich selbst organisieren und erhalten kann. Der Austausch zwischen den Systemen umfasst Materie, Energie, aber auch die Möglichkeit der Selbstorganisation von Wissen durch wechselseitige Stimulierung der Auslotung und Ausweitung der interaktiven Prozesse (Jantsch, S. 171). Der biologische Begriff des autopoietischen Systems wie auch der in den Neurowissenschaften verwendete Begriff des Subjektes schließt den Menschen ein, der über ein Bewusstsein verfügt, mit seiner Umwelt kommuniziert und der ein bewusstes Erleben sprachlich zum Ausdruck bringen kann. 1 In den Neurowissenschaften hat das Austauschkonzept eines Subjektes mit seiner Umwelt seinen Niederschlag gefunden. Erforscht werden seit Jahrzehnten die neurobiologischen Grundlagen mentaler Prozesse. Ziel dieser Forschungen ist es, die biologische Ba-
Krüger (2004) hat sich mit dem Subjektbegriff auseinander gesetzt, wie er von Neurowissenschaftlern benutzt wird, vor allem mit der Vorstellung, dass das Gehirn zum Subjekt der Verhaltenssteuerung ernannt wird.
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Mensch und Umwelt
sis der geistigen Vorgänge zu verstehen, durch die wir wahrnehmen, vorstellen, handeln, lernen und erinnern. 2 Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zeigen die Zusammenhänge zwischen Reiz, Verarbeitung und biologischem Bedürfnis. Sie machen die Beziehungen zwischen den Arten der Reize, ihrer neuronalen Verarbeitung und den daraus hervorgehenden Ergebnissen einer Wahrnehmung und Bewertung sichtbar. Einzelheiten werden in den folgenden Abschnitten behandelt. Der Begriff »Umwelt« ist seit Beginn des 19. Jahrhundert gebräuchlich und geht in seiner naturwissenschaftlichen Verwendung auf Jacob von Uexküll zurück; er drückte damit den modernen Gedanken aus, dass Lebewesen ihre artspezifische Welt wahrnehmen. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird er von den Konstruktivisten und den Neurowissenschaftlern verwendet; er beschreibt einerseits die Welt als Ergebnis subjektiver Kommunikation, andererseits als Quelle der von den Sinnesorganen aufgenommenen Reize. In letzterem Sinn soll der Begriff hier verwendet werden. Zur Umwelt gehören alle Gegenstände der belebten und unbelebten Natur, materielle wie ideelle, mit denen ein Subjekt in einen Austausch eintritt (Rock 1984, S. 3). Umwelt zeigt sich als Ergebnis subjektiver Verarbeitung von Reizen, ohne die ein Wahrnehmungsergebnis über die Umwelt nicht zustande kommt. Ein Subjekt kann von seiner Umwelt dadurch unterschieden werden, dass ein Wissen über diese nicht in sein Belieben gestellt ist; ein Gegenstand ist nur zu sehen, wenn das Subjekt entsprechende Reize zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort aufnimmt. Inhaltlich erfasst der Begriff Umwelt nicht nur eine sinnlich erfahrbare Wahrnehmung in Raum und Zeit, einschließlich der körperlichen Selbstwahrnehmung des Individuums; zur Umwelt gehören soziale Beziehungen wie z. B. die Auswirkungen einer Gemeinschaft auf ein Individuum und umgekehrt. Es gehören dazu Wahrnehmungen aus der Sprache, aus der Kunst und Geschichte ebenso wie Normen, Regeln und religiöse Bindungen. Umwelt ist Vgl. Kandel/Schwartz (1996, Vorwort zur Originalausgabe, VIII); zum Vorstellen vgl. Singer (1999, S. 276): ein mit Hilfe der Kernspintomographie hergestelltes Bild zeigt die unterschiedlichen durch Wahrnehmen bzw. Vorstellen aktivierten Gehirnregionen; der Beitrag der Neurowissenschaften zur Erkenntnis biologischer und erkenntnistheoretischer Konzepte der Kommunikation eines Subjektes mit seiner Umwelt ist ausführlich behandelt in WuB, S. 17 ff. u. 55 ff.; zu den neurobiologischen Grundlagen, die die Neurowissenschaften erforschen, vgl. Kandel, Vorwort, und Singer (1999, S. 276).
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Biologische und erkenntnistheoretische Aspekte
der weit gefasste Bereich, der dadurch gekennzeichnet ist, dass ein Individuum mit Einflüssen aus diesem Bereich kommuniziert. 3 Der Begriff der Kommunikation beschreibt einen Austausch zwischen Subjekt und Umwelt bezogen auf Materie und Energie unter den Bedingungen ihrer Verarbeitung. 4 Die Kommunikation ist nicht nur bestimmt von den Reizen der Umwelt, sondern auch von den phylogenetischen und ontogenetischen Bedingungen. Ein Mensch kann z. B. als Licht nur Reize einer bestimmten elektromagnetischen Wellenlänge wahrnehmen. Umgekehrt kann ein Individuum nur durch ihm eigentümliche Reizaktivitäten wie z. B. durch Töne in begrenzten Bereichen von Wellenlängen auf seine Umwelt einwirken. Der Mensch ist in eine Welt hineingeboren und den Reizen seiner individuellen Umwelt ausgesetzt. Die Einflüsse der Umwelt sind unterscheidbar hinsichtlich seiner Bedürfnisse. Er wird Reize, die eine Unterkühlung ergeben, zu vermeiden suchen und die Reize suchen, die ausreichende Wärme wahrzunehmen erlauben. Aus biologischer Perspektive trachtet das Individuum hinsichtlich seiner Selbsterhaltung nach solchen Reizen, die seine Selbstorganisation fördern, und vermeidet umgekehrt diejenigen, die sie behindern. Diese Aussage lässt sich empirisch nachweisen. Ein Subjekt vermeidet Nahrung, die seine Bedürfnisse nicht erfüllt, und sucht die Gemeinschaft, wenn es dem Bedürfnis seines Überlebens entspricht. Die Umwelt ist aus der Perspektive eines Individuums vor allem unter zwei Aspekten zu betrachten: Was kann ein Individuum über seine Umwelt wissen und wie ist es ihm möglich, in seiner Umwelt erfolgreich zu überleben und zu handeln? Die Kommunikation eines Individuums mit seiner Umwelt ist aus biologischer Perspektive für das Überleben und Gedeihen des Individuums unverzichtbar. Wer seinen Feind nicht wahrnimmt, dem droht die Gefahr der VernichKrüger (2004) spricht von einem kardinalen Unterschied zwischen Welten und Umwelten, wobei er nach einer bestimmten Art von Welterschließung fragt, die die Vielfalt der Umwelten ermöglicht. Unter dem hier behandelten Aspekt einer konstruktiven Herausbildung des Wissens über eine Umwelt ist keine Instanz sichtbar, die eine Unterscheidung verschiedener Umwelten erlaubt. 4 Köck (1987) unterscheidet zwar Interaktion von Kommunikation, wobei er anders als Maturana Kommunikation an Zeichen und Bedeutungen bindet. In dieser Arbeit soll Kommunikation, ununterschieden von Interaktion, als Austausch eines Subjektes mit seiner Umwelt bezogen auf unterschiedliche Energieformen wie Lichtenergie, mechanische, thermische oder chemische Energie und deren phylogenetisch und ontogenetisch bedingte Reizverarbeitung verstanden werden. 3
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Mensch und Umwelt
tung. Bei den Menschen führt eine Verarbeitung der Reize der Umwelt zu einem Wissen über die Umwelt. Ergebnisse aus den Neurowissenschaften beschreiben Hirnprozesse aus einer Verarbeitung der Reize der Umwelt. Sie allein können aber kein Wissen begründen, weil ein Übergang von Hirnprozessen zu Bedeutungen ungeklärt ist. Ein Beispiel dafür ist Kanitscheiders Beschreibung der Liebe: Er erklärt die Zuneigung zweier Menschen zueinander als ein psychoneurodendokrines Phänomen, bei dem endogene Wirkstoffe auf männlicher wie weiblicher Seite eine Steuerfunktion auf das ausüben, was die Betroffenen als Liebe empfinden (Kanitscheider 1993, S. 3 ff.). Aber auf die Frage, warum gerade bei der Begegnung zweier bestimmter Menschen diese physiologischen Prozesse einsetzen und bei anderen nicht, gibt diese Theorie keine Antwort; sie kann nicht erklären, warum bei einer Begegnung dieser physiologische Prozess einsetzt und nicht ein anderer wie Antipathie oder Hass (WuB, S. 139 f.). Um ein Wissen über die Umwelt begründen zu können, bedarf es einer Theorie, die nicht nur ein Wissen erklären kann, sondern die auch eine Unvereinbarkeit mit den neurowissenschaftlichen Ergebnissen vermeidet. Das leistet ein Konstruktivismus. Erkenntnistheoretisch handelt es sich um die Begründung eines Wissens aus seiner Herstellung, wie aus den Entwürfen von Hobbes und Vico bekannt ist. Wissen aus den Schritten seiner Herstellung more geometrico zu begründen, war eine verlockende Idee der frühen Neuzeit, weil sie nicht begründbare metaphysische Annahmen über die Natur überflüssig machte (Hobbes 1915, I.8.; 1965, S. 62). Bei Hobbes und Vico wurde das Wissen durch einen Denkprozess konstruiert, also auf der Reflexionsebene, obgleich Vico bereits von eigenständigen Sinnesqualitäten spricht (Vico 1979, S. 119). 5 Ähnlich wie Hobbes und später auch Vico fragt der moderne Konstruktivist nach den Prozessen, die zum Wissen der Wirklichkeit eines Subjektes führen, allerdings unter Einbeziehung der Sinnesreize. Der Vorteil der Erkenntnistheorie des Konstruktivismus, auch in seiner modernen radikalen Ausprägung einer Ablehnung der Außenwelt, ist also, dass sie ein Wissen über die Welt begründen kann unter Nutzung der Ergebnisse aus den Neurowissenschaften, was anderen Erkenntnistheorien wie der eines Realismus oder des Ratio5
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Ausführlicht untersucht wurde der Radikale Konstruktivismus in WuB, S. 39 ff.
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Biologische und erkenntnistheoretische Aspekte
nalismus nicht gelingt; weder die Vorstellung einer Erkenntnis als Abbildung der Wirklichkeit bei den Realisten ist mit den neurowissenschaftlichen Ergebnissen verträglich, weil sich im Gehirn kein Bild der Umwelt, sondern nur feuernde Neuronen finden, noch ist die Begründung des Wissens aus einer Deduktion wie bei den Rationalisten mit den neurowissenschaftlichen Beobachtungen verträglich, weil es empirische Befunde sind, die ein Wissen aus der Wahrnehmung herausbilden und die nicht allein rational begründbar sind. Ein Nachteil des Radikalen Konstruktivismus ist allerdings, dass er keine Ethik begründen kann. Eine Ethik, die aus ihrem Herstellungsprozess gerechtfertigt würde, könnte jede beliebige sein, von der man zeigt, wie sie zustande kommt; wer zeigt, wie man einen anderen betrügt, hat durch die Konstruktion einen Betrug erkennbar gemacht, aber noch keine Ethik, keinen Wert und kein Ziel eines Handelns begründet. Möglich wird aber eine Ethik aus einer konstruktivistischen Begründung, wenn entgegen der Auffassung Radikaler Konstruktivisten eine Außenwelt anerkannt wird, in der der Mensch handelt und auf die sich sein Handeln bezieht. 6 Die Möglichkeit der Anerkennung einer Außenwelt leisten Ergebnisse der Neurowissenschaften. Das aus der Wahrnehmung und aus den Emotionen hervorgehende Wissen ist bestimmt sowohl von den Reizen der Umwelt als auch von seiner individuellen ontogenetischen Ausstattung. Was dabei von außen – aus der Umwelt – beigegeben wird und was aus der subjektiven Ausstattung – dem Erkenntnisapparat –, lässt sich aus neurowissenschaftlichen Daten nicht unterscheiden, ebenso wenig deren Mischungsverhältnis (Roth 1997, S. 342). Was sich unterscheiden lässt, ist der Einfluss der Reize als eine notwendige Bedingung für das Wahrnehmungsprodukt. Ohne Reize ist eine Herausbildung der Wahrnehmung nicht möglich, abgesehen von Bildern aus der Erinnerung oder einer Vorstellung, die aber auch auf Wahrnehmungen zurückgehen. In folgenden Beschreibungen des Wahrnehmungsprozesses wird sich außerdem vor allem in der Gesichtererkennung zeigen, dass die Reize differenzierbar sind, d. h., dass es bestimmte Reize sind, die entsprechende Wahrnehmungen ermöglichen. Ergebnisse der Neurowissenschaft können diese Beziehung zwiEine ausführliche Untersuchung zur Unverzichtbarkeit der Außenwelt und eine diesbezügliche Kritik am Radikalen Konstruktivismus findet sich in WuB, S. 26 ff.; der dort verwendete Begriff des Zugrundeliegenden erfasst die vom Subjekt unabhängigen Reizquellen der Außenwelt.
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Mensch und Umwelt
schen Mensch und Umwelt deutlich machen und aus den Emotionen das Bewertende erklären, worauf es in einer Ethik ankommt. Umgekehrt kann der von den Neurowissenschaften beschriebene Prozess der Aufnahme von Sinnesreizen, ihre neuronale Verarbeitung im Gehirn und eine daraus als Repräsentation der Reize hervorgebrachte Umwelt aus der Theorie des Radikalen Konstruktivismus als ein Wissen über die Welt begründet werden. Dem Menschen entstehen Wahrnehmungen und Emotionen aus seinen Kommunikationsschritten mit seiner Umwelt. Es ist ein subjektives Wissen. Hinsichtlich einer ethischen Urteilsbildung ermöglicht die Theorie eines konstruktivistischen Wissens aus den Reizen der Umwelt die Herleitung einer grundlegenden ethischen Orientierung. Eine Entfaltung der Theorie wird in den folgenden Abschnitten zunächst die Bedeutung der Emotionen für Handlungsorientierungen eines Menschen zeigen und darauf aufbauend einen Grundsatz ethischer Orientierung begründen.
II.
Informationen ber die Umwelt aus der Wahrnehmung
Wahrnehmungen eines Subjektes aus Kommunikationsprozessen mit seiner Umwelt sind seit Mitte des 20. Jahrhunderts von den Neurowissenschaften erforscht und philosophisch behandelt worden. Herausgearbeitet sind zunächst die Prozesse der Wahrnehmung. 7 Deutlich wird aus ihnen, dass die Reize der Umwelt eine für die Wahrnehmung bestimmende Rolle spielen; dass ein Subjekt aber keine Außenwelt abbildet, sondern seine subjektiven Ergebnisse über seine Umwelt herausbildet; klar wird auch, dass die Prozesse für die unterschiedlichen Arten der Wahrnehmung nicht nur durch die Reizaufnahme der verschiedenen Sinnesorgane, sondern auch durch ihnen eigentümliche neuronale Prozesse an verschiedenen Gehirnorten unterscheidbar sind. Für das Wahrnehmungsgeschehen sind drei Aspekte bestimmend: die Reizaufnahme und Reizverarbeitung durch die Sinnesorgane, die daraus entstehenden neuronalen Prozesse und die Verarbeitung der Signale an bestimmten Hirnorten. Ungeklärt ist bisher, wie es aus einem neuronalen Prozessgeschehen zu Bedeutungen kommt, wieso aus bestimmten neuronalen Prozessen Ausführliche Untersuchungsergebnisse und deren Methoden finden sich bei Roth, Singer, Kandel, Ploog und Pöppel.
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Informationen ber die Umwelt aus der Wahrnehmung
eine vom Subjekt hervorgebrachte Bedeutung wie z. B. »rot« entsteht. Dieser ungeklärte Übergang kann hier außer Acht gelassen werden, da es auf den Zusammenhang zwischen differenzierten Reizen und ihnen entsprechenden differenzierten Verarbeitungsergebnissen ankommt wie auf den Nachweis, dass Reize eine notwendige Bedingung für Wahrnehmung sind. Wahrnehmung lässt sich nicht auf die neuronale Verarbeitung reduzieren, aber ohne neuronale Verarbeitung findet keine Wahrnehmung statt (WuB, S. 53). Die Sinnesorgane nehmen in dem Wahrnehmungsprozess eine Mittlerfunktion zwischen Umwelt und Gehirn ein, wobei sich die Umwelt in Reizen zeigt, die in den Sinnesorganen eine Reaktion auslösen und als Signale weitergeleitet werden. 8 Das Gehirn gehört zum Nervensystem als dessen zentraler Teil und ist mit fast jedem Winkel des Körpers verknüpft. Es besteht aus einer Vielzahl von Nervenkörpern und ihren Verbindungen; es ist anatomisch unterteilt in mehrere Regionen mit unterschiedlichen Funktionen. In seinen neuronalen Verschaltungen werden die Reize aus den Sinnesorganen zu Wahrnehmungen verarbeitet. 9 Zwischen Sinnesorganen und Gehirn herrscht eine Arbeitsteilung: Die Sinnesorgane übersetzen die Umweltreize in die Sprache des Gehirns; die Sprache des Gehirns sind neuronale Erregungszustände. Aus der Spezifizierung der Sinnesorgane und der Art ihrer Impulse lässt sich auf eine Differenzierung der Reize der Umwelt schließen. Die Sinnesorgane unterscheiden sich durch ihre Fähigkeit, unterschiedliche Energieformen wie Lichtenergie, mechanische, thermische oder chemische Energie aufzunehmen und sie in verschiedene Sinnesmodalitäten umzuwandeln, was ihre Spezialisierung ausmacht (Kandel 1996, S. 378 f.) und in die einheitliche bioelektrische Sprache des Gehirns umzuformen; sie müssen die Schlüsselmerkmale eines Reizes weitergeben und es muss die sensorische Mitteilung abgestimmt werden, um Unterscheidungskapazitäten zu erreichen. 10 Mit dem Begriff Reiz werden sensorische Informationen aus der Umwelt bezeichnet, die in verschiedenen Energieformen auftreten. Signale werden die von den Sinnesorganen erzeugten Erregungszustände im Nervensystem genannt; vgl. Roth (1997, S. 92 ff.); Ploog (1999, S. 541) spricht auch bei einer Kommunikation zwischen einem Individuum als Sender und einem als Empfänger von sozialen Signalen. 9 Ausführliche Beschreibungen des Gehirns und seiner Verarbeitungsprozesse finden sich bei Damasio (1997), Roth (1997), Elsner (2000), Singer (1999) und Kandel/ Schwartz (1996). 10 Kandel/Schwartz (1996, S. 382); zur Umwandlung verschiedener Umweltereignisse in die bioelektrische Sprache des Gehirns vgl. Roth (1987, S. 232). 8
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Nicht jeder Reiz kann ein Sinnesorgan aktivieren, sondern nur solche, die innerhalb eines bestimmten Feldes des Sinnesrezeptors liegen. Die rezeptiven Felder begrenzen eine Kommunikation des Gehirns mit der Umwelt, d. h. es werden nur solche Reize zu einer Wahrnehmung verarbeitet, die den Sensibilitäten der rezeptiven Felder genügen. Die Fähigkeit zur Wahrnehmung hängt vom Bau des Sinnesorgans ab. 11 Da die unterschiedlichen Energieformen der Sinnesorgane in eine »neuronale Einheitssprache« (Roth 1987a, S. 233) der neuronalen Erregungszustände des Gehirns umgewandelt werden, bleibt zu fragen, wie die Differenzierungen der Umweltinformationen 12 trotz einheitlicher Sprache erhalten bleiben und in der Verarbeitung zu einer Wahrnehmung wirksam werden. Möglich wird die Erhaltung und Weitergabe der Differenzierungen aus den Sinnesorganen durch ihre Verbindung mit bestimmten Gehirnregionen entsprechend einer Topographie des Gehirns. Die Verknüpfungen verlaufen über mehrere von einander getrennte, parallele Bahnen, wovon jede eine bestimmte Sinnesmodalität weitergibt. 13 Die Signale aktivieren über sensorische Bahnen bestimmte rezeptive Gebiete; die Anordnung der Reize benachbarter rezeptiver Gebiete wird in der Weitergabe bis in die höheren Verarbeitungsebenen im Zentralnervensystem beibehalten. 14 Vereinfacht gesagt wird die differenzierte Ordnung der Reize aus den Sinnensorganen an das Gehirn weitergegeben. Strittig ist in der Beschreibung der Wahrnehmungsprozesse deren Repräsentanz einer Umwelt. Roth betont, dass eine Ausdifferenzierung der Geschehnisse der Außenwelt zwar durch die modalitätsspezifischen Unterschiede deutlich würden; dass aber die unterschiedlichen Empfindungsqualitäten aus Riechen, Sehen, Hören usw. Roth (1978, S. 70) beschreibt die Unterschiede des visuellen Systems bei Wirbeltieren. 12 Zum Begriff der Information hat Roth (1997, S. 105–108) unterschiedliche Theorien ausführlich behandelt. Information beschreibt die Aufnahme von Reizen aus Quellen der Umwelt durch ein Individuum; er vergleicht es mit einem Bild von Sender und Empfänger. Aus neurowissenschaftlicher Perspektive ist es wichtig, zu betonen, dass es dabei um keine Übertragungen von Bedeutungen geht, sondern um Signale aus Reizen der Umwelt. Bedeutungen bringt das Individuum in seinem kognitiven System hervor. Wie aus Signalen Bedeutungen entstehen, ist bisher ungeklärt. 13 Kandel/Schwartz (1996, S. 404) beschreibt in einer anschaulichen Übersicht die drei wichtigsten Bahnen des visuellen Systems, von denen jede eine Art von visueller Information übermittelt. 14 Kandel/Schwartz, S. 382 f.; für das visuelle System vgl. seine Darstellung S. 404. 11
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Informationen ber die Umwelt aus der Wahrnehmung
nichts mit den Geschehnissen der Außenwelt zu tun hätten, sondern reine Konstrukte seien (Roth 1997, S. 318). Damasio nennt es dagegen eine wirksame Lösung der Natur, die Außenwelt durch die Veränderungen zu repräsentieren, die sie im Körper hervorruft (Damasio 1997, S. 306). Die Strittigkeit erklärt sich aus einem unterschiedlichen Verständnis dessen, was mit Außenwelt gemeint sein könnte. Ohne hier eindeutige Antwort geben zu können, was als Außenwelt zu beschreiben sein könnte, ist dagegen unstrittig, dass es Reize der Umwelt sind, die eine unverzichtbare, d. h. notwendige Bedingung sind, um Wahrnehmungen herauszubilden. Verweisen lässt sich auch auf eine Differenzierung der Reize der Umwelt, die durch die Ausformung unterschiedlicher Sinnesorgane für die Aufnahme verschiedener Energieformen deutlich wird, die sie zu Signalen verarbeiten. Selbst der Einwand, all diese Begrifflichkeiten seien selbst schon Produkte des Gehirns, kann nicht einen empirischen Befund widerlegen, dass es bestimmte Reize der Umwelt sind, die als notwendige Bedingung für eine entsprechende Herausarbeitung des Wahrnehmungswissens unverzichtbar sind. Mit Topographie des Gehirns wird eine Spezialisierung funktionaler Areale des Gehirns auf bestimmte Aufgaben beschrieben. 15 Sie ist ein Prinzip des Verarbeitungsortes und ist verhältnismäßig gut erforscht; dagegen sind die sehr komplexen Prozesse, die in den verschalteten Hirnbereichen während geistiger Prozesse stattfinden, weniger gut bekannt. Die Frage nach einem Bewusstsein wie auch die nach dem Zustandekommen von Bedeutungen, von Erinnerung und Lernvorgängen zeigen erst Anfangsergebnisse. 16 Bisher bekannte funktionale Areale in dieser topographischen Ordnung sind: der visuelle Cortex, der auditorische Cortex, ein Areal für Sprachfunktionen; ein Areal für kognitives Verhalten und Bewegungsplanung; ein Areal für Gefühle und Gedächtnis im limbischen Cortex; ein somato-sensorisches Rindenfeld, das der Körperempfindung dient. 17 Roth (1997, S. 110 f. u. 1987, S. 234) erläutert wie das Gehirn nach einem topologischen Prinzip die verschiedenen Umweltereignisse in Gestalt unterschiedlicher Energieformen verarbeitet. 16 Roth (2001, S. 188 ff.) diskutiert verschiedene Hypothesen zu dem Zusammenhang von Hirnprozessen und Bewusstsein; vgl. auch Dörner (2000, S. 147 ff.). 17 Vgl. Roth (1997, S. 33 ff.); Kandel/Schwartz (1996, S. 15 und 399): dort findet sich eine sehr ausführliche Darstellung der Areale, die für das Sehen zuständig sind; vgl. auch: Singer (1999, S. 268); Engel/König (1998, S. 164); Frackowiak (2004, S. 169); Friederici (2000, S. 72 f.). 15
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Als Beweis für das Ortsprinzip des Gehirns zur Erzeugung von Wahrnehmungen haben sich mehrere Methoden erfolgreich gezeigt. Es sind Untersuchungen nach Hirnverletzungen; durch sie wird oft das Gehirn für bestimmte Reize unzugänglich. 18 Es sind Untersuchungen von künstlich erzeugten Wahrnehmungen: Mit Hilfe elektrischer Stimulation kann man Wahrnehmungsinhalte künstlich hervorrufen wie z. B. Farb- und Bewegungshalluzinationen. Versuchspersonen sahen z. B. einfache, meist farbige Gegenstände, die sich in verschiedene Richtungen bewegten, sie hörten nur einfache Laute oder hatten Körperempfindungen wie Jucken und Kribbeln. Allerdings wurden diese Halluzinationen von den Versuchspersonen nicht mit natürlichen Reizzuständen verwechselt. 19 Hirnfunktionen werden durch Abbildbarkeiten mittels unterschiedlicher Verfahren messbar und sichtbar gemacht; eines der bekanntesten ist die Positronen-Emissions-Tomographie (PET): Das ist ein bildgebendes Verfahren, das lokale Veränderungen der Gehirndurchblutung und des Gehirnnährstoffwechsels, die geistige Aktivitäten begleiten, sichtbar macht. 20 Kandel erläutert anhand von PETAufnahmen, wie visuelle Reize von unterschiedlicher Komplexität die entsprechenden unterschiedlichen Hirngebiete aktivieren; er zeigt auch die im Hirn einer Versuchsperson sichtbar gemachten Aktivitätsmuster, die durch auditorische Stimulationen bei der Versuchsperson, der man eine Geschichte vorlas und ihr die Aufgabe stellte, sich bestimmte Sätze zu merken, entstanden (Kandel, S. 78 ff.). Wenn die Spezifizierung der Sinnesorgane bis in das Gehirn in Gestalt des Ortsprinzip durchgehalten wird und die Verarbeitung der Damasio (1997, S. 88 ff.) beschreibt Ausfälle der Reizverarbeitung an bestimmten Gehirnorten nach Hirnverletzungen und leitet ein lokales Verarbeitungsprinzip im Gehirn ab. 19 Roth (1987, S. 233) und (1997, S. 111); Kandel/Schwartz (1996, S. 361) beschreibt die Lokalisierung bestimmter Funktionen anhand von Untersuchungen beider getrennten Hirnhälften, die möglich wurden, nachdem bei Epilepsiepatienten wichtige Verbindungsbahnen durchtrennt worden waren. 20 Vgl. Kandel/Schwartz (1996, S. 17); Roth (1997, S. 224). Zur Beobachtung und Messung von Reaktionen des Gehirns sind unterschiedliche Verfahren entwickelt worden: 1. die Elektroencephalographie, 2. die Magnetencephalographie (vgl. Friederici, S. 74); als bildgebende Verfahren 3. die Positronen-Emissions-Tomographie und 4. die Kernspintomographie; vgl. Friederici (2000, S. 72) und Frahm (2000, S. 54 ff.), deren Vor- und Nachteile die genannten Verfasser behandeln; zu den Methoden bildgebender Verfahren vgl. Jäncke (2005). 18
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Sinnesimpulse im Gehirn im Zusammenwirken der Ortszustände zur Konstruktion des Wahrnehmungsobjektes führt, dann lässt sich aus diesem Befund auf differenzierte Reize der Umwelt für eine Wahrnehmung schließen. Die Verarbeitung der Reize in den verschiedenen Rezeptortypen der Sinnesorgane besteht aus der Umwandlung der unterschiedlichen physikalischen und chemischen Umweltreize in neuroelektrische und neurochemische Signale, die spezifische Reaktionen der Zellen auslösen. 21 Die Verarbeitung der Signale aus den Sinnesorganen leisten in den Hirnregionen die neuronalen Prozesse. Sie beschreiben die Vorgänge in den Nervenzellen – den Neuronen, die beitragen, dass aus den Signalen der Sinne Wahrnehmungen hervorgehen. Zur Verarbeitung der sensorischen Informationen in den Neuronen gehört auch eine Programmierung von Reaktionen, die dem Lernen und Gedächtnis dient (Kandel, S. 24). Auch wenn Singer meint, das Wissen von der Welt sei in der neuronalen Verschaltung der Nervenzellen niedergelegt, bleibt darauf hinzuweisen, dass die Zusammenhänge zwischen neuronalen Prozessen und der Entstehung von Wahrnehmung bisher nicht restlos geklärt sind (Singer 1999, 268 u. 274). Es gibt jedoch eine Reihe von Beobachtungsergebnissen, die zum Verständnis der Konstituierung des Wahrnehmungsobjektes beitragen. Es gibt Neuronen, die für eine Erkennung bestimmter Eigenschaften spezialisiert sind, wie man z. B. solche gefunden hat, die an der Erkennung von bestimmten Eigenschaften der Gesichter beteiligt sind (Roth 1997, S. 173). Diese Gesichterzellen sind Nervenzellen, die selektiv auf Gesichter ansprechen. Beobachtet wurden auch solche, die auf die Erkennung einer Konturorientierung spezialisiert sind. 22 Ähnlich wie die verschiedenen Verarbeitungsorte des Gehirns für differenzierte Informationen aus der Umwelt verweisen die neuronalen Prozesse auf weitergehende Differenzierungen der Informationen aus der Umwelt. Es sind Eigenschaften der Umweltreize, die Ausführliche Beschreibungen der neuronalen Vorgänge finden sich bei Roth (1997, S. 92 f.), Kandel/Schwartz (1996, S. 32), Damasio (1997, S. 52 ff.). 22 Singer (1999, S. 272); Engel/König (1998, S. 159) beschreiben Reaktionen bestimmter visueller Neuronen auf ganz bestimmte Ausprägungen von horizontalen Konturorientierungen; s. auch dazu ihre Skizzen 1 u. 2 (S. 161 f.); Roth (1997, S. 137 ff.) diskutiert Modellversuche, die zeigen, welche Leistungen bestimmte Neuronen in der Retina und im Tectum unterschieden nach Typen in der Beute-Freund-Erkennung einer Erdkröte leisten. 21
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Roth einteilt in: die Modalität des Reizes wie ein visueller, auditorischer oder somatosensorischer Reiz; die Qualität, das sind bei visuellen Reizen z. B. Farbe und Helligkeit, bei auditorischen Reizen Lautstärke und Tonhöhe; die Intensität wie dunkel oder hell, laut oder leise, stark oder schwach; und schließlich die Zeitstruktur eines Reizes, ob er kurz oder lang andauert, periodisch oder aperiodisch ist (Roth 1997, S. 108). Es leuchtet ein, von den Modalitäten der Sinneswahrnehmungen auf die Modalitäten der Umweltreize zu schließen, weil letztere die ersteren mitbestimmen. Wie gelingt die Herausbildung eines Wahrnehmungsgegenstandes aus einer Vielzahl serieller oder parallel verlaufender neuronaler Prozesse? In der Sprache einer neurobiologischen Prozessbeschreibung gibt es neuronale Reaktionskonstellationen, die eine Einheit wie z. B. ein Gesicht repräsentieren. Reaktionskonstellationen bedürfen aber einer Quelle. Ein Hinweis auf eine Erklärung einer Einheit könnte aus den Reizquellen der Umwelt kommen: Wo aus einer Quelle gleichzeitig Reize von unterschiedlichen Sinnesorganen wie z. B. durch die Augen und die Ohren aufgenommen werden, wird die Einheit der Quelle selbst zum Grund der Herausbildung des einen Wahrnehmungsgegenstandes aus unterschiedlichen Signalen. Dazu gibt es bisher keine Untersuchungsergebnisse. Vorstellbar sind Forschungen, die diesem Hinweis nachgehen und vielleicht bestätigen. Singer (2000, S. 194 ff.) stützt diese Vermutung zur Bindung der Reize. Gegenüber der Behauptung, alle Wirklichkeit sei ein subjektives Konstrukt, hat sich jetzt gezeigt, dass der Konstruktion etwas vorausgeht: das sind das Gehirn, die Sinnesorgane, der Leib, das autonome Selbst und die Reize. Die Theorien, die Wahrnehmung aus einem Prozess ihres Zustandekommens erklären wie der Radikale Konstruktivismus und die Neurowissenschaften, mussten diese Voraussetzungen zugestehen. Was von den Konstruktivisten und den Neurowissenschaftlern als Zutaten aus der Umwelt, als Widerstand auf der Suche nach einem Wahrnehmungsgegenstand oder als Umweltinformation genannt wurde, kann mit Hilfe der Spezifizierung der Sinnessysteme, aus der Topographie des Gehirns und aus der Spezifizierung der neuronalen Prozesse als Differenzierung der Reize der Umwelt nachgewiesen werden. Ohne dass für alle Sinnessysteme schon eine umfassende Differenzierungsübersicht vorliegt, können aus den inzwischen bekannten Klassifizierungen vor allem des gut erforschten visuellen, aber auch aus dem auditorischen System, differenzierte Reize der Umwelt nachgewiesen werden: im visuellen 42
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Informationen ber die Umwelt aus der Wahrnehmung
System für Farbe, Form, Umrisse, Tiefe, Bewegungsgeschwindigkeit und -richtung, räumliche Beziehung, Kontrastgrenzen, Leuchtdichte, Wellenlänge und Gesichtermerkmale; im auditorischen System für Druckwellen unterschiedlicher Frequenzen und räumliche Lokalisierung. Hinzu kommen die Differenzierungen des Tastsinns und seiner Lokalisierungen im Gehirn. Erste Überlegungen zu einer möglichen Verallgemeinerung der Wahrnehmungsergebnisse hatten auf Begriffe wie Konstanz, Gleichheit und Invarianz verwiesen. Die empirische Erfahrung lehrt, dass sich eine Beobachtung unter gleichen Bedingungen wiederholen lässt, für den gleichen wie für einen anderen Beobachter. Es hatte sich gezeigt, dass einer Wahrnehmung wie z. B. dem freien Fall eines Steines etwas zugrunde liegt. Üblicherweise wird eine vorsichtige Annäherung an eine Allgemeingültigkeit der Einzelbeobachtung aus einer Induktion hergeleitet. Eine Rechtfertigung der Konstanz einer Erfahrung bieten jetzt die Reize der Umwelt. Dieses könnte im Verbund mit gleichbleibenden subjektiven Bedingungen als Quelle die Konstanz des Wahrgenommen erklären. Wenn die Wahrnehmung nur von subjektiven Bedingungen abhängig wäre, sich aber ein gleiches Ergebnis bei verschiedenen Beobachtern zeigte, wie sollte das erklärt werden können? Und wie sollte man sich die Wahrnehmung eines Gegenstandes bei einer Betrachtung aus unterschiedlichen Perspektiven als denselben erklären können, obgleich jedes Mal ein verändertes Wahrnehmungsergebnis auftritt wie z. B. bei einem Kreis aus einer Schrägsicht die unterschiedlichen Ellipsen; und doch wird er als Kreis erkannt. Auch wechselnde subjektive Bedingungen wie z. B. die Benutzung einer Brille oder Einschränkungen des organischen Sinnesvermögens führen nicht zu prinzipiell anderen Wahrnehmungsergebnissen, vielmehr zu Undeutlichkeiten, die als Undeutlichkeiten bemerkt werden. Sie können doch nur bemerkt werden, weil der Wahrnehmende nicht nur seine subjektiven Bedingungen für maßgeblich hält, sondern darüber hinausgehende Einflüsse der Umwelt einbezieht. Reize der Umwelt sind geeignet, Konstanz zu sichern. 23 Hinzuweisen bleibt noch darauf, dass die neuronalen Prozesse nicht von vornherein und endgültig determiniert, sondern durch Lernfähigkeit veränderbar sind. Die Herausbildung neuronaler Verschaltungsmuster im Zusammenhang mit der Entwicklung des Mulligan (1997, S. 137–150) erklärt die Invarianz von Wahrnehmungen trotz wechselnder Ausdrucksformen und Anzeichen durch Konstanzphänomene.
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kindlichen Gehirns beschreibt Hüther: Die vom assoziativen Cortex generierten Erregungsmuster würden in immer stärkerem Maße zu unseren Abbildern der Außenwelt geformt und stabilisiert (Hüther, S. 111 f.). Hinzu kommen soziale Verhältnisse und all das, was sich in onto- und phylogenetischer Entwicklung herausgebildet hat. 24 Jedes Individuum und jede Art bildet seinen Wahrnehmungsgegenstand heraus. Man wird wegen der individuellen Einflüsse nicht auf eine für alle gleichermaßen entstehende Wahrnehmungswelt schließen dürfen; man wird aber dort, wo Wahrnehmungen entstehen, auf Umweltreize hinweisen dürfen, die nicht irgendeine Wahrnehmung ermöglichen, sondern eine den Reizen entsprechende. Wahrnehmung bildet nicht die Umweltereignisse ab, sondern sie ist ein subjektives Konstruktionsergebnis. Sie ist ein schöpferischer Prozess eines Individuums, das Informationen aus der Umwelt verarbeitet (Roth 1997, S. 125). Die Konstruktion des Wahrgenommenen aus einem schöpferischen Prozess umfasst individuelle Einflüsse sowie Einflüsse aus den Umweltreizen; Singer beschreibt diesen Prozess so: Wahrnehmungsphysiologische Untersuchungen zeigen, »dass Wahrnehmung nicht als passive Abbildung von Wirklichkeit verstanden werden darf, sondern als das Ergebnis eines außerordentlich aktiven, konstruktivistischen Prozesses gesehen werden muss, bei dem das Gehirn die Initiative hat. Das Gehirn bildet ständig Hypothesen darüber, wie die Welt sein sollte, und vergleicht die Signale von den Sinnesorganen mit diesen Hypothesen. Finden sich die Voraussetzungen bestätigt, erfolgt Wahrnehmung nach sehr kurzen Verarbeitungszeiten. Treffen sie nicht zu, muss das Gehirn seine Hypothesen korrigieren, was die Reaktionszeit verlängert.« (Singer 2000, S. 200).
III. Informationen ber die Umwelt aus den Emotionen Allgemeines Wahrnehmungen informieren ein Individuum über seine Umwelt. Die Informationen hatten sich als Ergebnisse aus der Verarbeitung der Reize ergeben. Wie verhält es sich mit den Emotionen? Die alltägliche Erfahrung zeigt, dass sie eng verknüpft sind mit Wahrneh24
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Vgl. Ploog (1989, S. 1 ff.); Singer (1989, S. 45 ff.).
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Informationen ber die Umwelt aus den Emotionen
mungen; kann man auch bei ihnen von Informationen über die Umwelt sprechen, vergleichbar denen aus der Wahrnehmung, und liegen ihnen ebenso Reize der Umwelt zugrunde? Mit Emotionen werden Zustände wie Lust, gehobene Stimmung, Euphorie, Ekstase ebenso wie Unlust, Traurigkeit, Verzweiflung, Depression, Furcht, Angst, Ärger, Feindseligkeit und Gelassenheit bezeichnet. Neben dem Begriff der Emotionen wird auch von Gefühlen, Empfindungen und Gemütsbewegungen gesprochen, bisweilen wird zwischen ihnen unterschieden. Kandel meint, in den Emotionen äußere sich ein Erleben von Gefühlen, die gleichzeitig in Körperreaktionen ihren Ausdruck fänden (Kandel, S. 609). Damasio unterscheidet in den emotionalen Prozessen Gefühl von Empfindung: Dem Begriff Gefühl ordnet er eine Bewertung der Reize zu, die sich in körperlichen Reaktionen auswirken, z. B. wenn jemand angesichts eines bellenden Hundes eine Gänsehaut spürt, Angst empfindet und sich der Angst bewusst wird. Empfindungen dagegen nennt er den Anblick der körperlichen Reaktion wie hier der Gänsehaut, also ihrer kognitiven Verarbeitung. Unabhängig von Damasios Unterscheidung treten hier die beiden Auswirkungen der Reize zutage: körperliche Reaktion und kognitive Verarbeitung. 25 Nozick hatte zwischen Emotionen und Gefühlen unterschieden. Gefühl ist bei ihm Ausdruck der inneren Erfahrung eines Subjekts, während er Emotionen einem kognitiven Prozess zuordnet, in dem ein Subjekt den Wert einer Sache ergründet, der einen daraus erwachsenden psychischen Zustand wie Stolz rechtfertigt (Nozick (1991), S. 96 ff.). Ploog schließlich nennt sie ein Signalsystem unabhängig von der Sprache (Ploog 1980, S. 8). In den Begriff seien auch Affekte als meist kurz andauernde Gemütsbewegungen eingeschlossen (Ploog 1999, S. 526). Ob man innerhalb der emotionalen Reaktionen einer Unterscheidung zwischen Gefühl und Empfindung zustimmt, ob man einer Trennung der Gefühle von den Emotionen folgt (LeDoux, S. 49 f.) oder ob man keinen Unterschied in den Reaktionen macht: Unstrittig ist, dass ein Reiz bzw. ein Umweltereignis als Auslöser Roth (1997, S. 26 ff.) beschreibt Kognition mit Orientierung eines Organismus in seiner Umwelt, worunter Vorgänge wie Wahrnehmen, Denken, Verstehen und Urteilen fallen. Vgl. auch Kandel/Schwartz (1996 S. 608 f. und 618). LeDoux beschreibt Emotion und Kognition als getrennte miteinander wechselwirkende mentale Funktionen. Weil sich Emotionen gedanklich erfassen ließen, konnte sich die Kognitionswissenschaft um ihre Erforschung bemühen (S. 74 ff.).
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erforderlich ist. Unstrittig ist auch, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Reizaufnahme, Reizreaktionen im Körper und in kognitiven Prozessen des Gehirns und einer Reizbewertung nach Reaktionsmustern bewusst oder unbewusst, angeboren oder erlernt. 26 Die von einem Reiz ausgelösten Emotionen und die Körperreaktionen sind eng verknüpft, wenn auch strittig ist, ob erst die Gefühle und dann die Körperreaktionen auftreten oder umgekehrt. Möglicherweise gibt es gar keine Grenze zwischen beiden Reaktionen (Ploog 1999, 527 f.). Da bisher keine exakte Definition der Emotionen von Neurobiologen vorgelegt worden ist, soll die folgende Beschreibung genügen: Es sind Gefühle und Stimmungen, ausgedrückt in Reaktionen und Verhalten des Körpers und ihrer geistigen Verarbeitung. 27 Sind Emotionen von Motivationen zu unterscheiden? Kandel nennt dafür ein Kriterium: Emotionen seien das, was eine Person wisse. Zu solchen kognitiven Aspekten rechnet er Wahrnehmungen, aber auch Vorstellungen, Empfindungen und Gefühle. Motivationen zeigten dagegen das, was eine Person brauche; er verweist auf Triebe individueller Bedürftigkeit wie Hunger, Durst oder Sexualität (Kandel, S. 626). Eine Unterscheidung nach diesen Kriterien des Wissens und Brauchens mag bezweifelt werden, weil sie sich überschneiden wie z. B. Angst, die der Betroffene weiß und die zugleich ein Bedürfnis nach Hilfe entfacht. Sinnvoll erscheint dagegen eine Unterscheidung zwischen Emotionen und Trieben 28 . Triebe lassen sich als angeborene Grundverfassung für biologische Bedürfnisse bei Lebewesen beschreiben, die eine Empfänglichkeit für entsprechende Reize steigern; Emotionen dagegen als Zustände, die auf Reize zurückgehen. Bei Ploog findet sich diese Unterscheidung; er rechnet beide zu einem primären Motivationssystem und gibt den Emotionen den bestimmenden Vorrang. Als Beispiel nennt er Hunger, der bei Angst vergeht, und Durst, der bei Erläuterungen zu den komplizierten Vernetzungen der Gehirnregionen und des Nervensystems finden sich bei Kandel/Schwartz (1996, S. 621) für die Hörbahnen und Emotionen; bei Damasio (1997, S. 184 u. 190) für Gefühle und Empfindungen. 27 Vgl. auch Kandel/Schwartz (1996, S. 608); Damasio (1997, S. 193) beschreibt Gefühle als eine Zusammensetzung aus geistigem Bewertungsprozess und Körperzustand. 28 Damasio (S. 162 ff.) sieht Triebe und Instinkte durch angeborene Schaltkreise repräsentiert; die durch sie bewirkten biologischen Verhaltensweisen seien durch zusätzliche Kontrollschichten vor allem bei menschlichen Gesellschaften zu Wandel und Anpassung in der Lage. 26
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Ekel vor stinkendem Wasser verschwindet (Ploog 1999, S. 527). Ob den Emotionen dieser Vorrang zukommt, mag bezweifelt werden. Es gibt Fälle, in denen der Trieb sich überlegen zeigt wie z. B. bei Hunger in einer lebensbedrohenden Lage, in der er den Ekel vor einer Nahrung überlagert. In dem hier behandelten Zusammenhang bleibt unter Einbeziehung der Triebe als Grundverfassung entscheidend nachzuweisen, inwiefern Emotionen von Reizen der Umwelt hervorgerufen werden. Nachzuweisen wird sein, dass es sich bei Trieben und Emotionen um Zustände handelt, die aus ihnen eigentümlichen, von der Wahrnehmung unterscheidbaren Prozessen hervorgehen und ein Wissen 29 über die Umwelt vermitteln. Ein historischer Rückblick zeigt, dass Erkenntnis wiederholt unter Beteiligung der Gefühle erklärt worden ist. 30 Scheler hatte in einer Kritik an der überlieferten Auffassung der Gefühle solche Entwürfe, in denen den Gefühlen eine Erkenntnis gewährende Leistung zugestanden worden war, von solchen unterschieden, die einen Erkenntniszugang zur Welt und zum Sein durch Gefühle leugneten, weil sie bloß Subjektives erschließen. 31 Giambattista Vico gehört zur ersten Gruppe. Er hat eine Erkenntnis der Natur und Geschichte aus der Entstehung der Sprache untersucht und den Anteil gezeigt, den Emotionen an der Begriffsbildung haben. Er nennt die Ursprünge der Begriffe poetische – im Unterschied zu rational begründeten –, weil sie aus der Wahrnehmung der Menschen verbunden mit ihren Empfindungen, Leidenschaften und Affekten wie Angst, Furcht und Bewunderung hervorgegangen seien (Vico 1990, S. 170 ff.). Viele Mythen machten deutlich, dass in mythischer Zeit beobachtetes Geschehen einem göttlichen Charakter zugeordnet wurde. Beispielsweise haben die Menschen Blitz und Donner wegen ihres Schreckens vor einer gegenwärtigen Macht mit dem Wirken Jupiters erklärt; der göttliche Charakter des Namens wurde zum phantastischen Allgemeinbegriff. 32 Dieser entstand aus einer Verbundenheit der WahrZum Begriff des Wissens s. Abschnitt D I. Bei Roth (2001, S. 257 ff.) findet sich ein philosophiegeschichtlicher Überblick über den Erkenntniswert der Emotionen. 31 Coriando (S. 17 ff.) hat Schelers Auffassung der Gefühle ausführlich untersucht und sie zum Leitfaden einer Affektenlehre gewählt, die Individuum und Welt durch das Emotionale verbunden sieht. 32 Vico (1990, S. 176 und 209); vgl. auch Kurt Hübner (1985), der einen sehr ausführlichen Überblick über die Mythosdeutung gibt. 29 30
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nehmung, hier von Blitz und Donner, mit den von ihnen hervorgerufenen Gefühlen des Schreckens. So ein Urteil ohne Reflexion – wie Vico es nannte – entspringt einem sensus communis, aus einem allen Menschen gemeinsamen Sinn (Vico 1990, S. 93.). Vico begründete diese Art der Begriffsbildung aus dem Nachweis eines Gemeinsinns unter Einwirkung der Gefühle, wie er aus den Wortbildungen frühgeschichtlicher Perioden bei allen Völkern in allen Regionen auf gleiche Weise sichtbar hervortrete. Auch wenn die ethnologischen Beweise nicht immer ganz zu überzeugen vermögen, so ist doch Vicos Vorstellung, Gefühle der Menschen in eine Erkenntnis der Welt einzubeziehen, einleuchtend. 33 Auf die Bedeutung der Gefühle für die Erkenntnis hat in der Mitte des 20. Jahrhunderts Vinding Kruse hingewiesen (Kruse 1960). Er bezeichnet die Gefühle als Grundlage und Wertungsinstanz aller Erkenntnis. Alle Erkenntnisfaktoren wie Gleichheit, Verschiedenheit, Kausalzusammenhang und Gesetzmäßigkeit seien letztlich nur durch Gefühle zu rechtfertigen. Weder Einflüsse aus der Umwelt noch subjektive Formen des Verstandes übten den entscheidenden Einfluss aus, sondern Gefühle. Er rechtfertigt seinen Entwurf aus der Bewährung der Erkenntnis der Menschen in ihrem Streben nach Zufriedenheit. Diese psychologische Erkenntnislehre erinnert als Vorläufer an den späteren Radikalen Konstruktivismus; dort entstand Wissen aus einem Vortasten durch Umgehung der Hindernisse der Umwelt; hier ist es ein Vortasten des Organismus hin zu dem Verhalten, das seine Bedürfnisse am besten befriedigt. Unstrittig scheint mir zu sein, dass Gefühle eine entscheidende Rolle im Zusammenhang mit einer Erkenntnis spielen; strittig ist dagegen, welche Rolle ihnen zugestanden wird. Kruses Aussage, dass ein Gefühl der »Befriedigung der eigenen Bedürfnisse« die entscheidende Grundlage für Erkenntnis sei, sagt in dieser allgemeinen Form kaum etwas aus, weil dieses Gefühl als Grundlage für jede Handlungsentscheidung gelten kann und keine Aussage ermöglicht über die besondere Rolle und über differenzierte Art der Gefühle in ihrer Auswirkung auf eine Erkenntnis. Solange Gefühle nicht selber in ihren möglichen Abhängigkeiten durch sie bestimmende Faktoren erVgl. WuB S. 100 ff.: Dort findet sich eine Betrachtung des sensus communis und ein Verweis auf dessen erste Wurzeln bei Cicero (1994, I, 44 f.); er hat menschliches Wissen vom sittlich Guten und Schlechten der Natur zugeschrieben, die uns Begriffe der Tugenden und der Laster in den Geist gelegt hätte.
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schlossen und ihre differenzierten Einflüsse untersucht werden, ist ein Verweis auf ihre allgemeine Grundlage für Handlungsentscheidungen von geringer Bedeutung. Kruses Untersuchung kann nicht erklären, welches Gefühl bei mehreren miteinander konkurrierenden Gefühlen entscheiden soll wie z. B. bei der Entscheidung über eine Embryonenforschung: Soll man dem Mitleid mit Kranken folgen, denen vielleicht eines Tages geholfen werden kann, oder dem Gefühl der Achtung vor dem entstehenden menschlichen Leben? Da Kruses Entwurf keine Möglichkeit bietet zu prüfen, ob die Gefühle selber einem prägenden Einfluss unterliegen wie z. B. dem aus einer Umwelt, bilden sie allein keine überzeugende Rechtfertigungsinstanz für Handlungsentscheidungen. Der Einfluss der Gefühle auf unser Wissen taucht heute in neurobiologischen Beschreibungen der Wahrnehmung und deren Bewertung auf: Zu klären bleibt, ob es gelingt, solche Gefühle für alle Menschen in gleicher Weise wirksam nachzuweisen und zu zeigen, welchen Ort sie in der Herausbildung unseres Wissens einnehmen. Während es den Untersuchungen der Emotionen aus einem psychologisch fundierten Aspekt auf das subjektive Konstrukt des Erlebnisses ankommt, 34 betrachtet die Neurobiologie die Beziehungen zwischen Emotionen und physiologischen Zuständen. Sie eröffnen die Möglichkeit, zu erforschen, welche biologische Bedeutung den Emotionen zukommt, ob sich Emotions- von Wahrnehmungswissen unterscheiden lässt und den Emotionen dem Wahrnehmungswissen vergleichbare Umweltreize vorausgehen. Körperliche und kognitive Verarbeitung der Reize Es gibt eine zweifache Auswirkung emotionaler Reize: auf den Körper und auf kognitive Prozesse des Gehirns; die Körperreaktionen Sartre unterscheidet eine psychologische Interpretation der Emotionen aus Tatsachen von einer phänomenologischen der Bedeutung, die sich auszuschließen scheinen; er überwindet die Kluft durch eine Erklärung der Emotionen als eine »Transformation der Welt«. Ohne auf Sartres Theorie eingehen zu müssen, soll darauf verwiesen werden, dass er Emotionen aus einem Verhältnis des Menschen zur Welt erklärt; er kennzeichnet Emotionen als Intentions- und Verhaltensänderung auf eine Qualität der Welt. »Eine Emotion verweist auf das, was sie bedeutet. Und was sie bedeutet, ist ja letztlich die Totalität der Beziehung der menschlichen Realität zur Welt« (Sartre 1997, S. 317). Vgl. auch H. Helmchen, F. Henn, H. Lauter, N. Satorius (1999)
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wie Schweißausbruch, Erröten oder Herzklopfen sind Reaktionen des autonomen Nervensystems; parallel zu den autonomen Reaktionen des Körpers gibt es abhängig von der biologischen Ausstattung eine kognitive Verarbeitung der Reize im frontalen Cortex. Die Verarbeitung emotionaler Reize geschieht im limbischen System, im Hypothalamus und im Hirnstamm; das ist eine subcorticale Region. 35 Durch das limbische System werden einerseits körperliche Reaktionen des autonomen Nervensystems ausgelöst, andererseits wirken vom limbischen System ausgehende Erregungszustände auf den frontalen und limbischen Cortex ein, die sich auf Verhalten und Handeln auswirken. 36 Emotionen zeigen sich also auf zweierlei Art: durch Reiz bedingte körperliche Erregungszustände wie z. B. Herzklopfen und durch ein Bewusstwerden des Reizzustandes im Zusammenhang mit einer Wahrnehmung wie z. B. bei einer Wahrnehmung von Dunkelheit sich des Erlebens von Angst bewusst zu werden. Das komplizierte Zusammenwirken der Hirnregionen bei autonomen und kognitiven Reaktionen versuchen unterschiedliche Theorien zu erklären: Es gibt diejenigen, die von Reaktionen des autonomen Nervensystems ausgehen, die ihrerseits in kognitiven Prozessen zum Bewusstsein gelangen; 37 andere Vorstellungen orientieren sich an Hinweisen, dass Emotionen den physikalischen Reaktionen des autonomen Nervensystems vorausgehen; eine weitere Theorie stützt sich auf die Vorstellung, dass Emotionen aus einem dynamischen Prozess zwischen biologischen und kognitiven Faktoren entstünden (Singer 1999, S. 527). Kandel spricht von einer reziproken Kommunikation der beiden Hirnregionen, des Hypothalamus, der an den Emotionen mitwirkt, und den höheren cortikalen Zentren, die kognitive Leistungen hervorbringen, was bedeutet, dass die Emotionen auf die Kognition Einfluss ausüben. Trotz der Unterschiede in den Erklärungen ist folgender Zusammenhang unstrittig: Sinnesinformationen folgen im Gehirn zwei Wegen: einer führt vom Sinnesorgan zur spezifischen Hirnregion, wo eine Verarbeitung zu WahrnehmunVgl. Kandel/Schwartz (1996, Glossar S. 725): Das limbische System ist keine regional exakt abgegrenzte Region, sondern besteht aus verschiedenen Teilen u. a. dem Hippocampus, dem Hypothalamus und der für die emotionalen Reaktionen wichtigen Amygdala; eine übersichtliche Darstellung befindet sich auf S. 612; vgl. auch Singer (1999, S. 277). 36 Kandel/Schwartz (1996, S. 623); vgl. auch Roth (1997, S. 306); Ploog (1999, S. 543): Er nennt die Amygdala einen Knotenpunkt in der Anatomie der Emotionen. 37 Vgl. Pöppel (1989, S. 17 ff.) zur neurophysiologischen Beschreibung des Zustands. 35
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gen stattfindet; ein zweiter Weg führt vom Sinnesorgan in das limbische System, wo einerseits autonome Reize ausgelöst werden und andererseits eine Rückmeldung an die kognitive Region der Sinnesreizverarbeitung erfolgt; durch diese »Interaktion zwischen peripheren und zentralen Faktoren« (Kandel S. 609) werden emotionale Einflüsse auf die Kognition wirksam, aus dem ein bewusstes emotionales Erlebnis entsteht. 38 Ähnlich wie bei den Wahrnehmungen gibt es auch bei den Emotionen unterschiedliche lokale Repräsentationen und spezifische neuronale Entladungsmuster; 39 Lust und Schmerz z. B. – die Grundlagen menschlichen Erlebens und Verhaltens – sind an unterschiedlichen Orten lokalisiert. 40 Der Nachweis lokaler Repräsentation ergibt sich aus medizinischen Befunden wie operativen Eingriffen und Hirnverletzungen, aber auch Experimenten mit künstlichen Reizen. Zu den künstlich erzeugten Emotionen zählen Experimente mit elektrischer Stimulation. Durch elektrische Stimulationen der Amygdala lassen sich bei Menschen unterschiedliche Gefühle erzeugen; eine Auflistung von Aussagen der Patienten nach Reizaufnahme umfasst: Schmerzen, Schwäche, warmes Gefühl, hoffnungsvoll, entspannt, tiefe Gedanken, Vertrauen in die Zukunft (Pöppel 1982, S. 200). Allgemein rufen Läsionen und elektrische Stimulation der Amygdala mannigfache autonome Reaktionen und emotionale Verhaltensweisen hervor (Kandel 1996, S. 617 f.). Einteilung der Emotionen Lassen sich Emotionen so voneinander unterscheiden, dass von ihren differenzierten Ausprägungen her ein Rückschluss auf ihre Quellen in der Umwelt möglich wird? Man findet zunächst Unterscheidungen zwischen fundamentalen primären Emotionen und sekundären; Kandel/Schwartz (1996, S. 620 f.) zeigt eine schematische Übersicht über die Bahnen, die an der Verarbeitung emotionaler Informationen beteiligt sind; Ploog (1999, S. 529) gibt einen Überblick über die Sequenz neuronaler Ereignisse beim mimischen Feedback, der die Verbindung von Neokortex und limbischen System zeigt. 39 Ploog (1999, S. 533); Kandel/Schwartz (1996, S. 565). 40 Pöppel (1982, S. 198 f.) erläutert, im Gehirn von Ratten sei ein empirischer Nachweis des Lustzentrums und eines Zentrums des Schmerzes/Unlust gelungen; das Ergebnis sei auf Menschen übertragbar, wie Versuche gezeigt hätten; auch Pöppel (1989, S. 22) bestätigt ein Lustzentrum; ebenso Kandel/Schwartz (1996, S. 622). 38
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fundamental werden solche bezeichnet, die eine spezifische subjektive Qualität aufweisen und für jede von ihnen wird ein spezifisches neuronales Entladungsmuster angenommen, das sie zur Geltung bringt. Es werden unterschiedlich viele fundamentale Emotionen genannt, z. B. eine Zahl von vier: Erwartung, Wut, Angst und Panik; an anderer Stelle sind es acht: Interesse, Überraschung und Freude als positive Emotionen und Ärger, Angst, Scham, Ekel und Wut als negative Emotionen; aus Untersuchungen des psychiatrischen Bereiches werden sieben genannt: Überraschung, Ärger/Wut, Angst, Freude, Traurigkeit, Abscheu und Verachtung; später traten noch Neugier und Anerkennung hinzu (Ploog 1999, S. 533). Auf den Einwand, dass sich menschliche Gefühle nicht in den aufgezählten fundamentalen Emotionen erschöpfen, nahm man zusätzlich sekundäre Emotionen an, die aus Mischungen der primären Emotionen hervorgehen. Während Ekman sogar in fünfzehn Emotionen unterteilt: Glück/Vergnügen, Ärger, Verachtung, Zufriedenheit, Ekel, Verlegenheit, Aufgeregtheit, Furcht, Schuldgefühl, Stolz, Erleichterung, Trauer, Befriedigung, Sinneslust und Scham, ohne primäre und sekundäre zu unterscheiden, bezweifelt Ploog, dass eine Einteilung in primäre und sekundäre Emotionen überhaupt dem heutigen neurobiologischen Systemverständnis entspreche. Er hält ein Muster der Verästelung für angemessener, durch das für Emotionen spezifische zerebrale Repräsentanz an einem Ort herausgebildet wird (Ploog, S. 535). Diese Auffassung würde für eine große unbeschränkte Vielfalt der Emotionen sprechen, die ein Nebeneinander, eine Überlagerung und Mischungen zulässt. Hinsichtlich ihrer Repräsentanz im Gehirn würde das bedeuten, das die spezifischen Neuronen ebenfalls nicht einer abgegrenzten Einteilung gegeneinander unterliegen, sondern eine Vielfalt bilden, ähnlich den Wahrnehmungsprozessen, bei denen sich als unwahrscheinlich herausgestellt hat, das jedem Merkmal ein Neuron entspricht. Stattdessen nimmt man Neuronenpopulationen an, die eine Vielfalt von Reizen repräsentieren können. Auch wenn man einerseits keine Zuordnung von Neuronen zu bestimmten Emotionen durchgehend nachweisen kann, wird andererseits nicht bestritten, dass differenzierte Reize ihnen zugeordnete zerebrale Prozesse bewirken, die bestimmte Emotionen repräsentieren. 41 Damasio (1997, S. 176 f.) erläutert, dass neurobiologische Grundvorgänge partielle Erklärungen für Gefühle liefern können.
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Eine weitergehende Spezifizierung von Emotionen lässt ihre emotionalen Reizquellen deutlich hervortreten, besonders am Beispiel des gut erforschten visuellen Systems, das zugleich den Zusammenhang von visueller Wahrnehmung und Emotionen zeigt. Als geeignet erweisen sich Ausdrucksbewegungen von Gesichtern, weil sie einen Zusammenhang von Wahrnehmung und emotionalen Prozessen veranschaulichen: Da ist auf Grund eines Reizes ein autonomes emotionales Reaktionsmuster, dem eine mimische Ausdruckweise zugeordnet wird; die mimische Ausdrucksbewegung erzeugt durch Rückkopplung ins Bewusstsein eine subjektive Emotion; und schließlich induziert eine einfühlende Betrachtung unterschiedlicher Gesichtsausdrücke entsprechende Emotionen bei dem Betrachter. 42 Die Beziehung zwischen mimischen Ausdrucksbewegungen und neuronalen Programmen ist so eng, dass sie sich gegenseitig erzeugen können: Neuronale Programme aktivieren mimischen Ausdruck und umgekehrt aktivieren Ausdrucksbewegungen das zentral nervöse Erregungsmuster. 43 Ploog folgert aus der Beziehung von Ausdrucksbewegungen und Emotionen, dass in subkortikalen Zentren »emotionsspezifische Programme, unterschiedlich für jede Emotion, lokalisiert« (Ploog 1999, S. 528) sind. Allgemeiner ausgedrückt: Für jede Emotion wird ein spezifisches neuronales Entladungsmuster angenommen, das die Emotion ins Bewusstsein bringen kann. 44 Aus diesen Beobachtungen lässt sich erkennen, dass einer spezifischen Emotion ein »Programm« im subcortikalen Zentrum entspricht und dass die durch diese Programme aktivierten Ausdrucksbewegungen in einem Gesicht durch einfühlende Betrachtung von einem Beobachter nachempfunden werden können. Dem Betrachter eines Gesichtsausdrucks der Furcht steht es nicht frei, diesen als Freude zu erkennen, sondern eben als Furcht.45 Ein angeblicktes Gesicht wird zur differenzierten Reizquelle der Umwelt sowohl für desPloog (1999, S. 528) beschreibt, wie sich mit der funktionellen Magnetresonanztomographie ein Zusammenhang zwischen subjektiv erlebten Emotionen und mimischen Ausdrucksbewegungen zeigen lässt. 43 Ploog (1999, S. 529) zeigt hier eine Übersicht über die Sequenz neuronaler Ereignisse beim mimischen Feedback. 44 Ploog (1999, S. 533) und Kandel/Schwartz (1996, S. 608) verweisen darauf, dass Emotionen durch besondere neuronale Schaltkreise kontrolliert werden. 45 Sartre (1962, S. 338–397) erläutert in seiner Analyse des Blicks, dass man am Blick des anderen dessen Subjektivität, die ihn von anderen Körpern im Raum unterscheidet, erkennt; s. auch Kather (1998, S. 251). 42
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sen Wahrnehmung als auch für die Nachempfindung des emotionalen Ausdrucks. Nebeneinander, Überlagerung und Mischung von Emotionen wird an Abbildungen von Gesichtern deutlich, in deren Ausdrucksbewegungen eine oder mehrere Emotionen gleichzeitig repräsentiert sind wie entweder nur Überraschung oder nur Furcht; oder es sind Überraschung durch den Mund und Furcht durch die Augen und Stirn überlagert (Ploog 1999, S. 534). Emotionen können einander überlagern, sich aber auch ausschließen wie das Beispiel der verlockenden Nahrung zeigte; diese erzeugte sowohl Lust, sie zu essen, und zugleich einen Ekel, den der Zustand der Nahrung erregt und der verhindert, sie zu essen. Emotionen können miteinander konkurrieren und je nach Bewertung der Wahrnehmung wird eine dominieren. Unentschieden zeigt sich eine Emotion, die in den Redewendungen zum Ausdruck kommt: Man weiß nicht, ob man weinen oder lachen soll. Wahrnehmungen und Emotionen sind durch ihre unterschiedlichen Informationen über die Umwelt gekennzeichnet.
IV. Wahrnehmung und deren Bewertung durch Emotionen Aus neurowissenschaftlichen Untersuchungen geht hervor, dass Emotionen unsere Wahrnehmungen bewerten – vor allem hinsichtlich einer Selbsterhaltung des Subjekts. Ihnen kommt in der Kommunikation mit der Umwelt die unverzichtbare Aufgabe zu, das Subjekt über die Einflüsse aus der Umwelt zu informieren, die einerseits seiner Lebenserhaltung und Entwicklung dienen und die andererseits das Subjekt vor Gefahren schützen. Emotionen ermöglichen, sich ihrer bewusst zu werden und ihren Auswirkungen in Handlungen und Verhalten und deren Planungen Rechnung zu tragen. Ein Überleben wie auch eine sinnvolle Zukunftsgestaltung sind ohne Emotionen undenkbar. Diese noch sehr allgemeinen Aussagen lassen sich aus einer Fülle von Untersuchungsergebnissen und Experimenten nicht nur nachweisen, sondern in einer differenzierten Weise beschreiben. Durch die Emotion erhält der Wahrnehmungsgegenstand eine auf das Subjekt bezogene individuelle Einschätzung. Die Bewertung muss nicht an ein Bewusstsein geknüpft sein, sondern sie kann als »prototypische Verhaltenssequenz« (Ploog 1999, S. 531) evolutionsgeschichtlich herausgebildet worden sein. Ein Beispiel, sich einer Be54
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wertung bewusst zu werden, ist: Das eigene Haus brennt; diese Wahrnehmung ruft sowohl ein bewusstes emotionales Erleben einer Furcht hervor – das brennende Haus wird als Gefahr erkannt – und zugleich treten Auswirkungen auf z. B. das Herz durch einen erhöhten Herzschlag, auf die Lunge durch verstärkte Atmung usw. auf (Kandel 1996, S. 608). Es gibt die kognitive Wahrnehmung des brennenden Hauses und zugleich die emotionalen Reaktionen einerseits der Körperorgane und andererseits der zerebralen Verarbeitung wie Angst, Bestürzung, vielleicht auch die blitzschnelle Überlegung, was zu tun sei. Kognition und Emotion wirken zusammen. Die Wahrnehmung des »brennenden eigenen Hauses« erhält durch die emotionale Bewertung eine subjektive Beziehung zum Wahrnehmenden; das brennende Haus lässt ihn nicht unberührt. Ob jeder Kontakt mit der Umwelt von einer emotionalen Bewertung begleitet ist, wie Pöppel meint (Pöppel 1989, S. 22), mag bezweifelt werden, es sei denn, dass man wegen einer ausbleibenden Bewertung eines Wahrgenommenen zum Ausdruck bringt, dass man es für wertlos hält. Aber dort, wo eine Bewertung stattfindet, führt sie zu Konsequenzen. 46 Ein essbarer Gegenstand wird erst dadurch, dass er von einer Emotion der Lust begleitet ist, zum verlockenden Ziel seiner Verspeisung. Oder die Wahrnehmung eines Feindes z. B. erregt Furcht, wobei in der sprachlichen Benennung der Wahrnehmung mit »Feind« bereits diese Furcht zum Ausdruck kommt. Würde ein Feind nicht als drohende Gefahr erkannt, wäre die Überlebenschance gering. Solche Beispiele zeigen, dass die Emotionen eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit Kognitionen spielen. Manchmal eröffnet überhaupt erst eine Emotion die Bedeutung einer Wahrnehmung. Durch die Prozesse der Emotionen wird der Organismus unterrichtet sowohl über körperinterne Vorgänge als auch über die Umwelt, die beide für seine Fitness und für sein Handeln und Verhalten wichtig sind; z. B. werden Gefühle des Anerkanntwerdens, des Geliebtwerdens, des Liebens, des Glücks, des Triumphes und der Macht einen Menschen in seiner Zielsetzung bestärken; dagegen werden die eine Wahrnehmung begleitenden Gefühle der Enttäuschung, der Traurigkeit, der Angst, der Machtlosigkeit, des Ärgers und der Abscheu eine Änderung eines Verhaltens veranlassen. 47 Roth (1997, S. 178) hält die Emotion als Bewertung einer Wahrnehmung für lebenswichtig; Uexküll (1996, S. 17) erläutert, dass menschliche Erfahrung neben Kognition einen emotionalen Aspekt hat. 47 Ploog (1999, S. 540) behandelt dort die Macht der Emotionen; LeDoux (2003, S. 154) 46
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Wenn Emotionen Wahrnehmungen bewerten, 48 lässt sich dann etwas über die Wahrnehmungsgegenstände aussagen, die bewertet werden? Prüfen und beantworten lässt sich die Frage nur aus Erfahrung; nur aus dem Einzelfall geht hervor, ob mit einer Wahrnehmung Emotionen verbunden sind. In Bezug auf ein Wissen aus der Kommunikation eines Subjektes mit seiner Umwelt können unter den Gegenständen aus der Wahrnehmung diejenigen einer belebten von denjenigen einer unbelebten Natur unterschieden werden einschließlich denjenigen aus Handeln und Verhalten. Wahrnehmungen aus der belebten Natur präsentieren einen Organismus und seine Teile. Emotionen für diese Art der Wahrnehmungen können sich sowohl auf den Organismus als Ganzen beziehen wie auf seine Teile. Ein Bezug auf den Organismus als Ganzen ist der Fall z. B. bei dem Ausdruck eines Auges, der eine emotionale Bewertung hervorruft; er ginge verloren, wenn er nicht den Ausdruck des Gesichtes, d. h. den eines Lebewesens repräsentierte. Nur ein Auge für sich, herausgelöst aus seinem Gesicht, verliert seinen Ausdruck. Dagegen kann der Anblick von Blut, nur Teil eines Organismus, einen Schauder, Ekel oder Angst erzeugen. Wahrnehmungen einer unbelebten Natur rufen ebenfalls Emotionen hervor wie z. B. die Wahrnehmung eines Himmelskörpers oder einer Bergwelt, die Gefühle der Bewunderung und Erhabenheit auslösen. In beiden Bereichen sind es aber auch Wahrnehmungen von Veränderungen der Gegenstände durch Handeln und Verhalten, die Emotionen erzeugen. Es können solche sein, deren Produkt Emotionen weckt, und andere, bei denen die Handlung selbst emotional bewertet wird. Es müssen nicht in allen Wahrnehmungen Emotionen auftreten, aber wenn sie auftreten, beziehen sie sich auf eine bestimmte Wahrnehmung. Wahrnehmungen ohne Emotionen können auftreten, wenn die Wahrnehmung keiner Bewertung für das wahrnehmende Subjekt bedarf, wenn es für das Subjekt unerheblich ist, ob sie auftritt oder nicht. Man sieht z. B. einen Stein irgendwo liegen. Seine Wahrnehmung könnte ohne Bedeutung bleiben. Wenn aber jemand nach einem Stein sucht, wird seine Wahrnehmung Freude auslösen können. Gibt es Emotionen ohne Wahrweist auf den Zusammenhang von Reizen und emotionalen Verhaltensweisen hin, den Konditionierungen zeigen. 48 LeDoux (2003, S. 72 f.) weist auf Bewertungstheorien hin, die Anlässe und Ursachen der Emotionen unterscheiden. Die Unterscheidung erschließt die bewertete Wahrnehmung, wenn entstandene Emotion zum Gegenstand der Reflexion gemacht wird.
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nehmung? Es kommt vor, dass jemand Angst oder ungute Gefühle empfindet, ohne sie auf eine bestimmte Wahrnehmung zu beziehen. Sie können dann Anlass sein, nach ihren Auslösern zu suchen. Es gibt auch eine Beobachtung von auftretenden Ängsten ohne einen konkreten Grund. Damasio nennt Stimmungen und Hintergrundgefühle, die nicht aus einzelnen Wahrnehmungen veranlasst sind. Umgekehrt gibt es auch Wahrnehmungen, die keine Emotionen auslösen wie z. B. eine Messskala oder ein logisches Zeichen. Solche Wahrnehmungen üben keine Einflüsse auf das Subjekt hinsichtlich seiner Bedürfnisse aus. Bewertungen lassen sich nicht von Emotionen trennen. Aber lassen sich Gefühle von Bewertungen abkoppeln und dann auch von Emotionen unterscheiden? Nozick ist dieser Meinung; er macht diesen Unterschied und meint, dass Gefühle mit dem Bewertungsprozess nichts zu tun hätten; sie würden diesen nur als Ergänzung verstärken. Nozick ordnet die Gefühle dem Körperlichen zu und die zu den Emotionen gehörigen Bewertungen dem Geistigen (Nozick 1991, S. 100). Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften zeigen aber komplizierte Zusammenhänge zwischen den autonomen körperlichen Reaktionen und den kognitiven Prozessen. Bisher ließen sich keine Hinweise finden, die eine Unabhängigkeit der körperlichen Befunde von emotionalen Zuständen zeigen. Auch körperliche Gefühle ohne irgendeinen bewertenden Bezug finden keine Bestätigung. Nozicks Beispiel der angenehmen Gefühle beim Sonnenbaden oder Schwimmen sind nicht frei von Bewertungen: beim Sonnenbaden ist es die als angenehm bewertete Wahrnehmung der Sonne; beim Schwimmen ist es die als angenehm bewertete Wahrnehmung einer Art Schwerelosigkeit oder des erfrischenden Wassers. Lassen sich Wahrnehmungen über die Umwelt von Informationen aus Emotionen unterscheiden? Damasio berichtet von einer Möglichkeit, den für ein Gefühl charakteristischen Körperzustand, hervorgerufen von dem autonomen Nervensystem, messbar zu machen. Es handelt sich um eine Hautleitfähigkeitsreaktion, wie sie auch bei Lügendetektoren verwendet wird. Sie beruht auf dem Nachweis bestimmter Hautreaktionen, die bei äußeren Reizen als körperliche Merkmale von Emotionen auftreten (Damasio, S. 281 ff.). Wenn sich ein Körper nach einem Wahrnehmungsinhalt zu verändern beginnt und ein bestimmtes Gefühl eintritt, lässt sich an der Hautoberfläche die Reaktion eines veränderten elektrischen Hautwiderstandes messen, der sich aus einer Flüssigkeitsabsonderung erA
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gibt. Auf einen bestimmten Wahrnehmungsinhalt, z. B. Bilder mit schrecklichen Szenen von körperlichen Schmerzen, lässt sich die emotionale Reaktion des Körpers nachweisen, und zwar von gleicher Intensität bei mehreren Versuchspersonen. Umgekehrt konnten Patienten mit einer Hirnverletzung der Stirnlappen die Bilder zwar beschreiben, zeigten aber keine Hautleitfähigkeitsreaktion; ihnen fehlte die Körperreaktion, hervorgerufen von Gefühlen. Ein Bildinhalt lässt sich wahrnehmen; unabhängig davon lässt sich der Bildinhalt bewerten, was zeigt, dass Informationen aus der Wahrnehmung und deren Bewertung aus Emotionen ein Wissen unterschiedlicher Art ist. Berühmt sind die Untersuchungsergebnisse nach einer Hirnverletzung, die Damasio ausführlich am Beispiel des Patienten Gage schildert. Dieser hatte durch einen Unfall einen Teil seines Gehirns verloren. Er war trotzdem zu Wahrnehmungen in der Lage, aber nicht mehr zu ihrer emotionalen Bewertung im Vergleich zu gesunden Versuchspersonen. Roth berichtet von Versuchen mit Patienten, bei denen entweder die Amygdala oder der Hippocampus fehlte. Beide Patientengruppen wurden auf Furcht konditioniert mit Hilfe eines plötzlich laut ertönenden Nebelhorns. Patienten mit einer Schädigung der Amygdala konnten angeben, welcher Stimulus mit einem Schreckreiz gepaart worden war, nahmen das Ereignis aber emotionslos hin. Patienten mit einer Schädigung des Hippocampus hatten keine bewusste Information über die Paarung von sensorischem Reiz und Schreckreiz, zeigten aber eine deutlich vegetative Furchtreaktion. Sie erleben Furcht, ohne zu wissen warum (Roth 2001, S. 282). Eine Unterscheidung zwischen Ergebnissen aus der Wahrnehmung und denen aus den Emotionen ergibt sich aus ihren unterschiedlichen Verarbeitungsorten, aber auch aus unterschiedlichen Reizen der Umwelt. 49 Bei Reizquellen außerhalb des Gehirns denkt Damasio an Objekte und Situationen wie z. B. Reizmerkmale in der Umwelt oder des Körpers (Damasio, S. 183). In Bildern eines lächelnden Gesichtsausdruckes ist deutlich das echte Lächeln in seiner ungekünstelten Gesichtsmuskulatur und mit ihm verbundenen emotionalen Reizen zu unterscheiden von einem gekünstelten Lächeln in bewusster Kontrolle der Gesichtsmuskulatur. 50 Wenn das Gesicht selbst zur ReizFrackowiak (S. 368) gibt einen schematischen Überblick über die parallelen Verarbeitungswege und Orte bei visuellen Reizen. 50 Damasio (1997, S. 197) berichtet, dass Charles Darwin (1986) auf diesen Unterschied echter und vorgetäuschter Gefühle hingewiesen hat. 49
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quelle eines Betrachters wird, weckt dessen echtes Lächeln eine andere Bewertung bei dem Betrachter als das gekünstelte; es macht den Einfluss klar, den ein Reiz außerhalb des Gehirns auf dessen hervorgebrachte Emotionen ausübt. Über eine Quelle der Umwelt lassen wir uns nicht durch Nachahmung täuschen: Gibt es keine Reize der Umwelt, die ein echtes Lächeln hervorrufen, sondern wird dieses vorgetäuscht, entstehen bei dem Beobachter andere Bedeutungen als bei einem echten Lächeln. Am Beispiel von Schauspielern lassen sich vorgetäuschte Körperreaktionen und Gefühle beobachten (Damasio, S. 205). Eingeübte Techniken, Begabung und Reife eines Schauspielers erlauben erst, ein vorgetäuschtes Gefühl echt wirken zu lassen, wobei Schauspieler sogar von einer Verschmelzung vorgetäuschter mit echten Gefühlen berichten. Einerseits ist Emotionswissen eine eigene Art des Wissens, andererseits hat es sich als eng verknüpft mit dem Wahrnehmungswissen erwiesen. Ein Hinweis auf die enge Verknüpfung der Emotionsund Wahrnehmungsreize ging aus den neuronalen Prozessen hervor, in denen Reize der Wahrnehmung und der Emotion gleichzeitig, aber in parallelen neuronalen Verschaltungen ihrer Signale verarbeitet wurden. Aus dem Experiment der Betrachtung schrecklicher Bilder und des daraus hervorgegangenen getrennten Wissens aus Wahrnehmung bzw. ihrer emotionalen Bewertung lässt sich auch zeigen, wie eng beide Arten des Wissens miteinander verbunden sind. Die Reize der Wahrnehmung und der Emotionen gingen aus einer Bildbetrachtung hervor, d. h. sie gehen einerseits auf ein gemeinsames Umweltereignis zurück und verweisen andererseits auf getrennte Verarbeitungsorte und auf getrennte Reize und deren Quellen. Klar wird auch, dass es Reizquellen der Umwelt sind. Damasio vermutet, dass Außenwelt durch Veränderung repräsentiert wird, die sie als Körperreaktionen und als neuronale Prozesse hervorruft (Damasio, S. 306). Soziale Auswirkungen Bei der Kommunikation von Menschen untereinander übernimmt der Ausdruck von Emotionen häufig die Funktion einer Mitteilung. Ploog spricht dabei von Senden und Erkennen sozialer emotionaler Signale (Ploog 1999, S. 541). Ein erster Kontakt nichtsprachlicher Kommunikation zwischen Partnern zeigt sich in dem AngeblicktwerA
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den. Die Blickrichtung signalisiert, wer gemeint ist, während der Gesichtsausdruck die Verhaltensbereitschaft des Senders übermittelt. Der hergestellte Kontakt schafft die reziproke Schleife zwischen Sender und Empfänger 51. Die Kommunikation erfolgt durch Mimik, Stimme und Körperhaltung. Wie ist es denkbar, dass der Andere solche Signale versteht? Bei Untersuchungen zum Erkennen sozialer Signale wurde festgestellt, dass z. B. bei schizophrenen Patienten Störungen in der Wahrnehmung emotionaler Gesichtsausdrücke auftraten: Sie konnten den Ärger nicht von Furcht unterscheiden und waren unfähig, den Ausdruck des Abscheus zu erkennen. Die Autoren erwogen, ob bestimmte Emotionen ihnen zugeordnete neuronale Substrate haben, die bei beiden Individuen, die miteinander kommunizieren, auftreten. Ploog ist sich dessen als Ergebnis weiterer Untersuchungen gewiss (Ploog 1999, S. 542 f.). Diese den Emotionen entsprechenden biologischen Hirnprozesse können erklären, dass Menschen untereinander emotionale Signale erkennen. Emotionen wie Liebe und Akzeptanz sind sogar für soziale Systeme unverzichtbar. Das nicht-sprachliche emotionale Verstehen wird mit Empathie bezeichnet. Empathie drückt die Fähigkeit aus, sich in einen Kommunikationspartner hineinzuversetzen; Ploog beschreibt sie als Kommunikation eines emotionalen Zustandes (Ploog 1999, S. 541). Die Gefühle des anderen kann ich dadurch verstehen, dass ich solche Gefühle selbst erlebt habe (Ploog 1999, S. 548). Obgleich ich nie gewiss sein kann, ob meine Mitfreude oder Mittrauer der des anderen gleicht, gibt es genetische und neuronale Merkmale, die eine Empathie kennzeichnen und nicht nur subjektiver Konstruktion überlassen. Zu den genetischen Merkmalen erläutert Ploog Experimente zur Bindung und Trennung; besonders die Emotion der Trauer zeige entsprechend der Nähe der Verwandtschaft zum Verstorbenen eine genetisch bedingte Differenz der Intensität. 52 Empathie vermittelt emotionale Inhalte. Am Beispiel depressiver Patienten lässt sich erkennen, dass depressive Affekte eines Menschen Signale zu Hilfeleistungen sind und empathische Reaktionen bei den Mitmenschen hervorrufen. Da die Wahrscheinlichkeit steigt, dass ein depressiver Zustand in Situationen wie zu hohen Lebensanforderungen, bei starken materiellen Einbußen, beim Verlust von 51 52
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Ploog (1999, S. 542) diskutiert hier Experimentergebnisse zum Angeblicktwerden. Zu den genetischen Dispositionen vgl. Ploog (1999, S. 540).
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geliebten Menschen, bei Ehescheidungen oder bei Verlust von gesellschaftlichem Ansehen entsteht, erzeugt dieser bei den Mitmenschen empathische Reaktionen wie temporären Dispens von materiellen und sozialen Leistungsforderungen oder Belassen des Menschen in seiner sozialen Ordnung und in seinen Familienbanden (Ploog 1999, S. 543). Deutlich wird an diesem Beispiel, dass die Reize, die empathische Reaktionen auslösen, Inhalte vermitteln und eine Antwort auf die auslösende Ursache bewirken. Empathie als eine Form sozialer Kommunikation verweist auf den Anderen als Quelle des eigenen Mitgefühls. Sie ist nicht nur gegenüber Menschen, sondern auch zwischen Mensch und Tier gegeben. Bei einem Tier z. B., das zu experimentellen Zwecken einer Versuchsanordnung ausgesetzt wird, die bei ihm Angst und Schrecken hervorruft, wird sich dessen emotionaler Ausdruck in der Beobachtung durch einen Menschen niederschlagen. Emotionale Bewertungsinstanz Die Bewertung einer Wahrnehmung erfolgt immer von einem Individuum und bezieht sich auf eine konkrete einzelne Situation. 53 Es gibt unterschiedliche Arten von Bewertungen: Bewerten lassen sich z. B. ein juristischer Fall, eine historische Situation, einzelne Klimabeobachtungen oder die Tragfähigkeit eines Materials. Diese Art von Bewertungen betreffen Reflexionen über empirische Untersuchungen und deren Ergebnisse auf der Grundlage von gewählten Kriterien und ohne Bezug auf das bewertende Individuum selbst. Bei einer anderen Art bezieht sich die Bewertung auf das bewertende Subjekt; es wird selbst durch seine Bedürfnisse zum Kriterium des Bewertungsergebnisses. Emotionen sind eine Instanz, die weder der Vernunft noch dem Verstand zugänglich ist und deshalb manchem als unkontrollierbar und in Bewertungssituationen als möglichst unzuständig erklärt wird. Emotionen sind mit Hilfe von Begriffen nicht leicht zugänglich. Für ihre körperlichen Reaktionen bedarf es keiner Begriffe; für die mentale Verarbeitung emotionaler Reize verweisen die Ergebnisse der Neurowissenschaften darauf, dass diese des Bewusstseins bedarf Frackowiak (2004, S. 38 ff.) spricht von einem »value system« in unserem Gehirn, das er in einer Skizze (Figure 19.12) darstellt.
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und den Begriffen zugänglich ist. Ein bestimmtes Gefühl bezeichnen wir, ohne zu zweifeln, mit Angst oder Freude. Emotionen lassen sich nicht durch den Verstand steuern; wenn sie auftreten, sind sie sprachlicher und nachdenkender Auseinandersetzung zugänglich. Davon wird der nächste Abschnitt handeln. Bewertungen lassen sich einteilen in solche aus primären und aus sekundären Emotionen, die im Kapitel über die Emotionen behandelt wurden. Beide gehören zu den angeborenen Emotionen, von denen sich die erworbenen unterscheiden lassen. Entsprechend dieser Einteilung geht aus den Emotionen hinsichtlich ihrer Bewertung von Wahrnehmungen angeborenes oder erworbenes Wissen hervor. Beide Möglichkeiten sind im Gehirn in Aktivitätsmustern repräsentiert und werden durch Reize aktiviert. Angeborenes Wissen beruht auf dispositionellen Repräsentationen im Gehirn zuständig für grundlegende biologische Regulationen. Damasio (189 f.) nennt angeborene, nicht bewusste präorganisierte Reaktionen auf Reizmerkmale durch ein Objekt diejenigen, deren unbewusste Verarbeitung im Gehirn eine automatische Reaktion zur Folge hat wie z. B. Kampf oder Flucht (Kandel, S. 612). Andere Bewertungsreaktionen sind: Schmerz vermeiden und Lust suchen (Damasio, S. 245). Solche einfachen Orientierungsunterschiede bestätigen hinsichtlich der Regulationsfähigkeit der unverzichtbaren Emotionen eine erste Einteilung der Bewertungen. Grundlegende Gefühle für angeborene Bewertungen bezeichnet Damasio als primäre oder auch Universalgefühle; zu ihnen rechnet er die fünf verbreitetsten Gefühle: Glück, Traurigkeit, Wut, Furcht und Ekel (Damasio, S. 206). Sie bewirken emotionale Verhaltensweisen, die nicht erlernt werden müssen. Pöppel hat Gefühle in ihrer Bewertungsfunktion als förderlich oder hinderlich für die Lebensfunktionen geordnet: Lust und Schmerz bezeichnet er als Grundlage menschlichen Lebens und Verhaltens (Pöppel 1982, S. 283). Er spricht von Wertgefühlen, zu denen er Lust und Schmerz rechnet, weil sie eine Rangordnung von Werten ermöglichten (Pöppel 1982, S. 287). Damasio nennt es ein Präferenzsystem mit der Tendenz, Schmerzen zu meiden und potentielle Lust zu suchen (S. 245). Ploog unterscheidet die angenehmen von unangenehmen Emotionen: »Unangenehme Emotionen bewirken eine Veränderung des auf ein Ziel gerichteten Verhaltens, angenehme Emotionen bestärken den Organismus in seiner Zielverfolgung« (Ploog 1999, S. 540). Auch Roth nennt als Grundkriterien Lust und 62
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Unlust; davon seien die weiteren Kriterien abgeleitet, wobei das Gedächtnis eine unverzichtbare Rolle spielt (Roth 1997, S. 209). Verallgemeinert ausgedrückt sind angeborene Reaktionsmuster sowohl angenehme Emotionen, die eine Zielverfolgung bestärken, als auch unangenehme, die Veränderungen des Verhaltens bewirken (Pöppel 1989, S. 540). Sich eines solchen primären Gefühls bewusst werden zu können – wie es mindestens bei Menschen der Fall ist – z. B. der Angst angesichts eines Tieres, eines Gegenstandes oder einer Situation, hat den Vorteil, eigene spezifische Erfahrungen über den auslösenden Gegenstand zu sammeln, zu bewerten und vorauszudenken, um in einer ähnlichen Situation angemessen reagieren zu können (Damasio, S. 185). Erworbenes Wissen ist gegenüber angeborenem ein Wissen aus persönlicher Erfahrung. Die primären Gefühle reichen nicht aus, sobald wir systematische Verknüpfungen zwischen Kategorien von Objekten und Situationen mit primären Gefühlen herstellen, also einen persönlichen Erfahrungshorizont herausbilden, weil dann weitere Abstufungen der primären Gefühle erforderlich werden. Damasio stützt die Einteilung in primäre und sekundäre Gefühle auf die Beobachtung von Hirnverletzten: Bei Schädigungen im präfrontalen Bereich des Gehirns verfügen Patienten zwar über primäre Gefühle, die ein intaktes Affektleben ermöglichen; sie sind aber nicht in der Lage, zu Vorstellungsbildern, die durch bestimmte Kategorien und Reize heraufbeschworen werden, die entsprechenden Gefühle zu erzeugen. Diese zweite von der Erfahrung beeinflusste Art der Gefühle ermöglicht Abstufungen der Universalgefühle wie z. B. Euphorie und Ekstase als Abstufungen des Glücks; Melancholie und Wehmut als Schattierungen der Traurigkeit; Panik und Schüchternheit als Differenzierungen der Furcht. Allerdings sind die so erworbenen sekundären Gefühle auf die primären angewiesen, um entstehen zu können. Es sind erworbene und dispositionelle Repräsentationen, in denen gespeichert ist, welche Situationen aus der persönlichen Erfahrung mit welchen emotionalen Reaktionen verknüpft waren (Damasio, S. 189 ff.). Erworbenes Wissen ist das der sekundären Gefühle, das aus persönlichen Erfahrungen hervorgeht und dem Subjekt als Bewertungsinstanz in einer Entscheidungssituation dient. Subjektiv geprägt ist das Wissen durch die erlebte Situation auf der Grundlage der primären Gefühle; als in der Erinnerung gespeicherte Bewertungsinstanz steht es für gleiche und ähnliche Situationen zur Verfügung. A
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Ein wichtiger Teil emotionaler Bewertung ist die Lernmöglichkeit, die Erinnerung und die Erfahrung (LeDoux, S. 74, 92, 195, 227, 290). Emotionale Bewertungen des erworbenen Wissens entstehen auf der Grundlage angeborenen Wissens, geprägt von individueller Erfahrung, ergänzt von Denkprozessen und herausgebildet unter den Einflüssen einer Kultur. Damasio unterscheidet in dem erworbenen Wissen zwischen einem internen Präferenzsystem und den Einwirkungen aus äußeren Umständen wie der physischen Welt sowie sozialen Konventionen und Regeln (Damasio, S. 243 f.). Dass die Erziehung der Eltern, aber auch die soziale und historische Situation als prägende Einflüsse bei dieser Herausbildung eine große Rolle spielen, ist bekannt. Ob man aber diese Einflüsse von einem individuellen Präferenzsystem unterscheiden kann, mag bezweifelt werden, weil auch eine physische und soziale Welt immer schon individuelle Wahrnehmungs- und Bewertungsprodukte eines Individuums sind. 54 Eine andere Art von Gefühlen nennt Damasio Hintergrundempfindungen, die eine körperliche Grundausstattung beschreiben, die über längere Zeit unseren körperlichen Zustand unabhängig von wechselnden Veränderungen in der Umwelt bestimmt. Die Hintergrundempfindung wird von den oben beschriebenen Gefühlen in konkreten Situationen überlagert (Damasio, S. 207 ff.). Unabhängig von einer kritischen Betrachtung dieser und ähnlicher Einteilungen bleibt hier festzuhalten, dass man emotionale Bewertungszustände in Abstufungen mit persönlicher Erfahrung verknüpft erwerben, speichern und in zukünftigen Situationen einsetzen kann. Aus den Untersuchungen der Emotionen ergibt sich zusammenfassend: Emotionen vermitteln Wissen, Emotionswissen ist ein vom Wahrnehmungswissen verschiedenes, das ein Wahrnehmungswissen über einen Gegenstand ergänzt und dieses bewertet. Emotionswissen ist kein beliebiges Konstrukt, sondern ihm liegen Umweltreize zugrunde. Emotionen informieren über die Umwelt und nehmen Einfluss auf Handeln und Verhalten. Im Kapitel F wird der Frage nachgegangen, ob sich aus den Einflüssen der Emotionen eine Ethik herleiten lässt, d. h. Kriterien für ein Handeln und Verhalten sichtbar gemacht werden können, die Geltung beanspruchen. Damasio (1997, S. 277 ff.) hat für die Einflüsse des erworbenen Wissens auf Entscheidungen eine Theorie der »Somatischen Marker« entworfen, mit deren Hilfe er Entscheidungssituationen sehr ausführlich behandelt.
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Handeln und Verhalten aus emotionaler Bewertung Bisher hatte sich gezeigt, dass Emotionen körperlich erfahrbare Reaktionen und zugleich unter Beteiligung des Gehirns erlebbare Gefühle sind. Sie bedürfen keiner Theorie, um erfahrbar zu sein. Ploog hat darauf hingewiesen, dass Emotionen für ein Individuum nicht erlernbar, sondern angeboren sind; was erlernt und im Gedächtnis gespeichert werden kann, das sind die Gegenstände, Ereignisse, Personen und sozialen Konstellationen, die bestimmte Emotionen ausgelöst haben (Ploog 1999, S. 548). Emotionen erweisen sich dort, wo die individuelle Ausstattung eines Subjektes sie ermöglicht, als ein Bewertungsraster für Wahrnehmungen, das jeder Reflexion vorausgeht. Sich ihrer bewusst zu werden, ermöglicht Handlungsstrategien, um ihnen nicht nur blindlings zu folgen, sondern ihre Ergebnisse zu reflektieren. Davon wird später die Rede sein. Jetzt sollen die Quellen ihrer Reize in der Umwelt betrachtet werden. Ein Gefühl kann angeborene Reaktionen auslösen wie Flucht oder Angriff. Durch Konditionierung können emotionale Einflüsse auf ein bestimmtes Verhalten eingeübt werden wie z. B. durch Belohnung oder Strafe. Sich eines Körperzustands als Folge einer Emotion bewusst zu werden und ihn in Beziehung zu einer auslösenden Wahrnehmung zu setzen, ist ein weiterer Schritt, der eine Denkleistung erfordert. Es ist ein Bewusstwerden der Beziehung, das Handlungs- und Verhaltenstrategien, die über den Moment hinaus in die Zukunft gerichtet sind, ermöglicht (Damasio, S. 218, 185). Wo eine Grenze zwischen Konditionierung und Bewusstwerden der Beziehung verläuft, kann hier nicht entschieden werden. Aber dort, wo sich ein Subjekt seiner Gefühle bewusst wird, gewinnt es Flexibilität für Handeln und Verhalten. Eine Speicherung des bewertenden Emotionswissens im Gedächtnis wirkt sich auf eine Beurteilung von Handlungsentscheidungen für die Zukunft aus. Die von Emotionen beeinflussten Denkprozesse sind an Wahrnehmungswissen gebunden. 55 Emotionen vermitteln Tendenzen zum Handeln und Verhalten. Das limbische System spielt dabei eine wichtige Rolle, wie die Reaktionen bei schizophrenen Menschen deutlich gemacht haben. Ähnliches bestätigt ein Experiment mit zuvor wilden Affen. Nachdem Damasio (1997, S. 152 f.) meint, Denken vollziehe sich in Bildern, wobei sich die Bilder auf Wahrnehmungen stützen.
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ihnen Teile des limbischen Systems entfernt worden waren, verflachte ihr Gefühlsleben bis hin zur Unfähigkeit, Furcht zu empfinden: Sie nahmen eine Schlange in den Mund (Kandel, S. 618). Die Emotionen üben wie beim Handeln auch Einfluss auf die Intentionen eines Verhaltens aus; z. B. signalisiert Angst, man sollte sich gegebenenfalls zurückziehen bzw. entkommen, und dient dem Schutz. Oder Ärger und Wut über einen Angreifer lösen Angriffsreaktionen aus wie Beißen aus, um den Angreifer unschädlich zu machen. 56 An Handlungen sind alle drei Reaktionssysteme des Gehirns beteiligt: Das sensorische System liefert Informationen, das motorische steuert Körperbewegungen und das limbische System ist für Motivation zuständig und für die Entscheidung über Auslösen und Beendigung einer Handlung (Kandel 1996, S. 89, 565, 626). Roth weist darauf hin, dass der unmittelbare Anstoß, etwas zu tun, nicht von einem bewussten Vorsatz kommt, sondern aus den »Abgründen« des limbischen Systems. Aus bewusster Handlungsplanung folgt noch nicht automatisch eine Handlung. Es nimmt sich z. B. jemand vor, aus Gewichtsgründen weniger zu essen, und erliegt trotzdem häufigen Verlockungen der Speisen. Auf eine bewusste Handlungsplanung, für die ein Zentrum im präfrontalen Cortex zuständig ist, nimmt das limbische System Einfluss, und zwar durch sein Bewertungssystem und das Gedächtnis. 57 Neueste Forschungsergebnisse verweisen auf Spiegelneuronen und -systeme, die als Nachahmerzellen beim Verstehen der Gefühle eine Rolle spielen; sie bringen auch die Aktionen anderer nahe, indem sie diese simulieren; sie tun so als ob, bauen eine Brücke zwischen dem Anderen und uns selbst und schaffen eine Verbindung zwischen Beobachten und Handeln (Science, Bd. 303, S. 1157; Current Biology, Bd. 15, S. R84; FAZ vom 2. 3. 2005 S. N1). Hinsichtlich eines Handelns lassen sich Gegenstände der Bewertung unterscheiden; es können solche Gegenstände bewertet werden, die hergestellt werden und deren Bewertungskriterien aus dem Gegenstand hervorgehen wie z. B. bei einer Brücke deren Tragfähigkeit Vgl. eine Zusammenstellung der Ausdrucksweisen emotionaler Zustände bei Ploog (1999, S. 530). 57 Roth (1997, S. 305 ff.) setzt sich ausführlich mit dem Willensakt und den zuständigen Hirnprozessen auseinander; in einer schematischen Skizze erläutert er das Zusammenwirken des limbischen Systems mit dem sensorischen und dem motorischen System des Gehirns; zu den Einflüssen der Emotionen auf Gedächtnis und Lernen vgl. Manfred Spitzel (2000). 56
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Wahrnehmung und deren Bewertung durch Emotionen
oder bei landwirtschaftlichen Produkten deren Erträge. Gegenstand kann aber auch das Handeln selber sein wie z. B. helfen oder lügen, deren Bewertungskriterien aus dem Handeln selber hervorgehen. Ein anderes Beispiel ist die Forschungstätigkeit an embryonalen Stammzellen und deren Gewinnung. Diese Tätigkeit ist einer emotionalen Bewertung sowohl hinsichtlich ihrer hergestellten Gegenstände, der Stammzellen, ausgesetzt als auch hinsichtlich des Handelns selbst, nämlich ob das Handeln selbst akzeptiert wird. Wenn die Kriterien sich nicht auf Gegenstände des Handelns, sondern auf das Handeln selbst beziehen, geht es um Bewertungen, mit denen sich Ethik befasst.
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D. Vom Wissen ber die Welt
I.
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Lässt sich der Begriff des Wissens sinnvoll auf Ergebnisse aus der Wahrnehmung und den Emotionen anwenden? Ein hier verwendeter Begriff des Wissens stammt aus der Theorie der Konstruktivisten. Wissen wird verstanden als das Ergebnis eines Kommunikationsprozesses eines Individuums mit seiner Umwelt. Es ist ein Wissensbegriff, der in den Kognitionswissenschaften, in den Neurowissenschaften und in den unterschiedlichen Ausprägungen der konstruktivistischen Theorien verwendet wird. Entscheidend dafür, diesen Begriff des Wissens hier zu übernehmen, sind Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften: Er bietet die Möglichkeit, in der Erklärung von Wissen die neurobiologischen Prozesse zu berücksichtigen, die in der Kommunikation eines Individuums mit der Umwelt beobachtet wurden. Wissen wird hier nicht nur begrifflich verstanden und nicht durch bestimmte Elemente definiert, sondern als Ergebnis eines Entstehungsprozesses beschrieben, der die Beziehung des Wissens zu seinem Gegenstand und dessen Quellen in der Umwelt betont. Maturana nennt Wissen »fähig sein, in einer individuellen oder sozialen Situation adäquat zu operieren« (Maturana 1974, S. 84). Wissen ist lebensnotwendig, weil es für das Leben und Überleben eines Subjekts in der Welt unverzichtbar ist: zur Bewältigung von Gefahren, zur Sicherung von Lebensgrundlagen und zur Gestaltung einer lebensschützenden Ordnung. Eine Information über die Umwelt mit Wissen zu bezeichnen, hat zur Folge, dass so ein Wissen nicht nur auf viele Arten von Lebewesen zutrifft, sondern auch auf ein Reiz-Reaktionsschema reduziert werden könnte; wieso sollten die Ergebnisse mit Wissen bezeichnet werden? Dem Einwand wird begegnet, dass Ergebnisse erst dann Wissen genannt werden, wenn sie Kriterien eines Bewusstseins, einer Sprache und einer Überprüfungsmöglichkeit des Zutreffens oder Unzutreffens erfüllen. Die Kriterien werden gewählt, um durch ein Wissen zu ermöglichen, eine individuelle und gemeinschaftliche A
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Lebensordnung zu gestalten. Wissen umfasst sprachliche Aussagen über die Welt; Wissen kann zutreffend oder unzutreffend sein; es kann im Gedächtnis gespeichert und erinnert werden. Widersprechen diese Kriterien eines Wissens der von Damasio genannten Bestimmung, der Wissen als das bezeichnet, was in »dispositionellen Repräsentationen« im Gehirn abgelegt ist (Damasio 150 f.)? Sie widersprechen einander nicht, weil ein Wissen nach den hier genannten Kriterien vereinbar bleibt mit einer dispositionellen Repräsentation, d. h. mit bestimmten neuronalen Prozessen im Gehirn, ohne die ein Wissen unvorstellbar wäre. Ein Wissen aus der Wahrnehmung wird oft gekennzeichnet als ein unzuverlässiges Wissen im Sinne von Descartes’ Skeptizismus. Es wird von den Kritikern zwar nicht bestritten, Wissen aus der Sinneswahrnehmung erlangen zu können; aber beweisbar sei es nur durch Sinneswahrnehmung, was zu einer Zirkularität führe (Hofmann 2002). Auf den ersten Blick mag die Kritik der Zirkularität zutreffen; sie ist aber das Ergebnis einer reflexiven Betrachtung des Wahrnehmungswissens. Wenn Wahrnehmungswissen als ein eigenständiges Wissen über Gegenstände der Umwelt betrachtet wird, entfällt der Zirkel. Um zu prüfen, ob ein Wissen aus der Wahrnehmung zutrifft oder nicht, bedarf es keines reflexiven Beweises, sondern einer Überprüfung durch die Wahrnehmung selbst. Es ist eine sich selbst genügende Instanz des Zutreffens oder Irrtums. Sinnliche Wahrnehmung ist in der Lage, eine eigene Evidenz und Kraft zu entfalten, die keiner sprachlichen Vermittlung bedarf (Schantz 1998). Beispiele für ein Wissen aus der Wahrnehmung sind Bilder wie Ultraschallbilder oder die aus bildgebenden Verfahren zur Sichtbarmachung neuronaler Aktivitäten im Gehirn. Hinter all den Bildern stehen zwar Theorien ihrer Entstehung und Interpretation; aber das Wissen entsteht aus Bildern, die betrachtet werden müssen, um wissen zu können. Während ein Wahrnehmungsprozess zu Ergebnissen führen kann, ohne sich derer bewusst zu werden, wird ein Mensch erst dann sagen können »ich weiß«, wenn er sich seiner Wahrnehmung oder seines Gefühls bewusst wird und es in der Sprache ausdrückt. Unbewusstes spielt im Bereich angeborener Reaktionen eine Rolle, ist deshalb aber so lange kein Wissen, bis es in kognitiver Verarbeitung bewusst wird. Als Voraussetzung einer Reflexion darüber, ob sie zutreffen oder nicht, bedürfen Wahrnehmungen des Bewusstseins und der Sprache. Deshalb werden nur solche Wahrnehmungen zu einem Wissen zu rechnen sein, die ihren sprachlichen Ausdruck finden. 70
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Vom Wissen
Bei den Emotionen verhält es sich ähnlich. Ploog nennt sie ein Signalsystem unabhängig von der Sprache (Ploog 1980, S. 8). Aber eine kognitive Verarbeitung der Reize der Umwelt unabhängig von der körperlichen Reaktion erlaubt, sich hervorgerufener Gefühle bewusst zu werden, sie sprachlich zu beschreiben und ihre Auswirkungen zu reflektieren. Einzuschränken ist allerdings, dass emotionale Zustände möglich sind, die sich nur unzureichend sprachlich erfassen lassen wie z. B. Hintergrundstimmungen ebenso wie ihre Quellen, wie z. B. dann, wenn jemand sagt: »Ich weiß nicht genau, warum ich traurig bin«. Emotionen als Ausdruck der Bewertungsergebnisse von Wahrnehmungen erfüllen die beiden ersten Kriterien eines Wissens, weil sich ein Mensch ihrer bewusst werden und sie sprachlich erfassen kann. Um Ergebnisse aus den Wahrnehmungen und den Emotionen zu einem Wissen rechnen zu können, bedarf es schließlich einer Möglichkeit, zu prüfen, ob sie zutreffen oder nicht. Den Ergebnissen aus der Kommunikation mit der Umwelt entsprechend bietet sich hier eine Unterscheidung hinsichtlich ihres Geltungsanspruches an: Ergebnisse aus der Wahrnehmung und den Emotionen werden durch eine Gewissheit charakterisiert, weil es unreflektierte unmittelbare Ergebnisse sind; Ergebnisse aus der Reflexion dagegen durch Wahrheit, weil sie auf Aussagen beruhen, die einer Begründung bedürfen. Weder Ergebnisse aus der Wahrnehmung noch die aus Emotionen lassen sich durch eine rationale Prüfung als wahr oder falsch erweisen. Bei Wahrnehmungen hat Schmitz den Wechsel der Gestalt des gleichen Phänomens beschrieben, wie er am Beispiel des Anblicks einer Tonscherbe zeigt, die sich bei näherem Hinsehen als Speckschwarte entpuppt (Schmitz 1978, S. 149). Bei näherem Hinsehen hat sich das Wahrgenommene verändert. Die Änderung war aber nicht in das Belieben des Subjekts gestellt ist. Auch Einflüsse aus subjektiven Bedingungen schließen Veränderungen des Wahrgenommenen nicht aus; sie erlauben aber auch kein beliebiges Wahrnehmungsergebnis. Biologische Ausstattung, Erfahrung, Gedächtnis, Lernfähigkeiten usw. können die Gewissheit der Wahrnehmung beeinträchtigen, wie z. B. Farbenblindheit. Wenn aber Farbenblindheit auftritt, lässt sie sich als Mangel bemerken. Ähnlich verhält es sich bei Emotionen, weil ihre Reize der Umwelt ähnlich denen der Wahrnehmung verarbeitet werden und einerseits ähnlichen Täuschungsmöglichkeiten unterliegen, andererseits aber auch auf einen Reiz verweisen, der keine beliebigen Emotionen A
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erlaubt. Der Nonkognitivismus z. B. anerkennt Emotionen als eine Sphäre der Werte, akzeptiert aber nicht ihre Geltung als Urteile, weil sie nicht als wahr oder falsch erweisbar sind. In dieser Kritik zeigt sich, dass keine eigene Wissensbegründung, sondern nur eine aus der Reflexion entliehene zugestanden wurde. Emotionale Bewertungen vermitteln aber eine eigene Evidenz, eine unmittelbare Gewissheit aus dem eigenen Erleben, die keiner reflexiven Begründung bedürfen, um ihre Bewertungskraft zu entfalten. Aus ihnen hervorgehende Handlungsorientierungen bedürfen allerdings der Reflexion, wie sich noch zeigen wird. Gewissheit muss sich bewähren. Bei Wahrnehmungen heißt das, dass sie einer kritischen Nachprüfung standhalten müssen; eine Bewährung emotionaler Bewertungen heißt, dass sie nicht gegen die Bedürfnisse des Individuums gerichtet sein dürfen. Was würde ihre Gewissheit wert sein, wenn das Individuum bedrohliche Gefahren falsch bewertet oder erfolgreiche Handlungsentscheidungen nicht erkennt. Irrtümer sind nicht ausgeschlossen wie das Beispiel der Speckschwarte oder ein Verkennen bedrohlicher Gefahren zeigt. Irrtümer können aber Anlass zu genauem Hinsehen bzw. erneuter Bewertung werden. Wahrnehmungen und Emotionen bedürfen keiner weiteren Kriterien aus einer reflexiven Betrachtung wie z. B. einer Zielsetzung oder Methoden. Einem Emotionswissen wird eher durch eine wissenschaftliche Betrachtung seine unmittelbar präsente Bewertungskraft genommen. »Wo es vernichtend brennt, ist der Notruf kein Gegenstand linguistischer Analyse; und wo er linguistisch bestimmbar wird, brennt es nicht« (Wucherer-Huldenfeld, Bd. 1, S. 57). Das Wahrnehmungswissen aus den akustischen Signalen erhält erst aus dem bewertenden Emotionswissen der Not seine entscheidende Aussagekraft, die das Gefühl der Angst des Rufers und dessen Hilfsbedürftigkeit ausdrückt und dem Hörer des Notrufs durch Empathie die Angst übermittelt. Wenn dieses Emotionswissen zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung gemacht wird, verliert es seine unmittelbar präsente bewertende Kraft. Eine Reflexion mag den Notruf durch erläuternde, allgemein zutreffende Aussagen erklären können; für einen den Notruf unmittelbar wahrnehmenden Menschen spielen diese Aussagen keine Rolle; für diesen tritt eine Evidenz sinnlicher Wahrnehmung und Emotion hervor. Während ein Reflexionswissen eine Überprüfbarkeit seiner Wahrheit aus Gründen verlangt, ist es bei Wahrnehmungen und Emotionen eine Gewissheit der Bewährung. 72
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Wissen ber die Umwelt aus der Reflexion
Der Begriff des Wissens lässt sich auf die Ergebnisse aus der Kommunikation eines Individuums mit seiner Umwelt anwenden, wenn sich der Mensch seiner Wahrnehmungen und seiner Emotionen bewusst ist und dadurch in der Lage, sie sprachlich auszudrücken. Inwiefern Ergebnisse der Reflexion die Kriterien des Wissens erfüllen, wird im folgenden Abschnitt geprüft.
II.
Wissen ber die Umwelt aus der Reflexion
Zu einem Wissen über die Umwelt gehört auch das aus der Reflexion. Aus historischer Sicht wurden mit dem Begriff Reflexion bis in die Gegenwart hinein zwei unterschiedliche Inhalte verbunden: Einmal ist es ein Rückgang auf die menschliche Geistestätigkeit hinsichtlich einer gesicherten Erkenntnis und das andere Mal ist es die nachdenkende Betrachtung eines Erfahrungsgegenstandes. Da es hier um das Wissen eines Menschen über seine Umwelt geht, wird Reflexion als nachdenkende Betrachtung eines Wahrnehmungsgegenstandes verstanden. Es geht dabei um ein forschendes Wissen über diesen unter ausgewählten Aspekten (WuB s. 98 ff.). Lässt sich ein Wissen aus der Reflexion von dem aus der Wahrnehmung und den Emotionen unterscheiden? Es gibt in gegenwärtigen Erkenntnistheorien dazu Ansätze, so bei dem Realisten Strawson, bei Phänomenologen wie Piaget und Schmitz und bei Konstruktivisten wie Glasersfeld. Letzterer spricht von einer Reflexion der Erfahrung als Operationen des Geistes; er erläutert deren Abstrahierung und Verallgemeinerung durch zwei Merkmale: empirisch wiederkehrende Vorkommnisse und eine konstruktive Herausbildung von Erfahrungselementen. Berücksicht man, dass sich Erfahrung auf Wahrnehmungswissen stützt, dann wird hier nicht nur eine Unterscheidung des Wahrnehmungswissens von einem Reflexionswissen deutlich, sondern in dem Konstruktionsprozess auch eine Gegenüberstellung von Einzelnem aus dem Wahrnehmungswissen und Allgemeinem aus der Reflexion. 1 Klar wird in den Entwürfen, dass eine Unterscheidung von EinAuch Schmitz (1978, S. 62, 227) setzt sich mit dem Phänomen Wahrnehmung auseinander; Unterscheidungen der beiden Arten des Wissens finden sich auch bei Merleau-Ponty (1965, S. 44); bei den Konstruktivisten: Maturana (1982, S. 54), Janich (1996, S. 172); Glasersfeld (1996, S. 153).
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zelnem aus der Erfahrung und Allgemeinem aus der Abstrahierung auf eine gemeinsame Grundlage des Wahrnehmungswissens zurückgeht. Reflexion ohne ein vorausgesetztes Wahrnehmungswissen ist undenkbar, wobei selbst solche Begriffe wie Ideen leer blieben, wenn sie nichts an Wahrnehmungswissen enthielten. Auf der Grundlage dieser Überlegungen wird Reflexion beschrieben als nachdenkende Betrachtung eines Gegenstandes aus der Wahrnehmung. Einbezogen in die Betrachtung sind Emotionen, da sie mit Wahrnehmungen verbunden sind, und Reflexionen, weil sie sich auf Wahrnehmungswissen stützen. Ähnlich wie Wahrnehmungs- und Emotionswissen lässt sich Reflexionswissen als dritte Möglichkeit eines Wissens über die Umwelt aus den Neurowissenschaften nachweisen. Kandel verweist auf Experimente, die mit Hilfe besonderer Techniken die Hirnbereiche sichtbar machen, die an der Erkennung geschriebener und gesprochener Wörter beteiligt sind. Lesen und Hören, Sprechen und Denken eines Wortes aktivieren jeweils nach Lage und Umfang unterschiedliche Bereiche. Aus Abbildungen nach der PET Methode (PositronenEmissions-Tomographie) 2 treten vier Hirnbereiche deutlich sichtbar hervor, die durch die vier Tätigkeiten Sehen, Hören, Sprechen und Denken eines Wortes aktiviert werden. Kandel berichtet, dass das Lesen eines einzelnen Wortes eine Aktivität im primären visuellen Cortex hervorruft; das Hören aktiviert eine andere Gruppe von Arealen; das Artikulieren eines Wortes aktiviert zusätzlich das motorische Sprachzentrum; Denkvorgänge wie das Analysieren der Bedeutung eines Wortes aktivieren den frontalen Cortex. Hierzu waren die Versuchspersonen aufgefordert worden, auf das Wort »Gehirn« mit einem passenden Verb zu antworten. Die Suche nach diesem Wort hat weder etwas zu tun mit Wahrnehmung noch mit Emotion, sondern mit einer nachdenkenden Betrachtung des Wortes »Gehirn« und darüber, was es vermittelt. Auffallend groß und deutlich unterschieden ist der während des Denkens aktivierte Bereich im frontalen Cortex (Kandel, S. 17, Abb. 1.9 A-D). Es sind nicht nur unterschiedliche Gehirnorte, sondern auch Das Verfahren misst Veränderungen des regionalen Blutflusses im Gehirn als Funktion kognitiver Prozesse. Es gibt inzwischen modernere Verfahren wie z. B. die Magnetresonanz-Tomographie; sie beruht auf der Anwendung von Radiofrequenzsignalen und Magnetfeldern, die bei einer vorausgegangenen Denkleistung Änderungen im Hirngewebe sichtbar machen; vgl. Frahm (2000, S. 55 ff.).
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neuronale Prozesse, durch die ein Wissen aus Reflexion unterscheidbar wird von einem Wissen aus Wahrnehmung bzw. Emotion. Kandel erläutert am Beispiel der visuellen Wahrnehmung die Abstraktionsfähigkeit auf einer jeweils höheren Stufe der neuronalen Verschaltungen (Kandel/Schwartz 1996, S. 444). Köck weist darauf hin, dass das Nervensystem eine Zusammenschaltung organismischer Teilsysteme und dadurch einen Prozess der Bildung übergeordneter Klassen von Interaktionen und damit »die interne Kurzschließung von ursprünglich umweltbedingten und umweltabhängigen Interaktionen: ›Bewusstsein‹ bzw. ›Denken‹« ermögliche (Köck 1987, S. 364). Denken ist hier mit Reflexion gleichzusetzen. Reflexionswissen wird auch neurologisch unterscheidbar. Reflexionswissen bedarf immer der Sprache. Sie ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für ein Reflexionswissen. Sprache fördert zwar geistige Leistungen, begriffliches Denken und Abstraktion 3 , sie lässt aber keine Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Reflexionswissen zu, weil sie in beiden Arten des Wissens vorkommt: Im Wahrnehmungswissen wird sie nicht zwingend, aber normalerweise verwendet; im Reflexionswissen dagegen immer. Reflexion ist eine geistige Tätigkeit, die nicht immer dem Willen unterliegt, sondern häufig unabhängig von einem Willensakt stattfindet. Man beobachtet z. B., dass einem Gedanken im Kopf herumgehen und man an etwas denkt, obgleich man es nicht will; man möchte manchmal etwas denken und findet nach kurzer Zeit, dass die Gedanken anderen unbeabsichtigten Wegen folgen. Reflexion ist nicht immer vom Willen beherrschbar. Sie ereignet sich wie atmen oder fühlen. Willentlich dagegen kann sie aus vielerlei Motiven entstehen wie z. B. aus Neugierde, um Zusammenhänge herauszufinden; aus Ungewissheit über dasjenige, was man tun soll; aus Motiven der Selbsterhaltung in Not und Gefahr, ähnlich wie es sich bei den Wahrnehmungen und Emotionen zeigte. Reflexion setzt ein Vorwissen voraus. Bei der Reflexion im Sinne der Rückbeugung auf die Geistestätigkeit hinsichtlich einer Gewissheit der Erkenntnis ist es das Wissen, über das Gewissheit erlangt werden soll. Und bei der Reflexion im Sinne einer nachdenkenden Betrachtung ist es ein Wissen, das betrachtet wird. In dem Maturana (1987, S. 300) meint, Sprache sei die Möglichkeit zur Reflexion; die Bedeutung der Sprache behandeln Roth (1997, S. 77) und Kandel (1995, S. 649).
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oben erwähnten PET-Bild tritt als Vorwissen das Wort Gehirn auf; die Reflexion befasst sich mit dem dazu passenden Verb. Zum Vorwissen kann das aus allen drei Arten gehören. Die Naturwissenschaft betrachtet Wahrnehmungswissen; die Psychiatrie befasst sich u. a. mit den Emotionen; Reflexion kann aber auch das Reflexionswissen selbst zum Gegenstand der Betrachtung machen, wie es z. B. in der Wissenschaftstheorie geschieht. Reflexion bedarf des Bewusstseins. 4 Während ein Wissen aus der Wahrnehmung und aus den Emotionen unmittelbar präsent ist, distanziert sich ein Subjekt durch eine Reflexion von dem Vorwissen. Erst eine Distanzierung ermöglicht eine Befragung des Gegenstandes aus dem Vorwissen bzw. dessen Betrachtung unter bestimmten Hinsichten. Aus einer Reflexion kann das Wissen von einem Einzelnen hervorgehen, wie z. B. bei der Frage nach den Ursachen eines bestimmten Ereignisses; oder Reflexion abstrahiert von dem einzelnen Gegenstand insofern, als sie nach allgemein gültigen Aussagen fragt, die auf diesen Gegenstand zutreffen, wann und wo er auch immer wiederholt auftritt. Beide Betrachtungen fragen nach Erklärungen und nach Beziehungen zu anderen Wahrnehmungsgegenständen; dabei kann es ein Ziel sein, Wahrnehmungswissen zusammenzuordnen, zu zerlegen, zu präparieren, Zwecken zu unterwerfen oder Einzelnes auf seine Wiederholbarkeit in der Wahrnehmung zu prüfen. Die Reflexion bringt der Wahrnehmung unzugängliche Erkenntnisse hervor, deren Ergebnisse sich in Begriffen, Aussagen und Theorien oder in einer Geschichte, die erzählt wird, zeigen. Eine systematische Art der Reflexion nach bestimmten Kriterien findet sich in den Wissenschaften, deren wichtigstes Kriterium eine Begründung des Wissens verlangt, ob empirisch oder unter Verweis auf anderes Wissen wie in den Geisteswissenschaften 5 ; eine Begründung stützt sich immer auf ein Allgemeines aus der Wahrnehmung, auch in den Geisteswissenschaften. 6 Ähnlich wie bei der Reflexion eines Wissens aus der WahrnehDörner (2000, S. 147 ff.) beschreibt eine Beziehung zwischen Reflexion und Bewusstsein; er nennt es die Fähigkeit eines Systems, seine eigenen inneren Abläufe zu betrachten und zu bewerten. 5 Anstelle des Begriffs der Geisteswissenschaften findet sich heute oft der Begriff Kulturwissenschaften, entstanden aus einer Erweiterung der ursprünglichen Geisteswissenschaften um neue Bereiche wie Politische Ökonomie, Politikwissenschaft und Soziologie. 6 Hübner, Kurt (1978, S. 308 ff.) beschreibt den Charakter des Allgemeinen zur Erklärung des Einzelnen sowohl in den Natur- wie in den Geisteswissenschaften. 4
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mung verhält es sich mit einer Reflexion eines Wissens aus Emotionen. Das Vorwissen umfasst Gefühle wie z. B. Angst. Eine Reflexion kann Angst im Zusammenhang mit bestimmten Ereignissen erschließen; Reflexion kann auch zu einer kritischen Betrachtung von emotional ausgelöstem Verhalten oder Handlungen veranlassen. Sie ermöglicht z. B., einer emotionalen Bewertung und der aus ihr entstehenden Handlungsorientierung nicht blindlings zu folgen, sondern dieses Wissen selbst zu befragen. Wer z. B. so starke Flugangst hat, dass er jeden Flug vermeiden möchte, kann durch Überlegungen hinsichtlich der Ursachen dieser Angst und durch eine Abschätzung der mit dem Flug verbundenen Gefahren besser mit ihr umgehen und vielleicht doch einen Flug wagen. Anstatt Emotionen aus dem Wissen zu verbannen, wie es in einer objektivistisch geprägten Naturwissenschaft geschieht, ist ihre Einbeziehung verbunden mit ihrer Reflexion einer Erkenntnis angemessener. 7 Reflexionswissen kann selbst zum Gegenstand einer Reflexion werden, um z. B. ihre Ergebnisse in größere Zusammenhänge einzuordnen oder um nach einer gemeinsamen Erklärung zu suchen wie z. B. zwischen Himmelskörperbewegungen und ihrer Massenanziehung. Es können aber auch umgekehrt zwei allgemeine Aussagen aus Gründen ihrer Unvereinbarkeit zu Reflexionen führen, die nach ihrer Verträglichkeit miteinander suchen, wie z. B. in der Quantenphysik die Diskrepanz zwischen der empirischen Unbestimmtheit eines Quantenzustands und einer empirisch strukturierten wahrgenommenen Wirklichkeit. Eine Reflexion eines Reflexionswissens, die nach dessen Rechtfertigung überhaupt fragt, findet sich in der Wissenschaftstheorie: Wenn man von dem Wissen einer bestimmten historischen Situation abstrahierend fragt, wie man Geschichte wissen kann und wie dieses Wissen zu rechtfertigen ist, entstehen aus solchen Reflexionen erkenntnistheoretische Überlegungen zur Geschichtswissenschaft. Hierher gehören auch Fragen, die entstehen, wenn Denken sich selbst zum Gegenstand des Denkens macht und nach seinen Gesetzmäßigkeiten fragt. Weil sich Reflexion auf einen Gegenstand bezieht, der aus der Wahrnehmung, aus einer Emotion oder aus der Reflexion selbst hervorgeht, finden sich in ihren Ergebnissen Einflüsse aus den Reizen der Umwelt. Zu einer Kritik an einer Naturwissenschaft, die das Subjektive der Emotionen aus ihrem Erkenntnisideal ausschließt, vgl. Schrödinger (1989, S. 96) und Kather (1998, S. 266 ff.).
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Dort, wo Reflexionswissen nach allgemeinen Erklärungen sucht, abstrahiert es vom Einzelnen aus dem Wahrnehmungswissen. Die Abstraktion ermöglicht, aus bestimmten Hinsichten Zusammenhänge zwischen verschiedenen allgemeinen Aussagen zu bilden und Theorien durch Verknüpfung von Aussagen zu formulieren. Ein Nachteil der Abstraktion zeigt sich dadurch, dass durch die Hervorhebung einer Hinsicht, nach der gefragt wird, andere Merkmale des Gegenstandes aus dem Wahrnehmungswissen weggelassen werden. Wenn man den Begriff »Rabe« z. B. durch das Merkmal schwarz festlegt, spielt es keine Rolle, ob ein wahrgenommenes Exemplar jung oder alt, krank oder gesund, männlichen oder weiblichen Geschlechtes ist. Ein Allgemeines ist zwar in der Lage, ein Einzelnes mit anderem Einzelnen zusammenzuordnen; es ist aber nicht mehr in der Lage, ein Einzelnes in all seinen individuellen einmaligen Ausprägungen zu erfassen. Abstraktion bedeutet, das Einzelne in seiner Individualität zu vernachlässigen zugunsten gemeinsamer Merkmale mit anderen Einzelnen. Ein anderes Problem der Abstraktion ist das der Festlegung der Begrifflichkeiten. Einen Begriff zu bestimmen verlangt nicht nur weitere Begrifflichkeiten, sondern auch einen Bezug auf die Wahrnehmung, auf die er angewendet wird, zu benutzen, und dieser Bezug soll eindeutig und gewiss sein. Ein bekanntes Beispiel findet sich in Augustins Bekenntnissen, wo es heißt: »Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio. 8 Das Zitat zeigt nicht nur die zwei Möglichkeiten des Wissens, nämlich das der unreflektierten Wahrnehmung und das andere als Ergebnis einer Frage, die zur Reflexion veranlasst, sondern auch, dass ein Wissen aus der Wahrnehmung nicht so einfach durch Reflexion mit Hilfe von Begriffen zu erfassen ist. Es hat in der Wissenschaftstheorie dazu zahlreiche Entwürfe gegeben, wie den der Konstruktivisten, der logischen Empiristen und der kritischen Rationalisten, die zeigen, dass sich Wahrnehmungswissen nicht auf Reflexionswissen reduzieren und dass sich eine rational herleitbare Gewissheit nicht erreichen lässt. Wissen aus der Wahrnehmung präsentiert ihren Gegenstand in einer Vielfalt im Unterschied zu einem Wissen aus der Reflexion, das aus bestimmten Hinsichten auf den Gegenstand hervorgeht. In Augustinus (1987, Confessiones, XI. Buch, 14, 17, S. 628 f.): »Was ist also Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.«
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einer ethischen Urteilsbildung wird deshalb ein Begriff wie Verantwortung oder Lebensschutz auf unterschiedliche Weise interpretiert werden können. Unterscheiden lässt sich eine Wissensherausbildung über die Umwelt aus der Reflexion von der aus der Wahrnehmung aus neurowissenschaftlichen Ergebnissen. Nachdenkende Betrachtung aktiviert andere neuronale Vernetzungen und andere Areale im Gehirn als Wahrnehmen und Fühlen. 9 Diese neuronalen Prozesse sind aber weder vollständig erforscht, noch erlauben die Ergebnisse, dass geistige Aktivitäten in ihren vielfältigen Ausprägungen wie Vorstellungen haben, erinnern, kombinieren, urteilen, lernen, abstrahieren usw. auf abgegrenzte neuronale Vernetzungen und Areale reduziert werden können. Was sich aber zeigen lässt ist, dass bestimmte Areale z. B. im frontalen Cortex immer dann aktiviert werden, wenn Reflexion stattfindet, und es sind andere neuronale Aktivitäten als beim Wahrnehmen und Fühlen. Warum spielt die Unterscheidung hier eine Rolle? Vor allem, um zu zeigen, dass Wahrnehmen, Fühlen und Reflektieren ein unterschiedliches, je eigentümliches Wissen über die Umwelt hervorbringen. Reflektieren über Wahrgenommenes erfasst dessen befragte Aspekte; seine Ergebnisse sind nicht auf die Ergebnisse aus der Wahrnehmung reduzierbar. Wahrnehmen dagegen umfasst die Vielfalt seines Gegenstandes, ohne auf bestimmte Hinsichten eingegrenzt zu sein oder überhaupt vom Einzelnen zu abstrahieren. Emotionales – und das wird im folgenden Abschnitt ausführlich behandelt – bewertet den Wahrnehmungsgegenstand hinsichtlich der Bedürfnisse des Individuums; es ist also eine dritte von den beiden vorhergehenden verschiedene Information über die Umwelt. 10 Die Einteilung in die drei Arten des Wissens ist selbst das Ergebnis einer Reflexion. In der Begründung der Einteilung handelt es sich aber um keinen Zirkel, weil die Unterscheidung der Möglichkeiten des Wissens mit Hilfe der Ergebnisse aus den Neurowissenschaften nicht erklärt, sondern die Ergebnisse als notwendige Bedingungen für ein Wissen gezeigt werden. Wenn z. B. ein bestimmter Gehirnort als notwendige Bedingung ausfällt, dann fällt damit die Möglichkeit des entsprechenden Wissens aus. Ausführliche Untersuchungen finden sich bei Kandel (1996, S. 444) und Roth (2001, S. 174 ff.). 10 Eine ausführliche Untersuchung über die Arten des Wissens auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Ergebnisse s. WuB, S. 55 f. 9
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Reflexionswissen geht auf ein Urteil zurück, das wahr oder falsch sein kann und das einer Rechtfertigung des Wissens durch begründende Argumente bedarf. Diese werden auf ein Allgemeines, auf einen Bezug zu anderem Wahrnehmungswissen oder auf nicht hintergehbare Axiome verweisen. Während eine Gewissheit der Wahrnehmungen nur durch Wiederholung des Wahrnehmungsprozesses zu rechtfertigen ist, ist der Wahrheitsanspruch eines Reflexionswissens aus Gründen zu erweisen. Allerdings geht ein Reflexionswissen in den empirischen Wissenschaften auf Ergebnisse der Wahrnehmung zurück, also deren Wahrheit auf eine Gewissheit der Wahrnehmung.
III. Wissen der unterschiedlichen Arten in ihrer Beziehung zueinander In der ethischen Urteilsbildung kommt einem Wissen aus der Reflexion eine Bedeutung zu, weil eine aus emotionaler Bewertung hervorgehende Handlungsorientierung einer Reflexion ausgesetzt sein kann. Deshalb ist zu klären, welcher Rang ihren Ergebnissen unter den Einflüssen der Reize der Umwelt hinsichtlich einer Handlungsentscheidung zukommt. Aus den vorangegangenen Untersuchungen über die Verarbeitungsprozesse der Reize zu einem Wissen über die Umwelt hatten sich drei unterschiedliche Arten des Wissens und ihre charakteristischen Merkmale ergeben. Das dem Wahrnehmungswissen Eigentümliche ist die Herausbildung des Wahrnehmungsgegenstandes als unmittelbar präsentes Einzelnes; Wahrnehmung vermittelt eine Vielfalt ihres Gegenstandes ohne Eingrenzung auf bestimmte Aspekte. Das einem Wissen aus Emotionen Eigentümliche ist die Bewertung der Wahrnehmung, die für eine Selbsterhaltung des Individuums unverzichtbar ist. Das Eigentümliche des Reflexionswissens sind allgemein gültige Aussagen und Zusammenhänge von Aussagen über Wahrgenommenes und Emotionen; Reflexionswissen eröffnet Beziehungen zu anderem Wahrnehmungswissen, fördert gegenseitige Einflüsse zutage, erlaubt, gezielte Zwecke zu verfolgen, und kann Zusammenhänge aufdecken, die einem Wahrnehmungs- und Emotionswissen verborgen bleiben. Meyer-Abich hat diesen Zusammenhang in Anlehnung an Kant so ausgedrückt: »Vernunft ohne Sinnenund Gefühlsgehalt ist leer, Sinne und Gefühle ohne Vernunft sind 80
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blind. Die Vernunft denkt Sinnen- und Gefühlsgegebenes, dieses ist ihr Inhalt; darin kann sie einseitig werden, wenn sie sich nur von verborgenen Gefühlen leiten lässt. […] Umgekehrt aber sind Sinne und Gefühle bei weitem nicht alles, denn sie müssen von der Vernunft ausgesetzt und bedacht werden.« (Meyer-Abich, S. 131). Obgleich Sinne, Gefühle und Denken als unterschiedliche und wichtige Quellen des Wissens hier betont werden, erhalten sie in MeyerAbichs Aussage noch keinen selbständigen Rang eines Wissens, auf den es aber ankommt, um die Verarbeitung der Reize aus differenzierten Quellen der Umwelt sichtbar werden zu lassen. Zur Geltung kommt aber in Meyer-Abichs Betrachtung die Zusammengehörigkeit von Wahrnehmung, Fühlen und Denken, um aus ihren Eigentümlichkeiten eine unbeschränkte Kenntnis über die Umwelt zu ermöglichen. Wahrnehmungs- und Emotionswissen können für sich allein auftreten; eine Beziehung zwischen ihnen ergibt sich, wenn eine Bewertung des Wahrnehmungswissens erfolgt. Ihre Beziehung zu einem Reflexionswissen erwies sich als dessen unverzichtbare Grundlage. Nur ein Reflexionswissen kann sich auf sich selbst beziehen. Wenn die Arten des Wissens in Beziehung zueinander treten, bleibt zu klären, wie sie miteinander verbunden sind und ob z. B. einer Art ein Vorrang vor einer anderen zukommt. Zwischen Wahrnehmungswissen und Reflexionswissen gibt es drei Möglichkeiten einer Beziehung: Eine ist die Vorstellung, dass Wahrnehmungswissen auf ein Reflexionswissen rückführbar ist. Da Reflexionswissen eines Wahrnehmungswissens bedarf und nicht umgekehrt, kann letzteres nicht auf ersteres zurückgeführt werden; diese Art der Beziehung ist ausgeschlossen. Eine zweite Möglichkeit ist, dass es zwei verschiedene Beschreibungen eines gleichen Ereignisses sind. Dieser Auffassung ist Tye (Tye 1999): Zwischen Wissen aus der Wahrnehmung, das er Erlebnis nennt, und dessen neurologischer Beschreibung gäbe es keine Erklärungslücke. Das Wahrnehmungswissen, das zu einem »phänomenalen Begriff« führe wie z. B. Schmerzen haben, bedürfe keiner Theorie über Schmerzen, um festzustellen, ob man welche hat. Empfindung und Gehirnzustand wären zwei verschiedene Beschreibungen des gleichen Phänomens; ihre Beziehung zueinander ergäbe sich aus einer empirischen Zuordnung: Ein bestimmter Gehirnzustand hätte sich als der beste Kandidat zur Identifikation mit der Empfindung erwiesen. Eine Erklärungslücke zwischen beiden gäbe es nicht. Aber A
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stimmt das? Wahrnehmungswissen wie z. B. eine Empfindung haben ist ein unmittelbares Wissen; ein Wissen über den dazugehörigen neuronalen Prozess ist ein Reflexionswissen. Woher weiß aber Tye, dass die gefundene neuronale Gesetzmäßigkeit keine Lücke lässt zum Wahrnehmungswissen? Ein Wissen über die neuronale Gesetzmäßigkeit ist erklärendes Reflexionswissen; aus einem vorausgehenden Wahrnehmungswissen wird ein bestimmter Aspekt ausgewählt und gegenüber dem verbleibenden Wahrnehmungswissen hervorgehoben. Insofern kommt im erklärenden Wissen immer nur der befragte Aspekt eines Wahrnehmungswissens zur Geltung. Wenn man nach einem anderen Aspekt fragt oder andere Begrifflichkeiten wählt, kann neues erklärendes Wissen entstehen. Nach einer Erklärungslücke zwischen Wahrnehmungs- und erklärendem Wissen zu fragen, macht keinen Sinn, weil nicht klar ist, woran eine Lücke gemessen werden sollte. Wahrnehmungswissen und erklärendes Wissen sind nicht einfach zwei verschiedene Beschreibungen eines gleichen phänomenalen Ereignisses – wie Tye meint –, sondern die erklärende Theorie setzt die Wahrnehmung voraus. In gleicher Weise lässt sich die Frage nach der Beziehung zwischen Emotionswissen und Reflexionswissen beantworten, weil Emotionswissen an die Stelle von Wahrnehmungswissen gesetzt zu einem gleichen Ergebnis führt wie zwischen Wahrnehmungs- und Reflexionswissen. Eine dritte Möglichkeit der Beziehung zwischen Wissen aus der Wahrnehmung und der Reflexion ergibt sich dort, wo Reflexionswissen als naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten formuliert und bewiesen wird: wenn Naturgesetze als Aussage über ihren Wahrnehmungsgegenstand Geltung beanspruchen, d. h. für alle Exemplare des Wahrnehmungsgegenstandes zutreffen, bilden sie dessen notwendige Bedingung. Wenn sich ein Exemplar finden ließe, dass die Gesetzmäßigkeit nicht erfüllt, wäre entweder die Gesetzmäßigkeit falsch oder das Exemplar kein vergleichbares. Es kann mehrere Gesetzmäßigkeiten als notwendige Bedingung für einen Gegenstand geben wie z. B. beim Menschen Gesetzmäßigkeiten des Blutkreislaufes und die der neuronalen Prozesse. Deutlich wird aus dieser Beziehung, dass eine Gesetzmäßigkeit bestimmte Aspekte des Wahrnehmungsgegenstandes erfasst, aber eben nicht diesen auf die Gesetzmäßigkeit reduziert. Die Beziehung der »notwendigen Bedingung« spielt eine wichtige Rolle, weil sie klar macht, dass Ergebnisse aus der Reflexion zwar 82
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unverzichtbar zutreffen, dass sie aber nicht die Wahrnehmung ersetzen. Der Zusammenhang wird noch eine Rolle spielen, wenn nach einer freien Willensentscheidung eines Menschen gefragt wird, nämlich ob sich dessen Willensbildung auf bestimmte neuronale Prozesse reduzieren lässt. Kommt einem der drei unterschiedlichen Ergebnisse aus der Kommunikation mit der Umwelt ein bevorzugter Rang zu? Man könnte vermuten, dass einem Reflexionswissen ein Vorrang einzuräumen ist, weil die Wissenschaft, die diese Wissensart verkörpert, den Ruf hat, die höchste Einsicht zu vermitteln. Bedenkt man aber, dass ein Reflexionswissen nicht nur ein Wahrnehmungswissen voraussetzt, sondern selbst nur aspekthafte Sichtweisen hervorbringt und vieles wegen der Präparation und Abstraktion nicht zur Geltung kommt, so wird man dem Wahrnehmungswissen eine unverzichtbare Grundlagenbedeutung beimessen müssen, dem Reflexionswissen dagegen eine Bedeutung aus seiner Spezifizierung unter Zwecken. Ergebnisse der Emotionen vermitteln unverzichtbare Bewertungen, aus denen Orientierungen für unser Handeln und Verhalten hervorgehen. Insofern wird man von keiner Wissensart sagen können, dass ihr ein höherer Rang einzuräumen sei als einer anderen. Sie stehen hinsichtlich ihrer jeweils eigentümlichen Bedeutung für unser Leben gleichrangig nebeneinander. Unterscheiden lässt sich eine Wissensherausbildung über die Umwelt aus der Reflexion, aus der Wahrnehmung und aus den Emotionen durch die neurowissenschaftlichen Ergebnisse. Warum spielt die Unterscheidung hier eine Rolle? Vor allem um zu zeigen, dass Wahrnehmen, Fühlen und Reflektieren ein den drei Arten eigentümliches Wissen über die Umwelt hervorbringen. Reflektieren über Wahrgenommenes erfasst dessen befragte Aspekte. Wahrnehmen dagegen umfasst die Vielfalt seines Gegenstandes, ohne auf bestimmte Hinsichten eingegrenzt zu sein oder überhaupt vom Einzelnen zu abstrahieren. Seine Ergebnisse sind nicht auf die Ergebnisse aus der Reflexion reduzierbar. Emotionales – und das wird im folgenden Abschnitt ausführlich behandelt – bewertet den Wahrnehmungsgegenstand hinsichtlich der Bedürfnisse des Individuums; es ist also eine dritte von den beiden vorhergehenden verschiedene Information über die Umwelt. 11 Eine ausführliche Untersuchung über die Arten des Wissens auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Ergebnisse s. WuB, S. 55 f.
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IV. Individuelle Bewertung und allgemeine Geltung Lassen sich hervorgebrachte Wahrnehmungen und emotionale Bewertungen verallgemeinern, d. h. bringt erstens ein Individuum bei einem wiederholten Wahrnehmungsprozess eine gleiche Wahrnehmung hervor und tritt zweitens die gleiche Wahrnehmung bei anderen Individuen, die den gleichen Reizen ausgesetzt sind, ebenfalls auf? Die vorangegangenen Betrachtungen über die Gewissheit haben gezeigt, dass es sich bei einer Wahrnehmung um eine individuelle Gewissheit handelt, die eine Bestätigung nur durch empirische Wiederholungen finden kann. Eine Erklärung der empirisch erwiesenen Gewissheit ermöglichen die Einflüsse aus den Umweltreizen. Sie können eine Konstanz der Ergebnisse rechtfertigen, wie die neurowissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse gezeigt haben. Auch wechselnde subjektive Bedingungen wie z. B. die Benutzung einer Brille oder Einschränkungen eines Sinnesvermögens führen nicht zu prinzipiell anderen Wahrnehmungsergebnissen, im Gegenteil: Mängel werden als Undeutlichkeiten bemerkt. Sie können aber nur bemerkt werden vor dem Hintergrund einer Konstanz von Umweltreizen in vorausgegangener Erfahrung. 12 Hinzuweisen bleibt noch darauf, dass die neuronalen Prozesse nicht von vornherein und endgültig determiniert, sondern durch Lernfähigkeit veränderbar sind. Die Herausbildung neuronaler Verschaltungsmuster im Zusammenhang mit der Entwicklung des kindlichen Gehirns beschreibt Hüther: Die vom assoziativen Cortex generierten Erregungsmuster würden in immer stärkerem Maße zu unseren Abbildern der Außenwelt geformt und stabilisieren die bis zu diesem Zeitpunkt bereits entwickelten Verhaltensmuster (Hüther, S. 111 f.). Hinzu kommen soziale Verhältnisse und all das, was sich in onto- und phylogenetischer Entwicklung herausgebildet hat. 13 Handelt es sich in dieser Argumentation um einen Zirkel? Aus einer beobachteten Konstanz der Wahrnehmungen wurde auf unverzichtbare Reizquellen der Außenwelt geschlossen; jetzt werden die Reizquellen vorausgesetzt und von diesen auf die Konstanz und das Allgemeine der Wahrnehmungsergebnisse geschlossen. Auf der Re-
Mulligan (1997, S. 137–150) erklärt die Invarianz von Wahrnehmungen trotz wechselnder Ausdrucksformen und Anzeichen durch Konstanzphänomene. 13 Vgl. Ploog (1989, S. 1 ff.); Singer (1989, S. 45 ff.). 12
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flexionsebene handelt es sich um einen Zirkelschluss. Da aber auf der Ebene des Wahrnehmungswissens gezeigt werden konnte, dass Reizquellen als notwendige Bedingung der Wahrnehmung vorhanden sein müssen und dass Stabilität auf ihren unverzichtbaren Einfluss zurückgeht, ist der Begründungszusammenhang zwischen Reizquellen und Verarbeitung nur auf der Reflexionsebene ein zirkulärer Schluss; auf der Ebene des Wahrnehmungswissens ist es ein empirisch nachprüfbares Ergebnis. Gilt die für ein Individuum erwiesene Konstanz einer Wahrnehmung unter gleichen Umwelteinflüssen auch für ein anderes Individuum? Auch hier gibt es nur eine empirische Begründungsmöglichkeit. Eine sprachliche Erfassung des Wahrnehmungsergebnisses ermöglicht einem Individuum, seine mit der eines anderen zu vergleichen, und wenn sie voneinander abweichen, nach Gründen zu fragen. Für eine verallgemeinerbare Konstanz beider Wahrnehmungen sprechen auch hier die Einflüsse aus gleichen Umweltreizen. Sind z. B. zwei Wanderer gleichen Umweltreizen ausgesetzt, die beim ersten Wanderer zur Wahrnehmung eines gefährlichen Abgrundes führen, sollte dann der Mitwanderer den Abgrund nicht in ähnlicher Weise wahrnehmen können? Wenn er die Gefährdung nicht wahrnimmt, sondern irgendetwas anderes, ist sein Leben gefährdet. Unter gleichen phylogenetischen Bedingungen ist zumindest eine sehr ähnliche Wahrnehmung aller Individuen überlebenswichtig. Eine von den Kulturen unabhängige Bestätigung der allgemeinen Geltung der Bewertung von Wahrnehmungen zeigen Ekmans Untersuchungen. Für mindestens sechs Zustände, die durch einen Gesichtsausdruck charakterisierbar sind, wie Glück, Überraschung, Furcht, Verachtung, Trauer und Ärger hat er nachgewiesen, dass sie von einer überwiegenden Mehrheit aller Menschen bei 21 Völkern der Erde spontan richtig gedeutet wurden (Ekman 1999). Ähnlich wie bei der Wahrnehmung verhält es sich bei emotionalen Bewertungen, die mit der Wahrnehmung einhergehen. Trotz individuell geprägter Abweichungen werden die auf ein Überleben, Wohlbefinden und Gedeihen sich auswirkenden Bewertungen bei gleichen Umweltreizen ähnlich sein. Wenn es bei einem Individuum extreme Abweichungen geben sollte, werden ihm diese nicht nur zum Nachteil seiner Lebensbedürfnisse gereichen können, sondern einem Beobachter des Vorgangs zu einer Bewertung herausfordern: Wer das Gesicht eines Menschen wahrnimmt und dessen Ausdruck als einen um Hilfe flehenden erkennt, der wird, wenn ein anderer A
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den gleichen Gesichtsausdruck als Freude bewertet, dessen Ergebnis verwunderlich finden und vielleicht eine Erklärung verlangen. Was lässt sich als Ergebnis aus den Untersuchungen der emotionalen Bewertungen über Werte aussagen? Unter Wert wird hier ein aus einem Bewertungsprozess hervorgehendes Ergebnis verstanden, das der Selbsterhaltung dient und Ziele des Selbstinteresses fördert. Ein Wert dient einer Handlungsorientierung. Der Wert ist keine abstrakte übergreifende Norm, wie ihn eine Werteethik als a priori gültig unterstellt, sondern ein auf Ergebnisse und Erfahrungen aus Einzelsituationen zurückgehendes Wissen. Eine Unterscheidung zwischen einer wertfreien Wirklichkeit und einem Reich der Werte macht insofern keinen Sinn, weil ein Wert aus der Umwelt hervorgeht, die von einer Wirklichkeit nicht zu trennen ist. Kraft spricht von Werten als Abstraktion aus überindividuellen Wertungen (Kraft, S. 62 f.). Ungeklärt ist, worauf sich die Abstraktion bezieht; wenn vom Individuum abstrahiert würde, verlöre ein Wert das, was ihn zu einem Wert für ein Individuum macht; wenn man von der Wahrnehmung und ihrer emotionalen Bewertung abstrahieren würde, wäre nicht mehr zu erkennen, was ihn zu einem Wert macht. Auch eine Unterscheidung zwischen evaluativen Fragen wie »Was ist gut für mich?« und normativ ethischen Fragen nach einem moralischen Richtigen wie »Was soll ich tun?« unterstellt, dass ein Evaluiertes etwas anderes ist als normativ Ethisches. Dass aber normativ Ethisches losgelöst von einem Bezug auf die Erste Person die ethischen Konflikte oft nicht lösen kann, wurde gezeigt. Werte als Begriffe ohne einen Bezug auf ein Individuum und seine Umwelt bleiben vage. Werte – so hat sich aus den Untersuchungen emotionaler Bewertung der Wahrnehmungen ergeben –, sind Orientierungsstandards, die einer Erfüllung der Bedürfnisse des Menschen dienen. Als Werte, die sich durch Konstanz und Verallgemeinerungsfähigkeit auszeichnen, haben sich bisher ergeben: Selbsterhaltung, Schutzbedürfnis, Selbstwertgefühl, Anerkennung, Zufriedenheit, Liebe, Geborgenheit, Empathie hinsichtlich Mitleid und Hilfsbereitschaft, soziale Einbindung. 14 Ein Wert gilt zunächst nur für ein Individuum aus den Ergebnissen und den Erfahrungen seiner Bewertungsprozesse. Eine Verallgemeinerung von Werten wird im Abschnitt F unter den Aspekten einer ethischen Urteilsbildung begründet. Eine ausführliche Untersuchung der Werte als Ergebnisse emotionaler Bewertungen findet sich in WuB, S. 173 ff.
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E. Handeln aus emotionaler Bewertung
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Bewerten und Handeln
Was haben Emotionen mit Handeln zu tun? Was intuitiv jedem Menschen selbstverständlich ist, nämlich in einer bestimmten Situation entsprechend zu handeln, lässt sich aus der konstruktivistischen Theorie des Wissens aus Reizen so beschreiben: Der Mensch bedarf eines Austausches mit seiner Umwelt zur Selbsterhaltung, für seine Ernährung und Fortpflanzung. Er bedarf auch einer sozialen Kommunikation wie die Beziehung eines Menschen in seiner Familie oder überhaupt in Lebensgemeinschaften. Umwelt, dazu gehört der andere und eine Gemeinschaft ebenso wie der Mensch selber, der zur Reizquelle für einen anderen werden kann. Wenn es Einflüsse aus der Umwelt gibt, wie die Neurowissenschaften nachweisen, und wenn ein Mensch ein nach Selbsterhaltung strebendes Individuum ist, wie es unserem Menschenbild entspricht und wie ihn die Biologen beschreiben, dann bedarf der Mensch einer Möglichkeit zu bewerten, wie sich die Umwelteinflüsse auf ihn auswirken und wie er den Einflüssen begegnen, wie er handeln und sich verhalten soll. Er bedarf einer Möglichkeit zu prüfen, welches Handeln seinen Bedürfnissen entspricht, woran er seine Handlung orientieren kann. Eine Wahrnehmung alleine kann diese Orientierung nicht leisten; aber die Bewertungen aus den Emotionen ermöglichen eine Handlungsorientierung, die der Umweltsituation und den Bedürfnissen des Menschen Rechnung tragen. Begrifflich ist in diesem Zusammenhang der Ausdruck Handeln besser geeignet als Handlung. Hinsichtlich einer ethischen Urteilbildung drückt Handeln eher den Prozesscharakter aus, der aus einer Tätigkeit des Individuums in Bezug auf seine Umwelt hervorgeht und auf den es hier ankommt, während Handlung eher das Gesamtereignis benennt, das durch Eigenschaften gekennzeichnet ist. Bedarf es einer Unterscheidung zwischen Handeln und Verhalten? Höffe macht aus ethischer Perspektive keinen Unterschied (Höffe, S. 110 f. u. 278). Dagegen diskutiert Roth bisherige Versuche einer A
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Differenzierung zwischen Handeln und Verhalten aus psychologischer Perspektive (Roth 2001, S. 406 ff.). Im Zusammenhang dieser Untersuchung der Bedeutung der Emotionen für eine Ethik bedarf es keiner Unterscheidung zwischen Handeln und Verhalten, weil es auf eine Verarbeitung der Reize der Umwelt unter moralischen Gesichtspunkten ankommt, die im Handeln wie auch im Verhalten als Reaktion auf die Umwelt zum Ausdruck kommen. Anzumerken bleibt, dass nicht alle von Menschen ausgehenden Vorgänge Handlungen sind wie z. B. Zustandsänderungen wie frieren, verdauen oder niesen. Eine Bewertung löst Handeln bzw. Verhalten aus. Wäre das nicht der Fall, machte eine Bewertung keinen Sinn, weil das Individuum keine Orientierung hätte, was seiner Lebensgestaltung förderlich oder hinderlich wäre. Bewertung einer Wahrnehmung kann betroffen machen; Bewertungsergebnisse, die den Bedürfnissen entsprechen, regen zum Handeln an, sie zu fördern; und solche, die sie behindern, wird man durch Handeln zu vermeiden versuchen.1 Handeln kann bewusst oder unbewusst geschehen. Zu den unbewussten Weisen gehören Handlungen im Affekt, deren Benennung zum Ausdruck bringt, dass eine Bewertung vorausgegangen ist, die ihren Ausdruck im Affekt findet. Es können auch unbewusste Reaktionen sein wie z. B. dort, wo sich Gefahren abzeichnen; Hilferufe vor dem drohenden Ertrinken sind Reaktionen, deren man sich nicht erst bewusst werden muss, um zu reagieren. Bewusste Handlungen sind durch eine Intention, ein Ziel oder einen Zweck gekennzeichnet. Die Bedeutung der Emotionen für Handlungsorientierungen zeigt aus neurowissenschaftlicher Perspektive folgendes Experiment: In einem Glücksspielexperiment, in dem Versuchspersonen bei entsprechenden Handlungen eine Belohnung oder Bestrafung erhielten, zeigte sich, dass gesunde Versuchspersonen durch Überlegung nach kurzer Zeit in der Lage sind, vorteilhaftes oder nachteiliges Verhalten vorherzusagen; sie zeigten sich zu einem in die Zukunft gerichteten vorteilhaften Handeln befähigt (Damasio, S. 285 ff.). Dagegen konnten hirngeschädigte Patienten solche Entscheidungen nicht sinnvoll treffen, weil sie zu keinen Emotionen fähig waren. Eine ähnliche Beobachtung machte Damasio bei dem hirngeschädigten Patienten Gage, der durch einen Unfall eine schwere Verletzung einer Hirnregion Pauen (2001, S. 100) nennt den Zusammenhang zwischen Emotionen und Handlungsmustern einen direkten Bestandteil unseres Alltagsvokabular; ferner hat er Emotionen und Alltagserfahrungen untersucht, vgl. Pauen (1999).
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erlitten hatte: An seiner Unfähigkeit zu Emotionen studierte Damasio, welche Auswirkungen daraus folgen: Gage konnte keine sinnvollen Handlungsstrategien für die Zukunft entwickeln (Damasio, S. 25 ff.). Es gibt kaum emotionale Bewertungen von Wahrnehmungen, aus denen sich keine Handlungstendenzen ergeben: Selbst der Anblick einer schönen Landschaft mag den Wunsch einer Widerholung des Erlebnisses wecken. Auch der Einwand, ein Arzt würde einen Blinddarm nicht aus emotionaler Bewertung entfernen, sondern nach Regeln der Diagnose und Therapie, überzeugt nicht. Wodurch sollte denn die Handlungsentscheidung der Operation gerechtfertigt sein, wenn nicht durch die emotionale Bewertung des Zustandes des Patienten und einer möglichen Verschlimmerung. Wenn auch ärztliche Routine zunächst bestimmend sein mag, treten spätestens emotionale Bewertungen auf, wenn eine falsche Handlungsentscheidung getroffen wurde, wenn über Erfolg oder Misserfolg zu urteilen ist. Auch eine Handlung, die sich auf den ersten Blick nur auf die Erfüllung handwerklicher Regeln beschränkt, erfolgt vor dem Hintergrund einer vorausgehenden Bewertung und wird außerdem selbst zum Anlass einer Bewertung. Es gibt die Möglichkeit, eine Handlung aus einer vorhergehenden Bewertung zu erklären. Ein Gericht, das die Handlung eines Täters zu beurteilen hat, wird nach den Motiven des Täters fragen, um die Handlung erklären zu können. Und umgekehrt wird z. B. in Träumen deutlich: Man erlebt eine Traumsituation, deren Bewertung zu handeln verlangt, und man kann es nicht; man kann nicht das tun, was die Situation verlangt. Man fühlt sich gelähmt und wie ein Verlierer. In beiden Fällen zeigt sich, dass Emotionen den Verknüpfungspunkt bilden zwischen bewerteter Wahrnehmung und Handeln. Bewusst getroffene Handlungsentscheidungen sind das Ergebnis einer kognitiven Auseinandersetzung mit den aus emotionaler Bewertung hervorgehenden Handlungstendenzen. Der Mensch gewinnt durch das Bewusstwerden der Bewertung Distanz als Voraussetzung einer Handlungsentscheidung; er kann Vor- und Nachteile abwägen, Erfolg oder Misserfolg abzuschätzen versuchen, Erfahrungen und Erlerntes in eine Betrachtung einbeziehen. Das Subjekt kann sich Ergebnisse und Folgen vorstellen; es kann sich als Voraussetzung seiner Entscheidung mit dem Objekt der Handlung auseinander set-
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zen, z. B. ab wann einem menschlichen Embryo die Menschenwürde zukommt. Die auf Kant zurückgehende Frage nach einer Handlungsorientierung lautete: Was soll ich tun? (KdrV B 833). Die Frage aus emotionaler Bewertung lautet dagegen: Soll ich es tun? Während Kants Fassung nach einem allgemein und notwendig geltenden Kriterium einer Handlung fragt, macht die zweite Fassung in dem Wort »es« die Voraussetzung einer bestimmten Situation deutlich, in der ein Mensch seine Handlungsentscheidung wählt und trifft. Hinsichten auf eine Handlung wie Absicht, Ziel, Objekt oder Folgen werden einbezogen in die Bewertung einer bestimmten Situation; sie erhalten keine eigenständige Orientierungskraft, sondern eine aus der Handlungssituation. Es muss aber nicht allein das momentane Erlebnis einer Situation bestimmend sein, sondern ebenso die individuelle Erfahrung vorangegangener Situationen, die als »Marker« 2 den Bewertungsvorgang erleichtern. Erfahrungen aus »materialen Prinzipien« hatte Kant in seiner Ethik nicht zugelassen, weil sie für eine notwendige Geltung eines Bestimmungsgrundes des Willens untauglich sind (Kant, KdpV A71). Welche Rolle Erfahrung hinsichtlich einer Ethik aus emotionaler Bewertung zukommt, wird im folgenden Abschnitt behandelt. Eine emotionale Bewertung als Grundlage einer Handlungsentscheidung wirkt in zwei Richtungen, nämlich einerseits von der Umwelt in Richtung des Menschen, der die Reize bewertend die Handlungstendenz wählt, die die Selbstinteressen fördert bzw. deren Gefährdung vermeidet; und andererseits vom Menschen in Richtung Umwelt, die durch Handlungen Veränderungen ausgesetzt ist, die zu späteren Rückwirkungen führen. Ein Landwirt wird z. B. auf heranwachsende Früchte so einzuwirken versuchen, dass eine möglichst reiche Ernte entsteht. Oder ein Politiker wird versuchen, so auf Wähler einzuwirken, dass deren Wahlentscheidung zu seinen Gunsten ausfällt; er wird sein Bild als Umwelt für den potentiellen Wähler so gestalten, dass möglichst viele ihn wählen werden.
Damasio (S. 237 ff.) beschreibt ein erlebtes unerwünschtes Ergebnis, das mit einer gegebenen Reaktionsmöglichkeit in einer Handlungssituation in unserer Vorstellung auftaucht mit dem Begriff »Marker«. Es ist ein automatisches Warnsignal, das vor einer Gefahr warnt, wenn man sich für eine Handlungsmöglichkeit entscheidet, die zu diesem Ergebnis führt.
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II.
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Von der Handlungstendenz, die aus der Bewertung einer Wahrnehmung hervorgeht, lässt sich unterscheiden ihre nachdenkende Betrachtung, die zu einem Urteil führt, d. h. zu einer Entscheidung. Es ist der Prozess einer Urteilsbildung. Eine emotionale Urteilsbildung setzt voraus, Emotionen als Quelle des Wissens für Orientierungen des Handelns und Verhaltens zu akzeptieren. Tatsächlich werden sie oft als störende Einflüsse beurteilt; Emotionen, so wird argumentiert, sollten in einen persönlichen Bereich zurückgedrängt bleiben, damit sie nicht auf Irrwege führen. Bevorzugt werden dagegen Vernunft und rationale Begründungsstrategien, die für jedermann nachvollziehbar sind. Ein Misstrauen gegen Emotionen hängt auch damit zusammen, dass sie etwas Individuelles zum Ausdruck bringen, während von einer Ethik doch objektive Aussagen erwartet werden, die mit Notwendigkeit gelten. Die Gründe für eine Zurückdrängung der Emotionen sind bedenkenswert, wenn ihre Bewertungen nicht reflektiert werden, wenn sie ungeprüft zur Entscheidungsgrundlage gemacht werden. Ein generelles Misstrauen gegen Emotionen übersieht aber, dass sie als Teil unseres Bewertungssystems in der Kommunikation mit der Umwelt unverzichtbar sind und auf sie alle Orientierungen auch für langfristige Zielsetzungen zurückgehen. Emotionen vermitteln wichtige Informationen. Liebe und Akzeptanz sind z. B. unverzichtbar für soziale Systeme; die Unfähigkeit, Furcht zu empfinden, führt zur Lebensuntüchtigkeit. Allgemeiner ausgedrückt: wer nicht fühlt, kann auch nicht vernünftig handeln und entscheiden. Emotionen dienen der Erhaltung des Individuums als Mittler zwischen ihm und der Außenwelt. In den emotionalen Prozessen wird der Organismus sowohl über körperinterne Vorgänge als auch über die Bedeutung der aktuellen Außenwelt unterrichtet und bekommt eine Meldung über die Zweckmäßigkeit seines Verhaltens. Es erscheint deshalb aus der Perspektive der Kommunikation eines Menschen mit seiner Umwelt berechtigt, einem Zusammenhang zwischen biologischen Prozessen und Emotionen als Bewertungsinstanz zur Durchsetzung von Lebensinteressen nachzugehen. Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist es eine kognitive Verarbeitung der Reize, die eine Reflexion ermöglicht und dadurch einen Handlungsspielraum eröffnet. LeDoux unterscheidet nicht zwischen Kognition und Denken (LeDoux 2003, S. 27). Obgleich einige VerfasA
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ser keine Trennung zwischen Emotion und Kognition sehen, nennt LeDoux eine Reihe von neurowissenschaftlichen Ergebnissen, die Emotion und Kognition als getrennte, miteinander wechselwirkende mentale Funktionen erweisen (75). Kognition erlaubt zu entscheiden, überzugehen von der Reaktion zur Aktion (18). In unserem Zusammenhang kommt es weniger darauf an, die Hirnmechanismen und Systeme der Reaktionssteuerung zu verstehen als auf Ergebnisse zu verweisen, die die Möglichkeit eröffnen, die Handlungstendenzen aus der emotionalen Bewertung nicht nur auf ein Reaktionsvermögen zu reduzieren, sondern als Handlungsspielraum zu erweisen. Eine kognitive Verarbeitung der Reize der Umwelt und eine nachdenkende Betrachtung eröffnet diesen Spielraum. 3 Reichen rationale Überlegungen aber nicht aus, um eine sinnvolle Handlungsentscheidung zu treffen? Ein Ökonom wie Robert Frank, ein Biologe wie Robert Trivers, ein Psychologe wie Jerome Kagan und schließlich der Neurowissenschaftler Antonio Damasio kamen zum gleichen Ergebnis: Wenn Menschen alle Gefühle abgehen, sind sie rationale Narren (Ridley, S. 204). Oft zeigen sich Emotionen einflussreicher auf Entscheidungen als rationale Gründe. Weit in die Zukunft reichende Entscheidungen eines Menschen werden bisweilen wesentlich, manchmal ausschließlich von Emotionen beeinflusst wie z. B. die Auswahl seines Ehepartners oder die Wahl des Berufes. Wenn jemand von einer Vernunftehe spricht, dann verweist er mehr auf rationale Gründe für eine Ehe, vielleicht unter Verzicht auf die fundamentale emotionale Bindung der Liebe. Die Entscheidung für einen bestimmten Beruf trifft mancher sogar gegen rationale Gründe z. B. hinsichtlich späterer Erwerbsaussichten; das ist besonders deutlich bei Künstlern. Emotionen und Vernunft ergänzen sich in einer zweiten Hinsicht. »Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt« (Pascal, S. 174). Pascal spricht von den zwei Quellen, aus denen uns Einsichten und Bewertungen möglich sind; es ist die Vernunft und das Herz. Pascal hatte mit der Quelle des Herzens diejenige gemeint, die Erkenntnis aus der Religion erschließt, die der Vernunft allein verborgen bliebe. In welcher Weise Verstand und Vernunft von Gefühlen geleitet werden, zeigt Meyer-Abich an Beispielen: In der Rüstungstechnik seien es die Angstgefühle, deretwegen sich die Völker mit immer LeDoux (2003, S. 74 ff.) setzt sich ausführlich mit den unterschiedlichen Interpretationen einer Kognition auseinander.
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vernichtenderen Systemen bewaffnen; aus dem Alltagsleben verweist er auf den Autoverkehr, wo in der Debatte um die Geschwindigkeitsbegrenzung das Argument der freien Fahrt für freie Bürger an ein Gefühl der Freiheit appelliere (Meyer-Abich, S. 126 ff.). Schließlich kann auf die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls verwiesen werden, der sein vertragstheoretisches Begründungskonzept auf Vernunft und Rationalität der Menschen aufbaut, das aber zugleich einen Gerechtigkeitssinn der Bürger voraussetzt, ohne den die Theorie ihr Fundament verlöre. In allen Beispielen geht es nicht um Vernunft oder Gefühl, sondern um die Verknüpfung der Vernunft mit dem Gefühl, wobei das Gefühl als wirksame und tragfähige Grundlage in unseren Handlungsentscheidungen zur Geltung kommt. Vernunft und Emotionen ergänzen sich insofern, als eine emotionale Bewertung aus dem Einzelfall entsteht; Einsichten aus Zusammenhängen, die über den Einzelfall hinausgehen, erschließen erst die Reflexion. Die Handlungsentscheidung wird im Einzelfall getroffen; allgemeine Erkenntnisse werden den Erwägungen hilfreich sein. Die Handlungsentscheidung bedarf einer emotionalen Bewertung, damit sie im Einzelfall vom Individuum zur Förderung seines Selbstinteresses gewollt wird. Ein Schlemmer, der gerne isst, weil ihn die Speisen locken, mag einem ärztlichen Rat folgend zu der Einsicht gelangen, dass zu vieles Essen der Gesundheit schade; er mag auch das Ziel verfolgen wollen, täglich nur eine bestimmte Kalorienmenge zu sich zu nehmen. Die allgemeinen Einsichten zu befolgen und erneuten Verlockungen widerstehen zu können, wird schwer, wenn nicht eine emotionale Bewertung des Verzichtes, nämlich z. B. die Erleichterung aus der Erfahrung, dass gesundheitliche Beschwerden ausbleiben, die Zurückhaltung fördert. Roth bestätigt den emotionalen Bewertungsaspekt und meint, ein starker Wille, unterschieden von einer bloßen Absicht, beruhe auf spezifischen Belohnungserfahrungen, die, über längere Zeiten hinweg gesammelt, das Erreichen bestimmter Ziele als lustvoll erscheinen lassen (Roth 1997, S. 311). Wenn sowohl Emotionen wie auch Vernunft Einfluss auf unsere Handlungsentscheidungen ausüben, kommt dann einem von beiden der Vorrang zu? Aus Sicht der Neurowissenschaften betont Roth, dass Emotionen die Vernunft dominieren. Er meint, das sei auch biologisch sinnvoll, weil die Emotionen dafür sorgen, dass wir dasjenige tun, was sich in unserer gesamten Erfahrung bewährt hat, und das lassen, was sich nicht bewährt hat. Manche Autoren sprechen von A
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einer Rationalität der Emotionen, weil sie zu einer rationalen Organisation des Handelns beitragen. 4 Erst eine von der unmittelbaren Bewertung distanzierte Betrachtung ermöglicht, die einzelne Situation nach Kriterien oder allgemeinen Aussagen wie Erfahrung und »Marker« zu beurteilen, so dass ein Urteil als Folgerung aus zwei Prämissen entsteht. Die eine Prämisse ist die einzelne bewertete Wahrnehmung; die zweite Prämisse ist ein allgemeiner Satz. Ein Beispiel einer solchen emotionalen Urteilsbildung ist: Erste Pra¨misse (Bewertung der Wahrnehmung und Handlungstendenz) Dort sitzt ein armer Bettler, der die Tendenz zur Hilfe weckt. Zweite Pra¨misse (Allgemeiner Grundsatz) Es gibt Menschen, die lieber durch Betteln Geld sammeln als es durch Arbeit zu verdienen. Folgerung: Vorsicht bei der Entscheidung, hier mit Geld zu helfen Lässt sich die Folgerung in dieser Urteilsbildung als wahr oder falsch erweisen? Die Bewertung des Bettlers aus der ersten Prämisse kann nur eine Gewissheit beanspruchen, weil lediglich die emotionale Bewertung und kein Urteil über den Bettler bekannt ist. Die Wahrheit der zweiten Prämisse lässt sich zeigen, wenn auf einen Bettler verwiesen werden kann, der lieber bettelt als arbeitet. Das Urteil aus der Folgerung ist zwar wahr, lässt aber beide Handlungsmöglichkeiten offen. Es bewahrt vor vermeintlicher Hilfe, wo sie nicht notwendig ist. Der Einzelfall bleibt entscheidend. Forschner meint, sittliche Gewissheit erfordere eine objektive Interpretation; objektiv hieße, wenn man einem Handlungsziel, einer Handlungsmaxime moralische Eigenschaften zuspreche, die unabhängig davon seien, ob sie von jemandem wahrgenommen werden oder nicht, unabhängig davon auch, welcher Art die emotionalen Reaktionen auf diese Eigenschaften bei ihm oder einer anderen Person seien (Forschner 2002, S. 232 f.). Gegen dieses Kriterium objektiver Gewissheit lässt sich
LeDoux (2003, S. 41), Damasio (1997, S. 273); De Sousa (1987) hat eine Untersuchung der Rationalität der Gefühlen gewidmet.
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einwenden, dass es den Einzelfall außer Acht lässt, auf den es ankommt, wie das Beispiel des Bettlers zeigt. Eine Gewissheit des Urteils aus emotionaler Bewertung kann empirisch nur dadurch überprüft werden, dass sich die Handlungsentscheidung bewähren muss; im Falle des Bettlers hieße das, sie müsste einer Erfüllung der Bedürfnisse des Handelnden dienen; das wäre nicht der Fall, wenn sich herausstellte, dass der Bettler arbeiten kann und sich die Hilfe erschlichen hat. Bewährt sich die Entscheidung nicht, weil die Hilfsbereitschaft des Handelnden missbraucht wurde, wird der Handelnde den Misserfolg als Marker einer Erfahrung sammeln können. Behandelt wurde hier die Urteilsbildung für eine einzelne Handlungsentscheidung; es ist noch keine allgemeine Urteilsbildung einer Ethik betrachtet worden. Eine emotionale Urteilsbildung unterscheidet sich von einer ethischen dadurch, dass der ethischen eine allgemeine Geltung aus Gründen zukommt.
III. Emotionen und moralisches Handeln Moralischer Charakter der Emotionen Um die Bedeutung der Emotionen für moralisches Handeln zu untersuchen, könnte man so vorgehen, dass man nach Vorstellungen einer Moral fragt und dann prüft, ob Emotionen sie erfüllen. Wenn man aber zeigen möchte, dass Emotionen moralisches Handeln konstituieren, erscheint der umgekehrte Weg geeigneter, nämlich die Eigenschaften der Emotionen zu betrachten und zu fragen, ob diese Eigenschaften die Vorstellungen von Moral erfüllen. Hondrich schreibt: »Der Gegenstand, der Gesellschaft trägt, sind Gefühle; moralische Gefühle; von vielen geteilte moralische Gefühle. Ihr Reich ist ein Zwischenreich; zwischen den Zeilen, zwischen den Tönen, zwischen Menschen« (2005, S. 8). Dagegen kritisiert de Sousa einen moralischen Charakter der Emotionen; er meint, sie sagten nichts über die Welt hinsichtlich einer Moral; es gäbe viele Emotionen, die man als unmoralisch und üble nicht achten könne, und man benötige ein unabhängiges Kriterium, um die guten von den schlechten zu unterscheiden; sie seien erlernt und ein Instrument moralischer Übereinkunft; sie seien biologisch nützlich; sie gäben den Blick frei auf Werte, aber selber seien sie nebensächlich für Werte;
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sie erlaubten keine moralische Autonomie; ihr natürliches Element bedürfe der Reflexion. 5 Stimmt diese Einschätzung der Bedeutung der Emotionen für eine Moral? Gefühle ohne eine Bindung an die Umwelt des Menschen sind in ihrer moralischen Bedeutung schwer zu fassen, weil man nicht weiß, woraus sich Kriterien für Handlungsentscheidungen ergeben könnten. Welches sind nun moralische Eigenschaften der Emotionen? Sie lassen sich unterteilen nach ihren Bewertungen, die sich auf die Erste Person, auf eine andere Person oder auf die Gemeinschaft beziehen. Auf die Erste Person beziehen sich emotionale Bewertungen wie z. B.: Furcht vor Gefahr, die zur Schutzsuche anregt; Freude über Lob, das eine Selbstachtung fördert; Genugtuung über Anerkennung, die den Selbstwert steigert bzw. umgekehrt Enttäuschung über Misserfolg, die den Selbstwert nicht fördert; Befriedigung in der Verfolgung ausgewählter Ziele für ein erfülltes Leben. Hülshoff, der die Emotionen aus biologischer, psychischer und sozialer Perspektive untersucht hat, tritt für eine Anerkennung und Nutzung ihrer individuellen und sozialen Funktion ein. Scham, Schuld, Gewissen und Selbstwertgefühl dienten vor allem der sozialen Bindung (Hülshoff 1999, S. 175 ff.). Auf eine andere Person beziehen sich Bewertungen wie die Erfüllung eines Bedürfnisses nach enger freundschaftlicher Beziehung; Liebe verweist auf ein Fundament sozialen Verhaltens; eine Achtung der Ersten Person durch andere fördert die Selbstachtung; eine Verletzung der Rechte anderer ruft Schuldgefühle hervor; Scham verweist auf eine Unterlassung dessen, was man tun sollte; es sind aber auch Untreue und Betrug, die Andere zur Missachtung veranlassen; Empathie drückt die Teilnahme an dem Leid des anderen durch Mitleid aus; wenn z. B. eine Erste Person die Hilfsbedürftigkeit eines Anderen nachempfindet, in einer Reflexion aber zu dem Entschluss gelangt, nicht zu helfen, wird dieser Entschluss wiederum einer emotionalen Bewertung durch die Erste Person selbst oder durch andere ausgesetzt sein. Bei der Ersten Person könnte es ein Gefühl der Unzufriedenheit auslösen; bei einer anderen ein Gefühl der VerachDe Sousa nennt vier Wurzeln für moralische Gefühle: Wohlergehen, Gerechtigkeit, Eigentum und Weisheit (1999, S. 79); Matt Ridley spricht von einer Biologie der Tugend und erläutert, warum uns Emotionen davor bewahren, rationale Narren zu sein.
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tung oder umgekehrt eine Anerkennung der Ersten Person, wenn selbstlose Hilfe geleistet worden ist. Bar-On berichtet von einem Schergen, der Transporte von Juden in Vernichtungslager zu beaufsichtigen hatte. Eines Tages entdeckt er unter den Gefangenen einen alten Schulkameraden, der ihn erkennt und ihm voll in die Augen blickt. Der Scherge tut nichts zu dessen Rettung. Lebenslang erinnert er sich an diese Unterlassung und quält sich mit Selbstvorwürfen (Bar-On 1989, S. 424–443). Es sind drittens Bewertungen, die sich auf die Gemeinschaft beziehen. Sie sind gekennzeichnet durch ein Gemeinschaftsgefühl; durch »Treu und Glauben« als eine rechtliche Institution des Umgangs miteinander; durch einen Gerechtigkeitssinn als Grundlage einer Zusammenarbeit in der Gesellschaft (Rawls 1975); durch Schuldgefühle, die sich bei Verstößen gegen Regeln und bei Bruch des Vertrauens einstellen; Rechte und Freiheit anderer wecken Achtung; es sind die Menschenrechte, deren Geltung und Erweiterung weniger vom Sittengesetz und mehr vom »Fortschritt der Gefühle« abhängen (Rorty, S. 161 f.); Liebe und Akzeptanz sind für soziale Systeme unverzichtbar (Hoffmann 1998, S. 217); Zeugnisse vieler Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus belegen, dass die Beobachtung von Erschießungen Unschuldiger und anderer Gräueltaten bei ihnen Entsetzen und Abscheu hervorriefen, die sie zum Widerstand veranlassten, um der Gemeinschaft, des Volkes und des Landes willen. 6 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass moralische Gefühle der Förderung menschlicher Interessen dienen (Rawls, S. 515); das Verhalten eines Menschen strebt nach Anerkennung; Schuldgefühle zeigen moralisches Versagen an wie Bruch des Vertrauens oder der Freundschaft; zu einem moralischen Charakter der Emotionen rechnet auch Liebe zu Tieren und ein Mitleid mit ihnen in ihrer Not ebenso wie Liebe zur Natur und Abneigung gegen bestimmte verletzende Eingriffe. Gehen aus Eigenschaften der Emotionen Werte 7 hervor? Nozick meint, dass Emotionen passende Antworten auf Werte und dass sie deren psychophysische Nachbildungen seien; mit Wert bezeichnet er Reich (1994, S. 56 ff.) hat die Motivationen von einem Teil der Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus untersucht und dargestellt, dass es oft die emotionalen Bewertungen einzelner Erlebnisse waren, die den Entschluss zum Widerstand auslösten. 7 Zu Werten als Ergebnisse aus emotionalen Bewertungen vgl. Abschn. D. IV. 6
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nicht unsere subjektive Erfahrung, sondern eine Qualität, die ein Etwas hat und um deretwillen es wertvoll ist; Werte verfügten über eine eigene Natur (S. 101 ff.). Sein Argument der Qualität, die einem Etwas zukommt, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Radikalen Konstruktivisten haben zwar gezeigt, dass wir Eigenschaften von Gegenständen nicht als abgebildet verstehen können, weil wir zu demjenigen, was abgebildet würde, keinen Zugang haben. Trotz dieses Einwandes können auch die Konstruktivisten nicht bestreiten, dass Werte nicht unserer Beliebigkeit und Willkür überlassen sind. Eine als ekelhaft empfundene Speise kann man nicht beliebig als wohlschmeckend bewerten. Für Werte des Wohlbefindens, des Vergnügens oder einer von Geschmack geprägten Lust, die über die Grundbedürfnisse hinausgehen und denen keine selbsterhaltende Funktion zukommt, wird eine Allgemeingültigkeit weniger streng zu zeigen sein wie z. B. in der individuell unterschiedlichen Freude bei der Betrachtung bestimmter Kunstwerke, der Lust bei dem Verzehr erlesener Speisen oder der Liebe eines ausgewählten Partners. Da auch bei dieser Art von Bewertungen die angeborenen Reaktionsmuster als Grundlage dienen, werden sie wenigstens insofern Allgemeingeltung beanspruchen können, als sie nicht gegen ein Überlebensinteresse gerichtet Geltung finden können. Werte, die aus Emotionen eines Menschen in seiner Umwelt hervorgehen, wurden oben genannt (S. 86). Die Wege zur Erreichung der Werte können verschiedene sein. Ein Ultraliberalist wird versuchen, über eine Gemeinschaft als Zweckbündnis Wertvorstellungen zu verfolgen; ein Kommunitarist wird dagegen Wertvorstellungen aus seiner Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verwirklichen. Er wird in seine Bewertung eher die Gemeinschaft einbeziehen, weil er meint, seine Lebensvorstellungen nur in einer Gemeinschaft verwirklichen zu können. Ein einzelner Wert wird seine Geltung verlieren können, wenn eine Konkurrenz zu anderen Werten der Wahrnehmung auftritt. Es gibt Menschen, die ihren Tod um eines anderen Wertes willen in Kauf nehmen, wie es bei den Widerstandskämpfern im Dritten Reich geschehen ist. Dieses Beispiel spricht nicht gegen eine Bewertungsorientierung der Selbsterhaltung, weil der Tod um des Lebens und der Achtung des Lebens der anderen willen zum Maßstab gewählt worden ist. Problematisch wird es bei Selbstmordattentätern, die das Leben anderer Unschuldiger zerstören um bestimmter politischer 98
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Ziele willen, oft verbunden mit einer religiösen Verheißung. Wertvorstellungen dieser Art sind mit denen aus emotionaler Bewertung unvereinbar, weil sie das Leben Unschuldiger als Mittel zum Zweck einsetzen, was Abscheu erzeugt. Auch wenn solche Handlungsüberzeugungen kurzfristig eine Gefolgschaft finden, werden sie sich langfristig nicht durchsetzen, weil sie gegen das Leben verstoßen. 8 Zu betonen bleibt, dass sich die Werte zwar auf die Erste Person beziehen, die die Wahrnehmungen bewertet, und dass eine Reihe von Werten um der eigenen Person willen Handlungen und Verhalten bestimmen. Es hatte sich aber auch ein Bezug auf den Anderen und auf die Gemeinschaft gezeigt. Wohlwollen und Hilfsbereitschaft müssen nicht aus Selbstlosigkeit geschehen. Fürsorge für Kinder, Hilfe für Hilfsbedürftige angesichts ihrer Notlage, Spenden für einen Anderen verschaffen Handelnden auch Selbstachtung, Zufriedenheit und erspart die Scham, nicht altruistisch gehandelt zu haben. 9 Subjektivisten und Objektivisten haben darüber gestritten, ob Werte subjektiv oder objektiv seien. Den Subjektivisten, die ein vom Subjekt unabhängiges Kriterium der Bewertung zurückweisen und meinen, das betroffene Subjekt entscheide über die Bewertung, ist entgegenzuhalten, dass die Verarbeitung der Reize zwar eine subjektive ist, dass aber in der Verarbeitung Einflüsse aus der Umwelt wirksam sind, die nicht in das Belieben des Subjekts gestellt sind. Den Objektivisten, die für solche vom Subjekt unabhängigen Kriterien eintreten und zur Begründung auf einen interkulturellen Konsens verweisen, ist zu entgegnen, dass ihre Kriterien wie z. B. Sterblichkeit, Körperlichkeit, Kognition oder eine allen Menschen gemeinsame Menschlichkeit in Probleme der begrifflichen Interpretation und Anwendung geraten, die oben im Hinblick auf Normen geschildert wurden. 10 Wie ist es aber in einer Gesellschaft denkbar, dass sich entgegen der hier beschriebenen Werte oft Kulturen durchgesetzt haben, die Leben missachteten wie im Deutschland der Nationalsozialisten, in der Sowjetunion, in China während der Kulturrevolution, im Pol Pot Unter den palästinensischen Gruppierungen, die bisher die Selbstmordattentäter unterstützten, gibt es Stimmen, die davon abraten, weil sie ihrer Sache eher schaden als nützen. 9 Vgl. den Exkurs über Emotionen und Altruismus bei Damasio (1997, S. 240 ff.). 10 Zur Auseinandersetzung zwischen den Subjektivisten und Objektivisten vgl. Steinfath (1998), in dessen Sammelband zur Frage, was ein gutes Leben sei, beide Positionen zu Wort kommen. 8
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Regime in Kambodscha, im Milosevic Regime in Jugoslawien usw. Betrachtet man das historische Ende der Entwicklung dieser Beispiele, so zeigt sich in allen Fällen, dass die Verletzungen des Denk- und Bewertungssystems auf Dauer keinen Bestand hatten. Die im Namen einer Gemeinschaft verfolgten Bewertungen bedürfen offenbar langfristig doch einer an den o. g. Werten orientierten Ordnung. Unterdrückung von Mitmenschen, Selektion und Ermordung der Gegner entspricht nicht den fundamentalen Bedürfnissen der Menschen und kann sich in der Gemeinschaft nicht auf Dauer durchsetzen. Ob solche Systeme von innen oder von außen gestürzt wurden, ist unerheblich, denn es geschah aus den gleichen fundamentalen Lebensbedürfnissen, die sich auf angeborene primäre Gefühle stützen. Der moralische Charakter der Emotionen muss nicht nur angeboren sein; er kann durch Erfahrung erlernt oder auch durch Erziehung entwickelt werden, wie Kohlberg und Rawls ausführlich behandeln (Rawls 1975, S. 532 ff.; Kohlberg 1984, S. 198 ff.). Es gibt Emotionen, die einem moralischen Charakter widersprechen wie Hass, Missgunst und Egoismus. Auch in diesen Fällen versagen emotionale Bewertungen nicht, denn selbst wenn z. B. aus Rache, Wut oder Jähzorn schädliche Handlungstendenzen folgen, so sind sie einer eigenen Bewertung oder einer solchen durch andere ausgesetzt, die dem Betroffenen durch Verachtung und Versagen einer Anerkennung zum Nachteil gereichen können. Kritik am moralischen Charakter der Emotionen äußert Rawls. Er meint, Empfindungen hinsichtlich einer Moral würden sich über die zufälligen Verhältnisse der eigenen Umwelt erheben, und verbindet deshalb Moral und Gefühl durch Erklärungen mit Begriffen und Grundsätzen, die zuvor anerkannt sein müssten. Ergebnisse der Neurowissenschaften widerlegen diese Vorstellung: Emotionen repräsentieren ihre Bewertungen unmittelbar; erst ihre kognitive Verarbeitung führt zu einer Benennung durch Begriffe; sie bedürfen keiner Erklärung durch zuvor akzeptierte Grundsätze. Wichtig ist zu erinnern, dass Emotionen an Wahrnehmungen gebunden sind und auf Reize der Umwelt zurückgehen. Die Frage, ob Handeln, das sich an einer Selbsterhaltung und einem Selbstinteresse orientiert, Egoismus fördert, wird im folgenden Abschnitt im Rahmen des Kriteriums des Selbstinteresses behandelt. Wie steht es mit einer Moral, die sich nur an einer Prozedur der Zustimmung orientiert und nicht an einer inhaltlichen Aussage, wie sie Buchanan entwirft (Buchanan 1975, S. 8)? Moral wird zur Belie100
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bigkeit, solange nur verlangt wird, dass alle zustimmen. So eine Moral ist schwer vorstellbar; wird z. B. im politischen Bereich ein Konsens hergestellt, die Menschenrechte anderer zu verletzen, würde das wohl nicht als moralisch bewertet. Eine emotionale Bewertung eines derartigen Beschlusses würde eher Gewaltanwendung herausfordern, wie das Beispiel des Krieges der NATO gegen Jugoslawien im Jahr 1999 zeigt. Der Einsatz bewaffneter Streitkräfte wurde ausgelöst wegen der Menschenrechtsverletzungen Jugoslawiens durch Vertreibung der Albaner aus deren Siedlungsgebieten; der Krieg wurde gerechtfertigt zur Wahrung der Menschenrechte. Moral wird hier verstanden als Handlungsregeln, die sich auf die Erste Person, auf den Mitmenschen und auf die Gemeinschaft beziehen. Moral bedarf keiner Begründung, aber einer Akzeptanz. Moral schließt Wertmaßstäbe und Sinnvorstellungen ein. Die Herausbildung von Regeln kann durch Zustimmung erfolgen, wie Buchanan und Rawls in ihren Entwürfen einer Moral zeigen. Wenn man aber fragt, worauf Zustimmung beruht, dann ist es Erfahrung und eine Bewährung emotionaler Bewertungen. Aus Regeln z. B. der Förderung gesellschaftlicher Zusammenarbeit lassen sich durch reflexive Argumentationen Grundsätze entwickeln wie z. B. Rawls’ Grundsätze der Gerechtigkeit, die eine Ethik verkörpern. Aus Regeln des Umgangs mit militärischer Gewalt sind Grundsätze des Kriegsvölkerrechts entstanden; aus Regeln des Verhältnisses zwischen Individuum und Staat haben sich Grundsätze der Menschenrechte entwickelt. Eine Entwicklung ethischer Grundsätze auf der Grundlage emotionaler Bewertung bedarf einer genaueren Betrachtung, die im nächsten Abschnitt behandelt wird.
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I.
Allgemeines
Brauchen wir eine Ethik? Ethik fragt nach Orientierungen des Handelns, nach deren allgemeiner Geltung und Begründung. 1 Sie fragt nach Sinngehalten und Werten. Sie fragt nach Orientierungen des einzelnen Menschen für seine Lebensgestaltung, nach Regeln im Umgang mit anderen und nach Kriterien politischer Ordnungsgestaltung für eine Gemeinschaft. Sie fragt auch nach Antworten in ethischen Konflikten, die über eine politische Gemeinschaft hinausgehend andere Staaten und Gemeinschaften betrifft. Im Unterschied zur emotionalen Orientierung, in der die Anwendung eines allgemein akzeptierten Grundsatzes in einer einzelnen Handlungssituation zu bewerten ist, geht es in der ethischen Orientierung um die Wahl des Grundsatzes und dessen allgemeine Geltung. Ist so ein Grundsatz überhaupt erforderlich, braucht man eine Ethik? Ethische Orientierungen sind aus mehreren Gründen unverzichtbar: Der einzelne Mensch bedarf einer Möglichkeit der Rechenschaft über seine eigenen Lebenspläne, über das, was jedem zukommt und was nicht. Der Mensch findet sich hineingeboren in eine Gesellschaft und wird sich fragen müssen, was eine Gesellschaft, wenn er sie für erforderlich hält, als Grundlage zusammenhält. Überlegungen und Vorstellungen über eine politische Ordnung haben seit der Neuzeit zu Entwürfen geführt, die auf der Grundlage von Vertragstheorien ethische Orientierungen aus dem Menschenbild herleiteten. Meist sind es Naturrechte des Menschen wie Leben, Freiheit und
Mieth hat sich unter dem Eindruck gegenwärtiger ethischer Konflikte mit Orientierungen des Handelns auseinander gesetzt, wobei er Ethik gegen Moral dadurch abgrenzt, dass er Moral eine Instanz der Sinneinsichten nennt und Ethik als Nachdenklichkeit über strittige Moral definiert (2004, S. 20 f.).
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Eigentum, zu deren Schutz gegenseitige Rechte, Regeln und politische Ordnungen verabredet wurden. 2 Ethische Grundsätze sind für das Zusammenleben der Menschen unverzichtbar. Um die ethischen Konflikte zu lösen, die heute aus Machbarkeiten der Naturwissenschaften entstehen, ebenso wie aus denen der Medizin und der Ökonomie unter den Einflüssen der Globalisierung 3 , hat es viele ethische Entwürfe als Antworten gegeben, auf die oben hingewiesen wurde (S. 18–22). Sie lassen sich unterteilen in solche, die ausgewählte Normen als Grundlage zu rechtfertigen versuchen und in solche, die ethische Orientierung für begrenzte Anwendungsbereiche entwerfen. Zu der zweiten Gruppe gehören Medizinethik, Bioethik, Wissenschaftsethik, Wirtschaftsethik, Technikethik und Ökologische Ethik. Jede versucht, für einen speziellen Wissenschaftsbereich Prinzipien des Handelns zur Geltung zu bringen. 4 Spezialethiken mögen in einer Hinsicht geeignet sein, ethische Orientierungen aus einer Fachkompetenz zu begründen wie z. B. ein Arzt am Krankenbett eines Patienten eine Entscheidung über lebensverlängernde Maßnahmen am ehesten aus fachlichen Gründen ethisch beurteilen kann. Andererseits hat Fachkompetenz ethische Konflikte nicht lösen können wie die strittigen Auseinandersetzungen unter Ärzten über die Kriterien der Todesdefinition zeigen. Zur Gruppe der Ethikentwürfe, die sich auf Normen oder Prinzipien stützen, zählen Vernunftethik, Verantwortungsethik, Konsensethik, Diskursethik, Gesinnungsethik, Auswegeethik oder ein standesrechtliches Berufsethos. 5 Jeder der Entwürfe bedürfte einer gründlichen Diskussion, um seine eigentümliche Orientierungskraft zu prüfen. Generell bleibt aber den Entwürfen eine Kritik nicht erspart, die sich vor allem auf drei Punkte richtet auf die oben hingewiesen wurde (S. 18): Erstens ist es die strittige Anwendung einer Norm in einzelnen Kersting (1996) hat die Vertragstheorien von Hobbes bis in die kontraktualistischen Ausformungen in der Gegenwart untersucht. 3 Zum Begriff der Globalisierung vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (2001): Globalisierung: Geschichte und Dimension des Begriffs, www.bpb.de 4 Hösle (1990, S. 133 ff.) behandelt solche Ethikausformungen; s. auch Düwell und Hübenthal (2002); die Diskussion über Embryonenforschung, Präimplantationsdiagnostik, Klonen und Todeskriterien sind in einer Vielzahl von Veröffentlichungen behandelt worden. Wegen der Aktualität der Fragen, wegen des Unbehagens über die naturwissenschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und wegen ihrer Dringlichkeit findet die strittige wissenschaftliche Auseinandersetzung oft auch in den öffentlichen Medien statt. 5 Hans Lenk (1992) behandelt hier gegenwärtige ethische Grundpositionen. 2
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Entscheidungssituationen. Am Beispiel der Präimplantationsdiagnostik wurde erläutert, dass das Prinzip Verantwortung sowohl ihre Befürworter in Anspruch nehmen gegenüber betroffenen Eltern, die ihren Kindern z. B. einen Gendefekt ersparen wollen, als auch die Gegner, die eine Verantwortung für ungeborenes menschliches Leben reklamieren und dessen Schutz nicht bestimmten Auswahlkriterien überlassen wollen. Zweitens waren es Interpretationsprobleme und Uneinigkeit über Grundbegriffe, die in den Prinzipien verwendet werden wie z. B. die Begriffe Menschsein, Leid, Krankheit und Natur. Auch der Begriff der Menschenwürde hat die Frage nicht lösen können, ob verbrauchende Embryonenforschung erlaubt sein soll oder nicht. Die strittige Diskussion über eine gesetzliche Regelung des Embryonenschutzes zeigt die unversöhnlichen Auffassungen, die über Normen nicht zu lösen sind. Hingewiesen wurde auch auf einen dritten Punkt der Kritik an gegenwärtigen Ethikentwürfen, die sich auf bestimmte Prinzipien berufen: es ist eine Konkurrenz gleich gut begründeter Prinzipien wie Hilfe für Kranke oder Schutz des Embryos; gleiches gilt für allgemein akzeptierte miteinander konkurrierende Grundrechtspositionen wie z. B. das Recht auf Leben und das Recht auf Wissen und Forschen, die mancher miteinander zu verrechnen versucht.6 Ein Beklagen eines Werteverfalls der Normen und Prinzipien sowie der Verweis auf einen Wertepluralismus verstärken noch die Orientierungsprobleme für Handlungsentscheidungen. Die unterschiedlichen Ausformungen einer Ethik zeigen, dass auf der Suche nach Grundlagen keine gefunden wurden, die allgemeine Geltung beanspruchen können. Normen aus überlieferten Weltbildern der Religion, des Humanismus, des Liberalismus u. ä. werden nicht mehr ungeprüft akzeptiert und was akzeptiert wird, ist oft umstritten. 7 An die Stelle eines verbindlichen Weltbildes ist, wie in der politischen Theorie, die Geltung durch eine Akzeptanz der Individuen getreten. Gegenwärtigen Entwürfen der Spezialethiken ist es nicht gelungen, eine allgemein akzeptierte grundlegende ethische Orientierung zu formulieren. Den Verlockungen der Forschung und ihren Anwendungsmöglichkeiten stehen ablehnende Empfehlungen unvermittelt Hubig (1997, S. 66 ff.) hat sich ausführlich mit Interpretationsproblemen und konkurrierenden Prinzipien auseinander gesetzt. 7 Honneth (1995) enthält eine Debatte zwischen Kommunitaristen und Liberalisten über moralische Grundlagen moderner Gesellschaften. 6
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gegenüber. Kann es gelingen, naturwissenschaftliches Wissen und ethische Bewertung aus einer gemeinsamen Wurzel zu begründen? Die Frage ist, ob es jenseits solcher strittigen Grundlagen und Prinzipien prägende Einflüsse auf ethische Grundorientierungen gibt, wie z. B. aus den Emotionen. Eine Möglichkeit zu einer Antwort bietet ein Entwurf, der Ethik aus einer Kommunikation eines Menschen mit seiner Umwelt und deren Bewertung begründet. Für ein Emotionswissen wird zu zeigen sein, ob es möglich ist, Kriterien herzuleiten, nach denen Wahrnehmungswissen bewertet wird. Emotionswissen, das selbst zum Gegenstand von Reflexion gemacht wird, erlaubt eine Befragung hinsichtlich der Geltung seiner Bewertungen. Zuvor ist aber erforderlich, nach der Möglichkeit von Freiheit als Voraussetzung einer Ethik zu fragen, die von manchen Neurowissenschaftlern bestritten wird. Freiheit Aus den bisherigen Erörterungen könnte der Eindruck entstehen, dass neuronale Prozesserklärungen eines Handelns und dessen Steuerung durch Bewertungsprozesse keinen Raum für Freiheit lassen. Freiheit scheint aber erforderlich zu sein, wenn man von einer Ethik sprechen möchte. Welche Freiheit ist gemeint, die als Voraussetzung einer Ethik erforderlich ist? Sicher nicht gemeint ist die Freiheit von äußeren Einschränkungen wie z. B. Hilfe an Arme zu leisten, wenn man selber keine Mittel hat. Gemeint ist auch nicht eine Freiheit, die wegen einer leibgebundenen Existenz eingeschränkt ist; man kann sich nicht entscheiden zu fliegen wie ein Vogel. Gemeint ist aber eine Wahlfreiheit unter den genannten Einschränkungen, sowohl in einem äußeren Sinn einer praktischen Tätigkeit als auch in einem inneren Sinn einer Freiheit bestimmte Ziele und Zwecke zu wählen. Es geht also nicht um eine Untersuchung des Freiheitsbegriffs, sondern um die Frage, in welcher Weise neurologische Zusammenhänge eine Freiheit des Handelns erlauben oder einschränken. Ethik verlangt eine Freiheit der Ersten Person, die sich als selbstursächlich für ihre Handlungen versteht. Zu prüfen ist deshalb, ob eine Freiheit möglich ist, einer Einsicht aus Gründen zu folgen. Emotionen, die mit einer Wahrnehmung verbunden sind, können wir nicht wählen; wenn Emotionen aber eine Handlungstendenz wecken, ist es uns dann möglich zu bewer106
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ten, zu wählen und zu entscheiden, dieser Handlungstendenz zu folgen oder einer anderen? Wenn die Freiheit nicht möglich sein kann, könnte sich eine Person nicht für ihre Handlung und ihre Folgen verantwortlich fühlen. Aus den bisherigen Erörterungen könnte der Eindruck entstehen, dass emotionale Bewertungen, weil sie durch Reize und deren neurologischer Verarbeitung festgelegt sind, keinen Raum für Freiheit lassen, die aber erforderlich ist, wenn man von einer Ethik sprechen möchte; es müssen Handlungsalternativen erkannt, eine Handlung und ein Ziel gewählt, begründet und ein Vollzug der Handlung möglich werden können. Bezogen auf emotionale Bewertungen ist die Möglichkeit zu einer Wahl aus verschiedenen Bewertungen erforderlich und es ist eine Entscheidungsfreiheit notwendig, sich für die am besten bewertete Handlung aus den Möglichkeiten zu entscheiden. Erlauben neuronale Prozesse so eine Freiheit für eine Ethik aus Emotionen? Einige Neurowissenschaftler, besonders Gerhard Roth und Wolf Singer, halten eine solche Freiheit für eine Illusion. Sie berufen sich auf neurowissenschaftliche Ergebnisse, die zeigten, dass neuronale Prozesse einer Handlungsentscheidung vorausgehen. Und sie folgern, dass wir nicht tun, was wir wollen, sondern wollen, was wir tun. Die Vorstellung, erst komme der Gedanke und dann die Handlung, erweise sich als genau umgekehrt. Das aber würde bedeuten, dass sich soziale Phänomene und individuelle Präferenzen auf neuronale Prozesse reduzieren ließen. Roth, der die Handlungsfreiheit bestreitet, beruft sich auf folgendes Experiment von Benjamin Libet, das später von Patrick und Manfred Eimer etwas modifiziert wiederholt wurde. In dem Experiment wird unterschieden zwischen Bereitschaftspotential und Willensakt. Dem unmittelbaren Starten einer Handlung, also der letzten Entscheidung darüber, etwas zu tun, ist eine neuronale Aktivität zugeordnet; diese neuronale Aktivität wird Bereitschaftspotential genannt und lässt sich im Millisekundenbereich bestimmen. In dem Experiment wurden die Versuchspersonen aufgefordert, innerhalb einer gegebenen Zeit von 3 Sekunden spontan den Entschluss zu fassen, einen Finger der rechten Hand oder die ganze rechte Hand zu beugen. Den genauen Zeitpunkt ihres Entschlusses zu einer Bewegung mussten sich die Versuchpersonen an der Position eines rotierenden Punktes auf einer Skala merken; das Bereitschaftspotential wurde unabhängig davon gemessen. Es zeigte sich, dass das BereitA
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schaftspotential während der Experimente mit einem Durchschnitt von ca. 400 ms dem Entschluss vorausging. Haggard und Eimer wiederholten das Experiment und variierten es dadurch, dass die Versuchspersonen eine freie Wahl hatten, innerhalb von 3 Sekunden eine linke oder eine rechte Taste zu drücken. Auch in diesen Versuchen lag der Beginn des Bereitschaftspotential durchschnittlich 350 Millisekunden vor dem Zeitpunkt des Willensentschlusses (Roth 1997, S. 307 f. und 2001, S. 437 ff.). Aus diesen Ergebnissen folgerten die Hirnforscher: »Die subjektiv empfundene Freiheit des Wünschens, Planens und Wollens sowie des aktuellen Willensaktes ist eine Illusion […]. Was letztendlich getan wird, entscheidet das lymbische System« (Roth, S. 453). Singer sagt: »Die Annahme zum Beispiel, wir seien voll verantwortlich für das, was wir tun, weil wir es ja auch hätten anders machen können, ist aus neurobiologischer Perspektive nicht haltbar. Neuronale Prozesse sind deterministisch« (Singer 2003, S. 20). Die Vorstellung frei zu sein schreibt Singer einer kulturell entstandenen Sichtweise zu, die uns erlaube, nachträgliche Gründe für Handlungsentscheidungen zu finden. In der im Feuilleton der FAZ ausgetragenen Diskussion über Libets Versuchergebnisse hat es viele Einwände zu der Aussage gegeben, unsere Handlungsentscheidungen seien durch neuronale Prozesse determiniert und unsere erlebte Willensfreiheit sei eine Illusion. Die Verfasser wehren sich vor allem gegen eine Reduktion mentalen Geschehens auf neuronale Prozesse. 8 Anerkannt wird dagegen, dass neuronale Prozesse eine notwendige Bedingung einer Willensfreiheit sind. Wingert drückt es salopp aus: »Nichts ohne mein Gehirn.« »Aber«, so fügt er hinzu, »wie unterscheiden wir diese Feststellung von der problematischeren Behauptung: ›Nichts anderes als mein Gehirn‹ ?« (zit. aus Singer 2003, S.14) Es gibt einen anderen Einwand gegen die Folgerungen aus dem Experiment, weil es eine nur sehr eingeschränkte Möglichkeit zur freien Entscheidung repräsentiert. Die eigentlichen freien Entscheidungen waren vor Beginn des Experimentes bereits getroffen worden, nämlich sich den Experimentregeln zu unterwerfen und mitVgl. Geyer (2004): Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt; Habermas (2004) hat in seinem Beitrag der Hirnforschung einen Kategorienfehler vorgeworfen, wenn sie dem Menschen die Handlungsfreiheit abspreche; ein Determinismus erlaube nicht mehr ein Ich, das sich die Gründe seiner Entscheidung selbst zuschreiben kann; das aber widerspreche unserer Erfahrung und unserer Einsicht in onto- und phylogenetische Entwicklungen.
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zumachen oder nicht. Die freie Entscheidung, den Knopf nicht zu drücken schied damit aus; frei war nur die Wahl des Zeitpunktes innerhalb einer sehr kleinen Frist. Es ging also nur um den Zeitpunkt eines Vollzuges. Freie Entscheidungen, die zur Herausbildung eines Bereitschaftspotentials führen, waren längst vorausgegangen. In Bezug auf eine Auslösung der Handlung wird man nur in einem eingeschränkten Maße von Freiheit sprechen können. Aus einer nur noch in geringem Umfang vorhandenen Freiheit zu schließen, Freiheit der Entscheidung sei eine Illusion, ist weder gerechtfertigt noch überzeugend. 9 Ein anderer Einwand befasst sich mit der Trennung von Ich und Hirn bei Roth, entsprechend mit der Trennung der Aussagen aus den Perspektiven der Ersten Person und der anderen Person bei Singer. Singers Trennung zwischen beiden Perspektiven, nämlich einem Handeln nach Gesetzmäßigkeit und dem Handeln aus individueller Entscheidung kann überwunden werden durch die Beziehung der Perspektive der anderen Person als notwendige Bedingung zu der der Ersten Person. Sie drückt aber das Eingeständnis aus, dass Naturgesetzlichkeiten nicht das ganze Phänomen einer Willensfreiheit erfassen und deshalb auch nicht deterministisch wirken. Roths Trennung von Ich und Hirn bleibt dagegen eine unbewiesene Position. Ein Ich ohne Hirn ist undenkbar; ein Hirn ohne Ich könnte bestenfalls das präparierte eines toten Menschen sein. Libet brauchte für sein Experiment »willige menschliche Subjekte«, wie er sie selber nennt, und Hagner ergänzt »mit einem Gehirn im Glas ließen sich solche Experimente nicht durchführen« (Hagner 2004). Insofern macht diese Trennung im Prozess einer Willensentscheidung keinen Sinn. Ich und Hirn sind nicht gegeneinander abgrenzbar, auch nicht in dem Prozess der Willensentscheidung. Der weitere Einwand gegen eine deterministische Position der Handlungsentscheidung richtet sich gegen die Sichtweise, ein neuronales Korrelat sei mit einer freien Willentscheidung unvereinbar, weil letztere von ersterem bestimmt sei. Singer sucht nach neuronalen Korrelaten für das Verhalten von Menschen einschließlich ihrer mentalen und psychischen Phänome, weil er meint, jeder Gedanke habe ein neuronales Substrat (Singer 2003, S. 17). Dieses ist unbestreitbar, weil ein mentales Geschehen ohne neuronale Konstellation Pauen (2001, S. 111) spricht ebenfalls von bewussten Vorentscheidungen, die dem Libet Experiment vorausgingen.
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unvorstellbar wäre. Singer geht aber weiter und meint: »Wir tun dies oder jenes, weil diese oder jene Faktoren uns dazu veranlassen. Zu diesen Determinanten zählen natürlich unsere Erfahrungen, unsere Überlegungen, die aber allesamt ein neuronales Korrelat haben« (Singer 2003, S. 21). Nur weil wir die Vielzahl der uns beeinflussenden Parameter nicht überblicken könnten, läge es nahe, unseren Handlungen Absicht zu unterstellen, uns Intensionalität und somit Freiheit zuzuschreiben. Singers Argument erinnert an Laplace der schrieb: »Ein Geist, der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennen würde, welche die Natur beleben, und die geistige Lage aller Wesenheiten, aus denen sie besteht, würde in einer und derselben Formel die Bewegungen der größten Himmelskörper und der leichtesten Atome umfassen; nichts wäre ungewiss für ihn und Zukunft und Vergangenheit lägen seinen Augen offen dar« (Laplace, VII, P.VI.). Heisenberg hat dazu gesagt: »An der scharfen Formulierung des Kausalgesetzes: wenn wir die Gegenwart genau kennen, können wir die Zukunft berechnen, ist nicht der Nachsatz, sondern die Voraussetzung falsch. Wir können die Gegenwart in allen Bestimmungsstücken prinzipiell nicht kennen lernen« (Heisenberg/Bohr, S. 34). Selbst wenn man annimmt, jeder Entscheidung entspreche ein neuronales Aktivitätsmuster, ist noch nicht die Frage beantwortet, welches individuelle, aus vielen Einflüssen herausgebildete Aktivitätsmuster zum Zuge kommt. Selbst wenn Korrelate die Entscheidung determinieren, ist noch nicht gesagt, wie es zur Bildung der Korrelate kommt. Sie können aus der Lernfähigkeit, aus Erfahrung und aus einer Einsicht aus Gründen hervorgehen. Gerade eine Einsicht aus Gründen könnte zur Herausbildung neuer Korrelate und zu einer veränderten Willensentscheidung führen. Mindestens hat Libets Experiment nicht gezeigt, dass nachdenkende Betrachtungen von neuronalen Aktivitätsmustern determiniert sind, weil sie in diesem Experiment nicht stattgefunden haben. Korrelatbildung, auf die Singer verweist, wird auch durch eine Emotion repräsentiert, die ihrerseits Ausdruck der Bewertung einer Wahrnehmung ist. Eine Emotion, die mit der Bewertung eine Handlungstendenz zum Ausdruck bringt, erlaubt über die Handlungstendenz zu reflektieren wie z. B. ihr zu folgen oder nicht. In Libets Versuch waren Korrelate mit Handlungen verbunden; hier sind Korrelate mit nachdenkender Betrachtung und bevorzugter Handlungsmöglichkeit verbunden, deren Determination wiederum durch Korrelate bestimmt sein müsste. Wenn es keine durch ein Subjekt 110
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veränderbare Korrelatbildung geben sollte, müsste Korrelat durch Korrelat bestimmt sein und emotionale Bewertung durch emotionale Bewertung. Macht das noch Sinn? Bei Handlungen ohne Reflexion mag die Freiheit eine Illusion sein; sobald eine Reflexion hinzukommt, behält sie eine Chance. Freiheit wird nicht verstanden als eine völlige Autonomie gegenüber fremden Einflüssen auf die eigene Entscheidung, sondern als eine Möglichkeit, unter Anerkennung der Einflüsse aus emotionaler Bewertung, die eigene Entscheidung durch ein eigenes Urteil zu verändern. Bezugspunkt der Freiheit ist das Urteil über die emotionale Bewertung. Gehirnprozesse sind eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für das Auftauchen einer bewussten Erfahrung. Aus Libets Experimentergebnissen geht nicht hervor, dass Willensentscheidungen neuronal determiniert sind. Dass aber neuronale Prozesse notwendige Bedingungen einer Willensentscheidung sind, wird weder von Befürwortern deterministischer Willensentscheidungen noch von den Gegnern bestritten. Eine freie Willensentscheidung und neuronale Aktivitätsmuster sind miteinander verträglich, ohne sie auf einen kausalen Zusammenhang zu reduzieren. Gehirn und Ich lassen sich experimentell nicht auseinander dividieren. Naturgesetzmäßige Zusammenhänge neuronaler Prozesse sind Bedingungen, unter denen Freiheit möglich bleibt. Methodische Überlegungen und Voraussetzungen Im Abschnitt D IV über individuelle Bewertung und allgemeine Geltung wurde die Konstanz einer emotionalen Bewertung für alle Wiederholungsfälle und für jeden Menschen begründet. In der ethischen Urteilsbildung geht es um einen Grundsatz, der eine Orientierung für alle Handlungstendenzen aus allen Einzelbewertungen ermöglicht und eine Geltung beansprucht. Lässt sich ein solcher Grundsatz rechtfertigen? Die Untersuchung stützt sich auf einen empirischen und einen epistemischen Begründungsaspekt. Empirische Ergebnisse suchen, den Nachweis allgemeiner Kriterien für die Lebens- und Entwicklungsbedürfnisse eines Menschen unter den Einflüssen der Umwelt zu erbringen. Eine Begründung für diesen empirischen Weg ist die Beobachtung naturgesetzlicher Zusammenhänge zwischen MenA
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schen und Umwelt einschließlich deren unverzichtbarer lebensnotwendiger Bewertung. Wichtig ist, die daraus entstehende Frage zu klären, ob aus empirischen Ergebnissen überhaupt ethische Orientierungen für zukünftiges Handeln herleitbar sind. Lassen sich Regeln, Prinzipien und Grundsätze finden, die den naturgesetzlichen Bedingungen genügen und zugleich über empirische Grundlagen hinausweisen? Das heißt, lassen sich Handlungskriterien angeben, die Erfahrungen konstituieren und deren Begründung sich nicht auf empirische Ergebnisse stützt? Eine Ethik, die sich nur auf eine empirische Grundlage beruft, geriete in das Dilemma eines naturalistischen Fehlschlusses. Ob das hier der Fall ist, wird unter epistemischen Aspekten zu untersuchen sein. Eine Voraussetzung des Entwurfes einer Ethik aus Bewertung der Umwelt ist die Rückbindung ethischer Begriffe an menschliches Leben. Eine Begründung der Rückbindung ergibt sich aus der Einsicht, dass ein Gedeihen des Lebens, eine Erfüllung der Bedürfnisse, der Wünsche und Ziele des Menschen nicht unabhängig von den Einflüssen der Umwelt, von einem gegenseitigen Austausch eines Menschen mit seiner Umwelt denkbar sind. Wie steht es angesichts dieser Begründung aber um transzendentale Sinngehalte und Handlungsverpflichtungen; haben sie in einer Ethik aus empirischen Austauschergebnissen mit einer Umwelt noch einen Platz? Und wie lässt sich die Frage nach einer Annahme einer Gleichheit aller Menschen aus empirischer Perspektive beantworten? Da die Menschen weder in ihrer biologischen Ausstattung noch in ihren Präferenzen gleich sind, dagegen eine Gleichheit elementarer Bedürfnisse nahe liegt, wird zu untersuchen sein, ob eine Gleichheit der Bedürfnisse angesichts individueller Ungleichheit gezeigt werden kann. Eine andere Frage bleibt schließlich, ob eine Ethik aus emotionaler Bewertung Veränderungen von Werten, Zielen und Sinngehalten erklären kann. Ist Ethik eine Aussage über eine statische oder eine dynamische Werteordnung? Lassen sich Veränderungen von Werten erklären oder ist ihr Verlust als Werteverfall zu deuten? Es ist die Frage nach Gründen für den Wandel eines Wertehorizontes.
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Ethische Urteilsbildung aus Bewertung der Umwelt
II.
Ethische Urteilsbildung aus Bewertung der Umwelt
Vorüberlegungen Dem bisherigen Ergebnis folgend, dass emotionale Bewertungen der Wahrnehmungen Handlungsorientierungen hervorrufen, wird es jetzt unternommen, ethische Urteilsbildung aus der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt zu begründen. Ist eine ethische Orientierung, die auf Gefühle gründet, erkennbar? Wenn sich eine Ethik nicht nur auf praktisches Handeln und dessen Gewöhnung beschränkt, sondern verlangt, dass das Sittliche erkennbar wird, wie soll das aus Gefühlen möglich sein? Der Behauptung der Nonkognitivisten, der Bereich des Sittlichen sei keiner objektiven und wahren Erkenntnis fähig, weil sich sittliche Überzeugungen den logischen ebenso wie den empirischen Wahrheitskriterien entzögen, ist entgegenzuhalten: Urteile aus emotionaler Bewertung sind sehr wohl empirisch zu überprüfen, wie die Neurowissenschaften zeigen, allerdings nicht nach Kriterien wahr oder falsch, sondern nach der Bewertung erfolgreich oder nicht erfolgreich. Wenn es möglich ist, moralische Handlungsorientierungen aus Emotionen zu erkennen, ist zu begründen, warum subjektive Entscheidungen aus den Emotionen für alle gelten sollten. Auf den methodischen Weg zur Erlangung des Wissens einer Ethik ist oben hingewiesen worden: Gefragt wird hier nicht, was eine geeignete ethische Orientierung ist, sondern wie sie entsteht. Das Wissen des Sittlichen wird erklärt aus seiner Entstehung, einem Prozess der Urteilsbildung. Während in einer emotionalen Urteilsbildung Handlungstendenzen in einer einzelnen Situation bewertet und ausgewählt werden, verlangt eine Ethik eine Bewertungsmöglichkeit für alle Situationen. Wie in der oben behandelten emotionalen Urteilsbildung wird dieses Wissen in einem Urteilsprozess herausgebildet: Um dafür einen geeigneten allgemeinen Satz zu finden und um abwägen zu können, ob der allgemeine Satz für eine Bewertung in einer bestimmten Situation geeignet ist, bedarf es eines Kriteriums. Es wird also erstens ein Kriterium zu bilden und zu begründen sein und zweitens mit Hilfe des Kriteriums ein allgemeiner Satz auszuwählen und dessen Anwendung in einer Situation zu bewerten sein, ob er geeignet ist. Ein Satz wie z. B. »Du sollst nicht lügen« wird, auch wenn er für eine ethische Urteilsbildung akzeptiert wird, nicht in jeder Situation A
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zu deren Bewertung geeignet sein. Verlangt z. B. ein Arbeitgeber oder eine Versicherung von einem Bewerber, erbliche Konstellation einer bestimmten gefährlichen Krankheit anzugeben, könnte sich der Bewerber fragen, ob er die ihm bekannte Erbanlage wahrheitsgemäß angeben oder lügen soll, weil er die Frage als unzumutbar empfindet. Der allgemeine Satz »Du sollst nicht lügen« wird in dieser Situation keine bedingungslose Geltung beanspruchen können. Die ethische Urteilsbildung wird als ein Prozess rekonstruiert, dessen Ergebnis ermittelt wird und nicht von vornherein feststeht, vergleichbar einer Urteilsbildung in der Rechtssprechung; dort enthält ein Rechtsgrundsatz, der zur Anwendung in Frage kommt, bestimmte Merkmale, von denen zu prüfen ist, ob sie auf den Einzelfall zutreffen. Hier sind es allgemeine Sätze, die kontextabhängig bewertet werden, ob sie dem Einzelfall angemessen sind. Es geht nicht um eine Auswahl von Grundsätzen, die man anschließend nur anzuwenden braucht; sondern in einem Prozessgeschehen wird der allgemeine Satz ebenso beurteilt wie seine Anwendung in einer bestimmten Situation. In den allgemeinen Sätzen werden normative, utilitaristische, teleologische oder konsequentialistische Kriterien ebensowenig ausgeschlossen sein wie religiöse oder ideologische Überlegungen. Entscheidend ist, dass sie keine von dem Prozess der Urteilsbildung unabhängige Geltung und Anwendung beanspruchen. Sie werden einer Bewertung hinsichtlich ihrer Akzeptanz ausgesetzt sein.
III. Satz der Grundlegenden Ethischen Orientierung Aus dem Verständnis einer Ethik als Prozessgeschehen folgen keine Prinzipien oder Normen, sondern der Satz einer »Grundlegenden Ethischen Orientierung«. Die Orientierung 10 sucht eine Antwort auf die Frage »Soll ich es tun?«; sie schreibt keine konkreten Ziele vor; sie entsteht aus einer Bedürfnislage wirksamer emotionaler Bewertungen von Wahrnehmungen und sucht nach Lösungen, die die Bedürfnisse gegenüber den Einflüssen aus der Umwelt erfüllen. Aus den bisherigen Untersuchungen hatte sich ergeben: Reize Hubig (1997, S. 17) erklärt den Begriff »Orientierungsleistung« mit drei Begriffen aus der Geographie: mit einem Kompass als Überlegungsleistung; mit einer Standortbestimmung als Modellierung der Bedürfnislage und einer Landkarte, die den Bereich zwischen Lebenserfahrung und Fachexperten repräsentiert.
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Satz der Grundlegenden Ethischen Orientierung
der Umwelt und deren Bewertung beeinflussen Handeln; Handeln nimmt umgekehrt Einfluss auf Veränderungen der Umwelt. Deshalb lässt sich folgender Satz grundlegender ethischer Orientierung formulieren: Handeln entsteht aus emotionaler Bewertung der Umwelt und Handeln vera¨ndert Umwelt; zu bedenken ist, ob die Handlungstendenzen aus der Bewertung und deren Ru¨ckwirkungen auf die Umwelt die Bedu¨rfnisse erfu¨llen. Ethik ist in diesem Satz nicht als Forderung, sondern als Beschreibung dessen formuliert, was aus nachdenkender Betrachtung den Bedürfnissen aller dient. Zur Erläuterung des Satzes wird zunächst das Kriterium der Bedürfnisse betrachtet. Es sind die Lebensbedürfnisse, deren Beachtung und Erfüllung ein prima facies Grund ist, und dessen Widerlegung zur Sinnlosigkeit einer Ethik führen würde. Ausgehend vom Menschen und seiner Umwelt erfasst der Begriff der Bedürfnisse bestimmte Güter, derer ein Mensch bedarf. Zu den Bedürfnissen gehören unverzichtbare Güter, die ein Mensch zu seiner Lebenserhaltung und Lebensgestaltung braucht; es können aber auch beliebige Güter sein, die ein Mensch begehrt. Um die erste Art der unverzichtbaren, lebensnotwendigen Güter von den wünschenswerten abgrenzen zu können, verweist Horn auf eine kontroverse Debatte, Bedürfnisse entweder aus einer Hintergrundtheorie allgemein menschlicher Fähigkeiten zu erklären oder auf eine Präferenzautonomie zurückzuführen, die Bedürfnisse aus nur subjektiven Aspekten begründet (Horn S. 20). Beide Theorien führen zu einem Dilemma; die Hintergrundtheorie, weil sie Bedürfnisse objektiv definiert und in Konflikt gerät mit der Vorstellung, dass Bedürfnisse keinem Kulturimperialismus unterliegen, sondern etwas Individuelles sind. Bei einer Präferenzautonomie droht die Gefahr, dass Menschen empirisch willkürliche oder auch unvollständige Bedürfnisse begründen. Es hat sogar Versuche gegeben, eine Liste der unverzichtbaren Güter aufzustellen (Rawls 1975, S. 111 ff.), die aber strittig blieb. Die kontroverse Auffassung über die Bedürfnisse lässt sich dadurch auflösen, dass man Bedürfnisse aus einem Selbstinteresse erklärt, das sich auf die Kommunikation des Individuums mit seiner Umwelt bezieht. 11 11
Foot (2004, S. 99 ff.) hat ihren ethischen Entwurf an der Natur des Menschen orienA
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Unter Selbstinteresse 12 wird eine den Willen bestimmende Antriebskraft und ein vorherrschendes Motiv zum Handeln verstanden. Selbstinteresse unter Berücksichtigung der Einflüsse der Umwelt kennzeichnet die Entfaltung der dem Menschen eigentümlichen, künstlerischen, sozialen, politischen und intellektuellen Möglichkeiten (Höffe 2002, S. 228). Das Selbstinteresse eines Menschen, wie es im Bedürfnis des eigenen Gedeihens zum Ausdruck kommt, zeigt sich in dem Satz »Liebe dich selbst« als Voraussetzung der Liebe zu anderen; einer, der sich nicht traut, seinen Bedürfnissen nachzugehen, sich selbst nicht liebt, kann auch den anderen nicht lieben. Selbstinteresse zielt nicht nur auf biologische Bedürfnisse, sondern in einer Erweiterung des Verständnisses vom Selbst auf religiöse wie sittliche Inhalte. Hinsichtlich der sittlichen Perspektive eines Selbstinteresses möchte ich Höffe folgen, der dieses aus einem subjektiven und aus einem objektiven Verständnis des Selbst erklärt. In subjektiver Bedeutung des Selbst heiße Selbstinteresse Freisein von Entbehrungen und die Erfüllung aller eigenen Interessen, gemeint sei damit auch das Glück; in objektiver Bedeutung bezieht sich Höffe auf das Wesen des Menschen; Selbstinteresse bestehe dann in der Entfaltung der dem Menschen eigentümlichen sozialen, politischen und intellektuellen Möglichkeiten (Höffe, S. 227 f.). Seinen Entwurf einer Moral aus einem ökonomischen Kalkül orientiert Leschke an einem Selbstinteresse. Er rechnet die Kosten vor, die einem Individuum aus der Verletzung von Verhaltensregeln entstehen; er nennt sie intrinsische Kosten, hervorgerufen von Schuldgefühlen und der Befürchtung, von anderen als unmoralischer Mensch tituliert zu werden. Aus den Rückwirkungen eines unmoralischen Verhaltens begründet er eine moralische Regeleinhaltung (Leschke, S. 81 ff.). Hinsichtlich eines religiösen Aspektes lässt sich auf Bonhoeffer verweisen, der schreibt: »Es gehört zu den erstaunlichsten, aber zugleich unwiderleglichsten Erfahrungen, … dass die prinzipielle Aufhebung der göttlichen Gebote im vermeintlichen Interesse der irdischen Selbsterhaltung gerade dem eigenen Interesse dieser Selbsterhaltung entgegenwirkt« tiert. Das Gute und das Schlechte bestimmten sich aus der Lebensform der Spezies. Das Kriterium Natur in Foots Entwurf bleibt vage. 12 Zur Diskussion des Selbst als realem Kern von Subjektivität vgl. Pauen (2001, S. 105 ff.): überzeugend argumentiert er für ein Selbstkonzept, aus dem sich Aussagen über die eigene Person und Zuschreibungen von Eigenschaften ableiten lassen.
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Satz der Grundlegenden Ethischen Orientierung
(Bonhoeffer, S. 17). Bonhoeffer meint zu Recht, dass auch göttliche Gebote einem Selbstinteresse dienen. Selbstinteresse reduziert eine Bewertung nicht auf das Individuum, sondern auf dessen Beziehung zur Umwelt, zu der ein anderes Individuum ebenso gehört wie die Umwelt im Sinne der biologischen Lebensbedingungen. Im Selbstinteresse kommen die unverzichtbaren Beziehungen des Menschen zu anderen ebenso wie zur Gemeinschaft dadurch zum Ausdruck, dass Handlungen gegenüber anderen auf den Handelnden zurückwirken. Sowohl aus Empathie wie aus Vernunft liegt im Selbstinteresse der Ersten Person die Anerkennung eigener Interessen durch andere, was umgekehrt zur Folge hat, die Selbstinteressen anderer ebenso anzuerkennen. Auf dieser Einsicht beruhen neuzeitliche Vertragskonzepte staatlicher Ordnung. Ein eigenes Sicherheitsbedürfnis z. B. setzt dessen Anerkennung bei dem Anderen voraus um einer gemeinschaftlichen stabilen Ordnung willen. Auch am Beispiel einer rationalen Entscheidungstheorie, wie dem Gefangenendilemma, kommt ein Selbstinteresse zum Ausdruck in der Abwägung der Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf die Interessen des anderen (Nozick 1974, S. 119 f.). Das Selbstinteresse ist gekennzeichnet durch die Bedürfnisse des Menschen einerseits und durch die Reize der Umwelt andererseits. Da sich die Reize und ihre Auswirkungen auf den Menschen nach Gesetzmäßigkeiten als notwendige Bedingungen beschreiben lassen, kommt dem Selbstinteresse ein allgemein für alle Menschen geltender Aspekt zu. Das Selbstinteresse ist deshalb weder nur aus subjektivem Aspekt begründet noch willkürlich. Ein Selbstinteresse, das aus emotionalen Bewertungen hervorgeht, wird allein noch keine moralische Kraft entfalten können, sondern es bedarf einer nachdenkenden Betrachtung seiner Handlungstendenzen und deren abwägender Bewertung, um ein ethisches Wissen hervorbringen zu können. Auch die Reflexion der Handlungstendenzen orientiert sich am Kriterium des Selbstinteresses, und zwar hinsichtlich einer Veränderung der Umwelt durch die Handlung und deren Rückwirkung auf den Handelnden. Selbstinteresse und Gemeinschaft Verstößt die freiwillige Unterordnung eines Menschen unter eine gemeinschaftliche Verfassung nicht gegen sein Selbstinteresse? Er A
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gibt einen Teil seiner Handlungsfreiheit auf, anerkennt Handlungsbegrenzungen, akzeptiert von ihm mit zu finanzierende Kosten für Gemeinschaftsgüter ohne berechenbare Gegenleistungen. Gleichgültig von welchem Menschenbild man ausgeht – ob er ein Gemeinschaftswesen ist oder nicht – bedarf der Mensch aus Selbstinteresse der Gemeinschaft. Individuen werden sich aus eigennützigen Zwecken zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, weil es ihren Bedürfnissen nach Schutz, nach gegenseitiger Anerkennung ihres Eigentums und aus Bedürfnissen nach gemeinsamer Lebensordnung und gemeinsamen Institutionen entspricht. Verfassungsentwürfe, die von freien, vernünftigen rational handelnden Individuen ausgehen, zeigen ausnahmslos, dass es dem rationalen Selbstinteresse des Individuums entspricht, sich freiwillig in einem Vertrag zu Handlungsbegrenzungen gegenüber anderen Individuen zu verpflichten, weil ihm die durch den Vertrag festgelegten Handlungsbegrenzungen Vorteile bringen. Ein Mensch achtet in seinen Handlungen gegenüber anderen und gegenüber einer Gemeinschaft aus Selbstinteresse die Rechte des anderen. 13 Das Selbstinteresse und seine Rückwirkungen sind ebenso als Kriterium für Handlungsentscheidungen zugunsten von Gemeinschaftsgütern geeignet. Die Regelverletzung eines »Schwarzfahrers« z. B. schafft Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen, die zur Missachtung des Schwarzfahrers führen können. 14 Leschke hat aber auch gezeigt, dass die Bereitschaft moralisch in einer Gemeinschaft zu handeln, d. h. die Regeln einzuhalten, abhängig ist von der Wahrscheinlichkeit, mit der die anderen ebenso moralisch handeln. Ist z. B. eine Steuerunehrlichkeit in einer Gemeinschaft verbreitet, wird die
Steinfath (1998), der fragt, was grundlegend gut oder schlecht ist, meint, dass Individuen oft in Hinsicht auf ihre Werte und Ziele den Anspruch auf Zustimmung anderer erheben; obgleich die gesellschaftliche Vermitteltheit von Werten eine intersubjektive Antwort auf die Frage nach dem guten Leben ermöglicht, so müsse doch die Weltdeutung des Einzelnen immer ein subjektives Element enthalten. 14 Rawls (1975, S. 525) setzt sich ausführlich mit emotionalen Bewertungen eigener Handlungen und der anderer auseinander; er meint, dass eine Verletzung der berechtigten Ansprüche anderer Schuldgefühle erzeuge und den Groll und die Empörung der anderen; Schuld, Vorwurf und Empörung hätten deshalb mit dem Begriff des Rechten zu tun. Dagegen empfinde jemand, der vor einem Maßstab guter Eigenschaften versagt habe und der sich einer Gemeinschaft der anderen, die seine Ideale teilen, unwürdig erwiesen habe, Scham, Spott und Verachtung; deshalb hätten Scham, Verachtung und Spott mit dem Begriff des Guten zu tun. 13
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Unehrlichkeit eines Einzelnen geringere Schuldgefühle auslösen als wenn eine große Mehrheit steuerehrlich ist Leschke 1996, S. 85 ff.). Das Kriterium der Bedürfnisse erfasst eine Förderung des Selbstinteresses wie Selbstachtung und Selbstwert, Anerkennung, Mitleid und Gerechtigkeit; Sicherheit und Stabilität gesellschaftlicher Verhältnisse. 15 Eine andere kritische Frage betrifft den Egoismus. Fördert das Selbstinteresse einen Egoismus? Wenn Selbstinteresse als oberster Maßstab allen Handelns ohne Rücksicht auf die Interessen und Rechte der anderen gilt, zeigt es dann nicht einen unmoralischen Egoismus? Egoismus wird auf dreierlei Art deutlich: Erstens sind es Individuen, die meinen, nur ihre Entscheidung gelte, und die die Unterwerfung der anderen unter ihre Herrschaft verlangen wie z. B. Diktatoren; wegen Missachtung der Rechte anderer ziehen sie aber den Hass und Widerstand auf sich einschließlich einer Verachtung der Sympathisanten des Diktators; schließlich sind Stalin, Hitler und Pol Pot gescheitert. Als zweite Gruppe gibt es die egoistischen Trittbrettfahrer, die Allgemeingüter in Anspruch nehmen, ohne sich selbst an ihnen zu beteiligen: Dopingsünder im Sport oder Steuerhinterzieher trifft Missachtung; bei den Betroffenen selbst können sie Scham und Schuldgefühle erzeugen. Schließlich gibt es Egoisten, denen die Empathie fehlt; jeder geht nur eigenen Bedürfnissen nach, wie z. B. in Nozicks Staatsentwurf und in seiner Gerechtigkeitstheorie zu sehen ist: Er entwirft dort eine Moral, die sich nur an dem individuellem Nutzen orientiert, an sonst nichts (Nozick 1974, S. 144 ff.). Nozick hat allerdings nicht zeigen können, dass so eine Ordnung Geltung durch allgemeine Akzeptanz beanspruchen kann; seine Moralvorstellung entspricht nicht einer emotionalen Bewertung. Aus allen drei Arten wird deutlich: ein Egoismus dient nicht einem Selbstinteresse; er widerspricht ihm sogar. Schließlich bleibt zu fragen, ob im Altruismus Bedürfnisse zum Ausdruck kommen, die gerade kein Selbstinteresse verfolgen? Widerspricht selbstloses Handeln um des Anderen willen einem Selbstinteresse, z. B. wenn einer einem anderen ohne Gegenleistung Gutes tut? Selbstloses Handeln muss nicht gegen ein Selbstinteresse sprechen. Wenn die Bewertung der Situation die Not eines Anderen zeigt, wird eine Handlungstendenz zur Hilfeleistung damit verbun15
Höffe (FAZ vom 19. 4. 2003) spricht von »Aufgeklärtem Eigenwohl«. A
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den sein. Ob und welche Art von Hilfe tatsächlich geleistet wird, bedarf der Reflexion, wobei im Falle einer unmittelbaren Gefahr eine Reflexion auch untauglich sein kann. Wer sich der Empathie gegenüber dem Hilfsbedürftigen verschließt, dessen Notsituation nicht wahrhaben will oder trotz eines Wissens um die Not nicht helfen will, setzt sich eigenen Schuldgefühlen aus bzw. wenn nicht diesen, dann einer möglichen Bewertung seines Verhaltens durch andere, die seiner Achtung nicht förderlich sein kann. Seine Missachtung durch andere dient nicht seinem Selbstinteresse, weil es auch auf eine Achtung durch den anderen gerichtet ist. 16 Diese etwas formalen Aussagen übergehen viele denkbaren Merkmale einer Hilfssituation, die sich auf eine Bewertung auswirken könnten. Gezeigt werden soll aber, dass selbstlose Hilfe, die keinem Kosten-Nutzen-Kalkül folgt, einem langfristigen Selbstinteresse dient. Handeln verändert die Umwelt. Der Begriff Umwelt ist im Abschnitt C nicht nur als Ergebnis subjektiver Kommunikation beschrieben worden, sondern als Quelle der von den Sinnesorganen aufgenommenen Reize. Zur Umwelt gehören andere Menschen ebenso wie Strukturen, mit denen ein Mensch in einen Austausch eintritt. Unter dem Aspekt des Handelns umfasst der Begriff Umwelt den Anderen, die Gemeinschaft, uns selbst, die belebte und unbelebte Natur, aber auch alle wahrgenommenen Gegenstände einer Kultur, weil Handeln die Umwelt verändert und kein Handeln denkbar ist, das sich nicht auf die Umwelt auswirkt. Das Handeln wird zur Umwelt für andere und für den Handelnden, sobald es als Wort oder Tat wahrnehmbar wird. Umwelt gestalten heißt aber nicht, ein Mensch kann die Umwelt verändern, wie er möchte. Es gibt das, was er ändern kann und anderes, was er nicht ändern kann. Wichtig ist zu sehen, dass Handeln Umwelt zwar verändert, aber nicht immer im Sinne des Handelnden. Veränderungen geschehen willentlich oder ungewollt. Was aber möglich ist, ist das Handeln zu bedenken hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die Umwelt und deren Rückwirkungen auf den Handelnden. Die Rückwirkungen auf das Selbst beschreiben Keller und Edelstein treffend so: »das Selbst beginnt zu realisieren, dass die eigenen Handlungen und deren Auswirkungen Rawls (S. 479) hat in seiner Theorie der Gerechtigkeit dem Selbstwertgefühl den Rang eines wichtigen Grundgutes eingeräumt, weil er meint, die Menschen möchten »fast um jeden Preis die sozialen Verhältnisse vermeiden, die die Selbstachtung untergraben«.
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auf andere Bewertungen des Selbst seitens anderer hervorrufen« (Keller und Edelstein 1993, S. 310). Unter Berücksichtigung der Rückwirkungen ist deshalb unter den Möglichkeiten die Handlung zu wählen, die eine Erfüllung der Bedürfnisse des Handelnden, des Anderen und der Gemeinschaft fördert. Ist der Satz Grundlegender Ethischer Orientierung geeignet, zwischen konkurrierenden ethischen Handlungsmöglichkeiten zu entscheiden? Beispiele dafür finden sich z. B. in Handlungsentscheidungen von Politikern, die Buchanan (1975, S. 222 ff.) am Beispiel von Budgetentscheidungen untersucht hat. Unter der Voraussetzung eines politischen Handlungsspielraumes unterscheidet er drei Möglichkeiten: es gäbe die Handlungsorientierung, die eine Machtausübung als Mittel zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele verfolge, der es darauf ankäme, der Gesellschaft Gutes zu tun mit der Tendenz zur Ausweitung der Ausgaben. Eine zweite Handlungsorientierung sei bestimmt von persönlichem Gefallen an der Machtausübung; sie verfolge eigenen Nutzen und führe zur Befriedigung durch Entscheidungen im Sinne der meisten Wähler, was eine Wiederwahl erwarten ließe; die Budgetentscheidung führe zu keiner einseitigen Ausrichtung. Schließlich beschreibt Buchanan eine dritte Handlungsorientierung, die zur persönlichen Vorteilsnahme bis hin zu Korruption durch Bestechungsgelder und Nebeneinkünfte reiche. Sie würde zu einer Ausweitung des Budgets führen. Inzwischen ist weltweit eine gewachsene Sensibilität der Öffentlichkeit für eine Bewertung solchen politischen Handelns zu beobachten, das sich vor allem an persönlichen Vorteilen orientiert und weniger eine Erfüllung gesellschaftlicher Interessen verfolgt (Transparency International 2005). Eine öffentliche Bewertungen dieses von eigenen Vorteilen geleiteten bzw. korrupten Handelns und dessen Rückwirkungen auf politische Führungsspitzen hat, wie viele Beispiele u. a. in Deutschland auf kommunaler, Landes- und Bundesebene zeigen, zu persönlichen Konsequenzen geführt. Der Satz Grundlegender Ethischer Orientierung findet in diesen Fällen eine Bestätigung dadurch, dass korruptes oder von Vorteilsnahme bestimmtes Handeln Rückwirkungen auf die Öffentlichkeit und auf die Führungsspitzen der Parteien ausübt, was zu nachteiligen Konsequenzen der betroffenen Politiker bis hin zu ihrer Amtsaufgabe geführt hat. In den geschilderten Fällen eines konkurrierenden Selbstinteresses erlaubt der Satz Grundlegender Ethischer OrientieA
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rung eine Handlung so zu erwägen, dass sie nicht gegen eigene Bedürfnisse gerichtet ist, sondern dass ihre Rückwirkungen die Erfüllung eigener Bedürfnisse durch die Achtung anderer fördert. Der Satz verlangt kein normatives Handeln, sondern beschreibt dasjenige, das aus einer Bewertung eines geeigneten allgemeinen Satzes und dessen Anwendung in einer Einzelsituation das Selbstinteresse fördert. Er reduziert auch nicht eine ethische Orientierung auf ein Selbstinteresse, da das Selbstinteresse nicht selber Handlungsziel ist, sondern als Kriterium einer Bewertung der Umwelt dient; er lässt Werte ebenso wie transzendente Prinzipien unter der Voraussetzung zu, dass sie nicht gegen ein Selbstinteresse gerichtet sind. Allgemeine Sätze Ethik wird nicht verstanden als eine Begründung dessen was ist, sondern dessen was wird. Sie geht aus einem Prozess der Urteilsbildung hervor. Der Satz der Grundlegenden Ethischen Orientierung beschreibt Möglichkeiten des Handelns aus der Urteilsbildung durch Kriterien, nach denen sowohl der allgemeine Satz als auch die einzelne Situation in der Urteilsstruktur bewertet wird. Nach der Behandlung der Kriterien werden jetzt die allgemeinen Sätze betrachtet. Allgemeine Sätze erfüllen nicht nur die formale Struktur der Urteilsbildung als Obersatz, dem eine Situation untergeordnet wird, sondern sie erfüllen in der Umwelt ein Bedürfnis der Menschen, deretwegen sie akzeptiert werden. Das Bedürfnis nach einem Allgemeinen kommt zum Ausdruck z. B. in einer Gedächtnisspeicherung erfolgreicher Entscheidungen bzw. solcher, die zum Misserfolg führten. Erfolgreiche Orientierungen veranlassen zur Wiederholung, von Misserfolg gekennzeichnete zur Vermeidung. Bezogen auf die Gemeinschaft ergibt sich ein Bedürfnis nach allgemeinen Sätzen aus dem Selbstinteresse des Schutzes oder der gegenseitigen Anerkennung ideeller und materieller Bedürfnisse. So wünschenswert einem Individualisten ein Verzicht auf allgemeine Sätze, die seine Handlungsfreiheit begrenzen, erscheinen mag, so wird er auf Ordnungsregeln in der Gemeinschaft, in die er hineingeboren ist, doch nicht verzichten wollen, um seinen Lebensplänen unbedroht nachgehen zu können. Wenn z. B. eine Verteilung materieller Gewinne aus einem Zusammenwirken einer Gruppe von Menschen zu regeln ist, wird jeder wissen wollen, mit welchem Anteil er rechnen kann. Es bedarf 122
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deshalb Kriterien, nach denen eine Verteilung verabredet wird; es wird ein allgemeiner Grundsatz über Gerechtigkeit erforderlich. Bei Verstößen gegen die Lebensinteressen anderer lässt sich in ähnlicher Weise ein Bedürfnis nach einer allgemeinen Regel für Sanktionen herleiten. Ein allgemeiner Satz kann in Form von Aussagen, Maximen, Glaubensgeboten, in gesellschaftlichen Regeln und politisch geformten Gesetzen zum Ausdruck kommen. Quelle allgemeiner Grundsätze können aus geistiger oder religiöser Tradition überlieferte Tugenden wie Zivilcourage, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Freundschaft sein; es kann sich um Werte handeln wie Würde des Menschen und Freiheit, die in gesetzlichen Regelungen Eingang gefunden haben; es kann sich auch um Güter handeln, die aus Annahmen über die Natur des Menschen hergeleitet werden wie Leben, Rechte und Eigentum. Beispiele sind eine Volksweisheit wie »Was du nicht willst, das dir man tue, das füg auch keinem anderen zu« 17 ; oder ein religiöses Gebot wie: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«; es können auch politisch ausgeformte Prinzipien sein wie die Grundrechte: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, […] unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen« (Charta der Vereinten Nationen, Präambel, San Franzisko 1945). Beispiel eines aus der Not ethischer Konflikte entworfenen allgemeinen Satzes ist ein Prinzip der Nachhaltigkeit, wie es Mieth formuliert: »Man soll Probleme nicht so lösen, dass die Probleme, die durch die Problemlösung entstehen, größer sind als die Probleme, die gelöst werden« (Mieth 2002, S. 435). 18 Allgemeine Sätze können selbst dann, wenn sie Gesetz geworden sind, strittig bleiben wie das »Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen« vom 1. Juli 2002. Es ist strittig, weil es Forschung an humanen Stammzellen zulässt, was viele Menschen ablehnen. Allgemeine Sätze können Werte, Ziele, Sinngehalte oder sogar Normen dann sein, Wright (1996, S. 319) beschreibt in seiner Theorie des reziproken Altruismus, dass an einer Zusammenarbeit gemäß »wie du mir, so ich dir« beide gewinnen könnten; ein solches Entscheidungsverhalten entspräche dem Überlebenserfolg der Evolutionstheorie. 18 Mieth (2002) hat eine Reihe anderer Prinzipien für eine Ethik der Biotechnik entworfen. 17
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wenn sie ihren Geltungsanspruch begründen können und aus emotionaler Bewertung akzeptiert werden. Unabhängig von der Fassung allgemeiner Sätze, ob als Prinzipien, höchste Gebote, Regeln, Ziele, Sinngehalte oder Werte, sind sie als Umwelt unserer Bewertung ausgesetzt, müssen sie von den Menschen akzeptiert werden. 19 Es kann eine Akzeptanz indirekter Zustimmung oder direkter Zustimmung durch Vertrag sein. Die Gründe einer direkten Zustimmung können verschiedene sein wie z. B. die Einsicht, es nicht ändern zu können oder in Konkurrenz zu anderen Bewertungsergebnissen das kleinere Übel zu wählen. Eine indirekte Zustimmung zu einem allgemeinen Satz entsteht z. B. aus dessen Inanspruchnahme oder aus dessen Duldung durch freiwillige Selbstbeschränkung. Akzeptanz ergibt sich aus der emotionalen Bewertung. Erst die Akzeptanz aus subjektiver Bewertung bindet den Menschen; ein allgemeiner Satz, der keine Akzeptanz findet, erlangt keine Stabilität seiner Geltung. Die Akzeptanz folgt nicht aus einer rationalen oder psychologischen Begründung des allgemeinen Satzes, sondern aus dessen emotionaler Bewertung und dessen Rückbindung an die Umweltsituation seiner Anwendung. Bezugspunkt der Überlegungen ist nicht allein das Individuum, sondern das Individuum in seiner Umwelt. Erst die Akzeptanz aus subjektiver Bewertung bindet das Individuum, im Unterschied zu einer Norm, die aus einer möglichen inneren Ablehnung zu keiner Stabilität eines ethischen Wertekanons führt. Die Bedeutung einer inneren Akzeptanz wird deutlich, wenn jemand einen Vertrag oder eine Regel, dem/der er zugestimmt hat, hinterher bricht. So könnte es mit Regeln geschehen, deren Geltung versprochen wird, die aber hinterher aus Eigennutz gebrochen werden. 20 Die Akzeptanz beruht nicht auf rationalen oder psychologischen Begründungen, sondern auf einem Selbstinteresse aus emotionaler Bewertung, deren Rückbindung an die Umweltsituation und deren Das Gute als Bewertungsorientierung der Handlungsentscheidung wird nicht als Oberbegriff in einem Prinzip formuliert, sondern wird im Sinne eines gelingenden Strebens verstanden (Hubig 1997, S. 10). 20 Vgl. Leschke (1996), der eine Stabilität moralischen Handelns aus einer Kosten-Nutzen-Analyse betrachtet. Eine Missachtung gebilligter Regeln erzeugte Schuldgefühle, die er als intrinsische Kosten des Regelbrechers bezeichnet, die also dessen Nutzenkalkül belasten. Unbehandelt bleibt die moralische Entwicklung eines Kindes und Jugendlichen, um als Erwachsener moralische Gefühle zu entwickeln. Vgl. dazu die Untersuchungen von Kohlberg (1984, Bd. 2) und Rawls (1975, S. 516 f.). 19
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Abwägung aus nachdenkender Betrachtung. Bezugspunkt der Überlegungen ist nicht allein das Individuum, sondern das Individuum in seiner Umwelt. Diese Beziehung schließt die Gefahr einer Beliebigkeit des ethischen Urteils aus. Weder die Einflüsse der Umwelt noch ein aus den Lebensbedürfnissen hervorgehendes Selbstinteresse ist ein beliebiges. Eine Regel beschreibt die formale Struktur eines Allgemeinen Satzes durch ihre Geltung aus allgemeiner Akzeptanz. 21 Buchanan kennzeichnet sie als Handlungsbegrenzungen, weil sie willkürliches Handeln des Einzelnen begrenzen. Warum aber wird ein Mensch eine Regel akzeptieren? Sowohl unter dem Aspekt vertragstheoretischer Überlegungen als auch unter dem einer Erziehung und Lernfähigkeit ist Akzeptanz von Regeln untersucht worden. Kohlberg hat seine Moralausbildung vom Kind zum Erwachsenen auf Regeln gestützt. Es sind die Stadien erstens der Anerkennung von Regeln, um Konflikte zu vermeiden; im zweiten Stadium lernen Kinder, sich in die Situation anderer Individuen hineinzuversetzen und das System von Regeln als Ganzes zu verstehen; im dritten Stadium der Schwelle zum Erwachsenen erkennen sie, dass Regeln dem Zusammenleben und der Entwicklung grundlegender Werte wie Frieden, Freiheit, Verlässlichkeit und Hilfsbereitschaft dienen (Kohlberg 1984, zit. nach Leschke, S. 80). Kohlbergs Entwurf kann eine stufenweise Herausbildung zwar beschreiben; Anleitung durch Erwachsene und die Lernfähigkeit reichen aber als Erklärung nicht aus, denn eine Akzeptanz aus Erziehung wird irgendwann später, wenn sie hinsichtlich ihrer Begründung hinterfragt wird, ins Wanken geraten, solange nicht geklärt ist, woran sich Erziehung orientiert. Warum wird also jemand Regeln zustimmen, ausdrücklich oder stillschweigend? Buchanan hat ein Konsensmodell der Zustimmung entwickelt, das auf einer Kosten-Nutzen-Abwägung des Individuums beruht. Ein Regelverstoß und dessen Kosten werden als Gewinn- bzw. Verlustkalkulation abgewogen. Einschränkungen individueller Freiheiten durch Regeln treten als Kosten auf, die nur dann akzeptiert werden, wenn ein aus ihnen hervorgehender Nutzen überwiegt (Buchanan, S. 157 f.). Moral wird zur Prozedur (S. 8). Die Regeln aus der Prozedur bedürfen einer Akzeptanz, die bei Buchanan aus einem Gewinn begründet wird. Gewinnstreben beruht aber auf Buchanan hat den Charakter von Regeln untersucht und zur Grundlage eines Entwurfes einer politischen Ordnung gemacht.
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einer emotionalen Bewertung des Erfolges. Ohne den Grund der Akzeptanz zu erwähnen, wird er bei Buchanan als emotionale Bewertung vorausgesetzt. Auf Leschkes Argument, dass eine Missachtung der Regeleinhaltung intrinsische Kosten durch Schuldgefühle verursache, wurde oben hingewiesen. Rawls, der eine Gerechtigkeitstheorie aus einer Entscheidungstheorie entwirft, die sich an einer individuellen Kosten-Nutzen-Kalkulation orientiert, stützt sich als Grundlage der Auswahl und Bewertung von Grundsätzen auf einen Gerechtigkeitssinn der Individuen, der überhaupt erst ihre Zusammenarbeit hinsichtlich einer Gerechtigkeit ermögliche. Eine moralische Person beschreibt er als Wesen mit Vorstellungen von ihrem Wohl und einem Gerechtigkeitssinn (S. 36 f.). Sowohl Buchanans Gewinn- und Erfolgskriterium wie Leschkes Begründung einer Regeleinhaltung appellieren an eine Akzeptanz aus emotionaler Bewertung. Eine Akzeptanz allgemeiner Sätze beruht auf einer Entscheidung des Menschen und der Bewertung seiner Umwelt. Eine Auswahl und Akzeptanz seiner allgemeinen Sätze zur Gerechtigkeit begründet Rawls aus rationalen Überlegungen einer Entscheidungstheorie. Aber auch eine Entscheidungstheorie beruht wie das »Gefangenendilemma« zeigt, auf emotionaler Bewertung nach dem Kriterium des Selbstinteresses. Es gibt allgemeine Sätze, die unabhängig von einer Bewertung ihrer Anwendung mit keiner Akzeptanz rechnen können und solche, deren Anwendungen in einer bestimmten Situation nicht akzeptiert werden. Ein Beispiel für den ersten Fall ist ein Satz wie »der Zweck heiligt die Mittel« oder Nozicks Satz zur Verteilungsgerechtigkeit: Anspruch auf Besitztum wird durch gerechte Aneignung begründet; Kriterium ist nur, die Ansprüche Anderer nicht zu verletzen (Nozick 1974, S. 144), d. h. heißt, wer reich ist, bleibt reich und wer arm ist, hat Pech. Nozick hat in seinem Entwurf nicht gezeigt, dass sein Satz akzeptiert würde. Das Kriterium eines Selbstinteresses wird hier nicht zu einer Akzeptanz führen; wer den Ärmsten nicht an der Verteilung beteiligt, wird nicht mit deren Akzeptanz und nicht mit einer Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung rechnen können, die in einem Selbstinteresse liegen. In einem anderen Fall wird z. B. ein Satz akzeptiert, der den Glauben gegen Ungläubige zu verteidigen auffordert. Wenn aber ein Gläubiger diesen allgemeinen Satz zur Rechtfertigung eines Selbstmordattentates gegen Menschen anwendet, von denen er 126
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meint, sie würden seinen Glauben bedrohen, wird er keine Akzeptanz seiner ethischen Orientierung erwarten können. Im Gegenteil finden orthodoxe Muslime, die solche Attentate verüben oder fördern, innerhalb und außerhalb muslimischer Glaubensgemeinschaften zunehmende Verachtung. Es kann sein, dass allgemeine Sätze kontrovers bewertet werden und zu unterschiedlichen Handlungsorientierungen führen. Das zeigt sich in der Wahl eines allgemeinen Satzes zur Frage, ob die Forschung an einem Embryo in vitro erlaubt sein soll oder nicht. Eingehend wird dieses Beispiel im Kapitel G behandelt; hier dient es dazu, Folgerungen eines ethischen Konfliktes zu betrachten, die aus strittigen Bewertungen der Wahrnehmung entstehen. Es beginnt mit der Wahrnehmung des Embryos in vitro, der nur mit dem Hilfsmittel eines Mikroskops als Zellkörper zu sehen ist. Die Wahrnehmung bedarf einer Kommentierung vor allem ihrer Entstehung, um zu erfassen, um was es sich handelt. Die Herstellungshandlung gehört zum wahrgenommenen Ergebnis hinzu, um eine Bewertung zu ermöglichen, weil es ohne die Handlung den Embryo in vitro nicht geben würde. Auch wenn die Handlung selbst nicht wahrgenommen wird, sondern nur ihre Beschreibung, rückt sie und ihr Ergebnis in den Mittelpunkt der Bewertung: bei einigen Menschen erzeugen sie Achtung vor dem Menschsein des Embryos und eine Ablehnung seiner Tötung zu Forschungszwecken; bei anderen eine Verpflichtung zur Hilfeleistung an Patienten durch die Erforschung und mögliche Züchtung von Zellgewebe aus einer Stammzelle des Embryos, auch wenn deren Gewinnung den Embryo tötet. Ist eine emotionale Bewertungsbasis in solchen Dissensfällen tragfähig? Die Bewertungsergebnisse einschließlich ihrer Handlungsorientierungen veranlassen zu einer nachdenkenden Betrachtung der Argumente wie z. B.: ein Embryo hat nicht den Status einer Entwicklung zum Menschen, sondern den der Entwicklung eines Menschen; oder verwaiste Embryonen, die in der Fortpflanzungsmedizin überzählig werden und keine Überlebenschancen haben, sollten für eine Erforschung medizinischer Therapiemöglichkeiten genutzt werden können. Eine nachdenkende Betrachtung wird nicht notwendig zu einem Konsens führen müssen, weil einer Argumentation durch Vernunft und Begriffe Verständigungsgrenzen gesetzt sind. Aus so einem ethischen Konflikt strittiger Handlungsorientierungen ergeben sich zwei Folgerungen: – die Strittigkeit wird die Befürworter wie Gegner einem wachsenA
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den Rechtfertigungsdruck ihrer Position aussetzen, um nicht in ein Abseits unakzeptabler Machenschaften zu geraten; – soweit eine politische Entscheidung zugunsten der einen oder anderen Handlungsoption erforderlich wird, wird sie zu einem mehrheitsfähigen Kompromiss führen können, der selbst erneuter Bewertung ausgesetzt ist. Beide Folgerungen zeigen, dass emotionale Handlungsorientierungen aus emotionaler Bewertung und deren nachdenkende Betrachtung zu keinem normativ notwendigen Geltungsanspruch führen, sondern in einen offenen Prozess einmünden, dessen Ergebnisse erneuter Bewertung und Rechtfertigung ausgesetzt bleiben. Wenn die Akzeptanz eines allgemeinen Satzes über Werte, Tugenden und Rechte in seiner allgemeinen Form zwar nicht bestritten wird, kann dessen Anwendung im Einzelfall aber fraglich bleiben, weil damit nicht entschieden ist, ob er in der einzelnen ethischen Konfliktsituation eine geeignete Orientierung bietet. Zur Herausbildung eines ethischen Urteils in einer Entscheidungssituation bedarf es nicht nur des allgemeinen akzeptierten Satzes als Prämisse, sondern einer Bewertung, ob dieser oder besser ein anderer für diesen Fall geeignet ist. Ein Beispiel zur Folter von Menschen kann das deutlich machen. Die Achtung der Würde des Menschen verbietet seine Folter. 22 In einem Fall hat ein ermittelnder Polizeibeamter einem mutmaßlichen Täter eine Folter angedroht. Ein kleiner Junge war entführt worden; der Täter versuchte eine Erpressung. Er wurde gefasst, aber der Junge blieb verschwunden. Es war damit zu rechnen, dass er in akuter Lebensgefahr schwebte. Der Täter gab das Versteck nicht preis. Aus Sorge um das Leben des Jungen hat der Polizeibeamte dem Täter mit der Folter gedroht, ihm große Schmerzen zuzufügen, falls er das Versteck nicht verrate. Der Täter hat aus Angst vor der Folter das Versteck verraten. Der Junge wurde dort tot aufgefunden; er war ermordet worden. Der Beamte, der die Folter angedroht hatte, wurde wegen Verletzung des Folterverbots angeklagt. Zu entscheiden war die Frage: War diese Folterandrohung gerechtfertigt, um das Leben des Jungen eventuell zu retten? Ein grundsätzliches Folterverbot blieb unstrittig; aber wenn die Folterandrohung das Leben des Jungen hätte retten können, wäre ein Verstoß gegen das allZum verfassungs- und völkerrechtlichen Verbot der Folter s. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1949 und Art. 7 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte von 1966.
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Empirische Begrndung
gemeine Verbot gerechtfertigt? Das Beispiel zeigt, dass Allgemeine Sätze ethischer Orientierung allein manchen Konflikt nicht lösen können, dass eine Suche nach alternativen allgemeinen Sätzen angeregt wird und dass die Bewertung der Einzelsituation auch mit Risiken für den Handelnden verbunden sein kann. Der hier formulierte Satz der »Grundlegenden Ethischen Orientierung« fordert kein Sollen, sondern beschreibt Möglichkeiten des Handelns. Es ist charakterisiert durch eine Offenheit für Entwürfe und Auswahl allgemeiner Sätze unter der Bedingung ihrer Akzeptanz. Er kann einen Wertewandel erklären, weil eine Abwägung allgemeiner Sätze und ihre Anwendung nicht einem starren Normenkonzept folgen, sondern einer Bewertung der Lebensbedürfnisse nach einem Selbstinteresse. Was manche Menschen als einen Werteverfall betrachten, zeigt sich aus emotionaler Bewertung als eine sich langsam durchsetzende Akzeptanz einer Veränderung. Eine Lebenspartnerschaft homosexueller oder lesbischer Partner war vor Jahren undenkbar. Solche Partnerschaften existierten höchstens heimlich. Eine Mehrheit akzeptiert sie heute, weil sie es der individuellen Freiheit der Menschen überlässt, ihre Lebensgestaltung zu wählen, weil sie sich nicht belästigt oder aus überlieferten Normen verletzt fühlt und weil sie sich nicht in der Erfüllung ihrer Bedürfnisse behindert sieht.
IV. Empirische Begrndung Zu begründen ist die Ethik als Prozess einer Urteilsbildung aus der Beziehung eines Menschen zu seiner Umwelt und des daraus abgeleiteten Satzes einer Grundlegenden Ethischen Orientierung. Die Begründung hat einen empirischen Aspekt und einen epistemischen, der eine von der Erfahrung unabhängige Einsicht erschließt. Zunächst wird der empirische Aspekt behandelt. In den bisherigen Überlegungen ist empirisch argumentiert worden und zwar aus biologischer, neurowissenschaftlicher und handlungstheoretischer Perspektive. Orientierungen für Handeln und Verhalten wurden aus empirischen Ergebnissen einer Kommunikation eines Menschen mit seiner Umwelt begründet. Die biologische Begründung, auf die sich vor allem Maturana und Ridley stützen, betrachten einen Menschen als einen Organismus, der um seiner Selbsterhaltung willen einen stofflichen Austausch mit seiner UmA
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Ethische Urteilsbildung
welt verarbeitet; Orientierungen für sein Handeln und Verhalten sind an dem Bedürfnis orientiert, sein ihm innewohnendes Leben zu entfalten. 23 Ridley hat den biologischen Gedanken durch eine evolutionäre Erklärung erweitert: Die Evolution hätte solche Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten hervorgebracht, die durch die Beziehung eines Individuums zu seiner Umwelt begünstigt worden wären. Die Evolution hätte geeignete Bewertungssysteme herausgebildet. Als Beispiel nennt er Fairness als ein Gefühl eines sozial interagierenden Wesens (1997, S. 193). Eine evolutionäre Betrachtungsweise verfügt über eine heuristische Erklärungskraft, ist aber empirisch nur beschränkt beweisbar, weil Kriterien für Exemplare, die die Hypothese widerlegen könnten, fehlen. Die handlungstheoretische Perspektive einer empirischen Begründung der Ergebnisse aus der Kommunikation mit der Umwelt, auf die Glasersfeld seine philosophische Interpretation des Konstruktivismus stützt, erklärt zwar erfolgreiches Handeln in der Umwelt, ist aber so praxisorientiert angelegt, dass nur die Erfahrung über den Erfolg entscheidet; ein moralischer Aspekt des Handelns bleibt undiskutiert. Empirische Untersuchungsmethoden zur Bewertung von Einflüssen der Umwelt auf Handlungsorientierungen werden sowohl in den Neurowissenschaften als auch in der Sozialforschung angewendet. Allerdings gibt es einen Unterschied hinsichtlich der Zuverlässigkeit ihrer Voraussagen. Die Gesetzmäßigkeiten neuronale Prozesse erlauben gut bewiesene Aussagen über Reize der Umwelt und ihre neuronale Verarbeitung als Bedingung von Bewerten und Handeln. Aus den empirischen Ergebnissen einer Sozialforschung über Umwelteinflüsse auf Handlungsorientierungen ergaben sich bei Nunner-Winkler Aussagen auf statistischer Basis, die nur eine wahrscheinliche Voraussage über Ergebnisse aus Umwelteinflüssen erlauben (Nummer-Winkler 1999, S. 156 ff.). Deshalb wird bezüglich einer empirischen Begründung von Aussagen über Bewertungen der Umwelt als Bedingung für eine Ethik den Neurowissenschaften der Vorzug gegeben. 24 Aristoteles (1983, S. 285) hat es treffend das ihm innewohnende »Werdeziel« genannt. 24 Vgl. Pauen (2001, S. 109), der darauf hinweist, dass Gesetzmäßigkeiten, wie sie in Naturgesetzen formuliert werden, ihren Gegenständen kein Verhalten aufzwingen, sondern etwas beschreiben, was die Gegenstände von sich aus tun. 23
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Empirische Begrndung
Die neurowissenschaftlichen Ergebnisse eröffnen Zusammenhänge über differenzierte Reizquellen der Umwelt und deren Auswirkungen auf individuelles und soziales moralisches Handeln als ein Erfahrungswissen. Der Vorteil der neurowissenschaftlichen Ergebnisse zeigt sich in der Erschließung der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt. Sie können zeigen, dass ein Mensch sich der Verarbeitung der Umweltreize bewusst wird und Distanz gewinnt, um in nachdenkender Betrachtung Handlungstendenzen abzuwägen. Die neurowissenschaftlichen Ergebnisse sind aus erkenntnistheoretischer Sicht durch ihren naturgesetzlichen Charakter gekennzeichnet: Ihre Aussagen gelten; sie erklären unter Abstrahierung aller anderen Einflüsse auf die Herausbildung eines Wissens über die Umwelt und dessen Bewertung bestimmte Zusammenhänge. Die Ergebnisse sind nicht geeignet, das Phänomen des individuellen Wissens über die Umwelt, über dessen Bedeutungen, Werte und Sinngehalte auf neurologische Prozesse so zu reduzieren, dass sie das gesamte Phänomen erklären. Die neurowissenschaftlichen Ergebnisse können nur bestimmte Zusammenhänge des Phänomens deutlich machen. Ihre Erklärungskraft liegt darin, dass ihre Ergebnisse den Rang einer notwendigen Bedingung einnehmen. Die Bewertung einer Wahrnehmung, repräsentiert durch emotionale Zustände, sind neurowissenschaftlich nur insoweit erklärt, als sich zeigen lässt, dass ohne bestimmte Reize, ohne neurologische Verarbeitung an bestimmten Gehirnorten keine emotionale Bewertung einer Wahrnehmung möglich ist. 25 Wenn eine empirisch begründete Aussage eine notwendige Bedingung für eine emotionale Bewertung bildet, heißt das für eine Ethik, sie beschreibt die prima facies Bedingung eines Überlebensinteresses, ohne die Ethik keinen Sinn macht. Erfüllen die Ergebnisse auch eine hinreichende Bedingung für die Bewertung, d. h., lässt sich eine Bewertung auf einen neuronalen Prozess reduzieren? Wenn ein neuronaler Prozess eine hinreichende Bedingung für eine bestimmte Emotion wäre, müsste sich aus seinen gemessenen Aktivitäten ein bestimmter Erregungszustand schließen Pauen (2001, S. 83 ff.) vertritt in seiner Untersuchung über die Korrelationen zwischen mentalen Ereignissen und neuronalen Prozessen eine ähnliche Position, die er Identitätstheorie nennt. Mentale Ereignisse und neurobiologische Prozesse seien zwei verschiedene Perspektiven, die einen Prozess beschreiben. Allerdings kann Pauen die Identität nicht systematisch begründen, wie es die Interpretation durch eine notwendige Bedingung der empirisch erwiesenen Gesetzmäßigkeit der neuronalen Prozesse für das mentale Ereignis einer Emotion erlaubt.
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lassen; es müsste sich eine bestimmte Emotion voraussagen lassen. Versuche haben aber gezeigt, dass Stimulationen an bestimmten Gehirnorten zwar neuronale Prozesse anregen und eine Emotion auslösen, diese aber als eine künstliche erkannt wird. 26 Wenn eine allgemeine Aussage über einen neuronalen Prozess eine hinreichende Bedingung für eine bestimmte Emotion wäre, fielen alle individuellen aus der Erfahrung erworbenen Faktoren und deren neuronale Aktivitäten unter den Tisch. Ist es überhaupt denkbar, alle auslösenden und erlernten, bewussten und unbewussten, vegetativen und kognitiven neuronalen Erregungszustände zu erfassen, ihre Vollständigkeit festzustellen und schließlich noch empirisch nachzuweisen? Das erinnert an die Vorstellung einer vollkommen erfassbaren Zukunft, wie sie von Laplace beschrieben und von Heisenberg kritisiert wurde (s. Abschn. F I.). Empirische Ergebnisse als notwendige Bedingung reduzieren nicht ethische Werte, Ziele und Sinngehalte auf Naturgesetzlichkeiten. 27 Sie erlauben eine Einsicht in Grundlagen, die erfüllt sein müssen. Empirisch begründet ist die ethische Urteilsbildung aus dem Prozess der Kommunikation eines Menschen in seiner Umwelt durch die Experimente, die gezeigt haben, dass die Bewertung der Wahrnehmung unverzichtbar für die Lebensbedürfnisse eines Menschen sind; dass aus den Bewertungen moralische Gefühle hervorgehen, die Handlungstendenzen bezogen auf die Erste Person, auf andere und auf die Gemeinschaft hervorbringen. Onto- und phylogenetische Bedingungen ebenso wie Beobachtungen der Konstanz der Bewertungen konnten mit Experimenten gezeigt werden. Empirische Ergebnisse machten deutlich, dass die Reize der Umwelt keine Beliebigkeit einer Urteilsbildung aus emotionaler Bewertung zulassen und dass umgekehrt das Handeln einer Ersten Person selbst als Roth erläutert, wie man mit demselben künstlichen elektrischen Reiz in unterschiedlichen Gebieten des Gehirns entsprechend unterschiedliche sensorische Halluzinationen hervorrufen könne. Versuchspersonen sahen z. B. einfache, meist farbige Gegenstände, die sich in verschiedene Richtungen bewegten, sie hörten nur einfache Laute oder hatten Körperempfindungen wie Jucken und Kribbeln. Allerdings wurden diese Halluzinationen von den Versuchspersonen nicht mit natürlichen Reizzuständen verwechselt (Roth 1987a, S. 233 und 1997, S. 111) 27 Fischer (1999, S. 28) sieht in den empirischen Tatsachen der Gefühle im Vergleich zu Werten einen Dualismus; er meint, die empirischen Tatsachen der Gefühle ließen sich als Quelle für Werte zwar plausibel machen; es sei aber nur eine moralpsychologische Feststellung über die Genese von Werten, aber keine moralische und ethische Feststellung über ihre Geltung. 26
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Empirische Begrndung
Umweltreiz von anderen oder von der Gemeinschaft bewertet wird, d. h. direkt oder indirekt durch seine Auswirkungen Umwelt verändert. Ein stets vorgebrachter Einwand gegen empirische Begründungen einer Ethik ist der Hinweis auf den naturalistischen Fehlschluss. Er beschreibt die Unmöglichkeit eines Übergangs vom Empirischen zum Normativen; er beruht darauf, dass empirische Ergebnisse nicht mit Notwendigkeit vorhersagbar sind; empirische Ergebnisse können jederzeit andere sein als erwartet, weil sie wechselnden Einflüssen unterliegen, die keine notwendige Geltung ihrer Ergebnisse erlauben. Ein Sollen drückt dagegen dasjenige Handlungskriterium aus, das eine Geltung für die Zukunft, für alle Einzelsituationen und für jedes Individuum beansprucht. Ein Sollen kann sich deshalb nicht auf eine empirische Rechtfertigung berufen. In der Herleitung und Begründung einer Grundlegenden Ethischen Orientierung geht es nicht um ein normatives Sollen, sondern um ein Sollen, das nach einer Abwägung von Handlungstendenzen in einer bestimmten Situation fragt; es ist kein Sollen, das einen Anspruch formuliert, sondern ein Sollen, das eine Möglichkeit ausdrückt; die Möglichkeit erlaubt, einer Handlungstendenz zu folgen oder nicht zu folgen. Ein Beispiel für ein normatives Sollen ist z. B. Kants Kategorischer Imperativ, an dem deutlich wird, dass Kant »materiale Prinzipien« in seiner Ethik nicht zugelassen hat, weil sie für eine notwendige Geltung eines Bestimmungsgrundes des Willens untauglich sind (Kant, KdpV A71). Die Forderung nach einer notwendigen Geltung einer Handlungsmaxime, die er auf eine allen Menschen verfügbare Freiheit gründet, erreicht er unter zwei Bedingungen: Die Handlungsmaxime hat nur eine formale Struktur, weil eine inhaltliche Aussage die Handlungsfreiheit einschränke; und eine auch für den Menschen geltende Naturgesetzlichkeit, die eine Freiheit des Handelns nicht zuließe, begrenzt er auf eine Welt der Erscheinungen; in einer Welt an sich, nämlich die von der es die Erscheinungen sind, bleiben Naturgesetzlichkeit und Freiheit miteinander verträglich (Kant KdrV BXXIX). So können die empirischen Bedingungen für ein moralisches Handeln gültig bleiben, aber unberücksichtigt gelassen werden. Die Frage ist nur, was die notwendige Geltung einer solchen Handlungsmaxime leisten kann, die weder inhaltliche Kriterien noch eine aktuelle Entscheidungssituation berücksichtigt. Mit Kants Maxime des »Kategorischen Imperativs« lässt sich zum z. B. nicht mehr entscheiden, ob
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eine Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen erlaubt sein soll oder nicht. Sie ermöglicht kein Kriterium für die inhaltlich wichtige Frage, ob dem Embryo ein Menschsein zukommt oder nicht. Ein Sollen in der Bedeutung einer Möglichkeit lässt dagegen eine aktuelle Entscheidungssituation auch unter Einbeziehung von Naturgesetzlichkeiten zu und beschränkt sich nicht nur auf eine formale Struktur. Empirische Ergebnisse werden in diesem Sollen nicht ausgeschlossen. Der Unterschied zwischen einem normativen Sollen und einem Sollen als Möglichkeit wird deutlich in der Frage »Was soll ich tun?«, die nach einer Norm fragt, während die Frage »Soll ich es tun?« die Möglichkeit abwägender Überlegung ausdrückt. Die letztere geht von einer Handlungssituation aus, in der eine emotionale Bewertung mit einer Handlungstendenz verbunden ist. Entscheidungsinstanz bleibt das Individuum. Es kann die Handlungstendenz nachdenkend betrachten, prüfen hinsichtlich seiner Folgen, der Interessen und Bedürfnisse und vor dem Hintergrund seiner Erfahrung. Weder Naturgesetzlichkeiten noch inhaltliche Orientierungen bleiben ausgeschlossen. Kriterium ist jetzt nicht ein notwendiges Sollen, sondern eine Bewährung der Entscheidung. Eine Änderung der Frage »Was soll ich tun?« zur Frage »Soll ich es tun?« verweist auf die Prüfung des Einzelfalls, den das Wort »es« kennzeichnet, und für diesen Einzelfall eine Veränderung von Zielen und Werten zu berücksichtigen und konkurrierende Bewertungen durch Argumente zu prüfen und zu überwinden. Emotionen und Vernunft folgen in dieser Fassung keinem Entweder-Oder; Vernunfteinsicht überzeugt, wenn ihre Bewertung Akzeptanz findet. In welcher Weise dabei Werte, Sinngehalte und Grundsätze zur Geltung kommen können, wurde gezeigt. Es gibt aber auch ein Bedürfnis der Menschen, Handlungsorientierungen erfahrungsunabhängig einzusehen. Gemeint sind Einsichten, die einer Erfahrung vorausgehend diese konstituieren können. Das Bedürfnis hängt mit dem Wunsch nach größerer Verlässlichkeit der Orientierungen und einer Gewissheit ihrer Geltung auch für zukünftiges Handeln zusammen. Es wird deshalb ein epistemischer Begründungsanspruch einer Ethik aus emotionaler Bewertung untersucht.
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V.
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Wie ist Ethik aus dem Wissen über die Umwelt begründbar, ohne sich auf eine Erfahrung zu stützen? Die Begründung geschieht in zwei Schritten. Da Ethik aus Ergebnissen einer Kommunikation eines Menschen mit seiner Umwelt hergeleitet wurde, ist in einem ersten Schritt zu zeigen, dass Mensch und Umwelt jeweils eine Entität zukommt. Der Schritt ist erforderlich, um zu erkennen, dass ein Wissen des Menschen über die Umwelt von dieser mitgeprägt wird. In einem zweiten Schritt wird dann der Satz der Grundlegenden Ethischen Orientierung aus Annahmen über den Menschen, der in seiner Umwelt handelt, hergeleitet. Zunächst sind die Einwände des Radikalen Konstruktivismus zu prüfen, die eine Außenwelt bestreiten, wobei Außenwelt nur ein anderer Begriff für das ist, was hier Umwelt genannt wird. Es sind sowohl philosophische wie auch neurowissenschaftliche Argumente, die von den Konstruktivisten genannt wurden, um die Leugnung einer Außenwelt zu rechtfertigen. Zur philosophischen Perspektive meint Glasersfeld, niemand könne erklären, wie die Sinnesorgane in einer Vermittlerrolle die Einfuhr der ontischen Dinge der Außenwelt in die Innenwelt der Ideen bewerkstelligen könnten; und »niemand wird je imstande sein, die Wahrnehmung eines Gegenstandes mit dem postulierten Gegenstand selbst, der Wahrnehmung verursacht haben soll, zu vergleichen«. Ein Subjekt könne nur auf die Wahrnehmungserkenntnis rekurrieren, die es selbst hervorbringt (Glasersfeld 1985, S. 12 u. 1996, S. 69). Mit der Erforschung neurologischer Vorgänge im Gehirn und im Nervensystem verstärkte sich der Zweifel, wie Gegenstände der Außenwelt in das Gehirn gelangen sollen, wo nur feuernde Neurone zu beobachten seien, und wie anschließend die Ergebnisse der neuronalen Prozesse wieder nach außen heraustreten sollten. 28 Roth hat auf Paradoxien verwiesen, die aus der Annahme einer Außenwelt hervorgehen, wie z. B.: Wenn alle Wahrnehmung im Gehirn entsteht, muss es zwei Welten geben, nämlich eine Welt der Gegenstände außerhalb des Gehirns und eine zweite der Wahrnehmung der Gegenstände in unserem Gehirn. Das entspricht nicht unserem Erleben, denn wir leben nur in einer Welt (Roth 1997, S. 21). Aus der philosophischen wie auch der neurowissenschaftlichen 28
Vgl. Roth (1997, S. 22): Er beschreibt Paradoxien aus neurobiologischer Sicht. A
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Begründung der Wahrnehmung ergeben sich zwei erkenntnistheoretische Einwände gegen die Leugnung einer Außenwelt; der erste ist: Der Radikale Konstruktivismus verschließt sich den Zugang zu einer Außenwelt, weil er die Wahrnehmung auf ein Konstruktionsgeschehen reduziert. Möglich bleibt dagegen eine konstruktivistische Rekonstruktion der Außenwelt aus den Reizen der Umwelt, der der Radikale Konstruktivismus aber nicht nachgeht. 29 Es gibt einen zweiten erkenntnistheoretischen Einwand gegen die Ablehnung einer Außenwelt. In einem erdachten Beispiel beschreibt Foerster einen Mann, der von sich behauptet, die einzige Realität zu verkörpern und alles Übrige existiere nur in seiner Vorstellung. Dieser Mann wird aber nicht leugnen können, dass seine Vorstellungswelt von Menschen bevölkert ist, die ihm nicht unähnlich sind. Er muss einräumen, dass diese Menschen ihrerseits darauf bestehen können, sich als die einzige Realität und alles sonst als Produkt ihrer Vorstellungswelt zu betrachten; auch deren Vorstellungswelt wäre dann von Menschen bevölkert, darunter auch von ihm. Foerster meint nun, dass der Mann frei wählen könne, ob nur er sich als Mittelpunkt des Universums betrachte oder auch andere Menschen als Entitäten zulasse, weil weder der solipsistische Standpunkt noch der relative zu beweisen seien. Lehne er den Relativismus ab, sei der Mann Mittelpunkt des Universums, die Wirklichkeit wären seine Produkte. Würde er die Entität des Anderen anerkennen, könnte weder er noch der Andere Mittelpunkt der Welt sein. Es müsse dann ein Drittes geben, nämlich die Beziehung zwischen dem Du und dem Ich (Foerster 1994, S. 58). Kann der Mann, wie Foerster meint, wirklich frei wählen? Es könnte sein, dass der Mann einen gewaltbereiten aggressiven Menschen wahrnimmt, der ihn umzubringen droht. Wenn er ihn als eine Ralph Schumacher vertritt die These, dass der Konstruktionscharakter unserer Wahrnehmung den Zugang zur Wirklichkeit nicht verstellt, sondern vielmehr erst ermöglicht. Er begründet diese These durch eine Reihe physikalischer Beobachtungen, die zeigen, dass primäre Eigenschaften wie Formen und Entfernungen, wie sie aus den Konstruktionsprozessen unseres Gehirns hervorgehen, mit den realen Eigenschaften von Gegenständen identisch sind (Schumacher 2004). Realität verkörpert bei ihm die konstanten Eigenschaften von Gegenständen, die trotz wechselnder Beleuchtungsverhältnisse oder veränderter Entfernungen vom Gehirn als konstant identifiziert werden und deshalb einer Realität entsprechen. Es reicht hier aus, auf den empirisch begründeten Einwand zu verweisen, dem in diesem epistemischen Begründungszusammenhang nicht weiter nachgegangen wird.
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eigenständige Entität anerkennt, könnte er sich schützen und überleben. Würde er aber nur sich selbst eine Realität zugestehen, bliebe der Andere ein Produkt seiner Vorstellungswelt; das Problem könnte sich dann dadurch lösen, dass der Andere den Mann umbringt und er die Frage nicht mehr stellt. Außerdem tritt ein Widerspruch auf, wenn der Mann nach Foersters Meinung eine Wahlmöglichkeit hätte. Wenn nämlich der Mann den solipsistischen Standpunkt einnimmt und behauptet, es gäbe nur ihn als Realität, und gleichzeitig einräumt, dass er zu den Menschen gehört, die die Vorstellungswelt der Menschen aus seiner Vorstellungswelt bevölkern, dann ergibt sich der Widerspruch, dass ihm einerseits eine Entität gemäß seines Solipsismus zukommt und andererseits keine Entität in der Vorstellungswelt eines Anderen. Dem möglichen Widerspruch kann er nur entgehen, indem er zugibt, dass dem Anderen in seiner Vorstellungswelt auch eine Entität zukommt. Sowohl diese Überlegung wie auch die einer möglichen Vernichtung durch einen Feind als Folge eines Solipsismus zeigen, dass ein Mensch einem Anderen aus seiner Vorstellungswelt ebenso wie sich selbst eine Entität zugestehen muss; Mensch und Umwelt sind zwei Entitäten. Nachdem geklärt ist, dass das von einem Menschen hervorgebrachte konstruktivistische Wissen über seine Umwelt nicht nur sein Konstrukt ist, sondern er sich einer Außenwelt gegenübersieht, zu der andere Menschen gehören, lassen sich in einem zweiten Schritt Orientierungen seines Handelns in Bezug auf andere Menschen begründen, die ihrerseits handeln. Der Satz der Grundlegenden Ethischen Orientierung wird hergeleitet aus den Annahmen über den Menschen. Der Schritt folgt einem Begründungsmodell, das in einer modernen Fassung von Vertragstheorien verwendet worden ist, um »Moralnormen oder öffentliche Ethik« (Kersting 1996, S. 51). zu begründen. 30 Die Begründung einer Ethik erfolgt aus einer hypothetischen Zustimmung der Menschen. Sie erlangt eine von der Erfahrung unabhängige Geltung, wenn man zeigen kann, dass alle Menschen den betrachteten ethischen Grundsätzen zustimmen. Rawls hat mit diesem Modell seine viel beachtete Theorie der Gerechtigkeit begrünKersting behandelt das Modell sehr ausführlich unter dem Begriff eines Kontraktualismus.
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det, die sich dadurch auszeichnet, dass eine Zustimmung der Menschen nicht mehr wirklich erfolgt, sondern als Hypothese einer Zustimmung aus Annahmen über den Menschen hergeleitet und begründet wird. Die epistemische Begründung des Satzes der Grundlegenden Ethischen Orientierung folgt diesem Modell dadurch, dass man fragt: Unter der Voraussetzung welcher Eigenschaften würden die Menschen in ihrer Umwelt so handeln, wie es dieser Satz beschreibt? Es wird dann geprüft, ob die Voraussetzungen den Menschen zukommen; wenn das zutrifft, ist der Satz begründet. Eigenschaften, die vorausgesetzt werden, sind: Der Mensch verfügt über ein Selbstinteresse, das ihm ermöglicht, seine Lebensbedürfnisse zu erfüllen. Er verfügt über ein Bewertungsvermögen, um sowohl Einflüsse aus der Umwelt als auch Rückwirkungen aus Veränderungen der Umwelt, die sein Handeln hervorrufen, abzuschätzen. Er ist frei hinsichtlich einer Auswahl von Handlungsalternativen und besitzt Vernunft, um Handlungsalternativen abzuwägen; schließlich verfügt er über die Möglichkeit, Erfahrungen aus seinem Handeln herauszubilden und zu sammeln. Eine Zuerkennung dieser Eigenschaften entspricht dem Satz der Grundlegenden Ethischen Orientierung. Von allen weiteren individuellen Eigenschaften der Menschen wird abgesehen. Es wird jetzt die Annahme gemacht, dass jeder Mensch anerkennt, diese Eigenschaften zu besitzen. Für diese Annahme spricht eine Reihe von Argumenten. Eine Betrachtung der einzelnen Annahmen beginnt mit dem Selbstinteresse zur Erfüllung seiner Lebensbedürfnisse. Wird jeder dieser Annahme zustimmen können? Ein Selbstinteresse setzt ein Lebensinteresse voraus und ein Lebensinteresse ohne ein Selbstinteresse macht keinen Sinn. Lebensinteresse entzieht sich aber sowohl einer Vernunfteinsicht als auch einer Erfahrung. Lebensinteresse eines Menschen ist kein Gegenstand einer Einsicht, die nicht vorhanden wäre wenn nicht durch Einsicht. Lebensinteresse ist auch keine Sache einer Erfahrung, die von einer Lernbarkeit abhängt. Lebensinteresse äußert sich meist in unbewussten Bewertungen und Tätigkeiten. Erst dann, wenn das Lebensinteresse im Einzelfall verloren gegangen ist oder verweigert wird, geschieht es aus Gründen, erst dann wird nach Gründen gefragt. Deshalb erscheint es berechtigt, Lebensinteresse und seine Ausprägung in einem Selbstinteresse als jedem Menschen zugehörig anzunehmen. Eine nächste Annahme ist die eines Bewertungsvermögens. Wird dieser Annahme jeder zustimmen können? Nachdem geklärt 138
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ist, dass zur Umwelt des Menschen andere Menschen mit eigenem Selbstinteresse gehören, würde, wenn die Selbstinteressen der Anderen gegen das eigene gerichtet sind, sie aber nicht als Bedrohung erkannt werden könnten, dazu führen, dass ein eigenes Selbstinteresse ohne Bedeutung bleiben müsste; eigene Bedürfnisse fielen den fremden zum Opfer. Jeder wird deshalb einsehen, dass Bewertungsvermögen unverzichtbar ist. Eine weitere Annahme über den Menschen ist dessen Besitz einer Vernunft, die ihm ermöglicht, durch abwägende Überlegungen sein Selbstinteresse zu verfolgen; eine Vernunft zu leugnen hieße, Konflikte aus eigenem Handeln ebenso wie aus der Verfolgung des Selbstinteresses der Anderen in Kauf zu nehmen einschließlich daraus entstehender eigener Nachteile. Es wird dem eigenen Selbstinteresse eher schaden als seine Ergebnisse fördern; deshalb und um nachteilige Rückwirkungen aus dem eigenen Handeln einbeziehen zu können, wird jeder eine Möglichkeit abwägender Beurteilung durch die Vernunft zugestehen wollen. 31 Schließlich wird angenommen, dass der Mensch über ein Maß an Freiheit verfügt, ihm förderliche Handlungsalternativen auszuwählen; gemeint ist eine Freiheit der Selbstbindung durch Gründe im Handeln. Wird sie zugestanden werden können? Wer sie dem Menschen nicht zugesteht, wozu einige Neurowissenschaftler neigen, gerät in einen Konflikt: Wie will er für Unfreiheit argumentieren, wenn er auf der Suche nach ihrer Möglichkeit keine Freiheit hat, sich für oder gegen sie zu entscheiden? Eine Argumentation gegen sie setzt sie voraus. Ihre Ablehnung ohne Argumentation bliebe blind und könnte nicht überzeugen. Es wird auch angenommen, dass er in der Lage ist, Erfahrungen zu sammeln, d. h. Nachteile aus einem Handeln zu erkennen und bei nächster Gelegenheit zu vermeiden. Diese Möglichkeit zu bestreiten hieße eigene Lebensinteressen nicht erfolgreich planen und verfolgen zu können. Ohne voraussagen zu können, dass Erfahrung immer Misserfolge vermeiden kann, wird sich jeder wenigstens die Möglichkeit, sich darum bemühen zu können, zugestehen wollen. Alle genannten Argumente ermöglichen die Einsicht, dass sich der Mensch einer von ihm unabhängigen Umwelt von Menschen gegenübersieht, denen die gleichen Annahmen über bestimmte EiRawls (1979) hat einen rationalen Entscheidungskalkül in seinem kontraktualistischen Argument ausführlich untersucht.
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genschaften zugestanden werden; aus seinem Selbstinteresse, seiner Freiheit und Vernunft folgt, sein Handeln so zu wählen, dass sie sein Selbstinteresse, besonders sein Überleben, sein Wohlbefinden und Gedeihen fördern. Er wird dabei bedenken, dass sie dann, wenn sie die Selbstinteressen anderer verletzen, Veränderungen herbeiführen können, deren Rückwirkungen den eigenen Interessen schaden. Da die Voraussetzungen, unter denen der Satz einer Grundlegenden Ethischen Orientierung für alle Menschen gilt, erfüllt sind, ist eine Geltung des Satzes gerechtfertigt. Im Begründungszusammenhang des Satzes der Grundlegenden Ethischen Orientierung hat der empirische Aspekt gezeigt, welche Gesetzmäßigkeiten in der Kommunikation eines Menschen mit der Umwelt wirksam sind, die moralische Gefühle repräsentieren und ohne die moralische Gefühle undenkbar sind. Der epistemische Aspekt hat gezeigt, wie aus der Kommunikation des Menschen mit seiner Umwelt, die von Naturgesetzmäßigkeiten geprägt ist, Orientierungen für Handeln erkennbar und begründbar werden, die für alle Menschen gelten und deshalb die Bedingung einer Ethik erfüllen. Der Satz einer Grundlegenden Ethischen Orientierung verlangt kein bestimmtes Handeln, sondern nur, dass dasjenige, das ausgewählt wurde, die Beschreibung des Satzes erfüllt. Er reduziert auch nicht eine ethische Orientierung auf ein Selbstinteresse, sondern lässt Werte ebenso wie transzendente Prinzipien unter der Voraussetzung zu, dass sie nicht gegen ein Selbstinteresse gerichtet sind. Ist der Satz Grundlegender Ethischer Orientierung geeignet, in persönlichen ethischen Konflikten eine Handlungsmöglichkeit zu wählen? Der Frage wird am Beispiel der Widerstandskämpfer im Dritten Reich in ihrem Konflikt über die Erfüllung ihres Eides nachgegangen. Es waren Offiziere, die den Eid geleistet hatten und den ethischen Konflikt des Eidbruchs reflektierten. 32 Der allgemeine Satz verlangt hier die Erfüllung des Eides aus der persönlichen Verpflichtung. Bis dahin wurde der Eid auf die Verfassung abgelegt, die zu schützen und zu verteidigen sich der Soldat verpflichtete. Ab 1934 mußte der Soldat Gehorsam gegenüber einem einzelnen Menschen schwören. Der Eid lautete: »Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, daß ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen« (Grundzüge der deutschen Militärgeschichte, Bd. 2, S. 315).
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Einerseits fühlten sich die Widerstandskämpfer an den Eid gebunden und andererseits wollten sie ein verbrecherisches Handeln im Namen des Staates unter Inkaufnahme eines Bruchs ihres Eides verhindern. Nach der Abwandlung des Eides 1934 von einer Verpflichtung auf die Verfassung zu einem Schwur auf den Führer des Deutschen Reiches war die Annahme dieses allgemeinen Satzes noch problematischer geworden, weil sich ihre Attentatspläne gegen den Mann richteten, dem sie persönlich verpflichtet worden waren. Ludwig Beck, damals Generalleutnant der Wehrmacht, hatte den Tag der neuen Eidesleistung den schwärzesten Tag seines Lebens genannt (Hoffmann 1994, S. 32). Die Frage des Eidbruchs belastete sein Gewissen. Ist es erlaubt, den Bruch des Fahneneides auf sich zu nehmen, Hoch- oder auch Landesverrat zu begehen, um Deutschland zu dienen? Vor allem, nachdem sich Deutschland bereits im Krieg befand, musste man nicht alles tun, um dem Land und seinen Bürgern in der Not beizustehen? Jeder der Verschwörer musste diese Frage für sich entscheiden; jeder musste für sich allein die Konsequenzen auf sich nehmen. Mit Hilfe des Satzes Grundlegender Ethischer Orientierung werden Erwägungen und Entscheidungen aus ethischer Perspektive möglich und nachvollziehbar einschließlich ihrer Rückwirkungen bis heute. Aus vielen Wegen der Verschwörer in den Widerstand wird deutlich, dass eine persönliche Bewertung erlebter verbrecherischer Ereignisse im Namen des Staates zu einer Wende ihres Treueverhältnisses zum Staat führte. Nach seinen Motiven des Widerstandes gefragt, antwortete Schwerin vor dem Volksgerichtshof am 21. August 1944. »Ich dachte an die vielen Morde« (Schwerin 1991, S. 243). Sie bewerteten Erlebtes und daraus entstehende Handelsorientierungen. In einem Bericht Axel von dem Bussches – ebenfalls einer aus den Reihen des Widerstandes – heißt es: »Wir sind gestern auf die Frage des Landesund Hochverrates gekommen, eine sehr wichtige Frage für einen Soldaten und einen in einer traditionellen patriotischen Erziehung groß gewordenen Mann. Hochverrat, einem kriminellen Staatsführer gegenüber mit einer ihm wie immer dienenden staatlichen Apparatur, war kein Problem« (Reich 64). Dokumentiert ist aber auch, dass andere hohe Repräsentanten des Staates an der Erfüllung ihres Eides trotz eines Wissens um die Verbrechen festhielten, wie z. B. Generalfeldmarschall von Mansteins erregte Antwort zeigt: »das mache ich nicht mit, […] Ich werde mich stets loyal der legalen Regierung zur Verfügung stellen; Preußische Feldmarschälle meutern nicht« (Scheurig 1973, S. 158). Wer von den Verbrechen wusste und sich A
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einem Widerstand verweigerte, setzte sich und seine Begründung erneuter Bewertung aus. Deren Rückwirkungen führte im Fall Mansteins zu späterer Kritik und förderte nicht sein persönliches Ansehen. Die Verschwörer erwogen eine auf nachfolgende Generationen rückwirkende Beurteilung ihrer Entscheidung: würden sie als Verbrecher oder Patrioten gelten? Unter Inkaufnahme, als Verräter zu gelten, aber um eines über die Kriegswirren hinausreichenden Patriotismus willen, folgten sie einer persönlichen Erfüllung ihres Bedürfnisses, für ein besseres Deutschland einzutreten: »Das Attentat muß erfolgen. […] Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig« (Aretin 1993, S. 307). Die Verschwörer entschieden sich in ihrem ethischen Konflikt für ein Handeln, dessen Rückwirkungen auf ein späteres Deutschland sie für entscheidend hielten. Die Geschichte gab ihrer Bewertung Recht; sie wurden zu Vorbildern eines besseren Deutschlands.
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G. Tauglichkeit des Satzes grundlegender Ethischer Orientierung fr eine Bewertung strittiger Handlungssituationen I.
Allgemeines
Ist der entworfene Satz der Grundlegenden Ethischen Orientierung tauglich, ethische Konflikte zu lösen? Ungelöste Konflikte tauchen gegenwärtig in vielen Bereichen auf. In der Politik sind es z. B. die Menschenrechte, die in einzelnen Staaten zum Schutz ihrer Bürger bestritten werden wie im ehemaligen Jugoslawien, was zur militärischen Intervention führte; aber auch gegenwärtig in China, wo sich ein ehemals kommunistisches Regime nur langsam den Menschenrechten öffnet und deshalb wiederholt Anlass zur Kritik bietet. Strittige Auseinandersetzungen gibt es auch im Bereich wirtschaftlichen Handelns; unter den Aspekten einer Globalisierung droht die Gefahr, über politische Verantwortung und Überlegungen zu einem Gesamtwohl hinweg nur nach ökonomischen Aspekten des Marktes Handlungsentscheidungen zu treffen, die bei Gegnern der Globalisierung zu heftigen Protesten führen, weil ökonomische Abwägungen nur einem am Kapital orientierten Kosten-Nutzen-Kalkül unterworfen werden. Strittig sind auch Konzernentscheidungen einzelner Manager, denen mangelnde soziale Verantwortung zum Nachteil ihrer Mitarbeiter vorgeworfen wird. Ethische Konflikte treten in dem großen Bereich wissenschaftlicher Forschung und Praxis auf; es sind strittige Auseinandersetzungen über den Lebensschutz im Bereich der Medizin und der Biochemie. Bemühungen um Veränderungen vorgefundener strittiger Orientierungen bzw. die Suche nach neuen Grundsätzen verlaufen bereits unmerklich nach dem hier entworfenen Satz Grundlegender Ethischer Orientierung. Das zeigt sich in strittigen Bewertungen vorgefundener Aussagen und gegenwärtiger Handlungsmöglichkeiten, in der Suche nach neuen allgemeinen Grundsätzen, in unterschiedlichen Bewertungen konkreter Anwendungssituationen und in Überlegungen zu Rückwirkungen bestimmter Orientierungen auf die Umwelt. Mieth hat die Suche in seiner Frage »Was wollen wir könA
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Tauglichkeit des Satzes
nen?« zusammengefasst. 1 Veränderungsprozesse beginnen manchmal unmerklich dadurch, dass Menschen ohne Kenntnisse ethischer Begründungssysteme nur aus individueller emotionaler Bewertung Veränderungsprozesse anstreben. Es bedarf keiner Einsicht in eine ethische Theorie, um eine ursprünglich verbotene homosexuelle Partnerschaft jetzt zu tolerieren und für ihre öffentliche Akzeptanz einzutreten. Eine Kenntnis systematischer ethischer Entwürfe ist keine Bedingung, um einen moralisch akzeptierten Weg zu finden. 2 Ein Entwurf wie dieser kann aber helfen, Auseinandersetzungen um eine Abwägung nach besseren Argumenten, um Folgenabschätzungen und um Nutzenerwägungen auf den Begriff zu bringen und in allgemeine Grundsätze zu fassen. Der entworfene Satz einer Grundlegenden Ethischen Orientierung: Handeln entsteht aus emotionaler Bewertung der Umwelt und Handeln vera¨ndert Umwelt; zu bedenken ist, ob die Handlungstendenzen aus der Bewertung und deren Ru¨ckwirkungen auf die Umwelt die Bedu¨rfnisse erfu¨llen soll auf zwei Beispiele angewendet werden, um zu untersuchen, ob er tauglich ist, ethische Konflikte zu lösen. Untersucht wird er an den Beispielen des Konfliktes in der Frage einer Gewaltanwendung gegen den Irak im Jahr 2003 und der Frage nach einer Zulässigkeit humaner embryonaler Stammzellforschung, die mit der Diskussion um das Stammzellgesetz im Jahr 2002 Aktualität erhielt und die bis heute nicht beantwortet ist. Die Bewertung einer Forschung an humanen embryonalen Stammzellen befasst sich mit einem Handeln, das geUnter diesem Titel hat Mieth (2002) eine umfassende Untersuchung ethischer Konflikte und gegenwärtig strittiger Grundsätze vorgelegt. 2 Volksweisheiten ebenso wie religiöse Grundsätze zeigen, dass moralische Orientierungen zum Wohle des Einzelnen, des Anderen und der Gemeinschaft keiner komplizierten Einsichten in ethische Begründungen bedürfen, sondern eher unmittelbaren emotionalen Bewertungen folgen. Die goldene Regel »Was du selbst nicht wünschst, das tue auch keinem anderen Menschen an« findet sich in allen großen Weltreligionen, im Hinduismus (Mahabharata XIII. 114.8), in der konfuzianischen Religion (Konfuzius, Gespräche 15,23), im Buddhismus (Samyutta Nikaya V, 353.35–354.2), im Judentum (Rabbi Hillel, Sabbat 31 a), im Christentum (Matthäus 7,12; Lukas 6,31) und im Islam (40 Hadithe, Sprüche Mohammads, von an-Nawawi 13) zit. nach: Stiftung Weltethos (2000): Weltreligionen – Weltfrieden – Weltethos. Ausstellung in zwölf Tafeln mit Begleitbroschüre, Tübingen, S. 18 f. 1
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Eine Bewertung der Gewaltanwendung gegen den Irak
genwärtig geschieht. Befürworter einer Ausweitung der Forschung drängen auf eine Befreiung von juristischen Fesseln des Embryonenschutzgesetztes und des Stammzellgesetzes; Gegner möchten eine Ausweitung der Forschung über die gegenwärtigen gesetzlichen Regelungen hinaus verhindern. Im Fall einer Gewaltanwendung gegen den Irak sind dagegen die strittigen Handlungen beendet. Deren nachträgliche ethische Bewertung ist von Interesse, weil sich ähnliche Situationen in anderen Regionen der Welt wiederholen können und weil sie ungeklärte Fragen des Völkerrechts und der Zuständigkeit der Vereinten Nationen (UN) hinterlässt. Beide Beispiele werden dem Satz der Grundlegenden Ethischen Orientierung entsprechend unter folgenden vier Aspekten untersucht: – Wahrnehmung und Bewertung der Situation und ihrer Handlungstendenzen – Auswahl und Abwägen allgemeiner Sätze für eine Urteilsbildung – Bewertung der Anwendung eines akzeptierten allgemeinen Satzes in der Situation – Erwägung der Rückwirkungen einer Anwendung Begonnen wird mit dem Irakkrieg.
II.
Eine Bewertung der Gewaltanwendung gegen den Irak
Die Gewaltanwendung gegen den Irak im Frühjahr 2003 ist vor deren Beginn, während der kriegerischen Handlungen und nach Beendigung der Gewalt sehr kontrovers beurteilt worden. Es waren Urteile aus politischer, aus rechtlicher und aus ethischer Perspektive, wobei sich die drei Hinsichten zwar unterscheiden lassen, die ethische Beurteilung aber die Grundlage bildet für politische und rechtliche Aspekte, weil individuelles wie auch gemeinschaftliches Handeln zu bewerten ist, um die Erfüllung der Lebensbedürfnisse zu fördern. Politik strebt nach gestaltender Macht zur Durchsetzung ihrer Ziele. Sie schafft einerseits Recht und ist aber andererseits in ihrer Machtausübung an das Recht gebunden. Bezogen auf den Irakkonflikt und eine mögliche und später erfolgte Gewaltanwendung gegen den Irak gab es eine Fülle politischer Überlegungen, die die SicherA
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heit und Ordnungsstrukturen im Nahen Osten betreffen, wirtschaftliche Überlegungen bezüglich der Erdölreserven, Bündnisverpflichtungen und das Machtgefüge in der Welt. Politisches Handeln ist einer Bewertung und ethischen Orientierung ausgesetzt und bedarf einer Akzeptanz der Bürger. 3 Die politischen Aspekte werden deshalb nach geltenden Rechtsgrundsätzen wie auch nach darüber hinausgehenden ethischen Orientierungen zu bewerten sein wie: Ist Gewaltanwendung gegen einen Staat erlaubt? Das Recht sichert allgemeine Ordnungsstrukturen für die Interessen des Einzelnen und einer Gemeinschaft. Recht formt ethische Überzeugungen aus. Seine positive Ausgestaltung gilt entsprechend seiner selbst gesetzten Regelungen. In der Gewaltanwendung gegenüber dem Irak ist es vor allem das Völkerrecht, das ethische Grundüberzeugungen einer Weltgemeinschaft verkörpert, das Geltung verlangt bzw. Überlegungen zu seiner Änderung anregen kann. Ethik ist insofern eine Grundlage für Politik und Recht, als sie allgemeine Grundsätze entwirft, begründet und deren Geltung rechtfertigen muss für Orientierungen, Ziele und Sinngehalte. Im Irakkonflikt fragt eine Ethik nach einer Friedenspolitik, nach Gewaltanwendung gegenüber einem Staat und seiner Bevölkerung ebenso wie nach einem Schutz der Menschen. Die politischen und die rechtlichen Aspekte konzentrieren sich deshalb auf eine Bewertung der Frage: Ist eine Gewaltanwendung gegen den Irak zulässig und sind die Regelungen der Charta der Vereinten Nationen eine ausreichende Grundlage für die Konfliktregelung und den Kampf gegen den Terrorismus? Bedrohung Die Konfliktsituation zwischen dem Irak auf der einen Seite und den Vereinten Nationen (UN), den USA und der Staatengemeinschaft auf der anderen Seite wurde unter Bedrohungsaspekten wahrgenommen, als zunehmend ernst bewertet und hat strittige Handlungstendenzen hervorgebracht. Eine Beurteilung der Gewaltanwendung gegen den Irak ist vor ihrem Beginn wie nach ihrem Abschluss heute abhängig von verfügbaren Informationen und einer Zuverlässigkeit Ehrhart et. al. (2003) gibt einen guten Überblick über die Geschichte und aktuelle Überlegungen zur Irakpolitik.
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ihrer Quellen. Weder die Qualität der Informationen noch die Zuverlässigkeit können, wenn man auf die öffentlichen Medien und allgemeine Publikationen angewiesen ist, beurteilt werden, weil Kriterien fehlen. Eine Untersuchung kann nur das leisten, was die zugänglichen Quellen für eine Wahrnehmung und Beurteilung der Iraksituation erschließen. Wenn sich wie im Fall des Irakkrieges die Informationen über Massenvernichtungswaffen als unzutreffend erweisen, tritt nicht nur eine neue Bewertung der Situation, sondern auch eine Bewertung derjenigen Institutionen und Personen ein, die für die Information verantwortlich sind. Ein Missbrauch oder eine leichtfertige Verwendung von Indizien hat schwerwiegende Folgen für die Verantwortlichen, die Ihre Entscheidung der Gewaltanwendung darauf stützen. Unter Einbeziehung einer kritischen Quellenprüfung erscheint es möglich, eine ethische Rechtfertigung der Gewaltanwendung zu untersuchen. Aus einer Fülle von Veröffentlichungen, die sowohl vor der Entscheidung über eine Gewaltanwendung als auch während der bewaffneten Intervention und nach deren Beendigung erschienen sind, ergibt sich folgende Bewertung. Unstrittig ist eine Bewertung des Diktators Saddam Hussein als skrupelloser Herrscher, der dem eigenen Volk und den Nachbarn Kuwait und Iran in vorausgegangenen Kriegen schwere Menschenrechtsverletzungen zugefügt hat. Unstrittig ist die mangelnde Kooperation des irakischen Regimes mit den UN, zu der sich der Irak nach seiner Niederlage im Zweiten Golfkrieg 1990 gegen Kuwait verpflichtet hatte. 4 Seit dem irakischen Einmarsch in Kuwait waren es 11 Resolutionen des Sicherheitsrates der UN, die sich mit den aggressiven irakischen Aktivitäten und den zahlreichen Verstößen gegen getroffene Abmachungen befassten. 5 Als Bedrohung der Welt wurde der vermutete Besitz von Massenvernichtungswaffen des Irak empfunden, besonders die chemischen und biologischen Substanzen, deren Produktion der Irak in den 1980er Jahren begonnen hatte. C-Waffen hatte Hussein sowohl 1983 gegen den Iran als auch 1988 gegen irakische Kurden eingesetzt. Sie waren der Hauptgrund für eine Androhung »ernsthafter Konsequenzen« der UN-Resolution 1441. Die Vorstellung, dass der Irak Vgl. Deutscher Bundestag Wissenschaftliche Dienste (2003) 224 ff. Resolution 1441 (2002) vom 8. 11. 2002, in: Ambos, S. 506 ff.: Die Resolution 1441 verweist in ihrem ersten Abschnitt auf die Verpflichtungen des Irak aus den 10 vorangegangenen Resolutionen.
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trotz der Zerstörung der Lager, Produktionsstätten und Trägersysteme unter Aufsicht der UN-Inspekteure über Restbestände verfüge, die Produktion heimlich fortgesetzt haben könnte, und die Sorge, das Hussein-Regime könne mit den Terroristen der Al-Qaida zusammenarbeiten, veranlassten den Sicherheitsrat, Druck auf den Irak auszuüben, die vertraglich festgelegten Abrüstungsauflagen zu erfüllen. 6 Hinzu kam, dass unter dem Eindruck der Terroranschläge des 11. September 2002 auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington, denen mehr als 3000 Menschen zum Opfer fielen, eine Angst und Sorge in vielen Staaten der Welt vor terroristischen Anschlägen wuchs und der Verdacht bestand, Saddam Hussein würde über Massenvernichtungswaffen, mindestens über deren Produktionsmöglichkeiten, verfügen und er würde Verbindungen zu den Terroristen der islamistischen Terrorgruppe Al-Qaida unterhalten. Es war die Sorge und Angst, Saddam Hussein könne andere Regionen mit Massenvernichtungswaffen angreifen oder auch Terroristen in ihren heimtückischen Anschlägen unterstützen. Der Irak wurde vor allem deshalb zu den »Schurkenstaaten« gerechnet. Papst Johannes Paul II. hat in einer Botschaft vor dem diplomatischen Corps am 13. 1. 2003 auf ein weit verbreitetes Gefühl der Angst unter den Menschen verwiesen und nannte als eine der wichtigsten Ursachen dafür den heimtückischen Terrorismus (Botschaft des Papstes, S. 1). Die Angst und Sorge führten zum Beschluss der Resolution 1441 des Sicherheitsrates der UN am 8. 11. 2002, die vom Irak erneut die Erfüllung seiner Abrüstungsverpflichtung und deren Kontrolle verlangte und die bei weiteren Verstößen an die bereits früher angedrohten ernsthaften Konsequenzen erinnert. Diese Sorge weckte Handlungstendenzen einer Gewaltanwendung gegen den Irak durch die UN oder einer dafür gebildeten Koalition. Allgemeine Grundsätze Die Betrachtung einer ersten Handlungsorientierung, nämlich Gewalt gegen den Irak anzuwenden, führte zu einer Bewertung allgemeiner Sätze, die das Völkerrecht bereitstellt. Aus den Diskussionen unter den Staaten des Sicherheitsrates über die Frage, ob eine 6
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Eine Analyse der ABC-Waffenbedrohung des Irak enthält Ehrhart (2003).
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Gewaltanwendung zulässig ist, ergeben sich drei unterschiedliche allgemeine Sätze: 1. Gewalt ist ohne Beschränkungen erlaubt 2. Gewaltanwendung ist unter Beschränkungen möglich 3. Gewaltanwendung ist verwerflich 4. Gewaltanwendung bedarf neuer veränderter Kriterien Zu 1: Ein Grundsatz, der Gewaltanwendung nicht nur im Ausnahmefall, sondern ohne Beschränkungen erlaubt, findet weder politisch noch rechtlich oder ethisch eine Akzeptanz. Auch das Völkerrecht kennt kein »Recht zum Krieg« im Sinne eines freien Kriegsführungsrechts der Staaten (Ehrhart, S. 10). Es ist eher umgekehrt, dass dort, wo ein solcher Grundsatz praktiziert wurde, wie im Zweiten Golfkrieg 1990/1991 vom Irak gegen Kuwait, diese Kriegshandlung Angst und Ablehnung hervorgebracht hat, die zur allgemein akzeptierten Gegengewalt gegen den Verursacher Irak führten. Die allgemeine Akzeptanz der Gegengewaltanwendung zeigte sich in der Zustimmung des UN-Sicherheitsrates zur Vertreibung der Iraker aus Kuwait und in der umfangreichen Unterstützung einer dazu gebildeten Kriegskoalition. Zu 2. Gegen Bedrohung, Gewalt und Krieg wurden 1945 die Vereinten Nationen gegründet (UN), deren Charta bis heute verbindliche Grundsätze zur Wahrung des Friedens und Ausnahmen einer Gewaltanwendung gegen einen Staat regelt und die bis heute von der Staatengemeinschaft akzeptiert sind. Diese Regelungen, die Gewaltanwendung unter Beschränkungen erlauben, bildeten einen Kern der Auseinandersetzungen über eine Akzeptanz der Gewaltanwendung gegen den Irak. Gemeinsam ist den strittigen Beurteilungen, dass Gewaltanwendung zur Lösung politischer Konflikte abgelehnt wird und dass es wenige Ausnahmen gibt, in denen eine Gewaltanwendung gerechtfertigt sein kann. Die eine Ausnahme bildet das »naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung« (Charta der UN Art. 51); eine zweite ebenso akzeptierte Regelung sind »Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen« (Charta der UN Kap. VII), die vom Sicherheitsrat beschlossen werden müssen. Ein Recht auf Selbstverteidigung gegen Aggressionen muss es geben. Krieg als Antwort auf katastrophale Gewaltakte wird akzeptiert wie die vorausgegangenen Interventionen in Afghanistan, im Kosovo und die GewaltanwenA
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dung zur Abwehr unakzeptabler Menschenrechtsverletzungen in Jugoslawien zeigen. 7 Die UN-Charta enthält diese Möglichkeit. 8 Niemand wird verlangen wollen, dass ein Staat oder eine Volksgruppe, gegen die Gewalt zur Vertreibung, Unterdrückung oder Vernichtung ausgeübt wird, Gewaltakte akzeptiert, ohne sich zu wehren. Nicht nur die Mitglieder der UN erkennen diese Ausnahmen politisch und rechtlich an, sondern auch die Katholische und die Evangelische Kirche ebenso wie Institute der Friedensforschung.9 Auf eine Ablehnung jeder Art von Gewaltanwendung durch eine Minderheit von Pazifisten wird später eingegangen. Problematisch wird die Anwendung der Ausnahmen im Falle des Irak, weil strittig ist, ob die Kriterien der Gewaltanwendung zur Selbstverteidigung, nämlich »Notwendigkeit« und »Verhältnismäßigkeit«, im Fall der Irakbedrohung vorlagen, ob bisher beschlossene Resolutionen des Sicherheitsrates, besonders die Resolution 1441, nicht bereits eine Gewaltanwendung gegen den Irak rechtfertigen und ob die Regelungen der UN überhaupt zeitgemäß sind, um den Herausforderungen des Terrorismus begegnen zu können.
In einem Aufruf von US-Intellektuellen heißt es: »Wenn jedoch die Gefahr für unschuldiges Leben real und gewiss ist, und besonders wenn der Aggressor von unversöhnlichem Hass getrieben ist – wenn also sein Ziel nicht ist, Verhandlungen oder Nachgeben zu erzwingen, sondern die Zerstörung des Gegners –, dann ist Gewalt gegen ihn als letzter Ausweg moralisch gerechtfertigt« (zit. nach Ambos, S. 9). In einer Antwort auf den Aufruf haben deutsche Intellektuelle Kritik an der Auffassung ihrer US-Kollegen über die moralische Rechtfertigung eines Krieges geübt; unter Aufforderung zu einer differenzierteren Betrachtungsweise geben sie aber zu, dass der Anlass eines Krieges gerecht sein kann (S. 22). 8 Obgleich der Irakkonflikt meist mit »Krieg« bezeichnet wird, wird in der UN-Charta im Zusammenhang mit einer zulässigen Gewaltanwendung gegen einen Staat nicht dieser Begriff verwendet. Krieg erscheint heute gegenüber terroristischen Bedrohungen ein unscharfer Begriff zu sein. Es werden deshalb Aktivitäten einer Gewaltanwendung durch den Begriff »Maßnahmen bei Bedrohung« bezeichnet, weil bestimmte Ziele und bestimmte Arten der Maßnahmen differenziert werden können. 9 Das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Hamburg anerkennt die Ausnahmen in seiner Ausgabe 35/2003 ebenso wie das Institut für Friedenspädagogik Tübingen e. V. in einem Artikel von Véronique Zanetti (2003): Der Irak-Krieg und völkerrechtliche Lage. 7
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Anwendung des Selbstverteidigungsrechts im Falle des Iraks Sind die Ausnahmen zur Rechtfertigung einer Gewaltanwendung gegen den Irak erfüllt? Die erwähnte UN-Resolution 1441, die auf ernsthafte Konsequenzen für den Fall verweist, dass der Irak seinen dort und in den bisherigen Resolutionen niedergelegten Pflichten zur Abrüstung und zum Verzicht auf Massenvernichtungswaffen nicht nachkommt, wurde als Ermächtigung zu einer Gewaltanwendung strittig interpretiert. Simma meint, die Resolution ließe sowohl die Schlussfolgerung einer Gewaltanwendung zu wie auch die, erst eine weitere UNResolution könne die Warnung vor ernsthaften Konsequenzen präzisieren (Simma 2003). Andere verneinen den Ermächtigungseffekt zur Gewaltanwendung, weil eine Warnung auf noch zu beschließende Maßnahmen hinweise (Bruha und Tomuschat 2003). Wenn eine Gewaltanwendung durch einen Beschluss des Sicherheitsrates nach Art. 42 UN-Charta ausscheidet, weil keine Einstimmigkeit der Mitglieder erzielt werden kann, bleibt nur noch das Recht auf Selbstverteidigung, das die USA für eine Gewaltanwendung reklamieren. Ein Aufruf intellektueller Amerikaner fordert aus Furcht vor Terror Gewalt zur Selbstverteidigung. Es heißt dort: »Organisierte Killer mit globaler Reichweite bedrohen uns alle. Im Namen der universalen menschlichen Moral und im vollen Bewusstsein der Begrenzungen und Anforderungen eines gerechten Krieges unterstützen wir die Entscheidung unserer Regierung und unserer Gesellschaft, Waffengewalt gegen sie einzusetzen. […] Wir kämpfen, um uns selbst zu verteidigen, aber wir sind überzeugt, dass wir dabei auch kämpfen, um die universellen Prinzipien der Menschenrechte und menschlichen Würde zu verteidigen, die die größte Hoffnung für die Menschheit darstellen« (zit. nach Ambos). So verständlich der Aufruf zur Gewaltanwendung nach den Eindrücken des 11. September sein mag, so bleibt eine Reflexion vor dem Hintergrund des Völkerrechts nicht erspart. An der Anwendung des Grundsatzes der Selbstverteidigung bestehen Zweifel. Gesteht man der Selbstverteidigung eine allgemeine Geltung zu, dann bleibt das Verhältnis zwischen genereller Norm und ihrer Anwendung ein Anlass zur Sorge wie in diesem konkreten Fall (Fischer-Lescano 2003, S. 73 ff.). Wie akut war die Bedrohung mit Massenvernichtungswaffen; wie akut und groß die Gefahr, die vom A
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Irak ausging? Die vom Irak ausgehenden Gefahren durch Massenvernichtungswaffen haben sich nicht bestätigt; gleiches gilt für den Verdacht der USA, das irakische Regime unterhielte Verbindungen zu Al-Qaida. Was bleibt, ist die Frage, ob die Befreiung des irakischen Volkes von einem Tyrannen die Gewaltanwendung rechtfertigt. Es bleiben Zweifel daran, vor allem unter Berücksichtigung alternativer Handlungsmöglichkeiten durch die UN, die trotz der mangelnden Zusammenarbeit des Irak mit den UN nicht ausgeschöpft waren. Selbst eine relativ erfolgreiche erste demokratische Wahl, die eine überwiegende Zahl der Iraker mit Freude und Stolz erfüllt, und die erst durch die Beseitigung des Saddam Hussein Regimes möglich wurde, rechtfertigt nachträglich nicht den Krieg zum damaligen Zeitpunkt. Es gab andere Argumente für bzw. gegen eine Gewaltanwendung wie die Sorge vor einem Flächenbrand im Nahen Osten, der glücklicher Weise ausblieb; vor einer hohen Zahl unschuldiger Kriegstoten, die nicht eintrat; es gab auch ein Misstrauen gegen den Versuch, dem Irak demokratische Verhältnisse aufzuzwingen, was die irakische Freude über die erste Wahl widerlegt hat. Genannt wurden auch Wirtschaftsinteressen der USA, die allerdings auch auf Seiten der Kriegsgegner wie z. B. Frankreich eine Rolle spielen. 10 All diese Argumente standen aber weniger im Vordergrund als die Frage nach einem oben behandelten Selbstverteidigungsrecht. Zur juristischen Untersuchung der Anwendung des Selbstverteidigungsrechtes gegen den Irak gibt es eine Reihe von Veröffentlichungen, die sich mehrheitlich gegen eine Anwendung von Gewalt aussprechen, weil die Kriterien der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit nicht erfüllt seien. Die Ablehnung entspricht der Grundlegenden Ethischen Orientierung, weil die Bedrohung nicht unmittelbar und gefährlich empfunden wurde, so dass Gewaltanwendung als Sofortmaßnahme zum Schutz vor der akuten Gefahr erforderlich gewesen wäre. Auf Überlegungen zu einem Grundsatz des Präventivkriegs wird weiter unten eingegangen. Zu 3. Ein anderer Grundsatz könnte so lauten: Gewaltanwendung ist grundsätzlich verwerflich, auch in den von der UN-Charta gebilligten Ausnahmen. Zu beobachten sind verschiedene Gruppierungen, 10
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Vgl. Enzensberger (2003), der sich mit vielen der Argumente auseinander gesetzt hat.
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Bündnisse, Initiativen, Aktionseinheiten und Bewegungen auf der ganzen Welt, die gegen Krieg, für den Frieden sind oder beide Ziele gleichzeitig, nämlich Friedens- und Antikriegsbewegungen verfolgen. Sie treten für ihre Ziele ohne Ausnahmen ein und lassen keine Handlungsoptionen zu, die eine Gewaltanwendung rechtfertigen könnte. Sie treten mit ihren Aktionen besonders dann hervor, wenn kriegerische Aktivitäten stattfinden, wie aus Anlass einer Waffengewalt gegen Jugoslawien 1999, des Afghanistankrieges 2001 und des Dritten Golfkrieges 2003. Manche Bewegungen sind sogar selbst von gegengewalttätigen Aktivitäten geprägt, die einer Gewaltfreiheit widersprechen. Manche verbinden ihre Friedens- und Antikriegsziele mit weiteren politischen Perspektiven wie einer Kapitalismuskritik, einer Globalisierungsgegnerschaft oder überhaupt einer Herrschaftskritik gegen bestimmte Länder. 11 Eine Schwäche der Friedens- und Antikriegsbewegung zeigt sich in ihrer kompromisslosen Orientierung an der Gewaltfreiheit auch dann, wenn es um Notwehr, Abwehr unmittelbarer Gefahren oder Schutz vor menschenrechtsverletzender Gewalt geht. Eine allgemeine Akzeptanz des Satzes »Gewaltanwendung ist nicht erlaubt« scheitert daran, dass sich seine Anwendung als ungeeignet in einzelnen Situationen erweist. Bis heute findet die Reaktion der UN-Schutztruppe in Jugoslawien keine Akzeptanz, die im Jugoslawienkonflikt 1995 tatenlos zusah, wie ca. 7000 muslimische Männer und Jungen in Srebrenica von Truppen der bosnischen Serben ermordet wurden. Zu 4. Der Grundsatz, Gewaltanwendung bedarf veränderter Kriterien, verlangt zu klären, ob die Artikel der UN-Charta, die Ausnahmen einer Gewaltanwendung regeln, noch der gegenwärtigen Bedrohungslage durch den Terrorismus entsprechen bzw. ob Veränderungen erforderlich sind? Eine Bewertung der gegenwärtigen Situation gibt zu Änderungen des Völkerrechts über Regelungen einer Anwendung von Gewalt gegen Terroristen oder einen Staat, der die Terroristen unterstützt, Anlass. Terrorismus ist eine verdeckte Gefahr; die Akteure sind nicht erkennbar wie Kombattanten; Terrororganisationen wie Al-Qaida sind über Staatsgrenzen hinweg verbreitet. Zanetti hat die Strittigkeiten, mit der die Staatengemeinschaft auf die Terroranschläge reagiert hat, so beschrieben: »Die Tobias Pflüger (2002) hat die Entwicklung der Friedens- und Antikriegsbewegung in Deutschland nach dem 11. September 2001 untersucht.
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Unsicherheit des Sicherheitsrates mache deutlich, wie unbeholfen das Völkerrecht, das einer klassischen Logik der Einteilung der Welt in souveräne Zonen gehorcht, auf ein Phänomen reagiert, das die traditionellen Kategorien des Gewaltmonopols in Stücke schlägt. Angesichts der Privatisierung der internationalen Gewalt wird die Anwendung des Völkerrechts problematisch, da diese immer noch auf räumlich und zeitlich konturierbare Konflikte mit staatlichen Akteuren zugeschnitten ist« (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 3/ 02; vgl. Assheuer, S. 220). Völkerrecht ist nichts Statisches; altes wird verdrängt durch die Überzeugung einer Notwendigkeit einer Veränderung durch die Staaten. Es entsteht aus einer Staatenpraxis, die von der Rechtsüberzeugung getragen ist, dass diese Praxis rechtmäßig ist. Völkerrecht beruht auf Zustimmung der Staaten. Aber wann stimmen sie einem Grundsatz bzw. einer Veränderung zu? Wohl dann, wenn die Bewertung eines Grundsatzes akzeptiert wird, weil er Schutz und Sicherheit herzustellen erlaubt, weil er das Gedeihen der Staaten fördert. Der Satz einer Grundlegenden Ethischen Orientierung, der sich auf die Bewertung der wahrgenommenen Situation stützt, kann die Forderung nach Veränderungen allgemeiner Grundsätze aus einer Bedingung allgemeiner Akzeptanz erklären. Die neue Strategie der USA beruht auf Eindämmung und Abschreckung (The National Security Strategy of the United States of Amerika, September 2002). Es heißt dort: »Wir müssen das Konzept der unmittelbaren Bedrohung an die Fähigkeiten und Ziele der heutigen Gegner anpassen« (zit. nach Murswiek, S. 295). Aus dem Dokument gehe hervor, dass es als Kriterium der »unmittelbaren Bedrohung« ausreiche, wenn ein Gegner über die Möglichkeit zum Einsatz von Massenvernichtungswaffen verfüge (Zanetti 2003, S. 4). Das Unmittelbarkeitskriterium wird in der neuen Strategie zu einer bloßen Möglichkeit verändert. Das Möglichkeitskriterium führt zur Rechtfertigung eines Präventivkrieges. Ein Präventivkrieg ist im akzeptierten Völkerrecht nicht vorgesehen. Es könnte aber als moralisch verwerflich gelten, wenn Politiker dramatische Ereignisse nicht durch rechtzeitige Gegenangriffe verhinderten (Zanetti 2003, S. 6). Trotz dieses Einwandes weckt die Möglichkeit eines Präventivkrieges Unbehagen wegen eines denkbaren Missbrauchs aus machtpolitischen Erwägungen. Wenn Gefahren dramatische Formen annehmen, wie Zanetti sie beschreibt, reicht ein Recht auf Selbstverteidigung aus, das die Merkmale der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit enthält. Ein anderer Anlass, auf eine Veränderung des Völkerrechts zu 154
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drängen, sind undifferenzierte Begriffe, die zu Streitigkeiten führen. Dem Völkerrecht sei – jedenfalls derzeit – kein allgemein anerkannter und auch nur einigermaßen ausdifferenzierter Begriff der völkerrechtswidrigen bewaffneten Aggression zu entnehmen (Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, S. 177). Auswirkungen der Kriegsentscheidung Hat die damals getroffene Entscheidung einer Gewaltanwendung unter Beschränkungen gegen den Irak, dem Grundsatz 2 entsprechend, die Umwelteinflüsse verändert und haben deren Rückwirkungen eine Erfüllung der Bedürfnisse gefördert? Eine große Zahl von Staaten, Völkern, Organisationen und Individuen haben den Irakkrieg nicht akzeptiert. Es erwiesen sich als große Sorgen sowohl die Entscheidung der Kriegskoalition zu einem Alleingang ohne Sanktionierung durch die UN, die Besorgnisse einer politischen Gestaltung der Welt durch herrschende Mächte heraufbeschwört, als auch ein damit zusammenhängender möglicher Zerfall des Völkerrechts mit all seinen Konsequenzen der Auflösung einer Ordnung, wie sie die UN repräsentieren. Die Iraksituation konnte deshalb wenigstens bisher kein Maß für Veränderungen des Völkerrechts werden. Folgt man dem Satz Grundlegender Ethischer Orientierung hat die Kriegsentscheidung eine Erfüllung der Bedürfnisse der USA und der Staaten der UN nicht gefördert, weil deren Rückwirkungen dem Ansehen und der Achtung der USA und den UN nicht gedient, sondern eher geschadet hat. Es gibt aber andererseits auch die Sorge vor einem weltweiten Terrorismus, der die Handlungstendenzen erzeugt, ihm entgegenzutreten um ein Gedeihen der Staaten und Völker willen. Ein Entgegentreten muss nicht gleich eine militärische Gewaltanwendung sein. Denkbar sind alternative Handlungsorientierungen: Ein Bekenntnis zu den Menschenrechten, wie es die Charta der UN enthält, könnte erweitert werden um einen Verzicht auf das Mittel des Terrorismus, welche Ziele er auch immer verfolgen mag. Sanktionen gegen Verstöße könnten sich gegen Staaten richten, die Terrorismus unterstützen. Die Souveränität eines Staates, die bisher als unantastbar galt, könnte für Fälle konkreter Sanktionen dann eingeschränkt werden, wenn ein Staat gegen den Verzicht auf Unterstützung des Terrorismus verstößt. Die Einschränkung der Souveränität könnte A
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durch ein Bündel von möglichen Maßnahmen erfolgen wie Kontrolle des Kommunikationsnetzes, der Geheimdienste, bestimmter Sicherheitskräfte, einer Gerichtsbarkeit und ähnliches. In einer vertraglichen Zustimmung aller Staaten könnten die Sanktionsmöglichkeiten enthalten sein. Warum aber sollten die Staaten einer solchen Regelung zustimmen? Jeder Staat wird aus Überlegungen über das eigene Gedeihen – ähnlich wie ein Individuum in einem Staat – die Einsicht besser finden können, gegen drohende Gefahren des Terrorismus solchen Regelungen zuzustimmen als einem Terrorismus nichts entgegenzustellen. Viele Überlegungen zu einem Urteil über die Gewaltanwendung gegen den Irak sind vor, während und nach der Gewaltanwendung gegen den Irak gedacht und diskutiert worden ohne gemeinsame ethische Orientierung. Der hier angewendete Satz Grundlegender Ethischer Orientierung bietet jetzt Kriterien wie die Erfüllung der Bedürfnisse des Einzelnen, des Anderen und der Staatsgemeinschaften zu einer ethischen Urteilsbildung. Die Kriterien ermöglichen, die vorgetragenen Argumente abzuwägen und zu bewerten. Das Beispiel der Gewaltanwendung gegen den Irak zeigt auch, dass es nicht die eine ethische Norm gibt, deren Anwendung den Konflikt lösen kann; deutlich wird dagegen eine Urteilsbildung aus einem Prozess emotionaler Bewertung und einer Reflexion, deren Ergebnisse gerade dann, wenn sie unterschiedlich sind, zu einer erneuten Bewertung herausfordern. Das Beispiel zeigt auch, dass akzeptierte Grundsätze, hier die des Völkerrechts, noch nicht zu einer akzeptierten Anwendung in einem Einzelfall führen müssen; der Einzelfall veranlasst hier, über eine differenziertere Ausformung der Grundsätze nachzudenken und zu prüfen, welche unter den veränderten Bedrohungsverhältnissen völkerrechtliche Akzeptanz finden.
III. Eine Bewertung humaner embryonaler Stammzellforschung Eine Bewertung der Situation Eine Forschung an humanen embryonalen Stammzellen ist ein anderes Beispiel, an dem die Tauglichkeit des Satzes Grundlegender Ethischer Orientierung geprüft wird. Die embryonale Stammzellforschung ist ein Teilgebiet aus dem großen Bereich der modernen Medizin, die Forschungsaktivitäten eröffnet, von denen wir nicht 156
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Eine Bewertung humaner embryonaler Stammzellforschung
wissen, ob wir ihnen folgen wollen. Zu dem Bereich gehören Forschung und Anwendung einer Präimplantationsdiagnostik (PID), die pränatale genetische Diagnostik (PND), In-vitro-Fertilisation (IVF), genetische Daten und Abtreibung. Die Forschungsmöglichkeit an humanen embryonalen Stammzellen wird für diese Untersuchung ausgewählt, weil es im Kern ihrer Bewertung um Menschenwürde und Lebensschutz geht, die auch in den anderen Teilbereichen im Zentrum der Bewertung stehen. Das Beispiel ist geeignet, weil Wissenschaftler, Philosophen und Politiker die Frage, ob solche Forschungen gemacht werden sollen, strittig bewerten. Es ist keine hypothetische Debatte, weil auf politischer Ebene in Deutschland eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages umfangreiche Untersuchungen angestellt hat, deren Ergebnisse zu Empfehlungen geführt haben, die in gesetzlichen Regelungen ihren Niederschlag fanden. 12 Und es gibt bereits umfangreiche Forschungsaktivitäten mit tierischen embryonalen Stammzellen und seit dem Jahr 2003 auch erste Forschungen an menschlichen embryonalen Stammzellen. Ähnlich wie bei der Bewertung der Gewaltanwendung im Irak werden in einer Untersuchung der Tauglichkeit des Satzes der Grundlegenden Ethischen Orientierung zur Bewertung der Stammzellforschung die Aspekte Wahrnehmung der Situation und ihre Bewertung, Auswahl und Abwägen allgemeiner Sätze für eine Urteilsbildung, Bewertung der Anwendung eines akzeptierten allgemeinen Satzes in der Situation und Erwägung der Rückwirkungen einer Anwendung behandelt. Eine Wahrnehmung der Gewinnung menschlicher embryonaler Stammzellen zeigt unterschiedliche Erzeugungsarten. Nach ihrer Herkunft unterscheidet man embryonale Stammzellen (ES-Zellen) aus Embryonen 13 , die durch In-vitro-Fertilisation entstanden sind; Vgl. den Bericht der Enquete-Kommission: Stammzellforschung und die Debatte des Deutschen Bundestages zum Import von menschlichen embryonalen Stammzellen 1/ 2002 und den Schlussbericht der Enquete-Kommission: Recht und Ethik der modernen Medizin 2/2002. 13 Bodden-Heidrich et al. (1997, S. 15 ff.) beschreiben einen Embryo als eine vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an von seinem individuellen Genom gesteuerte funktionelle, sich selbst organisierende und differenzierende Einheit; nach dem Embryonenschutzgesetz von 1990 gilt als Embryo »bereits die einzelne befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen 12
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durch Zellkerntransfer erzeugte embryonale Stammzellen (Klonen); embryonale Keimzellen (EG-Zellen) aus Schwangerschaftsabbrüchen, neonatale Stammzellen aus Nabelschnurblut und adulte oder somatische Stammzellen (AS-Zellen), die gewebespezifisch und bis ins Erwachsenenalter zu finden sind. 14 Eine Gewinnung der Stammzellen aus In-vitro-Fertilisation und durch Zellkerntransfer ebenso wie bei Schwangerschaftsabbrüchen erfolgt im Blastozystenstadium und bewirkt nach derzeitigem Stand der Forschung eine gezielte Tötung des Embryos (Enq.K. 1/2002, S. 87, 89, 102). 15 Unbekannt ist, ob aus ES-Zellen, die in einen Uterus implantiert werden, ein Individuum entstehen kann (Enq.K 1/2002, S. 25). Neonatale Stammzellen aus Nabelschnurblut wie auch adulte Stammzellen sind gewebespezifische; ihre Gewinnung hat keine Tötung eines Embryos zur Folge; problematisch ist möglicherweise, dass sie nur in geringer Zahl vorliegen. Forschungsergebnisse dazu befinden sich erst in den Anfängen. 16 Unterschieden werden totipotente von pluripotenten Stammzellen. Das hat in diesem Zusammenhang insofern eine Bedeutung, als Totipotenz einer Zelle verstanden wird als die Fähigkeit, sich zu einem Individuum zu entwickeln; pluripotente Zellen können sich zu zahlreichen Zellen, Geweben oder Organen entwickeln, nicht aber zu einem Individuum. Nach gegenwärtiger deutscher Rechtslage werden Embryonen und totipotente Zellen gleichgestellt (Enq.K. 1/2002, S. 38). Ziele der Stammzellforschungen sind im Rahmen einer regenerativen Medizin ein Zell- und Gewebeersatz bei bestimmten unheilbaren Erkrankungen. Allerdings sind die Anwendungsmöglichkeiten bisher auf wenige Bereiche begrenzt; unabhängig von den ethischen Problemen sind noch erhebliche wissenschaftliche und technische Schwierigkeiten zu überwinden (Enq.K. 1/2002, S. 39 ff.). Bei Embryonen wie bei totipotenten Zellen hat eine Bewertung weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag« (§ 8 EschG). 14 Enq.K. (1/2002, S. 23 ff.). 15 Dreier (2005) spricht in einer Buchkritik (Jens Kersten: Das Klonen von Menschen. Eine verfassungs-, europa- und völkerrechtliche Kritik) beim therapeutischen Klonen von der Erzeugung frühembryonalen Lebens und eben nicht schon eines Menschen. Ohne den Unterschied klar zu machen, erscheint diese Abgrenzung ebenso willkürlich wie andere bereits erwähnte. 16 Einen Überblick über die unterschiedlichen Forschungsmöglichkeiten an humanen embryonalen Stammzellen und einen Bericht über den gegenwärtigen Foschungsstand geben Hillebrand / Püttmann (2005).
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Eine Bewertung humaner embryonaler Stammzellforschung
der Forschung immer mit der Frage nach einem Menschsein und dessen moralischen Status zu tun. Wird bei der Entnahme einer ESZelle, durch die der Embryo getötet wird, ein Mensch getötet? Die zentrale Frage einer Bewertung der Forschung an ES-Zellen und an EG-Zellen ist die Frage nach dem Menschsein des Embryos und nach einem daraus folgerndem Würdeschutz und Lebensschutz. Handelt es sich bei menschlichen Embryonen um einen Menschen oder um einen Zellhaufen? Die Bewertung erfolgt vor dem Hintergrund unterschiedlicher Tendenzen, um deren Willen eine Forschung angestrebt wird: Es sind Heilungsmöglichkeiten bisher unheilbarer Krankheiten, wissenschaftliche Neugier, wissenschaftliches Leistungsvermögen, wissenschaftliche Reputation und es sind nicht zuletzt ökonomische Interessen an einer Vermarktung der Ergebnisse wie z. B. patentrechtliche Überlegungen. Aus einer Wahrnehmung der Forschungsaktivitäten mit Stammzellen gehen strittige Bewertungen und damit verbunden unterschiedliche Handlungstendenzen hervor, die von Unbehagen und Abscheu mit der Folge eines Verbotes der Forschung über eine Respektbewertung des Embryos mit daraus folgernden begrenzten Forschungsmöglichkeiten bis hin zur Akzeptanz höherwertiger Ziele und einer Unterstützung der Forschung reichen. Entsprechende unterschiedliche Handlungsempfehlungen finden sich unter den Wissenschaftlern rekonstruktiver Medizin: Der Genforscher Winnacker hält das therapeutische Klonen für einen Irrweg, weil die Risiken, ungesunde Zellen zu erzeugen, nicht ausgeschaltet werden könnten (FAZ 13. 2. 2004, S. 33); der Stammzellforscher Schöler empfiehlt nach alternativen Wegen einer Stammzellforschung zu suchen, um dem Dilemma zwischen Befürwortern und Gegnern eines therapeutischen Klonens zu entkommen (FAZ v. 3. 3. 2004, S. N1); dagegen plädiert der Molekularbiologe Ganten aus Gründen medizinischer Hilfeleistung für eine Stammzellforschung, für die alle Quellen einer Stammzellgewinnung in Frage kommen sollten (FAZ v. 24. 2. 2004, S. 35). Aus einer fachlichen Perspektive allein ist keine ethische Bewertung herzuleiten, weil naturwissenschaftliche Erkenntnis Individuelles und Wertendes ausschließt, das keiner Naturgesetzmäßigkeit folgt.
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Auswahl und Bewertung allgemeiner Sätze Für eine ethische Urteilsbildung wird zu bewerten sein, welche Grundsätze wir zur Forschung an humanen embryonalen Stammzellen akzeptieren wollen. Deren Akzeptanz hängt davon ab, ob sie Bedürfnisse des Einzelnen und der Gemeinschaft fördern. Werden bei Auswahl und Bewertung der Grundsätze die Hilfe für einen kranken Patienten und dessen Heilungschancen zu einer Akzeptanz führen? In Bezug auf die Gemeinschaft stellt sich die Frage: Will eine Gemeinschaft eine Stammzellforschung aus Reputation möglicher Forschungserfolge oder aus ökonomischen Gründen akzeptieren? Ein allgemeiner Satz zur Urteilsbildung wird sich, darauf wurde hingewiesen, an der zentralen Frage orientieren, ob der Embryo ein Mensch ist; die Frage ist wichtig, weil eine Stammzellgewinnung aus IVF oder aus Klonen eine Zerstörung des Embryos zur Folge hat, eine Forschung an adulten oder neonatalen Stammzellen dagegen nicht, weil es nicht totipotente, sondern pluripotente Zellen sind. Um eine Entscheidung über die Zerstörung des Embryos und damit der Tötung eines Menschen zu vermeiden, könnte sich die Forschung auf adulte bzw. neonatale Stammzellen beschränken. Diese Option wird von allen Forschern unterstützt, allerdings mit dem Hinweis einiger Forscher darauf, dass sie eine Forschung an ES Zellen nicht ersetzt, sondern ergänzt. Ihre Begründung ist, dass alle Forschungsoptionen genutzt werden müssten, um erfolgreiche medizinische Ergebnisse zu erzielen, und dass ungeklärt sei, ob adulte und neonatale Stammzellen vergleichbare Erkenntnisse ermöglichen könnten wie die Forschungen an ES-Zellen. Deshalb und auch wegen bisher begrifflicher Unklarheit über eine Einteilung in Totipotenz und Pluripotenz 17 der Stammzellen wird eine ethische Beurteilung einer Forschungstätigkeit an ES-Zellen unausweichlich sein. Aus der unterschiedlichen Auffassung darüber, ob der Embryo Einen Überblick über die Potenz der Stammzellen und ihre Differenzierungen einschließlich ihrer Entwicklungsvermögen und Grenzen gibt Schöler (2005); eine Kritik am Begriff der Totipotenz der embryonalen Stammzellen äußerte Rebmann-Sutter (1998) und nannte sie einen zweifelhaften Begriff, weil ihr Entwicklungsvermögen nicht ohne äußere Zutaten des Biotechnikers zu begreifen sei; während Schöler sie für einen »Alleskönner« hält, bezweifelte Müller-Jung ihre Totipotenz, weil sich die Stammzelle bisher nicht als Quelle für vollentwicklungsfähige Embryonen erwiesen habe. Wegen ihrer extremen Fehlbildungsrate betrachtet er sie als »Laborartefakt« (Müller-Jung 2003, S. 34).
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ein Mensch ist und welcher Schutz sich daraus ableitet, ergeben sich drei unterschiedliche allgemeine Sätze: 1. Eine Forschungstätigkeit an ES-Zellen wird nicht akzeptiert. 2. Eine Forschungstätigkeit an ES-Zellen wird unter Beschränkungen akzeptiert. 3. Eine Forschungstätigkeit an adulten Stammzellen wird ohne Beschränkung akzeptiert. Zu 1: Wenn man annimmt, dass der Embryo ein Mensch ist, dem Würde und Schutz zukommt, folgt daraus, dass Forschungstätigkeiten an embryonalen Stammzellen zu unterlassen sind. Als Gründe für die Position werden genannt: • das Argument der Spezieszugehörigkeit bringt das biologische Faktum des Embryos als unhintergehbare Voraussetzung für die Existenz des Menschen als sittliches Wesen zum Ausdruck; • das Identitätskriterium verweist darauf, dass »menschliches Lebewesen« und »moralisches Subjekt« ihrer Natur nach identisch sind; wenn Schutz der Würde von nichts anderem abhängig gemacht wird als der Tatsache Mensch zu sein, dann kommt jedem menschlichen Lebewesen die Schutzwürdigkeit zu; • das Kontinuitätsargument zeigt, dass der geborene Mensch in ungebrochener Kontinuität zu dem ungeboren steht, aus dem er sich entwickelt und dessen Zeitpunkt des Beginns der Entwicklung die Vereinigung der beiden haploiden Chromosomensätze von Vater und Mutter im befruchteten Ei bestimmen; • das Potenzialitätsargument macht deutlich, dass mit abgeschlossener Befruchtung ein neues Leben entsteht, das das Vermögen besitzt, sich zu einem geborenen Menschen zu entwickeln. 18 Heike Schmoll (2001) hat darüber hinaus gezeigt, dass jeder Zuschreibungszeitpunkt des Menschseins ein willkürlich gewählter ist, abhängig von dem verwendeten Kriterium. Häufig wird in der öffentlichen Diskussion zwischen befruchteter Eizelle einschließlich ihren Zellteilungen und dem Menschsein unterschieden, ohne angeben zu können, was diesen Unterschied begründet. Offenbar wird bei vielen Betrachtern die befruchtete Eizelle und ihre Zellvermehrung intuitiv noch nicht mit einem Menschsein identifiziert. Man wird aber fragen müssen: Handelt es sich um die 18
Enquete-Kommision (1/2002, S. 72 f.); vgl. Maio (2002a, S. 23 f.). A
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Keimzelle dieses Menschen, der aus ihr hervorgeht? Die Frage wird kaum jemand verneinen können. Und die weitergehende Frage lautet: Wollen wir diesen Menschen daran hindern, sich aus seiner Keimzelle zu entwickeln? Wir würden ihn daran hindern, wenn wir seine Keimzelle zerstören, um eine Stammzelle zu gewinnen. Gilt diese Bewertung auch für einen Embryo, der durch Zellkerntransfer entsteht, der also keine Eltern hat und dem es an einem biographischen Zusammenhang fehlt? Der Einwand, ein Forschungsverbot sei in diesem Fall unangebracht, weil der Embryo nicht die Bedingung einer Verbindung der beiden haploiden Chromosomensätze erfülle, wird dadurch entkräftet, dass sich eine durch Zellkerntransfer erzeugte Zelle nach Implantation jederzeit zu einem Menschen entwickeln kann (Enq.K. 1/2002, S. 117). Aus den Argumenten folgt, dass menschliches Leben einer Güterabwägung zu Zwecken der Forschung entzogen ist, weil ihm von Anfang an Würde und Schutz zukommt. Zu 2: Die in dieser Bewertung enthaltene Annahme, dass Embryonen Menschen sind, denen Würde und Lebensschutz zukommt, wird in dieser strengen Auslegung nicht von allen geteilt. Ein zweiter allgemeiner Satz geht davon aus, dass einem Embryo nur in abgestufter Weise eine Schutzwürdigkeit zukomme. Ein abgestufter Schutz wird nach zweierlei Auffassungen beschrieben: entweder im Zusammenhang mit bestimmten Eigenschaften wie der Fähigkeit zur Selbstachtung, Präferenzen zu bilden oder über Selbstbewusstsein zu verfügen; oder als ein abgestufter Schutz nach einem zeitlichen Maß vom Augenblick der Befruchtung an; das zeitliche Maß folgt bestimmten Stufen der Entwicklung wie Einnistung in den Uterus, Ausschluss natürlicher Mehrlingsbildung, Gestaltwerdung, Ausbildung neuronaler Voraussetzungen für eine bewusste Verarbeitung von Reizen, Beginn des Gehirnlebens oder die Überlebensfähigkeit außerhalb des Uterus. Die Menschwerdung wird hier prozesshaft verstanden. Ein grundlegender Einwand gegen den Grundsatz abgestufter Schutzwürdigkeit des Embryos besteht darin, dass jede sich auf eine Handlungstendenz auswirkende Zäsur innerhalb einer kontinuierlichen Entwicklung nicht ohne Willkür erfolgt. Eine Variante dieser Position bildet das Respektmodell (Maio 2002a, S. 24 f.). Es betrachtet den Embryo weder als Objekt noch als Person, sondern als ein Mittleres. Einerseits verdiene das früheste embryonale Leben Respekt und könne nicht als frei verfügbares Ma162
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terial betrachtet werden; andererseits aber nähme die Schutzwürdigkeit des Embryos erst mit fortschreitender Entwicklungsstufe stetig zu. Der Embryo wird als etwas Wertvolles angesehen, eine Tötung zu Forschungszwecken aber unter bestimmten Bedingungen nicht ausgeschlossen (Maio 2002b, S. 161). Begründet wird die Möglichkeit dadurch, dass dem Embryo ein Eigenwert und eine aus ihm hergeleitete »solidarité virtuelle« zugesprochen wird in dem Sinne, dass sich der Embryo möglicherweise mit den zukünftigen Patienten solidarisch erklären könnte und eher seiner Verwendung zu Forschungszwecken zustimmen würde als seiner Verwerfung (2002b, S. 27). Es ist ein hypothetisches Zustimmungsargument formuliert, dessen Geltung nicht deutlich wird. Vorstellbar wäre genauso eine Solidarität mit anderen hergestellten Embryonen, die, weil sie alle erst hergestellt werden und dann sterben müssen, sich solidarisch erklären mit einer Unterlassung ihrer Herstellung. Ein anderer Einwand richtet sich gegen den Status des verwaisten Embryos. Einerseits soll die Forschung nur an verwaisten Embryonen in Frage kommen, andererseits »steht in jedem Fall fest, dass es besser gewesen wäre, wenn man den Zustand des Verwaistseins verhindert hätte« (Maio 2002b, S. 27). Wenn es nach dem Respektmodell besser wäre, den verwaisten Embryo zu verhindern, warum wird dann nicht seine Verhinderung verlangt? Forschungen an verwaisten Embryonen zuzulassen mit dem Hinweis, ihnen fehle zu ihrer Entwicklung der Mutterleib, ihnen käme deshalb keine Würde zu und sie müssten sowieso sterben, bleibt fragwürdig. Der in vitro erzeugte Embryo ist bereits eine Präparation, weil die Eizelle aus dem Mutterleib herausgelöst und nach einer Behandlung und unter Ausgrenzung aller natürlichen Prozesse künstlich befruchtet wird. Dem Befruchtungsvorgang und dem entstehenden Embryo wird der dazugehörige Mutterleib künstlich genommen, was jetzt zur Folge haben soll, dass ihm das fehlt, was zur Menschenwürde erforderlich sei. Erst der von den dazugehörigen Vorgängen abstrahierende Befruchtungsprozess erzeugt die Würdelosigkeit. Dem Embryo wird durch Präparation der Mutterleib vorenthalten, was ihn zur Würdelosigkeit verurteilt. Wenn das Argument stimmt, dann ist ein in vitro erzeugter Embryo deshalb menschenwürdelos, weil ihm der Mutterleib vorenthalten wird. Wenn er durch eine In-vitro-Fertilisation würdelos wird, dann bleibt zu fragen, ob nicht diese Art der Fortpflanzungsmedizin eher verwor-
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fen werden sollte als sie durch eine präparierte Würdelosigkeit ihrer Ergebnisse zu rechtfertigen. Eine andere Begründung zur Forschung an verwaisten Embryonen wird in den USA praktiziert: Erlaubt ist die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen, die aus »überzähligen« freiwillig für diesen Zweck gespendeten Embryonen gewonnen werden; eine Tötung der Embryonen wird in Kauf genommen (Enq.K. 1/2002, S. 171); gerechtfertigt wird die Forschung durch die Einstufung der embryonalen Stammzellen als pluripotent, wobei für deren Gewinnung lediglich die Einschränkung keiner staatlichen Finanzierung gilt (Enq.K. 1/2002, S. 171 f.); außerdem mag eine Rechtfertigung aus der Vorstellung einer unantastbaren Autonomie des Individuums stammen, die das Verfügungsrecht über Embryonen allein bei den Spendern sieht (Böhm 2003, S. 143; Enq.K. 1/2002, S. 171). Proteste gegen diese Regelung haben sich aber dort formiert. Es gibt auch die Auffassung, die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen aus einer beobachteten Praxis zu rechtfertigen. Sie anerkennt einerseits das Menschsein des Embryos; andererseits gäbe es praktizierte Regelungen wie: überzählige verwaiste Embryonen aus der IVF werden zur Zeit in großer Zahl aufbewahrt, ohne dass sie eine Entwicklungschance haben; geduldete Abtreibungen führen zur Tötung des Embryos in sogar fortgeschrittenem Entwicklungsstadium; die praktizierte Verhinderung einer Nidation befruchteter Eizellen führte ebenso zur Abtötung. Eine moralische Ablehnung einer Stammzellgewinnung aus einem Embryo und dessen Abtötung wäre im Vergleich zu den genannten praktizierten Regelungen inkonsistent. Unter Anerkennung moralischer Bedenken wird deshalb innerhalb einer Frist der ersten 14 Tage nach Befruchtung der Eizelle die Stammzellgewinnung für vertretbar gehalten. Die praktizierten Beobachtungen mögen einem einzelnen Forscher eine augenblickliche Rechtfertigung erschließen; eine Antwort auf die Frage nach einer grundlegenden ethischen Orientierung ermöglichen sie nicht. Im Vergleich zur Abtreibung, auf die auch hier verwiesen wird, weil sie ebenso menschliches Leben tötet, aber gegenwärtig unter bestimmten Voraussetzungen akzeptiert wird, gibt es einen wesentlichen Unterschied: Bei einer Abtreibung geht es um das Schicksal eines Menschen, der wegen der einzigartigen Verbindung von Mutter und Ungeborenem – »einer Zweiheit in der Einheit« – nicht gegen, sondern nur mit der Mutter geschützt werden kann. In der 164
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Stammzellforschung ist das Ziel der Handlung nicht das Wohl des einzelnen Embryos, sondern er wird Mittel zum Zweck einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Er wird um anderer Ziele willen benutzt und getötet. Das deutsche Stammzellgesetz 19 folgt der abgestuften Schutzposition insofern, als es Forschungsarbeiten nur erlaubt, wenn die embryonalen Stammzellen vor dem 1. Januar 2002 aus extrakorporaler Befruchtung zum Zwecke der Herbeiführung einer Schwangerschaft gewonnen wurden und wenn die Forschung wissenschaftlich hochrangigem Erkenntnisgewinn dient. Ein allgemeiner Satz, der Forschungen an humanen embryonalen Stammzellen nach einer abgestuften Schutzwürdigkeit des Embryos rechtfertigt, wird nicht allgemein akzeptiert, wie die jeweiligen Einwände zeigen. Zu 3: Eine Forschung wird an humanen embryonalen Stammzellen vorbehaltlos akzeptiert, wenn es sich um adulte bzw. neonatale Stammzellen handelt, deren Gewinnung keine Tötung des Embryos erfordert. Dagegen lautet ein Einwand, eine Forschung an adulten gewebespezifischen Stammzellen habe eine begrenzte Perspektive, weil sie im Vergleich zu einer Ausdifferenzierung von ES-Zellen nicht über deren Vermögen einer Pluripotenz verfügten. Ob diese Kritik an dem erst in Anfängen erforschten Leistungsvermögen adulter Stammzellen berechtigt ist, bleibt bisher offen. Selbst wenn sich für bestimmte Gewebeherausbildungen keine Differenzierung aus adulten Stammzellen ergeben sollte, bleibt das Argument der Tötung für die Alternative der ES-Zellen wirksam. Verlangt war nach der Grundlegenden Ethischen Orientierung, allgemeine Sätze hinsichtlich ihrer Akzeptanz zu bewerten. Für alle drei allgemeinen Sätze wurden ablehnende Argumente genannt, die sich vor allem auf die Würde und den Lebensschutz des Embryos stützen. Um zu prüfen, in welchem Umfang die Menschen den Argumenten folgen, wird auf empirische Untersuchungen verwiesen. Eine erste emotionale Bewertung der allgemeinen Sätze zeigen Umfrageergebnisse der Universität Leipzig 20 ; sie macht die enge Beziehung zwischen assoziierten Gefühlen und einer Stellungnahme »Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit der Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen« vom 28. Juni 2002. 20 www.kritischebioethik.de 19
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deutlich, die sich auf die Präimplantationsdiagnostik bezieht, leider nicht auf die Stammzellforschung; sie wird aber hier erwähnt, weil es sowohl bei der Präimplantationsdiagnostik wie in der Stammzellforschung um die Würde und den Lebensschutz des Embryos geht. Die mit einer Stellungnahme zur Präimplantationsdiagnostik assoziierten Gefühle zeigen folgendes Ergebnis: Assoziierte Gefu¨hle: Unsicherheit 43,9 % Hoffnung 31,4 %
Stellungnahme Zulassung nur bei Krankheitsverdacht 59 % Inanspruchnahme 32 %
Anmaßung 17,1 % / Bestürzung 13,3 %
PID sollte nicht erlaubt sein 25 %
Freude 6,4 %
Inanspruchnahme ohne Krankheitsbezug 4 %
Die Ergebnisse zeigen, dass angegebene Emotionen und geäußerte Orientierung einander entsprechen. Deutlich wird auch, dass der mit der PID verbundene bedrohte Lebensschutz differenziert bewertet wird: Keine Rolle spielt er nur bei einer Minderheit; eine bestimmende Rolle bei einer Mehrheit. Andere Umfragen befassen sich mit einer Akzeptanz bzw. einer Ablehnung der Stammzellforschung. In einer Stichprobenbeschreibung der Universität Freiburg schreiben 60 % der Befragten dem extrakorporalen Embryo eine dem Menschen nahe und gleiche ethische Stellung zu; Befürworter und Gegner einer Embryonenforschung halten sich die Waage. 21 Aus einer Vielzahl von Veröffentlichungen soll hingewiesen werden auf eine Umfrage der Deutschen Bundesregierung zum Thema »therapeutisches« Klonen, die nicht nur eine Ablehnung von 62 % zeigt, sondern auch ein Anwachsen der ablehnenden Zahl von 51 % auf 62 % bei sechs Umfragen innerhalb eines Monats 22. Aus den Ergebnissen der Umfragen geht nicht hervor, ob sie spontane Äußerungen oder ob sie Ergebnisse eigener Reflexion sind; dazu behttp://omnibus.uni-freiburg.de/~kopecka/umfrage/ergebnisse.htm, S. 1–4.: Da der extrakorporale Embryo mit keinem Zeitpunkt seiner intrakorporalen Entwicklung wie z. B. Nidation vergleichbar ist, lassen sich die Umfrageergebnisse, ab wann der Embryo als Mensch wahrgenommen wird, nur eingeschränkt verwenden. 22 http:/cloning/news-08.html 21
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dürfte es einer gründlicheren Auseinandersetzung mit dem Zustandekommen der Meinungsbildung der Befragten. Umfrageergebnisse liefern deshalb nur eine erste grobe Tendenz zur Bewertung der Stammzellforschung. Die strittige Bewertung der humanen embryonalen Stammzellforschung verlangte in Deutschland eine politische Entscheidung. Eine Abstimmung der 617 Abgeordneten des Deutschen Bundestages über das Stammzellgesetz zeigt das Verhältnis von Ablehnung und Akzeptanz der Stammzellforschung: Schutz der Menschenwürde, kein Import von embryonalen Stammzellen, die aus menschlichen Embryonen gewonnen werden – vergleichbar Satz 1 – dafür stimmten 263 Abgeordnete; keine verbrauchende Embryonenforschung, Import humaner embryonaler Stammzellen nur unter engen Voraussetzungen zulassen – vergleichbar einer Position zwischen Satz 1 und 2 – dafür stimmten 225 Abgeordnete; verantwortungsbewusste Forschung an embryonalen Stammzellen für eine ethisch hochwertige Medizin – vergleichbar Satz 2 – dafür stimmten 106 Abgeordnete. Keiner der drei Anträge erreichte eine erforderliche Mehrheit. Erst in einer zweiten Abstimmung erhielt die Position zwischen Satz 1 und 2 eine ausreichende Mehrheit von 339 Stimmen (EK 1/2002 S. 221 ff.). Die politische Abstimmung und ihr Ergebnis eines mehrheitlich beschlossenen Kompromisses macht deutlich: eine ethische Urteilsbildung kann keine notwendige Geltung verlangen; der Kompromiss bleibt einer weiteren Reflexion, einer Bewertung und einer Bewährung ausgesetzt; er repräsentiert das Ergebnis einer emotionalen Bewertung, die Toleranz in einer demokratischen politischen Ordnung akzeptiert. 23 Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass die drei allgemeinen Sätze einer Bewertung für eine ethische Urteilsbildung bedürfen. Wichtig ist nicht nur die momentane Akzeptanz eines Satzes, sondern dessen langfristige Bewährung. 24 Die unabgeschlossene, fortlaufende reflexive Überprüfung ermöglicht Veränderungen der Urteilsfindung, die sich an langfristiger Erfüllung der Bedürfnisse orientieren kann. Der Satz Grundlegender Ethischer Orientierung verweist auf Zur Toleranz hinsichtlich der Erreichung eines praktischen Kompromisses vgl. Knoepffler (2005b, S. 161 ff.). 24 Hubig (2000, S. 12), der im Rahmen seiner Technikfolgeabschätzung fundamentale Prinzipien ablehnt, nennt stattdessen im Rahmen einer Ethik als provisorische Moral eine Ungewissheit im Blick auf langfristige Entwicklungen. 23
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diesen Prozess fortlaufender Bewertung. Eine Verschiebung der Akzeptanz unter den drei allgemeinen Sätzen könnte sich unter dem Eindruck einer wachsenden praktizierten, Embryonen verbrauchenden Stammzellforschung oder einer Nutzung der Embryonen als Ersatzteillager ergeben. Einer Stammzellforschung aus adulten Stammzellen, die auf eine Vernichtung der Embryonen verzichten kann, wird eine Akzeptanz aus emotionaler Bewertung aus langfristiger Bewährung am ehesten eingeräumt. Anwendung der Grundsätze – Einzelfallbewertung Außer der Akzeptanz der allgemeinen Grundsätze verlangt die Grundlegende Ethische Orientierung eine Bewertung ihrer Anwendung im Einzelfall, weil der allgemeine Grundsatz von Einzelfallbedingungen abstrahiert, deren Einflüsse auf eine Handlungstendenz aber wichtig sind. Selbst wenn ein allgemeiner Satz über die Stammzellforschung akzeptiert wird, könnte seine Anwendung in einem Einzelfall eine Ablehnung finden. Im Falle einer Akzeptanz des Satzes 1, der embryonale Stammzellforschung ablehnt, weil die Stammzellgewinnung die Tötung des Embryos zur Folge hätte, wird der Einzelfall, der die Tötung rechtfertigen könnte, zugleich mit dem Satz ausgeschlossen. Im Fall des Satzes 2 entfällt eine Einzelfallprüfung, weil es sich um Grundlagenforschung handelt. Sie strebt nach Erkenntnissen der Zellbiologie, die vom einzelnen Embryo, von dem die Zellen stammen, abstrahieren. Es geht nicht um das Wohl des Einzelnen, sondern um Einsicht in Zusammenhänge, die auf alle Embryonen zutreffen. Eine Einzelfallbewertung macht deshalb keinen Sinn, weil vom einzelnen Fall, der zu bewerten wäre, abstrahiert wird. Eine Einzelfallbewertung im Falle des Satzes 3 kommt dann in Frage, wenn die Gewinnung einer adulten Stammzelle im Einzelfall aus z. B. gesundheitlichen Gründen unvertretbar ist. Zu erwähnen bleibt eine Einzelfallprüfung in den USA: Konkrete Projekte der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen mit staatlichen Fördermitteln werden im Einzelfall nach ethischen Schutzstandards entschieden. Die Richtlinie für staatlich finanzierte Forschung schreibt vor, dass Stammzellen nur verwendet werden dürfen, wenn deren Gewinnung aus »überzähligen« freiwillig für diesen Zweck gespendeten Embryonen erfolgte und ein in168
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formed consent der Spenderinnen mit eindeutiger Benennung des Verwendungszwecks vorlag. Ergebnisse dieser Einzelfallprüfungen können nur Einschränkungen hinsichtlich der Stammzellgewinnung bewirken, vorausgesetzt eine Forschung wird an verwaisten Stammzellen grundsätzlich akzeptiert. Anders als bei der Einzelfallbewertung eines Schwangerschaftsabbruchs, in dem es um den einzelnen Embryo und dessen Lebensschutz geht, können in der Stammzellforschung wegen des Konfliktes zwischen Grundlagenforschung und Einzelfall die Bewertungen zu keinen Ergebnissen führen, die dem Lebensschutz des einzelnen Embryo gerecht werden. Einzelfallbewertungen wie sie im medizinischen Bereich auch bei anderen Grundsätzen entscheidend für ihre Anwendung sind wie z. B. für Indikationen zur Therapiebegrenzung wie Reanimationsverzicht, Verzicht auf Antibiotikatherapie, Reduktion der Therapie oder Abbruch der Sondernahrung (Maio 2002, Tab. 1) hat hier keine Bedeutung. Erwägung der Rückwirkungen aus Veränderungen der Umwelt Zu welchen Ergebnissen führen Umweltveränderungen durch Forschungen an menschlichen embryonalen Stammzellen und deren Bewertung? Die Umweltveränderungen können solche sein, die bereits wahrnehmbar sind und solche, die sich aus Folgeabschätzungen der Stammzellforschung ergeben, die möglicherweise aber noch nicht eingetreten sind. Die möglichen Folgeabschätzungen sind nicht immer durch ein Nichtwissen gekennzeichnet. Lau verweist auf Fälle, bei denen ein Gefahrenverdacht vorlag und unterdrückt wurde wie beim Dioxin. Auf solche, in denen eine interdisplinäre Weitergabe eines Wissens über unerwünschte Nebenfolgen unterblieb – er nennt die Gefahren des FCKW – oder aus mangelnder gesellschaftlicher Resonanz nicht wahrgenommen wurde wie beim sauren Regen. Lau verweist auch darauf, dass das Problem, welche Schäden als unerwünscht gelten sollen und wann Forschungen abgebrochen werden müssten, nicht mehr durch die Wissenschaft selbst beantwortet werden könnte, weil es normative Entscheidungen seien, die dem Expertenurteil entzogen wären (S. 135). Dass es normative Entscheidungen sind, mag bezweifelt werden, weil daraus die oben geschilderten Probleme eines allgemeinen Geltungsanspruchs solcher Normen folgte. Was aber zuA
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trifft ist, dass nicht der wissenschaftliche Experte die Entscheidung allein treffen kann, sondern dass es sich um einen gesellschaftlichen Diskurs handelt, an dessen Argumenten und Gegenargumenten Denkansätze aus verschiedenen Disziplinen wie Naturwissenschaft, Philosophie, Theologie, Psychologie, Soziologie usw. beteiligt sind. Emmrich weist darauf hin, dass die Sachverhalte in der Bioethikdebatte oft der konkreten Anschauung entzogen seien und nur auf hoher Abstraktionsebene verhandelt würden, was den gesellschaftlichen Diskurs nicht erleichtere (Emmrich, S. 113). Eine Ethische Orientierung aus emotionaler Bewertung vermeidet diesen Befund, weil jeder Einzelne aus seiner Perspektive an der Bewertung und dessen Reflexion teilnimmt; die Bewertung stützt sich nicht auf Ergebnisse einer bestimmten Abstraktionsebene, sondern auf das emotionale Bewertungsvermögen. Das, was als gut bewertet wird, wird an keinem begrifflich gefassten Prinzip bzw. einer Norm gemessen, sondern an der Erfüllung unserer Bedürfnisse, sowohl hinsichtlich der Forschungsergebnisse als auch ihrer langfristigen Rückwirkungen. 25 Hubig kritisiert in diesem Zusammenhang, dass in der Strategie einer »Heuristik der Furcht« als Ausdruck einer Langzeitverantwortung für »selbstsorgedefizitäres Leben« nicht klar würde, was den Übergang von einer Wahrnehmung von Furcht zu einer Heuristik der Furcht begründe (S. 4 f.). In dem Satz Grundlegender Ethischer Orientierung wird dieser Übergang aus den Einflüssen der Umwelt und deren neuronaler Verarbeitung begründet. Insofern kann eine Heuristik der Furcht geeignet sein, eine Umweltveränderung wie hier durch embryonale Stammzellforschung zu erfassen und zu Handlungstendenzen zu veranlassen. 26 Einem Bericht der FAZ (11. 3. 2005, S. 9) ist zu entnehmen: Das Europäische Parlament hat mit deutlicher Mehrheit gefordert, dem Handel mit menschlichen Eizellen ein Ende zu setzen. Für eine Eizelle rumänischer Spenderinnen seien EUR 1400,– bezahlt worden. Nachdem Samen von britischen Männern tiefgefroren nach RumäVgl. Hubig (1997, S. 10), der auf den Begriff des Guten als gelingendes Streben hinweist. 26 Emmrich (2002) kritisiert die Durchdringung ethischer Argumente in der Bioethikdebatte durch Erzählmotive des Kinos und der Literatur, weil mit ihnen einhergehende Emotionen und affektive Einstellungen assoziiert würden und dadurch den ethischen Diskurs mit »naiven« ethischen Argumenten durchsetzten. Tatsächlich hatte sich aber gezeigt, dass aus emotionaler Bewertung hervorgehende Handlungstendenzen nicht naiv sind und außerdem in einer reflexiven Betrachtung abgewogen werden können. 25
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nien geflogen und die Eizellen damit befruchtet worden waren, sind die durch die künstliche Befruchtung entstandenen Embryonen zurück nach Großbritannien transportiert worden. Die Mehrheitsverhältnisse im Parlament hätten sich klar zugunsten der Gegner der embryonalen Stammzellforschung verschoben. Über eine andere Umweltveränderung durch Stammzellforschung berichtet Fürst nach einer Reise in die USA: Im Vordergrund des Forscherdranges stünden Heilungsmöglichkeiten; in den Diskussionen würde ein überhöhter Gesundheitsbegriff deutlich, der darin bestehe, dass jede Beeinträchtigung des Wohlbefindens als Behinderung von Glück, als Einschränkung sinnvollen Lebens und deshalb negativ bewertet würde; ein entgrenztes Gesundheitsverständnis bestärke eine Anspruchshaltung, nach der Gesundheit ein einklagbares Recht sei (S. 5 f.). Fördern solche Rückwirkungen einer Stammzellforschung noch eine Erfüllung der Bedürfnisse oder machen sie den Menschen eher zum Sklaven von Bedürfnissen? Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit einem Verständnis von Krankheit, Gesundheit und Tod fordert Badura-Lotter (2002, S. 111) auf, weil sie vor dem Hintergrund der Erkenntnisse aus den Biowissenschaften und medizinischer Entwicklungen eine Verdrängung im Umgang mit Krankheit und Tod befürchtet. Auch Forschungen an adulten Stammzellen können zu Umweltveränderungen führen, von denen fraglich ist, ob sie einer Erfüllung unserer Bedürfnisse dienen. Punzel berichtet von Therapieüberlegungen mit adulten Stammzellen, die kommerzielle Bestrebungen zur Produktion so genannter Xenotransplantate enthalten. Humane Stammzellen könnten in Schweineföten transplantiert und nach Heranwachsen des chimären Tieres das jeweils für eine Organtransplantation benötigte Organ entnommen und dem Patienten übertragen werden (S. 110 f.). Wollen wir uns wirklich der Möglichkeit solcher Organproduktion und Transplantation aussetzen? Unter den ökonomischen Aspekt fallen weitere mögliche Auswirkungen einer Stammzellforschung: Wenn adulte Stammzellen aus Nabelschnurblut nur einmal für kurze Zeit unmittelbar nach der Geburt im Leben eines Menschen verfügbar sind, sollten sie krykonisiert zur Behandlungsvorsorge für jeden Menschen eingelagert werden? Sind die Kosten von der Allgemeinheit zu tragen oder handelt es sich um eine Entscheidung privater Gesundheitsvorsorge? Unter den ökonomischen Aspekt fallen auch die Fragen einer Patentierung von Leben, von Stammzellen und Zelllinien. Wo verlaufen A
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die Grenzen zwischen Forschungsergebnissen rekonstruktiver Biologie und einer Produktion von Ersatzgeweben? 27 Solche Auswirkungen veranlassen, solange sie ungeklärt sind, mindestens zu sehr restriktiver Förderung. Schließlich ist auf mögliche identitätsverändernde Effekte einer Stammzelltransplantation in das Hirn von Patienten hinzuweisen. Wenn in dieses Organsystem eingegriffen wird, werden dann mögliche Veränderungen in dem Organsystem zu Beeinträchtigungen einer Identität und Veränderungen der Bewertung führen können? 28 Damasio hatte in seinen Untersuchungen gezeigt, dass Veränderungen in bestimmten Hirnarealen zu Veränderungen einer Bewertungsfähigkeit von Wahrnehmungen führen. Prelle plädiert dafür, Stammzelltherapieverfahren vor ihrer möglichen Verwendung für Zell- und Gewebeersatz nicht nur an Tiermodellen zu evaluieren, sondern sie auch einer internationalen kritischen Diskussion und einem wissenschaftlichen Austausch auszusetzen, der nicht durch patentrechtliche Überlegungen verhindert werden dürfe (S. 111). Die Beispiele zeigen, welche Veränderungen der Umwelt, die von einer Stammzellforschung ausgehen, zwar noch nicht eingetreten, aber denkbar geworden sind. Von ihren Rückwirkungen ist fraglich, ob sie eine Erfüllung der Bedürfnisse der Menschen fördern oder ob deren Abschreckung diesem eher schadet. Deren emotionale Bewertung kann zu Handlungstendenzen führen, die Forschungen zu unterlassen, wobei auch diese Tendenzen ihrerseits einer Reflexion bedürfen.
Van Raden (2002) meint, eine Grenze der Patentierung in der modernen Biotechnologie zu sehen zwischen Leben und der Lehre vom technischen Handeln. Peters verweist dagegen auf die ethisch-rechtlichen Unzulänglichkeiten im humanen Bereich der Embryonen, der Gene und des biologischen Materials (2002, S. 112). 28 Prelle (2002) hat sich kritisch mit diesen Fragen auseinander gesetzt. 27
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H. Schluss
Der Satz Grundlegender Ethischer Orientierung begründet eine Ethik, die auf den Begriff bringt, was jedem Menschen in seinem moralischen Verhalten nahe liegt zu tun, ohne diesen Satz zu kennen. Eine Kenntnis des Satzes eröffnet die Möglichkeit, einer emotionalen Bewertung und der aus ihr hervorgehenden Handlungstendenz zu trauen und sie in die Herausbildung eines ethischen Urteils einzubeziehen. Er beschreibt auch die ethische Urteilsbildung als einen Prozess, der weitergeht, ohne dass jemand behaupten könnte, an seinem endgültigen Ende angekommen zu sein. Jede Handlungsentscheidung wird Anlass zu erneuter Bewertung und Bewährung. Es ist eine Ethik, die nicht versucht, individuell geprägte Handlungsentscheidungen allgemeinen Normen zu unterwerfen, sondern die die einzelne Situation als prägend für die Entscheidung dadurch anerkennt, dass jede Situation für sich bewertet wird. Jede einzelne Situation bedarf einer ihr angemessenen Entscheidung. Sie überwindet das alte Sein-Sollen-Problem dadurch, dass sie sich nicht auf ein Sollen stützt, sondern auf eine Bewährung. Es ist eine Ethik, die sowohl der Rationalität wie den Gefühlen zugewandt ist; die der Welt nicht durch normative Reduktionen vorzuschreiben versucht, wie sie zu sein hat, sondern die den jeweiligen Einflüssen der Umwelt Rechnung trägt, die offen bleibt für Veränderung, für Wertewandel, für einen Wandel in der Bewertung des gleichen Sachverhaltes. 1 Sie ist deshalb aber keine beliebige Ethik, die erlaubt zu tun, was einem in den Sinn kommt. Jede Entscheidung bleibt der Reflexion und erneuter Bewertung ausgesetzt. Es ist eine Ethik, die sich nicht nur auf Rationalität oder nur auf Emotionen stützt, sondern die beide Vermögen zur Geltung bringt. Es ist eine Ethik, die sich auf empirische Rechtfertigung stützt, weil sie Ergebnisse der Neurowissenschaft verwendet und weil sich Rorty (1996, S. 150) verweist in seiner Untersuchung der Menschenrechte darauf, dass ein Wandel unserer sittlichen Institutionen eher auf Gefühle als auf rational begründetes Wissen zurückgeht.
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Schluss
ihre Bewertungen und Handlungsentscheidungen bewähren müssen. Einsichten aus den empirischen Ergebnissen bilden nicht das Verhältnis Individuum und Umwelt ab, sondern machen eine notwendige Bedingung deutlich, die im Verhältnis Individuum und Umwelt erfüllt sein muss, damit das Individuum überleben und sich wohl fühlen kann. Ihre empirische Rechtfertigung ist einsehbar aus epistemischer Begründung, so dass ein Konflikt des naturalistischen Fehlschlusses vermieden wird. Es ist eine Ethik, die dazu beiträgt, die Kluft zwischen Naturund Geisteswissenschaft dadurch zu überwinden, dass sie beide miteinander verbindet: Naturwissenschaft ermöglicht Einblicke in die Beziehung und Kommunikation zwischen Individuum und Umwelt; Geisteswissenschaft ermöglicht Einsichten in den individuellen Bewertungszusammenhang, der das Subjektive, Einmalige in der Bewertung der Umwelteinflüsse zum Ausdruck bringt. Ihre Verbindung wird dadurch deutlich, dass naturwissenschaftliche Forschungstätigkeit selbst einer Bewertung ausgesetzt ist. Es ist keine Ethik, die von einem Egoismus geprägt ist, wohl aber eine, die eine subjektive Bewertung zur Grundlage hat. Ein Gedeihen des Anderen und ein Gedeihen der Gemeinschaft fördert das Wohl und Gedeihen des Einzelnen. Es muss nicht einer Ethik vorausgehend entschieden werden, ob wir des Anderen und der Gemeinschaft bedürfen, weil wir uns in einer Welt mit vielen Anderen und in Gemeinschaften befinden. Der Streit zwischen Liberalisten und Kommunitaristen, ob dem Individuum oder der Gemeinschaft ein Vorrang in der Gestaltung einer politischen Ordnung zukommt, wird gegenstandslos. 2 Es ist eine Ethik, die den Weg weist, das Verhältnis zum Anderen und das zwischen Individuum und Gemeinschaft dadurch zu gestalten, dass sie den Anderen und die Gemeinschaft als Umwelt bewertet. Sie eröffnet einen Weg politischer Gestaltung, in der sie Gefühle wie z. B. Vertrauen, Verlässlichkeit und Gerechtigkeit in den Mittelpunkt rückt. 3
Vgl. Honneth (1995), der einen Überblick über die Debatte über die moralischen Grundlagen in modernen Gesellschaften gibt. 3 Vgl. Schwan (2004), die das Verhältnis von Politik und Vertrauen untersucht hat. 2
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A
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Verzeichnis der Schlsselbegriffe
Akzeptanz 124–126 Allgemeine Sätze 94, 122 ff. Amygdala 51 Außenwelt 35, 135 Autonomie 111 Altruismus 99, 119 Bedürfnisse 115 Bereitschaftspotential 108 Bewertung 54–68, 89 Bildgebende Verfahren 40, 74 Diskursethik 104 Determinismus 109
Individuum 22 Information 38, 41 Invarianz 43 Irakkrieg 145 ff. Kategorischer Imperativ 133 Kognition 45,51, 55 91 f. Kommunikation 33, 91 Konstanz 28, 43, 84 Konstitutionelle Ökonomik 25 Konstruktivismus 34 Limbisches System 55, 66
Egoismus 119 Eid 140 f. Embryo 127, 157 Emotion 10, 14, 24 ff., 44–54, 100 Emotionale Bewertung 10 f. Empathie 60 Epistemische Begründung 112, 135 ff. Erste Person 22 f. Ethik 16 ff., 103 ff., 114 Folter 128 Freiheit 106–111
Marker 90 Menschenwürde 18 Moral 15, 103 Moralischer Charakter 95 ff. Moralische Gefühle 95 Naturalistischer Fehlschluss 133 Neuronen 41 Neurowissenschaften 14, 32, 131 Nonkognitivismus 72 Norm 12 f., 17 ff. Notwendige Bedingung 11, 82, 131 f. Orientierung 114
Gefangenendilemma 126 Gehirn 37 Gewissheit 71 Globalisierung 104 Glücksspielexperiment 88
Patient Gage 88 Primäre Emotion 51 ff.
Handeln 87 f. Handlung 87 ff. Handlungsentscheidung 91, 107 f. Handlungsorientierung 87 ff. Hinreichende Bedingung 131 f.
Radikaler Konstruktivismus 34 f., 135 Regel 17, 25 f. Reflexion 73 f., 117 Reiz 37, 49 ff. Reizquelle 13 Respektmodell 162 f. A
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Verzeichnis der Schlsselbegriffe Satz Grundlegender Ethischer Orientierung 16, 115, 144 Sekundäre Emotion 51 ff. Selbstinteresse 15, 116 ff., 138 Signal 37 f., 41 Sinnesorgane 37 f. Situation 13, 22 Sollen 133 f. Spiegelneuronen 66 Sprache 75 Stammzelle 156 ff. Stimulation 40 Subjekt 31 Topographie des Gehirns 39 Trieb 46
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Umwelt 13, 32 f., 87, 121 f. UN Charta 149 f. Urteil 91 Urteilsbildung 94 f., 113 f. Utilitarismus 18, 20 Verhalten 87 Vernunft 92 ff. Wahrheit 71 Wahrnehmung 36–44, 54 ff. Wert 86, 97 ff. Wille 106 ff. Willensfreiheit Wissen 69–87 Wissen, angeborenes 62 Wissen, erworbenes 63 f.
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Namensregister
Ambos, K. 175 Aretin, K. O. von 142 Aristoteles 78, 130 Assheuer, Th. 154 Augustinus 78
Foot, Ph. 116 Forschner, M. 94 Frackowiak, R. S. J. 39, 58, 61 Fram, J. 40, 74 Friederici, A. D. 39 f. Fürst, G. 171
Badura-Lotter, G. 171 Bar-On, D. 97 Beckermann, A. 175 Bodden-Heidrich, R. 157 Böhm, A. 164 Bonhoeffer, D. 117 Brähler, E. 175 Brecht, B. 175 Brennan, G. 17, 25 Bruha, Th. 151 Buchanan, J. M. 17, 25, 101, 121, 125 Churchland, P. S. 176 Cicero, M. T. 48 Coriando, P.-L. 47 Damsio, A. R. 34, 39 f., 45 f., 52, 57–65, 88 ff. Darwin, Ch. 58 De Sousa, R. 94 ff. Detel, W. 176 Dörner, D. 39, 76 Dreier, H. 158 Düwell, M. 21 Egger, D. 176 Ehrhart, H.-G. 146 Ekman, P. 52, 85 Elsner, N. 37 Emmrich, M. 170 Engel, A. 39, 41 Enzensberger, H. M. 152
Ganten, D. 159 Gehring, P. 177 Geyer, Ch. 109 Gierer, A. 178 Glasersfeld, E. von 73, 135 Golemann, D. 178 Grundmann, Th. 178 Habermas, J. 22, 108 Hagner, M. 109 Harrer, G. 178 Hauskeller, Ch. 178 Heisenberg, W. 109 Helmchen, H. 27 Hillebrand, I. 158 Hobbes, Th. 34 Höffe, O. 87, 116, 119 Hoffmann, P. 141 Hoffmann, U. 97 Hofmann, F. 70 Honneth, A. 106, 174 Hondrich, K. O. 7, 95 Horn, Ch. 115 Hösle, V. 179 Hubig, Ch. 19, 105, 114, 124, 167 Hübner, D. 179 Hübner, K. 47, 76 Hülshoff, Th. 96 Hüther, G. 44, 84 Irrgang, B. 179
Fischer, J. 132 Fischer-Lescano, A. 151 Foerster, H. von 136 f.
Jäncke, L. 40 Janich, P. 73 Jantsch, E. 31 A
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Namensregister Kandel, E. 32, 36 f., 45–66, 75 Kanitscheider, B. 34 Kant, I. 9, 20, 133 f. Kather, R. 77 Keller, M. 121 Kersten, J. 158 Kersting, W. 22, 104, 137 Knoepffler, N. 18, 21, 167 Köck, W. 33, 75 Kohlberg, L. 100, 125 Kolster, W. 14 Kraft, V. 86 Krüger, H. P. 31, 33 Kruse, F. V. 48 Lanz, P. 181 Laplace, P. S. 110 Lau, Ch. 169 LeDoux, J. 45, 56, 64, 91 Lenk, H. 104 Leschke, M. 25 f., 116 ff., 124 f. Libet, B. 108 f. Lochner, E. von 181 Maar, Ch. 181 Maio, G. 161 ff., 169 Maturana, H. R. 31, 69, 73 Merleau-Ponty, M. 73 Meyer-Abich, K. M. 80, 92 Mieth, D. 103, 124, 143 Müller-Jung, J. 160 Mulligan, K. 43, 84 Murswiek, D. 154 Neugebauer, K.-V. 178, 182 Nozick, R. 8, 45, 57, 97, 119, 126 Nunner-Winkler, G. 24 f., 130 Nüsslein-Volhard, Ch. 182
Ploog, D. 36 f., 45 f., 52–55, 59–62, 65 Pöppel, E. 36, 51, 62 Punzel, M. 171 Prelle, K. 172 Rawls, J. 8, 19, 97, 100, 115, 118 f., 124, 139 Rebmann-Sutter, C. 160 Reich, I 97, 141 Reiter, J. 183 Ridley, M. 92, 96, 130 Rock, I. 32 Rorty, R. 97, 173 Roth, G. 35 ff., 41 f., 45, 47, 55, 58, 63, 66, 90, 93, 107 f., 132, 135 Sartre, J.-P. 24, 49, 53 Schantz, R. 70 Scheurig, B. 141 Schmitz, H. 71, 73 Schmoll, H. 18, 161 Schöler, H. 159 f. Schopenhauer, A. 9, 24 Schröder, B. 184 Schrödinger, E. 77 Schumacher, R. 136 Schwan, G. 174 Schwerin, D. Graf von 142 Simma, B. 151 Singer, W. 32, 36, 41, 44, 50, 107 ff. Sofsky, W.185 Spitzel, M. 66 Steigleder, K. 185 Steinfath, H. 99, 118 Tomuschat, Ch. 151 Tye, M. 81 Uexküll, Th. 55
Papst Johannes Paul II. 148 Pascal, B. 92 Patzig, G. 182 Pauen, M. 88, 109, 116, 131 Pert, C. B. 182 Peters, L. 172 Pflüger, T. 153 Pieper, A. 21 Pies, I. 25
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Van Raden, L. 172 Vico, G. 34, 47 f. Watrin, Ch. 185 Winnacker, E.-L. 159 Wucherer-Huldenfeld, A. K. 72 Zanetti, V. 150, 154
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