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German Pages 252 Year 2014
Tom Schoper Zur Identität von Architektur
Architekturen | Band 4
Für Lovis und Merle
Tom Schoper (Dr.-Ing.) führt mit seiner Frau Henrike Schoper das Büro schoper.schoper Architekten und lehrt an der Fakultät Architektur der TU Dresden. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Diskurs von Architektur, Bildender Kunst und Philosophie.
Tom Schoper
Zur Identität von Architektur Vier zentrale Konzeptionen architektonischer Gestaltung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Zugl.: Dresden, Techn. Univ., Diss., 2009. © 2010 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Tom Schoper, unter Verwendung einer Umrisszeichnung des Werkes »Adornos Hütte« (1989) von Ian Hamilton Finlay. Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1587-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt E RSTER T EIL : W O SIND DIE H ÄUSER GEBLIEBEN ? D AS ›A NSICH ‹ UND ›F ÜRMICH ‹ VON A RCHITEK TUR | 9 Zur ästhetisierenden Gleichbehandlung von Kunst und Architektur: Avantgarde-Syndrom und ästhetische Distanz | 12 Zum Lesen des architektonischen Werkes: Präsenz versus Repräsentation | 17 Zur Frage nach dem inneren Gesetz von Architektur: die ›Idee-von-Haus‹ und das ›Identische von Architektur‹ | 21 Zum Geleit: Architektur zwischen Sein und Ausdruck | 29
Z WEITER T EIL : W ARUM A RCHITEK TUR NICHT K UNST IST . Z U DEN G RUNDL AGEN VON I DENTISCHEM UND I DENTITÄT | 31 Ästhetik, Identisches und Identität in der Architektur | 32 Die Parameter des Identischen: Dingliches, Bildliches, Begriffliches | 39 Haus als Ding: Faktum des Identischen | 43 Haus als Bild: Reflexion von Welt | 50 Haus als Begriff: Substitut von Ding und Bild | 55
Vom Identischen zur Identität von Architektur: Konstanten und Einflussfaktoren | 62 Haus als Gefundenes oder Erfundenes? | 62 Die Konstante von Haus und Leib | 67 Die Konstante von Haus und Heimat | 71 Haus im Einfluss von Geschichte, Gesellschaft, Gebrauch | 75
Der Diskurs von Identischem und Identität im Werk | 83 Das Identische als Gleichbleiben im Wandel der Zeit | 83 Das Identische als Gegenbegriff zum Ästhetischen | 84 Der konzeptionelle Diskurs am ›Selbst‹ der Architektur | 86
D RIT TER TEIL : W IE VERKÖRPERT SICH DIE ›I DEE VON H AUS‹? V IER ZENTRALE K ONZEPTIONEN DER I DENTITÄT VON ARCHITEK TUR | 89 Die Identität des Selben | 93 Das Selbe im Zusammenklang von Mimesis, Poiesis und Téchne | 95 Platon – das Selbe als Mimesis an die Dingheit | 98 Aristoteles – das Selbe als Differenzierung des Dinglichen: Form und Stoff | 103 Die Identität des Selben im gebauten Werk: Das Abbild seiner selbst: Der Tempel | 109 Die Unsichtbarkeit des Selben: Das Patenthaus | 112 Das Haus als Selbes – ein Vergangenes? | 114
Die Identität des Ähnlichen | 117 Ähnlichkeitsmotiv und uneigentliche Darstellung | 118 Das Selbe und das Ähnliche | 121 Das Ähnliche als Differenzierung des Bildlichen: Zitat | 125 ›Sehen-als ‹ versus ›Sehen-in ‹ | 127 Die Identität des Ähnlichen im gebauten Werk: Bauen als Botschaft: Sant’ Andrea | 129 Architektonische Repräsentation als Verkörperung einer Norm? | 133
Die Identität des Autonomen | 139 Das Schöne und das Erhabene | 141 Das Autonome als Differenzierung des Begrifflichen: Metapher | 146 Die Identität des Autonomen im gebauten Werk: Die Zentrierung des Subjektes: Große Neugierde | 149 Die Suche nach dem Erhabenen in der Architektur: Farnsworth House | 155 Die Dialektik der Identität des Autonomen | 160 Ästhetischer Ausnahmezustand und Souveränität | 161 Aura und Authentizität | 165 Funktion und Wissen | 168
Die Identität des Anderen | 171 Die Seele im Einfluss von Ästhetischem und Identischem: Die Moderne im ›Widerstreit‹ der Diskursebenen | 175 Die ›Différance‹ der Differenz | 178 Das Modell des Identischen im Modus des Anderen | 181 Die Identität des Anderen im gebauten Werk: Gestaltwerdung nach dem Erhabenen | 185 Präsenz kollektiver Bilder: Model for a synagogue | 188 Präsenz der Differenz im Gegenständlichen: Atelier Bardill | 191 Präsenz von Materie vor Ratio: Bruder Klaus Kapelle | 195 Die Identität des Anderen: das Nicht-Darstellbare | 199 Sujet und Aboutness im Anderen | 200 Ästhetik als ›double-bind‹: Architektur nach dem Erhabenen | 203
V IERTER T EIL : W AS EIN H AUS SEIN KANN . Z U EINER A RCHITEK TUR DER S ELBSTHEIT | 207 Architektur der Selbstheit in vorästhetischer Präsenz | 210 Wie können wir uns dem Grund von Architektur annähern? | 214 Das ›Antlitz‹ der Architektur | 222
E PILOG | 225 Literatur | 229 Abbildungsnachweis | 247 Dank | 249
Erster Teil: Wo sind die Häuser geblieben? Das ›Ansich‹ und ›Fürmich‹ von Architektur
»[...] Bringt doch der Wanderer auch vom Hange des Bergrands nicht eine Hand voll Erde ins Tal, die Allen unsägliche, sondern ein erworbenes Wort, reines, den gelben und blaun Enzian. Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus, Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, – höchstens: Säule, Turm … aber zu sagen, verstehs, oh zu sagen so, wie selber die Dinge niemals innig meinten zu sein. [...]« R AINER M ARIA R ILKE . D UINESER E LEGIEN . D IE N EUNTE E LEGIE (A USSCHNIT T).
Wenn eine architekturtheoretische Schrift von der Frage eingeleitet wird: Wo sind die Häuser geblieben?, dann deutet dies bereits darauf hin, dass uns das scheinbar Einfache, Wesenhafte und Ursprüngliche an einem ›Haus‹ im einundzwanzigsten Jahrhundert verloren gegangen sein mag. Es scheint, als habe sich unser ureigenes Verhältnis zu den Dingen des Lebens, zu denen als alltäglicher Rahmen insbesondere die Architektur zählt, gelöst von dem, »wie selber die Dinge [...] meinten zu sein«1 , zugunsten einer auf Besonderheit, auf Unverwechselbarkeit ausgerichteten Gestaltung, die unsere Umwelt zunehmend bestimmt. Die Eindeutigkeit, die Bestimmbarkeit, ja die Benennbarkeit der Dinge ist nicht mehr von ihnen selbst her gegeben. Doch war sie es je? Das Verhältnis des Menschen zu den Dingen wird doch zumeist nur in einer Richtung gesehen: 1 | Rainer Maria Rilke. Duineser Elegien (1922). Die neunte Elegie (Ausschnitt).
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ausgehend vom Menschen als dem Schöpfer der Dinge, als deren Urheber. Immer neue Dinge, neue Gedanken und Ideen bringt der Mensch hervor, und doch befriedigt unser gestalterisches Tun nicht gänzlich, so dass sich das Neue immer auf Besonderheit und Andersartigkeit hin auszurichten scheint. Wie ›frei‹ aber darf architektonische Gestaltung sein? Wie ist es um die Selbstbestimmtheit, das Selbstverständnis der Dinge der Architektur bestellt? Um mit Rilke zu fragen: Wie meinten denn ursprünglich die Dinge selber zu sein, unabhängig davon, wie wir heute mit ihnen Umgang pflegen? Den einfachen Bezug zu einer Selbstverständlichkeit in den Dingen unserer gebauten Umwelt haben wir ganz offensichtlich mit unserer auf das ›Besondere‹ hin ausgerichteten Gestaltintention aufgegeben. So hat nun auch für die Architektur Gültigkeit, was Theodor W. Adorno (19031969) in seiner Ästhetischen Theorie für die Kunst beschreibt: »Zur Selbstverständlichkeit wurde, dass nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist.«2 Adornos Ausspruch können wir heute auf alle Disziplinen der Gestaltung übertragen. In der Diskontinuität der nachmodernen Gesellschaft gewinnt die Frage nach der ›Identität von Architektur‹ damit an Wichtigkeit und an Komplexität. Können wir in dem bestehenden Stilpluralismus der Nachmoderne noch sagen, was das ›Richtige‹ in der Architektur ist? Ist es das, was besonders ›schön‹ ist? – Sogleich müssen wir feststellen, dass es keine einheitlichen Regeln mehr gibt, die bestimmen, was als ›schön‹ gelten kann. Ist es dasjenige, was gerade ›neu‹ ist, und was für eine gewisse Zeit die ästhetische Aufmerksamkeit für sich beanspruchen kann? – und was umgehend vom nächsten ›Neuen‹ angelöst wird. Vielleicht müssen wir schlicht eingestehen, dass uns für eine ernsthafte Beurteilung von zeitgenössischer Architektur die Parameter abhanden gekommen sind – diejenigen Parameter nämlich, welche die Dinge der Architektur selbst betreffen, ihre Bezugnahme und Wechselwirkung zu dem Begriff, den wir ihnen geben und dem Bild, welches wir uns davon machen. Denn wo finden wir aktuell noch eine architektonische Gestalt, die selbst-verständlich ist, die ihre Form aus der Logik und Gesetzmäßigkeit ihrer selbst bezieht und nicht aus einem Modus der Kombination von bewusst fremden Formen, von metaphorischen Begriffe oder von entlehnten Bedeutungen im gestalteten Objekt? Von einem allgemeingültigen Verständnis, wie zu bauen, wie zu gestalten sei, sind wir heute weiter ent2 | Theodor W. Adorno. Ästhetische Theorie. Frankfurt/Main 1970. S.9.
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fernt denn je. Hinter dem zeitgenössischen Streben nach immer neuen, anderen, noch nie dagewesenen Formen steht dabei der Gedanke, eine aktuelle, eine neue Baukunst könne nur in neuen Formen ihren Ausdruck finden. Befördert wird der Gedanke der neuen Form durch eine »Kunstund Architekturgeschichte, die das Bauen der Vergangenheit [...] nahezu ausschließlich anhand formaler Zeiterscheinungen als ›Stile‹ beschreibt«3 . Diese Sichtweise eines vereinfachenden Stildenkens sucht aber das Werk weniger aus der Logik der inneren Gesetzmäßigkeiten im Bau zu beschreiben als durch formale Besonderheit. Dieses Stil- und Formdenken scheint von vornherein auf Differenz hin ausgerichtet zu sein, auf gestalterische Unterscheidung, die das eine Werk vom anderen sowohl zeitlich wie auch ästhetisch abhebt. Dem architektonischen Werk, einst so selbstverständlich, dass die Baumeister der mittelalterlichen Kathedralen für deren Errichtung nicht einmal einen Plan benötigten, ist seine ursprüngliche Selbstbezogenheit verloren gegangen zugunsten einer immer präsenteren Subjektbezogenheit, in der sich die Architekten durch eine erkennbare ›Handschrift‹ ihrer speziellen Autorenschaft versichern wollen. Wem aber ist das architektonische Werk verpflichtet: dem Wesen seines Inhaltes oder dem Willen seines Schöpfers? Sowohl für das Gestalten von Architektur wie auch für das Lesen von Architektur ist es notwendig, eine Basis für die hier angelegte Differenz zwischen Selbstbezogenheit und Subjektbezogenheit herauszuarbeiten. Eine aktuelle architektonische Werktheorie kann damit nicht allein auf formalen oder stilistischen Entgegensetzungen basieren, sondern muss versuchen, hinter der konkret wahrnehmbaren Form die verborgene Intention des Entwerfers zum Werk herauszustellen. Leitmotivisch lässt sich diese Intention als Frage nach dem ›Ansich‹ oder dem ›Fürmich‹ von Architektur formulieren. Der hier geführte Diskurs zielt damit auf die Frage nach dem Ursprung von Architektur: liegt dieser in der Architektur als Natur der Disziplin selbst begründet oder ist der Mensch als Herstellender der Häuser auch verantwortlich für den Kern der Architektur? Gibt es also ein vorprädikatives Sein von Architektur, ein architektonisches ›Ansich‹, oder basiert Architektur als ein vom Menschen gemachtes Werkganzes auf einem subjektbezogenen ›Fürmich‹? Der Blickwinkel eines ›Ansich‹ von Architektur fragt also nach einer in sich selbst begründeten Verfassung des eigentlichen Seins von 3 | Gisberth Hülsmann. Die »ersten Bilder« der Architektur. In: Emil Steffann. Bielefeld 1981. S.6.
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Architektur, unabhängig von der Bestimmung durch den Menschen in seiner mutmaßlichen Freiheit als gestaltender Schöpfer. Die Sichtweise eines ›Fürmich‹ von Architektur bezieht sich dagegen auf den Ausdruck eines Bauwerkes. Gestaltung dient damit dazu, ein ästhetisches Erlebnis im Betrachter anzuregen, und in der hierin angelegten Offenheit werden dem architektonischen Werk durchaus auch Inhalte unterlegt, die mit dem Wesen der Architektur nicht ursächlich übereinstimmen müssen. Die Frage nach dem Selbstverständnis von Architektur zwischen ›Ansich‹ und ›Fürmich‹ ist gleichbedeutend mit der Befragung einer ›Metaphysik von Architektur‹: woher kommt die Architektur, worin liegen Bestimmung und Sinn von Architektur? An diese Grundfrage schließt sich ein Fächer von allgemeinen und aktuellen architektonischen Aspekten an, die einleitend im Ersten Teil dieses Bandes behandelt werden sollen: Es sind dies Ň die Frage nach dem so zu nennenden Avantgarde-Syndrom in der aktuellen Architektur, das die architektonische Gestaltung im Modus einer ästhetischen Distanz zu beherrschen scheint; Ň die Frage nach dem ›Lesen‹ des architektonischen Werkes, das sich in dem Verhältnis von Repräsentation und Präsenz wiederfindet; Ň die Gegenfrage nach dem inneren Gesetz von Architektur, der Idee-vonHaus, und nach der unumgänglichen Wechselwirkung von Dinglichem, Bildlichem und Begrifflichem im architektonischen Werk, was hier als das ›Identische von Architektur‹ thematisiert werden soll. Gehen wir diesen Themen in der Folge nach, um auf diese Weise in den Diskurs zur ›Identität von Architektur‹ einzuführen.
Zur ästhetisierenden Gleichbehandlung von Kunst und Architektur: Avantgarde-Syndrom und ästhetische Distanz Vergegenwärtigen wir uns, in welchen verschiedenen Formen uns ein Haus seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert begegnet: wir kennen das Haus als »Maschine«, als »Kiste«, als »Schnecke«, als »Schiff«, als »Spirale«, als »Möbiusband«, als »Skulptur«. Die Liste der metaphorischen Ersatzbegriffe für den architektonischen Entwurf ließe sich fast unbegrenzt fortsetzen. Woher aber rührt die vermeintliche Offenheit in den gestalte-
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rischen Prinzipien der zeitgenössischen Architektur? In ihrer Grundlage basiert sie auf der Tatsache, dass sich die Bilder und die Begriffe für die Architektur von den Dingen der Architektur gelöst haben: die tradierten Begriffe des Bauens haben in der Sprache der zeitgenössischen Architektur keine Gültigkeit mehr, genauso wie auch die verwendeten Bilder eher der Suche nach dem Unbedingt-Neuen verpflichtet zu sein scheinen als der Bezugnahme auf ihr ursprünglich Wesenhaftes. Denn woher kommen die Vor-Bilder für die architektonischen Entwürfe? Zumeist aus fachfremden Sparten, denn diese Übernahmen des ›Fremden‹ in die heimische Disziplin der Architektur liefern scheinbar automatisch das gewollte Ungewohnte, das Noch-nicht-Dagewesene, ganz so, als sei es Aufgabe des Architekten, die Architektur ständig neu zu erfinden.4 Die Methodik dieser Übernahme von Formen und Vorbildern aus einer Disziplin in eine andere erscheint vergleichbar mit dem Vorgehen in der Kunst der Moderne, wo seit dem späten neunzehnten Jahrhundert die phänomenologischen Gesetze bewusst herausgefordert wurden, um das subjektive Wahrnehmungserlebnis zu steigern. Wir können darin eine seit der Moderne praktizierte formale Gleichbehandlung von Architektur und Kunst erkennen. Dabei ist diese einheitliche Sichtweise auf die unterschiedlichen künstlerischen Disziplinen in der vieltausendjährigen Geschichte der Künste ein recht junges Phänomen: erst im achtzehnten Jahrhundert finden die verschiedenen Gattungen unter den einen Begriff die Kunst: »ein Begriff, der das Gemeinsame an allen Künsten hervorhebt.«5 Was ist deren Gemeinsames? Die Zusammenfassung der Künste begründet sich zum einen aus einer bewussten Differenzierung der ›künstlerischen‹ Tätigkeit von der des Handwerkers oder des Wissenschaftlers. Zum anderen entspricht der neue Begriff der einen 4 | Niklas Maak beschreibt in seinem Buch Der Architekt am Strand (München 2010) den Prozess in Le Corbusiers Gestaltfindung für die Wallfahrtskirche Notre-Dame-duHaut in Ronchamp (1955) und führt als Analogie die Form einer Seeschnecke an, die der Architekt bei einem Spaziergang am Strand findet. Das zufällige Finden des Schneckengehäuses im Sand wird so zum poetischen »Erfinden« einer neuen Bauform: »Ronchamp und das, was zu diesem Denkgebäude führte, erzählt auch die Geschichte des Entwerfens neu: Was ist und wie funktioniert ›Erfinden‹?« (A.a.O. S.28). Die Begründung dieser Entwurfsmethodik auf der Zufälligkeit des Findens fordert geradezu die Gegenfrage nach der Notwendigkeit unserer Suche nach immer neuen Formen in der Architektur heraus. 5 | Uta Kösser. Ästhetik und Moderne. Erlangen 2006. S. 108.
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Kunst auch der aufkommenden Sichtweise auf ›die Geschichte‹ als einer Entwicklung hin zum Höheren und Besseren, die jeweils alle gestaltenden Disziplinen einer Zeit unter einem gemeinsamen Prinzip zu vereinen sucht. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) fasst so in seiner Ästhetik (1842), der von ihm so benannten Philosophie der Kunst, das gesamte künstlerische Schaffen des Menschen in drei sukzessive sich weiterentwikelnden Phasen zusammen, der »symbolischen«, der »klassischen« und der »romantischen Kunstform«, in der die einzelnen Gattungen jeweils parallel zueinander ihren Platz finden. Was die drei Kunstformen miteinander vereint, beschreibt Hegel als das eigentliche Ziel der Kunst, nämlich die Findung der »Wahrheit«. Nach Hegel sei die Kunst dazu berufen, »die Wahrheit in Form der sinnlichen Kunstgestaltung zu enthüllen, jenen versöhnten Gegensatz darzustellen«, so dass sie »somit ihren Endzweck in sich, in dieser Darstellung und Enthüllung selber habe.«6 Worauf richtet Hegel also die Kunst aus? Auf eine ›in sich‹ liegende Darstellung, die auf Wahrheit ›an sich‹ zielt und dabei den Menschen als Einzelnen anspricht, sich also nicht mehr auf einen allgemeinen Gemeinsinn beruft. »Die Kunst soll der Erziehung und Bildung, der Emanzipation und dem Vergnügen des bürgerlichen Subjekts dienen, das sich als Menschheitssubjekt begreift«, mit dem Ziel, »einer zunehmend differenzierten Welt, die das Individuum einseitig beansprucht, ein Versprechen von Ganzheitlichkeit zu geben.«7 Der gemeinsame Gedanke der ›einen‹ Kunst zeigt jedoch auch formale Auswirkungen für die einzelnen Gatttungen: »Sobald die Kunst ihren Singular an die Stelle des Plurals der schönen Künste stellt und [...] einen Diskurs hervorruft, der sich Ästhetik nennen wird, löst sich dieser Knoten [...], der sich Mimesis oder Repräsentation nannte, auf.«8 Während nämlich die einstigen ›schönen Künste‹ unter dem Prinzip der Mimesis ihre je eigenen Darstellungsweisen hatten, verpflichtet die Sichtweise der ›einen‹ Kunst die verschiedenen Disziplinen – gewollt oder ungewollt – zu einer einander angenäherten Formensprache. Jugendstil, Expressionismus, aber auch die abstrakte Moderne stellen sich so als formal ähnliche Ausdrucksweisen der verschiedenen Kunstgattungen dar, für deren Ähnlichkeit der gemeinsame Nenner des ›Stiles‹ einer Zeit die Begründung liefern soll. Hat nicht 6 | G. W. F. Hegel. Ästhetik. Band I (1842). Berlin/Weimar 1965. S.64. 7 | Kösser. Ästhetik und Moderne (wie Anm. 5). S.111f. Kursiv im Original. 8 | Jacques Rancière. Das Unbehagen in der Ästhetik. Wien 2007. S.17.
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aber jede Disziplin ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, auf die sich ihre Formensprache ursprünglich gründete? Eine der wenigen Stimmen, welche die Architektur vehement zu einer Bezugnahme auf die eigene Disziplin auffordert, ist die von Adolf Loos (1870-1933), der in seinem Aufsatz Architektur zur strikten Trennung der Disziplinen Kunst und Architektur auffordert: »Das haus hat allen zu gefallen. Zum unterschiede vom kunstwerk, das niemandem zu gefallen hat. [...] So hätte also das haus nichts mit kunst zu tun und wäre die architektur nicht unter die künste einzureihen? Es ist so. Nur ein ganz keiner teil der architektur gehört der kunst an: das grabmal und das denkmal.«9 Weit geläufiger als dieser disziplinierende Blick erscheint die entgegengesetzte Sichtweise, die für das künstlerisch ›Freie‹ im architektonischen Entwurf argumentiert. Sie verpflichtet die Architektur zur Umsetzung einer gebauten Reflexion dessen, was sich an gesellschaftlicher Veränderung in der Welt zeigt: als Ausdruck der bestehenden politischen, ökonomischen, ökologischen oder ästhetischen Bedingungen; Architektur müsse also den unleugbaren Wandel der Zeiten in einer entsprechenden Form sichtbar gestalten. Zum einen wird Architektur damit – quasi parallel zur Kunst – als Medium des gesellschaftlichen Wandels instrumentalisiert, umgekehrt eröffnet die Forderung nach stetem sichtbarem Wandel dem Entwerfer die von ihm selbst beschworene Freiheit der Gestaltung. Ist aber Architektur nicht zuvorderst Architektur und damit Lebenwelt, und nicht ein wie auch immer geartetes gesellschaftliches Medium? In der Sichtweise der Architektur-Medialisierung wird ein allgemeines Avantgarde-Streben zum verpflichtenden Denken in der architektonischen Gestaltung gemacht, was sowohl dem Sein von Architektur entgegensteht, wie es auch dem Sein von Avantgarde in ihrem eigentlichen Sinne widerspricht. Denn »was immer das Avantgarde-Prinzip sonst besagt –: Es enthält ja die Selbstverpflichtung zur innovatorischen Überbietung der Vorläufer in der künstlerischen Produktion.«10 In ihrem Prinzip der Verallgemeinerung des Avantgardestrebens scheint also die Ästhetik der Moderne im frühen zwanzigsten Jahrhundert die Gestaltung in ihren verschiedenen Sparten zu verabsolutieren. Sie untersteht dem Paradigma einer Ästhetik des Neuen, die je auf dem Gegenbild zum Bestehenden basiert: ausgehend von der Kunst der Moderne zieht diese auch die moderne Architektur in 9 | Adolf Loos. Architektur (1909). In: Ders. Trotzdem. Wien 1988 (Neuauflage). S.90-104. Hier: S.101. Kursiv im Original. 10 | Herrmann Lübbe. Im Zug der Zeit. Berlin, Heidelberg 2003. S.92.
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ihren Bann. Oder gibt es eine andere Begründung für die Loslösung der modernen Architektur von ihrer tradierten Formensprache als ihr bewusstes Streben hin zu einer gestalterischen Autonomie, vergleichbar mit dem zeitlich etwas früher vollzogenen Aufbruch der modernen Kunst? Was in dem verallgemeinernden Gestaltwillen der Moderne, in ihrem »Kunstwollen«11 übersehen wird, das ist die Frage, ob Kunst und Architektur überhaupt gleichermaßen zur Avantgarde fähig sind. Müssen wir nicht eher von einer grundsätzlichen Wesensdifferenz zwischen den beiden Disziplinen ausgehen? Die Avantgarde der Kunst arbeitet an der »Abschaffung von Gewissheiten«12; sie sucht damit die Gesellschaft grundlegend zu hinterfragen. In ihrem Streben nach gesellschaftlicher Un-Gewissheit kann ihr Zielpunkt nur das einzelne Subjekt sein, das Individuum. Im Gegensatz dazu ist Architektur in ihrem Kern gesellschaftlich gebunden, sie kann sich – ganz unabhängig von ihrer Form – einer Gewissheit nicht entziehen, und sei es die der schlichten Orientierung des Menschen; sie ist damit grundsätzlich »affirmativ«13 . Gesellschaftlicher Sinn (von Architektur) und künstlerischer Eigensinn (von Kunst) stehen also gegeneinander. Übertragen wir das Avantgarde-Streben der Kunst nun formal auf die Architektur, so vollzieht sich die aus der Kunst entlehnte Bezugnahme auf das subjektive Empfinden im Erleben eines Werkes nur zu dem Preis der Aufgabe des charakteristischen Selbst der Disziplin – das ist der Preis für das umgreifende Avantgarde-Streben. Der Glaube an die Kraft der Avantgarde der Moderne hat dabei in kürzester Zeit in allen gestaltenden Disziplinen so viele Neubewertungen vorgenommen, dass sich das Publikum nun von den Schaffenden abwendet. Die Allgegenwärtigkeit der Avantgarde lähmt deren eigentliches Potential, es macht sie zu einem zahnlosen Tiger. War das ›Neue‹ als kulturelle Innovation einst Ausdruck einer »Umwertung 11 | Der Begriff des »Kunstwollens« geht auf Alois Riegl (1858-1905) zurück. Mit diesem Begriff sucht Riegl über die Epochen hinweg Gestaltung als künstlerische Formgebung zu begründen, die frei ist von gesellschaftlichen Werten. Siehe dazu: Alois Riegl. Die spätrömische Kunstindustrie. Darmstadt 1992. 12 | Werner Spies. Die Moderne. 1930-1940. In: Art. #7/2009. S.78-83. Hier: S.80. 13 | Christian Kühn. Minimalismus. Politik: »Architektur ist [...] in der Regel affirmativ, entweder indem sie die bestehenden Mächte direkt bedient, oder indem sie das Bild einer besseren Ordnung zum Schein verwirklicht und damit die bestehende Gesellschaft vom Druck der auf Veränderung gerichteten Kräfte entlastet.« In: Centrum. Jahrbuch für Architektur und Stadt 2001-2002. Darmstadt 2001. S.157.
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der Werte«14 , so begegnet das Publikum diesem ständig Neuen heute mit einer »Entwertung der Umbewertungen«15 . Beispielhaft zeigt sich dies in den »Biedermeierpossen« um die Wiederaufbaupläne von Stadtschlössern und Kirchen in Berlin, Braunschweig, Dresden oder Leipzig. Denn wenn schon das Neue so schnell veraltet, dann kann man auch gleich wieder auf das Alte setzen, welches dann weniger schnell veraltet; denn wie der Volksmund weiß, gibt es nichts Älteres als das Neue von gestern. Das gestalterische Prinzip hinter diesem Avantgarde-Denken liegt in dem Mittel der »ästhetischen Distanz«. Der Begriff beschreibt die differenzierte Wahrnehmung von Schein und Wirklichkeit, von Repräsentation und Präsenz. Damit wird das Ästhetische aus seiner Bezogenheit auf das Ding gelöst und auf die Wahrnehmung des Besonderen beim Einzelnen gelenkt. Ästhetik wird damit zu einer bewussten Konstruktion des ›richtigen‹ Lesens, »Distanz ist ihr zentral um der Anschauung selbst willen.«16
Zum Lesen des architektonischen Werkes: Präsenz versus Repräsentation Wie ›lesen‹ wir ein Werk der Architektur? Lesen wir es anders als ein Werk der bildenden Kunst? Die Frage hat zwei Antworten. Zunächst ist festzustellen, dass unsere Wahrnehmung nach bestimmten anthropologischen Konstanten abläuft. Auf diese greift unsere Wahrnehmung im Sinne des ›Erkennens‹ zurück – unabhängig davon, wie einfach oder wie schwierig ein Gegenstand jeweils zu dechiffrieren sein mag: jedem Objekt in unserer Lebenswelt treten wir mit den selben Konstanten unserer Wahrnehmung entgegen. Mit anderen Worten: der Welt, die wir jeden Tag sehen und zu verstehen versuchen, begegnen wir mit einer Konstante im Wahrnehmen, weil wir uns sonst in ihr nicht zurecht finden könnten; es ist die Konstante des »Wiedererkennens« dessen, was wir bereits kennen. Hans-Georg Gadamer (1900-2002) stellt heraus, dass das Wieder-Erkennen den geistigen Prozess innerhalb der Wahrnehmung 14 | Boris Groys. Über das Neue. München 1992. S.74. 15 | Konrad Boehmer. Über das Chaos. Interview von Alexander Gorkow. Süddeutsche Zeitung Nr.278, 29./29.11.2008. Seite VIII. 16 | Konrad Paul Liessmann. Ohne Mitleid. Zum Begriff der Distanz als ästhetische Kategorie mit ständiger Rücksicht auf Theodor W. Adorno. Wien 1991. S.230.
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eines Werkes und seines ›Verstehens‹ bestimmt. Dieses Wieder-Erkennen lässt sich als ein Frage-Antwort-Modus der Wahrnehmung auffassen, als das wechselseitige Befragen der aktuellen Wahrnehmung und der bereits als ›Bekanntes‹ abgespeicherten Erkenntnis: »Was ist das, was verstanden werden muss, und welche Frage ist es, auf Grund derer ein ›Werk‹ als Antwort verstanden werden kann? Man sollte auch in unserer Zeit, in der es so viel bemerkenswerte künstlerische Produktion auf dem Gebiet der informellen und der gegenstandslosen Kunst gibt [...], nicht bestreiten, dass das Wiedererkennen von etwas, so dass man es als das, was es ›darstellt‹, erkennt, ein Verstehensmoment im Betrachten darstellt.«17 Machen wir uns also bewusst, wie wir üblicherweise ein Bauwerk ›lesen‹: wir betrachten zunächst seine Form im Sinne eines orientierenden Wieder-Erkennens; daran anschließen mag sich im Sinne der »ästhetischen Distanz« das Befragen einer im Bauwerk zu offenbarenden Bedeutung, die über das eigentliche physische Seiende des Baus hinausgehen kann. Denn was stellt Architektur dar? Sie stellt ihr Selbst dar oder verweist auf Anderes. Im ersten Fall sprechen wir dann von einem sich selbst genügenden und selbstbezogenen Werk, in letzterem Falle sprechen wir von einer Abbildfunktion des Werkes im Sinne einer Referenz. Es ist dies die Ebene des Verweisenden, die den Betrachter auf der Basis seines Verstehens aus dem Hier und Jetzt herauslöst und in einen anderen Kontext stellt. Hinter der Frage nach der Darstellung geht es damit um die Differenz von darstellender Repräsentation und konkreter Präsenz der Wahrnehmung. In ihrem antiken Ursprung und auf der Basis ihrer philosophischen Gestalt-Idee ist Architektur als Gegenstand unsere Welt ein Seiendes, und darin ist sie Abbild eines bestehenden, göttlichen Seins. Sie ist, was sie darstellt, sie steht für eine Präsenz der Wahrnehmung: Der Tempel ist Tempel; seine Form ist bestimmt durch sein Tempel-Sein, nicht durch einen wie auch immer gearteten Gestaltwillen eines Baumeisters. Dieses Abbild des Tempelseins nimmt der antike Zeitgenosse als reine Präsenz wahr. In dieser Präsenz, die nur dem eigenen Wesen verpflichtet und ansonsten als bedeutungsfrei anzusehen ist, liegt die eigentliche ›Natur‹ von Architektur. Erst mit fortschreitender Kulturentwicklung erlangt die Repräsentation in der Architektur ein größeres Gewicht, so dass subjektive Parameter 17 | Hans-Georg Gadamer. Über das Lesen von Bauten und Bildern (1979). In: Ders. Gesammelte Werke. Band 8. Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage. Tübingen 1993. S.331-338. Hier: S.334.
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wie ›Ausdruck‹ und ›Empfindung‹ am architektonischen Objekt zu festen Größen einer nun differenzierten ›Identität von Architektur‹ werden. Während also im Laufe der Architekturgeschichte die architektonische Repräsentation im Sinne eines Bedeutungstransfers sukzessive in die Darstellungsform von Architektur aufgenommen wird, sucht die Bildende Kunst umgekehrt den Weg zur Präsenz hin. Denn Kunst ist in ihrem Ursprung Repräsentation, also eine Form der Wiedergabe der bestehenden Welt. Wenn die Architektur, die so genannte ›Mutter der Künste‹, sich nun aber formal immer mehr an der Repräsentation orientiert, entfernt sie sich notwendig mit fortschreitender Subjektverfassung des Menschen immer weiter von ihrem eigentlichen ›Selbst‹ zugunsten der Übernahme wesensfremder Attribute. Als solche Attribute wären zu nennen die Referenz als Verweis auf ein Anderes, die Ästhetik als sinnlich-subjektive Erfahrung im Wahrnehmen eines Objektes, das Erhabene als Unfähigkeit, sich einem Werk begrifflich nähern zu können, und dennoch von diesem eingenommen zu sein. Was wird dabei aus der Architektur in ihrem ›Selbst‹? Ist es nicht so, dass wir in den genannten Beispielen das Werk als solches nur als ein ›Moment-für-Anderes‹ verwenden, ihm seine eigene Präsenz aber immer weniger zuerkennen? Ist es nicht so, dass wir den Ausdruck eines architektonischen Werkes in seiner Repräsentation heute höher einschätzen als sein eigenes und eigentliches Sein? Auch in der Frage nach dem ›Lesen‹ des architektonischen Werkes gilt es also, Selbst- oder Subjektbezug der gestalterischen Idee zu untersuchen. Als Selbstbezug des Werkes ist die ›Idee‹ im platonischen Sinne als eine Allgemeingültigkeit durch Vernunftbezug zu denken. Der antike Baumeister sucht in einem zu gestaltenden Objekt das Selbst des Werkes aus einer gegebenen göttlichen ›Idee‹ herauszuschälen. Anders im Falle des Subjektbezuges im architektonischen Gestalten: hier sucht der Entwerfer das Selbst des Werkes aus der Interpretation durch das urteilende Subjekt hervorzubringen. Wir haben also zu unterscheiden zwischen einer grundlegenden ›Idee-von-Architektur‹ (ihrem ›Ansich‹) und einer auslegenden ›Idee-für-Architektur‹ (ihrem ›Fürmich‹); die ›Idee-von‹ zeigt sich in der Präsenz ihres Wahrgenommen-Werdens, die ›Idee-für‹ im repräsentierenden Lesen der Form, in ihrer Interpretation. Die Sicht auf die Differenz von Repräsentation und Präsenz ist dabei nicht zu trennen vom Umfeld eines Werkes, von dem konkreten Raum, in dem ein Werk sich befindet. Indem die Repräsentation grundsätzlich auslegenden Charakter hat, differenziert sie sich von der Wirklichkeit in ihrem eigentlichen Sein. Und auch die
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Räume, die dieser Repräsentation dienen, sind Räume, die sich von der profanen Lebenswelt unterscheiden: ein Museum, eine Galerie, ein Skulpturengarten – all dies sind repräsentierende Räume, denen wir je mit einer anderen Sensibilität der Wahrnehmung begegnen als einem Raum der alltäglichen Lebenswelt, wie z.B. einem Supermarkt. Hier fassen wir die vor uns liegenden Gegenstände als ›Waren‹ des täglichen Bedarfes auf, dort als ›Objekte‹ mit ästhetischem Charakter. Unsere Wahrnehmung vermag also zwischen den Dingen in musealen Räumen der Repräsentation und den Dingen der lebensweltlichen Präsenz im Sinne der bereits angesprochenen »ästhetischen Distanz«18 zu unterscheiden. Diese Differenzierung weist auf die Stellung eines Werkes zwischen seinen möglichen Polen der Zugehörigkeit zur Alltagswelt oder zur Kunstwelt hin, und damit zu seinem Sein der Präsenz oder der Repräsentation. Arthur C. Danto (*1924) sieht die Basis für diese Unterscheidung bereits in Kants Kritik der Urteilskraft (1790) grundgelegt, aus der hervorgehe, dass »es gegenüber jedem beliebigen Objekt zwei getrennt mögliche Einstellungen gäbe, so dass der Unterschied zwischen Kunst und Realität weniger ein Unterschied von Dingarten als von Einstellungsarten ist«19 , eben die Einstellung des 18 | Arthur C. Danto geht in seiner Schrift »Die Verklärung des Gewöhnlichen« (Frankfurt/Main 1984) auf das Phänomen der »ästhetischen Distanz« am Beispiel der Brillo Boxes (1964) von Andy Warhol ein: die formale Annäherung der Kunst auf die Lebenswelt habe umgekehrt eine notwendige intellektuelle Distanz im Sinne einer »ästhetischen Distanz« eingefordert, um einen entsprechenden Umgang mit dem Werk aufrechthalten zu können. Die »ästhetischen Distanz« impliziert damit eine WesensÄnderung des Werkes im Vergleich zu seinem Vor-Bild (zum Beispiel durch das Nutzen eines unterschiedlichen Mediums: Nachbau aus Pappe, Abbildung auf Plakaten, …). Sie nimmt dabei Bezug auf beide Seiten – auf die Kunstwelt und die Alltagswelt: ein »Etwas« aus der Lebenswelt wird in einem anderen Modus dargestellt bzw. repräsentiert (Kunstwelt), und dadurch zu einem Kunst-Werk. Gerhard Schweppenhäuser thematisiert die »ästhetische Distanz« als eine Möglichkeit des Geistes, dem Erhabenen eine eigene rationale Regung entgegensetzen zu können: »Das Erhabene überwältigt das Subjekt; aber gleichzeitig ermöglicht es ihm die Sicherheit der ästhetischen Distanz – und damit die Erfahrung, dass es sich als geistiges Wesen über das Erhabene erheben kann.« (Gerhard Schweppenhäuser. Die Fluchtbahn des Subjekts. Beiträge zu Ästhetik und Kulturphilosophie. Münster 2001. S.22.) 19 | Arthur C. Danto. Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst (1981). Frankfurt/Main 1984. S.46.
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›Ansich‹ des Dinges oder des ›Fürmich‹ der subjektiven Betrachtung des Dinges. Das wesentliche Kriterium für das ›Lesen‹ eines Werkes ist also sein Bezugsrahmen zum künstlerischen oder architektonischen Kontext, und notwendig bedarf es dieser Kenntnis des Kontextes, um sich dem Werk und seinem Selbst mit dem »Vergnügen« des Betrachtens und Verstehens annähern zu können: »Somit muss ein Wissen über die Erklärung des Vergnügens ebenso vorausgesetzt werden wie ein Wissen von der Identität der Quelle des Vergnügens. Und keines von beiden ist verfügbar, wenn der Begriff des Unterschieds zwischen Realität und Phantasie – oder Nachahmung – entweder noch nicht gebildet ist wie beim Kind oder unwirksam wie beim Verrückten.«20 Was Danto hier für die Wahrnehmung von Kunstwerken ansetzt, gilt in ähnlicher Weise für die Wahrnehmung von Architektur: das Haus darf sich in seiner Lesart nicht so weit von seinem Ursprung entfernen, dass wir orientierungslos wie ein Kleinkind der gebauten Welt ausgeliefert sind, nicht mehr fähig zur Unterscheidung, was das, was wir in unseren Städten wahrnehmen, eigentlich ist oder was es darstellt. Unabhängig von aller »ästhetischen Distanz« sollte Baukunst wesenhaft vermitteln, dass ihr als Kunstform der Präsenz »Weltzugehörigkeit unverrückbar anhaftet«21 .
Zur Frage nach dem inneren Gesetz von Architektur: die ›Idee-von-Haus‹ und das ›Identische von Architektur‹ Wo sind die Häuser geblieben? Der provokante Charakter der Frage ist offensichtlich, schließlich wohnen und arbeiten wir alle in Häusern. Was aber macht ein Haus zum Haus? Ist es allein seine Form, seine Wiedererkennbarkeit als klassisches ›Haus vom Nikolaus‹? – Wohl kaum, sonst gäbe es nicht es nicht die schier unbegrenzte Vielzahl an möglichen Hausformen. Ist umgekehrt aber die Architektur als Disziplin wirklich so frei, dass sich sämtliche (Vor-)Bilder zur architektonischen Formfindung verwenden ließen, egal ob sie aus der Kunst, der Biologie oder »aus der elektronischen Bearbeitung und Visualisierung von statistischen Daten«22 stammen? 20 | Danto. Die Verklärung des Gewöhnlichen (wie Anm. 19). S.37. 21 | Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode (1960). Tübingen 1972. S.150. 22 | Ákos Moravánszky. Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Wien 2003. S.7.
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Die Frage nach dem, was ein Haus eigentlich ist, muss sich als mögliche ›Identität von Architektur‹ auf das Selbst eines Hauses hinter seinem Erscheinen beziehen. Um an diese Ebene hinter dem Erscheinen vorzudringen, sollten wir daher fragen: Worin besteht die Idee von einem Haus? Die Frage nach der Idee-von-Haus macht deutlich, dass es unterschiedliche Zielrichtungen in der Ideenfindung eines Hauses geben mag: Will das Haus den Bauherren repräsentieren, will es von seinem Inhalt zeugen, will es den ›Stil‹ seiner Zeit oder die ›Handschrift‹ seines Entwerfers darstellen, oder will es auf die Prämissen und Wurzeln des Hausbaus selbst verweisen, auf den Ursprung von Haus als Behausung? Will das Haus also etwas ausdrücken, oder will es nur sein? Nur sein? Es scheint, als brauche es für das bloße Sein keine ›Idee‹. Denn in unserem alltäglichen Sprachgebrauch stellt die ›Idee‹ doch dasjenige dar, was das Besondere (das noch zu Erschaffende) vom Allgemeinen (dem bereits Bestehenden) unterscheidet. Doch sollten wir uns nicht vorschnell auf diese geläufige Funktion von ›Idee‹ berufen. Mit der Einführung des Ideenbegriffes stehen wir vor einer notwendigen Differenzierung der Bedeutung von ›Idee‹ im Laufe der Geistesgeschichte: es ist also gegenüberzustellen, welche Bedeutung der Begriff der ›Idee‹ im Ursprung der antiken Philosophie hat und wie wir ›Idee‹ demgegenüber heute verstehen, bzw. welchen Umgang wir mit diesem Begriff pflegen. Platon (ca. 427 – 347 v. Chr.) zeichnet in seiner ›Ideenlehre‹ und namentlich in dem so genannten ›Höhlengleichnis‹ ein Bild der Beziehung des Menschen zur Welt. Die sichtbaren Dinge der Lebenswelt sind in diesem Modell nur Schatten einer übergeordneten, göttlichen uÍÄÊ [idea = Idee], deren Abbilder vom eigentlichen Sein sich als ÎbÍØà [eidos = FormIdee] in den Schattenrissen abzeichnen. Martin Heidegger (1889-1978) versucht in seiner Schrift Vom Wesen der Wahrheit (1940) eine differenzierende Klärung dieser platonischen Begriffe von idea und eidos: Idea ist demnach dasjenige, was hinter dem Konkreten, das wir wahrnehmen, als das eigentliche Sein eines Dinges gilt, was sein Sein ausmacht; als eidos dagegen können wir dasjenige Urbild ansehen, welches der idea zur Form verhilft. Idea und eidos eines Hauses umschreiben also nicht die Wahrnehmung eines Hauses durch einen Einzelnen oder das einzelne Haus als solches. Idea und eidos beschreiben das dem Haus zugrunde liegende Sein-von-Haus, welches den allgemeinen Begriff von ›Haus‹ ausmacht: es ist die Bezugnahme des einzelnen Hauses auf seine ›Hausheit‹. In ihrer antiken Bedeutung haftet die idea als gegebene ›Idee-von-Haus‹ also dem
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Ding an, sie ist nicht wesenhaft dem Subjekt verpflichtet. Das eigentliche Sein eines Dinges, welches wir nicht sehen, sondern nur verstehen können, wird über den Anblick auf etwas in seiner erkennbaren Form kommuniziert. Die udea ist damit die Basis eines verstehenden Sehens: »Verstehen, was solches heißt, das ist nichts anderes als jenes Sehen des Anblickes, der uÍÄÊ. In der Idee erblicken wir das, was jedes Seiende ist und wie es ist, kurz: das Sein des Seienden. [...] Das Sehen der Idee, d.h. das Verstehen des Was- und Wie-seins, kurz des Seins, lässt uns überhaupt erst das Seiende als das jeweilige Seiende, das es ist, erkennen.«23 Was also ist die ›Idee-von-Haus‹? Auch die Architektur zielt in der ihr zugrundeliegenden ›Idee‹ auf das Sein, auf die Natur der Sache. Damit das Artefakt mehr ist als ein beliebiges Objekt, damit wir in der Architektur von einer ›Hütte‹ sprechen, nicht nur von einem ›Haufen Zweige‹, muss es mehr von sich darstellen als das, was es identifizierbar von sich geben kann: In seiner erkennbaren Form muss es über die Wahrnehmung des Materials oder seiner Einzelteile hinausgehen – es muss sein »Was-sein« offenbaren. Die Wahrnehmung einer ›Idee‹ bedeutet für uns damit das Erkennen einer vertrauten Ganzheit innerhalb einer gegebenen Mannigfaltigkeit von Welt: auch die einfachste Hütte stellt mehr dar als ein paar Baumstämme, sofern die Baumstämme darin die Sprache der grundgelegten ›Idee-von-Haus‹ sprechen. Zu dieser Frage nach der ›Idee‹ oder der ›Was-heit‹ dessen, was wir vor uns sehen, passt die Erzählung Pu baut ein Haus von Alan Alexander Milne (1882-1956), in der es der Autor versteht, den hier dargestellten platonischen Grundgedanken der ›Idee-von-Haus‹ in eine allgemein verständliche Geschichte zu kleiden (Abb. 1, S.24). Worum geht es? Pu der Bär will mit seinem Freund Ferkel ein Haus für den Esel I-Ah bauen, da dieser vermeintlich keines hat, und es schon Winter wird. Auf der Suche nach geeignetem Baumaterial finden die beiden Freunde »drüben auf der anderen Seite des Waldes einen Haufen Stöcke [...], alle aufgestapelt.«24 In diesem »Haufen Stöcke« sehen sie zwar das gewünschte Material zum Bauen, sie erkennen darin aber nicht das bereits bestehende Haus (»Haufen Stöcke«) des Esels, welches sie nun aus eben diesen Stöcken an anderer Stelle als ein für sie identifizierbares Haus in der entsprechenden Form aufbauen. 23 | Martin Heidegger. Vom Wesen der Wahrheit (1940). In: Ders. Gesamtausgabe. Band 34. Frankfurt/Main 1988. S.52. 24 | Alan Alexander Milne. Pu der Bär. Gesamtausgabe. Hamburg 2009. S.173.
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Abb. 1: Die ›Idee-von-Haus‹ als Übereinstimmung von Form und Wesen. © E. H. Shepard. Aus: A. A. Milne. Pu der Bär. Hamburg 2009. S. 182. Das ursprüngliche Haus von I-Ah wird also von Pu und Ferkel nicht im Sinne der ›Idee‹ einer Ganzheit ›Haus‹, sondern nur als Mannigfaltigkeit ›Stöcke‹ aufgefasst. Das von Pu und Ferkel neu gebaute Haus dagegen ist ein erkennbares ›Haus‹: es zeigt die ›Idee-von-Haus‹. In der Philosophie der Antike ist also die Frage nach der ›Idee‹ gleichlautend mit der Problematik: ›Was ist das Wesen von etwas?‹ und damit gleichbedeutend mit der Frage nach dem allgemeingültigen, übergeordneten Sein des entsprechenden Dinges hinter seiner fassbaren, wahrnehmbaren Gestalt. Die Frage nach der ›Idee‹ zielt auf nichts Geringeres als die ›Wahrheit‹. Dabei ist auch der Begriff der ›Wahrheit‹ in der Antike anders angelegt, als wir diesen heute verstehen: das altgriechische Wort für Wahrheit ist qÕÅÞÎÒÊ [aletheia], und das heißt ›Unverborgenheit‹; die aletheia ist quasi eine Wahrheit ex negativo, die nicht vom positivistischen Denken ausgeht als dem, was wir wissen, weil wir es bereits erfahren haben, sondern von dem, was trotz Hinwendung zur Wahrheit im Irdischen verborgen bleiben muss: »Die q-ÕÅÞÎÒÊ, die es zu erfahren gilt, ist selbst in ihrem Wesen in die ÕÅÞÑ [lethe = Verborgenheit] gegründet.«25 25 | Martin Heidegger. Parmenides (1942/43). In: Ders. Gesamtausgabe. Band 54. Frankfurt/Main 1982. S.185.
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Abb. 2: Die ›Idee-von-Stuhl‹ zeichnet sich ab in der Figur, die ein Sitzender von sich gibt – ohne den Stuhl. Wir können damit die antike Auffassung von ›Idee‹ fassen als das NichtSichtbare im Sichtbaren, als eine sich nur zögernd eröffnende (Un-)Verborgenheit, die auf die eigentliche Wahrheit hinter dem sichtbaren Seienden verweist: die ›Idee-von-Stuhl‹ zeichnet sich ab in der Figur, die ein Sitzender von sich selbst gibt – ohne den Stuhl (Abb. 2). In der Moderne wird dieselbe Frage nach der ›Idee‹ in der Gestaltung subjektiviert, sie wird gleichbedeutend mit einer persönlichen Eingebung. Die Frage ›Was ist Deine Idee?‹ zielt nun auf einen subjektiven ›Geistesblitz‹, der für ein gegebenes Problem eine besondere Lösung anbieten soll. Der Umgang mit der Welt der ›Ideen‹ kann damit auf seinem Weg von der Antike bis in die Gegenwart als ein Wandel vom Göttlichen hin zum Subjektiven, vom Metaphysischen hin zum Physischen, vom Gegebenen hin zum Vorstellbaren gedeutet werden. Einen wesentlichen Wandel hat der Idee-Begriff auf seinem Weg in seine moderne Subjektbezogenheit durch Immanuel Kant (1724-1804) erfahren. Im Rahmen seiner erkenntnistheoretischen Untersuchungen differenziert Kant die so genannte ›Vernunftidee‹ von der ›ästhetischen Idee‹ und weist den beiden Sphären unseres menschlichen Seins, dem rationalen Denken einerseits und dem sinnlichen Erleben andererseits, jeweils ein eigenes Ideenmuster zu. Ratio und Sinnlichkeit sind nach Kant die beiden einzigen, gleichberechtigten und voneinander abhängigen Quellen der Erkenntnis von Welt. Die Wechselbeziehung zwischen den beiden Erkenntnisformen des Verstandes, der Begrifflichkeit und der Sinnlichkeit, hat Kant auf die Formel gebracht: »Gedanken ohne Inhalt sind
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leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.«26 Insofern geht es Kant um die Verdeutlichung des wechselseitigen Aufeinander-Aufbauens, ohne die eine der anderen Eigenschaft vorzuziehen: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden.«27 Aus der Unterschiedlichkeit der beiden Erkenntnisvermögen heraus differenziert Kant nun zwei Ideenmodelle. Während sich der ›Verstand‹ an den sinnlich wahrgenommenen und wahrnehmbaren Erscheinungen orientiert, bezieht sich die ›Vernunft‹ auf die Totalität des Denkbaren und Erkennbaren, auf das vermeintliche ›Absolute‹. Diese objektive Form der Idee, die so genannte »Vernunftidee«, ist für Kant ein »indemonstrabler Begriff«28 . Sie ist auf einen allgemeinen, abstrakten Wert bezogen und kann damit nie die Erkenntnis eines Gegenstandes abgeben. Die ›Idee‹ in der Vernunftebene kennt keine konkrete Verkörperung, sie ist ein Relativum, sie bedarf nicht eines Bildes zum eigenen Gebrauch, ja: ihrem Wesen ist kein Bild zugehörig, es ist bestenfalls ein Analogon zum Zwecke einer Verständigung. So ist z.B. der Begriff des ›Guten‹ gekennzeichnet von einer Vorstellung, die sich nicht wesenhaft am Bildlichen orientiert. Der sinnlichen Verstandesebene dagegen weist Kant einen anderen Ideenbegriff zu: Es ist der Begriff der »ästhetischen Idee«. Diese ist als eine »inexponible Vorstellung der Einbildungskraft«29 das hervorbringende Pendant zum ›reinen‹ Begriff der Vernunftidee: »Die ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit der Teilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, dass für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, der also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzu denken lässt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet.«30 Der Begriff der »ästhetischen Idee« beschreibt damit etwas Bildlich-Vorstellbares, das sich einer nachweisbaren, nachvollziehbaren Identität durch Begrifflosigkeit entzieht – und was gerade dadurch 26 | Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft (1781). In: Ders. Werkausgabe in 12 Bänden. Band III. Wiesbaden 1957. S.98. 27 | Ebd. 28 | Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft (1790). In: Ders. Werkausgabe in 12 Bänden. Band X. Wiesbaden 1957. §57. S.285. 29 | Ebd. 30 | Ebd. §49. S.253.
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vom Einzelnen mit einem ästhetischen Urteil belegt werden kann, denn »schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt.«31 Die »ästhetische Idee« ist also an das ›Schöne‹ gekoppelt, welches nun allerdings als Gegenpol zur allgemeingültigen »Vernunftidee« dem Geschmack des Einzelnen überantwortet ist. Was ›schön‹ ist, bestimmt nicht mehr die gesellschaftliche Norm, sondern das subjektive Empfinden, welches damit ›Schönheit‹ nicht mehr als eine zu erreichende Größe annimmt, sondern unter ein subjektives ›Urteil‹ stellt. Diese »Urtheilskraft«, die Kant als ein »Mittelglied zwischen dem Verstande und der Vernunft«32 definiert, zielt dabei nicht auf ein »Erkenntnisurteil, [ist] mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann«.33 Unsere Frage nach der ›Idee-von-Haus‹ führt in der Geistesgeschichte des Menschen also vom objektiv Gegebenen zum subjektiv Ästhetischen. Die ›Schönheit‹ eines Gegenstandes im platonischen Sinne findet sich in seinem Ansich, während der Kantische Begriff des ›Schönen‹ das Wahrgenommene als Fürmich kraft eigenen Urteils auffasst. Mit dem Fürmich der ›ästhetischen Idee‹ beginnt die Wesensänderung vom Ansich der Erkenntnis der ›idea‹ hin zu einem eigenen, subjektiven ›Hervorbringen‹. In jedem Objekt unserer Anschauung gilt es nun, dessen vernunftbezogenen Anteil vom ästhetisch-sinnlichen Anteil zu differenzieren. Nehmen wir als Beispiel das ›Haus‹: die Vernunftebene begreift ›Haus‹ als ein Programm des schützenden ›Gebrauches‹ gegen die Natur sowie des rationalen Einsatzes der verwendeten Mittel.34 Die Sinnesebene dagegen sieht im ›Haus‹ die Sammlung der bereits erfahrenen sinnlichen Erkenntnisse von ›Haus‹. Beide Ebenen kommunizieren miteinander und suchen nach Kant eine 31 | Kant. Kritik der Urteilskraft (wie Anm. 28). § 9. S.134. Siehe auch §6. S.124. 32 | Ebd. Einleitung III. S85. 33 | Ebd. § 1. S.115. 34 | So hat Kant im Zweiten Teil seiner Kritik der Urteilskraft, der Teleologischen Urteilskraft, auf die Kausalverknüpfung der Endursachen (»nexus finalis«) einer Handlung hingewiesen, und diese mit dem Bau eines Hauses und der zu erwartenden Miete praktisch begründet: »Im Praktischen (nämlich der Kunst) findet man leicht dergleichen Verknüpfung, wie z. B. das Haus zwar die Ursache der Gelder ist, die für Miete eingenommen werden, aber doch auch umgekehrt die Vorstellung von diesem möglichen Einkommen die Ursache der Erbauung des Hauses war.« Aus: Kant. Kritik der Urteilskraft (wie Anm. 28). §65. S.320.
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gemeinsame Lösung in der Synthesis zwischen Ratio und Sinnlichkeit, zwischen dem Rational-Begrifflichen mit dem Sinnlich-Bildlichen vor dem gegebenen Dinglichen. Die Architektur hat im Laufe ihrer Geschichte diesen Ebenen von Ratio und Aisthesis ein je unterschiedliches Gewicht zuerkannt – und aus dieser unterschiedlichen Gewichtung heraus hat sie unterschiedliche Konzeptionen ihrer Gestaltung geschaffen. Die vorliegende Schrift versucht nun, die je bestehende Ausdrucksform von Architektur (das Abbild ihrer ›ästhetischen Idee‹) mit der Fiktion eines Urseins von Architektur (ihrer platonische ›Idea‹) zu verknüpfen: Architektur einerseits als Ursprung im Sinne einer ›Naturgesetzlichkeit‹, andererseits als andauernde Wandlung vom objektiven Ursprung hin zum subjektiven Gestalten. Die Basis dieser architektonischen Werktheorie bildet der Begriff des ›Identischen von Architektur‹. Er beschreibt die ursprüngliche ›Naturgesetzlichkeit‹ von Architektur auf der Basis einer Übereinstimmung zwischen Begrifflichem, Bildlichem und Dinglichem im Artefakt. Die bestimmenden Parameter des ›Identischen‹ sind das objektbezogene Dingliche – wie das Objekt ist –, das subjektbezogene Begriffliche – wie es der Mensch benennt –, und das sowohl objekt- wie subjektbezogene Bildliche – wie es erscheint. Das ›Identische‹ beschreibt damit das Gleichbleibende von Architektur, das selbst nie konkret werden kann: die Syntax von Architektur. Im ›Identischen‹ ist das Voraussetzende von Architektur beheimatet. Ihre bildlichen, begrifflichen und dinglichen Parameter erzeugen für den Betrachter erkennbare Objekte und strukturieren die Welt, die wir wahrnehmen. Der Begriff des ›Identischen‹ meint dabei nicht die tatsächliche ›Gleichheit‹ von einem Haus zu einem anderen. Der Begriff des ›Identischen‹ befragt vielmehr, was Haus und Haus in ihrer Gesamtheit als Architektur trotz notwendig bestehender Unterschiedlichkeiten in ihren verschiedenen Ausdrucksweisen immanent miteinander verbindet – und dies betrifft die Frage der Bezugnahme eines Entwurfes auf das Dingliche, Bildliche und Begriffliche im architektonischen Werk in ihrer je architekturbezogenen Charakteristik. Darauf aufbauend können wir die ›Identität von Architektur‹ als Differenz vom architektonisch ›Identischen‹ (ihrem Ursein) in Richtung Ratio oder Aisthesis bestimmen. ›Identität von Architektur‹ ist die konkrete Ausformulierung des ›Identischen‹ unter bestimmten inhaltlichen Differenzierungen jeweils im Dinglichen, im Bildlichen oder im Begrifflichen.
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Wie wir sehen werden, setzt jede Epoche hier einen eigenen Schwerpunkt im Sinne einer spezifischen Konzeption der Identität von Architektur, in der sich die Gestaltung einer Zeit als Ausdruck ihrer geistesgeschichtlichen Paradigmen verkörpert. Die im dritten Teil des Buches dargestellten Zentralen Konzeptionen der Identität von Architektur weisen die unterschiedlichen entwerferischen Reaktionen auf der Basis des Modells des ›Identischen‹ aus, was sich dann in der Identität des Selben, des Ähnlichen, des Autonomen oder des Anderen von der Antike über den Humanismus und die Moderne bis hin zur Postmoderne konkretisieren wird.
Zum Geleit: Architektur zwischen Sein und Ausdruck Richard Sennett (*1943) sagt: »Wenn Menschen Dinge herstellen, wissen sie meist nicht, was sie tun.«35 Diese gleichermaßen lakonische wie pessimistische Aussage möchte ich für das Herstellen von Architektur konkretisieren: wenn Menschen Gebäude herstellen, wissen sie nur dann, was sie tun, sofern sie sich ihrer Konzeption hinter dem Herstellen bewusst sind. ›Konzeption‹ ist aufzufassen als das nachvollziehbare Handeln im architektonischen Gestalten unter Berücksichtigung der Beziehung von Dinglichem, Bildlichem und Begrifflichem im architektonischen Werk – dem ›Identischen‹. Die vorliegende Auseinandersetzung ist aufzufassen als eine Betrachtung von Architektur zwischen ›architektonischer Identität‹ im Werk und ihrem Verhältnis zum ideellen Ursein von Architektur, dem ›Identischen‹. Sie zielt darauf ab, gegenüber der geläufigen Betrachtung und Einordnung eines Werkes in ›Stilen‹ eine Sichtweise vorzustellen, die das Werk unabhängig von seiner Entstehungszeit als Intention zu dem Selbst seiner Disziplin auffasst. Die hier vorgestellte architektonische Werktheorie stellt so die Frage nach dem Bezug des Werkes zum ›Ansich‹ oder zum ›Fürmich‹ von Architektur in den Mittelpunkt ihres Diskurses: Will sich das architektonische Werk auf den Menschen, das Subjekt seiner Anschauung, ausrichten und darin einen möglichen Ausdruck darstellen, oder will es das Selbst seiner eigenen ›Idee‹, das eigentliche Sein von Architektur, verkörpern? Der grundlegenden Frage nach Sein oder nach Ausdruck im Werk
35 | Richard Sennett. Handwerk. Berlin 2008. S.9
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wollen wir nachgehen im Sinne einer Gegenüberstellung von subjektgeprägter und selbstbestimmter Gestaltung von Architektur. Im Ersten Teil des Bandes ging es darum, eine Grundlage zum Verständnis des Ursprunges im architektonischen Gestalten sowie zur aktuellen Diskontinuität in der Formgebung herzustellen. – Im Zweiten Teil soll nun der für die Architekturtheorie neuartige Begriff des ›Identischen‹ in seinen konkreten, erfahrbaren und benennbaren Parametern des Dinglichen, des Bildlichen und des Begrifflichen eingeführt werden, um darin das Voraussetzende von Architektur in ihrer Beziehung zu Welt und Mensch aufzuzeigen. – Im Dritten Teil werden im Rahmen der Vier zentralen Konzeptionen von Identität in der Architektur die unterschiedlichen Ausdrucksweisen von ›Haus‹ in ihrem Wandel im Laufe der Architekturgeschichte dargestellt. Die konkrete ›Identität von Architektur‹ ist dabei jeweils zu betrachten als Resultat ihrer Varianz vom ›Identischen‹. – Den Abschluss der Schrift bildet im Vierten Teil die Frage nach einer möglichen Architektur der Selbstheit: gibt es ein vor-prädikatives Sein der Architektur, an dem wir unsere aktuelle Gestaltung orientieren können, damit Architektur weniger einer kurzzeitigen Modeerscheinung gleicht, sondern mehr von seinem eigenen Selbst zeigt? Architektur der Selbstheit könnte demnach bedeuten, dass das Werk selbst im Mittelpunkt steht, nicht der Gestalter; Gestaltung als Prozess würde unsichtbar, sie ginge im Werk auf. – Die Herausforderung für das architektonische Entwerfen liegt also darin, zwischen den Polen des ›Ansich‹ und des ›Fürmich‹ den eigentlichen Kern von Architektur, ihr Selbst zu ergründen. Vier zentrale Konzeptionen zur Herausbildung einer solchen architektonischen Identität weist die vorliegende Schrift aus.
Zweiter Teil: Warum Architektur nicht Kunst ist. Zu den Grundlagen von Identischem und Identität
»Der wesentliche Daseinsgrund eines Hauses ist es, eine behaglichere Wohnung zu sein als die natürlichen Zufluchtsorte es sind.« R ENÉ M AGRIT TE . D IE REINE K UNST. 1
Ist Architektur Kunst? – Seitdem die verschiedenen Disziplinen der Künste unter das gemeinsame Dach der ›einen‹ Kunst zusammengekommen sind, wird um diese Frage gestritten. Doch worin liegt hier das Streitpotential? Es kann ja kaum darum gehen, der Architektur ihren Gehalt an Gestaltung abzusprechen, denn natürlich hängt die Qualität von Architektur auch von ihrer Gestaltung ab. Der Konflikt, ob Architektur Kunst sei, geht vielmehr auf die Frage zurück, wie ›frei‹ die architektonische Gestaltung sein darf. Denn im Gegensatz zur Bildenden Kunst hat das Haus einen Adressaten, dem es dauerhaft verpflichtet ist – seine Umwelt. So formuliert Loos: »Das haus hat allen zu gefallen. Zum unterschiede vom kunstwerk, das niemandem zu gefallen hat. Das kunstwerk ist eine privatangelegenheit des künstlers. Das haus ist es nicht. [...]. Das kunstwerk ist niemandem verantwortlich, das haus einem jeden.«2 Denn das Haus schafft Umwelt. Es stellt die Welt her, die wir als Rahmen und Hintergrund unseres Lebens wahr1 | René Magritte. Die reine Kunst. Verteidigung des Ästhetischen (1922). In: Ders. Sämtliche Schriften. Hrsg. André Blavier. München, Wien 1981. S.9-19. Hier: S.9. 2 | Adolf Loos. Architektur (1909). In: Ders. Trotzdem. Wien 1988. S.101.
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nehmen. Auch das Kunstwerk stellt eine Welt auf: »das Kunstwerk eröffnet seine eigene Welt«3, wie Gadamer sagt – doch es stellt diese seine Welt im Sinne einer »Eigenwelt« nach innen auf, während die Architektur gleichermaßen auf ihre Eigenwelt (auf ihr Selbst) wie auch auf ihre Umwelt ausgerichtet ist. In dem ausgewogenen Verhältnis beider Beziehungen liegt die Qualität von Architektur begründet. Der architektonische Entwurf darf daher nicht nur auf Erlebnis und Empfindung des Betrachters abzielen, er muss schlicht auch den Gesetzen von Erkennen und Identifizieren, maßgeblichen Faktoren für unser alltägliches Leben, gehorchen, wie auch Paul Valéry (1871-1945) sagt: »Ohne eine gewisse Beständigkeit des Milieus wäre das Leben unmöglich. Ohne gewisse Ähnlichkeiten die Erkenntnis ebenfalls. Sie verlangt, dass die Dinge nicht unendlich variiert und auch nicht unendlich identisch sind.«4 Die Frage nach dem ›künstlerischen‹ Gehalt von Architektur zielt also nicht darauf, einem Haus seine ästhetische Funktion abzusprechen. Auch Architektur wird über die Sinne wahrgenommen, damit ist sie per se ästhetisch wirksam. Zum Problem wird die Ästhetik im Bauen, wenn sie zu einer unabhängigen Größe in der architektonischen Gestaltung wird, wenn sie einen Grad an ›Freiheit‹ beansprucht, der dem ›Haussein‹ entgegensteht. ›Ästhetisches‹ und ›Identisches‹ stehen sich also in dem Streit um die ›Kunstform‹ Architektur gegenüber. Gehen wir daher zunächst dem Inhalt der hier maßgeblichen Begriffe auf den Grund.
Ä STHETIK , I DENTISCHES UND I DENTITÄT IN DER A RCHITEK TUR Ästhetik bezieht sich im Ursprung auf das griechische Wort aisthesis. Dieses bezeichnet vereinfacht gesprochen die ›Sinneswahrnehmung‹, also das sinnenhafte Vernehmen von etwas. In diesem gibt es zwei Grundzüge: Zum einen ist aisthesis die Fähigkeit des }ÍÎb× [idein] des Sehens, die offenkundige Aufnahme dessen, was wir von unserer Umwelt als dessen Abbild wahrnehmen; zum anderen bezeichnet aisthesis dasjenige Erscheinen, welches über das physikalisch Wahrnehmbare eines Dinges 3 | Hans-Georg Gadamer. Zur Einführung (1959). In: Martin Heidegger. Der Ursprung des Kunstwerkes (1935-36). Stuttgart 1965. S.93-114. Hier: S.105. 4 | Paul Valéry. Cahiers/Hefte III. Hrsg. Hartmut Köhler, Jürgen Schmidt-Ratfeldt. Frankfurt/Main 1989. S.148.
Z WEITER T EIL : Z U DEN G RUNDL AGEN VON I DENTISCHEM UND I DENTITÄT
hinausgeht: das phainomenon. Dieses ›Phänomen‹ bezieht sich nicht allein auf das ›Ansich‹ eines Dinges, sondern sucht bereits im Wahrnehmen am Ding ein indiziertes Zeichen für etwas anderes festzustellen – z.B. als Suche nach einem Hinweis für ›Schönheit‹. Aisthesis birgt damit in sich bereits eine Ausrichtung auf das ›Fürmich‹. Heidegger beschreibt diesen unterscheidenden Charakter im Begriff der aisthesis wie folgt: »Die Ê.ÜÞÑÜÒà [aisthesis] ist als solche ein Abheben von etwas gegen ein anderes (Unterscheiden). Im Herausfassen von etwas wird das Herausgefasste als solches gegen ein anderes [...] abgehoben. Etwas ist so vernehmbar, dass es im Mitdasein eines anderen herausgehoben wird.«5 Die aisthesis steht damit im Gegensatz zur rein kognitiven, unkörperlichen und höheren Erkenntnis, wie wir sie in der Lehre der idea kennengelernt haben. Man könnte meinen, aisthesis bilde gar den Gegenbegriff zur idea. Denn die aisthesis stellt die Erscheinung vor das Sein des Dinges. Im Gegensatz zur idea ist die aisthesis ein körperliches, sinnliches Empfinden. Doch wie es körperlich nahe ist, so ist es auch entfernt von dem tatsächlichen Sein der Dinge, ihrer idea: in der aisthesis »gründet die Möglichkeit der Täuschung, des Scheins, so dass man sagen konnte, es gebe in der Welt nur Erscheinung«6 – was im Umkehrschluss bedeutet, dass die Welt der Erscheinung mehr Täuschung vom Sein ist als Seiendes vom Sein. Zur näheren Erläuterung des aisthetischen Wahrnehmens beziehen wir uns auf ein Beispiel, an dem Heidegger seine Bestimmung der aisthesis erläutert: einen gelben Stuhl. Mit dem genannten »Abheben« des aisthetischen Blicks geht es nun nicht um ein Herausheben des Stuhles aus dem Kontext, in dem wir den Stuhl wahrnehmen, also beispielsweise dem Zimmer, in dem er steht, sodass mein Blick allein den Stuhl fixiere; es geht vielmehr um ein Differenzieren im Blick auf den Stuhl selbst, in unserem Beispiel: ein Herausheben des Gelbseins des Stuhles. Denn ein gelber Stuhl erregt unsere Wahrnehmung zunächst durch seine Farbe, nicht durch sein spezifisches Stuhl-Sein. Die Farbe des Stuhles ist aber »kein reales Moment am Stuhl wie die Lehnen oder die Polster [...]. Der Stuhl hat nicht die reale Eigenschaft Gelb-Sein des Stuhls, sondern real ist das Gelb und im Sachverhalt wird nur die Beschaffenheit als eine reale gehoben,
5 | Martin Heidegger. Einführung in die phänomenologische Forschung (1923/24). In: Ders. GA. Band 17. Frankfurt/Main 1994. S.26. 6 | Ebd. S.25.
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d.h. gegenständlich.«7 Ästhetische Wahrnehmung hebt aus der Ganzheit der Wahrnehmung ein bestimmtes, einzelnes Attribut heraus, hier das Attribut ›gelb‹. Wenn Heidegger nun sagt, dieses Gelb-sein sei kein »reales Moment« am Stuhl, dann verweist das auf den hier herauszulesenden platonischen Grundtenor, demzufolge die Gestalt als ›Idee‹ des Stuhles, ja als das Stuhl-Sein selbst, vor dessen anderen Attributen stehe. Zum Stuhlsein selbst gehört eben nicht die Farbe. Nehme ich dem Stuhl sein ›Gelb‹, ist es noch immer eben dieser Stuhl in einer anderen farblichen Eigenschaft. Assoziieren wir an dieser Stelle noch weiter, was die Wahrnehmung eines Stuhles ausmachen könnte: das Material in Verbindung mit seiner Form, die konstruktive Verbindung der Stuhlbeine mit der Lehne, etc. Ist die Wahrnehmung dieser Attribute auch ein »Herausheben«, welches den Stuhl in seiner Ganzheit differenziert oder zergliedert? Entgegen der Farbe mag das Material eines Stuhles als wesensbestimmend anzusetzen sein, vorausgesetzt, es ist materialgerecht zu der idea ›Stuhl‹ verarbeitet worden. Dann nämlich ist die Gestalt, die Form des Stuhles an eben dieses Material gebunden, was sich dann auch in der begrifflichen Bestimmung zeigt: wir sagen ›Holzstuhl‹, wir sagen ›Bugholzstuhl‹, wir sagen ›Stahlrohrstuhl‹, aber nicht ›Gelbstuhl‹; denn nicht das ›Gelb‹ ist es, das den Stuhl trägt oder das ihn wesenhaft ausmacht. Umgekehrt aber sagen wir ›gelber Stuhl‹, aber nicht ›gelber Holzstuhl‹; denn in der schnellen Zuweisung unserer aisthetischen Wahrnehmung hat die Farbe als geschlossene Ganzheit den Vorrang vor der dem Stuhl einbeschriebenen Machart. Im Laufe der Kulturgeschichte hat der Begriff der Ästhetik insbesondere seit seiner Einführung in die Philosophie durch Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762) Mitte des achtzehnten Jahrhunderts mehrfach eine Neubewertung erfahren. Er variiert zwischen dem anthropologisch Gegebenen (so bezeichnet Baumgarten den Menschen als felix aestheticus, als glücklich Wahrnehmenden) und dem künstlerischen Handeln des Menschen (so nennt Hegel seine Ästhetik »eine Philosophie der Kunst«). Konstant geblieben ist der Tenor des Besonderen innerhalb der ästhetischen Wahrnehmung, sein abhebender Charakter. Architektur aber soll nicht zuvorderst der aisthesis in ihrem abhebenden Sinne unterworfen sein. Denn die Gefahr besteht, dass Ästhetik dazu gebraucht wird, Ästhetisierung als das ›Besondere‹, das ›Bessere‹ oder das 7 | Martin Heidegger. Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (1925). In: Ders. GA. Band 20. Frankfurt/Main 1979. S.86.
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›Begehrliche‹, also als eine eigene ökonomische Maxime in der Architektur zu begründen. Zum architektonischen »Gebrauchswert« und ihrem darauf bezogenen »Tauschwert« tritt dann ihr »Inszenierungswert«8, der den Tauschwert von Architektur als ›brand‹, als Marke prägt. Das ausdrucksbezogene Markenbewusstsein der architektonischen ›brands‹ wird so zum Träger einer »ästhetischen Ökonomie [...], weil hier ein wesentlicher Teil der Produktion auf ästhetische Bedürfnisse gerichtet ist.«9 Architektur als ein Produkt zu vermarkten, ist somit das gewollte oder ungewollte Ziel der Ästhetisierungsstrategie. Solche Sichtweise einer ästhetisierten Architektur soll allerdings nicht Gegenstand dieser Schrift sein. Wir wollen hier vielmehr dem Verhältnis von Ästhetik und Identischem in seinem Grund nachgehen. Das Erkennen des Eigentlichen im Objekt steht dabei notwendig vor dem ästhetischen Erlebnis des Subjektes. In diesem Erkennen als einem Gleichbleiben zeigt sich das auf den Menschen bezogene und für die Orientierung des Menschen in seiner Welt Wesentliche von Architektur, ihre grundlegende Bedeutung, »den Menschen über lange historische Zeiträume hinweg die Einheit ihrer Welt und ihres Denkens und Handelns zu garantieren.«10 Architektur als Spiegel der »Einheit ihrer Welt« – das bedingt eine kohärente Relation der unterschiedlichen Parameter, in denen wir unsere Welt wahrnehmen. Dieser ideelle Zusammenhang von Dinglichem, Bildlichem und Begrifflichem im architektonischen Werk soll hier mit dem Begriff des ›Identischen‹ bezeichnet werden, im Sinne der »Fiktion einer Einheit von Sprache, Bild und Gegenstand in wechselseitiger Repräsentation«11 . In Bezug auf die Architektur könnte man in diesem Sinne das ›Identische‹ als das ›Ur-Sein‹ von Architektur auffassen – ein ›Ur-Sein‹, das sich in seinem Wesen schlüssig an dem Selbst der Architektur orientiert. Das ›Identische‹ wäre demnach als ein Ideal zu verstehen, als eine Fiktion, von der sich das je Seiende in seinem spezifischen Erscheinen (als seine konkrete ›Identität‹) unterscheiden muss, das aber noch eine direkte Bezugnahme zulässt, die im Prozess des Denkens begrifflich verbindet und im Prozess des Wahrnehmens bildlich erkennen lässt. 8 | Gernot Böhme. Architektur und Atmosphäre. München 1996. S.10. 9 | Ebd. S.8. 10 | Gerd de Bruyn. Die enzyklopädische Architektur. Bielefeld 2008. S.18. 11 | Benedict Tonon. Zur Welt bringen. Berlin 1998. S.102.
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Begriffliches
DAS IDENTISCHE Dingliches
Bildliches
Abb. 3: Das Beziehungsfeld des ›Identischen‹. Das ›Identische‹ bezeichnet das Voraussetzende von Architektur in den Parametern des Begrifflichen, des Bildlichen und des Dinglichen. Die hier geführte Auseinandersetzung mit dem architektonischen Werk orientiert sich an den sichtbaren oder beschreibbaren Parameter, welche für den »Sachverhalt« von Architektur bestimmend sind: es ist dies die Frage nach der Differenz im Zusammenspiel von Begrifflichem und Bildlichem im Dinglichen, in der sich die ›Identität von Architektur‹ je zeigt. Wir sehen ein Ding, erkennen an ihm verschiedene Bildzeichen, die sich zu einem einheitlichen Bild zusammenfassen, und versehen dieses mit dem in unserer Gesellschaft abgestimmten Begriff. Auf diese Weise entsteht ›Identität‹ für uns mit unserer Umwelt, in der Gegenbetrachtung existiert aber auch diese ›Identität‹ als Objektbezug beim Werk selbst. So entsteht mit der Trias des Identischen ein Beziehungsgeflecht aus den drei nachfolgend beschriebenen lebensweltlichen Parametern: Ň das Begriffliche drückt das Grundbedürfnis in uns aus, die Dinge der Welt zu benennen. Nach Wilhelm Worringer (1881-1965) suchen wir im Benennen des Gegenübers unserer Weltangst zu begegnen;12 Ň das Bildliche fungiert als imaginierter Gegenstand der Erinnerung, ein notwendiger Rückbezug, der einer ständig sich wandelnden Umgebung nicht standhalten könnte; Ň das Dingliche ist die Basis unseres In-der-Welt-Seins, es ist derjenige Parameter, den wir begreifen können; und weil wir ihn begreifen können, kann unser Verstand dafür einen Begriff finden – der Kreis schließt sich. Im Begrifflichen steckt die Entwicklung von Sprache und Schrift, im Bildlichen die von Idee, Zeichen und Typus, im Dinglichen finden sie zueinander. Die Parameter verweisen wechselseitig aufeinander – ja sie waren selbst einmal in der ideographischen Zeichenschrift eins. Im ideellen Denkmus12 | Wilhelm Worringer. Abstraktion und Einfühlung (1908). München 2007. S.82.
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ter des ›Identischen‹ sind sie eins im Werk des Gebauten – und nur unsere analytische Sichtweise reißt sie für diese Betrachtung auseinander. Es wird schnell bewusst, dass das angesprochene ›Identische‹ nicht rein und vor aller Differenz zur Gestalt kommen kann: in dieser Auffassung einer Gestaltung wäre nichts mehr unterscheidbar. So ist denn der Begriff des ›Identischen‹ hier nur als ideelles Modell zu verstehen im Sinne der angesprochenen Anlehnung an das ›Ur-Sein‹ von Architektur, an ihr Apriori, welches sich als eine Art ursprüngliches Gegenbild einstellen mag, wenn wir ein konkretes architektonisches Werk vor uns betrachten. Die jeweilige ›Identität der Architektur‹ beschreibt dagegen den ausformulierten Zusammenhang von Begrifflichem, Bildlichem und Dinglichem im Werk. So komme ich zu einem ersten Versuch der Bestimmung von ›Identischem‹ und ›Identität‹ in der Architektur: Als das ›Identische von Architektur‹ können wir ihr ›Voraussetzendes‹ ansehen. Das Voraussetzende von Architektur ist das Behausende in seiner Verkörperung von Begriff, Bild und Ding. Voraussetzungsloses in der Architektur gibt es nicht. Während das ›Identische‹ damit ein Modell des Erkennens vorstellt, in dem das Ursein von Architektur beheimatet ist, beschreibt die ›Identität‹ das konkrete architektonische Werk in der jeweiligen Ausdeutung seiner Parameter. ›Identität von Architektur‹ ist also Bedingtheit, ist Vollendung einer Voraussetzung.
Wenn wir nachfolgend mit dem Begriff des ›Identischen‹ arbeiten wollen, so ist es zunächst wichtig, ihn von begleitenden Widersprüchen zu befreien, die in unserem Gebrauch des Wortes ›identisch‹ mitschwingen. Kann es denn so etwas wie ein ›Identisches‹ überhaupt geben, wo doch »die ständige Metamorphose unserer Bewusstseinszustände [...] eine konstante Identität und Einheit als Fiktion erscheinen« lässt? Umgekehrt kann, »was nur mit sich identisch ist, [...] sich nicht verändern, da es die Grenzen zwischen Innen und Außen festschreibt.«13 Ludwig Wittgenstein (18891951), der in seiner frühen Philosophie auf der Suche ist nach dem gesetzmäßigen Zusammenhang von Sprache und Welt, der also deren Abbildverhalten aufeinander überprüft, sagt in seinem Tractatus logico-philosophicus: »Beiläufig gesprochen: von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt
13 | Manfred Pabst. Bild, Sprache, Subjekt. Würzburg 2004. S.9.
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gar nichts.«14 Natürlich ist Wittgenstein mit dem ersten Teil seiner Ausführung vom Standpunkt der Logik her zuzustimmen. Die hier verwendete Bedeutung des ›Identischen‹ bezieht sich aber ausdrücklich nicht auf Dinge in einem direkten, körperlichen Vergleich nebeneinander, sondern auf deren quasi platonischen Gehalt zu ihrer ›Idea‹. Damit kümmert uns nicht, ob daraus nur mehr formal ›Identisches‹, also Gleiches als Artefakt entstehen mag. Denn das ›Identische‹ ist als ein ideelles Konstrukt aufzufassen. So wie zwei konkrete Orte als Bauplätze nie ›identisch‹ (also gleich) sind, so wie die ›Bilder‹ als Vorstellungen in den Köpfen zweier Menschen nie ›identisch‹ (also ›gleich‹) sind, so wie auch der ›Begriff‹ immer eine Varianz in sich trägt, je nachdem, in welchem Kontext er gebraucht wird, so mag sich das Werkganze als Ergebnis architektur-immanent auf sein ›Identisches‹ beziehen, ohne dadurch auch äußerlich ununterscheidbar zu sein. Das ›Identische‹ in dem hier vorgestellten Kontext deutet auf die Notwendigkeit von Erkenntnis als Erkennen am Selbst des Objektes. Wir wollen hier von dem ›Identischen‹ wie vorgestellt als dem inneren Zusammenhang eines Werkes sprechen. Gegen Wittgenstein argumentiert, sagt das Identisch-Sein-mit-sich-selbst ausdrücklich etwas über die Übereinstimmung im Werk von Sein, Ausdruck und Erkenntnis aus. Der Begriff der ›Identität von Architektur‹ beschreibt dagegen, wie die Parameter des ›Identischen‹ das Werk konkret unter der Frage einer Hinwendung zum ›Ansich‹ oder zum ›Fürmich‹ von Architektur bestimmen: ›Identität von Architektur‹ beschreibt die Varianz des ›Identischen‹ in der je konkreten Ausdeutung seiner Parameter: das Dingliche vermag sich zu zeigen in seinen Dimensionen von Form oder Stoff; das Bildliche vermag sich zu zeigen in seinen Dimensionen von Darstellung oder Zitat; das Begriffliche vermag sich zu zeigen in seinen Dimensionen von Begriff oder Metapher.
In dem hier vorgestellten Modell zwischen ›Identischem‹ als dem Ur-Sein von Architektur und der konkreten ›Identität‹ wird Architektur als Ganzes zu einer andauernden ›Emanation‹15 des Bauens, zu einem immer andauernden, sich stetig weiter entwickelnden Weg auf der Suche nach der je 14 | Ludwig Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus (1921). In: Ders. Werkausgabe. Band 1. Frankfurt/Main 1984. 5.5303. S.62. 15 | Der Begriff der ›Emanation‹ (lat. e-manare: herausfließen) beschreibt das schrittweise Hervorgehen aus einem höchsten Grund.
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gültigen Gestalt, die aus einem ideellen Ursprung herrührt und diesen dennoch nicht mehr zu erreichen vermag. Das ›Identische‹ ist sowohl Ausgangspunkt wie auch unerreichbares Ideal. Die Herausforderung im architektonischen Umspielen des ›Identischen‹ hin zur ›Identität von Architektur‹ nennen wir ›Entwerfen‹. Der Entwurf selbst ist »bloß der Vorwand für ein allgemeines Einbezogensein«16 in das Sein der Welt, das wir uns über unsere grundlegenden Fähigkeiten zu erschließen suchen: über das Greifen der Dinge, das Sehen der Bilder, das Benennen der Begriffe.
D IE PAR AME TER DES I DENTISCHEN : D INGLICHES , B ILDLICHES , B EGRIFFLICHES Wie haben wir die Parameter des ›Identischen‹ im Einzelnen aufzufassen? Um das ›Identische‹ für die Architektur handhabbar machen zu können, ist es unumgänglich, vorab die Charakteristik von Begrifflichem, Bildlichem und Dinglichem für den Diskurs zu bestimmen. Die drei Parameter stehen stellvertretend für unsere lebensweltlichen Konstanten von Physis, Semiotik und Linguistik, also von Dingwelt, Zeichenwelt und Sprachwelt. Das Verhältnis von Bild-Zeichen zu Begriff und Ding fasst Aristoteles (384-322 v. Chr.) wie folgt zusammen: »Nun sind die (sprachlichen) Äußerungen unserer Stimme Symbole für das, was (beim Sprechen) unserer Seele wiederfährt, und unsere schriftlichen Äußerungen sind wiederum Symbole für die (sprachlichen) Äußerungen unserer Stimme. | Und wie nicht alle Menschen mit denselben Buchstaben schreiben, so sprechen sie auch nicht alle dieselbe Sprache. Die seelischen Widerfahrnisse aber, für die dieses (Gesprochene und Geschriebene) an erster Stelle ein Zeichen ist, sind bei allen Menschen dieselben; und überdies sind auch schon die Dinge, von denen diese (seelischen Widerfahrnisse) Abbildungen sind, für alle dieselben.«17 Sprachliche und bildliche Zeichen sind damit Repräsentationsmodelle zur Dingwelt. Wittgenstein hat in seiner Sprachtheorie die Beziehung der Sachverhalte in der Welt zu klären versucht. Sein Weg führt analytisch zur Differenzierung der Parameter der Sachverhalte. Als notwendige Abbildung des In-der-Welt-Seins basiere demnach jede Kommunika16 | Aldo Rossi. Wissenschaftliche Selbstbiographie. Bern Berlin 1988. S.36. 17 | Aristoteles. Peri hermeneias. In: Ders. Werke in deutscher Übersetzung. Übersetzt und erläutert von Hermann Weidemann. Band 1, Teil 2. Berlin 2002. S.3.
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tion auf einer abgestimmten Orientierung an den Regeln des AufeinanderAbbildens. Wenn wir kommunizieren, machen wir ein Bild dessen, was der Fall ist. »Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit«18, der sinnvolle Satz ist das schlüssige Abbild eines Sachverhaltes der Wirklichkeit. Vermag ein Satz dieses Beziehung nicht herzustellen, so ist sein Gehalt entweder sinnlos oder unsinnig: er basiert nicht auf dem Abbild von Wirklichkeit. »Die abbildende Beziehung besteht aus den Zuordnungen der Elemente des Bildes und der Sachen.«19 Sprache als abbildende Beziehung steht damit zwischen Bild und Ding. Die Parameter finden zusammen in dem zur Form gewordenen Ding, das wir in der Gestaltung Werk nennen. »Damit das Bild mit dem abgebildeten Sachverhalt die Form gemeinsam haben kann, muss eine Entsprechung der Elemente des Bildes zu den Elementen des Sachverhaltes (den ›Gegenständen‹) bestehen.«20 Diese Beziehung stellen wir über die Begriffe her. Und doch birgt auch die Auffassung des ›Identischen‹ als Einheit von Begrifflichem, Bildlichem und Dinglichem ein gewisses Konfliktpotential, wenn wir nämlich den Fehler begehen, die drei Parameter als deckungsgleich aufzufassen. In eben diesem Sinne formuliert Wittgenstein: »Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden.«21 Jeder einzelne Parameter folgt seinen eigenen Regeln, sie sind nicht gegeneinander austauschbar. Das Besondere im Bildlichen liegt in der Simultanität seiner Wahrnehmung; das Besondere im Dinglichen liegt in der Konkretion seiner Weltzugehörigkeit; das Besondere im Begrifflichen liegt in seinem arbiträren, auf relativer Beliebigkeit basierenden Zeichen. Die Sprache ist damit unter den drei genannten Parametern das ›freieste‹ Element, es ist ein institutionalisiertes Konstrukt: »das sprachliche Zeichen ist beliebig«22 , wie Ferdinand de Saussure (1857-1913) ausführt. »Allein diese Unterscheidung Saussures hätte spätere Semiotiker warnen müssen, seine für das sprachliche Zeichensystem entwickelten Kategorien auf bildliche und architektonische Systeme zu übertragen.«23 18 | Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus (wie Anm. 14). 2.12. S.15. 19 | Ebd. 2.1514. S.15. 20 | Rudolf F. Kaspar. Wittgensteins Ästhetik. Wien, Zürich 1992. S.10. 21 | Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus (wie Anm. 14). 4.1212. S.34. 22 | Ferdinand de Saussure. Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (1916). Berlin 1967. S.79. 23 | Wolfgang Sonne. Hauptstadtplanungen 1900-1914. S.407. www.eth.ch
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Abb. 4: René Magritte. Die Wörter und die Bilder, 1929. Aus: La révolution surréaliste, Nr. 12, Dez. 1929, S.32-33 (Ausschnitt). Nicht um Austauschbarkeit der Parameter darf es gehen, sondern um ihre schlüssige Bezugnahme aufeinander. Die wechselseitige Bezugnahme der Parameter des ›Identischen‹ vollzieht sich in den Systemwelten der künstlerisch beschreibenden, gestaltenden oder abbildenden Disziplinen je unterschiedlich. Unsere Wahrnehmung und die daraus folgende Bedeutung des Wahrgenommenen basiert in allen diesen Feldern auf dem je evolutionär Vertrauten. Ein Bild werden wir immer zuerst als Bild betrachten (und nicht als Text), einen Text zunächst als Text lesen (und nicht als ein Bild betrachten), ein Gebäude als Gebäude anschauen (und nicht als Bild, nicht als Text). Vor dem Verstehen eines gegebenen Dinges steht zunächst das strukturelle Erkennen desselben. Das Erkennen und das Kommunizieren im Rahmen des ›Identischen‹ vollzieht sich als ein stetes Verweisen des Eigenen auf das Un-Eigene. Aus dem Spiel der Auflösung des ›Identischen‹ und der Hervorhebung seiner einzelnen Parameter hat gerade die moderne Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts ihren Inhalt bezogen, wie die Beispiele des Surrealismus, der Konkreten Poesie oder der Konkreten Kunst zeigen. Die Künstler zeigen mit ihrem Werk gerade die Differenz, die versuchte Eigenständigkeit von Bildlichem, Begrifflichem oder Dinglichem auf – die Parameter gehen darin eben nicht ineinander auf. Wenn René Magritte (1898-1967) sagt: »Ein Ding leistet nie das gleiche wie sein Begriff oder sein Bild« (Abb. 4), dann deutet dies zunächst auf eine erkenntnis-theoretisch rich-
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tige Unterscheidung hin – darüberhinaus weist es bereits auf das Konzept einer spielerischen Differenzierung zwischen den Parametern hin.24 Der weitere Umgang mit dieser Differenz vollzieht sich nun in den Werken der Kunst im Sinne einer »ästhetischen Distanz«, d.h. im Sinne der bewussten Irritation, also der Auflösung der Bindung von Begriff, Bild und Ding, oder dem Infragestellen dieser Korrelation. Doch abermals gilt: was für den Bereich der Kunst möglich sein mag, ist für den lebensweltlichen Umgang mit Architektur nicht gleichermaßen gegeben. Denn »Tautologie und Kontradiktion sind nicht Bilder der Wirklichkeit.« 25 Das bewusste Auseinanderfallen von Begriff, Bild und Ding hat notwendig zur Folge, dass die Auseinandersetzung mit dem Objekt aus ihrer Selbstverständlichkeit gelöst wird. Was der Betrachter an Vorerfahrung dem Objekt gegenüber mitbringt, wird auf eine intellektuell-ästhetische Weise hinterfragt. Was im repräsentierenden Raum des Museums als Aufforderung zum Hinterfragen des Gewohnten zu verstehen ist, hätte im Alltag einen unerträglicher Prozess der Ungewissheit zur Folge. Wenn also die Kunst an der »Abschaffung von Gewissheiten«26 arbeitet, wie dies insbesondere auf den Surrealismus im frühen zwanzigsten Jahrhundert zutrifft, so bedeutet das noch nicht, dass diese Methode auch für die Architektur unserer Lebenswelt gültig sein kann, wie auch Magritte selbst als Künstler befindet: »Der GROSSE IRRTUM ist, zu glauben, ein Haus müsse, um vollkommen zu sein, eine zusätzliche Aufgabe haben: automatisch eine ästhetische Empfindung beim Bewohner oder Passanten auszulösen. Dieses alte Vorurteil muss bei der Konstruktion von Häusern verschwinden [...].«27 Das heißt nun nicht, dass Häuser nicht ästhetisch wirken könnten. Sie wirken vielmehr bereits an sich ästhetisch, indem sie ihrem eigenen ›Identischen‹ folgen und nicht eine Identität außerhalb des Architektonischen anstreben. Das Grundproblem der modernen Architektur liegt in ihrer Verpflichtung zu »Avantgarde« und »ästhetischer Distanz« analog dem Vorbild der bildenden Kunst, in ihrem Streben nach einer Form, die das Dingliche vom Begrifflichen abtrennt: »Die Avantgarde-Architekten erfassen [Schönheit] 24 | Ich denke hier insbesondere an Werke wie »La trahison des images« (Der Verrat der Bilder, 1929) von René Magritte, besser bekannt als »Ceci n'est pas une pipe« (Dies ist keine Pfeife). 25 | Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus (wie Anm. 14). 4.462. S.43. 26 | Werner Spies. Die Moderne. 1930-1940. In: Art. #7/2009. S.78-83. Hier: S.80. 27 | Magritte. Die reine Kunst (wie Anm. 1). S.10. Hervorhebung im Original.
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intuitiv, doch begehen sie den großen Fehler, sich von jenen Formen [einer Lokomotive, einer Nadel, einer Schraube] inspirieren zu lassen, um sie an einem Haus anzuwenden; sie verwenden sie VISUELL und nicht in dem Geist, der solche Formen hervorbrachte.«28 Architektur sollte sich ihres Wesens im ›Identischen‹ bewusst sein, um Architektur zu bleiben und um als solche wahrgenommen zu werden; indem sie sich ihrer selbst bewusst ist, findet sie ihr Selbstbewusstsein wieder, das in der Architektur und ihren Bezugnahme auf ihre ureigenen Parameter beheimatet ist und in dem Streben nach einer reinen Ästhetik verloren zu gehen droht. Machen wir uns bewusst: »ARCHITEKTUR IST NICHT KUNST.«29 Gehen wir also für die Architektur nicht von einer bewussten Trennung zwischen Begrifflichem, Bildlichem und Dinglichem aus, sondern von deren gewachsener, schlüssiger und aufeinander verweisender Relation. Verfolgen wir daher im Weiteren, was die Beziehung zwischen Ding, Begriff und Bild im Werk ausmacht, um deren Bedeutung für die Architektur herauszustellen.
Haus als Ding: Faktum des Identischen »Du erinnerst an nichts, gleichwohl bist du nicht gestaltlos. Bist du ein Spiel der Natur, o du Namenloses [...]?« PAUL VALÉRY. E UPALINOS ODER D ER A RCHITEKT. 30
Was ist ein Ding? Im Alltagsgebrauch unserer Sprache bezeichnet ein Ding ein unspezifisches Etwas. In der Herkunft seines eigenen Begriffes ›Ding‹ wie auch in der seiner Synonyme ›Gegenstand‹ oder ›Objekt‹, erkennen wir ein Etwas, das sich uns ›entgegenstellt‹, ohne dass wir es uns zuvor angeeignet oder es identifiziert haben. Das Wort ›Gegenstand‹ bildet sich 28 | Magritte. Die reine Kunst (wie Anm. 1). S.11. Hervorhebung im Original. Magrittes Essay scheint durchaus unter dem Einfluss von Le Corbusiers »Vers une Architecture« (aus demselben Jahr 1922) zu stehen, da beide die Architektur als eine »Wissenschaft« dem Bauingenieur überantworten möchten. Andererseits beweist Magritte bereits eine kritische Weitsicht in der Frage nach der Freiheit der architektonischen Formgebung, wenn er die formale Vorbildfunktion der technischen Dingwelt auf die Architektur schon zu Beginn der Moderne hinterfragt. 29 | Ebd. Hervorhebung im Original. 30 | Paul Valéry. Eupalinos oder Der Architekt (1923). Frankfurt/Main 1990. S.82.
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aus den Verben ›gegenstehen‹ oder ›entgegenstehen‹, es ist gleichbedeutend mit dem lateinischen obiectum, welches wörtlich ›entgegengeworfen‹ bedeutet: ein Gegenstand, ein Objekt ist somit ein Etwas, mit dem wir konfrontiert sind, mit dem wir uns in unserer Lebenswelt auseinanderzusetzen haben. Wenn Heidegger nach Aristoteles formuliert: »Das Ständige eines Dinges, die Konsistenz, besteht darin, dass ein Stoff mit einer Form zusammensteht«31 , dann deutet dieses »Zusammenstehen« darauf hin, dass Stoff und Form eine Einheit im Ding darstellen. Zudem ›betrifft‹ uns das Ding, sonst wäre es nicht ›Gegenstand‹ unserer Auseinandersetzung mit ihm. Und doch haben wir es noch nicht in unsere Welt einverleibt, sonst wäre es bereits mehr als ein ›Gegenstand‹. Es hätte dann bereits einen Namen, einen Begriff, der es bezeichnet, und dieser stünde wiederum in einem Kontext mit dem institutionalisierten Zeichenhaften der Form dieses Dinges, mit dessen Bildzeichen. Damit aber hätte das Objekt eine Bedeutung, welche es entfernt von seinem nur Dinglichen, welches Kant das »Ding an sich« nennt. Dieses »Ding an sich« bleibt für unsere geläufige Erscheinung unerfahrbar, da unsere Wahrnehmung sich nicht von den uns anerlernten Bedeutungsebenen trennen lässt. Dennoch wollen wir hier den Versuch unternehmen, das Dingliche in unserer phänomenologischen Annäherung an die Welt vor der Bedeutung zu behandeln. Der simpel erscheinende Begriff ›Ding‹ weist damit eine ungeahnte Vielschichtigkeit auf, sobald wir die Objektivität des »Dinges an sich« gegen unsere subjektive Auffassung vom Ding stellen. »›Ding an sich‹ bedeutet, streng kantisch gedacht, einen Gegenstand, der für uns keiner ist, weil er stehen soll ohne ein mögliches Gegen: für das menschliche Vorstellen, das ihm entgegnet.«32 Die subjektive Vorstellung, das Bildliche von ihm, fehlt diesem Ding-an-sich; es ist zu vorurteilsfrei, als dass wir mit ihm umgehen könnten. Zu unterscheiden ist dasjenige, was ist, das objektiv Dingliche, von dem, was sich als Gegenstand des Vorstellens im menschlichen Ich abbildet. Diese objektive und die subjektive Seite des Dinglichen zeigt sich auch in unserer Begriffswelt, in der wir das Dingliche in Ding, Zeug oder Werk differenzieren. Was Zeug und Werk vom Ding trennt, ist ihre je bestehende institutionalisierte Zielrichtung, die als 31 | Martin Heidegger. Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36). Stuttgart 1965. S.18f. 32 | Martin Heidegger. Das Ding (1950). In: Ders. GA. Band 7. Vorträge und Aufsätze. Frankfurt/Main 2000. S.165-187. Hier: S.178.
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›Dienendes‹ das Zeug ausmacht, als ›Bedeutung‹ das Werk bedingt, und die dem Ding fehlt. Und doch ist das Dingliche der Ausgangspunkt unserer Konfrontation mit der Lebenswelt: »Viel näher als alle Empfindungen sind uns die Dinge selbst«, wie Heidegger ausführt. »Niemals vernehmen wir [...] im Erscheinen der Dinge zunächst und eigentlich einen Andrang von Empfindungen, z.B. Töne und Geräusche, sondern wir hören den Sturm im Schornstein pfeifen, wir hören das dreimotorige Flugzeug, wir hören den Mercedes im Unterschied zum Adler-Wagen. [...] Wir hören [...] niemals akustische Empfindungen oder auch nur bloße Geräusche. Um ein reines Geräusch zu hören, müssten wir von den Dingen weghören, unser Ohr davon abziehen, d.h. abstrakt hören.«33 Doch so nah uns das Dingliche auch sein mag, so sehr ist es in seiner Wahrnehmung verdeckt von einer Sichtweise auf das Ding, die seiner Wertung und Interpretation mehr Raum gibt als seinem eigentlichen Sein. Das Dingliche selbst ist also zu differenzieren von subjektiver Empfindung und gesellschaftlicher Bedeutung. Nur wenn wir das Dingliche lösen aus seiner institutionalisierten Festschreibung und unserer subjektiven Bezugnahme, vermögen wir das hinter den Dingen liegende Sein zu erahnen. Wir können also von einer Beziehungskette ausgehen, die vom Sein über das Ding auf unsere Wahrnehmung und von dieser auf unser Empfinden verläuft. Dabei haben wir zu unterscheiden zwischen dem reinen Sein der Dingwelt und den ›wertbehafteten‹ Dingen der Welt, die wir als ›Werk‹ bezeichnen oder als ›Zeug‹. In dieser Differenzierung handelt es sich um mehr als um Synonyme. Zeug und Werk sind Abwandlungen des Dinges mit unterschiedlichen Vorzeichen ihrer bestimmenden Faktoren. So nennen wir mit Heidegger das hergestellte Ding, das dienen soll, Zeug. »Ein Zeug ist strenggenommen nie. [...] Zeug ist wesenhaft ›etwas, um zu...‹.«34 Die charakteristische Seinsart von Zeug ist sein Dienen, seine »Zuhandenheit«35 in der Welt. Aus diesem Begriff lässt sich bereits eine bezugnehmende Richtung des Dinges auf den Menschen herauslesen, es ist »handlich im weitesten Sinne und verfügbar.«36 Je mehr ein dienendes Ding auf das (funktionale) Dienen ausgelegt ist, umso mehr büßt es sein eigenes Dingsein ein. Wir sehen nur noch seine Dienlichkeit, und umso weniger seine Dinglichkeit. 33 | Heidegger. Der Ursprung des Kunstwerkes (wie Anm. 31). S.18. 34 | Ebd. 35 | Martin Heidegger. Sein und Zeit (1926). Tübingen 2006. S.68. 36 | Ebd. S.69.
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Das Werk meinen wir demgegenüber in einer anderer Sphäre verortet, es erscheint uns als das Besondere gegenüber dem Dienenden des Zeuges und gegenüber der anonymen, begrifflosen Alltäglichkeit des Dinges. Werksein ist kein Spezifikum eines Dinges neben einem anderen Ding, Werksein ist ein Charakteristikum über das Ding. Es ist quasi der Kommentar, mit dem ein Ding über sein Dingsein hinaus bedacht wird. Ist ein Bauwerk in diesem Sinne ein Werk, so ist es gleichzeitig nicht nur es selbst, sondern auch über es selbst. Ansonsten verbliebe es im Zeug. »Erst durch das Werk und nur im Werk [kommt] das Zeugsein des Zeuges eigens zu seinem Vorschein. [...] Van Goghs Gemälde ist die Eröffnung dessen, was das Zeug, das Paar Bauernschuhe, in Wahrheit ist. [...] Im Werk der Kunst hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt.«37 Ein Ding wird zum Zeug, wenn seine Dienlichkeit zum bestimmenden Parameter wird. Was erwarten wir vom Zeug? – wir erwarten sein Dienen und die Erfüllung seiner Funktion; wir erwarten nicht primär, dass es schön ist, oder dass es uns ästhetisch anspricht.38 Bauen wird zum Zeug, wenn seine Dienlichkeit die Lesart des architektonischen Zeichens dominiert, wenn sie die Dinglichkeit des Stoffes oder der Form überstrahlt, wie wir es insbesondere von den Massenwohnungsbauten der modernen Bauindustrie kennen. Doch von Architektur, die ja unsere Lebenswelt sichtbar bestimmt, erwarten wir mehr als nur das Zeughafte: »Das Zeug nimmt, weil durch die Dienlichkeit und Brauchbarkeit bestimmt, das, woraus es besteht, den Stoff, in seinen Dienst. Der Stein wird in der Anfertigung des Zeuges, z.B. der Axt, gebraucht und verbraucht. Er verschwindet in der Dienlichkeit. [...] Das Tempel-Werk dagegen lässt, indem es eine Welt aufstellt, den Stoff nicht verschwinden, sondern allererst hervorkommen [...]: der Fels kommt zum Tragen und Ruhen und wird so erst Fels.«39 Ein Ding wird zum Werk, wenn es über das Dienen hinaus auf das Sein hinter dem Seienden des Dinges schließen lässt. Was erwarten wir vom Werk? – wir erwarten eine über seinen bloßen Anblick hinausgehende Bedeutung. Die Bestimmung eines Werkes soll uns über die spezifische 37 | Heidegger. Der Ursprung des Kunstwerkes (wie Anm. 31). S.30. 38 | Auf der Interpretation des ›schönen Zeuges‹ basiert dagegen ein ganzer Produktionszweig der Kulturgüterindustrie, die unter dem Signum ›großer‹ Designer Alltagsgegenstände in »reine konnotative Zeichen von hohem Gefühlswert« verwandelt hat. Siehe dazu: Umberto Eco. Über Gott und die Welt. München 1987. S.202. 39 | Heidegger. Der Ursprung des Kunstwerkes (wie Anm. 31). S.42.
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Ausrichtung der im Werk selbst liegenden Bedeutung – und nicht einer auf subjektiven Ausdruck ausgerichteten Bedeutung – auf das Allgemeine des dinglichen Seins zurückführen, auf das ›Voraussetzende‹. Gadamer paraphrasiert: »die Tempelsäule lässt das Steinerne ihres Seins im Ragen und Tragen eigentlicher erscheinen als in dem unbehauenen Gesteinsblock.«40 Das Werk lässt damit, wie auch Maurice Blanchot (1907-2003) ausführt, »zum Vorschein kommen, was im Gegenstand verschwindet. Die Statue verherrlicht den Marmor, das Gemälde ist nicht ausgehend von der Leinwand und aus materiellen Bestandteilen gemacht, es ist die Gegenwart dieser Materie, die uns ohne es verborgen bliebe. Und auch das Gedicht ist nicht aus Gedanken gemacht, ebensowenig, wie es aus Worten gemacht ist, sondern es ist das, von dem aus die Worte ihre Erscheinung und die elementare Tiefe werden, auf die hin diese Erscheinung geöffnet ist, und sich dennoch wieder schließt.«41 Es ist die unmittelbare Wahrnehmbarkeit all seiner Parameter, die zum Werksein führt. Und doch liegt bereits im Ding die Wahrheit des Seins hinter dem Seienden verborgen. Kann das bloß Dingliche damit Gegenstand der Architektur sein? In der Sichtweise auf das Werk im Modus des ›Identischen‹ liegt die Chance, unsere Aufmerksamkeit dem Dinglichen gegenüber zu steigern; denn unsere gesellschaftlich geprägte Umgangsform mit der Dingwelt ist allzu oft verdeckt durch Dienlichkeit, Bedeutung oder Ästhetik. »Worauf es [stattdessen] ankommt, ist eine erste Öffnung des Blickes dafür, dass das Werkhafte des Werkes, das Zeughafte des Zeuges, das Dinghafte des Dinges uns erst näher kommen, wenn wir das Sein des Seienden denken.«42 Woran uns gelegen sein muss, ist die Auseinandersetzung mit dem Kern der Dinge, nicht allein mit ihrer wie auch immer gestalteten Oberfläche. Dieses ursprüngliche, nicht verweisende Dingsein sieht Heidegger einem »Überfall« ausgesetzt, seit es von der griechisch-antiken auf die römischantike Denk- und Sprachweise in andere Bestimmungsfelder jenseits seiner eigenen Dingheit ›übersetzt‹ worden ist.43 Denn nun erlangt der 40 | Gadamer. Zur Einführung (wie Anm. 3). S.105. 41 | Maurice Blanchot. Die Literatur und die ursprüngliche Erfahrung. In: Ders. Das Unzerstörbare. München, Wien 1991. S. 31-79. Hier: S.47. 42 | Heidegger. Der Ursprung des Kunstwerkes (wie Anm. 31). S.34. 43 | Heidegger zufolge sind »diese [griechischen] Benennungen [der Dinge] keine beliebigen Namen. In ihnen spricht [...] die griechische Grunderfahrung des Seins des Seienden im Sinne der Anwesenheit. Durch diese Bestimmungen aber wird die
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Ausdruck des Dinges eine bestimmende Dimension. Über den Ausdruck vermag das Dingliche nun auch anderes wiederzugeben – anderes als sein eigenes Selbst. »Aber das Werk ist kein Zeug, das außerdem noch mit einem ästhetischen Wert ausgestattet ist, der daran haftet.«44 Auf diesem Wege kann der eigentliche Gehalt des Werkes nicht hervortreten – immer wird es nur die hineingelegte subjektive Erwartung sein, die aus der ästhetischen Betrachtung erwächst. Um ein Ding ›sein‹ zu lassen, wie es wirklich ist, muss man ihm – Heidegger zufolge – »gleichsam ein freies Feld gewähren, damit es sein Dinghaftes unmittelbar zeige. Alles, was sich an Auffassung und Aussage über das Ding zwischen uns und das Ding stellen möchte, muss zuvor beseitigt werden. Erst dann überlassen wir uns dem unverstellten Anwesen des Dinges.«45 Somit führt der »Weg zur Bestimmung der dinghaften Wirklichkeit des Werkes [...] nicht über das Ding [das wir vor uns haben] zum Werk [das wir dann mit einer darüber hinausgehenden Bedeutung aufladen], sondern über das Werk zum Ding«46: als eine rückgewandte Eröffnung des Seins im Seienden. Betrachten wir mit Heidegger ein Beispiel: ein gebautes Ding, z.B. eine Brücke, erkennen wir als Brücke, weil sie in ihrer Form die wesenhaften Elemente von ›Brücke‹ verkörpert. Darüber hinaus aber – so die geläufige Lesart – kann sie auch noch mancherlei ausdrücken, z.B. Leichtigkeit oder Schwere, und durch ihren Ausdruck wird sie zum ›Symbol‹, z.B. für die Verbindung zwischen zwei Ländern oder für die Überwindung von Grenzen. Ist aber der Ausdruck ihrer Symbolik wesenhaft für die Brücke als Werk?47 Oder wird nicht durch den Ausdruck eine metaphorische Sichtfortan maßgebende Auslegung der Dingheit des Dinges gegründet und die abendländische Auslegung des Seins des Seienden festgelegt. Sie beginnt mit der Übersetzung der griechischen Wörter in das römisch-lateinische Denken.« Aus: Heidegger. Der Ursprung des Kunstwerkes (wie Anm. 31). S.14f. 44 | Ebd. S.33. 45 | Ebd. 46 | Ebd. S.34. 47 | Nelson Goodman (1906-1998) führt zu dieser Differenz von Ausdruck und Verkörperung aus: »Architekten zum Beispiel sprechen gerne davon, dass einige Bauwerke ihre Funktion zum Ausdruck bringen. Aber wie wirksam auch immer eine Leimfabrik die Leimherstellung typisieren mag, sie exemplifiziert buchstäblich und nicht metaphorisch, dass sie eine Leimfabrik ist.« Bezogen auf unser Beispiel der Brücke: eine Brücke exemplifiziert immer schon buchstäblich, dass sie eine Brücke ist, sie muss
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weise in die Betrachtung der Brücke gelegt, die von ihrem eigentlichen Sein durchaus verschieden sein mag. Heidegger schreibt dazu: »Allein die Brücke ist, wenn sie eine echte Brücke ist, niemals zuerst bloße Brücke und hinterher ein Symbol. Die Brücke ist ebenso wenig im voraus nur ein Symbol in dem Sinn, dass sie etwas ausdrückt, was, streng genommen, nicht zu ihr gehört. Wenn wir die Brücke streng nehmen, zeigt sie sich nie als Ausdruck. Die Brücke-an-sich ist ein Ding und nur dies.« 48 Was das Werk auszeichnet, ist sein Über-sich-Sein, also sein Kommentar an sich selbst, nicht ein Kommentar im Sinne eines symbolisch-metaphorischen Verweises, der ja mehr die gesellschaftlichen und geschichtlichen Kontexte betrifft, und nicht das Dingliche der Brücke als solche. Indem uns ein Werk durch das Begriffliche, Bildliche und Dingliche zurückführt auf sein ›Identisches‹, lässt es uns teilhaben an seinem Ursprung unter Auslassung von Verweisen, Zeichen, Symbol, Ausdruck: Das Werk ist »gerade dadurch charakterisiert, dass es nicht Gegenstand ist, sondern in sich selber steht. Durch sein In-sich-Stehen gehört es nicht nur zu seiner Welt, sondern in ihm ist diese da. Das Kunstwerk eröffnet seine eigene Welt. Gegenstand ist etwas nur, wo etwas nicht mehr in das Gefüge seiner Welt gehört, weil die Welt zerfallen ist, der es angehört.«49 Neben der Welt um sich herum erschafft das Werk eine Welt in sich. Diese Welt in sich ist sozusagen Gegenbild zur äußeren Weltlichkeit, in der das Werk steht und aus der heraus es erschaffen wird. Was also das Haus in seinem dinglichen Sein leisten kann, das können wir mit Heidegger in dem Zusammenhang zwischen dem »Aufstellen einer Welt«50 und seinem Gebrauch von Welt, also seinem Weltganzen beantworten. Das Haus ist ein Ding, das dazu dient, durch seine Form, durch seine Konstruktion, durch seine verwendeten Materialien dem Menschen die charakteristischen Elemente von Brücke aufweisen, sonst wäre sie ja keine Brücke. »Da aber die Bezugnahme auf eine besessene Eigenschaft der gemeinsame Kern der metaphorischen und der buchstäblichen Exemplifikation und die Unterscheidung zwischen ihnen kurzlebig ist, stellt der verbreitete Gebrauch des Terminus ›Ausdruck‹ für Fälle beider Art weder eine große Überraschung dar, noch richtet er Schaden an.« Aus: Nelson Goodman. Sprachen der Kunst. Frankfurt/Main 1995. S.93. 48 | Martin Heidegger. Bauen Wohnen Denken (1951). In: Ders. GA. Band 7. Vorträge und Aufsätze. Frankfurt/Main 2000. S.145-163. Hier: S.154. 49 | Gadamer. Zur Einführung (wie Anm. 3). S.105. 50 | Heidegger. Der Ursprung des Kunstwerkes (wie Anm. 31). S.45.
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Schutz zu bieten, das also dem Menschen die ›Idee-von-Schutz‹ eröffnet. Vom reinen »Um-zu« des Zeuges kommen wir so auf eine dinglichere, selbstbezogenere Grundlage des Hauses – indem wir ›Haus‹ als basale Möglichkeit des Seins in der Welt denken. So wie die Früchte des Baumes nicht nur da sind, um gegessen zu werden, so ist auch das Haus nicht nur da, um Schutz zu bieten – es ist Teil des Weltganzen. Das Weltganze umfasst die Gesamtheit der bestimmenden Faktoren für ein Ding. Das Weltganze ist nichts, was sich aus einzelnen Teilen jeweils spezifisch fügt (als Fürmich), sondern es geht als Ganzes den Dingen ideell voraus (als Ansich), es ist das ›Voraussetzende‹. Seinen Sinn vermag es einem Werk damit gleichsam im Voraus zuzuweisen – es kennt ja seine grundgelegte ›Idee‹. In dieser Sichtweise finden Welt-Bildung und Entwurf zueinander, sofern der Entwurf auf einer Intention basiert, die ihrerseits Resultat einer bewussten Horizontbildung von Welt im Dinglichen ist. Welche Art von Werk wir auch vor uns haben – es darf sich nicht auf ein subjektives Erlebnispotential reduzieren lassen. An einem solchen subjektiven Erlebnis kann uns insbesondere in der Architektur nicht gelegen sein. Denn gerade die Architektur vermag ihren Werkcharakter darzustellen im Zusammenspiel von bleibender ›Verfügbarkeit‹ und der Bestimmbarkeit eines lebensweltlichen Rahmens, dem Aufstellen einer Welt, im Modus des ›Identischen‹.
Haus als Bild: Reflexion von Welt »Der malerische Blick ist die Anschauung der Abwesenheit der Empfindung in ihrer Präsenz, also das Fort im Da.« J EAN -F RANÇOIS LYOTARD. A NIMA MINIMA . 51
Das Wesen des Bildes scheint zunächst nicht eindeutig fassbar, hat es doch eine zweiseitige Bestimmung: zum einen als passive Wahrnehmung des Gegebenen, quasi als Spiegelbild der Welt auf der Netzhaut des Betrachters, zum anderen als aktive Determinante im Sinne einer eigenen BildErzeugung, einer imaginierenden Vorstellung. Die Differenz des Bildzeichens zwischen passiv und aktiv wird uns im Folgenden begleiten, wenn 51 | Jean-François Lyotard. Anima minima (1993). In: Ders. Postmoderne Moralitäten (1993). Wien 1998. S.210.
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wir klären wollen, welches die Charakteristika des Bildlichen für das ›Identische‹ sind. Worin (be)gründet sich gegenüber dem Dinglichen als faktischem Gegenüber und dem Begrifflichen als Element der Kommunikation der Ursprung des Bildlichen als Darstellung? Die Frage nach dem Bild-Erzeugen ist gleichbedeutend mit der Frage nach einer ›anderen‹ Darstellungsform zur Realität: Will die neue Darstellung das Wahrgenommene kommunizieren, also mitteilen, oder will sie das Dargestellte einer Deutung unterwerfen? In dieser Gegenüberstellung erkennen wir die Differenz von Präsenz und Repräsentation wieder. Indem das Bild seine Deutung nicht festschreibt, haben wir es im Abbilden der Welt mit einer Form der Reflexion von Welt zu tun. Auf dieses Phänomen nimmt Jean-François Lyotard (1924-1998) Bezug, wenn er sich dem besonderen Moment der Entwicklung des Menschen zum Zeitpunkt der ersten Höhlenmaler widmet. Lyotard erkennt in dem Akt des Malens eine neue Bezugnahme des Menschen auf dessen Wahrnehmung. – In der Höhle von Lascaux sitzen die Menschen beim Feuer zusammen; der angekohlte Holzstab eignet sich dazu, auf den Wänden Spuren zu hinterlassen; doch nicht allein an Spuren ist der Höhlenmensch interessiert; er will die Welt, die ihn umgibt und die ihn bedingt, reflektieren, indem er sie abbildet und damit erneut wiedergibt. Es geht damit um eine bedeutende Funktion der dargestellten Elemente zur Lebenswelt, d.h. um einen symbolischen, also verweisenden Charakter des Bildes gegenüber der Realität. Indem der Urmensch die äußere Welt im Innen der Höhle dupliziert, versieht er jene mit einer bestimmten Bedeutung, einer Hoffnung, einem Gedenken. Er hat die Differenzierung eines Dinges (und damit der Welt) in seinen möglichen Bedeutungsebenen verinnerlicht: er unterscheidet zwischen dem Büffel als Fleisch, das er zum Leben braucht, und dem Büffel als Inhalt seiner Malerei, die er anbetet, weil sie durch Anbetung als Hoffnung für die Zukunft gelten kann. Das Bild in seinem Sein ist bestimmt von seiner Relation zum Original. »Was das Original selbst ist, ist das Bild nur als ein ›Derartiges‹.«52 Zeichnen ist ›Derartiges›, das bedeutet Differenz zum Eigentlichen; der Mensch macht sich ein Bild des Büffels, so wie er ihn kennt, doch die Zeichnung verweist nicht auf einen besonderen Moment der subjektiven Wahrnehmung. Die Zeichnung beinhaltet vielmehr eine Differenzierung in Bedeutung wie auch eine Differenzierung in Zeitlichkeit (und diese beiden Differenzierungen machen das Wesen der Repräsentation aus). Mit der 52 | Gernot Böhme. Theorie des Bildes. München 2004. S.21.
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bildlichen Darstellung hat der Mensch die Möglichkeit in der Hand, die Welt da draußen in einer anderen, eigenen Hierarchie vorzustellen: die vorgestellte Abstraktion als zeichnerische Zurücknahme ist damit nicht Unfähigkeit der Darstellung53 , sie ist Ausdruck eines inhaltlichen Differenzierens. Lyotard vermerkt dazu: »Der malerische Blick ist die Anschauung der Abwesenheit der Empfindung in ihrer Präsenz, also das Fort im Da.«54 Der Moment der Wahrnehmung ist für uns jenes »Da«, natürlich haben wir es auch in der Malerei mit Präsenz von Wahrnehmung zu tun, aber die Intention der Darstellung zielt auf ein »Fort« – sei es in der Vergangenheit als ein Gedenken, sei es in die Zukunft als ein Hoffen. Das Jetzt der bildlichen Wahrnehmung ist die Klammer zwischen beiden Polen. Als Kunstwerk projiziert die Zeichnung den Blick des Betrachters zwischen die Zeiten. Damit ist die Zeichnung von ihrem Anbeginn der Höhlenmaler bis in die Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts gefangen in der Unmöglichkeit, tatsächlich Präsenz zu zeigen, und stattdessen repräsentieren zu müssen. Sie entwickelt daraus ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten und aistheta, die zunächst auf Repräsentation, auf Stellvertretertum beruhen und sich erst im Laufe der Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst zu einer eigenen Autonomie und einer eigenen Präsenz hin entwickeln. Kommen wir auf die Architektur zurück: welches ist gegenüber dem Naturvorbild ›Büffel‹ nun das gegebene Vorbild von ›Haus‹? Ist es ebenfalls ein Abbild, z.B. dasjenige einer Höhle? Nicht direkt – und doch ist das 53 | Vgl. Jacques Ranciére. Das Unbehagen in der Ästhetik. Wien 2007. S.107: Nach Hegel definiert sich diese Form der »symbolischen Kunst« eher im Ungewollten: »Hegel [...] hat gerade die Unverhältnismäßigkeit zwischen der sinnlichen Vorstellungskraft und der Idee zum Prinzip dessen gemacht, was er allgemeiner die symbolische Kunst nennt: die Kunst, deren Idee es nicht schafft, sich genügend zu bestimmen, um sich geeignet in eine sinnliche Materialität zu übersetzen.« Uta Kösser führt zum selben Thema des Hegelschen Begriffes der »Vorkunst‹ aus: »Diese frühe Zeit legte in ihre Naturanschauung eine abstrakte Idee hinein, die zu einer unvollkommenen Gestalt in der Kunst führte. Symbolische Kunst sei so eigentlich Vorkunst (Hegel, Ästhetik I, S.309), da sie versuche, Einzelerscheinungen in eine allgemeine Vorstellung zu bringen, um diese ins Bild zu fassen. Sie habe eine Tendenz zum Erhabenen, weil diese Idee unfassbar sei. Daher sei die Übereinstimmung von Bedeutung und Gestalt – oder von Innen und Außen – mangelhaft.« In: Uta Kösser. Ästhetik und Moderne. Erlangen 2006. S.168. 54 | Lyotard. Anima minima (wie Anm. 51). S.210.
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bildliche Zeichen von ›Haus‹ eine Mimesis an den dinglichen Gebrauch, und dies unter zwei Gesichtpunkten: was muss das Ding ›Haus‹ für sich leisten, d.h. welchen Schutz muss es bieten? Und was benötigt dieses Ding an bildlicher Eindeutigkeit, damit es als ›Haus‹ zu erkennen ist. Geben wir einem Kind ein Blatt Papier und einen Stift und fordern wir es auf, ein Haus zu zeichnen. Wie wird dieses Haus aussehen? Auch heute noch zeichnet ein Kind ein Haus als Typus mit einem rechteckigen Unterbau und einem dreieckigen Aufbau, einem Satteldach. Und dieses ganz unabhängig davon, in welchem Haus das Kind selbst lebt und wohnt. Warum gehört vor den inneren Augen eines Kindes zu einem Haus ein zeichenhaftes Dach? Weil die Zeichnung eines einfachen Rechteckes allein noch nicht eindeutig ›Haus‹ aussagt. Sie mag ›Haus‹ verkörpern können, weil Häuser eben auch mit einem Flachdach horizontale Abschlüsse haben können, und weil ein Kind im beginnenden einundzwanzigsten Jahrhundert solche Häuser natürlich aus der Lebenswelt kennt; das einfache Rechteck mag aber auch ›Schuhkarton‹, ›Ziegelstein‹ oder einen Quader darstellen, von dem unsere Welt denkbar viele Exemplare birgt. Allein das Haus mit Satteldach zeigt sich auf den ersten Blick eindeutig als ›Haus‹. Das Bildliche ist in seinem Ursprung eine Darstellung der gesellschaftlichen Gegebenheiten, wie auch die Höhlenbilder von Lascaux zeigen. Die Bedingungen der Welt und ihre Entwicklung zeichnen sich hierin ab. In der einfachen bildlichen Darstellung einer Strichzeichnung zeigt auch das Bild von ›Haus‹ sein eigenes Selbst, seine ›Idee-von-Haus‹. Was können wir aus dem uns vertrauten Bildzeichen des ›Hauses vom Nikolaus‹ herauslesen? Wir können anhand der bildlichen Darstellung die Mimesis seiner Schutzfunktionen nachvollziehen: Das Haus stellt einen nach allen Seiten geschützten Raum her. Dafür braucht es Wände und ein Dach sowie eine konstruktive Aussteifung. Regen und Schnee fallen von oben, also muss das Dach sich diesen Naturkräften nicht nur entgegenstellen, sondern sie möglichst ungehindert abfließen lassen. Von der Seite drohen wilde Tiere oder Angreifer, also muss der innere Raum gegen diese durch Wände absichern, die zudem das Dach tragen können. Und die bildliche Darstellung der Diagonalauskreuzung stellt die Aussteifung dar, die verhindert, dass das Haus durch die Windkräfte wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen würde. Jede einzelne der acht Linien im ›Haus vom Nikolaus‹ hat einen aus dessen lebensweltlichen Anforderungen herrührenden Ursprung. So wird es zum bildlichen Modell von ›Haus‹ selbst.
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Die Frage nach dem Bildlichen von Haus ist also nicht zu missverstehen als eine Erwartung des Betrachters, sondern als Frage nach dem Ursprung, aus dem die Erwartung an ein späteres Bild-Zeichen herrührt, als Frage nach der ›Idee-von-etwas‹. Mit der Darstellung eines Dinges im Bildlichen verhält es sich daher ähnlich wie mit der Begriffsfindung für ein Ding: im Sinne einer notwendigen Eindeutigkeit einer Aussage sucht das Kind die Funktion von einem Ding eindeutig zu bestimmen. In der Anwendung des Begriffes ist diese Eindeutigkeit unabdingbar für die Kommunikation; in der Anwendung als Bildzeichen ist sie wesentlich für unsere Orientierung. Anders verhält es sich in der Kunst: »Die Konkrete Malerei dagegen sagt, ein Quadrat ist ein Quadrat, und nicht mehr ein Abbild von einem Haus.«55 Der unmittelbare Charakter der bildlichen Darstellung mag in der Malerei der Moderne arbiträr sein, er mag bezogen auf die Intention des Künstlers variabel sein – doch er ist es nur, solange er auf Repräsentation und »ästhetischer Distanz« basiert, die wir für die Gestalt der architektonischen Lebenswelt nicht im gleichen Maße ansetzen können. In ihrem Repräsentieren ist die bildliche Darstellung »das Fort im Da«56. In ihrem verweisenden Nicht-Sein entstammt sie einem Ähnlichkeitsdogma, das erst durch die intellektuelle Freiheit des Menschen in die aufgeklärte Offenheit einer Interpretation übergeführt werden kann. Als Strich hat das Bildliche zunächst keine gesellschaftliche Bedeutung – es hat nur die Verpflichtung zur Ähnlichkeit mit dem Vorbild. In seiner Ganzheit als Abbild stellt es aber die Repräsentation von Welt her, die auf dieses Ding zutreffen und damit mit Bedeutung verknüpft werden. »Ausschließlich Bilder sind in der Lage, etwas sehen zu lassen, ohne von mir den Preis der persönlichen Anwesenheit in der wahrgenommenen Welt zu verlangen.«57 Das Bild entlastet den Wahrnehmenden von seiner Partizipationspflicht innerhalb der Realität (dem ›Da-draußen‹), das Bild besitzt bereits per se eine »ästhetische Distanz«. In der Bezugnahme auf ein Bild kann ich mich daher anders verhalten als in meiner Beziehung zur Realität. Ein Bild kann ich betrachten, ohne Teil dessen zu werden, was ich betrachte: »Bilder lassen mich künstlich aus meinem In-der-Welt-sein auftauchen. [...] Das Bild ermöglicht den Ausnahmezustand eines Frei55 | Christian Sumi. Positive Indifferenz. In: daidalos – Magie der Werkstoffe II. Gütersloh 1995. S.26-34. Hier: S.33. 56 | Lyotard. Anima minima (wie Anm. 51). S.210. 57 | Lambert Wiesing. Das Mich der Wahrnehmung. Frankfurt/Main 2009. S.213.
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von-Partizipation-seins.«58 Ein Bild zu betrachten heißt, etwas zu sehen, »ohne beim Gesehenen selbst dabei zu sein«59 – eine Aussage, welche die Differenz von Bild und Architektur in ihren Gegenpolen von Repräsentation und Präsenz auf den Punkt bringt. Mit anderen Worten: steht man vor einem unbekannten Bild, so fragt man sich: was stellt es dar? Steht man in einem unbekannten Raum, so fragt man sich: wo bin ich? Die Fragen zielen in unterschiedliche Richtung: die Repräsentation des Bildes auf die Bedeutung des Wahrgenommenen, die Präsenz des Erlebens auf die Frage nach dem eigenen Selbst.
Haus als Begriff: Substitut von Ding und Bild »Wie die Hieroglyphen bezeugen, hat das Wort ursprünglich auch die Funktion des Bildes erfüllt. Sie ist auf die Mythen übergegangen. Mythen wie magische Riten meinen die sich wiederholende Natur. Sie ist der Kern des Symbolischen [...]. Unerschöpflichkeit, endlose Erneuerung, Permanenz des Bedeuteten sind nicht nur Attribute aller Symbole, sondern ihr eigentlicher Gehalt.« M AX H ORKHEIMER . THEODOR W. A DORNO . D IALEKTIK DER A UFKLÄRUNG .60
Wie steht es demgegenüber mit der Bezugnahme des Begrifflichen auf unsere Lebenswelt? Geht unser Blick zurück an den Ursprung der Menschheit, so finden wir – wie in dem Zitat von Horkheimer/Adorno dargestellt – in der vormythischen Welt den Begriff und das Bild in ihrer Beziehung zum Ding als Einheit der einstmaligen Lebensform der Vorgeschichte. In dieser Zeit ist die Welt dem Menschen als solche gegeben. All ihre erfahrbaren Elemente entsprechen einem bestimmten, gegebenen Zweck. Vitruv (1. Jhd. v. Chr.) beschreibt in seinen Zehn Büchern über Architektur den Ursprung der Gesellschaft als ein unbedingtes und unmittelbares Verhältnis des Menschen zur Natur: »In der Urzeit kamen üblicherweise die Menschen wie die wilden Tiere in Wäldern, Höhlen und Hainen zur Welt, und sie fristeten ihr Leben durch Verzehr roher, wildwachsen58 | Wiesing. Das Mich der Wahrnehmung (wie Anm. 57). S.213. 59 | Ebd. S.215. 60 | Max Horkheimer / Theodor W. Adorno. Dialektik der Aufklärung. In: Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften. Band 3. Frankfurt/Main 1970. S.33.
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der Feldfrüchte.«61 In dieser Welt gilt: Der Stein ist Stein, die Höhle ist Höhle, es gibt Früchte, die man essen kann und solche, von denen man absieht. Es ist dies die Entsprechung zum je selbigen Sein der Dinge. Was es darin noch nicht gibt, ist die Möglichkeit einer Gleichzeitigkeit der Dinge in ihrem Verhältnis und ihrem Bedingtsein für den Menschen. Eine solche Bestimmung der Differenzierung vom eigentlichen Dingsein ermöglicht erst der Begriff. Sprache wird also »dazu ›gemacht‹, Wirklichkeit und Welt nach dem Bedürfnis der Spezies Mensch zu ›konstruieren‹.«62 Es kommt die Zeit, da ist der Stein nicht mehr nur Stein, sondern wird zum Werkzeug, da wird die ungenießbare Pflanze zum Heilmittel. Was ist geschehen? Das Ding wurde als Anderes im Selben erkannt – dem Ding wurde aus dem täglichen Gebrauch heraus zunächst die bestehende Eindeutigkeit genommen, um sie ihm dann in Form des Begriffes erneut zuzuweisen. Die Unterscheidung von (bezeichnendem) Wort und (bezeichnetem, weil besonderem) Gegenstand wird für die Kommunikation des Menschen notwendig im Hinblick auf die Zielrichtung, auf Absicht und Bedeutung. Das Ding, das herumliegt, ist gegeben. Das Werkzeug, das ich herstelle, ist nicht mehr nur gegeben, es ist nun ein instrumentalisiertes Gegebenes, ein Element in Wandlung.63 Als Werk-Zeug wird es Ding in Zahl, Maß und Wert. Der scharfkantige Stein eignet sich gut zum Spalten harter Früchte – als solchen setzt der Mensch diesen von nun an ein und notwendig bedarf es einer bezeichnenden Differenzierung dieses besonderen Steines von den anderen unspezifischen Steinen.64 Der Sinn und Zweck der Erfindung 61 | Vitruv. De architectura libri decem – Zehn Bücher zur Architektur. Zitiert nach: Fritz Neumeyer. Quellentexte zur Architekturtheorie. München 2002. S.83. 62 | Richard David Precht. Wer bin ich - und wenn ja wie viele? München 2007. S.120. 63 | Diesen Moment der Erfindung des Werkzeuges stellt Stanley Kubrick in seinem Film »Odyssee – 2001 im Weltraum« (1968) dar, als er den Urmenschen im Angesicht des auf die Erde gekommenen Monolithen die Knochen der verhungerten Wüstentiere als Werkzeuge und Waffen gebrauchen lässt. 64 | Gehen wir dem scharfen Stein als Ursprung des Begriff ›Messer‹ nach: ›Messer‹ »leitet sich vom westgermanischen matizsahsa her, in dem die alte indogermanische Wortwurzel sax, etwa lateinisch saxum und italienisch sasso versteckt ist, was ursprünglich Felsen oder Stein bedeutet. So führt die Bezeichnung direkt zu den urzeitlichen Wurzeln des Arbeitsgeräts, stellt es doch eine Erinnerung an die kulturellen Verhältnisse der Steinzeit dar - ebenso wie das westgermanische Hammer gleichzeitig die Bedeutung Fels hat. Aus: www.wapedia.mobi/de (080922).
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sprachlicher Zeichen zeigt sich also im Herstellen von Orientierung in der Welt, die nicht mehr eindeutig ist, die nicht mehr nur gegeben ist. Wie formuliert doch Rainer Maria Rilke (1875-1926) in seiner Neunten Elegie, die in der Einleitung dieses Bandes in einem größeren Ausschnitt wiedergegeben ist: »Bringt doch der Wanderer auch vom Hange des Bergrands / nicht eine Hand voll Erde ins Tal, die Allen unsägliche, sondern / ein erworbenes Wort [...]«65: das Wort, vom Menschen erfunden, ist Substitut des Dinges. Haben wir uns auf das Wort verständigt, so transportiert dieses auch das Bild des Dinges mit sich. Die nun mögliche, zielgerichtete Verständigung gegenüber dem Nächsten ist Ausdruck der Entwicklung des menschlichen Verstandes und geht einher mit der Entwicklung menschlicher Kultur. Sie ist Abbild einer Entwicklung des menschlichen Geistes, in der das von der Hand und damit auch vom Verstand phänomenologisch Begriffene den Begriff hervorbringt, um so das uneindeutige, gegebene Bild und das gefundene Ding gegenüber anderen ähnlichen Dingen zu differenzieren. Die fortschreitende Entwicklung der Hand, die Neues findet und erfindet, geht so einher mit der Entwicklung der Sprache, die das Neue, nachdem es begriffen ist, zum Zwecke der Kommunikation auch benennt und aus ihrem Umgang mit Ding und Begriff die Sprache und Bewusstsein weiterentwickelt. Denn Sprache ist kein statisches System, wie Gadamer herausstellt: »So gewiss also Sprechen das Gebrauchen von vorgegebenen Worten, die ihre allgemeine Bedeutung haben, voraussetzt, ist es doch zugleich ein ständiger Prozess der Begriffsbildung, durch den sich das Bedeutungsleben der Sprache selber fortentwickelt.«66 In jedem Begriff gibt es einen Bezugspunkt darauf, was das Wort ursprünglich einmal gewesen ist, ehe es in den Mühlen des sprachlichen Gebrauchs abgeschliffen wurde. An dem Begriff für ein Ding finden sich Spuren einer entwicklungsgeschichtlichen Vergangenheit, wenn schon nicht mehr formal an den Gegenständen und Werkzeugen von heute, so Zum Stichwort »Sachs« schreibt das Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache: […] aus germanisch *sahsa Messer, Kurzschwert [...]. Zu der Wurzel (ig.) *sek- »schneiden«, zu der auch »Säge«, »Sense« und »Sichel« gehören. Formell entspricht l. saxum »Fels« als »das Schneidende, Kantige«. Der zugrunde liegende s-Stamm ist auch in l. s(a)cena f. »Haue des Pontifex« (aus *saces) und vermutlich in »Sense« verbaut. Verdunkelt ist Sachs als zweiter Bestandteil von Messer. 65 | Rainer Maria Rilke. Duineser Elegien (1922). Die neunte Elegie (Ausschnitt). 66 | Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode (1960). Tübingen 1972. S.405.
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doch eben in den Namen, mit denen wir diese Dinge auch heute noch bezeichnen. Es geht dabei aber nicht um ein notweniges Ähnlichkeitsprinzip zwischen Wort und Ding, sondern darum, die Begriffe in ihrem grundsätzlichen, unlösbaren lebensweltlichen Verhältnis zu dem Dinglichen und dem Bildlichen zu betrachten. Denn daraus entsteht zum einen eine erweiterte Orientierung, zum anderen erschafft sie Kultur: Orientierung für das Individuum Mensch, Kultur für das Gattungswesen Mensch. Die Grenzen der Sprache bestimmen damit die Grenzen der Welt – umgekehrt bestimmt die Grenze der Welt die Grenze der Sprache, denn wir haben für etwas jenseits unserer Welt keinen eigenen Begriff, sondern nur das Stilmittel der ›Metapher‹, die das fremde Phänomen mit der vertrauten Welt verknüpft. »Wenn jemand die Übertragung eines Ausdrucks vom einen auf das Andere vollzieht, blickt er zwar auf etwas Gemeinsames hin, aber das muss keineswegs eine Gattungsallgemeinheit sein. Er folgt vielmehr seiner sich ausbreitenden Erfahrung, die Ähnlichkeiten – sei es solche der Sacherscheinung, sei es solche der Bedeutsamkeit für uns – gewahrt. Darin besteht die Genialität des sprachlichen Bewusstseins, dass es solchen Ähnlichkeiten Ausdruck zu geben weiß«67 – in der Metapher. Gleichermaßen muss uns bewusst sein, dass die metaphorischen Begriffe die eigentliche Bindung an das Ding sukzessive auflösen. Geht es um die Beschreibung erfahrbarer, aber nicht greifbarer Phänomene, dann brauchen wir diese metaphorischen Umschreibungen, da uns das Nichtfassbare damit nähergebracht werden kann. Geht es aber um die Besprechung von Konkretem – und dazu zählt die Architektur als Gebautes –, so erzeugt die Metapher eine Ferne, eine Un-Eindeutigkeit zu ihrem dinglichen Bezugspunkt, die zu Missverständnis oder zu Unverständnis führen kann, und in ihrem Gebrauch auf diese Ferne hin zu überprüfen ist. Gehen wir nun von der allgemeinen Betrachtung des Begrifflichen zu dem eigentlichen Begriff von ›Haus‹ über, so können wir in diesem tatsächlich etwas Begriffenes im Sinne einer Mimesis an seinen Ursprung erkennen. Die Sprache vermag uns an den Ursprung der Dinge zurückzuführen, wenn sie auch manches verborgen hält. Gottfried Semper (18031879) versucht in seiner Schrift Die vier Elemente der Baukunst (1851), sich in diesem Sinne dem Ursprung des Bauens über die Sprache zu nähern. Semper führt eine begriffliche Analogie an, um für das Textile als Urform der Baukunst zu argumentieren: die etymologische Verwandtschaft der 67 | Gadamer. Wahrheit und Methode (wie Anm. 66). S.406.
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Begriffe Zaun und Saum deute nach Semper bereits auf die begriffliche Mimesis des Bauens an einen textilen Ursprung. »Der deutsche Ausdruck Wand [...] giebt seinen Ursprung zu erkennen. Die Ausdrücke Wand und Gewand sind Einer Wurzel entsprossen. Sie bezeichnen den gewebten oder gewirkten Stoff, der die Wand bildete.«68 Zudem unterscheidet Semper die Mauer als massiven Wall von der leichteren Wand. Diese Wand ist für Semper dasjenige architektonische Bauteil, welches den eigentlichen Raum erst herstellt: »Es blieb der Teppich die Wand, die sichtbare Raumbegrenzung. Die dahinter befindlichen, oft sehr starken Mauern wurden wegen anderer, das Räumliche nicht betreffender Zwecke notwendig, als zur Sicherheit zum Tragen, zur größeren Dauer und dergleichen.«69 Und lässt sich nicht auch in den uns so gewohnten Worten ›Haus‹, ›Wohnung‹ oder ›Bauen‹ eine Wurzel finden, die sich als ein solcher begrifflicher Ursprung darstellt, in welchem wir also das Verhältnis von Dinglichem zu seinem sprachlichen Abbild nachvollziehen können? »Althochdeutsch hûs heißt ursprünglich ›das Bedeckende‹. Es wurzelt in einer sehr alten, indogermanischen Grundbedeutung kû/[s]keu ›Schutz, umhüllen‹.«70 Zum Wort ›Bauen‹ führt Heidegger aus, das Bauen sei als Wohnen für den Menschen das »im vorhinein, wie die Sprache so schön sagt, ›Gewohnte‹.«71 Aber »Bauen ist nicht nur Mittel und Weg zum Wohnen, das Bauen ist in sich selber bereits Wohnen.«72 Das althochdeutsche ›Buan‹ heißt ›bleiben‹, ›sich aufhalten‹. Bauen ist somit Wohnen, Bauen ist ein lebensumfassendes Aufhalten: »Das alte Wort bauen, zu dem das ›bin‹ gehört, antwortet: ›ich bin‹, ›du bist‹ besagt: ich wohne, du wohnst.«73 Weil es aber das Gewohnte ist, tritt es im Alltag hinter die scheinbar aktiveren Tätigkeiten des menschlichen Handelns in der Welt zurück. In der schlussfolgernden Sichtweise eines dienenden Funktionalismus bleibt das Wohnen »der Zweck, dem alles Bauen vorsteht. [...] Wohnen und Bauen stehen zueinander in der Beziehung von Zweck und Mittel.«74 Die instrumentelle Logik 68 | Gottfried Semper. Die vier Elemente der Baukunst. Ein Beitrag zur vergleichenden Baukunde. Braunschweig 1851. S.57. Fußnote. 69 | Ebd. S.182. 70 | wikipedia.org/wiki/Haus (090514) 71 | Heidegger. Bauen Wohnen Denken (wie Anm. 48). S.149. 72 | Ebd. S.148. 73 | Ebd. S.149. 74 | Ebd. S.148.
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der Moderne sucht stets nach einer Kombination von Zweck und Mittel und findet diese in den dienenden, auf Funktion ausgerichteten Wohnkomplexen; der Ursprung des Begriffes vom Wohnen im ›Buan‹ zeigt dagegen, dass unsere rationalistisch vorgenommene Differenzierung von Ziel und Weg, von Wohnen und Bauen, einst in einem Begriff beheimatet war: dass also bereits die einfachste schützende Sicherung unseres Seins, also ein Dach über dem Kopf und ein paar Wände zu den Seiten, schon ›Wohnen‹ bedeuten kann, und dass Wohnen nicht abhängig ist von der perfekten Befriedigung aller Bedürfnisse. Der Blick auf den Ursprung des Begriffes ermöglicht uns, deren eigentlichen Inhalt auch heute noch wahrzunehmen. Der Begriff selbst ist nicht greifbar, er ist nicht sichtbar, er ist nichts Konkretes. Der Begriff ist eine Erfindung des Menschen, ein institutionalisiertes Konstrukt. Während das Dingliche als solches existiert, während im Bildlichen das Lichtsignal physikalisch von diesem Dinglichen ausgesendet wird, um von dem Menschen als bereits bekanntes Zeichen wahrgenommen und identifiziert zu werden, finden wir im Begrifflichen weniger eine Konkretion als die Annäherung des Menschen an die Welt: Der Begriff als Ausdruck der »rationalistische[n] Entwicklung der Menschheit drängte jene instinktive, durch die verlorene Stellung des Menschen innerhalb des Weltganzen bedingte Angst zurück.«75 In diesem Sinne kommt dem Begrifflichen in der Überwindung der ›Ur-Angst‹ des Menschen gegenüber der Welt die Bedeutung zu, dass der Mensch über den Begriff sich als Herrscher über die Welt fühlt. Der Begriff ist es, mit dem der Mensch auf intellektuellem, rationalistischem Wege seine Annäherung an das Ding herstellt. Das handfeste Be-greifen ist es, das uns der Dinge um uns herum zunächst körperlich versichert. Der Begriff ist dann das intellektuelle Substitut für das Abtasten all dessen, was wir sehen können und kennen, was wir nicht sehen können, und was wir noch nicht kennen. Durch den Begriff, der eben auch umschreibend sein kann, vermag der Mensch seine Position in der Welt darzustellen – mit demjenigen Mittel, das ihm ohne andere Hilfsmittel zur Verfügung steht: seine Sprache. Schon der biblische Turm zu Babel – eigentlich eine Festungsanlage, ein Wehrturm – baut in seiner Komplexität und Übergröße zwingend auf dem Medium der Sprache auf: Kommunikation ist notwendig zur Bewältigung der Aufgabe. Doch die Fertigstellung gelingt nicht, der Hochmut der 75 | Worringer. Abstraktion und Einfühlung (wie Anm. 12). S.82.
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Menschen – eigentliches Handlungsmotiv für den Turmbau – wird gebrochen: »Das Mittel, mit dem Gott eingreift, ist die Verwirrung der Sprache. Da deren Funktion als grundlegendes Mittel menschlicher Zusammenarbeit gestört ist, kommt es zu Missverständnissen und damit zu Streitigkeiten, die immer neue Spaltungen in Gruppen, die ihre eigenen Wege gehen, hervorrufen. Das führt zwangsläufig zur Zerstreuung der Menschen über die Erde.«76 Es ist also nicht die Zerstörung des Turmes durch Gott, mit der manche dieser Mythen enden, wodurch das utopische Projekt des Turmbaus scheitert und worin sich die Macht Gottes zeigt, sondern es ist die fehlende Kraft zur Vollendung des Baues aufgrund fehlender Begriffe, aufgrund des von Gott hervorgerufenen »Widerstreits«77 in den Diskursebenen der frühen Sprache. Es scheint, als drohe seit jeher die Gefahr, dass ein Werk über seine Kommunizierbarkeit im Begriff in Frage gestellt werden könne. Die Beziehung von Sprache und Werk in der Architektur, ihre Nachvollziehbarkeit als Benennbarkeit, als Mittel und Gegenstand der Kommunikation vollzieht sich vor dem Hintergrund der Frage nach dem architektonisch Darstellbaren als dem Sein zwischen Begrifflichen, Bildlichen und Dinglichen – dem ›Identischen‹. In diesem Sinne liest sich die Geschichte der Architektur, insbesondere aber die Geschichte der modernen Architektur, als ein sich stetig wiederholender Turmbau zu Babel: Wir selbst haben die Möglichkeiten der alltäglichen, lebensweltlichen Kommunikation über das Gebaute im Sinne eines nachvollziehbaren Begreifens seiner Elemente aufgegeben zugunsten einer metaphorischen Offenheit und einem am Subjekt orientierten ästhetischen Erlebnis – oder gar zugunsten eines nicht mehr an der Architektur selbst interessierten Bauwesens, das den Zweck seines Handelns im rein wirtschaftlichen Denken sieht. Erst wenn dagegen die Kommunikation über Architektur in ihren Begriffen auf dem ursprünglichen Verweis auf Ding und Bild aufbaut, können wir uns dem Ergebnis in einer wechselseitigen Bezugnahme von Erkennen und Verstehen annähern – erst dann können wir von einer tatsächlichen ›Identität von Architektur‹ sprechen, die ihren Ursprung in sich selbst hat und die dennoch über Begriff und Bild auf den Menschen zielt. 76 | Heinrich Krauss / Max Küchler. Erzählungen der Bibel. Das Buch Genesis in literarischer Perspektive. Freiburg (CH) 2003. S.182. 77 | Der philosophische Begriff des »Widerstreits« geht auf Jean-François Lyotard zurück. Siehe dazu: Ders. Der Widerstreit. München 1987.
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V OM I DENTISCHEN ZUR I DENTITÄT VON A RCHITEK TUR : K ONSTANTEN UND E INFLUSSFAK TOREN Unser Umgang mit dem bildlichen wie auch mit dem sprachlichen Zeichen basiert wesenhaft auf einer Differenz, einer Distanz zur dinglich gegebenen Welt durch Bewusstsein. Begriff und Vorstellungsbild begründen in ihrem Anderssein zum Ding eine Beziehung zwischen der gegebebenen Welt und der erlebten Welt, von Gegebenem und Erschaffenem. Was ist das Haus? Was ist es für den Menschen, was ist es für die Welt? In den Worten Gerd de Bruyns (*1950) stellt »die traditionelle Architektur [...] die größte Versöhnungsmaschine [dar], die je existierte.«78 Über Jahrtausende verfolgt demnach die Architektur die Strategie, dem Menschen in seinem wechselvollen Sein in der Welt eine reale Konstante entgegenzuhalten, in der er sich seines Standes in der Welt versichern kann. Umgekehrt nutzt der Mensch die Architektur, um an ihr gesellschaftliche Bedeutung und Ausdruck exemplarisch vorzuführen. Doch im Wechselspiel unterschiedlichster Interessen der Gesellschaft, die von rein ökonomischen über ästhetische bis hin zu politischen Ausrichtungen liegen mögen, gerät das Haus in diesem Ausdrucksdenken zum Spielball von durchaus gegensätzlichen Strategien – es vermag darin nicht mehr der Schlüssigkeit seines eigenen ›Identischen‹ zu folgen. Denn das ›Identische‹ als das Voraussetzende von Architektur liegt außerhalb jeder konkreten Architektur. Architektur als Bauen oder als Bauwerk jedoch fragt durch ihr In-der-Welt-Sein jeweils danach, wie das Werk die Grundlagen des ›Identischen‹ verfolgt. Demnach sollte jedes Bauwerk in seiner Syntax einer grundgelegten Sprache der Architektur folgen, auch wenn sich das System seiner einzelnen Elemente in einem steten Wandel befinden mag.
Haus als Gefundenes oder Erfundenes? Mit dem Bau der ersten Häuser unterwirft der Mensch die Welt einer grundlegenden Wende: Natur wird zu Kultur, in der das Machen nun dem Finden gegenübersteht. Sprache, Bild(-Zeichen) und dingliche Welt stehen sich mit dem Moment ihrer Bestimmbarkeit in den Parametern des ›Identischen‹ gegenüber, sie sind nicht mehr eins, ihre Einheit ist nur78 | Gerd de Bruyn. Die enzyklopädische Architektur (wie Anm. 10). S.21.
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mehr Fiktion. Mit diesem evolutionären Schritt der Trennung von Sprache, Zeichen und Dingwelt geht sowohl die Differenzierung von Subjekt und Objekt einher wie auch das Bewusstsein des Menschen sich selbst gegenüber: »Die Trennung von Bild und Zeichen bedeutet Distanz. Mit Hilfe des sprachlichen Zeichens kann nun über Bilder gesprochen werden, da die Sprache selbst nicht mehr als bloßer Ausdruck des Bildes gelten kann. Sie löst sich von der bildhaften Ausdrucksfunktion und steht damit dem Menschen zur Verfügung, sich die Welt zum Gegenstand zu machen.«79 Der Mensch kann nun in sprachlichen Zeichen seine eigene Geschichte von jenen mythischen Erzählungen unterscheiden, die auf der ewigen Wiederholung des Gleichen beruhen. Während das Wesen des Mythos in der Wiederkehr des Immergleichen besteht, baut das sprachliche Zeichen eine Distanz zur Welt auf und begründet so die Erschaffung einer Beziehung als Verhältnis von der gegebenen Welt zur subjektiven Welt. Das ›Namengeben‹, wie auch die Sprachlichkeit im allgemeinen, steht damit in einem engen Zusammenhang zu der Fähigkeit zum ›Bildmachen‹. Beides ist Ausdruck einer Reflexion von Welt, einer gewissen »Verdoppelung« von Welt, wie Hans Jonas (1903-1993) erläutert: »Die symbolische Verdoppelung der Welt durch Namen [ist] zugleich ein Ordnen der Welt gemäß ihrer generischen Urbilder. Jedes Pferd ist das ursprüngliche Pferd, jeder Hund der ursprüngliche Hund. – Die Allgemeinheit des Namens ist die Allgemeinheit des Bildes. Der vorzeitliche Jäger zeichnete nicht diesen oder jenen Büffel, er zeichnete den Büffel – jeder mögliche Büffel war darin beschworen, vorweggenommen, erinnert.«80 Ist auch jede Hütte die ursprüngliche Hütte? Betrachten wir das Beispiel der »Urhütte« von Marc-Antoine Laugier (1713-1769) vor dem Hintergrund der vorgenommenen Differenz von Gefundenem und Erfundenem, so erscheint diese als Modell der Denkweise einer vormythischen Zeit, einer Zeit des Gefundenen, nicht des Erfundenen, zu entstammen. In der bekannten Illustration von Charles Eisen (1720-1778) aus dem Jahre 1755 (Abb. 5) scheint es, als wachse das Haus naturgegeben aus dem Waldboden heraus. Aber ist ein Haus ein naturhaft Gegebenes, ist es ein Faktum, das uns die Natur zur Verfügung stellt, damit wir es finden und nutzen? 79 | Alfred Schäfer. Theodor W. Adorno. Ein pädagogisches Porträt. Weinheim, Basel, Berlin 2004. S.76. 80 | Hans Jonas. Homo Pictor. Von der Freiheit des Bildens. In: Gottfried Böhm (Hrsg.). Was ist ein Bild? München 1994. S.105–124. Hier: S.122.
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Abb. 5: Die Urhütte nach Marc-Antoine Laugier. Essai sur l'Architecture (1755), Frontispiz. Illustration: Charles Eisen. Die Illustration sucht diese Sichtweise als Wandlung von Natur zum Haus darzustellen. Dabei verkörpert »die antik gekleidete Frauengestalt im Vordergrund [...] die Natur als Baumeisterin, die der Muse der Architektur das Wesen der Baukunst offenbart.«81 Im Hintergrund der Darstellung stehen vier Bäume dergestalt, dass sie die vier Ecken eines Hauses bilden, und die Kronen der Bäume lassen mit ihrem Geäst die Urform des Daches zum Vorschein kommen. Alles wirkt, als habe die Natur auch zu der Gestalt des Hauses ihren Beitrag geleistet, indem sie dem Menschen das Haus als ein natürlich ›Gegebenes‹ anbietet, das dieser nur zu finden, zu benennen, zu benutzen und mimetisch zu vervielfältigen braucht. Auch Laugiers Ausführungen folgen diesem Kanon: »So geht die einfache Natur zu Werke und die Kunst verdankt ihre Entstehung der Nachahmung dieses Vorgehens.«82 Was Laugier umschreibt, ist das antike Prinzip der Mimesis.
81 | Fritz Neumeyer. Quellentexte zur Architekturtheorie. München, Berlin, London, New York 2002. S.162. 82 | Marc-Antoine Laugier. Essai sur l’architecture (1753). Zitiert nach: Neumeyer (wie Anm. 81). S.161.
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Abb. 6: Die Urhütte nach Filarete. Architekturtraktat. Florenz, Bibl. Naz., Cod. Magl. II, I 140 fol. 54 v. Für den bewussten, mimetischen Umgang mit Vorbildern ist eine wesentliche Fähigkeit des Menschen unabdingbar: die Bereitschaft, das Gesehene (als Vorbild der Natur) mit einer Intention zu verbinden, und nach dieser mimetisch zu handeln, d.h. nicht nur nach Formen, sondern auch nach Prinzipien nachzubilden. Der Weg dorthin führt notwendig über die Differenz von Sprache und Bild. Es ist dies aber nicht der Weg des (zufälligen) Findens, sondern der des (bewussten) Entdeckens. Dieser Begriff des Entdeckens trifft das hier angesprochene Phänomen am deutlichsten: dem, was latent vorhanden ist, nehme ich seine Unsichtbarkeit, ich streife die Decke ab, die es bislang unkenntlich machte, ich entberge es aus seiner Verborgenheit in eine neue Un-Verborgenheit, damit wir mit dem nun Entdeckten umgehen können. Dieses Entdecken ist ein Bekenntnis zur Wahrheit (Un-Verborgenheit) von ›Haus‹ in der platonischen Sicht der idea. Sprachlich wie auch bildlich muss sich der Mensch einer Entdeckung als einem zuvor bereits durchdachten Konstrukt annähern können. Die scheinbar natürliche, absichtslose Zufälligkeit der Standorte der Bäume in Laugiers Urhütte lässt diese einer anderen, einer menschlich vor-intentionalen, von der Natur geprägten Entwicklungsebene der Welt angehören. Diese Form der Darstellung der Urhütte in ihrem scheinbaren Naturbezug
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sucht die Natürlichkeit einer der Architektur innewohnenden Selbstheit zu belegen – nicht nur ihrem Prinzip nach, sondern auch in ihrer konkreten Form. Diese Urhütte zeugt aber damit nicht von der Wirklichkeit der Dinge, sondern von der Idee ihrer Begründung. Betrachten wir daneben eine andere, etwas frühere Version zur Urhütte: Filarete (um 1400 – um 1469) bringt in seiner Darstellung die absichtsvolle Haltung des Menschen zu seiner Umwelt klarer zum Ausdruck (Abb. 6). In ihrem strukturellen Prinzip der vier Baumstämme als Ecksäulen gleicht auch dieses Modell dem von Laugier. Die Stämme sind hier aber nicht aus dem Boden gewachsen, sondern offensichtlich vom Baum zum Holz bearbeitet, sie sind verwandelt worden. Sie haben eine Metamorphose hinter sich: sinnvoll gekürzt stehen sie so, dass eine Astgabel das Auflager für den Längsbalken der Traufe bildet. Die Hütte ist damit nicht mehr Gegebenes, das gefunden wurde, sondern Hergestelltes; sie ist ein aktiv abgewandeltes Gefundenes, ein variiertes Gegebenes, ein bewusst Entdecktes: es ist nicht mehr nur Ding, es wird zum Zeug oder zum Werk. Das Menschenwerk ›Haus‹ stellt damit »ein Analogon zur Naturschöpfung [dar], gewissermaßen einen zweiten Schöpfungsprozess.«83 Erst hierin zeigt sich die Urhütte angehörig einer Zeit nach der Differenzierung einer Welt von Gegebenem und dem Aufstellen eines in dieser Welt Entdeckten. So formuliert auch Ernst Bloch (1885-1977): »Vom Architekten [muss] das Haus selbst, dies Ganze und Einheitliche seines Werks, nach Leitbildern erfunden oder entdeckt werden, die nicht im unmittelbar Gegebenen der Außenwelt liegen«.84 Es muss der ›Idee-von-Haus‹ folgen, die Mimesis am Prinzip des Schutzes ist, nicht Mimesis am Dinglich-Gegebenen einer Höhle – unsere Welt ist schließlich keine Welt aus Nachbildungen von Höhlen. Mit der Differenzierung von Gefundenem und Erfundenem entsteht architektonische Identität nun dort, wo das eigentliche Ding nicht mehr a priori in sich ›identisch‹ ist (denn dieses war das Paradigma der vormythischen Zeit). Dieses fortgeschrittene Bewusstsein den Dingen der Welt gegenüber eröffnet sodann die Möglichkeit, ›Haus‹ aus der Differenz vom ›Identischen‹ und der Bezugnahme auf die ›Idee-von-Haus‹ in einer je spezifischen Identität aufzubauen. Dieser Schritt markiert den Beginn des architektonischen Entwurfes in unserem heutigen Verständnis. 83 | Ingo Bohning. Autonome Architektur und partizipatorisches Bauen. Zwei Architekturkonzepte. Basel 1981. S.33. 84 | Ernst Bloch. Das Prinzip Hoffnung (1959). Frankfurt/Main 1990. S.851.
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Die Konstante von Haus und Leib Vor die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Haus können wir die Frage nach der Beziehung von Mensch und Raum stellen – und diese wird von Kant denkbar einfach beantwortet: nichts ist vorstellbar ohne den Bezug des Menschen in Zeit und Raum, diese sind das Apriori jeder Anschauung. Raum und Zeit stellen diejenigen Größen dar, in denen sich Anschauung einerseits überhaupt für den Einzelnen differenziert und sich andererseits dadurch auch nur darstellen lässt. Gemäß diesen naturgegebenen Eigenschaften unserer Wahrnehmung in Analogie zu unserem Leibsein, der »Anthropologie in physiologischer Hinsicht«85, nehmen wir die Welt im Sinne einer Konstanzleistung wahr. Maurice Merleau-Ponty (1908-1961) gibt in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung dem Faktor des Leibes ein eigenes Gewicht in dessen grundlegender Voraussetzung von Wahrnehmung. Die Gegenstände der Welt offenbaren sich uns durch ein spezifisch leibliches Sehen, von demjenigen Ort aus, an dem wir uns befinden; so formen z.B. die unterschiedlichen Blickpunkte auf ein Haus in den erinnerten Einzelerfahrungen zu einem Ganzen. »Einmal konstituiert, erscheint der Gegenstand als der Grund all unserer wirklichen und möglichen Erfahrungen von ihm. [...] Das Haus selbst ist nicht eine dieser Erscheinungen, es ist, wie Leibniz sagte, das Geometral dieser und aller möglichen Perspektiven, d.h. der nichtperspektive Term, [...] es ist das Haus, von nirgendwoher gesehen.«86 In Erweiterung zu Leibniz schlägt Merleau-Ponty eine Sichtweise vor, die das Subjekt stärker berücksichtigt in der Vielzahl seiner Blicke und Erfahrungen: »das Haus selbst ist nicht das von nirgendwoher gesehene, sondern das von überallher gesehene Haus.«87 Die Summe an leiblich-konkreter Erfahrung auf der Basis der Vorerfahrung formt damit unsere Sicht auf das Haus, »denn der Leib ist schlechthin unser Gesichtspunkt zur Welt, der Gesichtspunkt aller Gesichtspunkte, den wir nicht nur faktisch nie zu verlassen vermögen und der uns immer dazu zwingt, Gesichtspunkte einzunehmen.«88 85 | Immanuel Kant. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hamburg 2000. S.3. 86 | Maurice Merleau-Ponty. Phänomenologie der Wahrnehmung (1945). Berlin 1965. S.91. 87 | Ebd. S.93. 88 | Rudolf Boehm. Vorrede des Übersetzers. In: Merleau-Ponty. Phänomenologie der Wahrnehmung (wie Anm. 86). S.V.
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Auch in den Kontext der Beziehung von Leib und Haus spielt die Frage nach Identischem und Ästhetischem hinein. In der einfachen Entgegensetzung zwischen dem schlichten ›dienenden‹ Haus der Vorfahren und der ›gestalteten‹ Hülle der Moderne und Nachmoderne wird die Differenz zwischen den beiden Polen sichtbar. Immer mehr gewinnt im Laufe der Kulturgeschichte das Ästhetische die Oberhand, immer weiteren Tribut beansprucht es am Ding ›Haus‹. Natürlich spielt die Gestaltung immer eine Rolle für den Entwurf – Ästhetik als Gestaltfindung ist notwendig ein Teil dessen, das wir im Bild-Zeichen wieder finden. Doch wie soll die These des von-überall-her-gesehenen Hauses nachvollziehbar sein, von der Erfahrung »gänzlich durchsichtig, allseitig durchdrungen«89 , wenn wir der Ästhetik, also dem subjektiv Abhebenden der Wahrnehmung, mehr folgen als dem ›Identischen‹? Auch in dem Kontext von ›Haus und Leib‹ geht es um die Frage nach der ästhetischen Notwendigkeit immer neuer formaler ›Ideen‹, die auch Bernhard Waldenfels (*1934) hinterfragt: »Ideen muss man der Architektur [...] nicht andichten, sie stecken von Anfang darin, nicht also ob Architektur aus angewandten Ideen bestünde, im Gegenteil: Architektur ist selbst bereits eine bestimmte Form des Denkens.«90 Abermals teilt sich uns hierin der unterschiedliche Charakter von ›Idee‹ zwischen Selbstbezogenheit und Subjektbezogenheit mit. Die Suche nach der subjektiv-ästhetischen Idee-für-Haus trennt dieses notwendig von dessen eigentlichem Sein und damit auch von dessen ursprünglicher Leibbezogenheit ab. Die Erfahrungen des eigenen Leibes sind am Haus als dem beherbergenden Objekt unmittelbar spürbar – die anthropologischen Konstanten werden am Haus anthropomorph, d.h. sie nehmen Bezug auf den menschlichen Leib. Welches sind die bestimmenden Leib-Parameter am Haus? Es geht hier weniger darum, Ähnlichkeitsmuster in der Art des Vergleiches von Fassade und Gesicht anzuführen, als in diesem Leibes-Bezug die unumgänglichen Dualismen von ›Innen-Außen‹, von ›Oben-Unten‹, von ›Vorne-Hinten‹ zu bestimmen.91 89 | Merleau-Ponty. Phänomenologie der Wahrnehmung (wie Anm. 86). S.93. 90 | Bernhard Waldenfels. Sinnesschwellen. Studien zu einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt/Main 1999. S.201. 91 | Gerade weil diese leibbezogenen Konstanten als unumgänglich anzusehen sind, bieten sie ein Feld an aisthetischen Auseinandersetzungen zur scheinbaren Umgehung dieser grundlegenden Parameter. Beispiele hierfür sind das ›MöbiusHaus‹ von UN-Studio oder das ›Open-House‹ von Coop Himmelb(l)au.
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Beginnen wir mit der Entgegensetzung von Innen und Außen. Der Mensch wird aus dem bergenden Innen des Mutterleibes in die kalte Welt des Außen geworfen; seit jeher sucht er Schutz im Innen, das ihn in diese Geborgenheit zurückführt. Worringer stellt darüber hinaus fest, dass der Mensch als ehemaliger Vierfüßler und als Tastmensch sich an den Innenraum in einer Größe, die nur mit den Augen zu erfassen ist, erst über die Entwicklung seines Intellekts gewöhnen kann: »Körperliche Platzangst lässt sich volkstümlich erklären als ein Überbleibsel aus der normalen Entwicklungsstufe des Menschen, in der er, um mit einem sich vor ihm ausdehnenden Raum vertraut zu werden, sich noch nicht allein auf den Augeneindruck verlassen konnte, sondern noch auf die Versicherungen seines Tastsinnes angewiesen war. Sobald der Mensch Zweifüßler und als solcher allein ein Augenmensch wurde, musste ein leises Unsicherheitsgefühl zurückbleiben. In seiner weiteren Entwicklung aber machte sich der Mensch durch Gewöhnung und intellektuelle Überlegung von dieser primitiven Angst einem weiten Raum gegenüber frei.«92 Das Haus ist damit der Ort, an dem die Urangst des Menschen der Geborgenheit begegnet. Damit diese Urangst nun aufgefangen werden kann, muss die Differenz von Innen und Außen spürbar sein: das ist der Ursprung der festen Mauer. Jede weitere Auflösung der Mauer durch Fenster und Türen, durch größere Fenster, ja durch ihr eigenes Infragestellen als gläserne »Membran zwischen dem Menschen und dem Außenraum«93 , bedeutet ein Zurückweichen des ursprünglichen anthropologischen Geborgenheitsinstinktes vor dem Intellekt wie auch vor der unterscheidenden Funktion der Aisthesis. Bloch spricht in dem Zusammenhang des zunehmenden Strebens der modernen Architektur zu Transparenz von »Entinnerlichung«94 – »so abgehoben ist das alles vom wirklichen Menschen, von Heim, Behagen, Heimat.«95 Die Differenzierung in ›Oben‹ und ›Unten‹ hat ihren Ursprung in der Abhängigkeit des Menschen von der nicht zu umgehenden Schwerkraft, die den Leib auf die Erde drückt. »Im realen Haus lässt sich die Schwerkraft 92 | Worringer. Abstraktion und Einfühlung (wie Anm. 12). S.82. 93 | Siegfried Ebeling. Der Raum als Membran. Dessau 1926. Zitiert nach: Fritz Neumeyer. Mies van der Rohe - Das kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst. Berlin 1986. S.222. 94 | Bloch. Das Prinzip Hoffnung (wie Anm. 84). S.859. 95 | Ebd. S.861.
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nicht außer Kraft setzen, wir können weder an der Decke laufen, noch uns problemlos wechselseitig von außen nach innen und wieder nach außen bewegen, ohne dabei klare Grenzen zu überschreiten.«96 Gleichermaßen sind auch ›Vorne‹ und ›Hinten‹ Analogien des menschlichen Leibes, die sich in der Ordnung des Hauses und auch in der Ordnung der Stadt widerspiegeln. So wie unser Körper ein Vorne und ein Hinten kennt, was sich durch die Ausrichtung des Gesichtes, des Sichtfeldes und der Gliedmaßen und des Tast- und Bewegungsfeldes ausdrückt und daraus seine sichtbare und fühlbare Beziehung zur Welt ableitet, so hat auch ein Haus eine Vorder- und eine Hinterseite. »Einen ›Giebel zur Straße hin‹ zu haben, [...] ist [...] das Wahrzeichen der Bürgerlichkeit. Fassadensteuern deuten an, dass der Platz an der Sonne des Marktes oder am Wasser der Gracht knapp ist.«97 Das ›Vorne‹ benennt die Schauseite, es gibt dem Haus seine ›Adresse‹, es ist die Seite der Begegnung, die in der dichten Bebauung innerhalb der Städte mit der Eingangsseite zusammenfällt, die aber auch in der aufgelockerten Bebauung der Kontaktaufnahme zwischen Haus und Stadt, zwischen Bewohner und Gast dient. So deutet die Differenzierung in ein Vorne und ein Hinten an: Haus ist Grenze von Öffentlichkeit zu Privatheit, Haus ist der Wechsel von Natur zu Welt. In eben solcher Wechselbeziehung von Leib und Welt nehmen wir auch den Raum vielseitig und vielzeitig wahr – wir sehen ihn von unserem Standpunkt aus und projizieren uns auf den kommenden Standpunkt im Sinne eines objektivierenden Aktes. Sehen wir einen unbekannten Raum, so vergleichen wir diesen mit dem uns bekannten in einem Akt der unwillkürlichen Erinnerung. Diese Bezugnahme von dem noch unbekannten Raum auf einen vertrauten nennt Heidegger das »Durchstehen« des Raumes: »Wenn ich zum Ausgang des Saales gehe, bin ich schon dort und könnte niemals hingehen, wenn ich nicht so wäre, das ich dort bin. Ich bin niemals nur hier als dieser abgekapselte Leib, sondern ich bin dort, d.h. den Raum schon durchstehend, und nur so kann ich durchgehen.«98 Meine leibbezogene Vorerfahrung sagt mir, ob ich es wagen kann.99 96 | Jörg H. Gleiter. Architekturtheorie heute. www.tu-cottbus.de./Wolkenkukkucksheim. 97 | Waldenfels. Sinnesschwellen (wie Anm. 90). S.203. 98 | Heidegger. Bauen Wohnen Denken (wie Anm. 48). S.159. 99 | So ›natürlich‹ uns die Analogie von Bauwerk und Leib auch erscheinen mag – ihr Bezug wird in der Entwicklung der Architektur immer weiter zurückgedrängt. Am
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Die Konstante von Haus und Heimat Die philosophischen Pole der Begründung von Haus als Heim lauten in einer zunächst weit gefassten Entgegensetzung: Mensch und Natur. Heim basiert auf dem Wandel von Natur zu Welt. Indem der Mensch die Natur zu dem fügt, worin er leben kann und seine Entwicklung in Werken darstellen kann, entsteht ein Heim, und daraus vermag Heimat zu werden. Hannah Arendt (1906-1975) sieht in diesem Wandel von Natur zu Welt eine grundlegende Bedingung des Menschseins, eine condition humaine, deren Ursprung es ist, zunächst nicht heimisch zu sein. Denn der Neugeborene kommt nicht von vornherein in eine ihm heimische Welt, wiewohl es für uns alle im gesellschaftlich-ethischen Sinn darauf ankommt, den Neuankömmlingen die Welt zu einer heimischen zu machen.100 Der Mensch muss sich dazu zunächst eine Wohnstatt herstellen. Warum muss er das? Zum einen, weil die Natur als solche nicht heimisch ist, ja nicht einmal das ›nackte‹ Überleben ermöglicht. Zum anderen aber stellt der Mensch sich die Wohnstatt her, um sich seiner selbst als Kontrapunkt zur Welt zu vergewissern. Nach Arendt manifestiert sich »im Herstellen [...] das Widernatürliche eines von der Natur abhängigen Wesens, das sich der immerwährenden Wiederkehr des Gattungslebens nicht fügen kann und für seine individuelle Vergänglichkeit keinen Ausgleich findet in der potentiellen Unvergänglichkeit des Geschlechts.«101 Der Mensch gestaltet deutlichsten tritt dies wohl in den so genannten Ingenieur-Bauwerken in Erscheinung, den Brücken, den Kraftwerken, denjenigen Bauten, die jenseits des Wohnens einem reinen Nutzen zu dienen scheinen; heißt das aber dass deren Erscheinung damit auch jenseits der Leibeserfahrung liegen muss? Der Vergleich einer Stahlbetonbrücke, die keinerlei Schwankungen auf den Leib desjenigen überträgt, der sie begeht – zumeist wohl darüber fährt –, mit einem schwankenden Steg, auf dem mit jedem Schritt die Kraft des Schreitens und des Getragen-Werdens fühlbar wird, verdeutlicht diese Entfremdung des Leibes in der modernen, alle Unannehmlichkeiten herausrechnenden Methodik des modernen Bauens. In anderer Richtung zeigt sich die Abgehobenheit des Bauens und Wohnens von der Leiberfahrung in den alljährlich gleichbleibend temperierten Innenräumen, die uns nun vor die Herausforderung und die Probleme des begrenzten Ressourcenverfügbarkeit stellen. 100 | Karin Ulrich-Eschemann. Vom Geborenwerden des Menschen. Theologische und philosophische Erkundungen. Münster 2000. S.32. 101 | Hannah Arendt. Vita activa oder vom tätigen Leben (1958). München 1967. S.16.
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also die Welt nicht nur nach der physischen Notwendigkeit, er gestaltet diese, um in seinem Herstellen ein ausreichendes Gegengewicht seiner eigenen Vergänglichkeit gegenüber darzustellen: »Das Herstellen produziert eine künstliche Welt von Dingen, die sich den Naturdingen nicht einfach zugesellen, sondern sich von ihnen dadurch unterscheiden, dass sie der Natur bis zu einem gewissen Grade widerstehen und von den lebendigen Prozessen nicht einfach zerrieben werden. In dieser Dingwelt ist menschliches Leben zu Hause, das [...] in der Natur heimatlos ist; und die Welt bietet dem Menschen eine Heimat in dem Maße, in dem sie menschliches Leben überdauert, ihm widersteht und als objektiv-gegenständlich gegenübertritt. Die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Herstellens steht, ist Weltlichkeit, nämlich die Angewiesenheit menschlicher Existenz auf Gegenständlichkeit und Objektivität.«102 Der Mensch findet Heimat in der Welt nur indirekt, indem diese ihm ermöglicht, selbst Dinge herzustellen, die sein eigenes Leben überdauern. Das Heim hat also nicht nur dienende Funktion, indem es dem Menschen das Überleben sichert. Das Heim zeigt durch sein objektives Andauern, dass etwas vom Menschen Hergestelltes den Menschen selbst überstehen wird – und in diesem ›Überleben‹ seiner selbst, das nicht nur die natürliche Fortkommenschaft der Sippe betrifft, sondern sein eigenes Herstellen, spiegelt sich die Bedingtheit des Menschen. Was wir nach Arendt also mit dem Hausbau anstreben, ist das Herstellen einer Wohnstatt, die sich gegen die Welt stellt. Aus dieser Position resultiert unser Heimischsein. Das Wohnen in und der Umgang mit Architektur sind damit unmittelbare und unumgängliche Wege der lebensweltlichen Erfahrung des Menschen in seiner Um-Welt. Das Wohnen im Haus bezieht Stellung – es richtet sich gegen das nomadenhafte Umherziehen, gegen die Wanderschaft auf Erden. Einst war die Charakteristik des Wanderers dem Menschen aus zweierlei Gründen gegeben: zum einen aus der Notwendigkeit, sich und seine Herde mit ausreichend Nahrung zu versorgen, die an immer anderen Orten gefunden werden musste. Zum anderen aber besteht bereits für die Menschen des Alten Testaments ein Zusammenhang zwischen »Wanderdasein und [...] Ausgesetztsein als eine Konsequenz ihres Glaubens. [...] Die Schrecken des Preisgegebenseins bilden den Kern unserer religiösen Vorstellungen.«103 Zwischen dem ›Haus‹ als Ort der Geborgenheit des 102 | Arendt. Vita activa (wie Anm. 101). S.16. 103 | Richard Sennett. Civitas. Frankfurt/Main 1991. S.19f.
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Menschen und der ›Welt‹ als Ort der Suche nach Sicherung des Überlebens besteht eine dialektische Beziehung. Das Innen und das Außen, das die Architektur per se herstellt, hat ein Spiegelbild in der Dialektik der Natur des Menschen, in seinem Hineingeborensein in eine unumgängliche Weltlichkeit: »Gäbe es einen Menschen, der sich ausschließlich in seinem Haus aufhalten würde, käme es zum Weltverlust. Andererseits würde ein wohnungs- und heimatloser Mensch im Chaos irren, und es käme zu seinem Selbstverlust.«104 Es ist eine Pendelbewegung zwischen ›Haus‹ als dem Gewohnten und ›Welt‹ als dem immer neu zu entdeckenden Ort. Diese Pendelbewegung ist für den Menschen unverzichtbar – und zwar in ihren beiden Prämissen: zum einen in Bezug auf das, was Architektur auslöst, auf das Beheimaten; zum anderen in Bezug auf das, was Architektur ist, auf ihre ›Identität‹ wie auch auf ihr dahinter liegendes ›Identisches‹. Zur Bestimmung von Heimat gehört die unumgängliche Voraussetzung, dass der Mensch sowohl Haus als auch Welt hat, um sich in seinem individuellen Selbst zu finden. Umgekehrt gibt es aber auch eine Selbstbestimmtheit der Architektur, die ihrerseits als unumgängliche Konstante den Kreislauf der Weltbehauptung des Menschen widerspiegelt: Unsere Welt ist bestimmt durch das Haus, das Haus ist das bestimmende Abbild des Menschen auf Erden, ohne Haus nicht diese Welt, ohne Haus nicht diese Gesellschaft (in der sich dann jeweils die Differenz der verschiedenen Gesellschaftsmodelle auszudrücken vermag). Der Mensch hat das Haus gebaut; der Mensch hat Steine gesucht, gesammelt, später diese selbst hergestellt, zusammengestellt, damit daraus das Haus werde. Vitruv gibt an, der Mensch habe sich im Hausbau in Analogie an der Art des Nestbaus der Vögel gehalten, also mimetisch zur Natur verhalten. Warum aber macht der Mensch den Schritt aus der Höhle in das Haus? – Der Mensch baut das Haus, nicht allein um Schutz zu finden, sondern um diesen Schutz und sein Sesshaftwerden zu konstituieren. Für den Schutz als solchen hatte er bereits die Höhle gefunden; mit dem Haus vermag der Mensch die Welt des Gefundenen in seinem ›Aufenthalt bei den Dingen‹ zu überwinden; er hat sich einen eigenen Ort geschaffen, hat es nicht bei der gefundenen Höhle belassen; diese hat er verlassen, um sich und seine Bedürfnisse im Haus und als Haus darzustellen – nicht im Sinne eines metaphorischen Ausdrucks für etwas anderes, sondern als 104 | Karen Joisten. Heimat der Philosophie – Philosophie der Heimat. Berlin 2003. S.297.
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Sichtbarmachung des Eigentlichen am Haus selbst. Jeder Gegenstand, der vom Menschen geschaffen wird, teilt seine zu erfüllende Funktion mit; als solcher ist er nicht nur Dienender, sondern auch Darstellender. »Von dem Moment an, wo es Gesellschaft gibt, [verwandelt] sich jeder Gebrauch in das Zeichen dieses Gebrauchs.«105 Das Ding ›Haus‹ ist somit mehr als nur eine Funktion von Schutz; es ist auch die Darstellung von Schutz, gepaart mit dem Streben des Menschen nach Geborgenheit. Was also ist das ›Haus‹? Haus ist die Entdeckung einer verborgenen Heimat in die Unverborgenheit des Geborgenseins. Haus ist die Darstellung der Dialektik des Menschen zur gegebenen Welt, zur Ur-Natur. Es ist die »Sammlung« des Menschen, wie es Emmanuel Lévinas (1905-1995) formuliert: »Die Sammlung, die erforderlich ist, damit die Natur vorgestellt und bearbeitet werde, damit sie sich auch nur als Welt abzeichne, vollzieht sich als Haus.«106 Haus bezeichnet damit den Übergang von Natur zu Welt, vom Gefundenen zum Erfundenen, vom Gegebenen zum Bewussten. Grundsätzlich kann das »Handeln im Haus von einem Handeln auf den Wegen unterschieden werden. Erstgenanntes ermöglicht es dem Menschen, sich auf das Verstehen der eigenen tiefen Erzählung einzulassen und ihren Sinn zu erfassen, während der Mensch in seinem UnterwegsSein permanent neuen ›Stoff‹ aufnimmt und sich in neue Geschichten verstrickt. Diese müssen in der Ruhe des Wohnens in das Insgesamt der bisherigen Erzählung integriert werden, um erneut ein einverleibendes Aufnehmen weiterer Ereignisse und Erlebnisse zu ermöglichen.«107 Sobald das Haus gebaut ist, ändert sich auch die Beziehung des Menschen zur Natur, die damit zur Welt wird. »Der Mensch verhält sich zur Welt wie jemand, der zu ihr von einem privaten Bereich her gekommen ist, von einem Zu-Hause, in das er sich jeden Augenblick zurückziehen kann.«108 Mit dem Haus als der Darstellung seiner Behauptung gegen die Natur hat der Mensch seine sichtbare Beziehung zur Welt begründet. Er hat sein Selbst in der Welt zur Darstellung gebracht: ein geschlossenes Ganzes, das von nun als ›Haus‹ identifiziert werden kann. Als ›Heimat‹ kann das 105 | Roland Barthes. Eléments de sémiologie. In: Communications 4. II.1.4. 1964. Zitiert nach: Umberto Eco. Einführung in die Semiotik (1968). München 2002. S.298. 106 | Emmanuel Lévinas. Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität (1980). München, Freiburg 1993. S.217f. 107 | Joisten. Heimat der Philosophie (wie Anm. 104). S.336. 108 | Lévinas. Totalität und Unendlichkeit (wie Anm. 106). S.218.
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Haus fortan nur gelten, wenn darin die architektonische Identität in einer wie auch immer ausformulierten Beziehung zum ›Identischen‹ von Haus steht. Bloch fasst diese Gegensätzlichkeit in die bekannten Zeilen: »so entsteht in der Welt etwas, was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat«109; das Vertraut-Unsichtbare des ›Identischen‹ trifft darin das Konkrete der architektonischen Identität.
Haus im Einfluss von Geschichte, Gesellschaft, Gebrauch Die Parameter des ›Identischen‹ wirken nicht allein von ihnen selbst aus. Sie sind Einflüssen ausgesetzt, die das Begriffliche, das Bildliche, das Dingliche je differenzieren und zu einer eigenen ›Identität‹ führen. Welche wesentlichen Faktoren prägen das ›Identische‹? Es sind dies die Faktoren von Geschichte, Gesellschaft und Gebrauch. Geschichte ist in diesem Kontext in zweifacher Hinsicht zu verstehen: zum einen als ein Faktor der Wandlung des ›Identischen‹ in seiner einfachsten Form, der Zeit; zum anderen – eben mit diesem zeitlichen Fortlauf verknüpft – als ein Fundus, aus dem sich das Subjekt bedienen kann und den es im Sinne einer Weiterentwicklung des Menschen erleben kann vor dem Hintergrund des ständigen Entwicklungsdranges des Menschen, welcher auch die konstruktiven Entwicklungen als einen steten Wandel einbezieht. »Seit dem neunzehnten Jahrhundert entfaltet die Geschichte in einer zeitlichen Serie die Analogien, die die unterschiedenen Organisationen einander annähern. [...] Die Geschichte gibt den analogen Organisationen Raum.«110 Geschichte bezeichnet damit nicht nur den Verlauf der Zeit, sondern auch den Raum der Ordnung über die Zeit. Seit jeher hat es ein ›Verhältnis‹ des Menschen gegenüber der Zeit gegeben, wie Michel Foucault (1926-1984) ausführt: »Seit der Tiefe des griechischen Zeitalters hat [die Geschichte] in der abendländischen Kultur eine bestimmte Zahl von bedeutenden Funktionen ausgeübt: Erinnerung, Mythos, Überlieferung des Wortes und des Beispiels, Vehikel der Tradition, kritisches Bewusstsein des Gegenwärtigen, Entschlüsselung des Schicksals der Menschheit, Antizipation der Zukunft oder Verhei-
109 | Bloch. Das Prinzip Hoffnung (wie Anm. 84). S.1628. 110 | Michel Foucault. Die Ordnung der Dinge (1966). Frankfurt/Main 1974. S.271.
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ßung einer Wiederkehr.«111 Doch erst mit der Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert ist ein umfassendes Bewusstsein gegenüber der Geschichte innerhalb der Gesellschaft festzustellen. Unsere eigene Selbstorientierung beziehen wir damit auf ›die Geschichte‹ als einem zentralen Faktor: »das entstehende historische Bewusstsein als das Bewusstsein vom Historischen, das zugleich um seine eigene Historizität weiß«.112 Die Gedanken einer Zeit sind damit je in ihrem geschichtlichen Kontext zu betrachten und zu werten. Außerhalb des geschichtlichen Verlaufes gibt es keine Kriterien, die herausstellen könnten, was wahr, was falsch, was vernünftig oder unvernünftig sei. In ihrem Ausdruck auf das menschliche Handeln bringen sie das ›Identische‹ zur ›Identität‹. Insofern bildet ›die Geschichte‹ einen Bezugspunkt, der durch zeitlichen Verlauf den Wandel von Bedeutung in sich einschließt. Geschichtlichkeit selbst wird damit als Verankerung des Menschen in einer von der Vergangenheit geprägten Tradition zum umfassenden Zusammenhang gesellschaftlichen und geistigen Lebens erklärt. Mit welchen Folgen? Indem wir uns bewusst machen, dass »Sinn und Bedeutung erst im Menschen und seiner Geschichte entstehen«, zerstört so »die radikal gefasste Idee der Geschichtlichkeit [...] jeden universalistischen Geltungsanspruch.«113 Für die architektonische Gestaltung bedeutet dies, dass nicht eine ›Form-an-sich‹ Träger von Bedeutung sein kann – vielmehr ist es die Gesellschaft, die der Form in Abhängigkeit der Geschichtlichkeit eine bestimmte Bedeutung beimisst. Es gibt keine in der Form selbst liegende Bedeutung, welche über das Erkennen ihrer selbst und über ihre immanenten Gesetzmäßigkeiten (also Konstruktion und Gebrauch) hinausginge. In der Architektur des neunzehnten Jahrhunderts werden dann aber aus dem neu entdeckten Verhältnis des Menschen zur Geschichte die verschiedensten Stilvorbilder als Träger architektonischer Ideen in je verschiedenen Bedeutungen festgelegt: »Mit jener Architektur wurde der Rahmen einer gesellschaftlichen Exklusivität geschaffen, der das Element des Scheins wesentlich zugehörig ist. Ihre Entstehungsgeschichte zeigt beispielhaft, wie die Rezeption historischer Stile [...] dem Aufbau einer sinnlich stimulierenden Illusionswelt dienen kann, deren historische 111 | Foucault. Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 110). S.440. 112 | Herbert Schnädelbach. G.W.F. Hegel zur Einführung. Hamburg 2007. S.154. 113 | Rüdiger Safranski. Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. München, Wien 1994. S.169.
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Identität die von großbürgerlichem Wunschdenken bestimmte ›Illumination der Geschichte‹ ist.«114 Dies zeigt nun gerade, dass das ›Identische‹ nur als ›Identität‹ im Wandel von Zeit konkret werden kann. Erst der geistige Rahmen des zeitlich-geschichtlichen Bewusstseins ermöglicht uns die Betrachtung eines Werkes als Einsicht in seine je unterschiedliche Wirkung unter sich ändernden geschichtlichen Bedingungen, sowie vor dem pragmatischen Hintergrund eines unumgänglichen Bedeutungswandels: »Für die Betrachtung des Kunstwerks ist diese Differenzierung notwendig. Sie zeigt, dass es in der Kunst nicht um Ewiggültiges, etwa eine über aller Realität vorgegebene Idee der Schönheit und um entsprechend festlegbare Formen geht, sondern um menschliche Kultur.«115 Die Weise, wie der »menschlichen Kultur« Wandel durch Geschichte einbeschrieben zu sein scheint, deutet auf ein Gegenmodell zur platonischen Idea hin, welches sich in den formalen Wandlungen der Gestaltung zeigt. So formuliert Semper, »Styl [sei] die Übereinstimmung einer Kunsterscheinung mit ihrer Entstehungsgeschichte, mit allen Vorbedingungen und Umständen ihres Werdens.«116 In dieser Auffassung wird die an sich abstrakte Geschichte, die vergängliche und nicht greifbare Zeit, im Stil für uns habhaft. Formale Differenzierungen sind demnach Indizien für sich ändernde Geisteshaltungen, die notwendigerweise andere, autonome, ähnliche, aber auch selbe Formen zeitigen können. Insbesondere im architektonischen Kontext ist ›Geschichte‹ ein wahrlich greifbarer Einflussfaktor für Identität – liegt doch bereits in dem Begriff der Geschichte die Schichtung des Geschichtlichen als ein Aufeinanderfolgen von Zeiten, Epochen, Strömungen begründet, aus dem heraus sich eine ›Identität im Werk‹ als ein intendiertes ›Gleichbleiben im Wandel‹ darstellt. Darüberhinaus geht mit dem Bewusstwerden des Geschichtlichen in der Architektur die Frage einher, ob die Identität eines Bauwerkes bestehen bleibt, wenn sich dessen Nutzung im Laufe der Zeit ändert. Die Identität eines Werkes, sein Selbst, bildet tatsächlich eine Konstante, an der 114 | Monika Steinhauser. Das europäische Modebad des 19. Jahrhunderts. In: Ludwig Grote (Hrsg). Die deutsche Stadt im 19. Jahrhundert. Stadtplanung und Baugestaltung im Industriezeitalter. München 1974. S.112. 115 | Annemarie Gethmann-Seifert. Einführung in Hegels Ästhetik. München 2005. S.97. 116 | Gottfried Semper. Ueber Baustile (1869). In: Ders. Kleine Schriften. Hrsg. Hans und Manfred Semper. Berlin und Stuttgart 1886. Neuaufl.: Mittenwald 1997. S.402.
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auch der Wandel der Funktion nichts ändert. Ob wir aber dessen Identität im gesellschaftlichen Wandel des Denkens noch wahrnehmen können, ist eine Frage, die sich an den Betrachter richtet, nicht an das Werk. Damit kommen wir zum zweiten bestimmenden Einflussfaktor auf das ›Identische›: die Gesellschaft. Wenn wir hier vom ›Identischen der Architektur‹ sprechen, so müssen wir analog zum geschichtlichen Verlauf konstatieren, dass es sich dabei um das ›Identische‹ je Gesellschaft handelt, welches immer bezogen ist auf die jeweilige Lebenswelt, d.h. in unserem Falle auf die mitteleuropäische Gesellschaft. Gesellschaft bezeichnet in diesem Sinne einen abgestimmten, institutionalisierten Raum, in dem wir von zumindest ähnlichen Verhältnissen in Bezug auf klimatische und kulturelle Bedingungen ausgehen können. Unsere Häuser zeugen in ihrem Äußeren von eben diesen Bedingungen; andere gesellschaftliche Grundvoraussetzungen zeitigen andere architektonische Formen. Das ›Identische von Architektur‹ ist je abhängig von seiner Gesellschaft, von seinen kulturellen, seinen klimatischen Bedingungen, die sich in den spezifischen Voraussetzungen an die Architektur widerspiegeln.117 Und auch innerhalb eines Kulturkreises unterscheiden sich die Bauernhäuser von den Stadthäusern, weil die räumliche Anordnung und ihre Erscheinungsform von Fenstergrößen, von Dachformen, von Material den Bedingungen im Verhalten der Häuser gegen ihre Umwelt folgt. Diese Bedingungen können insofern als 117 | Das große Konfliktpotenzial, das vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Sicht auf das ›Identische‹ in der Formensprache der modernen Architektur steckt, möge ein Beispiel verdeutlichen: Von den Kulturideologen des Dritten Reiches wurde 1940 eine Postkarte der Weißenhofsiedlung in Stuttgart (1927) als »Araberdorf« mit Kameltreibern und arabischen Händlern collagiert und damit bewusst diskreditiert (vgl. dazu: Neumeyer. Das kunstlose Wort (wie Anm. 93). S.202). Während also die Architektur-Avantgarde der Moderne neue Bauformen für eine neue Zeit heraufbeschwört und mit der intendierten ›Auflösung der Gewissheiten‹ auch die Abkehr vom ›Identischen‹ provozieren will, erkennt die konservative Kritik nach 1933 darin nur das bedrohliche Fremde. Da es aber Voraussetzungsloses in der Architektur nicht gibt, wird die vermeintlich neue Gestalt der Moderne mit dem von irgendwoher Bekannten in Verbindung gebracht – hier mit dem gesellschaftlich ›Fremden‹ der arabischen Flachbauten. Die Basis dieses weitgreifenden Missverständnisses liegt – unabhängig von der perfiden politischen Zielsetzung der Collage – in der unterschiedlichen Sicht auf das ›Identische‹ und seiner intendierten formalen Überwindung durch die Moderne, die ihrerseits das Wahrnehmungsphänomen des lebensweltlichen Blickes auszublenden scheint.
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›gesellschaftlich‹ angesehen werden, als sich aus ihrem Grundzug wesentliche soziale Verhaltensmuster ableiten. Wichtig erscheint das Bewusstsein einer Relation zwischen dem ›Identischen‹ und der Gesellschaft, die es hervorbringt, die also dem ›Identischen‹ zu seiner ›Identität‹ verhilft. Innerhalb dieses gegebenen Rahmens ist ›Gesellschaft‹ anzusehen als Kollektivsuggestion mit ausgeprägtem Traditionalisierungsanspruch: als Identifikation ihrer selbst mit ihrer Bevölkerung, mit ihren (scheinbar) kollektiven und über die geschichtlichen Zeitläufe hinweg gleichbleibenden Fähigkeiten, aber auch mit ihrer Stadtgestalt. Diese Suggestion spielt insbesondere vor dem Hintergrund der Kriegszerstörung von alten Stadtstrukturen und deren Wiederaufbau nach modernistischem Muster auch in die Stadtgestalt hinein. Es erwächst daraus, gerade angesichts der als unbefriedigend empfundenen Stadtgestalt der Nachkriegsmoderne, die Vorherrschaft eines Stadtmythos, wie ihn z.B. Dresden seit der Wende in der Diskussion um die innerstädtischen Brachen um den Neumarkt erlebt. Die Basis dieses Mythos ist das Bild der Vorkriegszeit, verstanden als das Gegenbild zum modernen Städtebau, welcher sich vom ›Identischen‹ und damit von der ehemals herausragenden ›Identität‹ der Stadt zu weit entfernt hat. Für den kollektiven Blick kann daher nur das ›alte‹ Bild der Zielpunkt des Wiederaufbaus sein, da es ja darum geht, dem unumgänglichen Wandel durch Zeit am besten durch ein intaktes Stadtbild zu widerstehen, als Abbild des Festhaltens am eigenen Status. So lässt sich konstatieren, dass »in Zeiten starker gesellschaftlicher Veränderungen [...] die Stadtgestalt permanenzstiftender [ist], in Zeiten großer materieller Zerstörungen [...] die Stadtmythen die Bewahrer von Kontinuität [sind].«118 Gesellschaft ist also parallel zu Geschichte diejenige Kraft, welche die ›Identität‹ von Stadt einerseits im großen zeitlichen Maßstab wandelt, und diese andererseits auf der Basis des ›Identischen‹ zu bewahren sucht. Der dritte bestimmende Einflussfaktor auf das ›Identische‹ ist der Gebrauch, ein Terminus, in dem sich abermals die zweiseitige Betrachtung von Architektur in ihrem Ansich oder Fürmich offenbart. Ist der ›Gebrauch‹ von Architektur also etwas, das von der Architektur in ihrem Bestehen an sich ausgeht? Oder zeigt sich ›Gebrauch‹ erst in der Hinwendung der Architektur auf das Subjekt der Handlung? Die erstgenannte Sichtweise des Ansich impliziert, dass die ›Identität‹ eines Bauwerkes grundsätz118 | Wolfgang Sonne. Die Stadt und die Erinnerung. In: Daidalos #58. Gütersloh 1995. S.90-101. Hier: S.100.
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lich gleich bleibt, unabhängig vom Gebrauch oder von einem möglichen Wandel im Gebrauch. Wenn also eine ehemalige Fabriketage nach dem Niedergang der industriellen Produktion zunächst als billiger Lagerraum genutzt wird, um dann irgendwann – wenn die Lage der Gebäudes es als sinnvoll erscheinen lässt – als Loft-Wohnung umgenutzt zu werden, dann hat sich ihre Funktion mehrmals geändert: vom schmierigen Ölgeruch über staubige Luft hin zu minimalistischen Oberflächen und großzügigen Innenräumen. Doch trotz des Wandels der Funktion ändert sich der eigentliche Gebrauch des Hauses, das Behausen, eben nicht – unabhängig ob Fabrikarbeiter oder eine Familie hier ihre Bleibe finden. Gebrauch ist unter dem Blickwinkel des Ansich von Architektur aufzufassen als ein hinter dem lebensweltlichen Handeln stehender Begriff der Selbstbegründung des Bauens. Unter dem Begriff des Bauens verstehen wir damit ein Phänomen der Kultur (nach lat. cultura – Pflege). Der grundlegende Tenor beim Umgang mit einem Haus ist im Sinne des Kulturphänomens das Pflegen eines Gebrauches, egal ob wir damit die Fabriknutzung beschreiben, die Verwaltungstätigkeit oder das private Wohnen. »Die Arbeiterin ist in der Spinnerei zu Hause, hat jedoch dort nicht ihre Wohnung; der leitende Ingenieur ist im Kraftwerk zu Hause, aber er wohnt nicht dort.«119 Gleichbleibend ist der Gebrauch eines Hauses im Sinne des Behausens. Ob dieser Gebrauch aber auch Zweck des Hauses ist, das steht durchaus in Frage. Josef Frank (1885-1967), Architekt in Wien und einflussreicher Theoretiker in der zweiten Reihe der Moderne, erklärt in diesem Sinne das Wohnhaus »zum wesentlichsten aber zwecklosesten Bau [...]. Das Wohnhaus ist dasjenige Haus, das nicht dazu da ist, irgend etwas ihm Fernerliegendem zu dienen, Stätte des Erzeugens oder des Geldverdienens zu sein, es ist Selbstzweck und hat durch sein Dasein die Menschen zu beglücken [...].«120 Der Architekt Frank und der Philosoph Heidegger stimmen in dem Selbstzweck des Wohnhauses überein: »Jene Bauten, die keine Wohnungen sind, bleiben ihrerseits vom Wohnen her bestimmt, insofern sie dem Wohnen des Menschen dienen.« Ob dagegen tatsächlich »die Wohnungen schon die Gewähr in sich [bergen], dass ein Wohnen geschieht«121 , ist eine Frage an die architektonisch gegebene Dinglichkeit der Wohnung, nicht eine an die Dienlichkeit eines Hauses. Den möglichen Gebrauch für das Wohnen 119 | Heidegger. Bauen Wohnen Denken (wie Anm. 48). S.147. 120 | Josef Frank. Architektur als Symbol. Wien 1981. S.150. 121 | Heidegger. Bauen Wohnen Denken (wie Anm. 48). S.147.
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offenbart es bereits mit seiner Existenz. Das ›Identische‹ wirkt damit vor der jeweiligen Funktion, es beinhaltet ja bereits seine grundgelegte Ideevon-Gebrauch. Den Unterschied von Gebrauch und Funktion könnten wir demnach so fassen, dass Funktion diejenige Modifikation des Dinges darstellt, welche das Ding im Sinne einer ›Funktion-für‹ auf den Menschen hin ausrichtet. Als Gebrauch dagegen ist das Vermögen des Dinges selbst anzusehen, dem Menschen zu dienen oder von ihm gebraucht zu werden. Der Gebrauch-von-Haus geht vom Haus als ›Identischem‹ in seinem Beherbergen aus, unabhängig davon, welchem Zweck das Haus dient. Die zweite Sichtweise auf den Gebrauch von Architektur im Sinne des Fürmich konfrontiert dagegen das ›Identische‹ mit einer bewusst zielgerichteten Lesart auf den Handelnden hin, aus der sich unweigerlich auch Auswirkungen auf die ›Identität‹ von Architektur ergeben müssen. Was bedeutet es nämlich, wenn in der ›Idee-für-Architektur‹ das Wohnen von dem Begriff der ›Maschine‹ überlagert wird, wie es die architektonische Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts in verschiedenen Modellen praktiziert hat122? Das ›Identische‹ der Architektur wird dabei von einem metaphorischen Begriff überformt, der dem eigentlichen Gebrauch des Wohnens und seiner Dinglichkeit inhaltlich entgegensteht, der stattdessen die Funktion soweit instrumentalisiert, dass alles Handeln zu einem Automatismus zu werden scheint. Einem Objekt in solcher Metaphorik können wir uns nur mehr über das Phänomen der »ästhetischen Distanz« annähern, d. h. der eigentliche Gebrauch wird überlagert von einer intellektuellen und auslegenden Sichtweise, die über das reine Wahrnehmen, Bezeichnen und Handeln hinausgehen muss – oder die im automatisierten Handeln mündet, wie auch das Beispiel der Frankfurter Küche (1926) von Margarete Schütte-Lihotzky (1897-2000) zeigt. Durch objektive Messverfahren mit Stoppuhr und Maßband wurden hier die Arbeitsabläufe der Hausfrau perfektioniert und dreidimensional um die im Mittelpunkt der Küche agierenden Person angeordnet. In diesem Denken als paradigmatischem Ausdruck des Funktionalismus wird dem Wissen als Methode Genüge getan – an dem Gebrauch des Raumes dagegen wird Frevel getrieben, weil 122 | Das bekannteste Beispiel geht wohl auf Le Corbusiers Idee einer »Machine à habiter« (Wohnmaschine) zurück, die als »Unité d'habitation« in verschiedenen Versionen in den vierziger und fünfziger Jahren gebaut wurde. Doch auch weniger bekannte Architekten wie der Wiener Anton Brenner (1896-1957) haben den Begriff der »Wohnmaschine« für ihre Bauten verwandt (Haus Rauchfangkehrergasse 26 in Wien, 1924).
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der Raum nur mehr einem einzigen festgelegten Zweck dient. Allzu oft ist heute die Betrachtung von architektonischem Gebrauch überlagert von einer Sicht, die nicht das Ursein der Sache meint, sondern die geprägt ist von dem Bestreben des Dienens für etwas und einer Differenzierung von etwas: Funktion als Modus des Gebrauches im Denken einer instrumentellen Vernunft, Ästhetik als ein »Abheben« dessen, was wir wahrnehmen, von dem, was es eigentlich ist. Die Sichtweisen von Funktion oder Ästhetik interpretieren Umgang und Gebrauch von Architektur damit eher im Sinne einer mathematischen Funktion als im Sinne des ursprünglich architektonisch ›Identischen‹; sie sind Kennzeichen einer Architektur, die das subjektbezogene Fürmich über ihr eigentliches Ansich stellt. Die Differenz von Gebrauch und Funktion lässt sich bereits in den Präpositionen der Sprache zwischen Gebrauch-von und Funktion-für ablesen, in denen uns eine Analogie begegnet zu den ebenso differenzierten Inhalten der sich so nahestehenden Ausdrücke einer ›Idee-von‹ oder einer ›Idee-für‹. Die ›Idee-von‹ stellt den Gebrauch in den Vordergrund, unter Bezugnahme auf die mit ihrer Idee und ihrem Gebrauch vertraute Dinglichkeit. Die ›Idee-für‹ dagegen stellt das für eine spezifische Funktion ausgerichtete Objekt oder das für die besondere Wahrnehmung gestaltete Werk in den Vordergrund. Die ›Idee-von‹ bezeichnet eine Beziehung auf das Wesen des Dinges, die ›Idee-für‹ eine Beziehung auf das Subjekt. Zwar ist es immer und unmissverständlich das Subjekt, welches gebraucht, doch geht der Gebrauch nicht allein auf das Individuum zurück – denn der Gebrauch ist schon da, er ist ein ganzheitlich Gegebenes, ein Weltganzes, er ist die Bedingung des Herstellens von Architektur überhaupt. Gebrauch wie auch Gebrauchender geraten angesichts einer auf das Subjekt hin ausgerichteten Funktion und Ästhetik paradoxerweise in den Hintergrund: im Objekt, das auf Interpretation gegründet ist, wird das Substitut seiner selbst erschaffen, das andere Ziele verfolgt als den schlichten Gebrauch. Valéry führt dagegen aus: »Jahrhundertlanger Gebrauch hat notwendig die beste aller Formen herausgefunden. [...] Tausende von Versuchen und Tausende von Menschen führen langsam zu der sparsamsten und sichersten Gestalt.«123 Es stellt sich damit die Frage nach der Notwendigkeit des steten Wandels der Gestaltung von Architektur. Wir wollen diese Frage verfolgen in der diskursiven Entgegensetzung des ideellen ›Identischen‹ mit der im Werk bestehenden ›Identität von Architektur‹. 123 | Valéry. Eupalinos (wie Anm. 30). S.82.
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D ER D ISKURS VON I DENTISCHEM UND I DENTITÄT IM W ERK Das Identische als Gleichbleiben im Wandel der Zeit Die Parameter des ›Identischen‹ sowie seine Einflussfaktoren haben wir bis hierhin dargelegt. Damit können wir zunächst zusammenfassen: Das ›Identische von Architektur‹ bezeichnet das gleichbleibende Selbst der ideellen Form von Architektur, vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verständigung darüber und der Unabwendbarkeit eines geschichtlichen Wandels. Der Wandel in der Stofflichkeit, in den Bedeutungsebenen der Vorbilder sowie in seiner begrifflichen Fassung bedingen in der gebauten Form die jeweilige ›Identität von Architektur‹ im Werk.
Worauf gründet sich das gleichbleibende Selbst der Architektur, wo doch das, was uns umgibt, notwendig einem steten Wandel unterworfen ist? Dieser Wandel betrifft sowohl das Werk selbst in seiner physischen Veränderung wie auch die Auffassung des Betrachters zum Werk, in dem sich der geistesgeschichtliche Horizont einer Epoche widerspiegelt. Die Besonderheit des architektonisches Werkes liegt darin, dass sich in dessen Jetzt gleichzeitig verschiedene Zeitschichten finden, und zwar lebensweltlich nebeneinander. Architektur ist und war immer auch das Vergangene, weil sie in der Regel vom Betrachter vorgefunden wird, ohne datiert zu sein. Die Kirche des dreizehnten Jahrhunderts wird noch immer als solche genutzt, ihr lebensweltlicher Gebrauch unterscheidet sich nur unwesentlich von einem zeitgenössischen Bau. Im Gegensatz zum mittelalterlichen Gemälde wird Architektur eben nicht nur musealisiert betrachtet. Liegt es allein an der Zweckgebundenheit der Architektur? Nicht allein, denn natürlich verfolgt auch die Malerei einen Zweck in ihrer Darstellung und bildlichen Überlieferung. Die Architektur ist nicht die einzige zweckgebundene Gestaltungsdisziplin. Doch ist sie die einzige gestalterische Disziplin, die authentisch in ihrem Umfeld als solche hier und jetzt wahrgenommen werden kann – uns damit eben nicht rein künstlerisch wie ein Gemälde, nicht rein geschichtlich wie archäologische Spuren, die nicht mehr im lebensweltlichen Gebrauch stehen, nicht rein ästhetisch, weil das Betrachten der Aisthesis ein »Abheben« im Sinne der »ästhetischen Distanz« ist, welches uns von der Lebenswelt Architektur entfernt.
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Wodurch vermag sie das? Die werkimmanente Verkoppelung ihrer Parameter des ›Identischen‹ ist wesentlich dafür verantwortlich, ob wir ein Artefakt als ›identisch‹ mit sich selbst ansehen, ob wir ihm somit eine eigene ›Identität‹ und damit auch Kontinuität zugestehen. Das architektonische Werk lässt sich nicht aus diesem Rahmen lösen. Denn es ist unsere lebensweltliche Wahrnehmung, die das, was wir vor uns sehen, auf die genannten Parameter hin befragt.
Das Identische als Gegenbegriff zum Ästhetischen Welchen Stellenwert hat die Architektur in unserem Leben? »Architektur ist nicht das Leben, Architektur ist Hintergrund. Alles andere ist nicht Architektur.«124 – So fasst der Wiener Architekt Hermann Czech (*1936) Funktion und Stellung der Architektur in unserer Lebenswelt zusammen. Architektur ist eher die Leinwand, vor der sich unser Leben abspielt, sie ist der Hintergrund, vor dem das Handeln der Menschen einsetzt. Und auch Wolfgang Welsch (*1946) fordert: »Architektur muss in erster Linie Architektur von Lebensräumen sein. [...] Diese sind aber nicht bloß ästhetischer Natur. Daher wird eine Architektur, die nur auf ihre ästhetischen Komponenten achtet, zwar in einer erlebnissüchtigen Gesellschaft Euphorie auslösen können, aber diese Begeisterung wird nicht lange währen [...]. Ästhetik ist eben nicht alles, und wenn man sie an erste Stelle setzt, so bekommt das der Architektur schlecht und nicht einmal der Ästhetik gut.«125 Kommen wir nochmals auf das Prinzip der ästhetischen Wahrnehmung zurück. Ästhetik ereignet sich »als Affirmation des begrifflich und praktisch Unbestimmbaren; sie leistet [...] eine sensitive Beachtung dessen, was in den Dingen unbestimmbar ist.«126 Im Vollzug des Ästhetischen stellen wir unser Wissen bewusst zurück, um uns selbst in der eigenen Gegenwart subjektiv zu erfahren. Wir setzen uns mit Vergnügen einer »ästhetischen Distanz« aus, um unseren lebensweltlichen Kontext für einen Moment hinter uns zu lassen. Das ›Identische‹ steht in seiner klassischen Ausformulierung gegensätzlich dazu, denn hier geht es 124 | Hermann Czech. Nur keine Panik (1971). In: Ders. Zur Abwechslung. Ausgewählte Schriften zur Architektur. Wien 1996. S.63. 125 | Wolfgang Welsch. Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart 1996. S.264f. 126 | Martin Seel. Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt/Main 2003. S.38.
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nicht um subjektive Erfahrung, sondern um gesellschaftlich abgestimmte Erkenntnis, sowie daraus folgend um die Relation von allgemeingültigem Erkennen und subjektivem Empfinden. Mit der Fokussierung auf das ›Ästhetische‹ in unserer Welt steht aber nicht mehr die Beziehung zu dem Objekt im Mittelpunkt der Betrachtung des Gestalters, sondern die Beziehung zum Subjekt. Es gilt nun nicht mehr: wie fügt sich ein Element in ein Ganzes ein? – sondern primär um die Frage: Was löst es in mir aus? »Das esse des Kunstwerks ist [nun] sein interpretari«127: Das Interpretiert-Werden des Werkes liegt über dem Erkannt-Werden des Seins in einem Werk. Es geht hierin nicht um die Neuauflage einer sich wohl in jeder Generation wiederholenden Querelle des Anciens et des Modernes. Es geht um die kritische Befragung einer formal-ästhetischen Gleichbehandlung zwischen bildender Kunst und Architektur, die schon aufgrund der bestehenden Wesensunterschiede zwischen den Disziplinen nicht aufrechtzuhalten ist. Architektur muss ihr Ideal in der ›Identität‹ mit sich selbst finden und dieses nicht in außerarchitektonischen Kontexten suchen: sie erreicht dies durch eine notwendige formal-ästhetische Abgrenzung von der Kunst, wie auch von anderen vordergründig formalen Einflüssen außerhalb der Architektur. Nur im ›Identischen‹ als ihrem Selbst vermag sich die Architektur glaubhaft wiederzufinden. Anhand von wenigen Grundkonzeptionen oder Grundmustern der architektonischen Gestaltung versucht die vorliegende Schrift den architektonischen Gestaltungsprozess aus einer Konzeption des ›Identischen von Architektur‹ heraus zu denken. Die Ästhetik erscheint dabei nicht als die angemessene Diskursart für die Architektur.128 Denn Inhalt der Architektur ist nicht in erster Linie die kontemplative Betrachtung ihrer Werke. Inhalt der Architektur ist auch im einundzwanzigsten Jahrhundert noch immer zunächst das Behausen, das Beheimaten. In diesem Ziel sollte die Architektur eine andere Dimension anstreben als die des oberflächlich-abhebenden Ästhetischen – und dafür bietet der Diskurs zum ›Identischen‹ eine Orientierung. 127 | Uta Kösser. Ästhetik und Moderne. Erlangen 2006. S.449. 128 | In Anlehnung an Lyotards These der »Heterogenität der Diskursarten« als Unterscheidung verschiedener Diskursarten zwischen unterschiedlichen Systemen. Unterschiedliche Systeme können demnach nicht dieselbe Diskursart führen – sie gelangen unausweichlich in einen »Widerstreit«, aus dem nur ein Meta-Diskurs sie erlösen könnte. Einen solchen Meta-Diskurs hat die Moderne in Form der Verwissenschaftlichung der Architektur angeboten. Vgl: Lyotard. Der Widerstreit (wie Anm. 77).
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Der konzeptionelle Diskurs am ›Selbst‹ der Architektur Was offenkundig aussteht in der aktuellen Architekturtheorie ist die Thematisierung einer ›Identität von Architektur‹ – die Bestimmung von möglichen Entwurfskonzeptionen in den Parametern der Disziplin Architektur selbst. Wir fragen in diesem Diskurs nicht mehr nach der ›besonderen Idee‹ des Entwerfers, sondern wir fragen, welche ›Identität‹ das Haus selbst in seinem architektonischen Kontext darstellen kann und will. Was uns in der Frage nach der Identität eines Werkes interessieren muss, das ist sein Selbst aus seinem Woher. Das Ziel, uns diesen Blick zu eröffnen, verfolgt die Phänomenologie. Die Wahrnehmung aus der Sichtweise der Phänomenologie gründet auf dem Befragen dessen, was wir sehen, als einem bewussten Hintergehen des scheinbar Vertrauten. Denn in dem vorwegnehmenden Wissen über etwas erblicken wir ja gerade nicht die ›Idee‹ von etwas, wir erblicken hier gerade nicht das Sein hinter dem Seienden, wir sehen vielmehr das, was uns als Subjekte mit dem vertrauten Ding verbindet, und nicht jenes, was das Ding als solches ausmacht. Wissen heißt nicht Verstehen. Mit Edmund Husserl (1859-1938) hatte die Phänomenologie in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts diese Selbstbezogenheit als eine Orientierung »zu den Sachen selbst«129 in den philosophischen Diskurs eingebracht: als ein Befragen dessen, was an sich vor uns liegt, nicht ein Besprechen dessen, was wir – in dem seit der Aufklärung beherrschenden Modus des rechnenden Denkens oder der subjektiven Interpretation – vor uns als Bekanntes zu erkennen oder einem vertrauten Schema oder Stil glauben zuordnen zu können oder darin zu lesen vermeinen. »In den unmittelbar anschauenden Akten schauen wir ein ›Selbst‹ an; es bauen sich auf ihren Auffassungen nicht Auffassungen höherer Stufe, es ist uns also nichts bewusst, wofür das Angeschaute als ›Zeichen‹ oder ›Bild‹ fungieren könnte. Und eben darum heißt es unmittelbar angeschaut als ›selbst‹.«130 Nur indem ein Ding nicht auf etwas anderes verweist, ist es es selbst. Die Phänomenologie nach Husserl fordert die Zurücknahme des kognitiven Erfassens zugunsten einer Offenheit der Wahrnehmung. Sie richtet damit ihren philosophischen Blick vom Subjekt zurück auf das Ding und geht notwendig von dessen Fähigkeiten der 129 | Edmund Husserl. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913). In: Ders. Gesammelte Werke. Bd III. Den Haag 1976. S.42. 130 | Ebd. S.90.
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Wahrnehmung aus: von dessen Leib und seinen Möglichkeiten als gegebener Grundlage. Sie zielt in ihrer Befragung auf das Ding selbst, und gerade nicht auf unser ästhetisches Erleben oder unser subjektives Erfasstsein im Wahrnehmen eines Dinges. Heidegger – ein Schüler Husserls – hält diesen Ansatz noch immer für zu subjektbezogen; schon Hegel hatte ja festgestellt, dass es dennoch das Bewusstsein ist, welches über die Differenz von Ding und Empfindung entscheidet, so dass auch »die Unterscheidung eines betrachteten Ich von einem betrachtendem Ich«131 immer der Subjektivität unterworfen ist. Für Heidegger ist also die Trennung zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektivem Ding-Sein noch nicht ausreichend gesetzt. Er positioniert daher das Subjekt an maßgeblich anderer Stelle. Es ist nun nach Heidegger nicht das Subjekt, das die Welt und ihre Inhalte miteinander in Bezug und Logik setzt, sondern Welt ist bereits. Welt kann daher als apriori schon bestehend betrachtet werden. Die Bezugnahme auf Welt mit ihren Inhalten bedarf nicht des Subjektes, sie ist als Sein mit all ihren Bedingungen bereits vorhanden. Heidegger konkretisiert diesen neuen phänomenologischen, nun gleichermaßen ontologischen Blick in seiner Schrift Sein und Zeit, wo er die Zielsetzung seiner ›Phänomenologie‹ an deren Begriff wie folgt erläutert: »Phänomenologie sagt jetzt: qÙØÊÆ×ÎÜÞÊÒ ÝK
ÊÒ×vÖÎ×Ê [apophainestai ta phainomena]: Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.«132 Nicht mehr der Mensch, dessen subjektive Idee und dessen Bewusstsein stehen im Mittelpunkt der Untersuchung, sondern der Blick auf Welt und Werk von diesem selbst her. Rüdiger Safranski (*1945) paraphrasiert: »Man darf nicht ›über‹ das Phänomen reden, sondern muss eine Einstellung wählen, die es dem Phänomen erlaubt, sich zu zeigen.«133 Anstelle des festgefügten Bezuges auf den logos, die sprachliche Vernunft, »ist festzuhalten, dass das Erkennen selbst vorgängig gründet in einem Schon-sein-bei-der-Welt.«134 Aus diesem lebensweltlichen Bezug heraus widmen wir uns den Dingen, die ihrerseits gegeben sind in dem allgemeinen Sein-bei-der-Welt, in ihrer 131 | Joachim Hagner. Die Wahrnehmung; oder das Ding, und die Täuschung. In: Dietmar Köhler, Otto Pögeler (Hrsg.). Klassiker Auslegen. G.W.F. Hegel. Phänomenologie des Geistes. Berlin 2006. S.55-90. Hier: S.59. 132 | Heidegger. Sein und Zeit (wie Anm. 35). S.34. 133 | Safranski. Ein Meister aus Deutschland (wie Anm. 113). S.178. 134 | Heidegger. Sein und Zeit (wie Anm. 35). S.61.
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grundgelegten ›Idee‹, ihrem Weltganzen. Dies ist der Grund, auf dem sich das Werk errichtet, dies ist der Ursprung, in dem menschliches Herstellen und Hervorbringen geschieht. Die vorliegende Werktheorie ist aufzufassen als eine Arbeit am Begrifflichen, Bildlichen und Dinglichen der Architektur zum Zwecke unseres Verständnisses ihrer inneren Zusammenhänge. Dabei kann es nicht darum gehen, eine ästhetische ›Metasprache‹ der Architektur zu finden, die mit allen anderen gestalterischen Disziplinen ›kommensurabel‹, also übereinstimmend wäre. Vielmehr geht es um die Begründung der gestaltenden Disziplin Architektur in ihr selbst. Die Begriffe, in welchen die Beschreibung der folgenden ›Konzeptionen des Identischen‹ erfolgen wird, sind dabei so gewählt, dass sie sich ausdrücklich auf die Phänomene und Belege des geisteswissenschaftlichen Hintergrundes ihrer jeweiligen Denkrichtung beziehen. Ziel ist es nicht, den Epochen der Kulturgeschichte andere Namen zu geben oder Baugeschichte unter einem anderen Label betreiben zu wollen; vielmehr soll hier der Versuch unternommen werden, das Denken gegenüber dem Werk je in einen anschaulichen Begriff zu fassen. Im Rahmen dieser gewählten Strategie mag es zu begrifflichen Missdeutungen von Selbem, Ähnlichem, Autonomem und Anderem kommen: Was ist das Selbe? Kann es Selbes in der Architektur überhaupt geben? Was ist das Andere? Ist nicht alles, was gebaut wird, irgendwie anders? Ich nehme diese auf den ersten Blick aufscheinenden Mehrdeutigkeiten bewusst in Kauf vor dem Hintergrund der Überzeugung, dass die gewählten Begriffe zunächst zum Inhalt ihrer Konzeption kohärent sein müssen, gerade um uns aus der Differenz des Verständnisses heraus die Verschiedenheit der Auffassungen zwischen den Denkspuren vor Augen zu führen.135 Das hier vorgestellte Modell des ›Wandels vom Identischen zur Identität‹ (Abb. 7, S.91) stellt so die jeweilige Bezugnahme auf die architektonische Aufgabe unter den Prämissen der Architektur selbst dar.
135 | Der Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn führt zu der Kommensurabilität von Begriffen aus: »Bei der Lektüre [...] interessiere man sich zuerst für die scheinbaren Absurditäten im Text und frage sich, wie ein vernünftiger Mensch so etwas geschrieben haben könne; [...] wenn die Stellen sinnvoll erscheinen, dann können zentralere Stellen, die man zuvor zu verstehen geglaubt hatte, ihren Sinn geändert haben.« T.S. Kuhn. Die Entstehung des Neuen. Frankfurt/Main 1977. S.34. Zitiert nach: Richard Rorty. Der Spiegel der Natur (1979). Frankfurt/Main 1981. S.351.
Dritter Teil: Wie verkörpert sich die ›Idee von Haus‹? Vier zentrale Konzeptionen der Identität von Architektur
»Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache.« I SAIAH B ERLIN . D ER I GEL UND DER F UCHS .1
Die ›Identität von Architektur‹ fragt nach dem Verhältnis des architektonischen Werkes zu seinem fiktionalen Ursprung im ›Identischen‹, nach der Relation seiner Parametern des Begrifflichen, des Bildlichen und des Dinglichen. Die Auffassung einer Identität im Werk bekommt erst Gewicht mit der Entwicklung des logos, des sprachlich gefassten Verstandes, und der Entwicklung eines selbstbezogenen Bewusstseins beim Menschen. Der Mensch lässt den Mythos, der ihm einst Begründung und Grund seines Seins war, hinter sich. Seitdem sind die Gottheiten des Olymps nicht länger identisch mit den Elementen der Vorstellung im Mythos – fortan bedeuten sie: »Die Götter scheiden sich von den Stoffen als deren Inbegriffe. Sein zerfällt von nun an in den Logos [...] und in die Masse aller Dinge und Kreaturen draußen.«2 Dabei ist es die scheinbare Paradoxie, die an der Gegenüberstellung von ›Identischem‹ und ›Identität‹ in ihren fast gleichlautendem Begriffen fesselt: was wir als ›Identität‹ bezeichnen und worin wir 1 | Isaiah Berlin. The Hedgehog and the Fox. An Essay on Tolstoy's View of History. New York 1970. S.1. Nach: Archilochos, Zenobios 5, 68 Fragment 103. 2 | Max Horkheimer. Theodor W. Adorno. Dialektik der Aufklärung. In: Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften. Band 3. Frankfurt/Main 1981. S.24.
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das eigentliche Selbst eines Werkes zu erkennen vermögen, ist abhängig von einem dahinterliegenden ›Identischen‹, dem Selben. Die authentische ›Identität‹ eines Werkes begründet sich in ihrer Differenz zum nackten ›Identischen‹. Erst mit dem Aufbrechen der Ureinheit des ›Identischen‹ können wir von einer jeweiligen ›Identität‹ als einer nun zu definierenden Ganzheit von Parametern sprechen. Die ursprüngliche Ganzheit, welche die Welt einst als ›Identisches‹ war, differenziert ihre Bestandteile dergestalt, dass sie diesen Parametern eine zusätzliche Dimension, ein je unterschiedliches Gewicht gibt. Die einzelnen Parameter eröffnen durch ihre Variablen verschiedene Lesarten im Werk, woraus erst konkrete ›Identität‹ entsteht. Das ursprünglich ›Identische‹ findet damit zur Gestalt in einem ›Raum‹ der Identität (Abb. 7). Wenn wir also nach der ›Identität von Architektur‹ fragen, so müssen wir das zuvor eng gefasste ›Identische‹ im konkreten Erleben und Wahrnehmen von Architektur erweitern. Es gibt eine unendliche Bandbreite an unterschiedlich gestalteten Häusern, die alle ›Haus‹ sind. Alle entstammen einem ›identischen‹ Ursprung; ihre konkrete Gestalt unterwirft sich einer vom ›Identischen‹ verschiedenen Konzeption, die im weiteren in ihrer möglichen Varianz zu bestimmen sein wird. Wir werden feststellen, dass die je gestaltete ›Identität von Architektur‹ immer notwendig auf dem ›Identischen‹ basiert, dieses sich aber von der Eindeutigkeit hin zu einem mehrdimensionalen Erlebt-Werden zu wandeln vermag. Sehen wir uns also die Parameter des ›Identischen‹ unter diesem Aspekt ihrer Variablen an: Wie steht es mit der Eindeutigkeit des Begrifflichen? Goethes Faust befindet: »Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, / ich muss es anders übersetzen, / wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.«3 Das ›andere Übersetzen‹ des Wortes führt uns die Mehrdeutigkeit des Begrifflichen vor Augen, die uns als ›Metapher‹ im Sinne eines Begriffes anderen Ursprungs vertraut ist. Wie steht es mit der Eindeutigkeit des Bildlichen? Ein Bild kann wahrgenommen werden und wirken als Darstellung von etwas oder auch als ›Verweis‹ auf Anderes; was ich für den Begriff ›Metapher‹ genannt hatte, will ich hier ›Zitat‹ nennen. Und wie steht es um die Eindeutigkeit im Dinglichen selbst? Das architektonische Ding kann ich auffassen als Form oder als Stoff, ihre Variable ist die ›Materie‹. 3 | Johann Wolfgang von Goethe. Faust. Der Tragödie erster Teil. In: Ders. Werke. 14 Bände. Band 3. Dramatische Dichtungen I. München 1996. S.44.
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Begriffliches als Begriffenes
DAS IDENTISCHE Dingliches als Form
Bildliches als Darstellung
Begriffliches als Metapher
DIE IDENTITÄT DES WERKES Dingliches als Materie
Bildliches als Zitat
Abb. 7: Der Wandel vom ›Identischen‹ zur ›Identität‹: Die einzelnen Parameter eröffnen durch ihre Variablen und deren spezifische Gewichtung unterschiedliche Konzeptionen für das Werk. Das ursprünglich ideelle ›Identische‹ findet zur konkreten Gestalt in einem ›Raum‹ der Identität. Jeder der Parameter des ›Identischen‹ birgt in sich eine Variable. Von deren tatsächlicher Bestimmung hängt es ab, wie sich das Werk ausrichtet: auf sein Selbst oder auf das Subjekt seiner Anschauung. Im architektonischen Werk eine bestimmte ›Identität‹ zu erkennen, heißt das Zusammenspiel der Parameter des ›Identischen‹ in seiner jeweiligen Gewichtung wahrzunehmen: als mögliche Differenz von Dinglichem, Bildlichem und Begrifflichem zu deren Variablen von Materie, Zitat und Metapher. In der Differenz zum ›Identischen‹ entsteht lebensweltlich ›Identität‹ als Identität des Selben, des Ähnlichen, des Autonomen oder des Anderen. Aus den nachfolgend vorgestellten Konzeptionen spricht die grundlegende Frage in der Bezugnahme des Werkes zur Welt: Was will das Werk erreichen? Will es als ›Fürmich‹ das Subjekt in seinem Empfinden ansprechen oder als ›Ansich‹ auf die grundgelegte Idee seines Ursprungs im ›Identischen‹ verweisen? Will es die Komplexität des »Vielen« wiedergeben oder die Einheit »einer große Sache«?
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Die Identität des Selben
»Ein Bauwerk, ein griechischer Tempel, bildet nichts ab.« M ARTIN H EIDEGGER . D ER U RSPRUNG DES K UNSTWERKES .1
Ihren Anfangspunkt hat die hier angelegte Bestimmung der zentralen Konzeptionen architektonischer Identität in der Antike. Die Antike ist der Keim der Bestimmbarkeit des Verhältnisses von logos (griechisch für Verstand/Sprache, hier im Sinne des Begrifflichen) und morphe (griechisch für Form, hier im Sinne der erfahrbaren Gestalt). Zudem ist die griechische Antike die Quelle unseres Begriffes der Architektur als ÊÛáÒÝÄÔÝß×
[architékton]: als Anfang des Zusammenfügens von Teilen zu einem Ganzen. Wenn es für uns überhaupt nachvollziehbar eine Übereinkunft von Begriff, Bild und Ding im architektonischen Werk gibt, dann wohl beim antiken griechischen Tempel. Der den Tempel bezeichnende Begriff, das für den Tempel symbolisch stehende Bildzeichen und das auf dem Hügel stehende Ding sind untrennbar miteinander verknüpft, sie ergeben in ihrer Trias die insichstehende Identität des Selben. Was bedeutet der Begriff des Selben in Bezug auf den Tempel? Das Selbe bezieht sich in unserem Kontext auf das Wesenhafte am Werk. Es gewinnt dabei seine Identität nicht nur durch seine physische Präsenz als ein auf sich selbst bezogenes Werk, die Identität des Selben ist geprägt vom Dialog mit der Gesamtheit aller anderen Tempelbauten, auf die es ideell Bezug nimmt. Diese Teilhabe am Ideellen markiert sein »Insichstehen«.2 Schon diese einführende Entgegensetzung am Beispiel der Identität des Selben lässt uns die Möglich1 | Martin Heidegger. Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36). Stuttgart 1965. S.37. 2 | Ebd. S.35f.
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keit der unterschiedlichen Ausrichtung von Identität im architektonischen Werk erkennen. Identität ist in diesem Sinne aufzufassen als Befragung des Werkes auf seine Bestimmbarkeit. Gestaltung, wie wir sie heute der Kunst oder auch der Architektur zubilligen, ist in der Antike noch keine eigenständige, freie Tätigkeit. Malerei, Bildhauerei oder Architektur entbehren in den antiken Künsten noch eines eigenen Ranges. Wenn wir auf Stellung und Denkweise dieser Künste zu sprechen kommen wollen, so ist es hilfreich, bei der Betrachtung und Befragung der antiken Künste etwas weiter auszuholen und auf das Muster der Welterklärung im Mythos zurückzugreifen. In ihrer mythologischen Herkunft ist die Mutter der Künste die Erinnerung, griechisch ÎÏÉÎÐÔÏÉ (mnemosyne). Die Erinnerung gebiert neun Kinder, die Musen, die uns als Personifikationen der künstlerischen Tätigkeiten überliefert sind. Die antiken Künste als Kinder der Erinnerung sind nun aber deutlich anders definiert, als wir es mit unserem heutigen Kunstverständnis erwarten würden. Weder Malerei noch Bildhauerei noch Architektur zählen zu den antiken Künsten, stattdessen stellt uns Hesiod (vor 700 v. Chr.) die Musen als Repräsentantinnen der folgenden Künste vor: die Geschichtsschreibung, die Tragödie, die Komödie, die Lyrik, die Rhetorik, der Tanz, der Gesang und die Liebesdichtung.3 Bereits in der Benennung der Künste manifestiert sich ein deutlicher Wesensunterschied zwischen Antike und Gegenwart. Sind doch die genannten Künste allesamt eher Verkörperungen nicht von Gestaltungsprinzipien, sondern von Darstellungsprinzipien, welche die Persönlichkeit des Künstlers eher ausblenden, wie wir das auch aus den antiken Theaterstücken kennen. Welchen Stellenwert hat demgegenüber das schöpferische ›Hervorbringen‹ greifbarer, konkreter Dinge, wie es die bildenden Künste oder die Architektur mit sich bringen – oder handelt es sich auch dort um die Verkörperung eines bestehenden Schemas? Die grundlegende Differenz zwischen der Kunst der Antike und unserer aufgeklärten, westlichen Gegenwart können wir in der Beziehung von Mensch und Werk entdecken. In unserer nachmodernen Kultur des einundzwanzigsten Jahrhunderts sind wir es gewohnt, die Dinge, wie sie sich uns darstellen, von unserem Standpunkt aus zu sichten, zu besprechen und zu bewerten: das Subjekt ist es, welches das Objekt seiner Anschauung 3 | Einzig die Muse Urania als Sternenkunde will nach unserem heutigen Denkmuster nicht so recht in dieses Konzept passen – doch scheint hierin die stete Relation der antiken Kunst zu den vollkommenen Proportionen des Kosmos durch.
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unterwirft. In dieser Beziehung zwischen Subjekt und Objekt finden wir die maßgebliche Differenz zur griechischen Antike. Heidegger nimmt auf die Antike bewusst Bezug, wenn er die Betrachtung der Dingwelt von ihr selbst her bestimmen will: »qÙØÊÆ×ÎÜÞÊÒ ÝK ÊÒ×vÖÎ×Ê [apophainestai ta phainomena]: Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.«4 Für uns muss es umso schwieriger – eigentlich unmöglich – erscheinen, mit dem Wissen der Aufklärung hinter den Gebrauch dieses Wissens zurückzugehen und den Blick des Subjektes auf die Welt der Objekte so zu vollziehen, wie es das Erscheinen in dem genannten Zitat »von ihm selbst her« fordert. In dem kurzen Wort des qÙØÊÆ×ÎÜÞÊÒ ÝK ÊÒ×vÖÎ×Ê zeigt sich die ganze Wesensdifferenz von Antike und Aufklärung. Der antiken Philosophie – wie auch der Phänomenologie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts – geht es um eine Sicht, die von dem Gegenstand selbst ausgeht, nicht um die subjektive Ansicht auf diesen Gegenstand, der von uns ausgeht. Wahrheit (im Sinne der aletheia) erlangen wir nicht im positivistischen Wissen über eine Sache; wir erfahren sie nur, indem wir uns gegenüber ihrer idea zu öffnen versuchen. Diese uns ungewohnte Relation zwischen Betrachter und Ding ist nur zu begreifen, wenn wir über die Hintergründe der antiken Weltsicht in der antiken Gestaltlehre Klarheit herzustellen versuchen.
D AS S ELBE IM Z USAMMENKL ANG VON M IMESIS , P OIESIS UND T ÉCHNE Das künstlerische Hervorbringen der Antike fußt auf der ÝÄá×Ñ [téchne]. In der téchne erkennen wir schnell den begrifflichen Ursprung der uns vertrauten Technik wieder, doch bezieht sich der griechische Begriff nicht auf den Bereich des Hervorbringens durch Maschinentechnik, wie der Begriff heute gefasst scheint. Vielmehr beschreibt téchne das handwerkliche und künstlerische Tun in seinem Denkprozess. Wie Heidegger verdeutlicht, »ist ÝÄá×Ñ nicht nur der Name für das handwerkliche Tun und Können, sondern auch für die hohe Kunst und die schönen Künste. Die ÝÄá×Ñ gehört zum Her-vor-bringen, zur ÙkÒÑÜÒà [poiesis]; sie ist etwas Poietisches.«5 Nur 4 | Martin Heidegger. Sein und Zeit (1926). Tübingen 2006. S.34. 5 | Martin Heidegger. Die Frage nach der Technik (1955). In: Ders. Die Technik und die Kehre. Pfullingen 1962. S.12.
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mit und über die téchne vermögen wir etwas hervorzubringen, doch ist das poietische Hervorbringen eben kein Schöpfen von etwas Neuem, sondern ein Zur-Erscheinung-Bringen dessen, was latent vorhanden ist. Es ist ein Erkennen dessen, was verborgen ist und welches wir über die téchne entbergen, d.h. entdecken, ohne es gänzlich entschlüsseln zu wollen. Téchne ist somit der geistige Denkraum zur Erschaffung all dessen, was sich nicht selbst hervorbringen kann. Selbst hervorzubringen vermag sich die Blütenpracht der Pflanzen in der Natur – und was sich nicht selbst qua Natur hervorzubringen vermag, dem soll der Handwerker oder der Künstler zu seinem Werksein verhelfen. Die téchne beschreibt also eine Denkweise des Machens, die nicht das Neue in den Mittelpunkt des Interesses stellt, sondern die vielmehr das Hervorbringen des Wesenhaften eines Dinges im Sinne seiner eigenen idea anstrebt: téchne ist die praktische Anwendung dessen, was Wissen und Können hervorzubringen vermögen, unter Beachtung der grundgelegten ›Idee‹ im herzustellenden Objekt. Ob dieses nun technischer oder künstlerischer Natur ist, spielt keine Rolle, da es ja seiner ›Idee‹ folgt. In einem so gearteten Denkraum hat eine freie Kunst – wie wir sie heute kennen und benennen – keinen Stellenwert, und daher ist, wie Umberto Eco (*1932) beschreibt, »die klassische Ästhetik [...] nicht so ängstlich auf Innovation um jeden Preis bedacht, sie schätzte im Gegenteil oft die gute Verwirklichung eines immerwährenden Typus als ›schön‹ ein.«6 Wir müssen uns also in der Besprechung einer architektonischen ›Identität‹ der Antike bewusst machen, dass Gestaltung nicht als ein ›Wettbewerb‹ mit dem Ziel der Andersartigkeit aufzufassen ist, wie dieser unsere Gegenwart prägt, sondern dass das Nachvollziehen der verborgenen ›Idee‹ und seine Umsetzung als Nachbildung oder die Nachahmung im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen. Wollen wir also für das künstlerische Gestalten der Antike ein Prinzip benennen, so liegt dieses in der ÖÒÖÎÜÒà (mimesis) als Nachahmung der Realität. Wollen wir einen Denkraum der antiken Künste benennen, so ist dies der Bereich der téchne. Prinzip und Denkraum, mimesis und téchne, betreffen dabei nicht allein den Bereich der Kunst, sie sind in einem Verbund mit anderen Weisen der Darstellung und des Ausdrucks zu sehen, gerahmt von der Weise des 6 | Umberto Eco. Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien (1986). In: Ders. Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und über Zeichen. Leipzig 1989. S.301-324. Hier: S.301f.
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Hervorbringens als poiesis. So wie die Natur das Göttliche der Pflanze aus dieser selbst hervorbringen lässt, so soll der Künstler oder Handwerker mittels téchne hervorbringen, was sich nicht kraft natürlicher Prozesse aus dem Verborgenen selbst herausschälen kann, was aber als idea im Werk verborgen ist. Im Ergebnis will dieses Werk weniger Neues sein als Selbes. Das Selbe bedeutet in diesem Kontext soviel wie das ›Wahre‹, das ›Richtige‹. Der in diesem Kapitel diskutierte Begriff der Identität des Selben betrifft also nicht das Ding in seinem konkreten Erscheinen – hier wäre der Begriff des Selben geradezu paradox, bestenfalls könnten wir von dem Prinzip des Gleichen sprechen; der Begriff der Identität des Selben betrifft das Ding in seiner Konzeption, auf das Selbe hinter dem Erscheinen zu verweisen, auf eine eigene Wirklichkeit hinter der uns zugänglichen Sinnenwelt: die selbe Form, ohne das numerisch selbe Ding zu meinen. Den Weg der téchne als ein »Entbergen« der grundgelegten idea fassen wir damit als Vermutung einer göttlichen, hinter den Dingen liegenden Wahrheit auf. Téchne ist somit nicht das Muster des Herstellens, sondern der Wegweiser einer strengen, auf gesellschaftliche Übereinstimmung angelegten Gestaltung. Heidegger fasst dies folgendermaßen zusammen: »Wer ein Haus oder ein Schiff baut oder eine Opferschale schmiedet, [...] versammelt im voraus das Aussehen und den Stoff von Schiff und Haus auf das vollendet erschaute fertige Ding und bestimmt von da her die Art der Verfertigung. Das Entscheidende der ÝÄá×Ñ liegt somit keineswegs im Machen und Hantieren, nicht im Verwenden von Mitteln, sondern in dem genannten Entbergen. Als dieses, nicht aber als Verfertigen, ist die ÝÄá×Ñ ein Her-vor-bringen.«7 Indem Künstler und Handwerker als Teilhabende am technikon sich in den Dienst des Entbergens einer übergeordneten göttlichen Wahrheit stellen, haben wir es mit einem von unserem heutigen Verständnis grundsätzlich verschiedenen Begriff der Gestaltung und des daraus entstehenden Werkes zu tun. Nicht die Freiheit des Gestaltens, sondern die enge Bindung an die immanente Wahrheit des zu Gestaltenden bedingt das Werk. Der Künstler sucht in der Identität des Selben die Nähe zum ›Identischen‹ in der Bestimmbarkeit zwischen gesellschaftlicher und göttlicher Wahrheit und ist diesem ›Identischen‹ als dem Voraussetzenden unseres Seins in der Welt verpflichtet – und nicht dem vom eigentlichen Wesen abhebenden Motiv der Aisthesis. 7 | Heidegger. Die Frage nach der Technik (wie Anm. 5). S.13.
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P L ATON – DAS S ELBE ALS M IMESIS AN DIE D INGHEIT Ausgangspunkt der Identität des Selben ist das Ansichsein der Dinge. Das selbstverständliche Ziel des Erkenntnisstrebens des Menschen ist das Entschlüsseln dieses Ansichseins über die Anschauung. Erkenntnis einer Sache ist damit platonisch immer Erkenntnis seines Wesens: die Bestimmung der immanenten ›Idee‹ einer Form. Die Form, in der die Dinge sich zeigen, und ihre Idee stehen also in einem immanenten Verhältnis zueinander; ja mehr noch, sie finden sich im Griechischen in demselben Begriff: eidos. Im eidos sammeln sich also die beiden unterschiedlichen Begriffspaare von ›Idee‹ und ›Form‹. Ernst Cassirer (1874-1945) weist auf Platons besondere Sprachdichte hin: »Einen Begriff, ein Eidos setzt der Dialektiker für all das Vielfache, das durch eine Bedeutung umfasst und mit einem Namen benannt wird. Und auf die Einheit des Urbildes muss notwenig auch derjenige hinblicken, der irgendeinen Einzelgegenstand tatsächlich hervorbringen, der ihn mit den Mitteln des Handwerks und der Technik verfertigen will. So erschafft der Tischler nicht das Eidos, nicht die Wesensform des Bettes oder des Tisches, sondern diese dient ihm als vorher bestehendes Muster, auf welches hinschauend er je einen besonderen Tisch oder eine besondere Bettstelle, als ein konkret-sinnliches Einzelding herstellt.«8 Platonisch ist somit die eidetische ›Idee‹ formal, die eidetische ›Form‹ aber ideell, nicht konkret gedacht. Die ›Idee‹ bedeutet also »für das griechische Verständnis nichts Mentales, sondern ein den Dingen innewohnendes Ordnungsprinzip, nämlich die Form, die diese oder jene Art als solche bestimmt.«9 Die ›Idee‹ ist die beschreibbare, nur geistig fassbare Form eines göttlichen Urbildes, welches ohne seine eidetische Form körperlich nicht abbildbar wäre. Auch Arthur Schopenhauer (1788-1860) stellt Idee und Form in der Gestaltung der Antike als eine wechselseitige Bedingtheit dar: »Die Idee, an sich unausgedehnt, erteilte zwar der Materie die Gestalt, nahm aber erst von ihr die Ausdehnung an.«10 Das wahre Wesen der Dinge auf Erden ist in den konkreten Formen nicht zu fin8 | Ernst Cassirer. Eidos und Eidolon. Das Problem des Schönen und der Kunst in Platons Dialogen. In: Bibliothek Warburg. Vorträge 1922-1923. Hrsg. von Fritz Saxl. Leipzig / Berlin 1924. S.14f. Hervorhebung im Original. 9 | Jean Grondin. Kant zur Einführung. Hamburg 1994. S.45. 10 | Arthur Schopenhauer. Die Welt als Wille und Vorstellung. Band II (1844). Stuttgart, Frankfurt/Main 1960. S.471.
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den, es ist verborgen in einer hinter der Form liegenden göttlichen ›Idee‹. Höchste Erkenntnis des Menschen liegt in dem Erhaschen eines Blickes in die metaphysische Welt als einem Erkennen des Ansichseins der Dinge. Höchstes Wirken liegt darin, im Hervorbringen »das Seiende im Ganzen [...] in die Unverborgenheit gebracht und in ihr gehalten«11 zu haben. Diese Unverborgenheit geht von einer göttlichen Einheit oder Eindeutigkeit aus, die uns Menschen zwar grundsätzlich verborgen bleiben muss, die aber dennoch unser Streben ausmacht, und in deren eidetischem Abbild sich Wahrheit als Unverborgenheit spiegelt. »Worauf die Erkenntnis zu blicken hat, ist stets ein Eidos, die Form einer Sache, sofern sie sich vom Auge der Seele als ein Selbiges durch deren verschiedene Verkörperungen hindurch anschauen lässt.«12 Und Schopenhauer formuliert: »Die ursprüngliche und wesentliche Einheit einer Idee wird durch die sinnlich und zelebral bedingte Anschauung des erkennenden Individuums in die Vielheit der einzelnen Dinge zersplittert. Dann aber wird durch die Reflexion der Vernunft jene Einheit wiederhergestellt, jedoch nur in abstracto, als Begriff, universale, welcher zwar an Umfang der Idee gleichkommt, jedoch eine ganz andere Form angenommen, dadurch aber die Anschaulichkeit und mit ihr die durchgängige Bestimmtheit eingebüßt hat.«13 Die Identität des Selben zielt damit auf die Erkenntnis einer Eindeutigkeit ab: das Ding ›Haus‹ ist ein Haus als Abbild des eidos Haus, der Idee von ›Haus‹, das wir unter dem Begriff ›Haus‹ erfassen. Es geht nicht um Darstellung mit dem Ziel eines Bedeutungstransfers, es geht um die Darstellung des Seins an sich – und das heißt, dass sich die Gestaltung eines Gegenstandes allein an dessen Sein orientiert. Das architektonische Werk der alten Griechen basiert auf der eidetischen Idee, die in ihm selbst als reine Architekturform liegt. Heidegger drückt dies so kurz und prägnant wie möglich aus, wenn er schreibt: »Ein griechischer Tempel bildet nichts ab«14 – außer sich selbst. Die einzelnen Parameter dieser Identität des Selben finden ihr wechselseitiges Pendent: spreche ich vom Tempel, habe ich ein Bild vor Augen, das auf das Ding Tempel verweist. Sehe ich umgekehrt einen Tempel, der in seiner Form immer seinem zeichenhaften Wesen folgt, kommt mir 11 | Heidegger. Der Ursprung des Kunstwerkes (wie Anm. 1). S. 54. 12 | Grondin. Kant zur Einführung (wie Anm. 9). S. 46. 13 | Schopenhauer. Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd II (wie Anm. 10). S.473. 14 | Heidegger. Der Ursprung des Kunstwerkes (wie Anm. 1). S.37.
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sofort der Begriff ›Tempel‹ dazu in den Sinn. Sämtliche offenen Parameter – nach Form, nach Material, nach Konstruktion – klären sich aus dem Kontext ihres Selbst, nicht aus einem Fremdzusammenhang, nicht aus der Übernahme wesensfremder Attribute. In dieser Denkweise ist die Gestaltung eines Dinges nur in Abhängigkeit seines eigentlichen eidos möglich. Weil dieses aber als Göttliches ein Gleichseiendes ist, bedarf es keines grundlegenden Wandels in der Gestalt im Modus der Selbigkeit. Platon formuliert im Phaidon, dass es die Ideen in den Dingen sind, die uns in der Bestimmung der Identität eines Dinges wie auch einer Person (im Phaidon am Beispiel der Person des zum Tode verurteilten Sokrates) zwischen dem Materiellen und dem Ideellen zugunsten der Seele als dem Bleibenden, dem eigentlichen Sein entscheiden lassen. Es existieren demnach zwei Arten des Seienden: das immer gleich bleibende unsichtbare Beständige und die sich ändernden sichtbaren Dinge. Letztere »kannst du doch anrühren, sehen und mit den andern Sinnen wahrnehmen; aber zu jenen sich Gleichseienden kannst du doch wohl auf keine Weise irgend anders gelangen als durch das Denken der Seele selbst«15 . Damit macht das Ideelle der Seele »genauso das Bleibende beim Menschen aus, wie [...] etwa die ›Idee‹ beim Schiff oder beim Tisch.«16 Wenn also das Gleichseiende (als das eigentliche ›Identische‹) das Nichtsichtbare ist, dem wir uns nur in Form einer Idee als Anschauung der göttlichen Wahrheit nähern können, welche konkrete Identität können wir dann dem ideell Bleibenden in unserer Praxis des Nichtwährenden geben? – Es kann dieses nur eine Identität des Selben sein. In ähnlicher Lesart schält auch Heidegger die scheinbare Paradoxie zwischen dem Fortwährendem als dem Nicht-Seienden und Nichtwährendem als dem sichtbaren, aber vergänglichen Seienden heraus: »Schon Sokrates und Platon denken das Wesen von etwas als das Wesende im Sinne des Währenden. Doch sie denken das Währende als das Fortwährende [...]. Das Fortwährende finden sie aber in dem, was sich als das Bleibende durchhält bei jeglichem, was vorkommt. Diese Bleibende wiederum entdecken sie im Aussehen (ÎbÍØà uÍÄÊ), z.B. in der Idee ›Haus‹. – In ihr zeigt sich jenes, was jedes so Geartete ist. Die einzelnen wirklichen und möglichen Häuser sind dagegen wechselnde und vergängliche Abwandlungen der ›Idee‹ 15 | Platon. Phaidon 79a. 16 | Ekkehard Martens. Philosophieren mit Kindern. Eine Einführung in die Philosophie. Stuttgart 1999. S.35.
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und gehören deshalb zu dem Nichtwährenden.«17 Grundlage für ein Haus ist seine bestehende ›Idee-von-Haus‹. Sie beinhaltet das Fortwährende im grundlegenden Erkennen seines Wesens und im lebensweltlichen Wiedererkennen seiner Form. Das beschriebene Fortwährende – wenngleich irdisch Nicht-Seiende – der ›Idee-von-Haus‹ ist als sein ›Identisches‹ oder sein ›Voraussetzendes‹ durch die Zeiten hindurch gleich geblieben. Wieso sollte es auch Veränderungen oder Modifikationen erfahren? Die Schwerkraft hält uns seit jeher auf dem Boden der Tatsachen, der Regen fällt vom Himmel, das wilde Tier und der Räuber, aber auch der Wind kommen von der Seite. Es sind die ahistorischen Elemente und Parameter der Architektur, die von jeher ihr Wesen bestimmen und in denen sich das Fortwährende ihrer ideellen Form durchschlägt. Hannah Arendt stellt dazu heraus: »So wird schließlich einleuchtend, dass eine einzige, immerwährende Idee über der Vielheit vergänglicher Dinge thront, weil diese Beziehung zwischen dem ewig Einen und dem veränderlichen Vielen in offenbarer Analogie zu der Beziehung gesehen ist, die zwischen der Beständigkeit und Einzigkeit des Modells und den vielen entstehenden und vergehenden Dingen obwaltet, die in seinem Bilde hergestellt werden können.«18 Aus den hier vorgebrachten Auslegungen spricht die Auffassung Platons, dass alle bildnerische Gestaltung, alle Kunst als Mimesis Nachahmung sei. Diese stehe per se dem lebensweltlich Seienden hierarchisch nach. Danto fasst die platonische Lehre vereinfachend zusammen, indem er sagt, dass nur das Eidos als Form, als platonisches Element des Nichtseienden, letztlich real ist, weil dieses für Veränderungen unzugänglich ist: »Dinge können kommen und gehen, aber die Formen, die diese Dinge exemplifizieren, kommen und gehen nicht – [...] sie selbst existieren unabhängig von diesen.«19 Die konkreten Dinge mögen sich in ihrer Erscheinung je unterscheiden, doch liegt ihnen allen je eine unveränderliche, ewige, göttliche ›Idee‹ ihres jeweiligen Dingseins zugrunde. Darum ist der Blick auf die Idee, auf das, was hinter dem sichtbaren Seienden liegt, wichtiger für die Erkenntnis als der oberflächliche Blick auf das Ding, welches ja nur vergängliches Abbild ist. In diesem Sinne gilt es eine Hierarchie 17 | Heidegger. Die Frage nach der Technik (wie Anm. 5). S.30f. 18 | Hannah Arendt. Vita activa. Oder vom tätigen Leben (1958). München 1967. S.168. 19 | Arthur C. Danto. Die Verklärung des Gewöhnlichen (1981). Frankfurt/Main 1984. S.32. Hervorhebung im Original.
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zwischen der sichtbaren Welt der Dinge und der gedanklichen Welt der Formen aufzustellen. Diese Hierarchie lautet bei Platon an dem Beispiel eines profanen Bettes wie folgt: »Maler also, Tischler, Gott, diese drei sind Vorsteher der dreierlei Bettgestelle.«20 Das ideelle Bett Gottes steht als das der eigentlichen Idee an höchster Stufe, es folgt das Bett des Tischlers als dasjenige des repräsentierendes Dinges, schließlich das Bett des Malers als eines aus der Welt der abermals repräsentierenden Welt der Nachahmung. So sind die nachahmenden Künste von der Welt der Erkenntnis am weitesten entfernt. Der hier geformte Begriff der Identität des Selben weist so im Platonischen Kontext zwei Bedeutungsebenen aus: zum einen im Sinne des mimetisch Selben als Idem-Identität (von idem, lat. für »derselbe«) mit dem Göttlichen, dessen »selbes« Abbild es ist (und damit sind auch alle anderen Abbilder ›idem‹ = die selben); zum anderen als Ipse-Identität (von ipse, lat. für »selbst«) als Abbild seines eigenen »Selbst«.21 Beidem hat der platonische Gedanke des Gestaltens zu folgen. Freie Kreativität im Gestalten hat hier keinen Ort. Die platonische Ästhetik will stattdessen in ihrer klaren hierarchischen Struktur beweisen, »dass Schönheit eine Eigenschaft des [objektiven] Seins und nicht des menschlichen Erlebens sei; dass die Kunst sich nur auf die Erkenntnis des Seins stützen könne, dass es in ihr keinen Platz für Freiheit, keinen Raum für die Individualität des Künstlers gebe, auch nicht für Originalität und schöpferischen Ehrgeiz; dass im Vergleich mit der Vollkommenheit des Seienden die Möglichkeiten der Kunst [als das Seiende vom Seienden] verschwindend gering seien.«22 Das künstlerisch freie Tun ist nicht von Belang in dem Kontext der Identität des Selben – es geht um das Werk in seinem Ansichsein. Für die künstlerische Ausgestaltung der Tempel gilt dasselbe Prinzip: Es geht um das Werk in seinem Ansich, nicht um einen davon gelösten Repräsentationsgedanken. So ist der bedeutendste Fries des Phidias (um 500 – um 432 v. Chr.) im Parthenon von Athen für den Betrachter kaum zu sehen. In der Weise, wie er in großer Höhe an der Innenseite des Architravs im schmalen Umgang vor der Cella angebracht ist, entzieht er sich der menschlichen Wahrnehmung eher als dass er diese ermöglicht. Doch 20 | Platon. Politeia. 596a-597b. 21 | Paul Ricœur. Das Selbst als ein Anderer (1990). München 1996. S.11. 22 | Wladyslaw Tatarkiewicz. Geschichte der Ästhetik. Band 1. Basel, Stuttgart 1979. S.159.
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auch wenn der Fries de facto kaum zu sehen ist, so ist er dennoch existent, und das ist es, was für die griechische Seele zählt: das konkrete Sein steht über dem subjektiven Erleben. Dieser Gegensatz zu unserer heutigen Auffassung zeigt sich auch in der Rezeption eines Kunstwerkes, die für die Griechen wörtliche Wahr-nehmung gewesen ist: Konnten die Bürger der Stadt Athen einmal im Jahr die ebenfalls von Phidias geschaffene, prunkvolle Statue der Athena Parthenos im heiligsten Inneren des Tempels betrachten, so zeigte sich dem antiken Besucher in diesem Moment eben nicht die Statue des Phidias, sondern die Göttin Athene selbst. Das Kunstwerk stimmt mit seinem eigenen Kontext überein: es ist, was es darstellt. Es ist im wahrsten Sinne identisch.
A RISTOTELES – DAS S ELBE ALS D IFFERENZIERUNG DES D INGLICHEN : F ORM UND S TOFF Mit Aristoteles erhält die platonische Bestimmung von Gestaltung und von dinglicher Identität eine grundsätzliche Erweiterung. Denn während Platon die Ungreifbarkeit des göttlichen eidos den bestehenden Dingen entgegenstellt und auf diese Weise irdische Realität (als greifbare Form) gegen göttliche Wirklichkeit (als nur geistig in der höchsten Erkenntnis begreifbare Form) setzt, durchbricht sein Schüler Aristoteles diese so genannte »ZweiWelten-Lehre«. Aristoteles versucht zu zeigen, dass Form ein konstitutiver Bestandteil im konkreten Ding ist, wobei dessen irdische Realität aus seiner Stofflichkeit heraus auch andere Möglichkeiten der Formwerdung in sich birgt: »Werdendes muss immer gliederbar (dihaireton) sein in das eine und das andere, ich meine in Materie und Eidos.«23 Form (eidos) gewinnt damit im Gegensatz zu der strengen Trennung von Göttlichem und Irdischem einen weltlich-gesellschaftlichen Impetus, indem es sich von seiner Beziehung zwischen Göttlichem und Mensch zu einem irdischen Verhältnis zwischen Mensch und Form oder Materie wandelt. Das Wesen eines Dinges ruht demnach in der Wechselwirkung aus Form und Materie. Sei-
23 | Aristoteles. Metaphysik 8, 1033b 12f. Zitiert nach: Thomas Buchheim. Genesis und substantielles Sein. Die Analytik des Werdens im Buch D der Metaphysik (D 7-9). In: Christof Rapp (Hrsg.). Aristoteles. Metaphysik. Die Substanzbücher (D 2 ). Berlin 1996. S.130.
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nen konkreten Ausdruck findet diese Erkenntnis des Aristoteles in dem so genannten »Hylêmorphismus«, der Form-Materie-Distinktion. Das platonische Modell des Seienden, also dem, was wir wahrnehmen, in Abhängigkeit vom Gleichseienden, der idea, die wir nicht wahrnehmen können, wird von Aristoteles in Bezug auf die vom Menschen erschaffenen Dinge mit der Frage nach dem Grund erweitert. Aristoteles verlangt nach einer zusätzlichen Dimensionierung, nach einer Präzisierung des seienden Dinges: birgt dieses doch in sich die Möglichkeit des So-oderanders-Seins. In seiner Frage, warum ein Ding ist, wie es ist, erkennt Aristoteles vier Ursachen: »1. die causa materialis, das Material, der Stoff, woraus z.B. eine silberne Schale verfertigt wird; 2. die causa formalis, die Form, die Gestalt, in die das Material eingeht; 3. die causa finalis, der Zweck, z.B. der Opferdienst, durch den die benötigte Schale nach Form und Stoff bestimmt wird; 4. die causa efficiens, die den Effekt, die fertige wirkliche Schale erwirkt, der Silberschmied. Was die Technik, als Mittel vorgestellt, ist, enthüllt sich, wenn wir das Instrumentale auf die vierfache Kausalität zurückführen.«24 Es zeigt sich darin eine differenzierende Wahrnehmung von Form und Materie im Ding. So benennt Aristoteles für alles Seiende die Verschiedenheit seiner notwendigen Parameter eidos und hylê. »Die Form [eidos oder morphe] ist derjenige Aspekt, der einer Sache ihre Identitätskriterien verleiht und sie zu etwas bestimmtem von der und der Art [...] macht. Die Materie [hylê] hingegen ist dasjenige, was schon vor der Entstehung eines einzelnen Gegenstandes vorhanden war und was auch beim Vergehen eines Gegenstandes für eine gewisse Zeit erhalten bleiben wird.«25 Form und Materie sind dabei aber nicht nur analysierend auseinanderzuhalten, sie bedingen eine erweiternde Sichtweise auf ein Werk im Sinne der Unterscheidung von Wirklichkeit und Möglichkeit, von Aktualität und Potenzialität eines Dinges. »Wirklichkeit verhält sich zur Möglichkeit wie der Gebrauch einer Sache zu ihrem bloßen Besitz, wie der Bauende zum Baukundigen, wie das Wachende zum Schlafenden usw.«26 Das Erz, das später zur Statue geformt wird, ist nur der Möglichkeit nach eine Statue (es besitzt nämlich darüber hinaus noch andere Möglichkeiten), während die durch die Statuenform geprägte Materie (das Erz) auch der Wirklichkeit nach eine Statue ist. Diesen Gedanken wird Michelangelo Buonarroti 24 | Heidegger. Die Frage nach der Technik (wie Anm. 5). S.7f. 25 | Christof Rapp. Aristoteles zur Einführung. Hamburg 2001. S.126f. 26 | Aristoteles. Metaphysik (wie Anm. 23). S.170.
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(1475-1564) in dem berühmten anekdotischen Ausspruch aufnehmen, der ihn sagen lässt, dass die Skulptur – sein David – schon im Felsblock enthalten sei, den er aus den Steinbruch auswählt; die Arbeit des Bildhauers bestünde nur darin, diese Figur aus dem Stein quasi zu befreien.27 Ding und Stoff sind durch die Form-Materie-Distinktion wechselseitig aneinander geknüpft. Form ist Aktualität und Wirklichkeit, Materie ist Potenzialität und Möglichkeit. Aristoteles erweitert das platonische Ansichsein der Dinge, das Stoff und Form als untrennbare Ganzheit formuliert, durch eine differenzierende Betrachtung der beiden Parameter. Wesentlich ist allerdings die Feststellung des Aristoteles, dass die Wirklichkeit gegenüber der Möglichkeit primär ist. Eine Möglichkeit, ein Vermögen (die Materie) kann nur bestimmt werden durch die Wirklichkeit (die Form). Wirklichkeit muss somit notwendig auch der Möglichkeit vorausgehen, weil diese ja nur Materie in Form ist. »Wenn es ein mögliches F geben soll [als Form], muss es ein artgleiches F geben, das schon wirklich ist. Mit Bezug auf den natürlichen Entstehens- und Fortpflanzungsprozess hieße das: [...] wenn es ein Ei gibt, gibt es zuvor eine Henne.«28 Mit Bezug auf den Gestaltungsprozess hieße das: wenn wir eine Form F gestalten wollen, muss es bereits ein Vorbild für diese Form F geben, sonst haben wir in uns gar nicht die Möglichkeit für diese Form. Die Henne trägt in sich die Möglichkeit für das Ei, der Mensch trägt in sich die Möglichkeit für seine Nachkommen, die bestehende Form F trägt in sich die Möglichkeit für nachfolgende Abbilder. Diese Primär-Setzung der Wirklichkeit gegenüber der Möglichkeit führt uns zu dem antiken MimesisKonstrukt als Grundlage der Gestaltung in der Nachahmung: egal, ob es platonisch Bezug nimmt auf ein ideelles Urbild oder aristotelisch auf eine bestehende, mögliche Form – in beiden Fällen heißt Gestalten nicht Form erfinden, sondern Form nach-machen. Wir können zwar Formen umwandeln – z.B. den menschlichen Körper von Fleisch in Ton oder Holz, oder eine praktizierte Konstruktionsform am Bau von Holz in Stein, so wie nach der noch immer kontrovers diskutierten These die uns überlieferten Stein-Tempel den Vorgängertypus des Holzbaus in sich tragen mögen. Wir können die gesetzte Form aber nur verwandeln im Rahmen einer MetaMorphose. Eine eigene morphosis hervorzubringen (als reine physis ohne 27 | Vgl: Otto von Simson. Das hohe Mittelalter. Propyläen Kunstgeschichte. Band 6 (Mittelalter II). Berlin 1965. S. 271. 28 | Rapp. Aristoteles (wie Anm. 25). S.171.
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das immanente Wechselspiel von Form und Materie) hieße dagegen, die Möglichkeit vor die Wirklichkeit zu stellen. Dies aber übersteigt die Wahrnehmung wie auch die Vorstellung in der Gestaltauffassung der Antike. Es wäre die Potenzialität der Möglichkeit vor der Wirklichkeit, was im Denken der Antike keinen Bestimmungsgrund mehr haben kann und sich im Nichtidentischen verlieren muss. Das Gestalt-Denken im Modus des Selben ist zeitlich nicht allein an die Antike gebunden. Ähnlich wie Aristoteles wird Thomas von Aquin (um 1215-1274) das Verhältnis von Stoff und Form beurteilen. Auch er differenziert zwischen dem Stoff, aus dem ein Ding gemacht ist, und der Form, die der Stoff im Werk annimmt. Die künstlerische Form im Werk nennt Thomas akzidentiell (und wir hören in diesem Begriff konnotativ die begriffliche Wurzel von ›Zufall‹ mitschwingen), im Gegensatz zu den Organismen und Formen der Natur, welche substantiell gesetzt sind: »Der Stoff, der sich zur künstlerischen Formung anbietet, ist nicht bloße Potenz, nicht Materie ex qua; er ist bereits Substanz, determinierter Akt, Marmor, Bronze, Ton, Glas; er ist Materie in qua, subjectum, an der die akzidentiellen Formen arbeiten, um sie bestimmte Gestalten annehmen zu lassen, ohne dabei ihre substantielle Natur in Mitleidenschaft zu ziehen. Ars operantur ex materia quam natura ministrat: Die Kunst wirkt gemäß dem Stoff, den die Natur zur Verfügung stellt.«29 Die Werke deuten also »akzidentiell« auf das, was sie darstellen, und bleiben »substantiell« doch der Stoff, aus dem sie geschaffen sind. Ihre Identität ist bedingt durch das Material, aus dem sie gemacht sind, dem Thomas von Aquin als Materie in qua ein eigenes Selbst und damit eine Identität zugesteht. Das Material modifiziert »die künstlerische Form, die es zur Statue macht, [...] nur an der Oberfläche, weil sein Kupfersein von der akzidentiellen [von der zufällig hier verorteten] Form nicht abhängt.«30 Was der Aristotelische Hylêmorphismus damit auch heute noch gültig impliziert, ist die differenzierte Blickweise auf eine richtige oder nicht-richtige Kombination von Form und Materie. Ein bestimmter Stoff als Baumaterial trägt in sich die Potenzialität seines ›richtigen‹ Einsatzes in einer bestimmten Konstruktionsform. Umgekehrt entspricht eine bestimmte Form einem bestimmten Stoff, um zur Umsetzung eben dieser Form zu gelangen. 29 | Umberto Eco. Kunst und Schönheit im Mittelalter (1987). München Wien 1991. S.153f. 30 | Ebd. S.154.
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Die dingliche Identität als Differenz von Form und Materie ist auch verantwortlich dafür, dass die ehemalige Platonische Hierarchie zwischen Handwerker und Künstler mit Aristoteles eine Umdeutung erfährt: der Künstler ist es nun, der dem Handwerker vorsteht. »Durch Kunst entsteht all das, dessen Form in der Seele ist, [...] was seine Quelle im Schaffenden, nicht im Geschaffenen [der Natur] hat«31 . So erklärt Aristoteles in seiner Metaphysik, dass »die leitenden Künstler in jedem einzelnen Gebiete bei uns in höherer Achtung [stehen], und wir meinen, dass sie mehr wissen und weiser sind als die Handwerker, weil sie die Ursachen dessen, was hervorgebracht wird, kennen.«32 Auch bei Aristoteles bleibt die Mimesis die grundlegende Methode des Herstellens. Doch Mimesis ist bei Aristoteles Nachahmung der Natur nicht nach der Form, sondern nach ihrem Prinzip. »Ein Flugzeug ahmt nicht den Vogel nach, sondern das Prinzip des Fliegens, eine Erzählung nicht einfach die Geschichte, so wie sie war, die Tragödie nicht einfach die Handlung, wie sie geschehen ist, sondern wie sie gewesen oder geschehen sein könnte.«33 Das Denken im Sinne der Potenzialität eröffnet eine Sichtweise des Prinzips: Das Kunstwerk ist damit noch nicht selbständiges Eigenes, sondern Mimesis am Prinzip, und dieses Prinzip wiederum ist die Möglichkeitsfunktion der Form. Zwischen die gegebene Form und ihre Nachahmung in der Mimesis hat Aristoteles also die Frage nach dem Prinzip gestellt. Welche Auswirkung hat die Differenzierung des geformten Gegenstandes in Form und Materie? Indem die ehemalige Gegebenheit der idea auf das nun bestimmbare Verhältnis von Form und Materie übergeht, welches die Option des Soseins oder des Andersseins in sich birgt, erschließt dieser Blick überhaupt erst die Möglichkeit der Entwicklung innerhalb einer Form. Darüberhinaus eröffnet Aristoteles mit seiner Form-MaterieDistinktion auch einer differenzierenden Betrachtung im Sinne der Aisthesis die Bahn, welche die konkrete Wirklichkeit von ihrer Möglichkeit »abhebt«. Die in der Ästhetik geläufige Trennung der Betrachtung eines Werkes in dinglichen Unterbau (des tatsächlichen Seins) und künstlerischen Oberbau (des möglichen Seins), hat hier ihren Ursprung.
31 | Tatarkiewicz. Geschichte der Ästhetik. Band 1 (wie Anm. 22). S.170. 32 | Aristoteles. Metaphysik 981a(30)-981b(1). Zitiert nach: Richard Sennett. Handwerk. Berlin 2008. S.36. 33 | Uta Kösser. Ästhetik und Moderne. Erlangen 2006. S.102.
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Kommen wir damit auf die Architektur zu sprechen. Die Antike zeigt sich uns als ein durchgängiger Gestaltrahmen, dessen formale Konstanz auch beim Wandel von einer Konstruktionsart in eine andere Materialität aufrechterhalten wird: Ist nicht gerade der Wandel von Holztempel zu Steintempel bei relativem Gleichbleiben seiner Form eine Option der Form-Materie-Distinktion? Die Form als übergeordnete Wirklichkeit bleibt auch bei Aristoteles die bestimmende Konstante vor der Möglichkeit ihrer Übersetzung in eine Materialität. So zeugt der Steinbau in vielen Details und auch in den Bezeichnungen seiner Bauteile noch von seinem Vorfahren, dem Holzbau. Natürlich ist der Steinbalken nicht faktisch identisch mit dem Holzbalken als Architrav; und doch ist der Architrav in seinem konstruktiven Prinzip die schlüssige Umwandlung des ehemaligen Holzbalkens in der Methode der Mimesis, sowohl in seinem Erscheinen als auch in seinem Prinzip. Und sind nicht die Kanneluren auf den Säulen ein ausdrücklich prinzipbezügliches Element, indem sie dazu dienen, die Säule, die aus einzelnen Elementen zusammengesetzt ist, durch die durchgängige vertikale Profilierung zu einer optischen Ganzheit zusammenzufassen? Sie verweisen nicht auf Anderes, sie dienen ihrem Selbst, sie sind Mimesis am Prinzip der Ganzheit Säule. So ist denn die antike Architektur für uns das Abbild einer Mischung aus Platonischen Grundwerten und Aristotelischem Prinzipdenken: die formale Strenge und Gleichheit, ja Selbigkeit entstammt der Platonik als eine immerwährende Arbeit am Urbild; der bei aller Selbigkeit darin festzustellende Wandel findet seine Begründung in dem aristotelischen Prinzip der Möglichkeit innerhalb eines vorgegebenen Rahmens. Von der Antike über das Mittelalter bis zum Humanismus macht zunächst das formale Festhalten am Urbild, später die Gewohnheit der Mimesis an der vertrauten und bewährten Form das Wesen der Gestaltung aus und begründet so auch die Langsamkeit des Wandels der Formenwelt zwischen den Epochen. Was wir Tradition nennen, ist das Festhalten an der Identität des Selben.
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D IE I DENTITÄT DES S ELBEN IM GEBAUTEN W ERK Das Abbild seiner selbst: Der Tempel Der Kunst der griechischen Antike ist an der Wiedergabe des Typischen gelegen, nicht an Repräsentation als Wiedergabe von Bedeutung oder Individualität. Das Besondere am Tempel liegt darin, dass er die ›Idee-vonTempel‹ als das Selbe in seiner Gestalt zu binden sucht. Es ist mehr als eine Ähnlichkeit, es ist die Teilhabe an einer Gemeinsamkeit, an einer Gattung. In der Arbeit am einzelnen Tempel geht es darum, dieses Werk möglichst nahe an das eigentliche Sein hinter dem Seienden zu führen. Diese Konzeption der Gestalt bildet die Identität des Selben. Ihr Werkzeug ist der Kanon (altgr. für Maßstab). Der Kanon ist das ›Grundmodul‹ des Tempels, der sowohl den Tempel als auch die Tempel durchdringt und die Gestalt als Ganzes im Sinne eines Verhältnisses des Teile zueinander kontrolliert. Alles steht mit allem in Verbindung und Wechselwirkung – eine immanente Verbindung im Selben. Die Betrachtung eines Tempels wird aus dem Werk heraus auf die innere Logik des Bauwerks gelenkt. Das Bauwerk ist insichstehend, in dem Sinne, dass es seine Gestalt einer inneren Gesetzmäßigkeit entnimmt, die den Gebrauch durch den Menschen zwar ermöglicht, sich diesem aber nicht unterwirft. Livio Vacchini (1933-2008) notiert dazu: »Der Sockel ist keine Zugangstreppe zum Portikus, seine Stufen sind nicht für den menschlichen Schritt gedacht, sondern ganz und gar in Funktion des heiligen Raums. – Auf dem Stylobat die dorischen Säulen mit den [...] Kanneluren [...]. Sie scheinen dazu da, Licht und Schatten ausgeglichen über die Säule zu verteilen, und bewirken damit, dass diese als Monolithe erscheinen. Ein Kunstgriff, da wir doch wissen, dass die Säulenschafte aus einzelnen Trommeln gefügt sind. – Dann der Architrav, der zum Himmel abschließen sollte. In ihm erkennt man die Horizontale und das Gewicht. Er ist in den Rhythmen und seinen Proportionen genau und löst gar eines der kompliziertesten Probleme der Architektur: das Problem der Eckgestaltung.«34 In dieser in sich ruhenden Perfektion liegt das, was das Selbst des Tempels ausmacht. Über die Wechselwirkung der tragenden und lastenden Teile hinaus besteht aber eine Verbindung zwischen Raumbildung und Zeichenhaftigkeit. 34 | Livio Vacchini. Capolavori. Übersetzt von Nott Caviezel. In: werk bauen + wohnen. #3/2008. S.38-43. Hier S.40.
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Abb. 8: Die Abfolge der Hauptfronten verschiedener Tempel stellt das Prinzip der antiken Gestaltung in der ›Identität des Selben‹ heraus: Was den Tempel an sich auszeichnet, ist seine ›Selbstheit‹ in Gestalt und Konstruktion wie auch seine ›Selbigkeit‹ zu den anderen Tempeln. Die Säulenreihe ist das bestimmende Motiv: außen wie innen. Die Cella, die das eigentliche Heiligtum birgt, wird abermals von einer Reihe von Säulen definiert, welche als zweigeschossige Säulenordnung das Allerheiligste, die Statue der Gottheit, umrahmen. Die uns von außen vertraute Architektur der Ringhalle wird hier gewissermaßen nach innen gewendet, sie findet sich im Sinne einer Selbstähnlichkeit wieder. Die Wiederaufnahme dessen, was den Tempel nach außen bereits ausgezeichnet hat, paart sich auch hier mit seiner konstruktiven Notwendigkeit. Egal, welche und wie viele verschiedene Tempel wir uns ansehen – sie alle bilden das Selbe der Architektur des Tempels ab. Es geht nicht darum, den besonderen Tempel zu bauen, es geht darum, den Tempel als Selben zu bauen: das allein birgt die Nähe zu seinem Urbild, zu seinem Ursprung in der göttlichen Idea. Am Beispiel des Tempels können wir auch nachvollziehen, welchen Weg die Griechen auf der Suche nach dem göttlichen ›Urbild‹, dem eidos, zurückgelegt haben. Die Orientierung am Selben zeigt nämlich ein unbedingtes Differenzieren von Notwendigem und Überflüssigem. Es bedeutet nicht das Weiterführen und Weiterentwickeln von Bekanntem, sondern ein Selektieren dessen, was die Baugeschichte bis dato an Leistungen überliefert hat: »Es muss unendlich Vieles überwunden gewesen sein: – die ägyptische Bewunderung des Großen, Starren, der primitiven lebendigen Säulenform; – die asiatische Volute, Säulenbasis, (Gebälkform dreischichtig und mit Zahnschnitt) eigenthümlich vegetabilischer Ausdruck; – die eigene Bautradition des heroischen Zeitalters; – die noch nahe Reminiscens des Holzbaues (welche namentlich im Gebälk fortwirkte).«35 35 | Jacob Burckhardt. Aesthetik der bildenden Künste. Darmstadt 1992. S.39f.
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Abb. 9: Parthenon, Athen, 447-438 v. Chr. Modell im Maßstab 1:50, 1994, Alabastergips, 45x68,1x145,5cm, Werkstatt O. M. Ungers, Köln. Ungers Archiv für Architekturwissenschaft UAA. © Bernd Grimm Die gestalterische Bezugnahme auf das Selbe ist also nicht vordergründig aisthetisch begründet, sie ist Katharsis im Diskurs des Bauens: eine Reinigung von allem (scheinbar) Überflüssigen, was sich in den Jahrtausenden der Baugeschichte vor der Antike angesammelt hatte. Denn natürlich ist der Tempel nicht der geschichtliche Ursprung der Architektur. Er markiert vielmehr für unsere Betrachtung der ›Identität von Architektur‹ den Zeitpunkt einer ersten nachvollziehbaren Übereinstimmung von Geistesgeschichte und ihrer architektonischen Verkörperung, die sich auch in ihrem Begriff des architékton widerspiegelt. Der Tempel ist damit Abbild eines Programmes des Lebens als Ganzes, nicht allein eine gestalterische Ausnahmeerscheinung im Systemfeld der Architektur. Platon ist nicht daran gelegen, eine Ästhetik zu formulieren – sein Streben zielt auf die politeia, auf den Staat als Gesellschaftsmodell, und dabei auf das Verhalten des Einzelnen innerhalb des Ganzen der polis. In diesem Rahmen können wir für Platon von einer Selbstähnlichkeit der Teile und der Beteiligten zueinander ausgehen: was für den einzelnen Bürger gilt, gilt ebenso für die Darstellung der Gesellschaft in der Bauform. Nicht das Spezielle des Einzelnen zählt, sondern der Zusammenhalt aller Teile im Großen und das erfordert die Zurücknahme des individuellen Gestaltdranges.
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Abb. 10: Patenthaus T-III (1910), Dresden Hellerau, Am Schänkenberg. Architekt: Heinrich Tessenow. Die Schemazeichnung zeigt die Ansicht zur Straße »Am Schänkenberg» von drei geplanten Häusern. Die Bezeichnung des Hauses bezieht sich auf das Patent für das konstruktive Grundgerüst der »Tessenow-Wand«, einer Konstruktion aus Holzrahmen mit einer Ausfachung aus Ziegelsteinen. Siehe dazu: Heinrich Tessenow. Hausbau und dergleichen. Berlin 1920. S.60f.
Die Unsichtbarkeit des Selben: Das Patenthaus Kann aber die Identität des Selben in der Architektur heute noch gedacht werden? Wo finden wir heute noch das Selbe als Konzeption architektonischer Identität vor? Sind es heute nicht eher die namenlosen Vorstadtsiedlungen mit den immergleichen Fertighäusern, die – bei aller Biederkeit – durchaus von der Darstellung eines klassischen Hauses sprechen, also ein solches Selbes verkörpern? Ja, verkörpern mögen sie das Selbe – und doch wollen sie es nicht sein. Die Vorstadthäuschen mit ihren rudimentären Säulchen, ihren aufgeklebten Sprossenfenstern oder den imitierenden Materialien wollen allesamt eben nicht das Haus vorstellen, das sie sind, sie wollen vielmehr in ihrem zurückgenommenen Repräsentationsmodus ein bestimmtes Haus aus einer bestimmten Zeit nachstellen. Trotz ihres scheinbar immergleichen Aussehens können wir die Konzeption des Selben bei diesen Vorstadthäusern nicht ansetzen; denn ihre Intention zielt in die Richtung einer Repräsentation dessen, was sie gerade nicht sind. Das zeigt sich an den Formen genauso wie an den verwendeten Materialien: wo an einem Haus kein verwendeter Bau-Stoff mehr an seinen eigentlichen Ursprung gemahnt, wo so das Dingliche gegenüber seinem Begrifflichen untergraben wird, hilft uns auch der »Trost der guten Form«36 nicht weiter. 36 | Jean-François Lyotard. Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? (1982) In: Ders. Postmoderne für Kinder. Wien 1987. S.11-31. Hier: S.29.
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Abb. 11: Patenthaus T-III (1910), Architekt: Heinrich Tessenow. © Margret Hoppe, 2008. Hat also die Identität des Selben heute noch Gültigkeit? Welche Bedingungen muss diese Identität am gebauten Haus erfüllen? Das Haus in der Konzeption des Selben muss nichts weiter leisten, als schlüssig das Selbst von Haus (im Allgemeinen) in seinem konkreten Insichstehen als Haus (im Speziellen) darzustellen – in seinen Facetten des Gebrauches im Wohnen genauso wie in den Facetten seiner Konstruktion und Materialität. Kein ästhetisch abhebendes Unterscheiden in minimierten, abstrahierten Details, kein bedeutsames Verweisen auf Dinge, die nicht da sind. Worum es hier geht, das ist das Haus in seiner Grundform. Als Beispiel möchte ich einen der Vorläufer zur aktuellen Vorstadtsiedlung in unseren Diskurs einführen. Ich spreche von dem Gedanken an ein ›Standardhaus‹, wie er im zwanzigsten Jahrhundert vielfach in den verschiedensten Modellen angedacht wird, so auch von Heinrich Tessenow (1876-1950). Die Wohnhausentwürfe Tessenows, sowohl für das eigene Wohnhaus (Hellerau 1911) wie auch das hier gezeigte Patenthaus T-III (Hellerau 1910, Abb. 10 und 11), verbinden das ethisch-modernistische Recht auf ›Wohnen für alle‹ mit einer einfachen, bedeutungsfreien Hausfigur auf sinnvoller konstruktiver Basis. Das Ergebnis ist in seiner äußeren Gestaltung so zurückhaltend, dass man es fast als unsichtbar bezeichnen könnte. Es kommt hier die
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Konzeption des Selben mit der Konkretion des Selben überein. Mit Heidegger könnte man auch über das Patenthaus sagen: dieses »Gebäude [...] bildet nichts ab.«37 Es folgt dem Streben nach dem ›Ur-Ausdruck‹ von Architektur, der ausschließlich in sich selbst, seiner eigenen Bestimmung beheimatet ist, darüber hinaus aber bedeutungsleer bleibt: »Der ›Ur-Ausdruck‹ des Hauses – der Tessenow zufolge wiedergefunden werden musste, bevor es zur Entwicklung eines allgemeinen Systems moderner Formen und Stile kommen konnte, – kristallisierte sich, nachdem alles Überflüssige unnachgiebig ausgeschaltet worden war, in architektonischen Formen von unbedingter Essenzialität«38 – so wie wir sie am Patenthaus vorfinden.
Das Haus als Selbes – ein Vergangenes? »Nach meinem Gefühl ist die Idee dieser Ideen, deren Vater unser herrlicher Platon ist, unendlich einfach, zu einfach und gewissermaßen zu rein, um die Vielfalt der Schönheiten zu erklären, den Wechsel der Bevorzugungen bei den Menschen, das Verbleichen von so viel Werken, die bis zu den Wolken erhoben worden waren, die Schöpfungen, die völlig Neues bringen und die Wiederauferstehungen, die vorherzusehen unmöglich ist. Es gibt da noch eine Menge anderer Entwürfe.« PAUL VALÉRY. E UPALIINOS ODER D ER A RCHITEKT. 39
Bevor wir auf die weiteren Konzeptionen der Identität von Architektur eingehen, wollen wir nach der Ausschließlichkeit wie auch nach der Aktualität des Selben in der Architektur fragen. Es geht ja hier nicht um eine baugeschichtliche Rückschau auf die Antike. Vielmehr sehen wir uns mit der Frage konfrontiert, ob die Identität des Selben, im Denken der Antike verortet, auch heutzutage noch als eine zeitgemäße Konzeption der ›Identität von Architektur‹ anzusehen ist. Denn die Realität zeigt, dass der Bestand eines Hauses als Selbes nicht mehr von Dauer zu sein scheint. Kaum hat 37 | Heidegger. Der Ursprung des Kunstwerkes (wie Anm. 1). S.37. 38 | Marco de Michelis. Heinrich Tessenow. Das architektonische Gesamtwerk. Stuttgart 1991. S.59. 39 | Paul Valéry. Eupalinos oder Der Architekt (1923). Frankfurt/Main 1990. S.51.
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nämlich der Besitzer eines unscheinbaren Standard- oder Patenthauses seine Darlehensraten im Gröbsten getilgt, beginnt er hier anzubauen, dort zu verändern, dieses zu variieren – und das nicht nur, um den eigenen Gebrauch im Wohnen zu verbessern, sondern insbesondere um sich gegenüber dem Nachbarn als dem Selben zu differenzieren. Bauindustrie und Baumärkte geben dem Einzelnen hierfür die Mittel in die Hand. Ursache dafür ist der eingangs beschriebene Wandel im Bewusstsein des Individuums gegenüber der grundlegenden ›Idee-von-Haus‹, der Wandel vom Selbst des Werkes auf das Subjekt seiner Anschauung. Der um sich greifende Drang nach Ästhetisierung unserer Umgebung auf der Basis eines individuellen Geschmacks hat die moderne Gesellschaft vom Selben weggeführt. Und auch das ehemals Selbe eines Tempels wird heute nicht mehr in seinem ursprünglichen Sinne wahrgenommen, sondern im entgegengesetzten Sinne des Besonderen. Die Touristen begegnen den antiken Relikten gerade in einer Erwartungshaltung der Repräsentation, in der sich die Betrachtung eines Tempels als eine umgekehrte Referenz zu den seither dem Tempel nachempfundenen Bauten darstellt. Der Zugang zu dem Werk als Selbem kann aber nur gelingen, wenn man dieses »aus allen Bezügen zu solchem, was ein anderes es ist als es selbst,« herausrückt, »um es allein für sich auf sich beruhen zu lassen.«40 Wenn Heidegger zu den antiken Bauwerken schreibt, dass sie zwar heute noch besichtigt werden können, doch nicht mehr als diejenigen, die sie selbst für die Menschen waren, dann betrifft dies sowohl ihren materiellen Zerfall wie auch den ideellen Wandel der einst bestehenden Denkkultur im Selben. Denn der Selbstbezug des Tempels von Paestum oder des Bamberger Domes ist als »Welt der vorhandenen Werke [...] zerfallen. [...] Weltentzug und Weltzerfall sind nicht mehr rückgängig zu machen. Die Werke sind nicht mehr die, die sie waren. Sie selbst sind es zwar, die uns da begegnen, aber sie selbst sind die Gewesenen. Als die Gewesenen stehen sie uns im Bereich der Überlieferung und Aufbewahrung entgegen. Fortan bleiben sie nur solche Gegenstände. Ihr Entgegenstehen ist zwar noch Folge jenes vormaligen Insichstehens, aber es ist nicht mehr dieses selbst. Aller Kunstbetrieb, er mag [...] alles um der Werke selbst willen betreiben, reicht immer nur bis an das Gegenstandsein der Werke. Doch das bildet nicht ihr Werksein.«41 40 | Heidegger. Der Ursprung des Kunstwerkes (wie Anm. 1). S.37. 41 | Ebd. S.36.
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Das Werksein der Tempel in ihrer Selbigkeit ist für uns mit dem Wandel der Welt also nur noch theoretisch nachvollziehbar – unmittelbar im Angesicht eines Tempels werden wir heute nicht vom Selben in seiner zugrundeliegenden Intention sprechen. Wir sehen in diesem heute ja gerade ein Besonderes, was seine Erscheinung als Ruine noch unterstreicht; diese ist kein Selbes mehr, sondern ein Spezielles, das die subjektive Interpretation geradezu herausfordert. Suchen wir heute also noch die Möglichkeit der Bezugnahme auf die grundlegende ›Idee des Selben‹, so müssen wir uns an das Beispiel Tessenows halten – und dieses scheint jede Gestaltintention zu verweigern. So müssen wir fragen, ob ein Objekt im Gewand des tatsächlich ununterscheidbaren Selben unsere Gesellschaft noch anzusprechen vermag. Denn das zurückhaltende Schweigen eines Hauses in seiner Identität des Selben wird als ästhetisches Stummsein aufgefasst und kommt damit einer gestalterischen Nichtexistenz gleich. Die Gesellschaft des einundzwanzigsten Jahrhunderts hat sich in ihrer Ausrichtung zur ›Idee‹ zu stark von dem griechisch-antiken Denken am Ur-Bild entfernt. Das Geläufige ist für uns heute eine Identität der Differenz vom Selben: sei es im Ähnlichen, im Autonomen oder im Anderen.
Die Identität des Ähnlichen
»So waren die Bauwerke in den ersten sechstausend Jahren der Geschichte, vom allerältesten indischen Götzentempel an bis hinauf zum Kölner Dome, die großen Schriftzüge der Menschheit, und das in des Wortes vollster Bedeutung; denn nicht nur die religiösen Symbole sind darin ausgedrückt, sondern jeder menschliche Gedanke hat in dem Riesenbuch seine Seite und sein Denkmal.« VICTOR H UGO. D ER G LÖCKNER VON N OTRE DAME .1
In der architektonischen Konzeption des Ähnlichen haben wir es nun mit dem Phänomen der Repräsentation in ihrem zweiseitigen Verständnis zu tun: zum einen können wir »Repräsentation« als wiederkehrende Aufführung des Selben verstehen – die erneute Darstellung von etwas konkret Bekanntem: »Re-präsentation: wieder präsent: gegenwärtig oder anwesend sein«.2 Zum anderen kann in der Repräsentation auch »etwas [...] an der Stelle von etwas anderem stehen«3; dieses ist dann Stellvertreter für das bereits Bekannte. Mit dem Einsatz der Repräsentation als Mittel der Gestaltung verändert sich die Identität eines Werkes: das ursprünglich Selbe wird aufgrund der sichtbaren Differenz zwischen seinem eigentlichen, historischen Ursprung (auf den jetzt verwiesen wird) und dem Jetzt seiner Wahrnehmung zu einer Identität des Ähnlichen. Ihr Medium ist die Varianz des Bildlichen im architektonischen Werk, welches sich von der 1 | Victor Hugo. Der Glöckner von Notre Dame (1831). Frankfurt/Main, Leipzig 1914. S.198. 2 | Arthur C. Danto. Die Verklärung des Gewöhnlichen (1981). Frankfurt/Main 1984. S.42. 3 | Ebd. S.43.
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Darstellung seiner selbst zum bedeutungsgeladenen ›Zitat‹ wandelt. Das Phänomen der Repräsentation, das uns in der zweidimensionalen Malerei im Sinne symbolischer Darstellungen seit jeher vertraut ist, wird nun auf das Gebäude als Ganzes übertragen. Die Repräsentation als ein Verweisen mit dem Ziel der Öffnung der Bedeutungshoheit bestimmt damit den inhaltlichen Kern der architektonischen Identität des Ähnlichen, die wir für die Epoche des Humanismus und der Renaissance in ihrer formalen Bezugnahme auf die Antike als prägend ansehen können.
Ä HNLICHKEITSMOTIV UND UNEIGENTLICHE D ARSTELLUNG Nun ist die Bezugnahme auf ein anderes Objekt im Sinne des Ähnlichen oder der Referenz kein Phänomen, das sich auf eine einzige Epoche eingrenzen ließe. Das Wesen der Kunst basiert seit jeher auf der Repräsentation als Darstellungsform. Jede repräsentierende Darstellung ist zunächst ein Verweis auf etwas Bestehendes, gepaart mit einem bestimmten inhaltlichen Impetus: ohne einen besonderen Grund für die Darstellung würde es keine Darstellung geben – denn für das Seiende als solches haben wir ja bereits die Lebenswelt selbst. Es ist das von Lyotard benannte »Fort im Da«4 , aus dem die repräsentierende Darstellung ihre innere Berechtigung zieht. In einem damit einhergehenden formalen Verweisen, der so genannten »symbolischen Kunst«, sieht Hegel die Urform von Kunst begründet. In Hegels Auffassung geht diese zwar mit einem unleugbaren gestalterischen Unvermögen einher, weshalb es die Idee dieser Kunstform »nicht schafft, sich genügend zu bestimmen, um sich geeignet in eine sinnliche Materialität zu übersetzen.«5 Doch ihr Versuch, »Einzelerscheinungen in eine allgemeine Vorstellung zu bringen, um diese dann ins Bild zu fassen«6, kann bereits als typisch gelten für eine Kunstform der Referenz. Referenz bedeutet, dass es nicht nur um das tatsächlich Dargestellte geht, sondern dass es der Darstellung gelingen muss, einerseits die Wirklichkeit nachzuahmen, andererseits aber darauf hinzuweisen, dass ihr eigentlicher Inhalt »ein im Nachgeahmten nur angedeutetes und von ihm wesenhaft Verschiedenes 4 | Jean-François Lyotard. Anima minima (1993). In: Ders. Postmoderne Moralitäten. Wien 1998. S.201-213. Hier: S.210. 5 | Jacques Rancière. Das Unbehagen in der Ästhetik. Wien 2007. S.107. 6 | Uta Kösser. Ästhetik und Moderne. Erlangen 2006. S.168.
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ist. So erklärt sich der ausgeprägte Hang mittelalterlicher Kunst zu Formen uneigentlicher Darstellung, namentlich zum Symbol und zur Allegorie.«7 Das »Uneigentliche« in der Bezeichnung dieser Darstellungsform verweist bereits auf ihren vom Eigentlichen verschiedenen Charakter: sie will mehr sein als nur Abbild des Selben. Cassirer geht noch einen Schritt weiter: in seiner Lesart ist Kunst allgemein die »Deutung von Wirklichkeit – aber nicht durch Begriffe, sondern durch Anschauungen; nicht im Medium des Gedankens, sondern in dem der sinnlichen Formen.«8 Er verweist darauf, »dass Kunst heute nicht nur technae, nicht nur einfaches Hervorbringen ist, sondern ein Hervorbringen, das Bedeutungen sinnlich machen will. Und insofern ist [...] klassische und moderne Kunst nicht so sehr unterschieden, obwohl ihre Begriffe dies nahe zu legen scheinen: Sie sind alle eine symbolische Form menschlicher Aneignung von Welt.«9 Bereits in der Antike erkennen wir die Differenzierung zwischen der streng mimetischen Abbildung und der Unterscheidung einer Darstellung in ›Aktualität‹ und ›Potenzialität‹, die sich in der Identität des Selben noch auf die dingliche Distinktion von Form und Stoff bezieht. Betrifft nun diese vorgenommene Unterscheidung auch das Bildliche in einem Werk, so erhält das Verhältnis des Menschen zum Werk eine neue Richtung. Die Varianz des Bildlichen als einem Bedeutungsträger birgt für den Künstler die Möglichkeit, das Werk auf ein Ziel hin zu öffnen: in unserem Falle der künstlerischen Gestaltfindung für ein Artefakt heißt dieser Ziel Ausdruck. War also das Werk in der Antike geprägt vom Status seiner in sich stehenden Geschlossenheit, so wird an der Schwelle von Antike zu Mittelalter die Wirkung des Schönen durch Augustinus (354-430) erstmals inhaltlich thematisiert. Darin finden wir die für unseren Diskurs wesentliche Differenzierung zwischen Darstellung und Ausdruck. Ähnlich wie die Aristotelische Distinktion des Dinglichen in Form und Materie können wir auch für den Umgang mit dem Bildlichen im Werk eine eigene Unterscheidung vornehmen. Augustinus »unterschied also einen sinnlichen und einen geistigen Faktor im Erleben des Schönen. [...] Diese Entdeckung der zwei Faktoren im ästhetischen Erlebnis, des unmittelbaren und sinnlichen einerseits und des mittelbaren und geistigen andererseits, ist die erste These des 7 | Michael Hauskeller. Was ist Kunst? München 1999. S.24. 8 | Ernst Cassirer. Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur (1944). Hamburg 1996. S.226. Hervorhebung im Original. 9 | Kösser. Ästhetik und Moderne (wie Anm. 6). S.453.
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Augustinus auf dem Gebiet der Psychologie des Schönen.«10 Ähnlichkeit ist sowohl das Kriterium zur Gestaltung der äußeren Erscheinung wie auch des inneren Empfindens: nichts, was nicht von seinem Bilde her ähnlich ist mit etwas anderem, kann mich berühren; wenn mich etwas ästhetisch berühren soll, so ist – nach Augustinus – der Weg über die Korrespondenz von bildlichem Äußerem und innerem Seelischen der einzige denkbare, denn dieser vereint das Schöne mit dem Geistigen, das Objektive des Dinges mit dem Erleben der Seele, zwischen denen notwendig eine Verwandtschaft bestehen muss. Augustinus ist derjenige, welcher die antike Identität des Selben inhaltlich öffnet. Was dieser zunächst auf Dichtung und Musik bezieht, wird später in der Malerei oder der Architektur Eingang finden. Ausschlaggebend für diesen Wandel ist die Psychologie der Intention: die bestehende Geschlossenheit in der Gestaltung wird aufgebrochen, um eine besondere Intention zu verfolgen – gerade dies vermag der neue Modus des Repräsentierens durch Verweisen. Das dargestellte Ding, als mein Gegenüber ein Mittel der Erkenntnis des Höheren und damit der Erkenntnis meiner selbst, wird unter dem Gesetz der Ähnlichkeit zu einem Stellvertreter von etwas bereits Vertrautem – es ist nicht mehr allein Repräsentant seiner übergeordneten idea, es verfolgt eine eigene Bedeutung. In der antiken Gestaltauffassung der Identität des Selben ist die Form eines Dinges eins mit der Bedeutung des Objektes. Mit dem Humanismus und seiner konkreten künstlerischen Verkörperung, der Renaissance, können wir den Wandel vom Selbst des Werkes hin zur Referenz als Ausdruck im Werk verfolgen. Formal an der Antike orientiert, vertritt die Renaissance jedoch eine andere Beziehung zwischen dem Ding und seinem Inhalt – es entsteht eine neue Form der Identität des Werkes. Die Renaissance dabei ›nur‹ wörtlich als die ›Wiedergeburt der Antike‹ zu beschreiben, unterschlägt die neue Ausrichtung dieser Epoche in ihrem Denken dem Werk gegenüber: es ist die formale Aufnahme der aus der Antike vertrauten Formen, gepaart mit einer neuen inhaltlichen Intention. Daraus entsteht eine neue Verhältnismäßigkeit zwischen Objekt und Rezipient. Das Werk richtet sich anders auf den Betrachter aus, der sich nun zu diesem ›verhalten‹ soll. Stand es bislang für sich selbst, war es so sehr Typus und so wenig in seinem Typus hinterfragt, dass man noch gar nicht vom Typus sprechen musste, so gewinnt es nun eine Repräsentationsfunktion, 10 | Wladyslav Tatarkiewicz. Geschichte der Ästhetik. Band 2. Basel, Stuttgart 1980. S.64.
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die andere Bezüge mit einbringt als nur das Selbst des Werkes hier und jetzt und immerdar. In seinem Inhalt wird das Werk »transparent«.11 Es verweist nun nicht mehr allein auf sich selbst, sondern repräsentiert durch das Vorstellen von etwas Ähnlichem eine Referenz, einen vom Objekt selbst getrennten Inhalt, ein Programm, eine Botschaft.
D AS S ELBE UND DAS Ä HNLICHE Zunächst ist hier eine Einschränkung zu machen: wir dürfen nicht annehmen, die architektonische Gestaltung habe sich mit einem Schlag von der Identität des Selben zur Identität des Ähnlichen gewandelt. Was wir aber feststellen können, ist das schrittweise Befragen der selbstbezogenen Geschlossenheit von Darstellungen, wie sie die Antike ursprünglich verkörpert, hin zu einer Öffnung im Sinne des Ausdrucks. Der zitierte Augustinus mag dabei an der Schwelle von Antike zu Mittelalter stehen, worin sich die Problematik der stilistischen Zuweisung im Sinne einzelner, aufeinander folgender Epochen andeutet. Denn spätestens mit der Auflösung Griechenlands im Römischen Reich und der Übernahme der griechischantiken Formensprache durch die Römer können wir nicht mehr von einem »Insichstehen« der Werke sprechen. Bereits hier will auch gleichermaßen deren Ausdruck adaptiert werden; das Werk steht nun nicht mehr für sich selbst, sondern für etwas anderes – es wird zu einer Referenz. Was bedeutet nun der Referenzbezug über den Modus des Ähnlichen in der Architektur? In der römisch-antiken Architektur erkennen wir die formale Bezugnahme auf die griechischen Vorbilder, auch wenn sich die Inhalte der Gebäude gewandelt haben – was Auswirkung hat auf die Identität der Bauten als Werke. Der Bedeutungsschub, der mit dem Mittel der Referenz in der Architektur Einzug hält, macht sich uns erst richtig deutlich, wenn wir die parallelen Modi von Darstellung und Lesart betrachten, die zunächst noch stark von der Identität des Selben geprägt sind. So existieren mit der Ausbreitung des Christentums in sämtlichen christlichen Ländern Repliken von Gebäuden aus dem ›heiligen Land‹. Auch hier ist noch die besondere Intention hinter der Gestaltung des Bauwerkes zu bedenken, seine Identität des Selben. Die Replik der Grabeskirche Christi ist in ihrem 11 | Pravu Mazumdar. Repräsentation und Aura. In: Peter Gente (Hrsg.). Foucault und die Künste. Frankfurt/Main 2004. S.220-237. Hier: S.222f.
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Erscheinen gleichbedeutend mit der eigentlichen Grabeskirche – sie wird nicht als künstlerische Umformulierung angesehen, welche eine neue, eine andere Relation zu ihrem Vorbild hergestellt hätte. In der einfachen Nachbildung sind in der mittelalterlichen Denkweise Inhalt und Bedeutung von Urbild und Kopie noch identisch; Bild und Begriff werden vom Vorbild, dem ursprünglichen Werk, für das Abbild, die Replik, übernommen. Im vierten Jahrhundert bekräftigt Athanasius (298-373) die Übereinstimmung im Kult von Person und Replik: »Im Bild finden sich nämlich Aussehen und Gestalt des Kaisers [...]. Es besteht im Bild eine so vollkommene Ähnlichkeit, dass, wer das Bild anschaut, den Kaiser sieht und umgekehrt [...]. Da sie sich in nichts Unähnlichem unterscheiden, könnte zu einem, der den Kaiser zu sehen wünscht, nachdem er das Bild geschaut hat, das Bild zu recht sagen: Der Kaiser und ich sind eins; ich bin in ihm und er ist in mir. [...] Wer sich also vor dem Bild niederwirft (proskynein), wirft sich auch vor dem Kaiser in ihm nieder, denn das Bild ist sein Aussehen und seine Gestalt.«12 Das Objekt (als Replik) und sein Inhalt (Kaiser als Person) treten uns in unterschiedlicher Erscheinung entgegen und werden trotz ihrer de facto bestehenden Unterschiedlichkeit als eine Einheit, als ein ununterscheidbares Ganzes (als Institution) angesehen. »Das Bild ist als eine echte Offenbarung Gottes zu verstehen, weil es sich direkt von ihm herleitet. Es ist ein vom Urbild erzeugtes Abbild, [...] so dass ein Teil Gottes in der Ikone ist oder die Ikone ein Teil Gottes.«13 Trotz der objektiven Differenz wird das Bild mit der Person des Kaisers als identisch angesehen. Auch der als »Ikonoklasmus« in die Geschichte eingegangene byzantinische »Bilderstreit« im achten und neunten Jahrhundert n. Chr. kreist um die Frage, ob die Repliken, also die Abbilder Gottes anbetungswürdig seien. Der Konflikt zeugt seinerseits von der Schwierigkeit einer Lösung in dieser Auseinandersetzung. In den Augen der Bildverehrer ist es nach wie vor das Selbst, das in der Replik, dem Bild, durchscheint. Dagegen finden »vor allem in gebildeten Kreisen [...] viele, dass das alttestamentarische Bilderverbot durchaus seine Berechtigung habe«14 , da diesem vor allem 12 | Athanasius. Oratio III contra Arianos. C.5 (PG, Bd 26, Sp.332), zitiert nach: Jean Wirth. Soll man Bilder anbeten? In: Cécile Dupeux, Peter Jezler und Jean Wirth (Hrsg.): Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille? Zürich 2000. S.28–37. Hier: S.28. 13 | Hauskeller. Was ist Kunst? (wie Anm. 7). S.25. 14 | Ebd. – Der Bilderstreit endet mit einer Niederlage der Bilder stürmer, das Bild behält sein Potential, weitet dieses zunehmend aus. »Schon weil die Masse der
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Götzendienst vorgeworfen wird. Auch hier ist noch immer die zitierte Auffassung des Athanasius aktuell, dass im Abbild das Göttliche nicht nur nachgebildet werde, sondern dass es tatsächlich als ein Göttliches im Abbild anwesend sei, dass also das Bild mit dem Göttlichen identisch sei. Das ist es, was den Kern der mittelalterlichen Gestaltidee ausmacht: zwar sichtbar Anderes sein (als Verweis), und dennoch Selbes aussagen. Die Gestaltlehre von der Antike bis zur Gotik ist vom Denken des Selben im Ähnlichen geprägt: so wie der Typus allgegenwärtig ist, ist eine künstlerische Handschrift nicht ablesbar, ja sie ist unter den herrschenden Gestaltbedingungen nicht gefragt. Gestaltung wird als objektiv angesehen, sie gilt quasi als Gesetz, und dieses Gesetz hat für die Gesellschaft vollumfängliche Gültigkeit. Die Baumeister sind in diesem Kontext diejenigen, welche diese Gesetze kennen. Nicht auf Erfindung zielt deren Handeln ab, sondern auf das Kennenlernen und Weiterentwickeln der Konstruktion in seiner immanenten Gesetzmäßigkeit: »die 300jährige Entwicklung der gotischen Kathedrale [zeigt sich] zuallererst [als ein] Durcharbeiten und Verbessern des gleichen Konstruktionstyps«15 . Der Typus wie auch die Gestaltbindung an den Gesetzen gelten als Zeichen der Zusammengehörigkeit in dem sozialen Gefüge ›Stadt‹. In diesem Kontext sei nun ausdrücklich auf die Wesensdifferenz von bildender Kunst und Architektur hingewiesen. Kunst und Architektur sind sich als verschwisterte Disziplinen nicht so nahe, wie man dies in gestalttheoretischer Vereinfachung meinen möchte, sie verfolgen seit ihrem Ursprung getrennte Spuren: »Die artes liberales [die freien Künste, zu denen wir die Malerei rechnen können] werden an den Klosterschulen gelehrt; die artes mechanicae [zu denen auch die Architektur zählt] sind handwerklich organisiert [...]. Ebenso bleibt die antike Auffassung von Kunst als Hervorbringung und dem Wissen davon erhalten: ars est recto ratio factibilitum – die Kunst ist das rechte Wissen von dem, was zu tun ist oder sie ist [...] principium faciendi et cogitandi quae sunt facienda – die Kunst ist die Regel des Tuns und des Denkens über das, was zu tun ist. Auch hier gibt es wieder zwei Grundelemente: ein kognitives – Wissen – und ein proGläubigen von einem bloß gedachten Gott überfordert war, durfte aus Rücksicht auf die Volksfrömmigkeit auf bildliche Darstellungen des Göttlichen nicht völlig verzichtet werden.« Aus: Hauskeller. Was ist Kunst? (wie Anm. 7). S.25. 15 | Ludwig Mies van der Rohe im Interview mit Christian Norberg-Schulz. In: Fritz Neumeyer. Mies van der Rohe – Das kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst. S.405.
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duktives – Machen, Tun.«16 Eingeordnet in das göttliche Weltbild verfolgen die Künste unterschiedliche Wege: die Bildende Kunst soll und will das Höchste zur Darstellung bringen – als Repräsentation, als »Derartiges«17, in welcher sie noch immer das platonische Denkmuster in sich trägt. Doch das Höchste – das Göttliche – ist mit den mimetischen Mitteln der Bildenden Kunst nicht darstellbar. So ist die Kunst – weil sie nur Derartiges ist und kein eigentliches Selbst – auf die Referenz zur Rechtfertigung ihres Stellvertretertums angewiesen. Symbol und Allegorie werden so zu Ausdrucksformen einer »uneigentlichen Darstellung«.18 Die Architektur dagegen ist – in ihrer ursprünglichen Form der Identität des Selben – nicht ein »Derartiges«; sie ist sie selbst, als Verkörperung eines weniger sinnlich-ästhetischen als tektonisch-konstruktiven Urbildes. Als solches verfolgt sie ihre aus der Antike übernommene Rolle der hervorbringenden, technischen ars mechanica weiter auf sich selbst bezogen und wird so gar in der mittelalterlichen Hierarchie der Künste zur obersten Kunstform. »Die Kathedrale steht in der Mitte der Stadt, hat somit eine sozial-integrative Funktion, ist [...] Sinnbild der göttlichen Ordnung, ihre Maße stützen sich auf numerische Zahlenverhältnisse, sie organisiert das Licht als Abbild des göttlichen Lichts.«19 Um den Unterschied zwischen den Disziplinen in einen Satz zu kleiden: Die Kathedrale ist, die Bilder und Skulpturen in der Kathedrale stehen für. Dieses reine Ist von Kathedrale wie auch von Tempel untersteht der Konzeption einer Identität des Selben. Es geht als Aufgabe nicht darum, etwas Besonderes, etwas Originelles zu erstellen – in erster Linie geht es darum, dass es zur Gestalt findet. Wie komplex kann dabei die Konzeption für ein Bauwerk sein, an dem über Generationen gearbeitet wird, für das gar keine Pläne existieren, sondern nur ein »Konstruktionstyp«, an dem stetig weitergearbeitet wird? Sie muss sich notwendig an verfügbaren, architektonisch-identischen Parametern orientieren. Der Typus ist dabei gewissermaßen die »KonstruktionsDNA«20 für eine Kathedrale, welche die Entwicklung des Baus begleitet und bestimmt. Die DNA ist der Leitfaden der Baumeister. Die DNA ist schlicht vorhanden, sie muss nur weiterverfolgt werden. So führt auch 16 | Kösser. Ästhetik und Moderne (wie Anm. 6). S.102. 17 | Gernot Böhme. Theorie des Bildes. München 2004. S.21. 18 | Hauskeller. Was ist Kunst? (wie Anm. 7). S.24. 19 | Kösser. Ästhetik und Moderne (wie Anm. 6). S.103. 20 | Richard Sennett. Handwerk. Berlin 2008. S.99.
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Victor Hugo (1802-1885) aus, in den Kathedralen sei, weil diese Volksbauwerke seien, nicht lediglich der Geist des Christentums Stein geworden, »sondern jeder menschliche Gedanke«.21 Erst sukzessive kommt es innerhalb dieses noch immer im Selben beheimateten Denkens zu einem Wandel in der Intention: diese zielt nun auf den Ausdruck in dem Bauwerk, der die Architektur als Ganzes gleichsam zu einer Leinwand macht, auf der sich eine andere, eine referenzielle Darstellung abspielt. Ihr Inhalt ist nun nicht mehr der von selbiger Architektur oder selbstbezogenem Schmuck (wie man es noch für die griechischen Kapitelle anführen mag) – ihr Inhalt ist die Kombination der architektonischen Funktion des Tragens mit der inhaltlichen Funktion des verweisenden Erzählens. Die Bauformen beginnen nun in der Sprache einer außerhalb ihrer selbst stehenden ›Bedeutung‹ zu wirken – die Architektur scheint nicht mehr allein für sich selbst zu stehen, jeder Stein ist nun auch Geste-für und Ausdruck-von.
D AS Ä HNLICHE ALS D IFFERENZIERUNG DES B ILDLICHEN : Z ITAT An der Schwelle von Mittelalter zu Renaissance steht der Dichter Francesco Petrarca (1304-1374), der die Möglichkeiten und Ausdrucksformen seiner Disziplin in Abhängigkeit von der Charakteristik der Kunst aufzuspüren sucht. Nicht nur auf das mimetische ›Nachbilden‹ ziele demnach die Kunst – es gehe darin auch um Erfindung (was wir bereits von Aristoteles her kennen, nach dessen Auffassung nicht nur, dargestellt werden solle, was passiert sei, sondern auch, was passiert sein könnte). Wenn der Dichter darüber hinaus der »inneren Glut«22 einen Hauptaspekt der Kunst unterstellt, geht es auch um die neue Befragung des Verhältnisses von Objektivität und Subjektivität: »Nach Petrarca verweist ein Urteil darüber, ob etwas schön und anmutig sei, nicht direkt auf den Gegenstand und dessen Eigenschaften; es ist eher ein Ausdruck einer Relation des Betrachters, ein subjektives Urteil«23 , ja in diesem Sinne ein ›ästhetisches Urteil‹, 21 | Hugo. Der Glöckner von Notre Dame (wie Anm. 1). S.198. 22 | Wladyslav Tatarkiewicz. Geschichte der Ästhetik. Band 3. Basel, Stuttgart 1987. S.20. 23 | Ebd. S.23.
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das gleichermaßen vom Subjekt handelt wie auch vom Objekt. Und es geht um allegorischen Gehalt. Dieser rührt aus der Tatsache, dass in der Kunst (hier: der Dichtung) neben dem wörtlichen auch das symbolische Verstehen möglich sei: als »indirekte Darstellung der Dinge vermittels von Bildern«24 . Es ist dies ein Phänomen, das Petrarca als »alieniloquium«, als so genannte »Fremdrede«25 darstellt, und was wir in dem Kontext der Identität des Ähnlichen als ›Zitat‹ bezeichnen wollen. Darin kommt die Varianz zwischen der Präsenz eines Werkes und seiner Repräsentation zum Ausdruck. Der neue Umgang mit dem Bildlichen in der Darstellung nimmt Bezug auf etwas bereits Vertrautes, das als ›Zitat‹ auf das Bekannte anspielt. Ziel der Kunst bleibt die Darstellung der Wahrheit im Werk – nur wird diese nicht mehr durch das Selbst des Dinges oder der Dichtung erreicht, sondern auf Umwegen, durch formale Öffnung und allegorische Verschleierung in verwandten Bildern, in der sich zugleich eine Verfeinerung der Kunst darstellt. In der Architektur ist es insbesondere die Tempelfront – über tausend Jahre ›aus der Mode‹ –, welche von den Architekten der Renaissance zum beliebten Motiv der Fassadengestaltung erklärt wird. Dieses aber nicht allein, um christliche Tempel, also Kirchen, damit zu schmücken, sondern ebenfalls Paläste oder Villen: »die Erscheinungsformen der Renaissancekirchen [sollen] symbolische Bedeutung haben und jedenfalls Träger besonderer Sinngebungen [sein], welche der reinen Form an sich nicht innewohnen.«26 Die architektonische Form in ihrer Selbigkeit oder Ähnlichkeit strebt nicht nach Autonomie, also Selbstständigkeit; sie will ja gerade als eine gelesen werden, die auf Selbes oder Ähnliches verweist. Wenn also in der Antike der Tempel als Wohnung der Götter (Tempel = altgr.: k i_kn o naos] = Wohnung) gleichsam Sitz der göttlichen Macht war, so soll das Bildzeichen des Tempels nun bewusst zur Anwendung im Ähnlichen gebracht werden. Das ursprünglich heidnische Heilige am Bildzeichen eines Tempels ist Anknüpfungspunkt zu seiner Verwendung im christlichen Sakralbau. In dem nun verwendeten Kontext von Kirche soll deren Bedeutung durch die überlagernde Macht des historischen Zitats gesteigert werden. 24 | Tatarkiewicz. Geschichte der Ästhetik. Band 3. (wie Anm. 22). S.21. 25 | Ebd. 26 | Rudolf Wittkower. Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus. München 1969. S.11.
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›S EHEN – ALS ‹ VERSUS ›S EHEN - IN ‹ »Der Mensch kann demnach nicht nur etwas als etwas sehen, sondern er verfügt auch über die einzigartige Fähigkeit, etwas in etwas zu sehen«. L AMBERT WIESING . D AS M ICH DER WAHRNEHMUNG . 27
Die bestimmende Bezugsgröße für die Identität des Ähnlichen ist die Komponente des Bildlichen im Werk. In einem Bild und seiner Zeichenfunktion sehen wir nicht allein das, was konkret vor uns liegt, wir vermögen aus unserer Erfahrung und Erinnerung, aber auch aus einer institutionalisierten gesellschaftlichen Lesart dieses Wahrgenommene mit etwas anderem zu kombinieren. Die Differenz von sichtbarem Seiendem zu seinem Bedeutendem macht dann den Gehalt der aisthetischen Wahrnehmung im Modus der Repräsentation aus. Zu unterscheiden wäre damit zwischen dem konkreten ›Sehen-als‹ und dem verweisenden ›Sehen-in‹. Ersteres lässt Ding und Sprache in seiner Zeichenfunktion übereinkommen: Der Mensch der Antike sieht den Tempel als Tempel, der Mensch des Mittelalters sieht die Kathedrale als Kathedrale, und »wenn wir im wald einen hügel finden, sechs schuh lang und drei schuh breit, mit der schaufel pyramidenförmig aufgerichtet, dann werden wir ernst und es sagt etwas in uns: hier liegt jemand begraben.«28 Dieses Sehen, auf das Eigentliche eines Dinges bezogen, ist die Grundlage unserer Beziehung zur Welt; es ist dies ein Phänomen, das Martin Steinmann (*1942) das »Institutionale« der Architektur nennt: »vor jeder Konventionalisierung [gibt es] eine Beziehung [...] zwischen einer Form und der Bedeutung, die sie vermittelt. Sie liegt in der sinnlichen Wirkung der Form oder genauer in den Empfindungen, welche die Form – als Form – weckt.«29 Mit der geistesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen hält nun eine inhaltliche Differenzierung Einzug im Denken: es ist die Fähigkeit, das architektonische Zeichen nicht nur seiner Form entsprechend zu lesen, sondern mit dem Lesen des Zeichens eine bestimmte Bedeutung gemäß einer gesellschaftlichen Konvention zu ver27 | Lambert Wiesing. Das Mich der Wahrnehmung. Frankfurt/Main 2009. S.213. 28 | Adolf Loos. Architektur (1909). In: Ders. Trotzdem. Wien 1982. S.90-104. Hier: S.103. 29 | Martin Steinmann. Gelebte Räume. Notizen zur Schule im Birch von Peter Märkli. In: werk, bauen + wohnen. #11/2004. Zürich 2004. S.21f.
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binden. Das Herstellen von Dingen wird von einem zusätzlichen Modus begleitet: dem Prinzip des disegno, was wir heute Entwurf nennen. Als methodische Maxime der Renaissance bedingt es einen grundlegenden Wandel in den Künsten. Disegno ist nun nicht mehr ein dem Werk selbst innewohnender Grundgedanke, disegno ist »das aktive Element, das aus dem Geist des Künstlers stammt.«30 Dieses erweitert die Erkenntnis des Sehen-als durch ein Motiv, welches den Bedeutungsgehalt der sinnenbezogenen Erkenntnis bestimmt. Die ehemalige Eindeutigkeit einer Zuweisung zwischen Bildlichem, Begrifflichem und Dinglichem wird auf Seiten des Bildlichen aufgebrochen, das einstige Sehen-als im Sinne des Erkennens seiner Zeichenhaftigkeit wird zu einem Sehen-in im Sinne des Interpretierens der verweisenden Elemente. Dieses zielt auf eine Botschaft, die über das eigentliche Sein des Objektes hinausgeht. Ein Bauwerk ist damit weniger als selbständiges oder selbstgenügsames Kunstwerk zu verstehen, es rückt stattdessen in eine kulturelle Zweckbindung und -orientierung. Wir haben es somit in der Varianz des Bildlichen zwischen ›Darstellung‹ und ›Zitat‹ mit einer »Doppelbedeutung von Gegenstand oder Gegenüber und Ziel oder Zweck [zu tun]. Kern der Analogie für das Sehen-als ist der Begriff ›Ikonizität‹«31 , was man vereinfacht als Relation von Sehen und Erkennen bezeichnen könnte – im Sinne der adaequatio rei et intellectus, der Übereinstimmung von Ding und Verstand, worauf nach Thomas von Aquin Wahrheit an sich basiert. Grundlage »für das Sehen-in [ist] der künstlerische Prozess der ›Schöpfung‹.«32 Dieser muss umgekehrt auch in der Wahrnehmung als Interpretation nachvollzogen werden, will man das Werk verstehen. Denn mit dem reinen Erkennen wird man ein Werk, welches der Identität des Ähnlichen folgt, in seinem Inhalt nicht entschlüsseln können. Das Sehen-in will mehr. Es erfordert nicht nur die Beherrschung der Mittel, es baut auf dem freien Entwurf im disegno auf. So hält der Aspekt der ›Erfindung‹ Einzug in die Künste und bedingt die Abkoppelung vom ureigenen Mimesis-Prinzip. Auch der Architekt Leon Battista Alberti (14041472) »betrachtet die Kunst offenbar weniger als Nachahmung [...], sondern als ein freies Entwerfen. Er stellt unter dem Thema ›disegno‹ das aktive Element, das aus dem Geist des Künstlers stammt, in den Vordergrund.«33 30 | Tatarkiewicz. Geschichte der Ästhetik. Band 3 (wie Anm. 22). S.108. 31 | Richard Wollheim. Objekte der Kunst. Frankfurt/Main 1982. S.2 und S.192f. 32 | Ebd. 33 | Tatarkiewicz. Geschichte der Ästhetik. Band 3 (wie Anm. 22). S.108.
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Dieses freie Entwerfen kann damit scheinbar ›Neues‹ erfinden und hervorbringen. Und doch ist dieses ›Neue‹ nichts, was nicht ausdrücklich auf das Bestehende Bezug nähme. So sagt Alberti: »Von Dingen, die wir nicht sehen, wird wohl keiner behaupten, dass sie auf den Maler irgendwelchen Bezug haben.«34 Was die Renaissance anstrebt, ist das Ähnliche im Neuen oder das Neue im Ähnlichen. Denn – wie Petrarca ausführt – »alles, was man berichtet, zu erfinden, ist albern und zeugt eher von einem Lügner als einem Dichter.«35 Und so nimmt auch Alberti in seinen Entwürfen ausdrücklich Bezug auf die ihm bekannten und von ihm selbst studierten klassisch-antiken Bauten: »Er, der die alte griechische, römische und etruskische Architektur studiert hatte, hoffte noch immer, für seine Theorien über die Vergangenheit neue praktische Verwendung zu finden.«36
D IE I DENTITÄT DES Ä HNLICHEN IM GEBAUTEN W ERK Bauen als Botschaft: Sant’ Andrea »Ich bewunderte Albertis Obstination, in Rimini und Mantua die Formen und Räume Roms zu repetieren, als ob es keine zeitgenössische Geschichte gegeben hätte.« A LDO ROSSI . WISSENSCHAF TLICHE S ELBSTBIOGRAPHIE . 37
Wenden wir uns einem konkreten Beispiel zu: in dem Entwurf für die Hauptfassade der Kirche Sant’ Andrea in Mantua (ab 1472, Abb. 12 und 13) kombiniert Alberti zwei unterschiedliche architektonische Motive miteinander. Nach Rudolf Wittkower (1901-1971) liegt »hinter der Fassade von S. Andrea [...] nicht nur der Gedanke der Tempelfront, sondern auch der des Triumphbogens.«38 Die vorgenommene Kombination zweier Motive verändert die Wahrnehmung der Kirche als Objekt und damit ihre Bedeutung: 34 | Leon Battista Alberti. Della pittura libri tre. Zitiert nach: Tatarkiewicz. Geschichte der Ästhetik. Band 3 (wie Anm. 22). S.118. 35 | Francesco Petrarca. Invectivae contra medicum. I. Zitiert nach: Tatarkiewicz. Geschichte der Ästhetik. Band 3 (wie Anm. 22). S.26. 36 | Anthony Grafton. Leon Battista Alberti. Berlin 2002. S.419. 37 | Aldo Rossi. Wissenschaftliche Selbstbiographie. Bern, Berlin 1988. S.11. 38 | Wittkower. Grundlagen der Architektur im Humanismus (wie Anm. 26). S.48.
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Abb. 12: Entwurfskonzept für die Fassade von Sant’ Andrea in Mantua. Tempelfront und Triumphbogen (hier: der Titusbogen in Rom) bilden in ihrer Überlagerung das Fassadenmotiv der Kirche: die Kombination verschiedener architektonischer Motive dient der Steigerung der Bedeutung von Architektur im Sinne einer ›politischen‹ Botschaft. Der Betrachter sieht zwar die Kirche nach wie vor als Kirche, denn ihr Erscheinungsbild als Ganzes ist ungebrochen das Bild einer Kirche. Doch er sieht in diesem motivischen Verweis auf den Triumphboden die Darstellung von weltlicher Macht, um der Autorität Gottes erneut Gewicht zu verleihen. Lässt sich daran nicht gerade ein Wandel im Machtanspruch der christlichen Kirche herauslesen, quasi eine ›politische‹ Aussage als Machtdarstellung innerhalb der baulichen Gestalt? Nachdem die Autorität Gottes – und damit auch die Autorität der Institution Kirche – mit dem parallel aufkommenden Humanismus Gegenwind bekommen hat und nicht mehr fraglos hingenommen wird, geht es für die Kirche darum, Bedeutungsmuster der Herrschaft zu schaffen, um so (unterschwellig oder offenkundig) den architektonischen Ausdruck mit einer politischen Intention zu verknüpfen: der Versuch einer Darstellung als Simulation von Bedeutung. »Die Botschaft der Vergangenheit wurde zur Beglaubigung der Bedeutung der Gegenwart verwendet«39, wie Peter Eisenman (*1932) ausführt. Es ist dies eine Bedeutung, die dem Original der Antike entliehen ist und die sich aus der Hoffnung auf Übertragung der geschichtlichen Bedeutung in die Gegenwart speist. Was hier zur Anwendung kommt, ist Repräsentation in ihrem doppelten Wortsinn: es ist sowohl die wiederkehrende Präsenz von etwas Bekanntem, als auch Stellvertretertum von etwas an der Stelle von etwas anderem: Tempelfront und Triumphbogen stehen für eine Bedeutung, die über das Eigentliche im Bau, seine Präsenz, hinausgeht. 39 | Peter Eisenman. Das Ende des Klassischen: Das Ende des Anfangs, das Ende des Ziels (1987). In: Ders. Aura und Exzess. Wien 1995. S. 65-87. Hier: S.66.
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Abb. 13: Fassade von Sant’ Andrea in Mantua (ab 1472). Architekt: Leon Battista Alberti. © Paolo Monti, Mailand. Aus: Franco Borsi. Alberti. Das Gesamtwerk (wie Anm. 47). S.241. In diesem Phänomen zeigt sich die einzigartige Fähigkeit der Architektur, sowohl Präsenz zu haben, als auch Repräsentation zu zeigen. Was aber erreicht Alberti über das Aufnehmen vertrauter, repräsentierender Motive für das Gebäude, an dem sie nun erscheinen, wie auch für die Architektur als solche? »Die Leistung, die die Architektur mit dieser Form erbringt, ist die eines Repräsentationsrahmens für ein bestimmtes Schreiten und sich Aufrichten.«40 Das Bauwerk sendet also ein Signal an den Betrachter aus, ein Signal von einer bestimmten und wahrnehmbaren Tonalität, wie man sich hier zu geben habe. »Der Realismus der Renaissance ist auf Wirkung aus, sowohl hinsichtlich eines gesteigerten Ausdrucks der (inneren und äußeren) Wirklichkeit, als auch im Hinblick auf den Eindruck, den das Kunstwerk beim Betrachter hinterlassen soll.«41 In dem Prinzip der Repräsentation ist ein grundlegender und wesenhafter Wandel im Verständnis der ›Identität von Architektur‹ zu beobachten: Es ist nicht mehr nur das 40 | Heiner Mühlmann. Æsthetische Theorie der Renaissance. Leon Battista Alberti. Bochum 2005. S.118f. 41 | Ulrike Bollmann. Wandlungen neuzeitlichen Wissens. Würzburg 2001. S.127.
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Gebäude selbst, das zur Basis der architektonischen Identität wird – die spezifische Identität entsteht vielmehr aus einer bedeutungsvollen Kombination architektonischer Versatzstücke. Das betrifft nicht nur die Beziehung von Motiven, es betrifft auch die Auffassung eines Bauwerkes in seiner Struktur: »Die Form des Gebäudes gehört der ornamentalen Ebene an, die wie eine zweite Haut den technischen Kern überzieht.«42 Die Trennung der Architektur als Ganzheit von Innen und Außen, von tragender Konstruktion und sichtbarer Hülle, ist damit vollzogen. Was wir mit dem genannten Beispiel der Kirche Sant' Andrea als ›Renaissance‹ zu bezeichnen gewohnt sind, bezieht sich auf die formalen Analogien zwischen den Bauten der Antike und den Bauten des Quattrocento, wie Alberti selbst ausführt: »Die Basilika, die ähnlich wie ein Tempel aussieht, wird auch größtenteils sich allen Schmuck aneignen, der dem Tempel zukommt. Dies hat sie sich dennoch so zu eigen gemacht, dass sie erkennen lässt, sie wolle lieber einem Tempel ähneln als ihm gleichen.«43 Und doch müssen wir festhalten: Auch wenn Alberti und andere Baumeister der Renaissance die antiken Gebäude formal nachahmen – was wir als ›Wiedergeburt der Antike‹ bezeichnen, entspricht ausdrücklich nicht der antiken Identität des Selben. Wie Alberti selbst sagt, wollen die Bauten, die die Renaissance hervorbringt, den antiken Vorbildern nicht gleichen, sie wollen nicht Selbes sein, sie wollen vielmehr etwas Bestimmtes ausdrücken. Der intendierte Ausdruck schiebt sich vor das Sein. Indem die Architekten der Hochrenaissance eben nicht weiter in der ihnen vertrauten, selben Art und Weise ihrer Zeit und ihrer Heimat bauen, sondern in der Suche nach formalen Vorbildern die zurückliegenden Jahrhunderte überwinden und zur antiken Basis zurückkehren, lassen sie einen Gestaltwillen erkennen, der mehr ausdrücken will als ein schlichtes Erkennen des Gebauten im Sinne des Sehen-als. Und nachdem wir es hier – in unserer Befragung der Sinnfälligkeit der Stile – nicht mit kleinen Privatbauten zu tun haben, sondern mit öffentlichen Prachtbauten, in denen der Gestaltwillen des Architekten einhergeht mit dem Ausdruckswillen des Bauherrn, müssen wir von mehr ausgehen als von einem losgelösten Gestaltanspruch; mit der Identität des Ähnlichen in seiner gezielten Anverwandlung des Historischen durch das Zitat ist das ursprüngliche Selbe im Werk nicht mehr gegeben. 42 | Mühlmann. Æsthetische Theorie der Renaissance (wie Anm. 40). S.132. 43 | Leon Battista Alberti. Zehn Bücher über die Baukunst. De re aedificatoria. Darmstadt 1975. S.394. Hervorhebung im Text: TS.
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Die architektonische Identität des Ähnlichen behandelt in ihrem Sein weder die Frage nach Wesen und Ursprung, wie sie die Identität des Selben verfolgt, noch die Frage nach dem transzendentalen Erhabenen, wie sie die Identität des Autonomen anstreben wird; in der hier ausgeführten referenziellen Architektur geht es um den ›richtigen‹ und ›angemessenen‹ Ausdruck von Architektur innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung. Das Verstehen dieser architektonischen Identität bedarf denn auch der Bezugnahme auf die geschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergründe. Die hier vorgestellten Konzeptionen der Identität von Architektur zielen nicht darauf ab, Baugeschichte unter einem anderen Label zu betreiben. Sie sollen dazu dienen, Architektur aus ihrer ureigenen Konzeption heraus verstehen zu lernen. So ist die Identität des Ähnlichen nicht als ein Synonym für die Renaissance aufzufassen – wenngleich sich in dieser Epoche etliche Bauten dieser Konzeption unterwerfen. Blicken wir weiter entlang des Pfades der Architekturgeschichte und befragen die Bauten ihrer Zeiten auf ihre Zeichen- und Zitatfunktion, so fallen wohl bis heute in Summe die meisten Bauten in diese Kategorie. Das neunzehnte Jahrhundert in seinem Geschichtsbewusstsein ist ein Kompendium an ›sprechender‹ Architektur, wie die zeitgleich entstandenen, aber unterschiedlichen Neo-Stilen zugeordneten Bauten der Wiener Ringstraße beispielhaft vorführen.
A RCHITEK TONISCHE R EPR ÄSENTATION ALS V ERKÖRPERUNG EINER N ORM ? »Michelangelo [...] hatte eine letzte, eine verzweifelte Idee. Dieser Riese der Kunst setzte das Pantheon auf den Parthenon und schuf Sankt Peter zu Rom [...].« VICTOR H UGO. D ER G LÖCKNER VON N OTRE DAME . 44
Die architektonische Identität des Ähnlichen ist eine Fiktion im Medium der Repräsentation – sie nähert sich dem an, worin die bildende Kunst schon seit jeher beheimatet ist: Das eine sein, auf etwas anderes verweisen, und dabei das Verweisende bedeuten, nicht das Seiende. Das in der Repräsentation beheimatete Sowohl-als-auch (das Sein des konkreten Objektes und sein gleichzeitiges Verweisen auf ein Abwesendes) wird zum Wesens44 | Hugo. Der Glöckner von Notre Dame (wie Anm. 1). S.203.
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merkmal der Identität des Ähnlichen: es kommt zur Einführung einer architektonischen Ikonographie, und damit zu einer Lehre des Stellvertretertums zwischen Gezeigtem und Gemeintem. Die nun geläufige Verwendung des Zeichens als Transfer von Bedeutung deutet auf den Wandel in der architektonischen Identität. Vormals war das Bezugssystem für die Bedeutung eines Dinges in seiner eindeutigen Zuordnung zwischen Sprache und Darstellung geregelt. In der hier eingeführten Terminologie können wir formulieren: einst war die Beziehung zwischen Begrifflichem und Bildlichem am Dinglichen gesellschaftlich festgelegt, und damit war seine Bedeutung definiert. »Die Dinge waren, Wahrheit und Bedeutung waren selbstverständlich. Die Bedeutung einer romanischen oder gotischen Kathedrale lag in ihr selbst; sie war de facto gegeben. Im Gegensatz dazu gewannen die Gebäude der Renaissance – und alle nachfolgenden Gebäude, die vorgaben, Architektur zu sein – ihren Wert durch die Verkörperung einer als Norm geltenden Architektur, indem sie [...] zur Repräsentation von Repräsentation von antiken Gebäuden wurden. Ihre Bedeutung war de jure gegeben.«45 Mit der Renaissance wird das repräsentierende Verweisen zu einem Spiel von baulichen Versatzstücken und institutionalisierten Bedeutungen in der Architektur, zu einer Herausforderung ihrer unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeit am noch so kleinen Schaustück. Albertis Entwurf der Cappella Rucellai (1460, Abb. 14), eine Kopie oder besser: eine Nachempfindung des Heiligen Grabes in einem Seitenflügel der Kirche San Pancrazio von Florenz, zeigt ebenfalls dieses Phänomen: 45 | Eisenman. Das Ende des Klassischen (wie Anm. 39). S.66. – In einer Fußnote befindet Eisenman die Verwendung der Tempelfront in Sant’ Andrea als »angemessen, da der antike Tempel eine ähnliche Funktion wie die Kirche des 15. Jahrhunderts besitzt. Eine ganz andere Sache ist es jedoch, diese Tempelfront nun mit dem Motiv eines Triumphbogens zu überlagern. [...] Es scheint, als würde Alberti sagen, dass der Mensch angesichts der Infragestellung der Autorität Gottes auf jene Symbole zurückgreift, die seine eigene Macht darstellen, um der Kirche Wahrheit zu verleihen. Somit wird der Triumphbogen an der Fassade von San Andrea eher zu einer Nachricht denn zu einer Verkörperung seiner inhärenten Bedeutung.« A.a.O. S.334f. Rudolf Wittkower vermerkt dazu: »Bei S. Andrea wird die puristische Auffassung klassischer Architektur überwunden zugunsten einer frei auswählenden Kombination ihrer Elemente.« In: Wittkower. Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus (wie Anm. 26). S.49f.
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Abb. 14: Cappella Rucellai in San Pancrazio, Florenz, 1460. Architekt: Leon Battista Alberti. © Bazzecchi, Florenz. Aus: Franco Borsi. Alberti. Das Gesamtwerk (wie Anm. 47). S. 113. »Der kleine Bau ist eine beispielhafte Formulierung der Suggestionskraft, die Architektur entfalten kann [...]. Die fensterlosen Wände [...] inszenieren die überraschende Erscheinung des Baus im Bau, des Aussen im Innen. Albertis Miniaturbau wird zum Lehrstück dafür, wie sehr Fassaden nicht nur Nähe und Zugänglichkeit ausstrahlen, sondern auch Distanz signalisieren können.«46 Der Tempietto zeigt, wie stark ein Bauwerk nicht nur sein Selbst darzustellen, sondern zusätzliche Zeichen und Inhalte und damit Raum für Interpretationen zu transportieren vermag. Natürlich ist die Cappella Rucellai keine ›echte‹ Kopie – zumal Alberti nie in Jerusalem gewesen ist –, der Entwurf ist vielmehr eine ›Übersetzung‹ im Sinne der Ähnlichkeit. Der Stil der Originalkapelle, der zu jener Zeit mittelalterlichbyzantinisch gewesen sein mag (schließlich hatte die Grabeskirche etliche Umbauten erfahren), wird von Alberti in die ihm und seinem gesell-
46 | Andreas Tönnesmann. Von der Kunst des feinen Unterschieds. Über die Gestaltung der Fassaden in Pienza. In: werk, bauen + wohnen. #12,2005. S.6.
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schaftlichen Umfeld »wesensgleiche Sprache der Klassik«47 übertragen. Das Wesen der Ähnlichkeit ist aber auch hier vorherrschend: denn Alberti arbeitet für ›seine‹ Jerusalemer Grabkapelle mit dem Mittel der Überlagerung vertrauter und fremder Elemente, und schafft es so, die von Petrarca für die Dichtung eingeforderte »alieniloquium«, die »Fremdrede«48, in die Architektur zu übertragen, die den Betrachter zu einem Dialog mit dem Werk, einer Frage nach dem ›Sehen-in‹, herausfordert. So überrascht bei dem Tempietto insbesondere die »starke auf den Betrachter zukommende Kommunikation, [...] hervorgerufen durch die bewusst strenge Geometrie der äußeren Hülle [...] im Kontrast zu der freien Komposition des Dekors voller zweifarbiger Rundmedaillons, jedes anders gemustert, jedes inmitten einer weißen, quadratischen Marmorfläche. Hier komme [...] auf einzigartige Weise die Symbiose mit den Wurzeln der romanisch-toskanischen Tradition zum tragen.«49 Was die vorgestellten Entwürfe von Kapelle und Kirche in ihrer Konzeption miteinander vereint, ist ihr Motiv der Konstruktion von Geschichte. Denn sowohl im Entwurf wie auch in der Betrachtung sind die Werke aus der bis dahin geschlossenen Geschichtlichkeit einer schlüssigen Aufeinanderfolge herausgenommen: Alberti vollzieht mit dem Entwurf für Sant' Andrea motivisch einen vermeintlichen ›Rückschritt‹ über eintausend Jahre, um seine Intention zu verfolgen, und fügt dieses Motiv in die bestehende Ganzheit der Stadt ein; und in der Betrachtung der Kirche vor Ort sieht man sich (neben der Lesart der Kirche als Demonstration von Macht) einer collageartigen Überlagerung der Zeitebenen ausgesetzt, die nicht mehr ›gewachsene‹ Ganzheit und Geschlossenheit suggeriert, sondern die Geschichtlichkeit als Überlagerung und als Konstrukt des Menschen in seiner städtischen Kultur vorstellt: die geschlossene Zeitfolge von Geschichte ist aufgebrochen. Ihr entgegengestellt wird ein Motiv des Spiels mit stilistischen Versatzstücken als Ausdruck ihrer Zeit, was gleichermaßen die Aufhebung der Selbstverständlichkeit der geschichtlichen Wahrnehmung bedeutet: das scheinbare Alte ist nicht unbedingt das tatsächliche Alte; das Objekt in seinem Sein ist nicht mehr deckungsgleich mit dem, was es vorgibt zu sein, auch wenn es sich uns im Deckmantel des Ähnlichen 47 | Franco Borsi. Leon Battista Alberti. Das Gesamtwerk. Stuttgart, Zürich 1982. S.109. 48 | Tatarkiewicz. Geschichte der Ästhetik. Band 3 (wie Anm. 22). S.21. 49 | Borsi. Leon Battista Alberti (wie Anm. 47). S.109.
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vorstellt. Der platonisch selbstbezogene Werkgedanke, den Hegel als klassische Kunstform beschrieben hat in ihrem Ziel, »eine allgemeine Idee – die Totalität des Menschen – als menschliche Gestalt zu fassen«50, wird in der Identität des Ähnlichen umformuliert zu der Verbildlichung einer besonderen Idee. Das referenz-bezogene Denken in der Gestaltung stellt nicht nur geschichtlich sondern auch inhaltlich die Brücke dar in der Entwicklung von der selbstbezogenen zur subjektbezogenen Identität von Architektur. Zwei Entwicklungsstränge lassen sich aus dem Denken im Modus der Identität des Ähnlichen verfolgen: zum einen die Fortführung einer bekannten Formenwelt, die unabhängig vom ursprünglichen Bedeutungsgehalt der Form sich diese handhabbar macht, wenn neue Bautypen einer solchen Anwendung bedürfen. Im weiteren Verlauf der Architekturgeschichte werden so die Bildzeichen der antiken Ur-Häuser (Tempel, Propyläen, Stoa) immer wieder beansprucht und herangezogen, sobald es neue Nutzungen gibt, die noch keine eigene Bauform haben, die aber mit einem bestimmten Bedeutungsgehalt versehen werden sollen: so finden wir insbesondere in der Architektur des neunzehnten Jahrhunderts die Tempel vornehmlich an sakralen Bauten oder herausgehobenen Institutionen wie Kirchen, Museen, Bibliotheken, Parlamentsbauten; die Propyläen als ›Torhäuser‹ verkörpern dagegen in ihrer ›Neuauflage‹ Bahnhöfe, die antike Stoa findet sich wieder als Markthalle.51 Freilich betrifft dies dann nicht mehr die Sicht auf ein antikes Bauwerk als ursprünglich Selbes; als Typus hat es sich in der Ideen- und Gestaltungsgeschichte gewandelt hin zum Ähnlichen. Als ›Dinge‹ sind die Gebäude nun Andere, als ›Bild‹ aber haben sie vermocht, in ähnlicher Gestalt wieder zu erscheinen. Ein zweiter Entwicklungsstrang der Identität des Ähnlichen verfolgt die verstärkte Hinwendung auf das Subjekt der Betrachtung, um diesem ein besonderes Erlebnis in der Betrachtung zu eröffnen. Die Idee des Ähnlichen neigt durch ihre Öffnung zur Interpretation dazu, durch die Art unserer Betrachtung auch unser Verhalten im Raum, ja unsere Denkweise bestimmen zu wollen, was sich insbesondere in der Vorwegnahme einer spezifischen Perspektivwirkung zeigt. Insbesondere in den Werken des Barock erreicht die Identität des Ähnlichen damit eine Extremform in Ausdrucks- und Formwillen. Dem Betrachter wird sein Standpunkt im Raum und damit auch seine gesellschaftliche Rolle quasi vorbestimmt: die ›rich50 | Kösser. Ästhetik und Moderne (wie Anm. 6). S.169. 51 | Vgl. hierzu: Nikolaus Pevsner: A History of Building Types. London 1984.
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tige‹ Wirkung des barocken Werkes hängt zumeist von einem definierten Betrachterstandpunkt ab – auch wenn das Werk selbst dabei einer Formwandlung unterzogen wird, die Verzerrungen in den Formen bewusst in Kauf nimmt.52 Für den subjektiven Blick mag daraus vom entsprechenden Standpunkt aus ein scheinbar ›richtiger‹ Eindruck entstehen; dieser kann aber nur entstehen durch die Zerstörung, die Anamorphosis des zugrundeliegenden Ebenbildes. Jenseits des bevorzugten Standpunktes ist der Betrachter nicht Teil der Inszenierung, und damit auch nicht Teil der Gemeinschaft; er befindet sich dann eher in einer verzerrten Welt des Trugbildes. Als Verzerrung ist diese Art der Darstellung nicht am ideellen Selbst des Werkes interessiert, sondern an der auf den Moment bezogenen ›richtigen‹ Wahrnehmung. Nicht mehr das allgemeingültige Sein ist es, das den Wert dieser anekdotischen Architektur ausmacht – es ist seine fallbezogene Wirkung.
52 | Als Beispiele sind hier zu nennen: von Gian Lorenzo Bernini (1598-1680) die Cornaro-Kapelle (1646–1652) in der Kirche Sta. Maria della Vittoria in Rom sowie die Scala Regia (1663-1666) im Vatikan; von Francesco Borromini (1599-1667) die Kollonadengalerie (1635) im Palazzo Spada in Rom; von Andrea Pozzo (16421709) die Scheinkuppeln in Sant' Ignazio in Rom (1685) und in der Jesuitenkirche in Wien (1703).
Die Identität des Autonomen
»Es gibt zwei Gottheiten: die Welt und mein unabhängiges Ich.« L UDWIG WIT TGENSTEIN . TAGEBÜCHER .1
Mit der Betrachtung der Identität des Autonomen stehen wir vor einer wesentlichen Differenz gegenüber dem bislang besprochenen Gestalten im Modus des Selben und des Ähnlichen. Sowohl das Selbe wie auch das Ähnliche handeln trotz ihrer inhaltlichen Unterschiede von einer bestimmbaren Beziehung zum Objekt – es ging um das Selbe oder das Ähnliche in Bezug auf etwas Bestehendes. Worin besteht demgegenüber die Identität des Autonomen? Ist etwas autonom, so grenzt es sich bewusst ab. Nicht Bezugnahme-auf ist ihr Thema, sondern Verschiedenheit-von, nicht Verwandtschaft, sondern Freiheit, nicht Analogie, sondern Metapher. Wohin aber führt unter diesen Prämissen die Gestaltung in der Konzeption des Autonomen in der Architektur? Sie führt zur vordringlichen Bezugnahme des Werkes auf das subjektive Empfinden des Betrachters. Umgekehrt führt die Bezugnahme des Subjektes auf das Werk dazu, dass nun ein Parameter das Hauptgewicht in der Auseinandersetzung mit dem Werk bekommt: es ist dies der Begriff, den sich das Subjekt vom Artefakt macht. Beginnen wir am Wort ›autonom‹: Was heißt eigentlich Autonomie? Die wörtliche Übersetzung von Autonomie lautet ›Eigenständigkeit‹ oder ›Eigengesetzlichkeit‹ (aus dem Griechischen von autos = selbst und nomos = Gesetz).2 Wer ist autonom? Das Werk oder der Betrachter? Geht es um die Freiheit des Künstlers in seinem Schaffensprozess oder geht es um 1 | Ludwig Wittgenstein. Tagebücher 1914-1916. In: Ders. Werkausgabe Band 1. Frankfurt/Main 1984. S.87-223. Hier: 8.7.16. S.169. 2 | Nach: Uta Kösser. Ästhetik und Moderne. Erlangen 2006. S.109.
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die Freiheit der Betrachtungsweise des Einzelnen? Unter dem Begriff der Autonomie können wir beides verstehen. Indem sich das Objekt ganz auf sich selbst bezieht, ist es von seinem gesellschaftlichen Bedeutungsgehalt befreit. Umgekehrt gilt: indem sich das Werk autonom darstellt, es frei ist von seinen institutionalisierten Lesarten, ist der Betrachter aufgefordert, das Werk entsprechend seiner eigenen Denkweise zu beurteilen; die Autonomie des Werkes gebiert die Autonomie der Betrachtung. Wir wollen dieser Dialektik, die bestimmend für die Moderne ist und die den Künstler in einem neuen Schöpferdasein ausweist, in ihren Grundzügen nachgehen. Die Fähigkeit, das Werk als eigenständig zu denken, ist Ergebnis eines über viele Jahrhunderte anhaltenden geistesgeschichtlichen Wandels. Dieser erfährt im achtzehnten Jahrhundert eine rasante Beschleunigung durch die nun in neuem Ausmaß zur Verfügung stehende Technik, zu der sich der Mensch auch in seinem philosophischen Denken positionieren muss. Dies äußert sich in einem neuen Bewusstsein sich selbst gegenüber: die neue Zeit steht unter dem Leitwort der Aufklärung, englisch enlightenment, französisch éclaircissement; ein bereits damals für die eigene Zeit gebräuchlicher Begriff, der in jeder sprachlichen Variante auf die Metaphorik von ›Licht‹ und ›Klarheit‹ abhebt. ›Aufklärung‹ begleitet das gesamte achtzehnte Jahrhundert, insbesondere in der Frage nach Fortschritt und Verbesserung der Lebensbedingungen auf der Basis der materiellen Kultur, und leitet daraus im philosophischen Kern »die Fähigkeit des erwachsenen Menschen [ab], ohne Dogmen zu leben.«3 Kant fasst Inhalt und Ziel der Aufklärung in seiner Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung (1784) in den bekannten Zeilen wie folgt zusammen: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«4 Kant fordert vom aufgeklärten Menschen den Gebrauch der Vernunft mit Hilfe des Verstandes und den 3 | Richard Sennett. Handwerk. Berlin 2008. S.123. 4 | Immanuel Kant. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784). In: Ders. Werkausgabe in 12 Bänden. Band XI. Wiesbaden 1957. S.51-61. Hier: S.53. Hervorhebung im Original.
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Gebrauch des Verstandes mit Hilfe der Vernunft. »Kant legt den Schwerpunkt auf Urteilskraft und Reflexion statt auf Planung einer Ordnung«5 . Vor diesem Hintergrund behandelt Kant die Frage nach der inneren Schlüssigkeit der menschlichen Wahrnehmung. Er sucht die im Verstand vorgängigen Wechselwirkungen zwischen der Auffassung von äußeren Erscheinungen und der eigenen Vorstellung begreifbar zu machen, wie wir es aus der Kritik der reinen Vernunft (1781) im Sinne einer Erkenntnislehre herauslesen können. Kants Zielsetzung ist die Selbstbestimmung des Menschen: Sapere aude! Sich seines Verstandes zu bedienen bedeutet, den Zusammenhang herstellen zu können zwischen der (passiven) Wahrnehmung und der (aktiven) Vorstellungskraft, zwischen Verstand und Vernunft, zwischen der Betrachtung eines Werkes und seiner Beurteilung. Darauf aufbauend legt er in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) die Denkweise einer Autonomie der Kunst dar, die er mit der Ästhetik des Erhabenen paart.
D AS S CHÖNE UND DAS E RHABENE Stellen wir damit die Frage nach der Wirkung aus den Erkenntnissen und Forderungen Kants, die wir in dem neuen Umgang mit den Parametern des ›Identischen‹ von Bildlichem, Begrifflichem und Dinglichem herauslesen können. Die Identität des Autonomen handelt mit Kant von dem »freie[n] Spiel der Vorstellungskräfte«6, und dieses ist geknüpft an die letzte noch offenen Variable des ›Identischen‹: an den Begriff in seinem Übergang zur Metapher. Hängt aber Autonomie in der Gestaltung vom Begriff ab? Der Begriff ist dasjenige Element, welches unter den vorgestellten Parametern des ›Identischen‹ den ausdrücklichsten Subjektbezug aufweist. Im Begriff findet sich die Haltung des Menschen zu seiner Welt. Im Begriff offenbart sich die Erkenntnis von Welt, aber auch gerade die Freiheit gegenüber der Welt, indem ich mich nämlich bewusst anders zur Welt ausdrücken kann. Kant sieht in der Urteilskraft des Menschen »nicht bloß ein Vermögen, das Besondere unter dem Allgemeinen (dessen Begriff gegeben ist) zu sub5 | Sennett. Handwerk (wie Anm. 3). S.124. 6 | Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft (1790). Werkausgabe in 12 Bänden. Band X. Wiesbaden 1957. § 22. S.162.
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sumieren, sondern auch umgekehrt, zu dem Besonderen das Allgemeine zu finden.«7 Die Urteilskraft bezeichnet die Gewohnheit des Menschen, hinter konkreten Erscheinungen Prinzipien und Begriffe zu vermuten, die von den Erkenntnisvermögen des Menschen, von Verstand und Vernunft, erfasst werden können. Kant gliedert seine Kritik der Urteilskraft in zwei große Kapitel. In der Kritik der ästhetischen Urteilskraft analysiert er das ›Schöne‹, über das ein Urteil nur subjektiv durch das Gefühl zustande kommen kann. Das ästhetische Urteil bezeichnet er daher auch als ein reines Geschmacksurteil. In der Kritik der teleologischen Urteilskraft wendet er sich dann den Gegenständen zu, deren Zweck bereits in ihrer Materialität begründet ist (ihrem »Naturzweck« entsprechend). Dort ergebe sich das Urteil also unmittelbar aus der Zweckmäßigkeit des Objektes selbst. Neben der traditionellen Frage nach dem Schönen steht im Mittelpunkt von Kants Kritik der Urteilskraft die Kategorie des Erhabenen, dessen Thematisierung Edmund Burke (1729-1797) in die ästhetische Philosophie der Aufklärung eingebracht hat. Burke ist der Auffassung, dass die Parameter der Beschreibung unseres Urteils über die Welt und ihre Werke in den Kategorien von ›Schönheit‹ und ›Größe‹ nicht ausreichen – es gilt für ihn, die Form ästhetischer Erfahrung im Gefühl auch philosophisch zu fassen. Burke umschreibt das »Erhabene« als das Paradox des angenehmen Erlebens einer »Form von Schrecken oder Schmerz«. Damit fußt es auf dem »egoistischen Trieb der Selbsterhaltung [...]. Diejenigen sinnlichen Vorstellungen, die nach Burke diesen Grundtrieb am stärksten ansprechen, sind solche, die Schrecken oder Furcht hervorrufen. Sie werden damit zur primären Quelle des Erhabenen.«8 Nach Burke ist damit »alles, was auf irgendeine Weise geeignet ist, die Ideen von Schmerz oder Gefahr zu erregen, [...] eine Quelle des Erhabenen«.9 Er nennt dieses Paradox, welches nicht Schönheit zum Gegenstand hat, sondern ein ästhetisches Empfinden, den delightful horror, das »Furchtbar-Erhabene«10: ein lustvolles Erschrecken – ein Kribbeln im Erleben des Betrachters. Auch Kant behandelt die Begriffe von ›schön‹ und ›erhaben‹ in der Anschauung des Subjektes, als deren erste Bezugsgröße er den subjek7 | Kant. Kritik der Urteilskraft (wie Anm. 6). Einleitung. Erste Fassung. S.22. 8 | Robert Zimmer. Edmund Burke zur Einführung. Hamburg 1995. S.47. 9 | Edmund Burke. Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen (1757). Hamburg 1980. S.72. Hervorhebung im Original. 10 | Werner Strube. Einleitung zu: Edmund Burke (wie Anm. 9). S.19.
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tiven Geschmack benennt: »Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder Missfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.«11 Schön ist, »was ohne Begriff als Gegenstand eines allgemeinen Wohlgefallens erkannt wird.«12 Ohne Begriff ist dabei nicht der Gegenstand, sondern das ›Schöne‹ im Gegenstand, dessen ›Unbegrifflichkeit‹ (oder wörtlicher: Unbegreiflichkeit) als ›schön‹ bezeichnet wird. Hierin schlägt abermals das Apriori der Vor-Erfahrung durch: was ich anschaulich, handgreiflich begriffen habe, hat für mich einen Begriff erhalten. Für das subjektiv gegründete Geschmacksurteil muss ich das Ding jedoch nicht begriffen haben. Eben weil es sich nicht um ein Erkenntnisurteil handelt, sondern um ein Geschmacksurteil, erscheinen Begriffe (also das verstandesgemäß Begriffene) hier obsolet. Der Geschmacksbezug bedarf keiner Schematisierung durch Worte. Geschmack an sich ist interesselos – weshalb er sich in einem Kunstwerk ideal auszudrücken vermag. Was beschreibt nun das Gefühl des Erhabenen? Während das Schöne keinen Begriff voraussetzt, entsteht das Gefühl des Erhabenen dadurch, dass sich der Gegenstand der Anschauung dem Begriffe entzieht. Nicht nur, dass ich keinen Begriff für das interesselose Gefallen finde, der Gegenstand selbst lässt sich nicht in einen Begriff fassen, da er das verstandesgemäß Denkbare und damit das daraus zu fassende Urteil übersteigt. Ist das Schöne charakterisiert durch seine »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«13, so ist das Erhabene das Urteil über einen »Gegenstand [...], dessen Vorstellung das Gemüt bestimmt, sich die Unerreichbarkeit der Natur als Darstellung von Ideen zu denken«14 Weil Schönes und Erhabenes keinen tatsächlichen Nutzen jenseits des ästhetischen Gefallens haben sollen, wird das Kunstwerk zum Ort der rein ästhetischen Erfahrung. Die Werke der Kunst markieren nach Kant den ›Raum‹, in dem sich Freiheit als Selbstbezogenheit der Werke auf ihr interesseloses Gefallen verwirklichen kann. Das ist die Grundlegung einer Selbstständigkeit im Werk. Autonomie ist die Weise des interesselosen Handelns im Abhebenden der Ästhetik selbst. Der Zugang auf die hier bestimmende Thematik des Erhabenen erschließt sich uns über die nicht-begriffliche Anschauung. Kant differen11 | Kant. Kritik der Urteilskraft (wie Anm. 6). §5. S.124. 12 | Ebd. §22. S.160. 13 | Ebd. §15. S.143. 14 | Ebd. Allgemeine Anmerkung. S.193.
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ziert das Phänomen der Wahrnehmung zwischen kognitiver und ästhetischer Erkenntnis. Das Miteinander von Verstand und Anschauung, von Ratio und Sinnlichkeit, basiert auf dem Zusammenspiel von Auffassung, Zusammenfassung und Darstellung, die gemeinsam zur synthetischen Urteilskraft finden. Im Übergang von kognitiver zu ästhetischer Erkenntnis sind es aber gleichermaßen deren Grenzen, die den Inhalt dieser Ästhetik als Überwältigung der Sinneswahrnehmung ausmachen: Wo die Einbildungskraft das Objekt der Anschauung nicht zu einem Erkenntnisurteil zu erfassen vermag, weil es a) begrifflich nicht zu fassen ist, b) per se interesselos und c) ohne jeden Zweck vor mir liegt, da sehe ich mich dem so ›Unfassbaren‹ als dem Erhabenen gegenüber. Burke hat daraus wie beschrieben das Phänomen des delightful horror gebildet, Kant wendet diese Form von Wahrnehmung zu einer negativen Ästhetik:15 »Nichts also, was Gegenstand der Sinnen sein kann, ist [...] erhaben zu nennen. [...] Erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweiset, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft.«16 In dieser ästhetisierenden Fassung der Wahrnehmung kommt es nicht mehr auf Erkenntnis als Ergebnis und Ziel an. »Fähig zur erkennenden Bestimmung, suspendiert das Subjekt der ästhetischen Anschauung das erkennende Bestimmen. Es legt den Gegenstand seiner Wahrnehmung nicht auf einzelne seiner Merkmale fest. Statt dessen nimmt es ihn in einer undarstellbaren Fülle seiner Merkmale wahr.«17 Begrifflich ist in dieser Undarstellbarkeit nichts mehr wiederzugeben, in der Beschreibung des Wahrgenommenen ist der gegebene Begriff suspendiert. Um aber dem Werk gegenüber bestehen zu können, bedient sich das betrachtende Subjekt des Hilfmittels der Metapher. Dieses ›Ablösen‹ vom Begriff und sein Ersatz durch die Metapher wandeln die Erkenntnis in einen je subjektiven Gemütszustand als Raum von Möglichkeiten des Erkennens und Handelns. An der Übermacht der ästhetischen Anschauung vom Objekt auf das betrachtende Subjekt scheitert paradoxerweise gerade der ›aufgeklärte‹ Geist, der doch gelernt hat, sich selbst und seine eigene Subjektivität als Zentrum der Erfassung zu positionieren. Nun aber soll dieses ›erkennende Bestimmen‹ suspendiert werden? Es kommt zu einem Widerstreit 15 | Siehe dazu auch: Gernot Böhme. Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht. Frankfurt/Main 1999. S.12ff. 16 | Kant. Kritik der Urteilskraft (wie Anm. 6). §25. S.172. Hervorhebung im Original. 17 | Martin Seel. Ästhetik des Erscheinens (2000). Frankfurt/Main 2003. S.18.
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zwischen dem Objekt der Anschauung und dem Subjekt des Anschauens. Und weil das Subjekt sich der ästhetischen Anschauung, diesem im benennenden Erkennen übersteigernden Anschauen nicht verstandesgemäß hingeben kann, in dem ja immer ein Scheitern zu konstatieren ist, kommt es zu einem Gefühl von Lust und Unlust. Was Burke den ›delightful horror‹ genannt hat, möchte ich bei Kant als ›ästhetische Unbestimmtheit‹ bezeichnen, die das Subjekt nun verstärkt herausfordert. Zur Verdeutlichung für das Scheitern der Wahrnehmung in ihrer Umformulierung in ein begriffliches Erkenntnisurteil hat Kant die bekannten Beispiele benannt: auf der einen Seite das Mathematisch-Erhabene, welches auf die Unfähigkeit des menschlichen Verstandes hinweist, sich das Unendliche vorzustellen; auf der anderen Seite das Dynamisch-Erhabene, welches das Naturschöne betrifft in seiner Unfassbarkeit von Masse und Macht des Bergmassivs, des aufgetürmten Ozeans, der Unendlichkeit der Meeresoberfläche – was insbesondere die Kunst der deutschen Romantik in ihren Werken als ein Ausgesetztsein des Menschen gegenüber der Natur thematisiert. »Das Erhabene, das Kant der Natur vorbehielt, wurde nach ihm zum geschichtlichen Konstituens von Kunst selber.«18 In Ergänzung zu den beiden von Kant vorgestellten Formen des Erhabenen finden wir mit dem darstellenden Modus der Abstraktion eine weitere Unmöglichkeit der verstandesmäßigen Apperzeption, in welcher das Dargestellte bewusst ohne erkennbaren Inhalt bleibt – freilich ohne dass sie Kant bereits zur Verfügung stand. In diesem Abstrakt-Erhabenen liegt eine besondere Herausforderung für die ästhetische Wahrnehmung: nachdem sich die Kulturgeschichte immer am Handwerk als einer nachvollziehbaren ›Meisterschaft‹ orientiert hat, ja diese eine ständische Autorität dargestellt hat, erfordert das Ausweichen auf die Abstraktion auch im Prozess der poietischen Herstellung eine neue Beurteilung, für die der gewohnte Begriff nicht ausreicht, was also sein begriffliches Substitut im Erhabenen findet. Adorno formuliert dazu: »Das Erhabene zieht die Demarkationslinie zu dem, was später Kunstgewerbe hieß.«19 Ein Ausweg aus diesem Bruch zwischen dem gegenständlichen Gewohnten und der nichtgegenständlichen und damit nicht fassbaren Anschauung liegt auch hier in der begrifflichen Umschreibung als ›Metapher‹.
18 | Theodor W. Adorno. Ästhetische Theorie. Frankfurt/Main 1970. S.293. 19 | Ebd.
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In seiner Bestimmung des ästhetischen Urteils aus der Kritik der Urteilskraft hält Kant noch an einem allgemeinen Erkenntnisursprung fest, an einem Gemeinsinn, welcher sich im Rahmen der ästhetischen Auffassungsgabe dann je individuell in den »Zustand des freien Spiels der Erkenntnisvermögen«20 zu wandeln vermag. Ästhetisches Erscheinen ist für Kant nicht primär subjektiv. Grundlage »ist vielmehr ein besonderes Gegebensein von Phänomenen, das intersubjektiv nachvollzogen werden kann. [...] Das ästhetische Erscheinen kann von allen betrachtet werden, die erstens über die entsprechende sinnliche und kognitive Ausstattung verfügen und zweitens bereit sind, unter Verzicht auf kognitive und praktische Ergebnisse für die volle sensitive Gegenwart eines Gegenstandes aufmerksam zu sein.«21 Für Kant hat der sensus communis noch Gültigkeit – ja er ist der notwendige Boden der Autonomie zwischen Lust und Unlust.
D AS A UTONOME ALS D IFFERENZIERUNG DES DES B EGRIFFLICHEN : M E TAPHER »Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen; darum scheint es eine Torheit, sie wieder durch Worte vermitteln zu wollen.« JOHANN WOLFGANG VON GOETHE. MAXIMEN UND REFLEXIONEN.22
Die Vielheit der Anschauungen wird vom Verstand zum Begriff geführt. Den Begriff dafür gibt uns unsere Kultur an die Hand. Das, was wir wahrnehmen, formulieren wir institutionalisiert durch unsere Kultur in einen Begriff. »Der Begriff von einer Sache bezeichnet nicht mehr das, was deren an sich seiendes Wesen [als Bedeutung] ausmacht, sondern eine von unserem Verstand erstellte Allgemeinheit [...]. Mit Kant vollzieht sich seitens des Verstandes eine Art ›Wiederaneignung‹ der konzeptuellen Ordnung, die früher dem Ansichsein der Dinge zugesprochen worden war. [...] Die universelle ›Form‹ der Dinge [...] liegt nicht ursprünglich in den Sachen selbst, sondern in unserem kognitiven Vermögen.«23 In seinem Bestreben, 20 | Kant. Kritik der Urteilskraft (wie Anm. 6). §9. S.132. 21 | Seel. Ästhetik des Erscheinens (wie Anm. 17). S.19. 22 | Johann Wolfgang von Goethe. Maximen und Reflexionen. In: Ders. Sämtliche Werke. Bd. 9. Hrsg. von Ernst Beutler. Zürich München 1977. S.541. 23 | Jean Grondin. Kant zur Einführung. Hamburg 1994. S.48.
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das Subjekt zum Kern seiner Auseinandersetzung zu machen, muss Kant das Dingliche von dessen Gefasstheit im Begriff befreien – gerade um der fehlenden bildlichen Vorstellung vom ›Erhabenen‹ im verstandesbezogenen Begriff einen Raum zu geben. War die Erkenntnis der Bedeutung eines Dinges in seinem Ursprung ausschließlich mit dem Ding selbst und dessen selben Begriff verhaftet, so öffnet sich diese Zuweisung hin zu einem wandelbaren Vorstellung zwischen »ästhetischer Idee« und »Vernunftidee«. Das steht in Entsprechung zur Auffassung Hegels, der die von ihm so benannte »romantische Kunstform« als diejenige definiert, »die auf einem Zustand der Idee angekommen ist, der weiß, dass das Absolute nur noch gedacht, aber nicht mehr zur Anschauung gebracht werden kann. Der Gehalt der romantischen Kunstform [...] tendiert weg von der Sinnlichkeit hin zu Vorstellung und Begriff. [...] In der romantischen Kunstform ist die Idee abstrakt und dem Sinnlichen nicht mehr zugänglich.«24 Die darin enthaltene Auflösung des Repräsentationsdogmas im Bildlichen eröffnet der Kunst ein Tor hin zu einer neuen Auseinandersetzung: einerseits zur Welt der Abstraktion, die nun nicht mehr zur Anschauung bringen will, was nicht mehr zur Anschauung gebracht werden kann; andererseits zur Interpretation, die gerade auf begrifflicher Auslegung des Bedeutungsgehaltes an einem anderen als dem dargestellten Ding selbst basiert. Die im allgemeinen Sprachgebrauch übliche Begrifflichkeit ›schön‹ fasst Kant als so genannte uneigentliche Prädikation auf im Sinne eines ›Als-ob‹: Der Urteilende »wird daher vom Schönen so sprechen, als ob Schönheit eine Beschaffenheit des Gegenstandes und das Urteil logisch [...] wäre.«25 Indem sich also die Kunstwerke, aus der Verpflichtung zur Repräsentation entlassen, dem institutionalisierten Bedeutungsgehalt entziehen, indem diese Bedeutungsleere sie tatsächlich auf sie selbst als Ding zurückwirft, indem der Betrachter damit überfordert ist, weil er sich dem Werk nicht mehr begrifflich annähern kann, geht es ausschließlich um die Subjektivität des Betrachters, von dessen geistigen Fähigkeiten es nun abhängt, mit welchen Ersatzbegriffen er auf dieses ›Als-ob‹ reagiert. Dem ›Als-ob‹, der metaphorischen Umdeutung des Un-Begrifflichen zurück in den Modus des »logischen Urteils«, müssen wir uns im weiteren annähern, um die radikalen Umwälzungen im Gestaltmodus des Autonomen nachvollziehen zu können. Das ›Als-ob‹ des Begrifflichen dient dazu, 24 | Kösser. Ästhetik und Moderne (wie Anm. 2). S.169. 25 | Kant. Kritik der Urteilskraft (wie Anm. 6). §6. S.124f.
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die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt neu zu bestimmen, da diese nun nicht mehr eindeutig im Sinne von Objekt = auslösendes Moment und Subjekt = empfangendes Moment geregelt ist. Die Erweiterung des Begrifflichen ist dafür verantwortlich, dass sich das Werk aus seiner ihm vorgegebenen Repräsentation löst und zum eigenständigen Objekt wird. Wenn also die farblichen Spuren auf der Oberfläche eines Bildes nicht mehr auf etwas Identifizierbares verweisen (ein figürliches Motiv), sondern als bloße Farbspuren autonom aufzufassen sind, so ist dieser Wandel nicht primär dem Modus des Bildlichen im Werk unterworfen (denn nach wie vor nehmen wir das Gesehene bildlich wahr) – verantwortlich für diese nun autonome Betrachtung der Farbspuren auf der Bildoberfläche ist unser begrifflicher Umgang mit dem Gesehenen im Sinne des ›Als-ob‹. Kern der Auseinandersetzung im Modus des Autonomen ist diejenige Variable im Werk, die allein den Betrachter betrifft: der Begriff, den er sich vom Werk macht. Das Subjekt tritt damit in eine neue Beziehung zum Werk, in einen »ontologischen Raum«26 zwischen Werk und Betrachter. Nicht mehr der repräsentierte oder der repräsentierende Raum nimmt uns in einem Werk in der Identität des Autonomen ›gefangen‹, es ist hier der ideelle Raum der Auseinandersetzung zwischen Werk und Betrachter. Dieser ontologische Raum dringt nach Foucault aus der Bildebene hinaus in den Lebensraum des Betrachters. Das herkömmliche Tafelbild beschreibt Foucault als »Fenster«27, das in seiner nachvollziehbaren Zuordnung von farblichen Spuren zu identifizierbaren Formen verweisende Zeichen aussendet, und sich selbst quasi »durchsichtig«, »transparent«28 darstellt. Mit der Autonomie dagegen geht es um die Auseinandersetzung mit dem Werk als solchem. Die ehemals bestehende »Transparenz« des Werkes als Verweisendes auf etwas Bekanntes geht verloren, weil sich die Zielrichtung des Werkes gewandelt hat. Damit müssen wir ein Werk je nach seinem Wesen differenziert betrachten: den repräsentierten Raum im Bild als Raum unserer vertrauten Wahrnehmung, den ontologischen Raum des Bildes selbst als Raum des strukturellen Aufbaus im Werk. Die Auseinandersetzung am Kunstwerk überschreitet die Erfahrung des Betrachters dergestalt, dass sie als neue Bedingung der Erkenntnis gelten kann – im Erhabenen. 26 | Pravu Mazumdar. Repräsentation und Aura. In: Peter Gente (Hrsg.). Foucault und die Künste. Frankfurt/Main 2004. S.220-237. Hier: S.227. 27 | Michel Foucault. Die Malerei von Manet. Berlin 1999. S.47. 28 | Mazumdar. Repräsentation und Aura (wie Anm. 26). S.224.
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D IE I DENTITÄT DES A UTONOMEN IM GEBAUTEN W ERK Die Zentrierung des Subjektes: Große Neugierde Kann das begriffliche ›Als-ob‹ den Akt des Sehens derart wandeln, dass wir nun von einer subjektiven Realität des Blickens sprechen können? Und kann diese subjektive Realität je die architektonische Wirklichkeit bedingen? – Das sind die Fragen, welcher sich die Identität des Autonomen im architektonischen Entwurf stellen muss. Mit einem frühen Beispiel zum Wandel von der auf Repräsentation und Referenz gegründeten Identität des Ähnlichen hin zur Identität des Autonomen möchte ich in den Kern dieses Kapitels einführen. Es handelt sich um die Große Neugierde (1835-37, Abb. 15 und 16) von Karl-Friedrich Schinkel (1781-1841) auf dem Gelände des Schlossparks von Klein-Glienicke am Übergang der Havellandschaft von Berlin nach Potsdam. Die Große Neugierde ist ein ›Rundtempel‹ mit umlaufendem Säulenkranz und einer innenliegenden, ebenfalls kreisrunden Cella, bekrönt von einer Nachbildung des Athener Lysikrates-Monumentes (4.Jhd. v. Chr.). Nach dem, was wir von den Konzeptionen der Identität von Architektur bislang zusammengefasst haben, stellt sich die Frage: ist dies nicht in jedem Falle ein Beispiel der Identität des Ähnlichen im Sinne von Referenz – also mehr geprägt durch Verweisen als durch eigenes, autonomes Sein? Das Gebäude – eigentlich kein ›Haus‹ im Wortsinne des Wohnens, eher ein überdachter Aussichtspunkt in der Gestalt eines Rundpavillons – orientiert sich in seiner Gestaltung streng an den Vorgaben der Antike, es wäre in diesem Sinne von außen betrachtet als eine »historische Assemblage«29 zu bezeichnen. Nehmen wir aber nun die Blickrichtung des Besuchers ein, wie er in der Großen Neugierde steht, so wird uns bald bewusst, dass hier nicht mehr die Referenz das beherrschende Thema ist – zum Hauptanliegen des Entwurfes wird der individuelle Blick aus dem Rundbau auf die Umgebung. Das Verhältnis von Säulenraum und innerer Cella ist so deutlich zu Ungunsten des eigentlichen Zentralraumes verzogen, dass nun das Hauptgewicht auf dem ringförmigen Säulenrahmen liegt. Dieser wird zu einem eigenständigen, autonomen Element. 29 | Reinhard Wegner in seinem Vortrag »Antike Form als autonome Kunst. KarlFriedrich Schinkels Entwurf der Moderne« am 15. Nov. 2008 in Weimar im Rahmen der Tagung »Ambivalente Autonomie. Transformation eines Zentralbegriffs der Aufklärung« der Klassik-Stiftung Weimar.
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Abb. 15: Große Neugierde (1835-37) in Klein-Glienicke, Berlin. Architekt: Karl-Friedrich Schinkel. Ansicht der Aufgangsseite. Nicht mehr die Nutzung als Teepavillon ist Inhalt des Gebäudes. Es wird zum Ort der Auseinandersetzung mit der Thematisierung des Blickens. Im ausschnitthaften Sehen des Zwischenraumes der Säulen entstehen neue Formen des Bildes der vertrauten Umgebung: ein Blick in Facetten, in Einzelbildern, gerahmt von der gleichmäßigen Folge der Säulen (Abb. 16). Die antikisierende architektonische Grundfigur ist der Rahmen, in dem sich die Wahrnehmung des modernen Panoramas abspielt. Am Beispiel der Großen Neugierde vollzieht sich der Wandel im Blick auf das Werk oder seiner begriffliche Fassung im ›Als-ob‹: die eigene Subjektivität erlaubt dem Betrachter die Differenzierung, entweder das Gebaute anzusehen, oder das, was das Werk freilässt, also den Blick in die Landschaft. Die begriffliche Autonomie des ›Als-ob‹ macht die Große Neugierde zu einem Gebäude ›als‹ Rahmen des Blickens, welches den Blick selbst ›als‹ Bild auffasst. Begriffliches, Bildliches und Dingliches im Werk finden so zu einer neuartigen Beziehung über die Ebene des Begriffes und sein Substitut in der Metapher: »Das Wort dem Haus gegenüber oder das Werk aus bildlich-verbaler Baukomposition, die hernach in der verwirklichten Architektur Sein erlangen sollte, kennzeichnet [...] die Romantik, und hier niemanden deutlicher als Schinkel«30. Es ist damit unerheblich, ob das Werk als eine Nachbildung eines antiken Vorbildes erscheint oder als eine Neuschöpfung: sein Inhalt ist nicht die Bedeutungsanleihe an ein antikes Bauwerk – sein Inhalt liegt in der neuen Bezugnahme auf das Subjekt seiner Betrachtung. 30 | Wolfgang Büchel. Schinkels sieben Einmaligkeiten. Hildesheim 2010. S.111.
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Abb. 16: Schinkels Große Neugierde – Zentrierung des Subjektes über die Thematisierung des »geteilten Blickes«. Konzeptdarstellung des Autors unter Verwendung der Lithographie »Potsdam vom Babelsberge« von Xaver Sandmann, um 1850. Autonomie – so haben wir bereits in der Einleitung zu diesem Kapitel herausgestellt – hat mehrere Facetten. In diesem Falle ist Autonomie zunächst aufzufassen als Subjektbezogenheit in Abkehr von der Referenz. Das Werk ist aufzufassen als eine Entfunktionalisierung des Raumes, der nun als Ort dem individuellen Erlebnis dient und damit selbst autonom zu werden beginnt; es ist aufzufassen als eine Enthierarchisierung im Objekt, weil nicht mehr das Referenzielle als festgelegte Bedeutungsebene den Vordergrund des Werkes ausmacht, auf dem sich dessen eigentlicher Sinn herstellt – die Sinnsuche wird nun an das Subjekt entliehen. Die Große Neugierde ist damit ein Beispiel der Verkörperung eines Perspektivwechsels vom Objekt zum Subjekt. Während sich das Bauwerk in der Verwendung seiner architektonischen Elemente noch als klassischer Baukörper darstellt, geht von diesem ein erster Hinweis von Autonomie als Subjektbezug des Besuchers in dessen Wahrnehmungserlebnis aus. Umgekehrt ist das Beispiel der Großen Neugierde ein Hinweis darauf, dass es nicht einer formal autonomen, also bezuglos abstrakten Formensprache bedarf, um Aspekte des Autonomen im Werk zu eröffnen. Der heutige Besucher muss sich allerdings nicht wundern, wenn sich das erwähnte Wahrnehmungserlebnis des Blickens ›als‹ Bild nicht in der beschriebenen Weise einstellen will: »Abgerückt von Ufer und Brücke und mit zugewachsenen Ausblicken, hat die Große Neugierde viel von ihrem Reiz verloren. Wenn wir das befreiende und überraschende Erlebnis des weiten, malerischen
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Rundblicks aus der Erbauungszeit nachvollziehen wollen, sind wir auf die Ansicht aus dem Architektonischen Skizzenbuch angewiesen.«31 Die Auflösung der Eindeutigkeit im Sehen und ihr begrifflicher Ersatz in der Metapher bilden den Kern der Identität des Autonomen. »Das Sehen, der Blick des Betrachters, mithin das Verhältnis zwischen beobachtendem Subjekt und Objekt, wird zum zentralen Motiv der neuen Kunstauffassung.«32 In dieser Auseinandersetzung mit dem Sehen ist das Gesehene nicht mehr anthropologisch eindeutig gegeben, Sehen wird vielmehr abhängig vom eigenen Erkenntnisinteresse – mit dem Ziel, das Erkennen im Blicken unterschiedlich zu justieren, nicht nur im Hinblick auf die Sehschärfe, sondern auch im Hinblick auf das (un-)bewusste Wahrnehmen von Ganzheiten. Was wir bereits im Umgang mit dem Begrifflichen angesprochen haben, dass nämlich der Begriff ein Konkretes und gleichzeitig auch ein Metaphorisches betreffen kann, das soll nun auch für das Sehen gültig sein: ein differenzierendes Sehen des ›Als-ob‹. Dabei geht es nicht nur um die möglicherweise hinter der Darstellung liegende Bedeutung im Sinne eines symbolischen Verweises, wie es die Identität des Ähnlichen zu ihrem Inhalt macht, es geht um die Allegorie des Sehens selbst: »Der Künstler lehrt uns [...] das Sehen um des Sehens willen«33 – womit ein quasi ›vorurteilsfreies‹ Sehen gemeint ist, welches das, was es wahrnimmt, nicht als äquivalent mit seinem gegebenen Erfahrungsschatz nimmt, sondern aisthetisch abhebt und für sich wahr nimmt. Bildwirklichkeit und Bildwahrnehmung sind damit nicht mehr deckungsgleich, sie werden absichtsvoll miteinander vertauscht. August Wilhelm Schlegel (1767-1845) stellt dies im Athenaeum wie folgt dar: »Seit ich mich mit diesen Dingen viel beschäftige, sehe ich eine wirkliche Landschaft mehr als Gemälde, und ein Landschaftsstück suche ich mir zu einer wahren Aussicht zu machen.«34 Eine solche scheinbar vertraute und doch komponierte Sichtweise ist uns bekannt aus den Bildern Caspar David Friedrichs (1774-1840) oder Philipp Otto Runges (1777-1810), aber sie erscheint auch gleichermaßen lebendig in Schinkels architektonischen Skizzen und Zeichnungen. 31 | Jürgen Julier. Parkgebäude nach Entwürfen Schinkels. In: Schloss Glienicke. Bewohner, Künstler, Parklandschaft. Berlin 1987. S.40. 32 | Reinhard Wegner. Der geteilte Blick. In: Ders. (Hrsg.) Kunst - die andere Natur. Göttingen 2004. S.13-33. Hier: S.18. 33 | Ebd. S.32. 34 | Athenaeum. Bd.II,1. S.62. Zitiert nach: Wegner (wie Anm. 32). S.14.
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Abb. 17: Karl Friedrich Schinkel, Schauspielhaus Berlin, Bühne und Dekoration zum Eröffnungsprolog, 1821. Karl Friedrich Schinkel, Sammlung architektonischer Entwürfe, Blatt 14. In seiner Sammlung architektonischer Entwürfe bildet Schinkel auf dem Bühnenvorhang des Schauspielhauses am Berliner Gendarmenmarkt (1818-1821, Abb. 17) eine Darstellung ab, welche die städtische Umgebung des Gebäudes wiedergibt: selbst im Theater sitzend, blickt der Besucher von aussen auf eben dieses Theater. Schinkel fordert den Betrachter unmissverständlich zu einer differenzierten Sichtweise des Gesehenen auf, im Sinne einer »inwendigen« Wirklichkeit »mitsamt erzeugter Illusion einer Unendlichkeit in Form zahllos wiederholter Abbildungen«35 . Vorder- und Hintergrund des Blickfeldes werden zu Teilen eines möglicherweise zusammengehörenden Ganzen, oder zu Fragmenten eines partiellen Ausschnittes – je nach Sichtweise. Der Gedanke des ›Als-ob‹ im Sehen und Benennen wird zum beherrschenden Moment der architektonischen Moderne. Le Corbusier (18871965) gründet seine Schrift Ausblick auf eine Architektur (1922) auf dem berühmt gewordenen Ausspruch: »Augen die nicht sehen.«36 Augen, die nicht sehen, differenzieren in ihrem Blick oberflächlich zwischen Bauwer35 | Büchel. Schinkels sieben Einmaligkeiten (wie Anm. 30). S.17. 36 | Le Corbusier. Ausblick auf eine Architektur (Vers une Architecture, 1922). Frankfurt/Main, Berlin 1963. S.75.
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ken und Nutzkonstruktionen, sie sehen den Stil eines Bauwerkes statt seine Erscheinung. Le Corbusier kritisiert diese nicht vorurteilsfreie Sichtweise auf die dienenden Bauten der Industrialisierung, auf die Brücken, die Getreidesilos, die Ozeandampfer, Flugzeuge und Autos, also auf die Ingenieurleistungen der modernen Technik, denen allgemein ›Schönheit‹ abgesprochen wird, da sie primär nicht ›schön‹ zu sein haben, sondern dienen sollen.37 Augen, die sehen, wären demgegenüber geprägt von einem ›Esprit Nouveau‹, einem ›Neuen Geist‹ der vorurteilsfreien Sicht auf die Werke der Architektur. Augen, die sehen, wären fähig, das Gesehene aisthetisch abzuheben und für sich wahrnehmend zu beurteilen: das Getreidesilo nicht als ›Getreidesilo‹ anzusehen, sondern als ›skulpturale Erscheinung‹. Dieses andere Bewusstsein des Sehens und sein vorgefasstes subjektives und damit selektives Interesse des ›Als-ob‹ öffnet aber, das erkennen wir im Rückblick auf die Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts, der Beliebigkeit in der architektonischen Formauswahl Tür und Tor. Denn wenn ein architektonischer Bau als ›Erscheinung‹ aufgefasst werden kann, dann kann umgekehrt im Sinne des ›Esprit Nouveau‹ auch eine beliebige Erscheinung als mögliche Architektur aufgefasst werden – eine Sichtweise der »Avantgarde-Architekten«38, die der Künstler Magritte in denselben Jahren scharf kritisiert, weil sie die Anschauung nicht mehr an das Wesen des Werkes knüpft: »Rindvieh und ›Künstler‹-Architekt betrachten das Teleskop; der moderne Mensch bedient sich des Teleskops. Die Schönheit eines Gegenstandes hängt vom Wesen des Gegenstandes ab.«39 Denn die Grundfrage bleibt: Was soll Architektur ihrem Wesen nach leisten? Das Streben der Architektur über die ›Idee-von-Haus‹ hinaus zu einem ›Als-ob‹ unterliegt stets dem abhebenden Gestus der Aisthesis, was unweigerlich die Frage aufwirft, ob es das eigentliche Wesen von Architektur nicht verfehlen muss.
37 | Le Corbusier schreibt in diesem Zusammenhang: »Anonyme Ingenieure, Mechaniker im Hüttenwerk und an der Schmiede haben jene furchterregenden Gebilde, die Ozeandampfer, erdacht und konstruiert. Uns Landratten freilich fehlt jede Möglichkeit wirklicher Wertschätzung [...].« In: Ders. Ausblick auf eine Architektur (wie Anm. 36). S.78. 38 | René Magritte. Die reine Kunst. Verteidigung des Ästhetischen (1922). In: Ders. Sämtliche Schriften. München, Wien 1981. S.9-19. Hier: S.10. 39 | Ebd. S.12. Hervorhebung im Text: TS.
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Die Suche nach dem Erhabenen in der Architektur: Farnsworth House Wie sieht es nun aber aus, wenn sich auch die Formensprache dem Autarkiestreben der Identität des Autonomen verpflichtet? Welche Auswirkungen hat dies auf das Verhältnis von Haus und Bewohner? In der Auffassung von Sennett hat »in der Kunst [...] die Schaffung eines autarken, auf Einheit ausgerichteten Objekts zur Folge, dass es unberührbar scheint.«40 Beziehen wir dies auf die Architektur und betrachten wir als Beispiel das Farnsworth House (1945-51, Abb. 18) von Ludwig Mies van der Rohe (1886-1969). Welche Faktoren sind es, die das kleine Wochenendhaus so unnahbar wie autonom, ja erhaben im künstlerischen Sinne erscheinen lassen? Nach Sennett ist es weniger die Verwendung der Materialien Glas und Stahl als vielmehr die Art und Weise, wie das Gebäude in die Landschaft gesetzt ist, wie es sich dort zu Boden, Pflanzen, Bäumen und Tieren, also zur Natur verhält. Unausgesprochen bestimmt Sennett hier die Qualität von Architektur über die sechs Elemente der Baukunst nach Alberti41 , also über die Grundfesten der Architektur. Diese finden wir nun bei Mies gerade nicht im Sinne des Architektonisch-Identischen angewandt. Doch nicht allein das Material des Glases ist hierfür verantwortlich – es ist die grundsätzliche Befragung oder das Infragestellen der ›Idee‹ von Architektur durch das Werk. In der architektonischen Konzeption der ›Identität des Autonomen‹ wird der Gedanke einer Architektur überlagert von einer Sichtweise des ›Als-ob‹; das Ding wird ersetzt durch ein begriffliches Substitut seiner selbst: das Fenster wird betrachtet ›als‹ Bild, Grund und Decke ›als‹ horizontale Ebenen, die Stütze ›als‹ Objekt, die aussteifende Wand ›als‹ Kunstwerk. Alles zusammen führt in eine Architektur ›als‹ autonome Komposition. Es geht nicht mehr um den Wandel in der ›Bedeutung‹ eines Dinges durch seine formale Gestaltung; hier geht es um den Wandel eines Dinges an sich. 40 | Richard Sennett. Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds (1990). Frankfurt/Main 1991. S.154. 41 | Die sechs Elemente der Baukunst nach Alberti sind: ›die Gegend‹, ›der Grund‹, ›die Einteilung‹, ›die Mauer‹, ›die Decke‹, ›die Öffnung‹, im Sinne »einer perspektivischen Annäherung, von den Gegebenheiten des Ortes bis hin zum architektonischen Detail.« Aus: Fritz Neumeyer. Quellentexte zur Architekturtheorie. München 2002. S.92.
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Abb. 18: Farnsworth House in Plano, Illinois, 1946-52. Architekt: Ludwig Mies van der Rohe. Ansicht der Eingangsseite. Das Dingliche erfährt einen Wandel nicht nur durch Änderung seiner Stofflichkeit – auch in seiner begrifflichen Wandlung führt es vom Eigentlichen des Dinglichen fort. Das betrifft die einzelnen Elemente genauso wie den Raum als Ganzes, der – das zeigen vergleichbare Projektskizzen von Mies aus diesen Jahren, wie z. B. das Projekt zum Haus Resor (Abb. 19) – in der Beziehung zwischen Innen und Außen zu einer fast bildhaften ›Komposition‹ wird. Die quasi offene Bezugnahme von Innenraum und umgebender Natur, die scheinbar schwerelose Parallelität der Ebenen von Boden und Decke, nur verbunden von wenigen schlanken Stützen, dazwischen die Elemente des Wohnens als Objekte im Sinne einer »ästhetischen Distanz« eingefügt – all das hat selbst sein Vorbild in einer künstlerischen Komposition, die Mies hier als ein Raumelement (Paul Klee: Bunte Mahlzeit, 1928) zitiert: die Autonomie der Selbstbezüglichkeit wird konsequent durchgehalten. Mies setzt im Farnsworth House um, was er mit dem Entwurf für das Haus Resor 1937 angedacht hat und was er in seiner Antrittsrede als Direktor der Architekturabteilung am AIT in Chicago 1938 programmatisch formuliert: »Baukunst wurzelt mit ihren einfachsten Gestaltungen ganz im Zweckhaften. Reicht aber hinaus über alle Wertstufen bis in den Bezirk geistigen Seins, in das Gebiet des Sinnhaften, der Sphäre der reinen Kunst.«42 Die hieraus ablesbare hierarchische Differenzierung von Architektur orientiert Mies an der Fessel des Zweckes – je weniger Baukunst zweckhaft sein muss, umso näher vermag sie der reinen Kunst zu sein. Doch fragen wir auch danach, wie sich diese Konzeption von Architektur als »Sphäre der reinen Kunst« zu ihrem Gebrauch des Wohnens verhält: der Bewohners setzt sich nun nicht mehr alleine mit dem Objekt auseinander, sondern über das Objekt gleichermaßen auch mit sich selbst. 42 | Ludwig Mies van der Rohe. Antrittsrede am AIT Chicago (1938). Zitiert nach: Fritz Neumeyer. Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort. Berlin 1986. S.380.
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Abb. 19: Entwurf für Haus Resor, Jackson Hole, Wyoming, 1937-38. Architekt: Mies van der Rohe. Photomontage mit dem Bild ›Bunte Mahlzeit‹ (1928) von Paul Klee. Aus: Jean-Louis Cohen. Mies van der Rohe. Birkhäuser Basel 2007. S.97. Denn – das Farnsworth House »bietet gar keine Zuflucht. Die Bedrohlichkeit der Natur, durch die man sich gedrängt fühlt, das Haus aufzusuchen, wird bekräftigt [...]; hier gibt es weder für den Besucher noch für irgendein anderes Lebewesen ein Refugium.«43 Stattdessen eröffnet es einen Rundumblick, der die Landschaft nicht nur ›als‹ Bild rahmt, sondern diese in das Haus selbst hineinholt. Zwar scheint es, als entspräche das Farnsworth House in seiner Struktur weitestgehend der ursprünglichen Idee von Architektur, jener der »Urhütte« des Filarete nämlich (Abb. 6, S.65). Doch was bei Filarete Struktur ist, wird hier mit dem Erscheinungsbild von Haus gleichgesetzt. So ist es fraglich, ob sich der Gebrauch des Wohnens in diesem offenen Rahmen einstellen kann. Inwieweit ist dieser Gebrauch also abhängig von der Beziehung zur Natur, und wie weit darf sich das Bauen durch die »ästhetische Distanz« seiner Komposition von eben diesem Gebrauch des Wohnens entfernen? Wohnen als Buan ist Bleiben, das heißt Geschützt-Sein, nicht Ausgesetzt-Sein. Ausgesetzt bin ich in der freien Natur. Geschützt-Sein heißt, der Natur nicht mehr ausgesetzt zu sein. Der hier vorgetragene offene Bezug zur Umgebung stellt nach Sennett ein Gefühl des ›Erhabenen‹ her, das in der Beziehung des Hauses zum Wohnen selbst begründet liegt, gerade weil das Haus nicht 43 | Sennett. Civitas (wie Anm. 40). S.150.
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das Beheimaten thematisiert. Wir haben »es mit einem Raum zu tun, in dem die Bedrohlichkeit der Natur noch verschärft wird durch ein Gehäuse, das keine Obhut verheißt. Dieses Haus ist ein moderner Ausdruck des Erhabenen«44 – das Erhabene als ›Kribbeln‹, als ›ästhetische Unbestimmtheit‹ zwischen (Natur-)Schönheit und Nicht-Geborgenheit. Das Farnsworth House mag unwirtlich sein, es mag autonom sein, aber ist es wirklich erhaben zu nennen? Ist es also ein Beleg für das Kantische Dynamisch-Erhabene als eine Überwältigung der Sinne, welche ohne Begriff bleiben muss? Bleiben wir wirklich »ohne Begriff«, oder will sich dieser angesichts der eigenständigen Spröde des Hauses und seiner auf entlegene Schönheit hin angelegten Ästhetik nicht einstellen. Das Haus will autonom sein. Es verfolgt geradezu paradigmatisch den Kantischen Schönheitsbegriff des »interesselosen Gefallens«. Es ist die Verkörperung des reinen Geschmacks, an dem »kein Interesse befriedigt, kein Bedürfnis gestillt werden [soll]. Das Postulat der Interesselosigkeit ist erforderlich, um den Geschmack in seiner Reinheit überhaupt erst zum Gegenstand der Analyse machen zu können. Sind nämlich Interessen, Bedürfnisse, gar Begierden im Spiel, kommt es zu keiner ästhetischen Beurteilung eines Gegenstandes, sondern zu seinem Genuss – oder zu seiner Verweigerung.«45 Als ein ästhetisches Objekt will das Haus betrachtet und beurteilt werden, es hält uns auf Distanz, es stellt sich selbst in den Raum der Aisthesis als dem abhebenden Unterscheiden. Es ist ein Medium der Auseinandersetzung im Naturraum, in dem der Mensch sich der Vollkommenheit, ja Unantastbarkeit einer Struktur gegenübersieht, und demgegenüber aufgrund der Weite und Unfassbarkeit der Umgebung wieder auf sich selbst und seine Grundmaßstäbe zurückgeworfen ist. In der verkörperten Autonomie des Farnsworth House können wir also den Versuch erkennen, das Erhabene in die Architektur zu holen, indem es »durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt.«46 Gerade daher können wir es nicht wirklich ›schön‹ finden, auch wenn wir zugeben müssen, dass es uns eben nicht kalt lässt, dass es uns im wahrsten Sinne ›betrifft‹. Und doch fällt es schwer, den Begriff des Erhabenen für die autonome Gestalt des Farnsworth House anzuwenden. 44 | Sennett. Civitas (wie Anm. 40). S.150. 45 | Konrad Paul Liessmann. Radikale Autonomie. Kant und die Erfindung der modernen Ästhetik. In: Geschmacksache. www.freitag.de/2004/09/kultur.php 46 | Kant. Kritik der Urteilskraft (wie Anm. 6). Allgemeine Anmerkung. S.193.
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So sehr die Identität des Autonomen das Erhabene auch anstreben mag in ihrer Selbstbezüglichkeit, Freiheit, ja Fremdheit der Form, so sehr muss in Frage gestellt werden, ob sie es tatsächlich zu erreichen vermag. Das Autonome läuft Gefahr, das Erhabene durch den metaphorische Ersatz der Form erschaffen zu wollen – und damit etwas Fremdes hervorzubringen. Ohne hier den Spielverderber geben zu wollen – es stellt sich grundlegend die Frage, ob das Prinzip des »geteilten Blickes« in der Architektur gleichermaßen Raum hat wie in der Bildenden Kunst. Erhabenheit im Werk fordert tatsächliche Nicht-Darstellung, sie fordert das »Unbeschriebene«, den »blank«47. Die Architektur der klassischen Moderne dagegen bleibt an der Form, sie sucht das Schöne, nicht das Erhabene. Ihre Gestaltwerdung basiert noch immer auf der Ästhetik des Schönen, nicht auf einer Ästhetik des Erhabenen. Sie ist Rückbeziehung auf die Form im Gewand des Fremden. Was stellt die Identität des Autonomen also her: ein Werk-an-sich oder ein Werk-für-andere? Mit Sennett fragen wir nach der Rechtfertigung, »unter welchen Umständen ein von Menschenhand gemachtes Ding gleichsam Rechte gegen die Menschen erwirbt.«48 Mit Worringer stellen wir die Gegenfrage, ob dieses Werk dem Menschen nicht dabei hilft, zurückzufinden zum Ding-an-sich, dessen Weg sich ihm nur eröffnet über den Geist, den Intellekt und den Wandel, den er seit Urzeiten in seinem Menschsein mitgemacht hat: »Erst nachdem der menschliche Geist in jahrtausendelanger Entwicklung die ganze Bahn rationalistischer Erkenntnis durchlaufen hat, wird in ihm als letzte Resignation des Wissens das Gefühl für das ›Ding an sich‹ wieder wach.«49 Um diesen bewussten Gegensatz zwischen Werk und Mensch geht es in dem Streben nach dem Autonomen wie auch nach dem Erhabenen. Und hinter diesem steht die Frage nach einem Ersatz für die in der Aufklärung verloren gegangene Transzendenz, die Metaphysik, die mit diesem Streben einhergeht. Nicht nur die Kunstwelt, auch die architektonische Lebenswelt als Welt eines architektonisch-erhabenen Werkes wird so zum Austragungsort der offen gehaltenen Frage nach dem Sein; diese mag zu einer ›Kunstreligion‹ ausarten, wenn wir den Menschen als Schöpfer darin sehen; sie mag aber dennoch eine Transzendenz in sich offenhalten, wenn wir das Sein hinter dem Ding zu erkennen versuchen. 47 | Jean-François Lyotard. Anima minima. (1993) In: Ders. Postmoderne Moralitäten. Wien 1998. S.201-213. Hier: S.208f. 48 | Sennett. Civitas (wie Anm. 40). S.155. Hervorhebung im Text. TS. 49 | Wilhelm Worringer. Abstraktion und Einfühlung (1908). München 2007. S.84.
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D IE D IALEK TIK DER I DENTITÄT DES A UTONOMEN Hat die Architektur in der Identität des Autonomen überhaupt selbst noch einen Stellenwert? Kann es solche Identität für ein Werk überhaupt geben, die sich ganz dem Subjekt in dessen Anschauung überantwortet und ihre Dinglichkeit im ›Als-ob‹ preisgibt? Welches sind die Auswirkungen, wo nun der subjektive Geschmack und die Empfindung an die Stelle gerückt sind, die ehemals im ›Gemeinsinn‹ verankert war, auf den Kant seine Differenz des Geschmackes noch gründen konnte? In ihrer Dialektik der Aufklärung zeichnen Horkheimer und Adorno mit dem Rückgriff auf die antike Sage der Odyssee ein Bild für die Zerrissenheit des Subjektes angesichts seiner möglichen Freiheit: »Odysseus, wie die Helden aller eigentlichen Romane nach ihm, wirft sich weg gleichsam, um sich zu gewinnen«.50 Freiheit und Souveränität im eigenen Denken und Handeln – so die Quintessenz der Autoren – ist nur zu erlangen, wenn man bereits ist, den entsprechenden Preis dafür zu zahlen: den Preis der Inkommensurabilität der Lebensbereiche, ihrer durch vereinzelnde Autonomie je eigenen Gesetze, der Aufgabe eines verbindenden Ganzen, welches nun der Freiheit des Einzelnen unterworfen ist; der Gewinn der einen Identität kostet den Verlust einer anderen. Nicht nur für die technischwissenschaftliche Welt gilt dies, auch für die sinnliche: »Indem sich Odysseus ›aufgeklärt‹ zu den ›Verlockungen‹ der Mythologie verhält, entfaltet er zwar seine instrumentelle Vernunft, seine List, beschädigt aber seine Sinnlichkeit und macht sie folgenlos – das ist im Kern das ästhetische Problem des Odysseus-Exkurses.«51 Vom Standpunkt des Ästhetischen zählt das Schöne nicht mehr – es vermag in uns nichts anzurühren außer einem (veralteten) Gefühl für Schönheit. Das Autonome zielt demgegenüber auf ein Abheben der Wahrnehmung des Einzelnen: das begriffliche ›Als-ob‹, der »geteilte Blick«52 , Sinnbilder der Ästhetik des Autonomen, haben einen aisthetisch abhebenden Charakter gegenüber der Lebenswelt und ihren ganzheitlichen Eindrücken; erst durch ihr Abhebendes erlangen deren Motive ihre Einzigartigkeit – das ist es, worauf die Identität des Autonomen zielt. »Die ästhetische Szene erscheint also eigentlich als Szene des 50 | Max Horkheimer / Theodor W. Adorno. Dialektik der Aufklärung. In: Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften. Band 3. Frankfurt/Main 1970. S.65f. 51 | Kösser. Ästhetik und Moderne (wie Anm. 2). S.377. 52 | Wegner. Der geteilte Blick (wie Anm. 32).
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Unversöhnlichen«53, die in der lebensweltlichen Architektur nur über die Souveränität des Betrachters aufgefangen werden kann. Die Ablösung des Begrifflichen von seiner triadischen Einheit durch die Metapher erfährt unterschiedliche Ausdrucksformen, denen wir abschließend in der Auseinandersetzung zur Identität des Autonomen nachgehen wollen: Ň Was in seiner gesellschaftlichen ›Bedeutung‹ begrifflich nicht mehr fassbar ist (und was ehemals die ›Bedeutung‹ der Schönheit war), sucht seine metaphorische Ausdeutung im ›Als-ob‹. Diese Ausdrucksform des ›Als-ob‹ nimmt dabei Bezug auf die vormythische Zeit, in der die Besonderheit der Erscheinung eines Objektes als Aura aufgefasst wurde. Ň Als Gegenpol dazu – und darin entbirgt sich das dialektische Potential der Aufklärung – steht das Äquivalent in einer rationalen Methode des Wissens – als einem Bewusstsein von Strukturen, von Funktionen, von Abläufen, im Blick auf einen Sachverhalt von einem rational geprägten Standpunkte aus, der nach der Methode von ›richtig‹ oder ›falsch‹ bestimmt werden kann. Letztgenannte Form sucht nach Entsprechung zum ›Begriff‹ auf Seiten der Ratio selbst. Ň Über allem aber steht für den Betrachter die Notwendigkeit, sich seiner architektonisch lebensweltlichen Situation im Sinne des ›Als-ob‹ überhaupt bewusst zu sein. Denn erst wenn er die Stufe der eigenen Souveränität im Ausnahmezustand des Autonomen errungen haben wird, kann er des Erlebnisses des Erhabenen gewahr werden.
Ästhetischer Ausnahmezustand und Souveränität Das Leitmotiv dieser Schrift ist die Entgegensetzung von Subjekt und Selbst vor dem Werk, vor dem Hintergrund der Frage nach Differenz oder Verwandtschaft von Kunstwerk und Bauwerk. Die uns begleitende Frage lautet: können wir die gleichen Prämissen ansetzen in der Gestaltung und in der Betrachtung von Kunst und Architektur? Die Schwierigkeit im Umgang des Subjektes mit den immer komplexeren Konzeptionen der Ästhetik als Kunstphilosophie möchte ich mit dem Begriff des »ästheti-
53 | Jacques Rancière. Das Unbehagen in der Ästhetik. Wien 2007. S. 121.
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schen Ausnahmezustands«54 zu verdeutlichen versuchen: der ›Ausnahmezustand‹ der Ästhetik beschreibt die Frage nach der Souveränität des Einzelnen gegenüber einer Gestaltkonzeption, welche die Gewohnheit seiner Wahrnehmung bewusst übersteigt, so wie sie die Konzeption des Autonomen vorstellt. Bleiben wir auch hier zunächst am Ursprung des Begriffes. Im Allgemeinen sprechen wir von einem ›Ausnahmezustand‹, wenn eine besondere Situation die Suspendierung des alltäglichen Rechtes herausfordert. ›Ausnahmezustand‹ in unserem Kontext von Gestaltung und Ästhetik spielt auf das Außerkraftsetzen oder zumindest Infragestellen unserer gegebenen Wahrnehmungskonstanten an. Welche Herausforderungen, welche Un-Bestimmtheiten können wir für die Konzeption des Autonomen anführen? Sie vertritt die Un-Bestimmtheit zwischen Alltag und Besonderheit; die Un-Bestimmtheit zwischen Präsenz und Repräsentation; die Un-Bestimmtheit zwischen subjektiver Interpretation und objektivem Sein des Werkes. Nach Boris Groys (*1947) ist »der Ausnahmezustand [...] ein Versuch, diese Grenze zu vergessen, sie auszulöschen und in diesem Sinne einen Bruch in Bezug auf diese Unterscheidung einzuführen.« In diesem Zustand »haben [wir] keine Rituale, keine Zeichen, keine Insti54 | Der französische Begriff für Ausnahmezustand lautet ›état de siège‹; die Doppelbedeutung von état = Staat / Zustand legt die Übernahme auf andere Lebensbereiche nahe. In seinem Ursprung der Rechtsphilosophie entstammend, bezeichnet der ›Ausnahmezustand‹ eine Situation, in der die Existenz eines Staates bedroht ist. Carl Schmitt (1888-1985) führt in seiner Schrift zur Politischen Theologie (1922) aus, souverän sei derjenige, der über den Ausnahmezustand entscheidet (Carl Schmitt: Politische Theologie – Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. München/Leipzig 1922. S.11.) Hierin zeigt sich für Schmitt auch die unreduzierbare Differenz von Staat und Recht, da im Ausnahmezustand der Staat (als übergeordnetes Ganzes) bestehen bleibt, während das Recht (des Einzelnen) zurücktritt – eben damit der Staat bestehen bleibe. Giorgio Agamben meint dazu: »In Wahrheit steht der Ausnahmezustand weder außerhalb der Rechtsordnung, noch ist er ihr immanent, und das Problem seiner Definition betrifft genau die Schwelle oder eine Zone der Unbestimmtheit, in der innen und außen einander nicht ausschließen, sondern sich un-bestimmen. Die Suspen dierung der Norm bedeutet nicht ihre Abschaffung, und die Zone der Anomie, die sie einrichtet, ist nicht ohne Bezug zur Rechtsordnung.« Giorgio Agamben. Ausnahmezustand. Frankfurt/Main 2004. S.33
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tutionen, keine Ordnungen, die uns daran erinnern, denn sie sind alle aufgehoben und suspendiert.«55 Der Inhalt der klassischen Kunst liegt in ihrem Insichstehen; der Inhalt der symbolischen Kunst liegt in ihrer verweisenden Repräsentation. Aus dieser von Grund auf gegebenen Zurückstufung in ihrem eigentlichen Sein hat sie seit jeher für eine eigene Präsenz gekämpft, die sie erst mit der Moderne für sich erreicht zu haben glaubt. In der Bildenden Kunst bezeichnet der »ästhetische Ausnahmezustand« damit die Besonderheit der Autonomie des Werkes. War dieses ehemals bestimmt durch den Modus der verweisenden Repräsentation, durch handwerkliche Perfektion oder durch ästhetische Besonderheit, so gibt es heute keine verlässlicheren Parameter der Festlegung und Feststellung dieses Ausnahmezustandes ›Kunstwerk‹ als die subjektive Interpretation. Allein in dieser Interpretation liegt der Schlüssel zum Werk, somit ist es auch die Interpretation, welche uns die notwendige Souveränität im ästhetischen Ausnahmezustand verleiht. Im Gegensatz zur Bildenden Kunst zeichnet sich Architektur in ihrem Ursprung durch Präsenz aus, also durch die Empfänglichkeit ihres Selbst in ihrer lebensweltlichen Darstellung. Erst mit der Identität des Ähnlichen hat die verweisende Referenz in die Architektur Einzug gehalten. Seit dem Aufbrechen der einstigen Identität des Selben in die darauffolgenden Identitäten von Architektur birgt die Baukunst nun beides in sich: Präsenz und Repräsentation. Die Frage nach dem Souverän in der Wahrnehmung von Architektur ist daher notwendig anders gelagert als beim Kunstwerk: sie liegt nicht im interpretari, im Interpretiert-Werden, sie liegt vielmehr im Durchscheinen-Lassen ihres ›Identischen‹. Architektur muss sich gerade aufgrund ihrer verstandesbezogenen Erkenntnis, aufgrund ihrer Verpflichtung in Gesellschaft, Geschichte und Gebrauch, auf die adaequatio rei et intellectus beziehen, um überhaupt als Bauwerk gemäß ihrem Wesen gelesen werden zu können. Für die Architektur gilt also auch in ihrer Lesart des Autonomen, dass sie den ästhetischen Ausnahmezustand nur soweit eröffnen darf, wie sie noch die Souveränität des Betrachters oder Nutzers gewährleisten kann. Das aber setzt voraus, dass wir notwendig zwischen dem Ausnahmezustand im ›Erscheinen‹ von Architektur und dem Ausnahmezustand im ›Verstehen‹ von Architektur differenzieren: der Ausnahmezustand des Erscheinens bedeutet ästhetische Lautstärke, 55 | Boris Groys. Strategien der Repräsentation #4. 15_11_01. Aus: www.solaris. hfg-karlsruhe.de/hfg/inhalt/de/Lehrende/1017 (Mar 2005)
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Fremdheit, Kontextnegation; der Ausnahmezustand des Verstehens bedeutet Hintergründigkeit, Doppeldeutigkeit, Bilderstreit. Nicht in seinem Erscheinen soll das architektonische Werk autonome ›Differenz‹ zeigen, sondern in seinem Verstehen ›Autonomie als Differenz‹ offenbaren. Das Werk soll nicht durch metaphorische Fremdheit seiner Form den ästhetischen Ausnahmezustand der Wahrnehmung auslösen, sondern diesen durch Autonomie hinter dem Offensichtlichen erlebbar machen. Würden alle Werke für autonom erklärt, dann würde der ästhetische Ausnahmezustand zum Allgemeingut werden – das wäre gleichbedeutend mit Anarchie, oder in den Worten Lyotards: mit »An-Ästhesie«56, mit Null-Reiz. Kommen wir nochmals auf die Differenz der Wahrnehmung zwischen Bild und Lebenswelt zu sprechen, zwischen Bildender Kunst und Architektur. Gerade die Bildwahrnehmung und die Frage, was diese (besondere) Wahrnehmung denn in uns Betrachtern auslöst, hat die Phänomenologie seit jeher beschäftigt. Doch die menschliche Wahrnehmung eines Bildes zeichnet sich dadurch aus, dass sich der Betrachter in ein Bild eben nicht »verstrickt«: bei der Betrachtung eines Bildes kann ich »etwas sehen, ohne deshalb durch meinen Wahrnehmungszustand mit dem Wahrgenommenen kausal verstrickt zu werden.«57 Die Narrativität eines Bildes bleibt außerhalb meiner lebensbezogenen Wahrnehmung. Die Auffassung eines klassischen Tafelbildes als »Fenster«58 zur Welt kann nur als eine Umschreibung im Sinne des zugrundeliegenden Motivs der Ähnlichkeit oder Metapher aufgefasst werden – nicht im Sinne eines ernstzunehmenden trompe-l’oeil-Effektes: lebensweltliche Wahrnehmung zwingt zur Anteilnahme, in der Wahrnehmung eines Bildes löst sich diese Partizipationspflicht auf. Umgekehrt muss man damit auch die oft gelesene Feststellung in Zweifel ziehen, dass Mies van der Rohes Barcelona Pavillon (1929) einen ausgeprägten »Bildcharakter« habe, da »durch die großen Fenster hindurch [...] die Natur zu einem distanzierten Schauspiel« werde, ja dass sie hier »gleichsam zu einem Stillleben, zur nature morte«59 erstarre. Auch hier gilt: lebensweltliche Wahrnehmung, zu der die Wahrnehmung von Architektur immer zählt, ist als anthropologische Konstante gegeben, weil sie ihren Ursprung dem Menschen das Überleben sichert. Auch die Differenz 56 | Lyotard. Anima Minima (wie Anm. 47). S.208. 57 | Lambert Wiesing. Das Mich der Wahrnehmung. Frankfurt/Main 2009. S.213. 58 | Vgl. Foucault. Die Malerei von Manet (wie Anm. 27). 59 | Jörg H. Gleiter. Architekturtheorie heute. Bielefeld 2008. S.49.
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der Wahrnehmung von Bild oder Raum folgt einer solchen Konstanz. Nur »beim Bild wird der Betrachter durch die Art der Wahrnehmung [...] zu einem unbeteiligten Zuschauer – unabhängig davon, ob er dies sein will oder nicht.«60 Die Bildwahrnehmung ist damit die erste und ursprünglichste Form »ästhetischer Distanz«, die den logos auffordert, das Gesehene zu differenzieren. Die Wahrnehmung von Architektur dagegen bleibt eine Wahrnehmung der eigenen Teilhabe: »Die Welt lässt sich zwar als Bild anschauen – sie ist aber keines. [...] Eine Entrückung aus dem Kausalverkehr der Dinge in eine wirklich unbedingte Position der [...] absoluten Distanz ist ausschließlich dem Betrachter eines Bildes vergönnt.«61 Das einzelne Bild unserer Wahrnehmung mündet in der Wahrnehmung von Architektur immer in die Ganzheit des ›Umweltlichen‹ von Architektur, und dieses ›Umweltliche‹ schiebt sich vor ihre Auffassung als Bild. Das ist die Voraussetzung, in welcher der Betrachter dem ästhetischen Ausnahmezustand der Identität des Autonomen in Abhängigkeit von seiner eigenen Souveränität begegnet.
Aura und Authentizität Das Gestalten im Modus des Autonomen birgt in sich das Potential, im Betrachter etwas anzuregen, ihn in dem Ausnahmezustand des ›Als-ob‹ in ein Erlebnis einzubinden. Dieses Erlebnis umschreibt Walter Benjamin (1892-1940) mit dem Begriff der Aura, in welchem bereits in vormythischer Zeit die besondere Erscheinung eines Objektes aufgefasst wurde. Benjamin bringt mit dem Begriff der Aura die Bedeutung des Kultes in den Diskurs der modernen Kunst ein, um damit ein zentrales Charakteristikum des modernen Kunstwerkes zu bestimmen: in dem Gewahrwerden der Aura differenziert sich ein Werk von seinen technischen Reproduktionen. Das Auratische an einem Werk macht es damit quasi unabhängig von den geläufigen Sichtweisen, von seinem Eingebundensein in die bestimmenden Faktoren der Identität – Geschichte, Gesellschaft, Gebrauch. Die Aura stützt den Ausnahmezustand eines Werkes. Den Begriff der Aura definiert Benjamin »als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nahe sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend 60 | Wiesing. Das Mich der Wahrnehmung (wie Anm. 57). S.217. 61 | Ebd. S.218.
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einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.«62 Aura, das geht aus diesem so ganz lebensweltlichen Beispiel Benjamins hervor, ist ein Dazwischen von anschauendem Subjekt und dem Objekt der Anschauung. Zwar wird der Betrachtende von der Aura berührt, doch geht sie vom Objekt aus. In der Beschreibung des Naturerlebnisses erscheint das Phänomen der Aura nahe dem Kantischen Erhabenen, doch anders als das Erhabene, welches Kant auf das Naturschöne bezieht, betrifft der Begriff der Aura ein Objekt in der Paradoxie seiner Ferne so nahe sie sein mag. Ihr »Ferngerücktsein [...] ist rudimentäres Modell der Distanzierung von den Naturgegenständen als potentiellen Mitteln zu praktischen Zwecken.«63 Die Aura markiert die Schranke zwischen dem Objekt selbst und dem zweckorientierten Denken des Subjektes. Hier gilt nicht mehr die Frage: wofür kann mit das Ding dienen? – hier geht es um die Frage: Was löst der Anblick des Objektes in mir aus? Aura wird damit zum festen Bestandteil einer Identität des Autonomen: ein Werk wird autonom, eben weil es trotz seiner Nähe nicht greifbar ist. Die »Ferne, so nahe sie sein mag«, entsteht aus der Unbegreifbarkeit, aus dem Nichthandhabbarwerden eines Dinges oder Phänomens. Dieses auratische Erleben hat nach Benjamin seinen Ursprung in der »Formulierung des Kultwerts des Kunstwerks in Kategorien der raum-zeitlichen Wahrnehmung.«64 Die Aura entstammt also ursprünglich dem Kult, dem Dienst im Ritual der vormythischen Magie, später im religiösen Amt. »Es ist nun von entscheidender Bedeutung, dass diese auratische Daseinsweise des Kunstwerks niemals durchaus von seiner Ritualfunktion sich löst. [...] Der einzige Wert des echten Kunstwerks hat seine Fundierung im Ritual, in dem es seinen ersten und originären Gebrauchswert hatte«65 – und der Gebrauchswert im Ritual widersetzt sich wesentlich dem lebensweltlichen Gebrauch eines Dinges. Mit der Säkularisierung der Kunst tritt nun der Begriff der Authentizität an die Stelle des Kultwertes – dem Objekt selbst haftet noch immer diejenige Eigenschaft an, die wir aus dem Kultdienst kennen. Der Wandel, den die Aufklärung durch die Säkularisierung mit sich gebracht 62 | Walter Benjamin. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936). Frankfurt/Main 1963. S.15. 63 | Adorno. Ästhetische Theorie (wie Anm. 18). S.409. 64 | Benjamin. Das Kunstwerk (wie Anm. 62). S.16. Fußnote. 65 | Ebd. S.16. Hervorhebung im Original.
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hat, übt also auf die auratische Wirkung eines Werkes nur bedingt Einfluss aus. Wie wir diese Wirkung nennen, ob Kult oder Aura, ist dabei zweitrangig; wesentlich ist, dass die begrifflose, sphärische Bezugnahme des Werkes auf den Menschen diesen seit jeher begleitet. Und auch die Authentizität, nachaufklärerischer Ersatzbegriff der Aura, ist als Wechselwirkung zwischen Werk und Betrachter aufzufassen – Authentizität ist ein »Akt der Identifikation: in die Sache eingehen, mitvollziehen, wie Benjamin sagt: ›die Aura atmen‹.«66 Haben wir das Erhabene als ein Gefühl des Subjektes gegenüber einem bestimmten Phänomen bestimmt, so können wir Aura oder Authentizität als dessen Äquivalent auf Seiten des Werkes selbst bezeichnen – sie sind Platzhalter des Unbegreiflichen und Un-Begrifflichen. Adorno nennt sie das Magische: »Was hier Aura heißt, ist der künstlerischen Erfahrung vertraut unter dem Namen der Atmosphäre des Kunstwerkes«, also dem, »wodurch der Zusammenhang seiner Momente über diese hinausweist, und jedes einzelne Moment über sich hinausweisen lässt.«67 Es ist der Gegensatz von greifbar Dinghaftem und ephemer Flüchtigem, der die Aura ausmacht und sie bestimmt. Aura könnte man als einen ›Schein‹ auffassen, der vom Werk ausgeht, und den es zu »atmen« gilt: »nicht muss der Betrachter, was in ihm vorgeht, aufs Kunstwerk projizieren, um darin sich bestätigt, überhöht, befriedigt zu finden, sondern muss umgekehrt zum Kunstwerk sich entäußern, ihm sich gleichmachen, es von sich aus vollziehen.«68 Mit dem Begriff der Aura können wir für die architektonische Identität des Autonomen eine Quelle des Denkens bestimmen, in der sich das Werk eben nicht vom Dienen-für-den-Menschen her erschließt, sondern von seinem Über-sich-selbst-Hinausweisen. Die scheinbare Freiheit der Autonomie darf aber auch im Begriff der Aura nicht als Freibrief des architektonischen Gestaltens missverstanden werden. Denn ihre »Ferne« ist ja »so nahe« – sie bedarf der Bindung an das ›Identische‹, um sich in ihrem Ausnahmezustand dem Verstehen öffnen zu können. Betrachten wir unter dem Gesichtspunkt der Aura erneut das Farnsworth House. Ein Haus wie dieses, welches den Weg der auratischen Emanation hin zum Kultobjekt gegangen ist, will nicht allein dem Behausen dienen, es will das Haus-Sein selbst zelebrieren. In der gleichermaßen verkörperten 66 | Adorno. Ästhetische Theorie (wie Anm. 18). S.409. 67 | Ebd. S.408. 68 | Ebd.
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Abkehr vom Begriff wie auch vom Gebrauch, kommt es zur Deckung von Aura und Erhabenem. Wenn aber die Bauherrin Edith Farnsworth über ihr Haus sagt: »Ich wollte etwas ›Bedeutungsvolles‹ haben, und alles was ich bekam, war diese glatte, oberflächliche Sophisterei«69, dann zeugt dieser Ausspruch vielleicht am eindringlichsten von dem, was die Identität des Autonomen in einem Werk nicht mehr zu leisten vermag: Bedeutung als einen allgemein gültigen Wert des »Bedeutungsvollen« zu transportieren, der sich unabhängig vom Inhalt nachvollziehbar und objektiv am Werk zeigt. Diesen wunderbar eklatanten Widerspruch zwischen Bauherrin und Architekten kann man nur als Widerstreit in den Diskursebenen um das Haus selbst bezeichnen: seine dienende und seine bedeutende Funktion kommen im Farnsworth House nicht überein. Bedeutung erlangt das Objekt nur mehr in seinem auratischen »Ferngerücktsein«: es verweigert sich seiner Vereinnahmung »zu praktischen Zwecken«70; seine Bedeutung erschließt sich nur über die je eigene Souveränität des Betrachters oder Nutzers, in der dieser mit dem gebauten Ausnahmezustand umzugehen versteht – unter der Gefahr, das »Ferngerücktsein« des Hauses durch den alltäglichen Gebrauch zu banalisieren und damit aufzuheben.
Funktion und Wissen Das Wesen der Aufklärung ist beheimatet in der Ratio. Das Gefühl des Erhabenen ist das Ventil des Subjektes im Sinnhaften. Aura und Authentizität sind seine Verwandten. Doch mit der instrumentellen Ausrichtung der rationalen Denkweise zergliedert sich das ›Identische‹ auch in der Lebenswelt immer weiter in seine Einzelteile. Wenn Kant in der »Vorstellung von dem möglichen Einkommen die Ursache der Erbauung des Hauses«71 sieht, dann zeichnet sich darin die Unterwerfung des Hausbaus unter die »Vernunftidee« von Einkommen ab, unter Separierung seiner »ästhetischen Idee«. Zerrissenheit und Entfremdung vom anthropologischen Ursprung des Hauses im Behausen finden darin ihren Ausdruck. Wie aber kann die Architektur der aufgeklärten Moderne darauf reagieren? »Die Modernisierung brachte es mit sich, dass die Architektur nur dann 69 | Sidney LeBlanc. Moderne Architektur in Amerika. Stuttgart 1998. S.88. 70 | Adorno. Ästhetische Theorie (wie Anm. 18). S.409. 71 | Kant. Kritik der Urteilskraft (wie Anm. 6). §65. S.320.
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ihren Status als Wissenschaft behalten durfte, wenn sie ihn im Sinne eines Szientismus zu präzisieren verstand. [...] Entwürfe mussten sich direkt aus objektivierbaren Verfahren ableiten und an die Gesetze der ›reinen Konstruktion‹ halten, damit das Reich der subjektiven Entscheidungen [also der »ästhetischen Idee«] eingedämmt und sukzessive durch funktionale, statische und produktionstechnische Fakten ersetzt werden konnte. Auf diese Weise wurde die einst so stolze Universalwissenschaft Architektur zu einer technischen Handlungswissenschaft herabgewürdigt.«72 Zum wesentlichsten Kriterium wird das auf den Menschen bezogene Dienen eines Dinges, seine Funktion. Doch – und das wird gerne übersehen, weil das Schlagwort des form follows function noch immer kaum an rhetorischer Schlagkraft eingebüßt hat – die Funktion ist nicht primär an eine Form gebunden: Adorno sagt, »keine Form ist gänzlich aus ihrem Zweck geschöpft«73, und nach Eisenman gibt es »keine einzige Form für irgendeine Funktion, da keine einzige Funktion mehr kann als eine spezifische Form zu suggerieren (und nicht zu determinieren).«74 Denn es fehlt der spezifische Mittler zwischen der (auf den Menschen bezogenen) Funktion und der (auf die Ganzheit des Werkes zielenden) Form, so wie früher die mimesis der Mittler zwischen poiesis und aisthesis war.75 Der Weg, den die Ratio in dem hier angedeuteten Fehlen der Korrespondenz von Form und Funktion einschlägt, liegt auch hier in seinem Umweg über dessen Äquivalent der Metapher, das ›Als-ob‹. Das Als-ob vermag das Gesetz der Ratio in jenen Disziplinen aufrechtzuhalten, die der negativen Darstellung einer formlosen Rationalität nicht zu folgen vermögen (für diese hat die Naturwissenschaft ihre Darstellung in vereinfachenden Modellen gefunden). Über die instrumentelle Vernunft vermag die Metapher in der Architektur ihren Ausdruck zu finden – ja, sie macht, da sie ursächlich der ästhetischen Debatte der Kunst entstammt, die autonom gewordene Kunst in ihrer formalen Aus72 | Gerd de Bruyn. Die enzyklopädische Architektur. Bielefeld 2008. S.10f. 73 | Theodor W. Adorno. Funktionalismus heute (1965). In: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. Frankfurt/Main 1967. S.104-127. Hier: S.108. 74 | Peter Eisenman. Die formale Grundlegung der modernen Architektur (1963). Zürich 2005. S.77. Hervorhebung im Text: TS. 75 | Jacques Ranciére: »Die Schönen Künste heißen so, weil die Gesetze der Mimesis dabei ein geordnetes Verhältnis zwischen einer Art des Machens – einer Poiesis – und einer Art des Seins – einer Aisthesis –, die von ihr beeinflusst ist, definieren.« In: Ders. Das Unbehagen in der Ästhetik (wie Anm. 53). S.17.
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drucksweise der Abstraktion nun zu einer formalen Wegbereiterin auch der Gestaltung der Architektur. »Das Rationale wurde zur normativen und ästhetischen Basis der modernen Architektur. Und die repräsentative Aufgabe der Architektur in einem Zeitalter der Vernunft war die Darstellung ihrer eigenen Methode des Wissens.«76 Damit liegt die Aufgabe der Architektur nicht mehr in dem schlichten, anthropologisch selbstbegründeten Überwinden der Natur, sondern in der metaphorischen Bezugnahme der Darstellung des Wissens in eine gebaute Form: »Der zum Wissen führende Prozess – Messungen, logische Beweise, Kausalität – stellte sich als ein Netzwerk normativer Argumente heraus, als wirkungsvolle Form der Überredungskunst.«77 Diese rationalistische Ausformulierung der Identität des Autonomen ist damit aber nur noch eine Abwandlung der Identität des Ähnlichen, die nun ihre Ähnlichkeit aus architekturfremden Quellen oder abstrakten Vorbildern bezieht. Nachdem Architektur zur Form kommen muss, sich diese aber nicht allein aus ›Wissen‹ heraus ableiten lässt, kommt es zu den uns bekannten architektonischen Konkretionen, die allesamt auf architekturfremden Metaphern beruhen: die Siedlung als ›Eisenbahndepot‹ (Dammerstock), das Haus als ›Maschine‹ (Unité d’habitation), die Küche als ›Labor‹ (Frankfurter Küche), der Stuhl als ›Farb-Komposition‹ (Red-and-blue-chair). Ihre Umsetzung folgt jeweils einem fremden Begriff, der notwendig ein fremdes Bild nach sich ziehen muss. Der begrifflichen Metapher unterliegt, analog zur Lyrik, aus der die Metapher als Stilmittel entstammt, eine Zielsetzung in ihrem Ausdruck, die statt Umschreibung reine Ratio vertritt: das Äquivalent zur ehemals bestehenden Bedeutung von Schönheit im Bauen finden wir nun im Bauen als einer Methode des Wissens. Diese Methode ist notwendig autonom von jeder vorgefassten Bedeutung eines Objektes, wie sie Geschichte, Typus, Gesellschaft mit sich bringen. Qualität von Architektur misst sich darin nicht mehr an der Ganzheit von Architektur, ihrem Voraussetzenden im ›Identischen‹, für das es keinen gemeinsamen Nenner mehr gibt, sie misst sich nicht mehr primär am Bildlichen der Architektur, nicht am ihrem Dinglichen; Qualität von Architektur misst sich hier am quantitativ Messbaren, zu dem Ertrag wie auch Funktion zählen, jeweils geprägt von ihrem rational festschreibenden Begriff. 76 | Peter Eisenman. Das Ende des Klassischen: Das Ende des Anfangs, Das Ende des Ziels (1987). In: Ders. Aura und Exzess. Wien 1995. S.65-87. Hier: S.71. 77 | Ebd. S.72.
Die Identität des Anderen
»Sich der Präsenz zu nähern, ohne auf die Mittel der Darstellung zu rekurrieren.« J EAN -FRANÇOIS L YOTARD. N ACH DEM E RHABENEN , Z USTAND DER Ä STHETIK .1
Bevor wir nun der letzten der Vier zentralen Konzeptionen der Identität von Architektur nachgehen wollen, möchte ich versuchen, den bisherigen Wandel in den Paradigmen der architektonischen Gestaltung zusammenzufassen, um eine vorläufige Schrittfolge im Sein eines architektonischen Werkes auszumachen: In seiner Identität des Selben zeigt sich das Werk als Bezugnahme auf die Naturgesetzlichkeit des Dinglichen von Architektur ohne darüber hinausgehenden Ausdruckswillen. In seiner Identität des Ähnlichen zeigt es sich als Bezugnahme auf die Zeichenfunktion des Bildlichen von Architektur mit der Intention einer über das Dargestellte hinausgehenden Bedeutung oder Botschaft. In seiner Identität des Autonomen zeigt sich das Werk als Bezugnahme auf das Begriffliche von Architektur im ›Als-ob‹, in der Hinwendung zum Subjekt und dessen metaphorischer Interpretation unter Auflösung der gesellschaftlichen Festschreibung von Zeichen und Bedeutung. Der Versuch einer zusammenfassenden Differenzierung der Konzeptionen der Identität von Architektur von der Antike zur Moderne deutet eine Sichtweise an, die den verbreiteten Stilparadigmen in ihrem vordergründigen Formbezug entgegensteht. Die Konzeptionen der Identität von Architektur sollen uns ermöglichen, ein Werk je in Relation zu seiner Geisteshaltung zu betrachten. Wenn wir also davon ausgehen, dass jedes Gestalten 1 | Jean-François Lyotard. Nach dem Erhabenen, Zustand der Ästhetik (1987). In: Ders. Das Inhumane. Wien 2001. S.157-165. Hier: S.161.
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nur so weit gehen kann, wie es das Denken einer Geistesepoche zulässt, so ist Gestaltung ein sich je erweiternder Prozess, den wir heute als Ausdruck von Gleichzeitigkeit und Synchronizität innerhalb unserer pluralistischen Gesellschaft fassen können. Denn unbenommen sind alle hier angesprochenen Identitätskonzepte von Architektur heute aktuell. Wie sonst mag die Identität des Selben, die in der Antike ihren Ausgang nimmt, auch noch im zwanzigsten Jahrhundert Verkörperungen ihrer selbst erfahren, ohne sich dabei auf formale Ähnlichkeit zur Antike zu berufen? Greifen wir also im Übergang zu der ›Identität des Anderen‹ nochmals den Leitgedanken auf, den wir bislang für die Konzeptionen der Identität von Architektur gesponnen haben. Architektur ist für den Menschen beheimatet im Wechselspiel von Begrifflichem, Bildlichem und Dinglichem. Aus dieser Relation bezieht das Werk seine intendierte Bedeutung, die im ›Dazwischen‹ von Ding, Bild und Begriff liegt, und die für die Ausrichtung des Werkes in Richtung Sein oder Ausdruck verantwortlich ist. Während in der ›Identität des Selben‹ das Sein im Vordergrund steht, in der ›Identität des Ähnlichen‹ dagegen der Ausdruck das Werk ausmacht, sorgt das Streben nach dem ›Autonomen‹ und dessen intendierte Verkörperung im Erhabenen für ein widersprüchliches Moment in der Architektur. Denn wie soll das Vorstellungsvermögen etwas zur architektonischen Gestalt bringen, was seinerseits nicht Gestalt werden, sondern sich der begreifbaren Darstellung entziehen will? Wie soll es darin eine Bedeutung aufbauen? »Das Erhabene ist kein Gefühl der Lust, sondern eine Mischung aus Lust und Unlust. Es gelingt nicht, das Absolute darzustellen – darin liegt die Unlust; doch man weiß, dass es dargestellt werden muss und dass das Vermögen der Empfindungen oder der Bilder über das Sinnlich-Wahrnehmbare (das Bild) das darzustellen hat, was die Vernunft begreifen kann.«2 Die Crux der ›Identität des Autonomen‹ liegt damit darin, dass sie das ›Identische‹ durch Autonomie ihrer selbst überwinden will, dabei aber in ihrer intendierten Abschaffung der Gewissheiten noch immer dem ›Identischen‹ in einer negativen Ästhetik verpflichtet bleibt. Denn das scheinbar autonom gesetzte Werk kann durch die eigenen Parameter des ›Identischen‹ erklärt, umformuliert und so aus seinem Unverständnis heraus ›übersetzt‹ werden. Das aber bedeutet das Ende jeder tatsächlichen Autonomie. Mit anderen Worten: die modernistische ›Identität des Autonomen‹ erreicht im 2 | Jean-François Lyotard. Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit (1982). In: Ders. Das Inhumane. Wien 1989. S.139-149. Hier: S.146f.
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Ergebnis das Autonome nicht, sie sucht allein durch ihre Fassung im ›Alsob‹ das Bestehende zu verfremden. Doch trennt sie damit, was lebensweltlich zusammengehört – und darauf reagiert der Betrachter nicht mit dem Gefühl des Erhabenen, sondern mit dem Versuch einer Rück-Übersetzung in die Kategorien klassischer Kunst. Bedeutung als allgemeingültige Botschaft hinter der Darstellung hat dabei ausgedient. Schönheit ist als gesellschaftlich abgestimmter Wert mit dem Kantischen Auftrag zur Mündigkeit des Menschen aufgelöst, sie ist dem je subjektiven Geschmack des Einzelnen überantwortet. Damit aber hat sich die Gesellschaft einer ihrer Grundpfeiler beschnitten: dem Äquivalent von Moral im Schönen. Was einst die Moral begrifflich forderte, zeigte das Schöne als Abbild. Nicht Schönheit in ihrer Funktion als Erbauung und Ablenkung steht hier im Blickpunkt, sondern die gesellschaftliche Bedeutung von Schönheit als Äquivalent zur ethisch-moralischen Verfassung einer Gesellschaft. Was wird zum Ziel von Gestaltung, wenn das Schöne obsolet geworden ist? Zum Inhalt wird infolge der Unfähigkeit einer autonomen Lebenswelt die Frage nach Sinn und Bedeutung an sich, unabhängig vom Schönen.3 3 | Die Auflösung der Bindung von Moral und Gestaltung verdeutlicht sich nirgends so dramatisch wie in den Gestaltprämissen der Nationalsozialisten, die der Intention einer »autonomen Kunst« mit dem Begriff der »entarteten Kunst« gegenübertreten, und ihrerseits mit ihren Auftragswerken für Kunst und Architektur eine Welt aufzubauen suchen, deren Formensprache auf immer kontaminiert ist. Wo ein Volk ein anderes Volk systematisch ausrottet, wo es diesen Genozid unter die Sprache des Funktionierens und unter die Form einer alltäglichen Architektur stellt, wo es die Begriffe ihrem eigentlichen Wesen gegenüber aushebelt, ist ›Bedeutung‹, basierend auf Zeichen und Begriffen, grundlegend in Frage gestellt. Sinn und Bedeutung eines jeden Diskurses haben sich von hier an in einem anderen Licht zu zeigen; auch das ›Erhabene‹ erhält durch Auschwitz eine Wendung, welche das beispiellose Phänomen einer durchorganisierten Tötungsmaschinerie als unbegreiflich einbezieht. Adorno fragt, ob man nach Auschwitz noch fähig sei, ein Gedicht zu schreiben. Und auch Lyotard stellt sein philosophisches Hauptwerk, den Widerstreit, unter das Gedankenkonstrukt von Auschwitz: »In der Folge von Theodor Adorno habe ich den Namen ›Auschwitz‹ verwendet, um deutlich zu machen, wie inkonsistent die Materie der jüngeren abendländischen Geschichte hinsichtlich des ›modernen‹ Projekts der Emanzipation der Menschheit erscheint.« Jean-François Lyotard. Notizen über die Bedeutung von »post« (1985). In: Postmoderne für Kinder. Wien 1987. S.99-105. Hier: S.102.
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Dies ist der Status quo, der die Kunstphilosophie der Nach-Moderne prägt. In ihrer Befragung der Ästhetik verlangt sie nun nach einer grundlegenden Positionsbestimmung zwischen Betrachter und Werk. Den dargestellten tradierten Übersetzungsmodellen steht sie ablehnend gegenüber: Warum soll ein Werk auf Repräsentationszusammenhänge verweisen, damit es zeichenhaft oder symbolisch zu lesen sei? Warum überhaupt soll ein Werk aus dem Bildkontext in einen Begriffskontext übersetzt und damit verständlich gemacht werden? Die philosophische Postmoderne will das Werk von solchen Begründungskontexten außerhalb seiner selbst freimachen, damit es wahrhaft es selbst sein kann. Nicht Harmonie, nicht Schönheit, aber auch nicht Autonomie macht damit in der Auffassung Lyotards den Wert großer Kunst aus – sondern die Thematisierung der allgegenwärtigen Präsenz des Menschen zwischen Sein und Nichts. Und doch bedarf auch das Nichtdarstellbare einer Darstellung – in diesem »Unbeschriebenen«, in diesem »blank«4 liegt der innere Gegensatz, aus dem heraus Lyotard seine Ästhetik nach dem Erhabenen entfaltet. Das Werk befragt darin die Möglichkeiten zwischen Repräsentation und Präsenz: es soll dasjenige sein, das nicht nur darstellt, sondern ist. Diese Darstellung mag damit auch das ›Undarstellbare‹ sein oder die ›Nicht-Darstellung‹ thematisieren. Es übersetzt nicht das Erhabene, sondern lotet in seinem Werksein die Grenzen seiner selbst aus. Ist es nun unangemessen zu behaupten, die Identität der Autonomie habe die Gestaltung der architektonischen Lebenswelt in eine Sackgasse geführt? Zumindest stellt sich die Frage, inwieweit Kants Ästhetik von seinen philosophischen Nachfolgern aber auch vom Publikum eingelöst wird. Denn es offenbart sich in der Kantischen Geschmacksantinomie ein nicht unauflösbares Paradoxon: lässt sich über Geschmack streiten oder nicht? Gibt es eine Einheit der Dinge in ihrem Erscheinen, und gibt es eine Abstimmung über deren Wirkung? Lyotard wird zweihundert Jahre nach Kant ausführen, dass es gerade die uneindeutige Differenz des Streiten-Könnens über die Erscheinung der Dinge ist, die den eigentlichen Wert der Kantischen Ästhetik als Analytik des Erhabenen ausmacht. Kann aber die daraus folgende Differenz der Uneindeutigkeit ein schlüssiger Inhalt einer Ästhetik sein, die ihrem Wesen nach doch nach Verkörperung sucht?
4 | Jean-François Lyotard. Anima minima (1993). In: Ders. Postmoderne Moralitäten. Wien 1998. S.201-213. Hier: S.208f.
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Ist es nicht eher so, dass Kant in Bezug auf die angesprochene Geschmacksantinomie »den Menschen vielleicht zu gut gedacht«5 hat, ja womöglich überfordert hat? Denn Kants Aufforderung an das aufgeklärte Individuum, aus seiner »selbstverschuldeten Unmündigkeit« auszubrechen, um sich so in der Welt eine neue, moderne Orientierung zu ermöglichen, macht auch vor der Praxis der ästhetischen Wahrnehmung nicht halt – auch und gerade hier will der Mensch verstandesgemäß erkennen, will er verstehen. Und was macht Kant in seiner Kritik der Urteilskraft? Er setzt die wissende Mündigkeit des vernunftbegabten Menschen aus, zugunsten einer anderen Erfahrung, die der Welt des Verstehens übergeordnet ist, begrifflos ist: das Schöne und das Erhabene, welche je über den subjektiven Geschmack, nicht aber über die Gesetze der Logik zu vermitteln sind, und worauf der Einzelne dennoch mit seinen Mitteln der Logik reagiert. Die Nachfolge von Kant hat schon bald erkannt, dass die vorherrschende Subjektbezogenheit, die in Kants dritter Kritik aufscheint und die nachfolgenden ästhetischen Auseinandersetzungen wie keine andere geprägt hat, nicht ohne Verluste im gesellschaftlichen Wertesystem umzusetzen ist. Verluste vor allem in Bezug auf die Stellung des einzelnen Menschen gegenüber einer menschlichen Gemeinschaftsdenken, als das wir den Gemeinsinn eines Volkes ansehen können, wie auch einer übermenschlichen Obrigkeit – gegenüber Gott. Wird Ästhetik damit zur Ersatzreligion?
D IE S EELE IM E INFLUSS VON Ä STHE TISCHEM UND I DENTISCHEM Die Moderne im ›Widerstreit‹ der Diskursebenen Die Moderne, angetreten unter dem Banner einer subjektorientierten Bezugnahme auf das Individuum, hat ihren hohen Anspruch gerade gegenüber dem Einzelnen nicht einzulösen vermocht. Die Empfindung des Einzelnen, seine Seele – unausgesprochener Mittelpunkt der Zielsetzungen im Diskurs um das Erhabene – wird von den konkreten architektonischen Formen der Moderne in ihrer abstrakt-rationalen Ausdrucksweise 5 | Konrad Paul Liessmann. Radikale Autonomie. Immanuel Kant und die Erfindung der modernen Ästhetik. In: Geschmacksache. www.freitag.de/2004/09/kultur.php (080319)
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allzu wenig angesprochen. Gehen wir daher dem unbestreitbaren Auseinanderklaffen von Anspruch und Ergebnis der Moderne ein wenig auf den Grund. Für Lyotard ist die Moderne »keine Epoche, sondern vielmehr ein Modus (das ist der lateinische Ursprung des Wortes) im Denken, im Ausdruck und in der Sensibilität. [...] Die Zerstörung der syntaktischen Architektur des klassischen Diskurses und die Einführung einer parataktischen Anordnung kurzer Sätze, aneinandergefügt durch das ›und‹, die elementarste aller Konjunktionen. [...] Denken und Handeln des 19. und 20. Jahrhunderts werden von einer Idee bestimmt (ich verstehe Idee im Kantischen Sinne). Diese Idee ist die Idee der Emanzipation.«6 Die Folge davon ist die Auflösung des ›klassischen Diskurses‹ durch den Diskurs im »Widerstreit«7, einem der beherrschenden Begriffe in Lyotards Philosophie. Wesentlich für jede diskursive Betrachtung ist die Aufmerksamkeit nicht nur dem Inhalt, sondern den gewählten Diskursebenen gegenüber: diese Diskursebenen müssen im Sinne einer Lösung zueinander in einer kohärenten Beziehung stehen. Die Moderne hat durch ihren Glauben an die »Meta-Erzählungen«8 viel dafür getan, dass Nicht-Kongruentes zueinander in Beziehung gebracht wird, dass die unterschiedlichsten Diskursarten heterogen nebeneinander gestellt werden, um für alle eine einheitliche Lösung zu finden – was aber nur im unlösbaren Widerstreit enden kann. Das Problem des Widerstreits besteht also darin, dass Aussagen, die nach unterschiedlichen Regelsystemen gebildet worden sind, nicht homogen ineinander übersetzt werden können. Wenn wir ästhetische Muster, die 6 | Aus: Jean-François Lyotard. Sendschreiben zu einer allgemeinen Geschichte. (1984). In: Ders. Postmoderne für Kinder. Wien 1987. S.38-56. Hier: S.39. 7 | Ein Widerstreit ist »ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt. Wendet man dennoch dieselbe Urteilsregel auf beide zugleich an, um ihren Widerstreit gleichsam als Rechtsstreit zu schlichten, so fügt man einer von ihnen Unrecht zu, einer zumindest und allen beiden, wenn keine diese Regel gelten lässt.« Lyotard. Der Widerstreit. München 1987. S.9. 8 | Nach Lyotard ist die frühe Moderne charakterisiert durch eine Vielzahl solcher »Meta-Erzählungen«: als solche kennen wir die Aufklärung (im Sinne einer ›Emanzipation der Menschheit‹), den Idealismus (im Sinne einer ›Teleologie des Geistes‹) oder den Kapitalismus (im Sinne von ›alle werden reicher werden‹). Siehe dazu : Jean-François Lyotard. Regeln und Paradoxa. (1983). In: Ders. Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens. Berlin 1986. S.97-107. Hier: S.98f.
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aus dem Kontext der Kunst stammen, auf einen anderen Bereich anzuwenden versuchen, z.B. die Architektur, so fügt man im Sinne des Widerstreits dem Wesen der Architektur »Unrecht zu«9, da die Regelanwendung zwar formal durchführbar erscheinen mag, doch nicht ›wesenskonform‹, nicht homogen sein kann, weil diese nicht den Regeln der beiden beteiligten heterogenen Diskursarten entspricht; der Regelverstoß basiert auf einer unzulässigen Anwendung der Meta-Erzählung Ästhetik. Die Kantische Ästhetik deutet Lyotard so als Ausdruck der Unvereinbarkeit, der »Inkommensurabilität der Wirklichkeit im Verhältnis zum Begriff.«10 Das begrifflich-bildliche Auseinanderfallen unserer alltäglichen Lebenswelt durch die Anwendung von instrumentellen oder allegorischen Metaphern zwingt uns angesichts der nicht mehr eindeutigen Regeln abermals zu einer metaphorischen Anwendung von Begriffen »als etwas, was von sich weg und über sich hinausweist auf eine Idee. Die Metapher ist nur ein weiterer Fall der klassisch-metaphysischen Opposition von konkretem Signifikanten und abstraktem Signifikat«11 . Die hierin sich darstellende Entfremdung vom einst ›identischen‹ Ursprung hat einen Keil der Unvereinbarkeit zwischen Lebenswelt und Vorstellungskraft des Einzelnen getrieben. »Der Widerstreit ist der instabile Zustand und der Moment der Sprache, in dem etwas, das in Sätze gebracht werden können muss, noch darauf wartet. [...] Was diesen Zustand anzeigt, nennt man normalerweise Gefühl. ›Man findet keine Worte‹ usw. Es bedarf einer angestrengten Suche, um die neuen [...] Sätze aufzuspüren, die dem Widerstreit, der sich im Gefühl zu erkennen gibt, Ausdruck verleihen können [...].«12 Dürfen wir also über die Frage nach der Schönheit der Lebenswelt streiten oder nicht? Die von Kant aufgebrachte Geschmacksantinomie wäre nach Lyotard ein Fall des Widerstreits, da sie zunächst der gemeinsamen diskursiven Basis im sensus communis entbehrt, die sie ehemals hatte. Die Forderung an die Ästhetik liegt demnach darin, eine gemeinsame reflexive Basis zu finden, auf der man sich über die Uneinigkeit verständigen kann. Das Ziel ist nicht, die Uneinigkeit zu aufzulösen – das Ziel ist der gemeinsame Umgang mit den Diskursunterschieden. Lyotards Philosophie des Wider9 | Lyotard. Der Widerstreit (wie Anm. 7). S.9. 10 | Jean-François Lyotard. Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? (1982). In: Ders. Postmoderne für Kinder. Wien 1987. S.11-31. Hier: S.25. 11 | Wolfgang Welsch. Vernunft. Frankfurt/Main 1995. S.257. 12 | Lyotard. Der Widerstreit (wie Anm. 7). S.33.
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streits handelt also vom Austragen der Diskursgegensätze, deren Sinn und Ziel nicht in der Lösung im Sinne des ›Identischen‹ zu finden sein kann, deren Sinn aber sehr wohl in der Wahrnehmung und in dem Bewusstsein gegenüber den Ursachen einer Uneinigkeit liegt, und damit in einer neuen Identität vor dem Hintergrund eines ursprünglichen ›Identischen‹: der Identität des Anderen. Was Lyotard vorschwebt, ist ein Verhältnis von Identität und Differenz. Diese andere, positive Un-unterscheidbarkeit lässt sich aber nur dann erreichen, wenn »jede emphatische Unmittelbarkeit getilgt und das Verhältnis von Identität und Differenz im Sinne bestimmter Verhältnisse neu durchdacht wird.«13 Was Lyotard für die diskursive Welt der Kommunikation herausgestellt hat, wollen wir später mit seiner Ästhetik für das Gebiet der Architektur untersuchen.
Die ›Différance‹ der Differenz Wenn die Werte innerhalb einer Gesellschaft nicht mehr eindeutig bestimmt werden können, weil der sensus communis nicht mehr greift, müssen wir danach fragen, wie Sinn und Bedeutung gesellschaftlich vermittelbar überhaupt noch hergestellt werden können. Jacques Derrida (1930-2004) kommt in diesem Kontext zur Befragung des traditionellen Sinns, um darauf aufbauend zu zeigen, dass Sinn und Bedeutung grundlegend nicht so homogen strukturiert sind, wie man bisher meinte. Derrida will uns die Heterogenität in der Betrachtung von Sinn und Bedeutung am Beispiel der ›Sprache‹ darlegen: Sprache ist gleichermaßen Sprechen wie auch Schrift. Mit dieser Differenzierung führt uns Derrida einen Unterschied vor Augen, den wir im Alltagsgebrauch gar nicht wahrnehmen. Der Unterschied macht aber deutlich, dass die Sprache selbst die unterschiedlichen Weisen unserer Wahrnehmung in Präsenz und in Repräsentation in sich birgt. Repräsentation bezeichnet in Derridas Diskurs das Wesen der Schriftsprache. Im Gegensatz dazu zeigt sich das Wesen der Präsenz von Sprache in der Stimme, im Sprechen. »Der Logos aber kann unendlich und sich selbst gegenwärtig nur sein, kann als Selbstaffektion sich nur ereignen durch die Stimme [...]: Sich-im-Reden-vernehmen. Sie 13 | Andreas Arndt. Dialektik und Reflexion. Zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffs. Hamburg 1994.S .341.
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erlebt und versteht sich als Ausschließung der Schrift, denn sie beruft sich nicht auf einen ›äußeren‹, ›sinnlichen‹, ›räumlichen‹, die Selbstpräsenz unterbrechenden Signifikanten.«14 Derrida geht es um eine andere Verfasstheit gegenüber dem scheinbar festgelegten und unantastbaren Sinn von Welt. Um Sinn und Bedeutung eines scheinbar feststehenden Signifikanten (hier: die Schrift) zu hinterfragen, führt Derrida nun mit dem Begriff der différance ein Kunstwort ein, das die eigentliche Uneindeutigkeit von Sinn und Bedeutung und ihre Bezogenheit auf den je bestehenden Kontext eindrücklich erläutert. Sein Kunstgriff basiert auf dem bewussten Unterscheiden eines an sich gesellschaftlich Identischen, nämlich eines einzelnen Wortes. Auch ein einfaches Wort hat verschiedene Bezugsebenen – Sprechen und Hören, Schreiben und Lesen. Indem Derrida nun zwischen den beiden Bezugsebenen eine Grenze zieht, kann er ihre scheinbar bestehende Ganzheit auflösen und so das Paradigma der Sprache (logos) vom Paradigma der Schrift (écriture) differenzieren – wenngleich beide doch identisch zu sein scheinen. Die eigentliche différence (frz.: Differenz, Unterschied) zwischen Sprache und Schrift – die wir nicht als solche wahrnehmen, denn wir gebrauchen die Worte in der Schrift und in der Sprache scheinbar unterschiedslos – offenbart Derrida in dem Begriff der différance15 . Die von dem Kunstwort selbst benannte Differenz – der Unterschied des a statt dem e – ist aber nicht zu hören, da die Aussprache im Französischen für beide Schreibweisen dieselbe ist; als Differenz ist sie nur zu sehen, bzw. zu lesen, der Unterschied ist »rein graphisch [...]: er lässt sich schreiben oder lesen, aber er lässt sich nicht vernehmen.«16 Dieses Kunstwort ist nämlich zu seinem Vorbild sowohl unterscheidbar wie auch identisch. Derrida macht also beides: er schafft Diskursunterschiede und hebt diese Unterschiede wieder auf – je nachdem, welchem Regelsystem man seine Wahrnehmung 14 | Jacques Derrida. Grammatologie (1967). Frankfurt/Main 1974. S.175. 15 | Eine naheliegende Übersetzung des Derridaschen Kunstwortes der différance wäre im Deutschen »Differänz«. Auch hierin ist der Unterschied zum Urwort Differenz nur lesbar, nicht aber – zumindest nicht gänzlich – hörbar. Stattdessen findet man in deutschen Übersetzungen von différance zumeist ein »*« als Zusatz zum Begriff »Differenz«, wodurch die eine von der anderen Schreibweise unterschieden werden kann. 16 | Jacques Derrida. Die différance (1968). In: Ders. Randgänge der Philosophie. Wien 1988. S.29-52. Hier: S.30.
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zuordnet, dem des Lesens oder des Hörens. Die Bedeutung des Wortes différance schwankt demnach je nach Bezug zwischen ›richtig‹ und ›nichtrichtig‹. Als ›falsch‹ aber können wir seine Bedeutung nicht bezeichnen, denn in seiner Aussprache ist das Wort ununterscheidbar und auch die falsche Schreibweise von différance lässt noch den Rückschluss auf die richtige Schreibweise (= richtige Bedeutung) zu. Eine ›falsche‹ Bedeutung entsteht aber erst, wenn das Zeichen keinen Rückschluss mehr zu seinem Ursprung durchblicken lässt. Das ist der Kern der philosophischen Postmoderne: In-Differenz in ihrem Verhältnis von Identität und Differenz; ein Spiel sich unendlich aufschiebender Sinnzusammenhänge; nicht Lösung als Ziel, sondern das Sich-Aussetzen gegenüber der Differenz. Denn grundsätzlich ist doch offen, welchen Diskurs ein Sprecher mit einem Begriff zwischen den Diskursarten einleitet – die Zugehörigkeit kann vom Zuhörer nur dem größeren Sinn nach hergestellt werden. Diese »Idee des flottierenden Signifikanten«17, die aus der Schriftsprache kommt und aus diesem Kontext die Eindeutigkeit eines Sinnzusammenhangs unterlaufen will, ist aber nicht allgemeingültig auf alle Disziplinen anzuwenden – Lyotards These vom Widerstreit zeigt ja gerade, dass verschiedene Diskursarten unterschiedliche Regeln aufweisen. In der Architektur kann daher das Unmotiviertsein des Zeichens zum Problem werden, weil »architektonische Zeichen immer motiviert und präsent sind, da sie primär eine bestimmte Funktion haben. Die Säule ist kein willkürliches Zeichen. [...] Eine Säule kann kein arbiträres Zeichen sein, da sie zunächst und in erster Linie etwas tragen soll.«18 Eine Säule wird als Säule wahrgenommen und ›gelesen‹, als architektonisches Gebilde, als »in erster Linie realer Baukörper. Alle semiotischen Bedeutungen sind an diese Realia gebunden, so dass das architektonische Zeichen immer zuerst auf sich selbst verweist und erst in zweiter Linie auf ein Abwesendes.«19 Das Den17 | Jörg H. Gleiter. Architekturtheorie heute. Bielefeld 2008. S.18. 18 | Peter Eisenman. Architektur Schreiben. Ein Gespräch zwischen Peter Eisenman und Jacques Derrida (1993). In: Ders. Aura und Exzess – Zur Überwindung der Metaphysik in der Architektur. Wien 1995. S.295-306. Hier: S.296. 19 | Gleiter. Architekturtheorie heute (wie Anm. 17). S.18f. Das entspricht der Differenzierung eines architektonischen Zeichens in »erste Funktion« und »zweite Funktion« nach Eco: »Der Architekt muss variable erste Funktionen und offene zweite Funktionen entwerfen.« In: Umberto Eco. Einführung in die Semiotik (1968). München 2002. S.353. Kursiv im Original.
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ken der différance ist somit ein Denken im Widerstreit von unterschiedlichen Bedeutungsmustern, im Widerstreit von Präsenz (als Befragung des Selbst) und Repräsentation (als Aufschub) vor dem Sinn. Was folgt nun aus Widerstreit und différance für die Ästhetik? Können Kunst oder Architektur hinter diese aufgebrochene, ehemals bestehende Einheit und Ganzheit zurückgehen?20 Die Ästhetik des Erhabenen, das Zugpferd der Moderne – so die paradox anmutende Schlussfolgerung Lyotards – muss als solche nostalgisch bleiben, weil sie in ihrer vermeintlichen Autarkie doch übersetzbar bleibt, so dass ihre formale Autonomie eher zur Fremdheit tendiert. Diesem nur scheinbaren Radikalismus der Moderne setzt Lyotard die Ästhetik einer Nach-Moderne im Sinne einer Ästhetik »nach dem Erhabenen« entgegen, die »im Modernen in der Darstellung auf ein Nicht-Darstellbares anspielt; das sich dem Trost der guten Form verweigert, dem Konsensus des Geschmacks«.21
D AS M ODELL DES I DENTISCHEN IM M ODUS DES A NDEREN Hat das hier vorgestellte triadische Modell des ›Identischen‹ (Abb.6, S.91) zwischen différence und différance noch seine Rechtfertigung, kann es das bewusste Auseinanderfallen von Begriff (Sprache) und Bild (Schrift) zur Darstellung bringen? Wo wir bislang unterscheiden konnten zwischen einzelnen Werken in je ihrer Konzeption, treten uns nun gleichzeitig ver20 | Für die gestalterische Ästhetik der Moderne stellt Lyotard aus seiner Lesart der Inkommensurabilität der Wirklichkeit im Verhältnis zum Begriff zwei mögliche Umgangsformen heraus: er bestimmt die Ästhetik der Moderne zwischen melancholia und novatio. Aus der »Ohnmacht des Darstellungsvermögens« folgt nach Lyotard entweder eine »Sehnsucht nach einer Anwesenheit [von Bild und Begriff], die das menschliche Subjekt empfindet, auf den dunklen und vergeblichen Willen, der es trotz allem beseelt«, was er als melancholia bezeichnet. Als deren bildnerische Verkörperungen führt Lyotard die deutschen Impressionisten an. Oder aber es folgt daraus die novatio, in der Lyotard einen Akzent sieht auf dem »Denkvermögen« im Sinne des Nichtidentischen und in der bewussten Ungewissheit, »ob menschliche Sinnlichkeit und Einbildungskraft mit dem übereinstimmen oder nicht, was er begreift« – als deren Beispiel seien hier Pablo Picasso und Georges Braque angeführt. Aus: Lyotard. Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? (wie Anm. 10). S.27. 21 | Ebd. S.29.
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schiedene Konzeptionen entgegen – und es ist an uns herauszufinden, welche ›Differenz‹ gemeint ist: die des Begriffes, die des Bildes oder die des Dinges? Die landläufige Lesart mag dies als ›anything goes‹, als Formel der postmodernen Beliebigkeit, missverstehen – für die anderen gilt abermals das Lyotardsche Wort: »Es bedarf einer angestrengten Suche, um die neuen [...] Sätze aufzuspüren, die dem Widerstreit, der sich im Gefühl zu erkennen gibt, Ausdruck verleihen können [...].«22 Was fordert also der Umgang mit dem ›Identischen‹ im Modus der Identität des Anderen von uns? Er fordert die Nicht-Darstellung im ›Identischen‹. Wir müssen einen anderen Zugang auf die Gestaltung finden – einen Zugang, in dem es nicht um richtige oder falsche Interpretation, nicht um Repräsentation oder Ausdruck geht. Als Zielpunkt bleibt nur eine Darstellung, die sich aus dem ›Identischen‹ speist (denn sonst wäre sie abstrakt-autonom, und damit wieder metaphorisch übersetzbar und unterschiedlich interpretierbar), ohne der direkten Zuordnung in der Lesart des ›Identischen‹ zu gehorchen: als Gleichzeitigkeit, als Überlagerung, als Mehrfachlesbarkeit der vertrauten architektonischen Elemente unserer Lebenswelt. Was wir gemeinhin und vereinfachend als ›Postmoderne‹ bezeichnen, hat seine Intention in der Gleichzeitigkeit einer »negativen Ontologie«23 des Bestehenden. In jedem Moment des ›Erlebens‹ ist es offen, ob es sich um das tatsächliche Dingliche, das Begriffliche oder das Bildliche des Gemeinten handelt, oder um dessen Varianz. Das aber weist der philosophischen Postmoderne eine gänzlich andere Bedeutung zu, als es den bunten Po-Mo-Artefakten gemeinhin zugestanden wird. Auf der Basis der nun eingeführten Schlüsselbegriffe für die Identität des Anderen möchte ich auf den Status der Ästhetik innerhalb der Postmoderne zurückkommen, wie schon in der Einleitung zu diesem Kapitel eingeführt: Was nämlich, so die Fragestellung der postmodernen Philosophie, ist die eigentliche Aufgabe der Kunst? Und was ist demgegenüber die Aufgabe der Philosophie? Haben wir es hier tatsächlich mit einem wechselseitigen Aufgabenteilung zu tun, in dem Sinne, dass die Kunst eine Haltung zur Welt zur Darstellung bringt, und die Philosophie dann diejenige ist, die diese Haltung aus dem sinnlich-darstellenden Modus in den vertrauten Modus des Begrifflichen zurückführt, ja übersetzt? Ist die philosophische Ästhetik also das Sprachrohr der Kunst? 22 | Lyotard. Der Widerstreit (wie Anm. 7). S.33. 23 | Lyotard. Anima minima (wie Anm. 4). S.206.
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Gegen diese Sichtweise des Philosophen als einem ›Mediator‹ der Kunst wendet sich Lyotard, indem er ironisch formuliert: »Hier nun betreten die Philosophen den Schauplatz der ›Kritik‹: da, wo sich das Werk seiner Umsetzung in Sinn entzieht.«24 Es schwingt hier die allgemein verbreitete Überforderung im Umgang mit Kunst mit: die Werke der Kunst sind für den Normalbürger nicht zu verstehen, sofern sie nicht übersetzt werden. Soll aber ein Werk wirklich ›übersetzt‹ werden, damit es handhabbar gemacht wird für die Auseinandersetzung? Wir entnehmen dem ironischen Unterton, dass sich Lyotard gegen die kommunizierende Funktion der Ästhetik als Kunst-Philosophie widersetzt; ja mehr noch: Lyotard wendet sich gegen die Auffassung, ein Werk müsse überhaupt verstanden werden. Lyotards philosophische Ausrichtung zur Ästhetik nach dem Erhabenen25 reißt die begriffliche Brücke zwischen Philosophie und Kunst ein: mit Lyotard haben wir zu akzeptieren, dass ein Werk nicht übersetzt werden kann in einen Begriff; mit Lyotard will ein Werk sein Selbst finden, es will unsagbar bleiben, es will das Undarstellbare thematisieren – das »Ereignis [als] eine Gegenüberstellung von Angesicht zu Angesicht mit dem Nichts«.26 Dabei geht es nicht um die Negation der Darstellung: »Um offen zu werden vor allem für das ›Es geschieht, dass‹ und weniger für das ›Was geschieht‹, bedarf es zumindest einer im hohen Maß geschärften Wahrnehmung für feine Unterschiede. [...] Das Geheimnis solcher Askese liegt in der Kraft, Vorkommnisse so ›direkt‹ wie möglich, ohne die Vermittlung oder den Schutz eines ›Vorwandes‹ ertragen zu können.«27 Worauf es ankommt anstelle des Verstehens, das ist das wechselseitige Vermögen in der Wahrnehmung als Ereignis: sowohl auf Seiten des Künstlers wie auch auf Seiten des Betrachters. »Das Ziel eines Malers [besteht] nicht darin [...], die wesensmäßige Definition der Farben zu erkennen, weder per se noch so wie sie sich in der Landschaft zusammensetzen, in die er sich begibt.«28 Die Einzigartigkeit der »Gedankenwolke« Montaigne Sainte-Victoire, wie 24 | Jean-François Lyotard. Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens (1981). In: Ders. Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens. Berlin 1986. S.51-77. S.53. 25 | Siehe dazu: Lyotard. Nach dem Erhabenen (wie Anm. 1). 26 | Jean-François Lyotard. Streifzüge. Gesetz, Form, Ereignis (1988). Wien 1989. S.43. 27 | Ebd. S.44. 28 | Ebd. S.49.
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sie Paul Cézanne (1839-1906) vor sich sieht, »liegt darin, dass Werte wie Bedeutung, Übereinstimmung, Ähnlichkeit, Wiedererkennbarkeit, Identifikation für das Malen von Bildern kaum irgendeine Relevanz besitzen – es geht ausschließlich darum, einen Blick auf die Geburt der Farben zu erhaschen, die dem Heraufdämmern einer Wolke am Horizont gleicht.«29 In diesem An-sich-Unfassbaren erkennt Lyotard das, was ein Werk ausmacht: das Ereignis. In Abwendung vom ›bestimmenden Urteil‹ bevorzugt Lyotard eine Sichtweise, die ohne allgemeingültige Regeln und Erklärungen dem Ereignis gegenüber auskommt. Lyotard bringt diese Bereitschaft zum Ereignis, sowohl von Seiten des Künstlers wie auch des Betrachters, in einen Zusammenhang mit dem japanischen Zen-Buddhismus, konkret mit der Schrift Shôbôgenzô des Meisters Dôgen (1200-1253), einer Zen-Abhandlung aus dem japanischen Trecento. Die mögliche Position des Betrachters gegenüber einem Werk lautet in Lyotards Auslegung von Dôgens Schriften wie folgt: »Sich selbst dem Strom der Wolken aussetzen, den Ruf nach Wissen enttäuschen, dem Wunsch abschwören, Gedanken aufzugreifen und sich anzueignen.«30 Was Lyotard als Umgang mit einem Werk in Anlehnung an die ZenMeditation vorstellt, ist kein Modus einer Ästhetik als Kunstphilosophie, die von einer Ausdrucksweise in eine andere übersetzen oder transformieren will; es ist im Gegenteil die Abkehr von jeder Form einer interpretativen Aneignung: ein antikognitives Denken, das Erleben eines Ereignisses, nicht die Erfüllung einer Erwartung. Das Sein des Werkes ist somit nach Lyotard nicht das Interpretiert-Werden,31 es ist auch nicht allein das WahrgenommenWerden – es ist die Wahrnehmung als Ereignis, eine Übereinstimmung des Angerührtseins zwischen Künstler und Betrachter. »Der Kunst geht es darum, etwas hervorzubringen, das dem Empfinden eines Künstlers gegeben war und das für andere übertragbar ist.«32 Lyotards Ästhetik orientiert 29 | Lyotard. Streifzüge (wie Anm. 26). S.46. 30 | Ebd. S.29. 31 | Vgl. dazu Uta Kösser. Ästhetik und Moderne. Erlangen 2006. S.449. 32 | Lyotard. Streifzüge (wie Anm. 26). S.49. Für Lyotard scheint es darum zu gehen, das Hier und Jetzt, das der Architektur lebensweltlich gegeben ist, auf die Kunst zu übernehmen unter Auslassung des relationalen Überbaus, den die Architektur lebensweltlich und lebensnotwendig mit sich herumträgt. In diesem relationalen Wahrnehmen und Denken erfasst unser Verstand das Was der Dinge. »Alle Bedeutungsgebung aber setzt voraus, dass es geschieht, das Ereignis des Dass. Dieses
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sich damit nicht an einer stilistischen Besonderheit; seine theoretischen Ausführungen dienen nicht dazu, das Werk eines bestimmten Künstlers zu legitimieren; eher zielt er darauf ab, die Kunstreflexion näher an ihre Quelle, an ihren Ursprung in der Einzigartigkeit einer »Gedankenwolke«33 zurückzubringen.
D IE I DENTITÄT DES A NDEREN IM GEBAUTEN W ERK : G ESTALT WERDUNG NACH DEM E RHABENEN Lyotard ist daran gelegen, statt der Form (als einem Repräsentanten einer Ästhetik des Schönen) einen anderen Repräsentanten einer Ästhetik nach dem Erhabenen zu erfassen – das Timbre, die Nuance, die mehr am Material als ihrem Träger hängt denn an der Form, und die damit den ObjektCharakter der Architektur, inklusive ihrer Materialität hervorkehrt. »Dies erfolgt nicht nur als eine Reaktion auf die Inflation immer schneller werdender Projektionen des postmodernen Zeitalters, in dem scheinbaren ›anything goes‹. Vielmehr ist es auch als eine Reaktion auf eine Architektur zu verstehen, welche mit Recht als Gegenstand des Eklektizismus, als eine Geschichte der Formen und Bilder begriffen wurde – also insgesamt als Resultat einer ›Pop Art‹-Annäherung, aufgeladen mit ironischen und selbstentwürdigenden Referenzen [...].«34 Lyotard ist sich bewusst, dass wir »schwerlich eine Nuance als solche erfassen« können. Dennoch zielt seine Ästhetik darauf ab, »sich für die einfallenden Nuancen verfügbar zu halten, sich für das Timbre empfänglich zu machen.«35 Das Erhabene nach dem Erhabenen soll die Kraft des Sinnlichen selbst sein. Was für Lyotard zählt, ist Präsenz als Geistesgefühl des gegenwärtigen Seins im Sinne eines Dass kann der Verstand nicht kontrollieren; es ist ihm schlechthin unbegreiflich.« (Michael Hauskeller. Was ist Kunst? München 1999. S.93.) Wenn wir also mit Lyotard von einer ›Aufgabe‹ der Kunst sprechen wollen, dann derjenigen, das Bewusstsein selbst aus der verstandesbedingten Fassung zu bringen, »indem sie es plötzlich mit dem Dass der Dinge konfrontiert, dem nackten, jeder Bestimmung vorausgehenden Sein.« (Hauskeller. A.a.O. S.93f.). 33 | Lyotard. Streifzüge (wie Anm. 26). S.46. 34 | Markus Breitschmid. Die Bedeutung der Idee in der Architektur von Valerio Olgiati. Sulgen, Zürich 2008. S.64. 35 | Lyotard. Nach dem Erhabenen (wie Anm. 1). S.162.
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Es gibt, nicht Re-präsentation als Verweis auf Vorgängiges, Vorangegangenes.36 Das wiederum kehrt der Ästhetik der Hegelschen Moderne den Rücken, die durch Vergleich auf Wissen beruht. Wissen aber, reine Kognition, das Vergleichen und Rekurrieren auf Bekanntes, hält uns von der Wahrnehmung der Präsenz als dem Eigentlichen im Timbre ab. Timbre ist damit so etwas wie die kleinste Einheit von Wahrnehmung. Groß genug, um wahrgenommen zu werden; auch groß genug, um Information zu transportieren; aber nicht groß genug, um Repräsentation zu tragen; schon gar nicht dazu geeignet, eine Botschaft zu vermitteln – auch nicht metaphorisch. Einen Beleg für diesen Modus in der architektonischen Gestaltung erkennt Markus Breitschmid (*1966) in der so genannten ›Spezifischen Architektur‹ der Deutsch-Schweiz in den späten achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Diese sei dadurch gekennzeichnet, dass sie »jegliche Bedeutung negierte, die nicht unmittelbar an das Gebäude selbst geknüpft war. [...] Diese Architektur zielt im wahrsten Sinne des Wortes ›jenseits‹ von Bildern und Bedeutungen. Diese Schwerpunktverlagerung verschob den Fokus vom Ziel der Lesbarkeit der frühen postmodernen Architektur hin zu einer Form der Sichtbarkeit. Das Grundprinzip dieser Strategie spricht sich für eine architektonische ›Desemantisierung‹ aus, welche dann zu einer ›vorsemiotischen‹ Erfahrung führen soll.«37 Doch gerade in ihrem Streben nach der ›reinen‹ Erfahrung nimmt diese architektonische Intention – ob bewusst oder unbewusst – Anleihen an der bildenden Kunst (der 36 | Wie ist der Begriff der ›Präsenz‹ bei Lyotard zu verstehen? – »In keiner Weise im Sinne des hier und jetzt, [...]«, sondern als »ein Geisteszustand ohne Geist, der vom Geist nicht verlangt [...], [dass] die Materie wahrgenommen oder begriffen oder gegeben oder erfasst werde, sondern [dass] es etwas gibt. Ich sage Materie, um dieses ›es gibt‹, dieses quod zu bezeichnen. Denn diese Präsenz in Absenz des aktiven Geistes ist – immer nur – Timbre, Ton, Nuance, [...] das Sichereignen einer Passion, eines Leidens, auf das der Geist nicht vorbereitet gewesen sein wird, das ihn entwaffnet haben wird und von dem er nur das Gefühl, Furcht oder Jubel, einer undeutlichen Schuld behält.« Aus: Lyotard. Nach dem Erhabenen (wie Anm. 1). S.163. 37 | Breitschmid. Die Bedeutung der Idee (wie Anm. 34). S.66. Die Frage nach einer vorsemiotischen Erfahrung als einer reinen Wahrnehmung des Dinges ohne Bewusstwerdung eines zeichenbezogenen Inhaltes werde ich im Vierten Teil dieses Bandes in der Frage nach einer »Architektur der Selbstheit« ohne Repräsentation vertiefen: gibt es eine Architektur, die frei ist von Bedeutung außerhalb ihrer selbst?
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minimal art), wodurch sie abermals ihr eigenes architektonisches Sein zu untergraben beginnt. Wie also können wir das Andere fassen? Für Gadamer ist es »das eigentümliche Wechselspiel der Herausforderung, die das [...] Unverständliche darstellt und auf das der Verstehenwollende antwortet, indem er es befragt und als Antwort zu verstehen sucht.« Dieses »spielt nicht nur zwischen Du und Ich [...], sondern gerade auch zwischen dem ›Werk‹ und mir, dem es etwas sagt und der immer wieder wissen möchte, was es ihm sagt.«38 Das Andere als das »Unverständliche« ist dabei nicht so negativ aufzufassen, wie es für unsere logos-gewohnten Ohren klingen muss: das Andere kann mir im Ereignis der Wahrnehmung so nahe sein, dass ich es eben gar nicht verstehen muss. Es ist quasi das Gegenstück meiner selbst, das nicht subjektiv rational Gebundene, welches nicht mit meinem gewohnten Erkennen übereinstimmt und mich dennoch zu einem Dialog herausfordert. Kann dieses aber auch für die Architektur gelingen, die ja durch ihren lebensweltlichen Bezug (das ist eine Tür – das ist eine Säule – das ist eine Badewanne) in ihrer Welt als einer Welt des scheinbar verpflichtenden ›Dienens‹ auf Erkennen ausgerichtet zu sein scheint? Kann der Rückbezug zu dem Dinglichen selbst, zum Spezifischen der Architektur, unter Auslassung der Zeichenhaftigkeit der Form überhaupt geleistet werden? Dann wären wir wieder bei dem architektonischen Ding ohne seine semantischen und metaphorischen Beigaben, mit welchen die Geschichte die Formen der Architektur beladen hat. Das Selbst der Dinge in der Architektur ohne festgelegte Bedeutung herzustellen, heißt, die spezifische Form der Architektur als solche zu suchen. Wie Lyotard sagt, besteht »das Paradox einer ›Kunst nach dem Erhabenen‹ [...] darin, dass sie sich einer Sache zuwendet, die sich nicht dem Geist zuwendet [...]. Unter dem Namen der Materie verstehe ich die Sache. Die Sache erwartet nicht, dass man sie bestimmt. Sie erwartet nichts. Sie appelliert nicht an den Geist. Wie kann der Geist sich situieren, sich ins Verhältnis zu etwas setzen, das sich jedem Verhältnis entzieht?«39 Wir werden im folgenden an verschiedenen Beispielen nachzuvollziehen versuchen, wie dieser Bruch, diese différance, diese Aufforderung zur Wahrnehmung der Präsenz in der architektonischen Gestalt aussieht. 38 | Hans-Georg Gadamer. Über das Lesen von Bauten und Bildern (1979). In: Ders. Gesammelte Werke. Band 8. Ästhetik und Poetik I. S.331-338. Hier: S.331. 39 | Lyotard. Nach dem Erhabenen (wie Anm. 1). S.164.
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Abb. 20: Hopewell culture, Mound 4, Fort Ancient earthworks, Warren County, Ohio. © The Ohio Historical Society. Aus: Richard Shiff u. a. Barnett Newman. A catalogue raisonné. New York 2004. S. 80.
Präsenz kollektiver Bilder: Model for a synagogue Die Auseinandersetzug der Identität des Anderen kreist um die Frage nach figurativer oder nichtfigurativer Darstellung, nach Darstellbarem und Nicht-Darstellbarem. Für Lyotard ist die figurative Kunst ein »Gefängnis«40, weil sie dem Geist nicht die Öffnung des weiten Ereignisses anbietet. Sie stellt dem Betrachter nicht offen, das Gesehene auch anders wahrzunehmen. Die Befreiung aus diesem »Gefängnis« der Repräsentation hinaus zur Präsenz liegt entweder in einer neuen Bezugnahme auf die Darstellung oder auf deren Bedeutung, also entweder in der nichtfigürlichen Darstellung (das betrifft die informelle Malerei), oder aber in dem Offenhalten der Bedeutung des Dargestellten durch Mehrfachlesbarkeit (das betrifft die Architektur). Wir betrachten nun ein architektonisches Beispiel, in dem zwar figürlich gearbeitet wird – so wie es in der Architektur unausweichlich zur Form kommen muss, denn alles Gebaute nimmt Figur an – in dem es aber gelingt, das Figurative durch Mehrfachdeutung offenzuhalten für Assoziation und Ereignis beim Betrachter und auch im Objekt selbst. 40 | Jean-François Lyotard. Der Augenblick, Newman (1984). In: Ders. Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. Wien 2001. S.95-105. Hier: S.102.
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Abb. 21: Model for a synagogue (1963), Barnett Newman, mit Robert Murray. © Modellphoto Bruce White. Aus: Richard Shiff u. a. Barnett Newman. A catalogue raisonné. New York 2004. S. 527. Ausschnitt und Überzeichnung des Modellphotos: TS. Der Künstler Barnett Newman (1905-1970) arbeitet 1963 im Rahmen einer Ausstellung für aktuelle Beispiele im Synagogenbau der amerikanischen Nachkriegsarchitektur an einem Entwurf für eine Synagoge (Abb. 21). Die Fragestellung, um die sich die folgenden Ausführungen drehen, betrifft nun nicht das Gebäude als Ganzes, für das nur ein Modell existiert und ein paar Skizzen, sie betrifft nur ein Detail dessen, nämlich die Frage nach der Gestaltung der Bimah, also dem Ort in der Mitte des Synagogenraumes, an dem nach der traditionellen jüdischen Liturgie die Thora verlesen wird. Newman bezieht sich in der von ihm gewählten ›Figur‹ für die Bimah auf die Form der Erdwälle und Grabhügel der Miami-Indianer, die mounds (Abb. 20). Er schildert den Besuch dieser Hügel als eindrucksvolles Erlebnis von transzendenter Tiefe: »Hier bin ich, hier... und drüben (außerhalb der Grenzen dieses Geländes) lauert das Chaos, die Natur, die Flüsse, die Landschaften... Doch hier hat man das Gefühl seiner eigenen Präsenz... Von nun an ließ mich die Idee, den Betrachter seine eigene Präsenz fühlen zu lassen, nicht mehr los, der Gedanke, dass ›der Mensch präsent ist‹.«41 Indem Newman nun den Ort der Grabhügel der Miami-Indianer, die mounds, in den Entwurf für die Synagoge hineinholt, und zwar als Ort 41 | Barnett Newman. Schriften und Interviews. 1925-1970. Bern 1996. S.180.
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der Bimah, an dem von einem einzelnen Gläubigen die Thora verlesen wird, will er die beschriebene Präsenz auch in der architektonischen BauKunst einfangen. Im Angesicht der mounds, so Newman, »haben wir die selbstverständliche Natur einer künstlerischen Handlung vor uns, ihre letzte Einfachheit. [...] Es ist ein Kunstwerk, das nicht einmal gesehen werden kann, also lässt es sich nur an Ort und Stelle erleben.«42 Die hier gezeigte »Verdichtung des indianischen und des jüdischen Raumes hat ihren Ursprung und ihren Zweck in dem Versuch, die ›Präsenz‹ einzufangen. Die Präsenz ist der Augenblick, der das Chaos der Geschichte unterbricht und daran erinnert oder nur appelliert, dass ›etwas da ist‹, bevor das, was da ist, irgendeine Bedeutung hat.«43 Es geht um Überlagerung und Komplexität, um Offenhalten und Mehrfachlesbarkeit. Indem Newman auf einen archaischen, ein ur-architektonischen Topos – das Hügelgrab – Bezug nimmt, und diesen in seiner anderen Funktion als Bimah – als Ort der Thora-Lesung – in der Synagoge einsetzt, überlagert er die Suche nach Transzendenz in unserer Auseinandersetzung mit dem Tod (die Funktion des Hügelgrabes) mit dem feierlichen Anrufen Gottes im Gottesdienst (die Funktion der Bimah) – und umgekehrt: das regelmäßige Anbeten Gottes vollzieht sich im Befragen der Transzendenz des Menschen als Auseinandersetzung mit dem Tod und mit dem architektonisch sichtbaren Erinnern an den Menschen im Hügelgrab. Es ist dies eine Komplexität, die nicht des formal Neuen bedarf, um uns an ihrer Tiefe teilhaben zu lassen. Denn was trägt in sich eine größere Tiefe als das Bestehende, Bekannte, Vertraute auf dem Boden seiner Geschichte und in seinem Weltbezug? Aber scheint Newman nicht damit »die Syndrome der Moderne zu konterkarieren, wenn er [...] die semiotische Wende nachvollzieht (d.h. das Bezeichnete vom Bezeichnenden trennt)«44? Mit anderen Worten: Macht Newman hier nicht eben das, was wir auch schon aus der Identität des Autonomen kennen, indem er Bild und Begriff gegeneinander austauscht? Mitnichten, denn bei Newman haften den Formen ihre verwandten Bedeutungen an, die Bedeutungen treffen auf vertraute Formen: die Elemente halten ihren architektonisch-identischen Bezug aufrecht, weil das von Newman komplex gestaltete Bildzeichen jeweils für beide Vorbilder – 42 | Newman. Schriften und Interviews (wie Anm. 41). S.180f. 43 | Lyotard. Der Augenblick, Newman (wie Anm. 40). S.104. 44 | Armin Zweite. Barnett Newman. Bilder – Skulpturen – Grafik. Ostfildern-Ruit 1999. S.251.
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Bimah und Hügelgrab – Gültigkeit hat. Nicht irgendein Austausch hat hier also stattgefunden zwischen gewählten Vorbildern oder Begriffen, schon gar nicht ein metaphorischer Austausch zwischen unterschiedlichen Diskursebenen (wie wir dies aus der Moderne in der Metapher von Wohnen und Maschine kennen); stattdessen geht es, semiotische Wende hin oder her, um den inneren Kontext dessen, was uns in der Seele berührt, um das unumgängliche Befragen unseres Seins im Erleben eines sakralen Raumes und in der Teilnahme an der gemeinschaftlichen Feier. Um die antikognitive Wahrnehmung des Ereignisses zu ermöglichen, muss eine Form gewählt – nicht erfunden – werden, die im kollektiven Gedächtnis beheimatet ist, angesichts derer man sich fühlt, als wolle man »sich selbst dem Strom der Wolken aussetzen, den Ruf nach Wissen enttäuschen, dem Wunsch abschwören, Gedanken aufzugreifen und sich anzueignen.«45
Präsenz der Differenz im Gegenständlichen: Atelier Bardill Ist also das Erhabene nach dem Erhabenen wirklich als ›anti-kognitiv‹ zu bezeichnen, wie es Lyotard darstellt? Oder gründet es nicht eher auf einer Differenz zur Kognition als einem verstandesbedingten Wissen einer doppelten Unauflösbarkeit: nicht nur gegen die kognitive Bestimmung, sondern auch gegen die ästhetische Beurteilung? – Damit wäre es also nicht frei von Bedeutung, sondern offen für Bedeutung. Der Entwurf für das Musikeratelier Bardill in Scharans (2007, Abb. 22 und 23) von Valerio Olgiati (*1958) scheint mit eben solchen Signaturen der Präsenz durch das Konzept des Anderen zu arbeiten. Auch hier kommt es zu Überlagerungen architektonischer Elemente, die zeichenhaft erscheinen, die sich aber nicht als konkrete Referenz zu einer vorgegebenen, institutionalisierten Bedeutung auflösen lassen. Das Gebäude des Ateliers ist im historischen Kern von Scharans an Stelle eines baufälligen Holzstalles entstanden, weshalb es als Ersatzbau an dieselbe Kubatur des Vorgängerbaus gebunden ist. Es weist ein minimales Raumprogramm auf: einen einzigen großen Raum für den Komponisten, Nebenräume, daneben einen Innenhof, der in die Ganzheit des Baukörpers einbeschrieben ist und zum Himmel eine ellipsenförmige Öffnung aus der Dachfläche herausschneidet. 45 | Lyotard. Streifzüge (wie Anm. 26). S.29.
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Abb. 22: Musikeratelier Bardill (2007) in Scharans. Architekt: Valerio Olgiati. Ansicht der Westfassade. Das Material ist für alle Bauteile derselbe rotgefärbte Beton, über den sich innen wie außen unterschiedlich große Kreisformen verteilen. Wenige Öffnungen durchstoßen die Wand, von Fenstern will man nicht sprechen, weil sie weder in Maßstab noch in Materialität dem uns vertrauten Zeichen entsprechen. Finden wir hier zu jenem Dinglichen im Bauen zurück, das sich weder dem dienenden Zeugsein noch dem verweisenden Werksein öffnet? Olgiati »versteht das Leitwort ›Gegenständlichkeit jenseits der Zeichen‹ nicht im wörtlichen Sinne – nämlich in der Weise, dass das architektonische Objekt nach seiner Befreiung von allen gesellschaftlichen Codifizierungen und nach Wegnahme aller Bedeutungsebenen nun angeblich völlig ›unsemantisch‹ sei.«46 Olgiati führt in dem Entwurf für das Musikeratelier die Identität des Anderen in der dinglichen Differenz von Darstellung und Nichtdarstellung vor: sei es die dingliche, nicht dienende, nicht semantisierende Anwendung der Bauteile, sei es der Widerspruch des Baukörpers als ›Scheune‹ zu seinem offenem, ovalförmig zum Himmel ausgeschnittenen Innenhof, sei es die ornamenthafte Verwendung der Rosetten an der Fassade des Musikerateliers, welche die Frage aufwirft: sind es Räder, Blumen, Sterne? Sie bleiben ohne Antwort, sie sind namenlose Dinge dieser Architektur. Sie sind schlicht Teil einer Ganzheit zwischen der Baukörperform, die an einen Stall erinnert, und dem verwendeten Material und seinen aufgebrachten Rosetten, die das architektonische Motiv des Stalls hinterfragen. Dieses Abwägen zwischen unterschiedlichen Motiven kann aber nur zu einer Einheit finden, wenn die Sprache der Architektur, die sich diesem Denken der différance verpflichtet zeigt, nicht diskursiv verletzt wird, nicht in einen immanenten Widerstreit hineingezogen wird. 46 | Breitschmid. Die Bedeutung der Idee (wie Anm. 34). S.70.
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Abb. 23: Der Baukörper des Ateliers Bardill im Kontext des Dorfes. © Archiv Olgiati. Dazu müssen wir uns dazu der spezifischen Lesart, des semiotischen Charakters der am Bau verwendeten Elemente bewusst sein. Ist die Bedingung dafür seine Bedeutungsfülle – oder gerade seine Bedeutungsleere? Das Miteinander der Zeichen kann gerade in der Offenheit und Unabgeschlossenheit seines Wahrgenommenwerdens liegen. Das ist es, was das Wahrnehmen zu einem ›Ereignis‹ werden lässt. Im Modus der Identität des Anderen und im Sinne einer Ästhetik nach dem Erhabenen bleibt es so »möglich, dass ein anderer, uns nicht vertrauter Weg eingeschlagen wird. In dieser niemals ganz auszuschließenden Möglichkeit des Überraschtwerdens liegt das Ereignis verborgen.«47 Das ›Ereignis‹ der Wahrnehmung ist kein Faktum an sich, es ist in der Differenz verortet, doch zieht es seinen Reiz nicht aus der Wahrnehmung des bewusst Un-Gewohnten, sondern aus dem Verhältnis des Gewohnten zum Anderen. Dabei geht es nicht um den Drang nach dem Neuen: das Ereignis in der Differenz ist eben nicht mit der »Abschaffung von Gewissheiten«48 der Moderne zu verwechseln; das Ereignis der Differenz unterbricht, es ist »eine Art Loch, eine Bresche
47 | Michael Hauskeller. Was ist Kunst? München 1999. S.94. 48 | Werner Spies. Die Moderne. 1930-1940. In: Art. #7/2009. S.78-83. Hier: S.80.
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im Gegebenen selbst.«49 Das Ziel liegt nun nicht die Schaffung einer losgelösten Ideal-Identität, wie wir es aus dem Projekt des Autonomen in der Moderne kennen, sondern in einer lebensweltlichen Herausforderung an das Subjekt und seine je spezifische Wahrnehmung und Erfahrung: es ist die Befragung der Bedeutung von Form durch Form – nicht durch deren Absenz oder metaphorischem Ersatz. Anders als das Autonome der Moderne bedarf das Andere also gerade der Auseinandersetzung nicht nur mit dem Subjekt, sondern auch mit der gegebenen Welt, um aus der daraus zutage tretenden Differenz das Spannungsfeld von Präsenz und Absenz zu gebären. »Anders gesagt, kann dieser Vorgang nicht in einer nicht-kontaminierten Zone, an einem Ort ohne Welt, stattfinden.«50 Differenz braucht In-Differenz, deren Konstanten werden als solche akzeptiert, gerade mit diesen wird gearbeitet. »Diese Modulationen, welche nahe daran sind, von den menschlichen Sinnen im ersten Augenblick als beunruhigend erfasst zu werden, werden dann durch die Vorstellungskraft des Menschen integriert, und zwar durch die Konkurrenz der als beunruhigend erfassten architektonischen Bedingung und des Zustandes, der darum herum existiert.«51 Es ist dies ein beständiges Wechselspiel aus Wahrnehmen, Verstehen und Vorstellen, in welchem das Wahrgenommene nicht absolut gesetzt ist, vielmehr thematisiert es eine je subjektive Ganzheit dem Absoluten gegenüber, die den Betrachter in jedem neuen Moment dem Objekt gegenüber in anderer Weise zu fesseln oder herauszufordern vermag. In dem Entwurf für das Musikeratelier Bardill können wir feststellen, was aus dem Umriss einer Scheune wird, wenn sie von dem architektonischen Bild einer Scheune befreit wird: als Typus anonymen Bauens, von allen gegenständlichen Motiven des Vertrauten entbunden, findet der Bau zurück zum Dinglichen der Architektur. Sein architektonischer Grundtenor ist es, der in der gewählten Kombination des Vertrauten mit dem Unerwarteten sein Geheimnis ausmacht: ein Zustand der Präsenz, der »vom Geist nicht verlangt [...], [dass] die Materie wahrgenommen oder begriffen oder gegeben oder erfasst werde, sondern [dass] es etwas gibt.«52 49 | Jean-François Lyotard. Das Undarstellbare – Wider das Vergessen (1988). In: Christine Pries. Das Erhabene. Weinheim 1989. S.319–347. Hier: S.321. 50 | Breitschmid. Die Bedeutung der Idee (wie Anm. 34). S.72. 51 | Ebd. S.74. 52 | Lyotard. Nach dem Erhabenen (wie Anm. 1). S.163.
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Präsenz von Materie vor Ratio: Bruder Klaus Kapelle Was heißt es also, der Präsenz in der Architektur zu folgen? Mit Derrida heißt es, nicht einem stummen Ästhetizismus der Identität des Autonomen im Sinne der »ästhetischen Distanz« zu frönen, sondern die Stimme der Architektur selbst als ihr eigenes »Sich-im-Reden-vernehmen«53 aufzugreifen, und sich selbst in diese Präsenz der Stimme einzubinden, die kein in sich abgeschlossener Bedeutungsträger ist. Mit Lyotard heißt der Präsenz zu folgen, die einfache Empfänglichkeit aufrechtzuhalten für das Timbre: für die Farbe in der Malerei, für die Materie in der Architektur, vor der Darstellung, vor der begreifenden Tätigkeit des Geistes. Es ist der Versuch, die klare rationale Kognition zurückzulassen und zurückzukehren zu den elementaren Ereignissen und Empfindungen, welche davor liegen, und welche unsere Prozesse des Geistes tragen. Nicht der vordergründige Drang zum Besonderen, zum Noch-nie-Dagewesenen der Form soll unser gestalterisches Streben ausmachen – vielmehr sollte uns an der Sensibilität für die grundlegenden aisthetischen Affekte gelegen sein: »Augenblicklich erhebt sich eine Affektwolke und entfaltet für einen Augenblick ihre Nuance.«54 Dieses seelische »Körper-Denken [der] anima«55 ist es, welches uns hin zu der darunterliegenden Schicht der einfachen, nicht-kognitiven Empfänglichkeit trägt: die Wahrnehmung des Dinglichen vor dem Werk. Als eine Signatur solcher Präsenz, des Timbres, der Beziehung von Form und Nicht-Form (oder anderer Form) im Werk können wir neben den genannten Beispielen des Model for a synagogue oder des Musikerateliers Bardill auch die Bruder Klaus Kapelle (2007, Abb. 24 und 25) in Wachendorf von Peter Zumthor (*1943) lesen, in der die Archaik einer Köhlerhütte mit dem Motiv der Einsamkeit des Pilgers vor Gott übereinkommt. Wie wir bei Lyotard und bei Derrida gehört haben, stehen die Kunst, die Architektur, die Darstellung überhaupt vor dem Problem des Gelesen-Werdens in der Weise des institutionalisierten Signifikanten, dessen Bedeutung unabhängig von seiner konkreten Anwendung festzustehen scheint. Wie also kann es der Architektur gelingen, sich von denotierenden und konnotierenden Mustern und Formen zu befreien – vermag sie doch das Nicht-Darstellbare noch weniger zu verkörpern als die Disziplin der Kunst. 53 | Derrida. Grammatologie (wie Anm. 14). S.175. 54 | Lyotard. Anima minima (wie Anm. 4). S.207. 55 | Ebd. S.206.
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Abb. 24: Bruder Klaus Kapelle (2007) in Wachendorf. Architekt: Peter Zumthor. Ansicht mit schematischer Darstellung des Innenraums. Architektur muss vor ihre gewohnte Lesart im »Trost der guten Form«56, mit der wir vertraut sind und in der wir uns zurechtfinden, eine substanziellere Wahrnehmung stellen: die Materie selbst, die Nuance, das Timbre. In der Bruder Klaus Kapelle, einer Feldkapelle am Pilgerweg nach Trier, geweiht dem Heiligen Niklaus von Flüe (1467-1487), erwartet uns diese Erfahrung von Materie, Nuance, Timbre. Die Besonderheit der Kapelle liegt in ihrer archaischen Konzeption und Konstruktion sowie in ihrem Kontrast von Ausschließlichkeit und Offenheit. So führt uns das Konzept des Baus quasi in die Zeit des Heiligen Niklaus zurück, in die Zeiten grober Holzund Steinbauten, von Köhlerhütten. Das Konzept der Kapelle sieht ein Innenbauwerk aus aneinandergestellten Baumstämme vor, in dem man Anleihen an Zeltbauwerke erkennen könnte, und das als verlorene Schalung für den Andachtsraum dient. Dieses wird von dem Außenbauwerk aus mit Lehm versetztem Stampfbeton umschlossen. Ist dieses fertiggestellt, wird der innere Holzbau abgebrannt – ein Bau wie ein Köhlermeiler. Aus dieser ›verlorenen Schalung‹ entsteht der Sakralraum: es bleiben die Negativrundungen der Holzstämme und die dunkel glänzende Oberfläche des Betons, durchbrochen von den Lichtreflexen der offenen Rohre der Bewehrungsstäbe, in die Hunderte von Glassteinen eingesetzt werden, um die von oben hereinfallenden Lichtstrahlen zu brechen. Das Spiel mit der ›vorsemiotischen‹ Erfahrung57, der Ablösung der architektonischen Elemente von ihrer festgelegten Bedeutung, scheint bestimmend für den Bau. 56 | Lyotard. Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? (wie Anm. 9). S.29. 57 | Breitschmid. Die Bedeutung der Idee (wie Anm. 34). S.66.
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Abb. 25: Bruder Klaus Kapelle – das Ereignis des Innenraumes. Architekt: Peter Zumthor. Photo: Tom Schoper, 2010. Fragend nähern wir uns: was ist das Eigentliche hinter der sichtbaren Form? Was ist das Ganze überhaupt? Ist die spitze dreieckige Metallfigur die Tür? Was verbirgt sich hinter den vielen kleinen Löchern in der Fassade? – Innen finden wir Antwort auf unser Fragen – anders als erwartet, sinnlich. Es ist dunkel. Es riecht verbrannt. Es ist feucht. Der Boden ist uneben, in einer Pfütze auf dem Boden spiegelt sich das Himmelslicht, durch eine Öffnung von oben einfallend. Die abgebrannten Baumstämme haben auf der Oberfläche des Raumes (man kann nicht von einer Wand sprechen) eine Struktur hinterlassen, die nach oben offen zum Himmel strebt. Gedämpftes Vogelgezwitscher dringt ebenfalls von dort herein, gemischt mit Fluglärm aus der Ferne. Der Versuch einer Beschreibung kann nicht die Simultanität der Sinneseindrücke wiedergeben. Es ist eine Wahrnehmung, die das, was sie wahrnimmt, für wahr nimmt, und sich aus dieser reinen Präsenz (zunächst) nicht von der Frage nach ihrem Hintergrund ablenken lässt. Da! – »Der malerische Blick ist die Anschauung der Abwesenheit der Empfindung in ihrer Präsenz, also das Fort im Da.«58 Dies ist der eine Moment, in dem 58 | Lyotard. Anima minima (wie Anm. 4). S.210.
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sich die Wahrnehmung vor die Ratio zu stellen vermag, in dem die Seele durch die Sinnesempfindung angeregt wird, es ist der Moment, wo uns bewusst wird: »Die anima existiert nur dadurch, dass sie affiziert wird. [...] Dasein bedeutet, aus dem Nichts der Nicht-Affiziertheit durch ein sinnliches Da erweckt zu werden.«59 Was die beschriebenen Bauten jeweils zu Werken des Anderen macht, das ist nicht ihr vordergründiges äußeres Anderssein; ihr Anderes liegt vor allem in ihrer spezifischen Ausrichtung gegenüber dem Betrachter. Das Werk tritt dem Betrachter als das Andere gegenüber, dessen Identität sich aber gerade aus der Offenheit zu seinem Entdecktwerden speist. Ihr Entworfensein hängt nicht mehr an einer bestimmten Metapher, sondern liegt in einer eigenständigen Ganzheit, die sich aus architektonischen Motiven formt. Auf diese Weise wird das Werk zum Anderen, zum Gegenüber meiner selbst: zur Erfahrung einer Indifferenz in ihrem Verhältnis von Identität und Differenz. Die angelernte ›Ichbezogenheit‹ unserer Wahrnehmung, in der sich »das hervortretende Ich [..] als den Träger der Empfindungen [erklärt], die Umwelt als deren Gegenstand«60, wird aufgebrochen; eine neue Ausgewogenheit zwischen den beiden Identitäten von Betrachter und Werk vermag sich nun zu eröffnen; nicht das anthropomorphe Angleichen der Häuser an den Menschen ist ihr Thema, nicht die Metaphorik des Fernen, das nur eine vage Interpretation zulässt, sondern die eine je eigene Identität von Betrachter und Objekt, ohne auf eine festgelegte Bedeutung zurückzugreifen. Wesentlich für diese neue Möglichkeit der Orientierung zwischen Werk und Subjekt ist die Bindung des Werkes am Identisch-Voraussetzenden. Das bewusst Ferne der Metapher in der Identität des Autonomen (Wohnen vs. Maschine) erzeugt Fremdheit; in der Identität des Anderen wird das Ästhetische durch die nachvollziehbaren lebensweltlichen Zusammenhänge der Formen wieder begreifbar, es wird zu einer »Ferne, so nahe sie sein mag«61 – sie eröffnet sich selbst damit dem Wunsch nach Verstehen: durch Bezugnahme auf das ›Identische‹ und durch Differenz vom ›Identischen‹.
59 | Lyotard. Anima minima (wie Anm. 4). S.207. 60 | Martin Buber. Ich und Du (1957). In: Ders. Werke. Erster Band. Schriften zur Philosophie. München 1962. S.77-170. Hier: S.93. 61 | Walter Benjamin. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936). Frankfurt/Main 1963. S.15.
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D IE I DENTITÄT DES A NDEREN : DAS N ICHT -D ARSTELLBARE »Die Frage des Undarstellbaren ist in den kommenden Jahrhunderten die einzige, die den Einsatz von Denken und Leben lohnt.« JEAN-FRAN çOIS LYOTARD. VORSTELLUNG, DARSTELLUNG, UNDARSTELLBARKEIT.62
Was ›erhaben‹ ist, übersteigt meinen Verstand – doch mehr als das: es stürzt mich in eine ›Schuld‹ meiner Wahrnehmung gegenüber – denn mein Unverständnis entspricht vernunftgemäß einem Ungenügen, einem Mangel. »Die sinnliche Passion ist die Erfahrung einer ›Schuld‹.«63 Autonomie widersetzt sich der Relation. Ihr Selbst sucht als Selbständigkeit die Vollkommenheit. Autonomie ist damit Utopie – es gibt sie und es gibt sie nicht; sie ist existent – als Nichtseiendes –, das wir denken können; doch wird sie existent – zum Seienden –, kann sie nicht mehr aufrechterhalten werden. So wird Autonomie zu Fremdheit. Autonome Moderne (in der Architektur) wird damit als ›fremdartige‹ Architektur wahrgenommen; ihre gezwungene Neuheit ist der Todesstoß für unsere Städte. Dem Werk die Autonomie zugestehen wollen, doch gleichermaßen es in seiner Wahrnehmung des Autonomen nicht identisch erfassen zu können, verdeutlicht die »Schuld« des Betrachters gegenüber dem Werk. In der Anschauung des Ästhetischen als dem Erhabenen erfahren wir eine »Schuld« angesichts der »sinnlichen Passion«64 . Gewiss ist es kein Zufall, dass Lyotard diesen religiösen Begriff des Leidens als Leidenschaft hier einbringt. Seit der Aufklärung und der Abwendung vom Göttlichen der westlichen Welt hatte dieser Begriff in der Kunst keinen Ort mehr. In diesem Sinne ist die Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk als dem ›Inhumanen‹ (Adorno) die Konfrontation mit dem eigenen Seinsbezug im Identischen oder Nichtidentischen – als Präsenz ohne konkrete Repräsentation. Wenn Lyotard dabei die Immaterialität zum Sujet des Erhabenen erklärt im Sinne der Uneindeutigkeit eines scheinbar Vertrauten, dann erschließt sich daraus die Schwierigkeit, das Erhabene für die Architektur in ihrer unausweichlichen Materialität überhaupt habhaft zu machen.
62 | Lyotard. Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit (wie Anm. 2). S.148. 63 | Jacques Rancière. Das Unbehagen in der Ästhetik. Wien 2007. S.111. 64 | Ebd.
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Sujet und Aboutness im Anderen Können wir die Architektur in der Identität des Anderen tatsächlich als Versuch der Darstellung des ›Nicht-Darstellbaren‹ ansehen? Unter der Voraussetzung, dass wir uns abwenden von dem Denken, dass das, was vor uns liegt, bereits das Darstellbare ist, können wir diesem zustimmen. Notwendig müssen wir differenzieren zwischen der Darstellung und dem Inhalt von Werken, womit ich mich auf Arthur C. Dantos Auffassung zur Interpretation von Werken beziehe. Dantos Denkspur, entwickelt angesichts der sich immer weiter einander annähernden Erscheinung von ›Kunstwerken‹ und ›gewöhnlichen Dingen‹ in der Pop-Art, erscheint von analytischer Klarheit: Ein Objekt (o) ist nur dann als Kunst-Werk (W) anzuerkennen, wenn es mehr ist als das, was es darstellt, wenn es also eine Interpretation (I) mit sich führt, ja dieser bedarf: »I/(o) = W.«65 Ein ›gewöhnliches Ding‹ wird nie den Status eines Kunstwerkes erreichen, wenn es dem Betrachter nicht eine Interpretation zu seinem Werksein abverlangt. Zwei Ebenen sind damit beim Kunstwerk zu unterscheiden: zum einen die Thematisierung eines Werkes anhand seiner sichtbaren formalen oder figurativen Elemente, also das, was ein Werk also sichtbar darstellt – nach Danto das Sujet eines Werkes, welches sich beim klassischen Kunstwerk auch in seinem Titel niederschlägt; zum anderen die Aboutness, die inhaltliche Dimension des Werkes, also das, worauf es über seine Darstellung hinaus abzielt – seine Bezogenheit auf etwas.66 »Wie Wörter und Sätze ist Kunst immer über etwas, während gewöhnliche Dinge niemals über etwas sind. Ihnen fehlt der Bezug, das Über-etwas-sein (aboutness).«67 Ist die Differenzierung von Sujet und Aboutness auch für ein Werk der Architektur gültig? Als Sujet bezeichnen wir das, was ein Werk darstellt – gegen65 | Arthur C. Danto. Die Verwandlung des Gewöhnlichen (1981). Frankfurt/Main 1984. S.192. 66 | Beim Kunstwerk löst sich die Bindung von Werk und Sujet mit dem Schritt auf, als das Werk keinen Titel mehr trägt, der auf seine Darstellung verweist: das Werk ›Ohne Titel‹ ist der erste Hinweis der Kunst auf die Abkehr von seiner ehemals verpflichtenden Repräsentation, auf die Hinwendung zur Präsenz seiner Wahrnehmung. Seine Aboutness ist damit allerdings keineswegs aufgehoben, sie verlagert sich auf das Subjekt: das Wesen des autonomen Kunstwerks liegt in seinem Interpretiert-Werden (Vgl. dazu: Kösser. Ästhetik und Moderne (wie Anm. 31.) S.449. 67 | Hauskeller. Was ist Kunst? (wie Anm. 47). S.100.
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standslose Architektur gibt es nicht, jedes architektonische Werk muss zur Darstellung einer Form kommen, insofern können wir auch je ein Sujet im architektonischen Werk benennen.68 Der Begriff der Aboutness dagegen stellt uns erneut vor die Frage nach der Differenz von Kunst und Architektur in ihrem ursprünglichen Sein: Ist Architektur Kunst oder ist sie Teil der ›gewöhnlichen Dinge‹? Wenn sie Kunst ist, dann müsste sie sich neben ihrem Sujet auch immer durch eine Aboutness auszeichnen. Doch so eindeutig wie Danto dies für die Kunst belegt, fällt die Antwort für die Architektur nicht aus – vielmehr gilt es, für die genannten Identitäten von Architektur je zu unterscheiden: Architektur in ihrer Identität des Selben kennt keine Aboutness, sie ist ausschließlich sich selbst verpflichtet und entbehrt daher auch einer Interpretation ihrer selbst; erst mit der Identität des Ähnlichen entsteht in der Architektur der Wunsch, neben dem dinglichen Sein auch etwas darüber hinausgehend auszudrücken. Ihren allegorischen Inhalt, ihre Aboutness, bestimmt die Architektur dann im Imaginären, in dem, was sie nicht konkret darstellt, was aber dennoch etwas aussagt. ›Nicht-darstellbar‹ bedeutet demnach nicht un-darstellbar. Es bedeutet, dass die Übersetzung von figurativer Form und imaginärem Inhalt auf der subjektiven Interpretation basiert. Das Werk bedarf der Interpretation, wenn wir diesem in seinem Inhalt und in seiner Identität gerecht werden wollen. Verdeutlichen wir diese Korrespondenz von Sujet und Aboutness als Frage nach Darstellbarem und Nicht-Darstellbarem an dem Beispiel der Bimah in Newmans Synagogenentwurf. Was will Newman mit der Überblendung von Hügelgrab und Thoralesepult darstellen, was will er damit ausdrücken? In der von ihm vorgenommenen Bezeichnung der Bimah als mound gibt er das Sujet an: die Verkörperung der Bimah als Hügelgrab. Und die Aboutness? Newman beschreibt diesen besonderen Moment des Erfasstseins des Menschen vor Gott in dem Augenblick, wenn man die Thora liest, wie folgt: »Die Synagoge ist mehr als ein Gebetshaus. Sie ist ein Ort, Makom [Ort Gottes], an welchem jeder Mann aufgefordert werden kann, vor der Thora zu stehen und seinen Teil zu lesen. [...] Hier, in dieser 68 | Während das Sujet in der Architektur üblicherweise über die Form hergestellt wird (beim Patenthauses ist es das klassische Haus, bei Sant' Andrea sind es Tempel und Triumphbogen, beim Farnsworth House ist es die abstrahierte Struktur), verliert das Sujet in der Identität des Anderen seine eindeutige Bindung an die Form und wird gleichermaßen auch vom Material bestimmt.
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Synagoge, sitzt jeder Mann allein und abgesondert unter seinen Unterständen und wartet auf seinen Einsatz, nicht um eine Bühne zu besteigen, sondern um hinaus auf das Feld zu treten, wo er, unter der Spannung dieses ›Zim Zum‹, welches das Licht und die Welt erschuf, vor der Thora und Seinem Namen das umfassende Gefühl für seine eigene Persönlichkeit erfahren kann.«69 Angesichts der Doppeldeutungen in Newmans Entwurf ist die Aboutness nicht eindeutig fassbar – sie steht nicht mehr für eine institutionalisierte Bedeutung, wir können keinen übergeordneten Begriff dafür finden, so wie wir die ›Darstellung von Macht‹ als Aboutness der Fassadengestaltung von Sant' Andrea bestimmt haben. In der Identität des Anderen verabschiedet sich die Architektur von einer Verpflichtung auf die Aboutness im Werk selbst: das Werk ist, was es darstellt, in der Rückführung auf sein Selbst, in all seiner Nichtdarstellbarkeit, Nichtbegreifbarkeit und Nichtbeschreibbarkeit. Die Aboutness liegt nun in dem Moment der ›Präsenz‹, die der Betrachter an ihr erfährt. Die Aboutness wird zu einem ephemeren, nicht mehr greifbaren Parameter der Gestaltung zwischen Subjektbezug und konkreten architektonischen Elementen: sie tritt aus dem gewohnten Kontext des Zeichens als einem Ausdruck von gesellschaftlich institutionalisierter Bedeutung heraus. Auszudrücken ist nur die Uneindeutigkeit des Erfasstseins durch das Werk. So ist Newmans Überlagerung von Bild und Begriff für die Bimah einerseits nicht-identisch, denn die Bimah hat einen anderen Begriff als das Hügelgrab. Doch ist sie gleichermaßen auch nicht unidentisch, d.h. sie ist nicht gänzlich fremd, da sie über die Ähnlichkeit des Bildzeichens die Anschauung im Kontext Synagoge offen hält: sie vermag die Seele zu erfassen, dies aber nur durch ihre Uneindeutigkeit, durch ihre Offenheit, die vom Objekt auf uns übergeht. Betrachten wir die Identität des Anderen in ihrer architektonischen Charakteristik, so müssen wir feststellen, dass es nun nicht mehr die Aufgabe 69 | Newman. Schriften und Interviews (wie Anm. 41). S.263. Armin Zweite ergänzt: »Der [...] Begriff Tzim-Tzum entstammt der lurianischen Kabbalistik und meint das Paradoxon des ›Zurückziehens›, bzw. des ›Rückzugs‹. Nach Isaak Luria Aschkenasi (1534-72) lag der erste Akt des Schöpfers nicht darin, sich in etwas anderem zu offenbaren, nicht in dem Hinaustreten aus seinem verborgenen Selbst, sondern vielmehr im Zurückweichen. Gott zog sich von sich aus in sich selbst zurück, wobei er mit dem entstehenden Leere Raum für spätere Welten ließ. Gott konnte sich nur manifestieren, weil er sich zuerst zurückgezogen hatte.« In: Zweite. Barnett Newman (wie Anm. 44). S.246f.
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von Architektur ist, den Gebrauch als solchen zu thematisieren, dem Nutzer durch Funktion zu dienen, durch Bedeutung in seinem Ausdruck zu wirken oder durch ästhetische Raffinesse Vergnügen zu bereiten. In der Identität des Anderen kündigt sich das Sein »imperativisch«70 an; es ist eine Aufforderung an den Betrachter, die keine Lösung vorwegnimmt. Wie die Kunst, so erfüllt auch Architektur als Bau-Kunst in dieser Weise nach Lyotard »eine ontologische, das heißt ›chronologische‹ Aufgabe. Sie erfüllt sie, ohne sie zu vollenden.«71 Sie bleibt offen in ihrem Wahrgenommen-Werden. Sie verwehrt sich darin gegen ihre Vollendung, und das auf eine Art, die mit dem Verweigern des Vergnügens und des offensichtlichen Schönen eine neue Tiefe in der Auseinandersetzung mit Architektur auslotet: »[...] von entscheidendem Gewicht ist jedoch die Begegnung mit dem eigenen Ich. So geht es letztlich um die absolute Autonomie des ästhetischen Subjekts angesichts des inkommensurablen Seins.«72 Die Art eines (gegenüber der Moderne) anderen, uneindeutigen, ja wahllosen Umganges von Bezeichnetem und Bezeichnendem ist gemeinhin als Postmoderne bezeichnet worden. Postmoderne, wie wir sie hier kennenlernen, ist gegenüber den ästhetisch lauten und bunten Artefakten zu differenzieren. Durch ihren bewussten, offenen Umgang mit dem Zeichen ermöglichen die hier vorgestellten Werke in ihrer Intention des Anderen die ursprünglich bereits in der Identität des Autonomen intendierte, dort aber nicht erreichte, neue Beziehung von Subjekt und Werk; oder um mit Lyotard zu paraphrasieren: erst die Postmoderne macht die Moderne und ihre Ziele verständlich.
Ästhetik als ›double-bind‹: Architektur nach dem Erhabenen Für die aktuelle Ästhetik macht Lyotard damit einen so genannten doublebind aus: der aus der Psychologie stammende Begriff benennt das ›doppelte Bindungsparadoxon‹ – das Ausgesetztsein gegenüber zwei unterschiedlichen, sich widersprechenden Handlungsmustern. Welches sind diese zwei Handlungsmuster in der Ästhetik des Erhabenen? Es ist das Paradox, einer70 | Lyotard. Der Augenblick, Newman (wie Anm. 40). S.105. 71 | Ebd. 72 | Zweite. Barnett Newman (wie Anm. 44). S.246.
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seits im Erhabenen die Darstellung verlassen zu wollen, und andererseits doch ein Idiom, ein Zeichen finden zu müssen, um die Kommunikationsfähigkeit des Ästhetisch-Sinnlichen aufrecht zu erhalten. Samuel Beckett (1906-1989) hat dies folgendermaßen zusammengefasst: »Denn was bleibt noch darstellbar, wenn es im Wesen der Sache liegt, sich der Darstellung zu entziehen? Darzustellen bleiben die Umstände des Sich-Entziehens.«73 – Darzustellen bleiben nicht nur die Umstände, auch die Bedingungen, die Modi des Entziehens, selbst wenn diese nur als Gegenbild zur eigentlichen Wahrnehmung aufgefasst werden können. Wir hatten diese Modi bereits als différance und als Widerstreit angesprochen; können diese philosophischen Diskursinhalte aber auch in der konkreten architektonischen Darstellung angewandt werden? Wenn dieses Nicht-Alltägliche nun in der Ästhetik des Erhabenen gleichermaßen als Negation zur Kunstform wird, so eröffnet es sich uns als ein »blank«74 – als ein »Ungeschriebenes«, als »Weißes«75: das Gedicht als Nicht-Sprechen, die Musik als Schweigen, das Gemälde als Nicht-Gestalt, die Skulptur als ready-made.76 Während Kant dem Subjekt Befreiung durch eigene Geschmacksbestimmung in der Autonomie in Aussicht stellt, dechiffriert Lyotard dieses 73 | Samuel Beckett. Peintres de l’Empêchement. Aus: Ders. Disjecta. London 1983. S.136. Übersetzung: TS. 74 | Lyotard. Anima minima (wie Anm. 4). S.208f. 75 | Jean-François Lyotard. Die Analytik des Erhabenen. München 1994. S.251. Im frz. Original steht hier: »blanc« = »weiß». 76 | »Gegenwärtig bemühen sich Künstler, Schriftsteller und manchmal auch Philosophen darum, in der Empfindung die ›Präsenz‹ dessen auszumachen, was der Empfindung entgeht: ein Neutrum, eine Grauzone, ein blank ›bewohnt‹ die Nuancen eines Klangs, eines Farbtons oder einer Stimme. [...] Ein Gedicht hält in seinen Wörtern das Nicht-Sprechen fest. [...] Ein blinder Gott wartet auf die Hilfe der Maler, um für uns sichtbar zu machen, was er ›sieht‹ – und was notwendig nicht das ist, was wir sehen. Die Musik von John Cage ist eine Hommage an das Schweigen. Die Kunst ist der Wunsch, dass die Seele dem Tod entgehen möge, den das Sinnliche ihr verspricht, aber gleichzeitig feiert sie in eben diesem Sinnlichen das, was sie dem Nichtsein entzieht. Burke hat diesen double bind genau beschrieben. Die anima ist vom Verlust bedroht: Sprechen, Licht, Klang und Leben fehlen absolut. Das bedeutet terror. Plötzlich ist die Drohung fort, der Terror aufgehoben, und das ist delight. Die Kunst und das Schreiben begnadigen die zum Tode verurteilte Seele, aber in einer solchen Weise, dass sie den Tod nicht vergisst.« Lyotard. Anima minima (wie Anm. 4). S.208f.
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Kantische Nebeneinander von ›Vernunftidee‹ und ›ästhetischer Idee‹ als »destruktive Allianz« für das Subjekt: »Der Geschmack versprach ihm ein schönes Leben, das Erhabene droht ihm mit dem Tod.«77 Denn was ist denn von den vorgestellten Darstellungsmodi des Autonomen oder des Erhabenen zu halten? Und was folgt daraus für das Subjekt? – Statt Befreiung und Autonomie erfährt es Erniedrigung und Vergewaltigung in der »Schuld«78 seines Nichtgenügens im logischen Verstehen des Werkes, das sich unter dem Modus des Metaphorisch-Autonomen zeigt. In diesem drastischen Urteil liegt die neue Wendung durch Lyotard: das rationale Nicht-Verstehen-Können verdeutlicht gerade unsere Abhängigkeit vom Sinnlich-Erfahrbaren. Selbst wenn wir ›autonom‹ sein wollen, so bleiben wir doch abhängig vom Sinnlichen, das wir verstehen wollen, ja verstehen müssen, auch wenn es ›erhaben‹ ist und sich unserer Vernunftidee versperrt. Die Seele soll angeregt werden, denn sonst besteht kein Leben; doch »die Seele kommt nur in Abhängigkeit vom Sinnlichen zur Existenz, und zwar als Vergewaltigte und Erniedrigte. [...] Auch im geheimen Einklang der Seele mit dem Sinnlichen bleibt die Betrübnis bestehen, die durch dieses double bind hervorgerufen wird.«.79 Kunst wie auch Baukunst sprechen nicht nur Lust oder Unlust an, sie wirken existentiell auf uns – sie haben damit grundlegend eine ethische Komponente. Was Kant mit seiner Kritik der Urteilskraft voneinander zu differenzieren suchte, fügt Lyotard nun wieder zusammen. »Indem er die künstlerische Form durch das Erhabene negiert, verlässt Lyotard die negative Ästhetik und entwirft eine Antiästhetik.«80 Die Identität des Anderen ist dem Schicksal ausgeliefert, sich vertrauter Elemente in der Formgebung bedienen zu müssen, soweit »das Zitieren von Elementen aus früheren Architekturen in der ›neuen‹ Architektur von einem der Verwendung von Tagresten aus dem vergangenen Leben in der Traumarbeit analogen Verfahren herrührt«.81 So ist es zu verstehen, dass »das ›post‹ von ›postmodern‹ [...] keine Bewegung des come back, flash back, feed back, das heißt der Wiederholung bedeutet, sondern einen ›Ana‹77 | Jean-François Lyotard. L’intérêt du sublime. In: J.-F. Courtine. Du Sublime. Paris 1988. S.167. Zitiert nach: Peter V. Zima. Ästhetische Negation. Würzburg 2005. S.162. 78 | Rancière. Das Unbehagen in der Ästhetik (wie Anm. 64). S. 111. 79 | Lyotard. Anima minima (wie Anm. 4). S.208. 80 | Peter V. Zima. Ästhetische Negation. Würzburg 2005. S.162. 81 | Lyotard. Notizen über die Bedeutung von »post« (wie Anm. 3). S.101.
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Prozess der Analyse, Anamnese, Anagonie und Anamorphose, der das ›ursprüngliche Vergessen‹ abarbeitet.«82 Das Werk in seiner Identität des Anderen bedarf der zitierenden Modi des Vertrauten. Die Andersheit begreift die Relation zum Eigentlichen als ihren Ausgangspunkt – sie ist so etwas wie ein lebensweltlicher Komparativ. Doch nicht in einer Bezugnahme auf die semantisierende Form, sondern im Vertrauen auf die Nuance, das Timbre; gerade die Aufnahme des Vertrauten schützt vor einer auf Autonomie ausgerichteten Formanalogie der Fremdheit, und vermag doch Andersheit zu erreichen, um »verborgene Bedeutungen [...] zu entdecken«83. Sinn und Bedeutung eines Werkes haben hierin einen über das subjektive Erleben hinausreichenden Stellenwert.
82 | Lyotard. Notizen über die Bedeutung von »post« (wie Anm. 3). S.105. 83 | Ebd.
Vierter Teil: Was ein Haus sein kann. Zu einer Architektur der Selbstheit
Auf ihrem Weg durch das Architekturzeitalter hat die ›Idee-von-Haus‹ verschiedene Konzeptionen mit unterschiedlichen Bedeutungshorizonten durchlaufen: Ň In der Identität des Selben bringt die ›Idee-von-Haus‹ ihr eigenes Selbst zur Darstellung, in der die Bedeutung nicht über das dargestellte Werk hinausgeht. Aus den philosophischen, architektonischen und künstlerischen Zeugnissen der griechischen Antike können wir diese Identität als das unbedingte »Insichstehen« des Werkes lesen. Sie zeigt sich uns heute nur mehr in der so genannten ›Anonymen Architektur‹ – einer Architektur ohne aufgesetzten ästhetischen Willen, die als ›schlicht‹ zu bezeichnen ist aufgrund der mit ihr selbst kongruenten Konzeption, die frei ist von stilistischen Besonderheiten. Unscheinbarkeit ist ihre Signatur, Schweigen ihr Ausdruck. Ň In der Identität des Ähnlichen sucht die ›Idee-von-Haus‹ ihr Selbst als Bedeutung aus historischen architektonischen Quellen abzuleiten. Referenz ist die Methode ihres Bedeutungstransfers – die Bedeutung ist im Bildlichen enthalten. Die Identität des Ähnlichen stellt die wohl vertrauteste Form von architektonischer Identität dar, doch bedarf sie der formalen Mäßigung und der Zeitlosigkeit ihrer architektonischen Mittel, womit erneut auf das ›Identische‹ als notwendige Grundlage zu verweisen wäre. Ň In der Identität des Autonomen sucht die ›Idee-von-Haus‹ ihr Selbst in der Eigenständigkeit des Objektes. Dabei unterliegt sie der Gefahr, gerade diese Autonomie aufgrund der Unfähigkeit des Betrachters zur begrifflichen Bestimmung in einer fremdgeleiteten Metapher preiszugeben. Die
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Identität der Autonomie birgt damit die Gefahr der Fremdheit in sich. Die Chance, die wir der Autonomie als Konzeption für die Lebenswelt der Architektur einräumen können, liegt in ihrer ausdrücklichen Bezugnahme auf die Architektur selbst: als Autonomie reinen architektonischen Seins, nicht in ihrer Bezugnahme auf eine architekturfremde Metaphorik. Ň In der Identität des Anderen zielt die ›Idee-von-Haus‹ auf die Nicht-Darstellung ihrer selbst. Einerseits ermöglicht sie die vorrationale Erfahrung des ›Identischen‹, andererseits eröffnet sie das Heraustreten des betrachtenden Subjektes aus dem ›Identischen‹, als eine Verlagerung der Wahrnehmung nicht mehr auf das Erkennen, sondern auf das Ereignis des Anrührens der Seele. Der Betrachter ist ausschließlich seiner eigenen, persönlichen Anschauung unterworfen, welche die Erfahrung der Präsenz vor deren Erfassung durch die Ratio setzt. Aus dieser vorprädikativen Erinnerung heraus formt sich das gesehene Konkrete zu einem subjektiven Surrogat: das Abbild des Werks entsteht je im Betrachter selbst. Das Selbst des Werkes, das notwendig in seiner architektonischen Sprache durchscheinen muss, löst sich zugunsten eines anderen Selbst oder eines Selbst im Anderen auf. Aus der hier dargestellten Entwicklung spricht eine zunehmenden Komplexität des architektonischen Gestaltens. Umgekehrt müssen wir uns aber fragen, ob die immer komplexere Ästhetisierung von Architektur tatsächlich zu einer Verbesserung der Qualität unserer gebauten Umwelt geführt hat. Wie also sieht im Gegensatz zu den hehren Denkkonzeptionen die heutige Realität unserer architektonischen Welt aus? Ohne viel nachzudenken wird man eingestehen müssen, dass für den Großteil des zeitgenössischen Bauens in seinem un-architektonischen Charakter keine der genannten ›Identitäten‹ zutrifft. Darüberhinaus müssen wir feststellen, dass mit zunehmender Geistesentwicklung und mit der Abkoppelung des ›Schönen‹ vom künstlerischen Werkbegriff sich das ›Schöne‹ auch von der Architektur abgekoppelt hat – paradoxerweise gilt Architektur in ihrem Ergebnis immer weniger als ›schön‹, je mehr die Ästhetik zum Inhalt architektonischen Gestaltung erklärt wird. Allzu gerne ausgeblendet wird in der allgemeinen Betrachtung von Architektur und vor allem in der alltäglichen Kritik der Architekturmagazine die einfache und grundlegende Frage: Wie erschließt sich uns ein architektonisches Werk? – Unsere Annäherung an ein Bauwerk kann nur über
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dessen »Vollzugssinn«1 gelingen. Was aber ist der Vollzugssinn von Architektur? Es ist die Frage, wie sich das Sein von Architektur in der bestehenden »Weltlichkeit«2 darstellt, zu der gleichermaßen Geschichte, Gesellschaft und Gebrauch zählen. Nur in ihrer Bezugnahme zum ›Identischen‹ der Architektur wird ein Bauwerk in seinem »Vollzugssinn« gelesen werden können – und nicht in einem primär funktionalen oder in einem primär stilistischen Formenspiel. »Wenn wir uns [...] einem ›Gegenstand‹ nähern, um herauszubekommen, was er ist; wenn wir seinen Seinssinn erfassen wollen, müssen wir uns in den Vollzugssinn hineinbegeben, aus dem heraus sich der Seinssinn überhaupt erschließen lässt.«3 Aus dem alltäglichen und umweltlichen Vollzug erschließt sich der Hintergrund des Seins eines Werkes. Käme es daher nicht darauf an, dass die Architektur sich zuvorderst zu einer eigenen, in sich selbst gegründeten Identität bekennt? Wie aber können wir der Architektur einen Weg weisen, ihrer Gesichtslosigkeit des Zeugseins in der funktionsorientierten Dienlichkeit zu entkommen, oder der Beliebigkeit einer ästhetisierten Oberflächlichkeit zu entrinnen. Die geläufige Stilgeschichte der Kunstgattungen stellt hier einen unsicheren Weg dar, basiert sie doch auf der vergleichenden Bezugnahme von Ähnlichkeitsmustern zwischen den verschiedenen Disziplinen. Die stilistischen Ähnlichkeiten unterliegen aber einem allgemeinen Formvergleich, weniger dem immanent Voraussetzenden einer spezifischen Disziplin. In der hier vorgestellten Schrift habe ich demgegenüber versucht, eine andere Wahrnehmung von Architektur darzulegen – sie zielt auf das Erkennen der zugrundeliegenden Intention in den vier Konzeptionen architektonischer Identität. Die hier vorgestellten Identitäten differenzieren sich von der gewohnt ›stilistischen‹ Blickweise durch ihre jeweilige Teilhabe am ›Identischen‹. Ich halte es für grundlegend, Architektur in diesen Konzeptionen zu denken, weil die Disziplin nur hierin zu einer in sich und mit sich kohärenten Gestalt und zu einer eigenen Selbstheit finden kann.
1 | Rüdiger Safranski. Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. München, Wien 1994. S.144. 2 | Hannah Arendt. Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958). München 1967. S.16. 3 | Safranski. Ein Meister aus Deutschland (wie Anm. 1). S.144.
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Architektur der Selbstheit in vorästhetischer Präsenz Ist Architektur als reines Selbst denkbar? Das Selbst ist das Wahrgenommene ohne Repräsentation. Was ist Architektur ohne Repräsentation? Es ist die Vorstellung einer Architektur in ihrem vorprädikativen Sein, die nicht im ›Bedeuten‹ beheimatet ist, sondern in ihrem ›Voraussetzenden‹. Wie aber finden wir dorthin? Der Mensch denkt in und orientiert sich an den Repräsentationen seiner Lebenswelt, zumal die Entwicklung des Geistes ihn gerade dieses Denken und Orientieren in Relationen und Ähnlichkeiten über Jahrtausende gelehrt hat. Den Menschen einer Architektur der Selbstheit als einer reinen, repräsentationslosen Architektur zuzuführen, bedeutet den Ausbruch aus der Welt des dienenden Zeuges, und es bedeutet den Ausbruch aus der Welt des ausdrucksbezogenen Werkes, welches auf eine andere Bedeutung verweist als die ihm Eigentliche. Weil die Architektur im Dienen und im Bedeuten über Jahrtausende einem anderem als ihrem Selbst gefolgt ist, einer immer weitergreifenden Übernahme wesensfremder Attribute nämlich, verdient sie es, nun als Architektur wieder selbst zum Thema zu werden. Nur indem sie ihre Fixierung auf die Funktion vernachlässigt, indem sie ihr Auf-den-Menschen-Bezogen-Sein in ihrem Gebrauch selbst erkennt, wird sie zu wahrer Architektur. Denn sind nicht gerade die Architekturen am innigsten sie selbst, die ihrer Funktion gegenüber offen sind, die sich ihrem Gebrauch verpflichten und ihre Erscheinung nicht durch die Übernahme wesensfremder Attribute überlagern lassen? Deswegen hat eine ›Architektur der Selbstheit‹ gerade dort eine Chance, wo sie eine (ur)eigene Präsenz vorstellen kann. Denn so paradox es erscheinen mag: der ästhetischen Empfindung im Sinne eines abhebendunterscheidenden Denkens entgeht die eigentlich-dingliche Präsenz. Was also heißt Präsenz? Präsenz – das ist das Ding und ich; eine Beziehung zwischen Menschen-Ich und Haus-Es4 , die das Objekt als »vor-ich-haft«5 auffasst, und es nicht einer Kategorie des scheinbar bereits Bekannten, des wissenden, ich-bezogenen ›Fürmich‹ unterstellt; Präsenz, das ist die Entbindung der Darstellung von jeder Bedeutung, die nicht sie selbst betrifft. 4 | Martin Buber. Ich und Du (1957). In: Ders. Werke. Erster Band. Schriften zur Philosophie. München 1962. S.77-170. Hier: S.93. Buber spricht vom Gegenüber zwischen »Menschen-Ich und Baum-Es«. 5 | Ebd.
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Mit Heidegger können wir uns dem Phänomen der Präsenz über den Begriff des »Umweltlichen« annähern. Das »Umweltliche« bedeutet, in einem Moment wahrzunehmen, dass in das Erkennen eines Dinges der gesamte lebensweltliche Rahmen des Dinges und meiner selbst einfließt: »Dieses Umweltliche [...] sind nicht Sachen mit einem bestimmten Bedeutungscharakter, Gegenstände, noch dazu aufgefasst als das und das bedeutend, sondern das Bedeutsame ist das Primäre, gibt sich mir unmittelbar, ohne jeden gedanklichen Umweg über ein Sacherfassen.«6 Mit Lyotard können wir das Phänomen der Präsenz als ein aisthetischlogisches Paradox ansehen, demzufolge wir dem Rätsel der Schönheit nachgehen wollen, ohne dass wir dieses je gänzlich aufdecken könnten. »Dass man von der sinnlichen ›Präsenz‹ eines ›Dings‹ ergriffen werden kann, [welches] das Sinnliche nicht in Formen präsentieren kann, ist ein Mysterium, das die normale Logik nicht begreifen kann.«7 Lyotard erweitert damit den Begriff des »Umweltlichen«, den Heidegger je im »Primären [...] ohne jeden gedanklichen Umweg über ein Sacherfassen« verankert, um den Widerspruch zwischen dem materiellem Erscheinen des Dinges in meiner Präsenz und dem immateriellen Erscheinen seiner Präsenz. Aus dieser Differenz heraus bestimmt sich der Wert eines Werkes. »Wenn Kunstwerke oft die lebendige Macht bewahren, uns zu ergreifen, obwohl ihr ›kultureller Kontext‹ verschwunden ist, so liegt das sicherlich auch daran, dass wir dieses Publikum ohne bestimmten Geschmack sind, das die Moderne legitimiert hat; aber vor allem durch die ›Manieren‹ ihrer Zeit erhalten diese Werke die geheimnisvolle ›Präsenz‹, die zeitlos ist, und zwar gerade dadurch, dass sie sie im Sinnlichen gegenzeichnen.«8 In der Präsenz geht es nicht allein um die vor-rationale Wahrnehmung des Augenblicks: Präsenz will eine bleibende Qualität des Objektes sein. Denn Präsenz wirkt vor jeder Reflexion, Präsenz ist vorprädikativ. Präsenz entbirgt sich nur in Form des Selbstseins eines Werkes, seines dauerhaften »Insichstehens«9: ein Kunstwerk mag darstellen, es mag erzählen, 6 | Martin Heidegger. Zur Bestimmung der Philosophie (1919). In: Ders. Gesamtausgabe. Band 56/57. Frankfurt/Main 1987. S.72f. 7 | Jean-François Lyotard. Anima minima (1993). In: Ders. Postmoderne Moralitäten. Wien 1998. S.201-213. Hier: S.205. 8 | Ebd. S.206. 9 | Martin Heidegger. Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36). Stuttgart 1965. S.35.
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es mag Bezüge herstellen zu wie auch immer gelagerten Phänomenen, es mag gegenständlich sein oder ungegenständlich – worauf es für das Werk als solches ankommt, ist dass es in-sich-steht und uns dennoch erreicht: »Das Kunstwerk erreicht uns dadurch, dass es jeden Abstand überbrückt.«10 Den Abstand überbrückt es in der Präsenz. Denn Präsenz ist die »Gegenwart der Vergangenheit«11 . Um es mit einem anderen Bild und in den Worten von Safranski zu sagen: in der Präsenz geht um das Phänomen einer Selbsttransparenz. »Ich sehe durch eine Glasscheibe auf die Gegenstände; mich selbst sehe ich erst, wenn diese Glasscheibe nicht mehr vollkommen durchsichtig ist, sondern reflektiert. Heidegger will eine Aufmerksamkeit [und auch Lyotard will sie], die das Hingegebensein an eine Situation unmittelbar erfasst. Es handelt sich um etwas Mittleres zwischen dem expressiven Ausdruck einer gelebten Situation auf der einen Seite und dem distanzierenden, vergegenständlichenden, abstrakt zurichtenden Sprechen darüber auf der anderen Seite. Es geht um eine Selbsttransparenz des Lebens in seinen jeweiligen Augenblicken.«12 Nicht allein nach ästhetischer Besonderheit sollten wir also streben – denn diese zielt auf subjektives Erlebnis, nicht auf Erkenntnis oder Verstehen. Stattdessen sollte es uns darum gehen, das Werk offenzuhalten einerseits für das Erkannt-Werden, also für den Bezug zum Bekannten als dem Moment des Wiedererkennens, andererseits für das Gelesenwerden, also für die Erfahrung des Selbst des Werkes. So ist Präsenz die begrifflich nicht fassbare Wahrnehmung dessen, was vor unserer rationalen Erfahrung liegt. Um in dem von Safranski eingebrachten Bild vom Blick durch die Glasscheibe zu bleiben: Die Wahrnehmung der Präsenz wirft uns hier keine andere Reflexion zu als diejenige, die vom Werk selbst ausgeht – Darstellung und Wahrnehmung sind in der Präsenz deckungsgleich, wenn die Empfindung dazu auch je unterschiedlich sein mag. Die Wahrnehmung unterläuft die Bedeutungsebenen der Form, gemäß denen traditionelle Lesarten und Sichtweisen mit 10 | Donatella di Cesare. Gadamer – ein philosophisches Portrait. Tübingen 2009. S.66f. 11 | Hans-Georg Gadamer. Ende der Kunst? Von Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst bis zur Antikunst von heute (1985). In: Ders. Ästhetik und Poetik I. GW 8. Tübingen 1993. S.206-220. Hier: S.208. 12 | Safranski. Ein Meister aus Deutschland (wie Anm. 1). S.121. Kursiv im Original.
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bestimmten Formen verkoppelt sind; nur indem wir diese form-fixierte Bedeutung zu umgehen versuchen, sehen wir das Selbst des Werkes. Mit Gadamer können wir damit »die Seinsweise der Kunst insgesamt durch den Begriff der Darstellung [charakterisieren], der Spiel wie Bild, Kommunion wie Repräsentation in gleicher Weise umfasst«13 . Wollen wir also sicherstellen, dass »Kunst nicht die Varietät wechselnder Erlebnisse ist, deren Gegenstand je subjektiv mit Bedeutung aufgefüllt wird wie eine Leerform, muss ›Darstellung‹ als die Seinsart des Kunstwerkes selbst anerkannt werden.«14 Präsenz heißt damit, dass uns diese Wahrnehmung der Darstellung empfängt und dorthin führt, wo wir zu uns selbst finden können, indem wir in ihr den eigentlichen Grund eines Werkes finden: denn »Darstellung bleibt [...] in einem wesenhaften Sinne auf das Urbild bezogen, das in ihr zur Darstellung kommt.«15 Schon im Begriff der ›Präsenz‹ vernehmen wir die vieldeutige Konnotation der Bezugnahme zur ›Darstellung‹, wie es aus dem französischen Begriff der (re-)présentation oder dem englischen der (re-)presentation sichtbar aufscheint. Unter Gadamers Blick auf das Werk wird zweitrangig, ob das Werk einem lebensweltlichen Bereich angehört (wie das Werk der Architektur) oder einem repräsentierenden (wie das Werk der Kunst) – in beiden Fällen ist »ihr Sein Darstellung«16. Ihre Seinsform mag je unterschiedlich wirken, doch haben beide Disziplinen eine Seinsform, die sich nicht von der Darstellung trennen lässt. Das Phänomen der Präsenz vermag also über die Darstellung dasjenige in uns anzurühren, was weiter zurückreicht als die Ratio: denn »die Seele, die durch das Sinnliche erweckt oder zur Existenz gebracht wird, kennt gewiss nicht ihre Vergangenheit, in dem Sinne, wie das Denken sich auf ein Objekt aus vergangenen Zeiten bezieht, um es zu reaktualisieren.«17 Wie aber gelangen wir zur Selbstheit der Präsenz? Wir gelangen zur Präsenz über das ›Identische‹, welches uns in der wechselseitigen Bezugnahme von Dinglichem, Bildlichem und Begrifflichem die unverstellte Direktheit einer Wahrnehmung ermöglicht – ohne mehr sein oder darstellen zu wollen. Es ist ein Alles, das bereits da ist. Bloch formuliert dazu: 13 | Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode (1960). Tübingen 1975. S.144. Kursiv im Original. 14 | Ebd. S.110. 15 | Ebd. S.133. 16 | Ebd. S.148. 17 | Lyotard. Anima minima (wie Anm. 7). S.212f.
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»Das Alles im identifizierenden Sinne ist das Überhaupt dessen, was die Menschen im Grunde wollen. So liegt die Identität allen Wachträumen, Hoffnungen, Utopien selber im dunkeln Grund und ist ebenso der Goldgrund, auf den die konkreten Utopien aufgetragen sind. Jeder solide Tagtraum meint diesen Doppelgrund als Heimat; er ist die noch ungefundene, die erfahrene Noch-Nicht-Erfahrung in jeder bisher gewordenen Erfahrung.«18
Wie können wir uns dem Grund von Architektur annähern? Die vorliegende Schrift verfolgt das Ziel, dem Grund von Architektur nachzugehen. »Nihil est sine ratione« – nichts ist ohne Grund, so lautet der Satz vom zureichenden Grund von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716). Heidegger legt in seiner Auslegung zum Satz vom Grund (1957) diesen im Sinne einer zweiseitigen Bedeutung des Begriffes ›ratio‹ aus: ›ratio‹ bedeutet einerseits ›Grund‹ als ›Ursprung‹, andererseits auch ›Vernunft‹. Damit etwas als seiend gilt, muss es be-gründet sein; diese Begründung vollzieht sich je über die Vernunft. Suchen wir also den rationalen Grund von Architektur im ursprünglichen ›Identischen‹, finden wir dort ihr Selbst. Das ›Identische‹ bildet damit einen der Architektur zugrundeliegenden Vernunftbegriff, der je verstandesgemäß differenziert zur Gestalt findet. Der Grund von Architektur fragt aber nicht nur nach vernunftgemäßer Begründung, sondern auch nach dem eigentlichen Ursprung von Architektur. Hat also der Mensch die Architektur erfunden oder hat er sie gefunden? Die Sichtweise der Architektur als Erfindung des Menschen ist uns geläufig – sie entspricht dem Bild des anthropozentrischen Denkmusters vom Menschen als »der Schöpfung König«19 . Architektur als Erfindung verweist auf die aristotelische Denkweise der »Ursachen«20, die ein Werk in seinem Werden bedingen. In Reaktion auf diese Ursachen erschafft der Mensch schließlich das, was wir als Bau-Werk vor uns sehen und was ihm sein Überleben auf Erden sichert. Ist das Haus damit Ausdruck des Prin18 | Ernst Bloch. Das Prinzip Hoffnung (1959). Frankfurt/Main 1985. S.368. 19 | Franz Grillparzer. Wieviel weißt Du, o Mensch, der Schöpfung König. In: Ders. Sämtliche Werke. Band 1. München 1960. S. 292-293. 20 | Vgl. dazu: Martin Heidegger. Die Frage nach der Technik (1955). In: Ders: Die Technik und die Kehre. Pfullingen 1962. S.7f. Siehe dazu in diesem Band S.104.
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zips der Ursachen im Sinne der téchne, oder ist das Haus Ausdruck eines vorprädikativen Bestandes, den der Mensch aus der Verborgenheit der Welt der idea hervorholt? Das Haus markiert den Übergang von Natur zu Welt, vom Ausgeliefert-Sein zum Geborgen-Sein, vom Gegebenen zum Bewussten. Gegeben sind die Konstanten des ›Identischen‹ von Architektur (da diese schlicht nicht zu umgehen sind), erfunden sind die Möglichkeiten, auf diese Konstanten zu reagieren. Was der Mensch als homo faber herstellt, um den in der Höhle gegebenen Schutz in eigener Weise umzusetzen und darzustellen, ist notwendig der Natur herausgeschnitten, hat Natur zerstört und ist damit erfunden. Das, was der homo faber herstellt, »ist nicht einfach da und gegeben wie die Früchte von Baum uns Strauch, die wir pflücken oder hängen lassen mögen [...].«21 Dennoch folgt es nach Husserl einer naturgemäßen »materiellen Ontologie«, derzufolge die Dinge nur ihrer Natur entsprechend verwendet werden können. Diesen einfachsten Blick auf die inneren Zusammenhänge scheinen wir über die technische Denkweise der Moderne verloren zu haben, die uns sämtliche Materialien in allen erdenklichen Formen zur Verfügung zu stellen scheint – unter Missachtung ihres eigentlichen Wesens, ihres Seinsgehaltes. Herstellen ist im physischen Prozess das Finden von etwas, was weiterbearbeitet werden kann, so dass es überdauert. Im geistigen Prozess aber ist das Herstellen als Erfinden an das bereits Gefundene gekoppelt: die ›Idee-von-Haus‹ müssen wir nicht erfinden, sie ist bereits da. Was wir beständig neu zu erfinden suchen, das ist eine immer wieder neue ›Idee-für-Haus‹, die mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln neu und anders umschreiben will, was die Konstanten doch schon seit jeher fordern. Worin kann nun unsere Aufgabe als Architekten liegen angesichts einer immer weiter von ihrem Grund entfremdeten Architektur? Sie kann darin liegen, in der Wahrnehmung des Hergestellten auf ein Ur-Bild, auf einen Ur-Begriff, auf ein Ur-Ding anzuspielen, um dem Nutzer die Möglichkeit zu eröffnen, je selbst dasjenige im Werk auszuloten, was ihn selbst daran anspricht, und nicht der vorgefasst subjektiv-ästhetischen Auffassung des Entwerfers folgen zu müssen. Der Spielraum ist nicht der zwischen Objekt und Subjekt, im Sinne von Gebendem und Nehmendem, der Spielraum auf der Basis des Seins von Architektur wird eröffnet zwischen dem Erkennen und dem Verstehen eines Werkes.
21 | Arendt. Vita activa (wie Anm. 2). S.165.
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Erkennen vollzieht sich nach dem Prinzip des Wieder-Erkennens als Verhältnis dessen, was man aktuell wahrnimmt, zu dem, in welcher bereits bekannten Beziehung dieses steht: in dem Bild, welches wir wahrnehmen, erkennen wir gleichzeitig das Urbild dessen, was dieses Bild prägt. Das Bild ist damit immer eine Bezugnahme auf Bekanntes. »Das ›Bekannte‹ kommt erst in sein wahres Sein und zeigt sich als das, was es ist, durch seine Wiedererkennung.«22 Gadamer fasst dieses Beziehungsgeflecht von Wiedererkennen und der Nachahmung des Erkannten, also zwischen Anamnesis und Mimesis, wie folgt zusammen: »Das mimetische Urverhältnis, das wir erörtern, enthält also nicht nur, dass das Dargestellte da ist, sondern auch, dass es eigentlicher ins Da gekommen ist. Nachahmung und Darstellung sind nicht abbildende Wiederholung allein, sondern Erkenntnis des Wesens.«23 Was uns an einem Werk anspricht, ob aus der bildenden Kunst oder aus der Architektur, ist also seine Bezugnahme auf das bereits Bekannte, Vertraute, auf das, was im Werk für sich steht und von sich spricht. Adorno formuliert dazu: »Kunstwerke [...] helfen durch ihren Ausdruck, diffuse und vergessene Erinnerungen wieder in das Bewusstsein zu heben ohne sie zu rationalisieren.«24 Es ist dies die kognitiv unbestimmbare Ebene des vor-prädikativen Seins im Werk. Um diesen Dialog mit der Seele muss es uns gehen, unabhängig von allen zu erfüllenden rationalen Pflichten; um einen Dialog mit der anima, ausgelöst durch reine Empfindung, ohne verstandesgemäße Begriffe. In Anlehnung an die Kantische Definition des Schönen als dem, »was ohne Begriffe allgemein gefällt«25, untergräbt diese Empfindung das Rational-Begriffliche, den logos, indem sie uns an den Ursprung des Seins zurückführt, dorthin, wo Bild und Begriff noch eins waren. Dort hat die anima als das »Körper-Denken«26 ihren Ursprung – in unserer leibbezogenen Erinnerung. Will architektonische Gestaltung mehr sein als dienendes Zeug, muss es einen Bezug herstellen zu einem hinter den Werken stehenden Ursprung und zeigen, dass »deren eigener Gehalt über sie hinausweist in das Ganze eines von ihnen und für sie bestimmten Zusammenhanges. 22 | Gadamer. Wahrheit und Methode (wie Anm. 13). S.109. 23 | Ebd. 24 | Theodor W. Adorno. Ästhetische Theorie. Frankfurt/Main 1970. S.88. 25 | Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft (1790). In: Ders. Werkausgabe in 12 Bänden. Band X. Wiesbaden 1957. § 9. S.134. 26 | Lyotard. Anima minima (wie Anm. 7). S.206.
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Die vornehmste und großartigste Kunstform, die unter diesen Gesichtspunkt gehört, ist die Baukunst.«27 Und weiter führt Gadamer aus: »Wenn ein Bauwerk ein Kunstwerk ist, dann stellt es nicht nur die künstlerische Lösung einer Bauaufgabe dar, die von dem Zweckzusammenhang und dem Lebenszusammenhang gestellt wird, dem es ursprünglich zugehört, sie hält diesen auch irgendwie fest, so dass er sinnfällig da ist, auch wenn die gegenwärtige Erscheinung der ursprünglichen Bestimmung ganz entfremdet ist. Etwas in ihr weist auf das Ursprüngliche zurück.«28 Die Bezugnahme auf das »Ursprüngliche« meint nun gerade nicht die zwanghafte Suche nach dem ›Neuen‹. Es kann nicht darum gehen, mit der ästhetischen Lautstärke des ›Besonderen‹ argumentieren zu wollen, in gleicher Weise wie uns die rein ästhetische Betrachtungsweise nicht zum Eigentlichen des Werkes führen wird: ist ein Bauwerk »nur noch Gegenstand eines ästhetischen Bewusstseins, so ist es nur von schattenhafter Wirklichkeit und lebt nur noch in der entarteten Form des Touristenziels oder der photographischen Widergabe ein verzerrtes Leben.«29 Und doch scheint das Streben vieler zeitgenössischer Architekturen gerade dahin zu zielen: auf die momentane Attraktion, die durch alle Gazetten geht. Jenseits der Konzeptionen architektonischer Identität wird das hervorgebrachte Ergebnis nicht Anspruch darauf erheben können, Architektur zu sein, noch nicht einmal darauf, Werk zu sein – es ist reines Zeug der Praxis, das seine zweckbezogene Begründung in Feldern außerhalb der Architektur sucht und findet, zu denen insbesondere die sich selbst relativierende Argumentation zählt, Architektur sei das »Spiegelbild der Gesellschaft«.30 Stattdessen sollte uns daran gelegen sein, über die Bezug27 | Gadamer. Wahrheit und Methode (wie Anm. 13). S.148. 28 | Ebd. S.149. 29 | Ebd. 30 | Vgl. dazu: Jörg H. Gleiter. Architekturtheorie heute. Bielefeld 2008. S.16: »Will die Architektur ihre traditionelle gesellschaftliche Funktion als intersubjektiv gültige Form der Vermittlung der jeweils herrschenden Rationalität mit der Lebenspraxis wahren, so kann es zur Aufnahme der neuesten technologischen Verfahren in ihren Gehalt keine Alternative geben.« In dieser Auffassung der Architektur als »Spiegelbild der Gesellschaft« gelingt es, die architektonische Gestaltung einer jeden Epoche nach ihren je eigenen formalen Einflüssen zu argumentieren, wodurch sich dann auch die Zeiten gegeneinander unterscheiden lassen. Bereits die Tatsache der ›Gleichzeitigkeit der Stile‹ im zwanzigsten Jahrhundert muss uns
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nahme auf eine ursprüngliche Sinnlichkeit der Architektur wieder empfänglich zu werden für deren Ursprung, im Sinne einer »Reminiszenz des Seins«, als das, »was die Subjektivität schon immer übersteigt.«31 Gemäß einer solchen Suche nach den Ursprüngen stellt Merleau-Ponty heraus, dass die »natürliche vorprädikative Einheit der Welt und unseres Lebens [...] deutlicher als in objektiver Erkenntnis [...] in unserem Wünschen und Schätzen und unserer Umwelt [erscheint], die gleichsam den Grundtext liefert, den unser Erkennen in eine exakte Sprache zu übersetzen sucht.«32 Der hier eingebrachte Begriff des Wünschens ist als Gegenbegriff zu dem des Wissens zu lesen – das Wünschen ist der ursprünglichen menschlichen Verfassung näher als die abstrakten Konstruktionen des analysierendrationalen Denkens. Nach Merleau-Ponty besteht zwischen Subjekt und Welt eine vorprädikative Einheit, die aus der Wechselbeziehung von Souveränität des Leibes zu den Dingen und seiner Distanz herrührt. MerleauPonty fasst daher unsere absichtsvoll-herstellende Handlung im Gestalten nicht als Leistung des aktiven Subjektes auf, sondern setzt vielmehr eine ›Intention im Inneren des Seins‹, eine ursprüngliche Intentionalität voraus, die vorprädikativ ist und in einem gegebenen ›körperlichen Sichverhalten‹ zu den Phänomenen besteht. Damit stehen die Gestaltungsmöglichkeiten grundlegend in einer Abhängigkeit zu den Möglichkeiten unseres Menschseins: »Bewusstsein ist Sein beim Ding durch das Mittel des Leibes.«33 aber von dieser Denkweise der Relation von Gesellschaft und Gestaltausdruck im Sinne eines ›Stiles‹ Abstand nehmen lassen. Blicken wir stattdessen von der Oberfläche auf die hinter der Gestaltung stehenden Intentionen, so ergibt sich ein anderes Bild der Beziehung zwischen Gesellschaft und ihren Ausdrucksformen in dem Gestalten von Architektur: Konzeption ist nicht mehr ein auf Abwechslung der einen gegen die andere Epoche angelegtes Schema einer Zeitfolge, sondern die Befragung der Intention im Gestalten, der Frage nach der Absicht des Werkes, der Frage nicht nach dem Prädikat dessen, wie gestaltet wird, sondern was hinter dem Gestalten an Rückgriffen auf dessen vor-prädikatives Sein liegt: die Denkweise der Konzeptionen einer Identität von Architektur vollzieht sich als eine von den Stilismen unabhängige Gestalt suche, die im Kern eine Auseinandersetzung mit dem Selbst ihrer eigenen Disziplin führt. 31 | di Cesare. Gadamer (wie Anm. 10). S.64. 32 | Maurice Merleau-Ponty. Phänomenologie der Wahrnehmung (1945). Berlin 1965. Vorwort. S.15. 33 | Ebd. S.167f.
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In welcher Beziehung steht dazu nun die Identität von Architektur? Erst über den Bezug auf die Identität und deren Intention vermögen wir uns im Erkennen an dem zu orientieren, was als Grund hinter der Gestalt liegt. Das Erkennen der Identität und das Erkennen der Gestalt sind damit zwar nicht deckungsgleich (weil das eine sich auf Sätze beruft, das andere auf Formen), aber sie verweisen schlüssig aufeinander. Die unterschiedlichen Konzeptionen von Identität in der Architektur beziehen sich als unterschiedliche Modi der Identität auf eben diesen Grund von Architektur im ›Identischen‹, auf das vorprädikative Sein ihrer selbst. Je mehr sich Architektur von der gebräuchlichen Übernahme wesensfremder Attribute zu emanzipieren sucht, umso mehr lässt sie wieder von ihrem eigentlichen Grund im ›Identischen‹ durchscheinen. An dieser Stelle der Suche nach dem Grund von Architektur kommt uns die Philosophie zur Hilfe: denn nach Merleau-Ponty gehört »zur ersten Aufgabe der Philosophie [...] der Rückgang auf die diesseits der objektiven Welt gelegene Lebenswelt, um aus ihr Recht und Grenzen der Vorstellung einer objektiven Welt zu verstehen: den Dingen ihre konkrete Physiognomie wiederzugeben, das eigentümliche Weltverhältnis eines Organismus und die Geschichtlichkeit der Subjektivität zu begreifen, um Zugang zu gewinnen zum phänomenalen Feld der lebendigen Erfahrung, in dem Andere und Dinge uns anfänglich begegnen, zum Ursprung der Konstellation von Ich, Anderen und Dingen.«34 Damit deutet sich eine Überschneidung von philosophischem Impetus und architektonischer Gestaltung an. Will die Philosophie »den Dingen ihre konkrete Physiognomie« wiedergeben, so baut sie hier eine Brücke nicht nur zum Verstehen von Welt, sondern sie fordert von der Architektur statt dem Streben nach Neuem ein viel wesentlicheres Erkennen von Welt in der architektonischen Gestalt. Architektur mag dieses als einen deutlichen Hinweis aufnehmen, wohin ihr Gestalten von Welt zielen sollte: zum ursprünglichen Verstehen. Dieses Verstehen wird so zu einem Vermögen, das die eigentliche Bedeutung von Architektur in ihrem schlichten Gebrauch entbirgt. Gadamer fasst das in dem so knappen wie tiefgreifenden Merksatz zusammen: »Verstehen ist Nichtauslegenkönnen«35 . Wo kein Raum mehr ist für Interpretation, dort sind wir beim Verstehen 34 | Merleau-Ponty. Phänomenologie der Wahrnehmung (wie Anm. 32). S.80f. 35 | Hans-Georg Gadamer 1999 anlässlich einer Tagung in Heidelberg. Nach: Jean Grondin. Einführung zu Gadamer. Tübingen 2000. S.23.
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angelangt. Verstehen meint eben nicht allein das rationale Verstandesprinzip des Erkennens einer adaequatio, auf welches sich in der umgekehrten Richtung eines rationalen Begründens sich insbesondere die Moderne ausgerichtet hat. Den Grund von Architektur erreichen wir nicht, indem wir rational ein ›Nebeneinander‹ von unterschiedlichen architektonischen Themen als eine vom Subjekt gesetzte konzeptionelle Einheit begründen – wir erreichen diesen Grund von Architektur nur, indem wir die Architektur von ihr selbst her sich selbst begründen lassen, und dies auf der Basis einer »ästhetischen Nichtunterscheidung«36 – also gerade in der Entgegensetzung zum verbreiteten Motiv der »ästhetischen Distanz«. Das Dargestellte in der ästhetischen Nichtunterscheidung »ist so sehr das Gemeinte, das, worin die Bedeutung der Darstellung liegt, dass die [...] Darstellungsleistung als solche gar nicht zur Abhebung gelangen«37 muss, so dass diese also nicht ästhetisch, sondern an sich wahrgenommen wird. Mit anderen Worten: das Werk steht im Vordergrund, der Autor wird unsichtbar. Dieses zielt auf eine architektonische Gestaltung, die inhaltlich und konstruktiv und bildhaft eine Ganzheit darstellt, die sich dem Gebrauch durch den Menschen öffnet. Diese Ganzheit ist die notwendige Basis im Verstehen eines Werkes – nicht seine subjektiv gesetzte gestalterisch-ästhetische Besonderheit. Verstehen bezieht sich sowohl auf die (äußere) Welt, in der das Werk steht, wie auch auf die (innere) Welt, die selbst in dem Werk aufscheint. Auch Adorno bezieht sich in seiner Ästhetischen Theorie auf einen UrGrund, den er das »Immergleiche« nennt. Aufgabe jeder Kunst sei es, dieses Immergleiche, diese Natur der Sache, als Urgrund und als Basis aller Herstellung aufzufassen und es aus diesem Bewusstsein heraus zum »Anderen« hin zu wandeln: denn das Werk »transzendiert nicht durch die bloße und abstrakte Differenz vom Einerlei, sondern dadurch, dass es das Einerlei rezipiert, auseinandernimmt und wieder zusammensetzt; was sie ästhetische Schöpfung nennen, ist solche Komposition. Über den Wahrheitsgehalt von Kunstwerken ist danach zu urteilen: wie weit sie das Andere aus dem Immergleichen zu konfigurieren fähig sind.«38 Auf den Bezug zum Ursein kommt es an; in einer freien Komposition laufen wir Gefahr, den Bezug zum Selbst zu verlieren. Indem wir uns im Werk nicht allein einem ratio-geprägten Eindruck des Äußeren widmen, indem wir 36 | Gadamer. Wahrheit und Methode (wie Anm. 13). S.111. Kursiv im Original. 37 | Ebd. 38 | Adorno. Ästhetische Theorie (wie Anm. 24). S.462.
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dieses nicht subjektiv von uns her ›auslegen‹, sondern indem wir es dem Werk erlauben, seine Welt-in-sich als sein Selbst zum Vorschein zu bringen, nähern wir uns diesem Verstehen als einem »Nichtauslegenkönnen«. Die hier beschriebene Sequenz von Erkennen und Verstehen bringt damit sowohl den Ur-Grund wie auch die Aktualität der Präsenz zur Überlagerung. Architektur als eine Disziplin, der diese Präsenz seit jeher zueigen ist, darf ihren Ur-Grund nicht verschütten lassen. Lässt sie diesen aber von stilistischen, ästhetischen, technischen oder ökonomischen Überwürfen verdecken, so vermögen wir auch ihr Wesen nicht mehr wahrzunehmen. Und dieses hindert uns am Verstehen dessen, was vor uns liegt. Es wird zu einem hermetischen Zeug, welches notwendig dient und neben dem Dienen einem besonderen Ausdruck als einem subjektiven ästhetischen Bedeuten zustrebt. Worin liegt der Ur-Grund der Architektur? Er findet sich in der Tatsache, dass Natur und Mensch nicht eins sind. Die Natur besteht schon immer – sie bedarf nicht des Menschen. Die Architektur als Disziplin des Schutzes gegen die Natur zeugt gerade von der Inhumanität der Natur. Der darin verborgene Widerspruch, dass ja auch der Mensch Teil der Natur ist, stellt die Grundlage der Auseinandersetzung mit der Natur in jeder möglichen Gestaltungs- und Darstellungsform dar, die nicht nur die Kunst, sondern auch die Architektur inhaltlich ausmacht. In diesem Sinne geht es auch für die Architektur nicht nur um das Sichtbarmachen dessen, was nicht sichtbar und daher unbekannt ist; es geht gerade um ein Sichtbarmachen dessen, was nicht sichtbar und dennoch nicht unvertraut ist – weil wir den Ur-Grund ja bereits kennen, wie Merleau-Ponty ausführt: »Der Künstler fixiert für die ›menschlichsten‹ der Menschen das Schauspiel, an dem sie teilnehmen, ohne es zu sehen, macht es ihnen zugänglich.«39 Das ist der Kern eines Werkes. In diesem Kern können wir die inhaltliche Nähe von Architektur und Kunst ausmachen. Nicht um formale Nähe geht es im Diskurs der beiden Disziplinen, nicht um stilistische Verwandtschaft, ihr Gemeinsames liegt in der Erfahrung der Erinnerung. Die Architektur vermag ihren »menschlichsten« Bezug zum Ur-Sein in der Präsenz von Erinnerung zu erreichen – ihre darstellbare Identität ist jeweils die notwendige Hülle.
39 | Maurice Merleau-Ponty. Der Zweifel Cézannes (1945). In: Ders. Sinn und Nicht-Sinn. München 2000. S.11-33. Hier: S.24.
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Das ›Antlitz‹ der Architektur Die Untersuchung der ›Identität von Architektur‹ auf der Basis des ›Identischen‹ ist weniger als Rechtfertigung zu sehen als ein Aufdecken dessen, was die Intention einer Konzeption von Architektur ausmacht: die Wahrheit im Werk. Wahrheit als Unverborgenheit heißt dabei, die Herausforderung in dem architektonischen Spiel des Verhüllens und Enthüllens aufzunehmen; eine Ahnung zu erlangen von dem, was Architektur von sich aus zu sagen vermag, und sich dabei bewusst zu sein, dass wir »nie [...] die Idee oder die Freiheit von Angesicht zu Angesicht«40 schauen können. Im Erscheinen allein werden wir die Wahrheit des Werkes also nicht wahrnehmen können. Damit ist der ästhetische Blick auf das Objekt per se in Schranken gewiesen. Demgegenüber sucht die hier vorgestellte Sichtweise, den Weg zum Werk über die Identität des Artefaktes in der Architektur zu eröffnen – Identität als eine gesellschaftliche, gebrauchsbezogene wie auch geschichtlich wirksame Komponente in Abhängigkeit ihres ›Identischen‹. Ein Begriff von Lévinas mag dieser Form der Annäherung an ein Werk gerecht werden. Die Annäherung darf nicht als eine Inbesitznahme zu verstehen sein, sondern vielmehr als eine offene Auseinandersetzung mit dem Werk jenseits von ganzheitlicher Inanspruchnahme: es ist der Begriff des »Antlitzes« unseres Gegenübers, als das wir auch ein Werk ansehen können. »Das Antlitz entzieht sich dem Besitz, meinem Vermögen. In seiner Epiphanie, im Ausdruck, wandelt sich das Sinnliche, das eben noch fassbar war, in vollständigen Widerstand gegen den Zugriff.«41 Das »Antlitz« spricht mich nicht an im Sinne der oberflächlichen Wahrnehmung des Gesichtes des Anderen – hier geht es um das Gewahrwerden des Besonderen im Allgemeinen. Der Begriff des »Antlitzes« ist Ausdruck des Vermögens, des Anderen gewahr zu werden, ohne sich dieses vollständig aneignen zu können. Doch das ist nur möglich, wenn wir dieses Gegenüber in seinem Selbst wahrnehmen und akzeptieren. Das »Antlitz« setzt damit ein Selbst des Gegenübers voraus. Und dies ist nur denkbar, wenn dieses Selbst von einer Identität geprägt ist. »Das Antlitz spricht mit mir und fordert mich dadurch zu einer Beziehung auf, die kein gemeinsames 40 | Merleau-Ponty. Der Zweifel Cézannes (wie Anm. 39). S.33. 41 | Emmanuel Lévinas. Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität (1980). München, Freiburg 1993. S.282.
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Maß hat mit einem Vermögen, das ausgeübt wird, sei diese Vermögen nun Genuss oder Erkenntnis«42 . Nicht das Befriedigen von Erwartungen ist sein Thema, sondern das Offenhalten des Geheimnisses im Selbst des Gegenübers, des Anderen – zu dem ich hier auch die Werke der Architektur zähle. Der Begriff vom »Antlitz« der Architektur ist aufzufassen als ein Gewahrwerden der Architektur in ihrem Selbst, ihrer spezifischen Identität. Dieses Bewusstsein markiert einen Gegenblick zum gewohnten kunsthistorischen Stildenken, einen Gegenblick zum formalen ästhetischen, d.h. abhebenden oder unterscheidenden »Kunstwollen«, ein Gegenmoment zum übergeordneten Neuheitsparadigma der Moderne. Will Bauen Architektur als Ergebnis haben, also Architektur als »Antlitz« im Sinne eines Gegenübers, so kann der entwerferische Weg nur über das architektonische Selbst erfolgen, welches das Werk in seiner eigenen Disziplin verortet. Wir sollten daher versuchen, den architektonischen Entwurf nicht mehr als ›freies‹ Feld der Gestaltung zu betrachten, sondern als eine Herausforderung zum Weiterdenken der immer und überall schon bestehenden ›Identität von Architektur‹ an ihrem Ort, in ihrem Kontext von Stadt. Die ›Identität von Architektur‹ ist schon vorhanden, sie muss nicht von uns erfunden werden. Die Frage nach der ›Identität von Architektur‹ beschreibt damit den Denkraum, in dem wir uns dem architektonischen Werk über die Parameter des ›Identischen‹, über das Begriffliche, Bildliche und Dingliche zu nähern vermögen, und zwar in der jeweiligen Rückbeziehung auf das ›Ursein‹ von Architektur, welches dabei notwendig überschritten wird. ›Identität von Architektur‹ ist das Festhalten am Ursein und die Differenz von seinem Ursein. ›Identität von Architektur‹ ist nicht Ort des Ausdrucks personaler Identität. ›Identität von Architektur‹ ist nicht Narrativität vom Menschsein, sie ist Narrativität am Haussein selbst.
42 | Lévinas. Totalität und Unendlichkeit (wie Anm. 41). S.283.
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Epilog
»Kunst wird human in dem Augenblick, da sie den Dienst kündigt. Unvereinbar ist ihre Humanität mit jeglicher Ideologie des Dienstes am Menschen. Treue hält sie den Menschen allein durch Inhumanität gegen sie.« THEODOR W. A DORNO . Ä STHETISCHE THEORIE .1
Die Architektur wieder in der Architektur zu beheimaten, ist Ziel dieser Schrift. Architektur ist nicht Kunst, weil sie eine eigene Form der Identität besitzt, die sie als ›Baukunst‹ inhaltlich wie auch formal von den anderen Ausdrucksformen der bildenden Kunst unterscheidet. Für die Frage nach dem, wie sich die Architektur zur Darstellung bringen kann, hat dieser Band vier verschiedene Konzeptionen aufgezeigt. Was ein Haus je im Einzelfall sein mag, hängt von der Intention seines Entwurfes ab. Die Intention im Sinne der vier Konzeptionen der Identität von Architektur ist dabei unabhängig davon, ob ein Haus ›dient‹ oder ob es ausschließlich sich selbst verpflichtet ist. Nicht allein im ›Dienen‹ oder im ›Nicht-Dienen‹ liegt also der Unterschied von Architektur gegenüber der Kunst. Der Unterschied von Architektur und Kunst liegt im Wesen, im Selbst ihrer Disziplin – und indem wir die jeweilige Disziplin in ihrer Gestaltung in sich selbst begründen, werden wir auch ihre eigenen Identität nahekommen können. Ein Werk gewinnt seine eigene Identität nicht dadurch, dass es sich zu etwas formal Besonderem erklärt und für diese angestrebte Besonderheit die Grenzen der eigenen Disziplin auflöst; ein Werk gewinnt dadurch Identität, dass es sich basierend auf dem Wesen seiner Disziplin von äußeren Zwängen befreit und auf sich selbst gründet. Identität im Werk hängt 1 | Theodor W. Adorno. Ästhetische Theorie. Frankfurt/Main 1970. S.293.
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davon ab, inwieweit ein architektonisches Werk die Erinnerung an das Haussein selbst ausreichend zu thematisieren versteht, um ein in-sichstehendes Werk darzustellen. Adornos Hütte (1989, Abb. 26) von Ian Hamilton Finley (1925-2006) zeigt die Bezugnahme auf das ›Voraussetzende‹ von Architektur im Werk. Als Werk spricht es uns unvermittelt an in der Assoziation seiner Form und in der Konkretion seines Materials: hierin zeigt sich gleichermaßen die Erinnerung an das Ur-Sein von Architektur und die Varianz von diesem Ur-Sein – und daher ist es zweitrangig, ob es ein Kunstwerk oder ein architektonisches Werk darstellt: es ist eine Hütte. Aus dem ›Voraussetzenden‹ seines Ur-Seins entsteht sein Selbst als Werk und Hütte, unabhängig davon, ob es in diese Hütte hineinregnet, ob sie wirklich Schutz bietet oder nicht. Das Werk bietet uns eine intendierte Struktur, die auf ihr Sein als Hütte verweist: auf den Schutz, der von ihr ausgehen kann – vergleichbar mit der ›Urhütte‹ des Filarete (Abb. 6, S.65). Ihrer Natur gemäß trägt die Architektur solche Struktur in sich – und angesichts des Werkes von Finlay stellt sich uns die Frage, ob Architektur das pure Selbst ihrer Struktur und damit ihres Ur-Seins auch so unmittelbar zu zeigen vermag; denn Vieles von dieser immanenten Wahrheit droht in der Realität des konkreten Bauwerkes durch den Schein der Notwendigkeit verdeckt zu werden. In dem Rückgriff auf die Erinnerbarkeit des Ur-Seins der Architektur wird die Frage, ob Architektur Kunst ist, obsolet. Architektur ist eine eigene Weise der Darstellung vom In-der-Welt-Sein des Menschen. Indem wir das architektonische Werk in sich selbst gründen und begründen und nicht primär auf ein Äußeres seiner selbst beziehen, wie z.B. auf seine ästhetische Wirkung, auf seinen Ausdruck, auf seine Referenz, o.ä., brauchen wir nicht mehr Adornos Diktum des ›Inhumanen‹ der Kunst gegenüber dem ›Humanen‹ als dem ›Dienenden‹ der Architektur zu folgen. Architektur soll als Architektur sich selbst verpflichtet sein, weil in ihrer Selbstverpflichtung der Gebrauch durch den Menschen, der Gang durch die Geschichte, die Bindung an die Gesellschaft per se einbezogen sind. Ist die Architektur sich ihrer eigenen ›Identität‹ bewusst, muss sie sich nicht mehr architekturfremder Quellen bedienen und findet so zu einem selbstverständlichen Werkbegriff zurück. Indem wir der Architektur eine eigene ›Identität‹ zugestehen, können wir das anthropozentrische SubjektObjekt-Verhältnis zwischen Betrachter und Werk als überwunden ansehen und übergehen zu einer Beziehung zwischen Menschen-Ich und HausDu, dem wir in der Gestaltung nur zur Form verhelfen.
E PILOG
Abb. 26: Adornos Hütte, 1989. Ian Hamilton Finlay mit Keith Brookwell und Andrew Townsend. © Antonia Reeve. Aus: Ian Hamilton Finlay. A visual Primer. London 1992. S. 292.
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A BBILDUNGSNACHWEIS Die hier aufgeführten Quellen geben den Urheber der Abbildungen, bzw. deren Rechtsnachfolger an. Die Abbildungen sind im wissenschaftlichen Sinne als Zitate aufzufassen, welche dazu beitragen sollen, die ›Vier zentralen Konzeptionen der Identität von Architektur‹ bildhaft zu vermitteln. Eine weitere Verwendung bedarf in jedem Fall der Zustimmung der Urheber, bzw. des Autors. Die Seitenangabe betrifft die Darstellung der Abbildung in diesem Band. Archiv Olgiati. S.195. Bazzecchi, Florenz. S.135. Eisen, Charles. S.64. Filarete. S.65. Grimm, Bernd. Ungers Archiv für Architekturwissenschaft UAA. S.111. Hoppe, Margret. S.113. Finlay, Ian Hamilton. Cover, S.227. Magritte, René. S.41. Mies van der Rohe, Ludwig. S.157. Monti, Paolo, Mailand. S.131. The Ohio Historical Society. S.190. Reeve, Antonia. S.227. Schinkel, Karl Friedrich. S.153. Schoper, Tom. S.25, 36, 91, 110, 112, 130, 150, 151, 156, 191, 194, 198, 199. Shepard, Ernest H. S.24. White, Bruce. S.191.
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D ANK Der Arbeit an diesem Band gehen zwanzig Jahre eigener Auseinandersetzung mit Architektur voraus, sowohl als entwerfender und bauender Architekt wie auch auf architekturtheoretischem Gebiet. Stetes Anliegen für die vorliegende Schrift war es mir, eine theoretisch fundierte Sicht auf Architektur zu denken, die den Bezug zur gebauten Welt immer vor Augen hat. Meinen Dank möchte ich den Gutachtern Niels-Christian Fritsche, Wolfgang Sonne und Karl-Siegbert Rehberg aussprechen für ihre Unterstützung und die Anregungen zu meiner Befragung des ›Identischen‹ und der ›Identität von Architektur‹. Die Herkunft der Betreuer aus den Lehrgebieten der Darstellungslehre, Architekturtheorie, Architekturgeschichte, Theoretischen Soziologie und Kultursoziologie hat die Arbeit in ihrem Fortlauf dauerhaft befruchtet. Für Literaturhinweise und weiterführende Gedanken danke ich Joachim Klose, Achim Hahn, Julia Lienemeyer, Monika Wohlfart-Demtröder, Axel Steudel und Till Schuster. Dieser Band hätte aber nicht entstehen können, wenn ich nicht durch Benedict Tonon in den ersten Jahren meiner praktischen Tätigkeit als Architekt an die Quelle der steten Befragung von Mensch und Architektur herangeführt worden wäre, und wenn ich diese kritische Auseinandersetzung nicht mit meiner Frau Henrike im eigenen Rahmen täglich fortführen könnte. Ihnen beiden gilt mein größter Dank. Dresden, im September 2010. Tom Schoper
Architekturen Anita Aigner (Hg.) Vernakulare Moderne Grenzüberschreitungen in der Architektur um 1900. Das Bauernhaus und seine Aneignung November 2010, 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1618-7
Julia Gill Individualisierung als Standard Über das Unbehagen an der Fertighausarchitektur Oktober 2010, 290 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1460-2
Susanne Hauser, Christa Kamleithner, Roland Meyer (Hg.) Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raumes April 2011, ca. 350 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1568-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Architekturen Susanne Hauser, Christa Kamleithner, Roland Meyer (Hg.) Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften Bd. 1: Zur Ästhetik des sozialen Raumes März 2011, ca. 350 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1551-7
Sonja Hnilica, Markus Jager, Wolfgang Sonne (Hg.) Auf den zweiten Blick Architektur der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen September 2010, 280 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1482-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de