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German Pages 332 [335] Year 2010
Zur Genealogie des Zivilisationsprozesses
Zur Genealogie des Zivilisationsprozesses Friedrich Nietzsche und Norbert Elias Herausgegeben von
Friederike Günther, Angela Holzer und Enrico Müller
De Gruyter
ISBN 978-3-11-022070-4 e-ISBN 978-3-11-022071-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Zur Genealogie des Zivilisationsprozesses : Friedrich Nietzsche und Norbert Elias / herausgegeben von Friederike Günther, Angela Holzer, Enrico Müller. p. cm. German and English. Proceedings of a conference held in Sept. 2008 at Humboldt-Universität zu Berlin. Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-022070-4 (hardcover : alk. paper) 1. Nietzsche, Friedrich Wilhelm, 1844⫺1900. Zur Genealogie der Moral ⫺ Congresses. 2. Elias, Norbert, 1897⫺1990. Über den Prozess der Zivilisation ⫺ Congresses. 3. Philosophy ⫺ Congresses. 4. Civilization ⫺ Philosophy ⫺ Congresses. I. Günther, Friederike Felicitas. II. Holzer, Angela (Angela C.) III. Müller, Enrico. B3313.Z73Z87 2010 170⫺dc22 2010023818
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die in diesem Band versammelten Beitrge gehen auf eine internationale und interdisziplinre Konferenz zurck, die im September 2008 am Seminar fr sthetik im Institut fr Kulturwissenschaften der Humboldt-Universitt zu Berlin stattfand. Die Tagung nahm erstmalig die philosophischen, soziologischen, anthropologischen und wissenschaftsgeschichtlichen Bezge zwischen den Werken von Friedrich Nietzsche und Norbert Elias in den Blick. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern sei an dieser Stelle sehr fr ihre Diskussionsfreude und ihre Bereitschaft gedankt, den bislang wenig beachteten Affinitten und Differenzen zwischen beiden Denkern nachzugehen. Da es ein Anliegen der Organisatoren war, Nietzsche- und Eliasforscher zusammenzubringen, danken wir besonders der Norbert Elias Foundation in Amsterdam und der Nietzsche-Gesellschaft e. V. Naumburg fr die finanzielle und inhaltliche Fçrderung der Tagung. Prof. Dr. Hermann Korte von der Norbert Elias Foundation und Prof. Dr. Renate Reschke von der Nietzsche-Gesellschaft haben die Tagung von Beginn an engagiert und unbrokratisch untersttzt. Ein herzlicher Dank geht auch an das inzwischen fusionierte Seminar fr sthetik, besonders an Prof. Dr. Ruth Tesmar, Dr. habil. Rainhard May, Sebastian Dçring und Perrin Saylan sowie an die Forschungsabteilung der Humboldt-Universitt fr ihre finanzielle und logistische Untersttzung. Dem Verlag Walter de Gruyter, insbesondere Cheflektorin Dr. Gertrud Grnkorn, gilt schließlich unser Dank fr die entgegenkommende und sachkundige Betreuung des Bandes. Friederike Gnther, Angela Holzer, Enrico Mller
Inhalt Enrico Mller Zur Genealogie des Zivilisationsprozesses. Friedrich Nietzsche und Norbert Elias: Einfhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Dokumentation Angela Holzer Philosoph der Kultur und des Krieges: Zur Nietzsche-Rezeption von Norbert Elias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Adelskultur und Kriegerethos Renate Reschke Hçfische Kultur. Der kulturkritische und soziologische Blick: Zur Differenz von Norbert Elias und Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . .
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Stephen Mennell A smouldering ember: Nietzsche and Elias on aristocratic and warrior ethics in the light of the American civilizing process . . .
91
III. Anthropologie der Gewalt Christian J. Emden Anthropologien der Gewalt bei Norbert Elias und Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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David Wachter Dionysische Zivilisation? Kulturtechniken der Enthemmung bei Nietzsche und Elias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Anthropologie der Endlichkeit Andreas Urs Sommer Das Sterben denken. Zur Mçglichkeit einer ars moriendi nach Nietzsche und Elias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159
Friederike Felicitas Gnther Die kopernikanische Wende als anthropologische Denkfigur bei Nietzsche und Elias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
175
V. Affektkontrolle und Subjektivitt Chiara Piazzesi Die soziale Verinnerlichung von Machtverhltnissen. ber die produktiven Aspekte der Selbstdisziplinierung und der Affektkontrolle bei Nietzsche und Elias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193
Annette Hilt Rollen des Kritikers: Kritik als Gedchtnis und Erzhlung im Prozess der Zivilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
VI. Theoriekontexte Enrico Mller Kultur/en im Wandel denken. Zu den Voraussetzungen genealogischer und genetischer Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Leander Scholz Die ungeahnten Mçglichkeiten des „demokratischen Nivellirungs-systems“: Nietzsche und die Theoretiker der Weltgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
267
Werner Stegmaier Nietzsches Mitteilungszeichen, Elias’ Symboltheorie und die Spielrume der Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IX
Anstelle eines Schlusswortes Johan Goudsblom Nietzsche and Elias as educators. Their role in the writing of Nihilism and Culture . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Siglenverzeichnis KGB Friedrich Nietzsche, Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/ New York 1975ff. KGW Friedrich Nietzsche, Werke, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/ New York 1967ff. KSA Friedrich Nietzsche, Smtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbnden, hrsg. von Giorio Colli und Mazzino Montinari, Mnchen/ Berlin/ New York 21988, 31999. KSB Friedrich Nietzsche, Smtliche Briefe, Kritische Studienausgabe in 8 Bnden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Mnchen/ Berlin/ New York 21986.
Zur Genealogie des Zivilisationsprozesses. Friedrich Nietzsche und Norbert Elias: Einfhrung Enrico Mller 1. Vorlufige Standortbestimmung Sichtet man die Lebensprojekte von Norbert Elias und Friedrich Nietzsche nach ihrer Genese, ihrer Anlage und ihren Folgen, so ließen sie sich durchaus unter einem Titel verhandeln, mit dem zugleich auch Nietzsches vielleicht ausgewogenstes Buch berschrieben ist: „Frçhliche Wissenschaft“. Frçhlich, in diesem Sinn, meint nicht den leichtfertigen Gegenbegriff zum systematisch auftretenden Ernst der akademischen Lehrgebude, es heißt vor allem wagemutig, fachberschreitend, Grenzen bertretend zu denken, um auf diese Weise neue Perspektiven fr alte Probleme zu gewinnen. Nietzsche und Elias haben in ihren Projekten weder eine abstrakte und starre Gegenberstellung von Geistes- und Naturwissenschaften, noch insbesondere die innerhalb der Geisteswissenschaften bestehenden disziplinren Grenzziehungen akzeptiert. Sie haben ihr Selbstverstndnis, genau genommen, berhaupt erst aus diesem bergreifenden Anspruch gewonnen und damit von vornherein so gedacht, wie wir es heutzutage – unter anderem in diesem Band – mehr und mehr zu tun versuchen: interdisziplinr. Vielleicht schien Nietzsche darum lange Zeit ebenso wenig in die Geschichte der Philosophie des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts zu gehçren wie Elias in diejenige der Soziologie des zwanzigsten – mittlerweile hat sich daran einiges gendert. Inzwischen ist sichtbar geworden, dass und mit welchen Folgen beide in ihrer Zeit als „unzeitgemße“ Denker gewirkt haben, und wie sehr sie, wie es sich heute darzustellen scheint, eben darin ihrer Zeit voraus waren. Beginnt man nach ußerlichen, biographischen Hintergrnden und Motiven dafr zu suchen, so sticht zunchst ein eigenwillig gebrochenes Verhltnis zur akademischen Sozialisation ins Auge: Beide waren, betrachtet vor dem disziplinren Hintergrund jener Felder, in denen sie mit gehçriger Versptung zu Klassikern avancierten, keine ,Etablierten‘, sondern ,Außenseiter‘. Nietzsche hat niemals Philosophie studiert, Elias niemals So-
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ziologie. Geschadet hat es beiden nicht, ließe sich mit einem Quantum antiakademischen Ressentiments konstatieren. berhaupt fllt eine eigentmliche, von beiden gern und hufig betonte Distanz zum universitren Establishment auf: Nietzsche, so ließe sich spekulieren, hat seine außerordentliche Professur fr Klassische Philologie mit vierundzwanzig Jahren frh genug angetreten, um sich auch wieder von ihr lçsen und mit dieser Lçsung berhaupt erst zu seinen philosophischen Aufgaben finden zu kçnnen. Elias wiederum trat seine Professur in einem Alter an, in dem man gewçhnlich emeritiert wird – mit vierundsechzig Jahren in Ghana. Seine programmatische Neuperspektivierung der Soziologie als Prozesssoziologie konnte fachintern nicht mehr zur Disposition gestellt oder gar aufgehalten werden. Sie war zu diesem Zeitpunkt lngst vollzogen. Komplizierter werden die Verhltnisse allerdings, wenn man bedenkt, dass der junge Norbert Elias nach dem Abbruch seines Medizinstudiums ganz in die Philosophie wechselte und, wie er spter bekennt, „Philosoph werden wollte“.1 Auf diesem Wege besuchte er 1919 in Heidelberg Seminare von Karl Jaspers, der ihn unter anderem berhaupt erst auf die Bedeutung Max Webers aufmerksam machte, und drfte 1920 in Freiburg wohl auch Edmund Husserl zumindest zur Kenntnis genommen haben. 1922 examinierte er beim Vertreter der Sdwestdeutschen Schule des akademisch in Deutschland noch vorherrschenden Neukantianismus Richard Hçnigswald, um von selbigem, nicht ohne erhebliche Reibungsverluste, schließlich auch promoviert zu werden. Erst von da an wird Elias die Soziologie als sein Feld entdecken und sich zur Philosophie in ein weitgehend polemisches Verhltnis setzen. Am Ende seines Lebens ist in der ffentlichkeit der Versuch gemacht worden, ihn mit dem Ehrentitel ,Philosoph‘ zu bedenken. Elias lehnte dies in einem Antwortbrief an die Zeit umgehend ab und bekannte sich zur Soziologie: „Ich selbst halte viel von der Soziologie. Sie hat eine große Zukunft und ich helfe ein bisschen dabei. Die Philosophie ist ganz epigonal. Ihr hoher Ruf ist der Nachruhm einer grçßeren Zeit.“2 Fr Philosophen ein schwer verdauliches Statement, zumal das Selbstbewusstsein der Soziologie im Hinblick auf die zeitgençssische Philosophie ohnehin bemerkenswert hoch ist. Unwillkrlich fhlt man sich an Luhmann erinnert, der im Hinblick auf die Begriffe der Philosophie von „alteuropischer Semantik“ spricht. Paradoxerweise – und fr unsere Fragestellung auch glcklicherweise – ist Elias mit seiner spten Fundamentalkritik an der Philosophie eben dort 1 2
Norbert Elias, ber sich selbst, Frankfurt a. M. 1990, S. 41. Vgl. dazu Ulrich Greiner, Der Menschenwissenschaftler, Die Zeit, 1. Mai 1987.
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angelangt, wo sich Nietzsche als erklrter „Philosoph der Zukunft“ von jeher gesehen hat. Dessen Denken war ja in weiten Teilen ein Andenken gegen die logozentrischen „Vorurtheile der Philosophen“3 und der damit verbundene Alternativversuch, begrifflich von Ontologie auf Lebendigkeit und Vernderlichkeit sowie von Erkenntnistheorie auf perspektivische Interpretation, mithin auf seinen „Phnomenalismus und Perspektivismus“4 umzustellen. Elias hat sein wissenschaftliches Programm als „Mythenjagd“ beschrieben,5 whrend Nietzsche sich innerhalb der Philosophie immer wieder als der „Immoralist“ inszenierte. Beide Selbstverstndnisse gewinnen ihr Potential aus dem impliziten Wissen, dass man weder als Mensch noch als Wissenschaftler endgltig, sondern stets nur vorlufig eine Gegenposition zum Mythos, zum Glauben oder zur Moral einnehmen kann und einnehmen muss. Ihr Credo darf in diesem Sinne als aufklrerisch im avanciertesten Sinn, also als aufklrerisch unter den Bedingungen einer bereits stattgefunden habenden Aufklrung verstanden werden. Nietzsche hat vor diesem Hintergrund bekanntlich sogar noch das Denken Kants als „moralische Ontologie“6 ausgelegt. Nietzsches „Umwendung der Denkungsart“ hat gerade unter dem Gesichtspunkt der Moral noch radikaler angesetzt: Bis hin zu ihm hatte sich Ethik als Philosophie in der Gestalt einer Reflexion der Moral, eines Denkens der Moral entfaltet. Nietzsche wird demgegenber mit Nachdruck darauf aufmerksam machen, dass es auch am Grunde des Denkens immer schon eine Moral gibt, dass sich selbst in den logischen Identittsvoraussetzungen aller basalen Denkoperationen schon eine Moral artikulieren kçnnte – eine Not, die dazu zwingt, Verschiedenes unter den Bedingungen der Einheit zu schematisieren. In einem hnlich fundamentalen Sinne hat Elias den „Schleier der Mythologien“ innerhalb der Wissenschaften selbst durchbrechen wollen: Jene dem wissenschaftlichen Denken Europas eigne „Tendenz zur Zustandsreduktion“, der wiederum „eine ganz spezifische Wertung zugrunde liegt, die durch Tradition geheiligt ist“, nmlich, dass „das, was sich wandelt, da es ja vergnglich ist, weniger wichtig, weniger bedeutsam, kurzum weniger wert ist als das Unwandel3
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Vgl. dazu insbesondere Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, Erstes Hauptstck: von den Vorurtheilen der Philosophen, KSA 5, S. 15 – 39 sowie Gçtzen-Dmmerung, Die „Vernunft“ in der Philosophie, KSA 6, S. 74 – 87, bzw. ebd., Die vier grossen Irrthmer, S. 88 – 97. Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 354, KSA 3, S. 593. Norbert Elias, Was ist Soziologie?, Mnchen 21971, 2. Kapitel „Der Soziologe als Mythenjger“, S. 51 – 74. Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 7[4], S. 265.
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bare.“7 Darber hinaus sei es insbesondere an der vergleichsweise jungen Wissenschaft der Soziologie ersichtlich, wie fachspezifische „Wunschtrume, Heilserwartungen und Stigmatisierungen“ ein wirkliches Wissen von der Menschenwelt eher verstellen als ermçglichen. Eine gerade unter diesem Gesichtspunkt bedeutsame biographische Brcke zwischen Nietzsche und Elias sind sicherlich die Heidelberger Soziologen Alfred Weber und Karl Mannheim gewesen.8 Die Frage nach der Valenz und der Soziologisierbarkeit nietzschescher Kulturdiagnostik hat sich in Heidelberg mit großer Dringlichkeit gestellt und unterschiedliche Antwortversuche hervorgebracht. Auch die zentrale These von Mannheim, als dessen Freund und Kollege sich Elias spter bezeichnet hat, dass alles Denken notwendig ideologisch verfasst sei, scheint zumindest in Teilen und mittelbar aus der Auseinandersetzung mit Nietzsches Nihilismusdiagnosen zu resultieren. Folgt man deren ußerlicher Linienfhrung, dann hat die europische Kultur sich vertiefender, allmhlich einverleibter „asketischer Ideale“ in Folge ihrer moralischen Unbedingtheit auch den „Willen zur Wahrheit“ entstehen lassen, einen wissenschaftlichen Glauben an unbedingte, objektive Erkenntnis. Der hierdurch entstehende Gestus einer gleichsam entsubjektivierten intellektuellen Redlichkeit macht die Wissenschaft im Zeitalter des Nihilismus fr die eigenen Glaubensbedrfnisse, fr ihre eigenen metaphysischen und moralischen Grundannahmen sensibel. Nietzsche hat diesen Punkt der Selbstaufhebung der Wissenschaft durch das intellektuelle Gewissen als Wendepunkt und Eintritt in das nihilistische Zeitalter inszeniert, „jenes grosse Schauspiel […], das den nchsten zwei Jahrhunderten Europa’s aufgespart bleibt“.9 Mehr als fr andere Wissenschaftler wird fr Elias die These von der ideologischen Natur des Denkens zur bleibenden Herausforderung. Er nimmt sie auf, ohne sie in ihrem scheinbar aporetischen Charakter hinzunehmen. Sein wissenssoziologischer Einwand ließe sich verkrzt so formulieren: Fasst man das Denken nicht mehr als gegebene, apriorisch fundierte Grçße, sondern legt es als Produkt einer spezifischen kulturellen Eigendynamik aus, dann kann die Erhellung der kulturellen Zusammenhnge auch das Denken von seinen ideologischen Bestandteilen befreien. Dass also das berdenken der Kultur zugleich auch eine neue, eine andere 7 8 9
Elias, Was ist Soziologie?, S. 122. Vgl. hierfr zuletzt Franz Solms-Laubach, Nietzsche and Early German and Austrian Sociology, Berlin/ New York 2007 (= Monographien und Texte zur NietzscheForschung 52). Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, III § 27, KSA 5, S. 410 f.
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Kultur des Denkens ermçglicht und erfordert, scheint, so gesehen, eine Nietzsche und Elias gleichermaßen kennzeichnende Ausgangssituation zu sein. Wer mit und nach Nietzsche Moralgenealogie betreibt, stellt nolens volens auch die eigene Moral in Frage, und wer im Anschluss an Elias die Genese von Zivilisationsprozessen untersucht, kommt nicht umhin, auch die eigene Zivilisiertheit zur Disposition zu stellen.
2. Kultur als „Zivilisation“ und „Moral“ Eben darin besteht unseres Erachtens auch die Modernitt der Projekte. Denn die Reflexion auf unsere zivilisatorischen Grundlagen hat angesichts eines sich beschleunigenden Wandels der globalen Gegenwart eine ber das Akademische hinausgehende Relevanz. Sie gibt hinsichtlich allseits diagnostizierter und wohl auch durchaus bestehender Unbersichtlichkeit nicht zu unterschtzende Mçglichkeiten der Selbstvergewisserung an die Hand. Dies gilt umso mehr, wenn basale zivilisatorische Momente der eigenen Kultur nicht nur erfasst, sondern auf ihren prgenden und „langfristigen“ Charakter hin befragt werden. Nietzsche und Elias haben ohne Zweifel solche fr die europische Kultur folgenreiche zivilisationsgeschichtliche Großdeutungen vorgelegt. Unter den gegenwrtigen Bedingungen einer „alle Erdteile umfassenden Stufe der Menschheitsentwicklung“ (Elias) gewinnen diese Entwrfe bei allen durchaus bestehenden Unterschieden ihren gemeinsamen Wert durch ihre kritische, analytische und heuristische Dimension: Sie sind kritisch, insofern sie ideologische Erlçsungsangebote moralischer, religiçser, politischer und wissenschaftlicher Provenienz, wie zuvor angedeutet, in den Gestalten der „Mythenjagd“ (Elias) und des „Immoralismus“ (Nietzsche) diskreditieren. Sie sind analytisch, insofern sie sich durch eine hohe Sensibilitt fr Konkurrenzdruck und Ausgrenzungspraktiken als den stetigen Begleiterscheinungen aller gesellschaftlichen Umbruchphasen auszeichnen und diesbezgliche Erklrungsmodelle bereitstellen. Heuristisch sind sie von Bedeutung, insofern beide Denker nicht nur Momente der Globalisierung in erstaunlicher Weise gedanklich vorweggenommen, sondern auch Antworten auf die Frage nach dem Wohin Europas in der globalen Gemeinschaft zu geben gewagt haben. Nietzsches Nihilismusdiagnosen und sein sptes Ideal des „guten Europers“ jenseits militanter Kleinstaaterei sowie Elias’ Denken einer postnationalistischen, skular geprgten Identitt formulieren insofern Herausforderungen mit hohem Gegenwartsbezug.
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Der vorliegende Band will sich der skizzierten Ausgangslage stellen. Wir gehen davon aus, dass es sich lohnt, Nietzsches philosophisch radikale Genealogie der europischen Moralitt und Elias’ Konzept des europischen Zivilisationsprozesses in einem grçßeren Rahmen aufeinander zu beziehen. Inmitten der gegenwrtig florierenden Kulturwissenschaften soll so die Frage nach den spezifischen Eigenheiten des europischen Kulturverlaufs als Leitfrage zurckgewonnen und damit eine Konkurrenz zu normativen Kulturtheorien, kulturalistischen Spezialberlegungen und biologistisch motivierten Entwicklungsmodellen erzeugt werden. Sachlicher Ausgangspunkt hierfr ist ein vergleichsweise schlichter, aber eben kaum zu berschtzender Befund: dass Kulturbildungsprozesse nur dann stattfinden bzw. eine interne Dynamik entwickeln, wenn Menschen in ihrem Zusammenleben freinander als berechenbare, verantwortungsfhige und verantwortungspflichtige Agenten auftreten. Nietzsches Genealogie der Moral kreist, was gern bersehen wird, explizit „um das außerordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit“ und ist dementsprechend bestrebt, die entscheidenden Momente der „lange[n] Geschichte von der Herkunft der Verantwortlichkeit“freizulegen.10 Sie versucht dies gegen eine philosophische Tradition, in der die Konzepte des ,Willens‘, der ,Subjektivitt‘, der ,Autonomie‘ und des ,Gewissens‘ meist schon kategorisch gesetzt oder definiert sind, bevor die eigentlich moralphilosophische Arbeit berhaupt beginnt. Auch darum provoziert Nietzsche gern mit dem schwer erschließbaren bergangsfeld zwischen Tier und Mensch, zwischen Natur und Kultur: „Ein Thier heranzchten, das versprechen darf – ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat? ist es nicht das eigentliche Problem vom Menschen?“11 In der Folge wird Nietzsche die Begriffe der,Verantwortung‘und des ,Willens‘, der ,Schuld‘, der ,Strafe‘ und des ,Gewissens‘ aus vormoralischen soziologischen, religiçsen und çkonomischen Konstellationen heraus entwickeln, etwa das Phnomen der Schuld aus der çkonomischen quivalenzbeziehung: dem „Vertragsverhltniss zwischen Glubiger und Schuldner“.12 In der Genealogie der Moral ist der Gedanke leitend, dass die fr jede Form kultureller Eigendynamik nçtige Berechenbarkeit des Menschen das Ergebnis eines gewaltsamen Institutionalisierungsprozesses ist, der seinerseits eben darin zugleich auch ein Zivilisierungsprozess ist. Nietzsche thematisiert ihn vorzugsweise ber die Politik des Rechts: Verantwortungsbereitschaft und 10 Ebd., II § 2, S. 293 f. 11 Ebd., II § 1, S. 291. 12 Ebd., II § 4, S. 298.
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Verantwortungsfhigkeit sind hier das psychologische Korrelat einer langen und langsamen Geschichte selbstauferlegter Strafprozeduren. Immer wieder werden die frhen Rechtsordnungen bemht, um zu zeigen, wie erst durch eine Jahrhunderte lange „Mnemotechnik“ strafrechtlich praktizierter Grausamkeiten ein Gedchtnis entsteht. Ein Gedchtnis, mit dem der Mensch endlich zur Vernunft kommt: Ah, die Vernunft, der Ernst, die Herrschaft ber die Affekte, […], alle diese Vorrechte und Prunkstcke des Menschen: wie theuer haben sie sich bezahlt gemacht! Wie viel Blut und Grausen ist auf dem Grund aller „guten Dinge“!…13
Zu Nietzsches Historisierung der klassischen Moral- und Vernunftbegrifflichkeit in kritischer Absicht scheint sich Elias’ Projekt teilweise besttigend, teilweise komplementr zu verhalten. Vor allem werden im Prozeß der Zivilisation oftmals Fragestellungen in quellennaher prziser Interpretationsarbeit wieder zur Wissenschaft, die bei Nietzsche spekulativer und bewusst provozierender Entwurf waren. Was Nietzsche noch gezielt abkrzend unter ,Moral‘ verhandelt, entfaltet Elias ungleich differenzierter als ,Zivilisation‘: die Intention, einen langfristigen Strukturwandel der Seele und der Gesellschaft anzuzeigen, eint indessen beide Projekte. Wo Nietzsche als Genealoge, mithin als spekulativer Historiker, auf die zunehmende Verrechtlichung der Gesellschaft abhebt, zeichnet Elias soziogenetisch die Entwicklung und Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols in den europischen Gesellschaften nach und weist gleichzeitig auf, wie dabei die sozialen Hierarchien durchlssiger, die Funktionsverflechtungen differenzierter und die wechselseitigen Abhngigkeiten strker werden. Wo Nietzsche immer wieder als „Psychologe“ auf die zunehmende Verinnerlichung einer bestimmten Moralitt und Rationalitt hinweist, da entwickelt Elias das psychogenetische Pendant zu den „gesellschaftlichen Fremdzwngen“ und legt mit hoher berzeugungskraft spezifische Formen der „individuellen Selbstzwnge“, der „Affektkontrollen“ und des „Instinktwandel[s]“ frei. Wie Nietzsche schließlich als „Physiologe“ und selbsterklrter Anwalt der Lebendigkeit die kulturelle Eigendynamik Europas zu einer nicht teleologischen, aber irreversiblen Form der Evolution renaturalisiert, so hat auch Elias die sich ausdifferenzierende Gesellschaft als eine Evolution beschrieben, die langfristig, nicht-normativ, aber eben nicht ungerichtet verlaufe. Entscheidend bleibt angesichts dieser vielleicht noch vagen Entsprechungen vor allem die Tatsache, dass bei Nietzsche die genealogische und 13 Ebd., II § 3, S. 297.
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psychologische bzw. bei Elias die soziogenetische und die psychogenetische Interpretationslinie in ein wechselseitiges Fundierungsverhltnis eingelassen sind. Nietzsche hat, um dies zu signalisieren, hufig die Metapher der ,Einverleibung‘ gewhlt, whrend Elias den seinerzeit noch weitgehend unterbestimmten Begriff des ,Habitus‘ aufgenommen und entscheidend weiterentwickelt hat. Die philosophische Sprengkraft beider Konzeptionen wird darin ersichtlich, dass in einer solchen Betrachtungsart die identittsstiftenden und scheinbar selbstverstndlich gegebenen Phnomene des ,Willens‘ und nicht zuletzt der ,Vernunft‘ fr beide Denker nicht mehr Voraussetzungen und gegebene Grçßen, sondern als „Selbstkontrollapparatur“ (Elias) vielmehr Produkte oder begleitende Effekte einer bestimmten, also auch bestimmbaren gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik sind. Daran gelegentlich zu erinnern, scheint auch und gerade im gegenwrtigen Wissenschaftsbetrieb nach wie vor geboten.
3. Prozessdenken: genetische und genealogische Interpretation Es ist bereits angedeutet worden: Die hnlichkeiten der kulturgenetischen berlegungen beider Denker kçnnten zum Teil darum bestehen, weil sie sich analogen Grundsatzberlegungen verdanken, mit denen Nietzsche und Elias die bestehenden Grenzen ihrer Disziplinen ausloten und berwinden. Unbersehbar ist die beiden gemeinsame Orientierung auf das Vernderliche, Werdende, Prozessuale innerhalb der Lebensverhltnisse – methodisch, kçnnte man sagen, zielen sie jeweils auf Entdinglichung ab. Nietzsche, dem von Seiten der Philosophie immer wieder Theoriedefizite vorgeworfen werden, hat diesbezglich in der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral seine „Hauptgesichtspunkte der historischen Methodik“14 anhand des Strafbegriffs dargelegt. Genealogie als Verfahren ist darin nicht als Freilegung eines verbindlichen und insofern „wesentlichen“ Ursprungs konzipiert. Sie ist vielmehr analog zur gleichnamigen Verwandtschafts- und Ahnenforschung bestrebt, ein sich verzweigendes Netzwerk von wechsel14 Zu diesem und den folgenden Zitaten siehe im Ganzen Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 12 – 13, KSA 5, S. 313 – 318. Zur Genealogie als philosophischem Verfahren vgl. Michel Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders., Von der Subversion des Wissens, hrsg. von Walter Seitter, Mnchen 1974, S. 83 – 109 sowie Werner Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘, Darmstadt 1994 (Werkinterpretationen), S. 60 – 93 und zuletzt Martin Saar, Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt/ New York 2007 (= Theorie und Gesellschaft 59).
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seitigen Abhngigkeiten freizulegen. Weit entfernt vom endgltigen Problemlçsen steht sie damit eher im Dienst des exzessiven Problematisierens. Nietzsche geht hierbei vom Immer-Anders-Werden aus und versucht alle Phnomene seiner Analyse als eine bewegliche „Synthesis von ,Sinnen‘“ im Blick zu behalten. Synthesis steht nun aber nicht mehr, wie etwa bei Kant, fr eine Verknpfung nach allgemeinen Regeln, sondern fr ein diskontinuierliches Anlagern und Sich-berlagern von Bedeutungen unter wechselnden Bedingungen. Die Rekonstruktion eben dieser Bedingungen ist zugleich die Dekonstruktion des von diesen Bedingungen abhngigen Dinges oder Begriffs. Begriffe sind dann ihrerseits als etwas Vorlufiges gedacht, als Abkrzungszeichen, in denen sich stets „ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst“. Definierbar, heißt es ebendort, sei „nur das, was keine Geschichte hat“. Genealogie als Untersuchung einer von diskontinuierlichen berlagerungen geprgten Verbindung will anders als die definitorische Praxis jeweils sichtbar machen, wie fr jeden einzelnen Fall die Elemente der Synthesis ihre Werthigkeit verndern und sich demgemss umordnen, so dass bald dies, bald jenes Element auf Kosten der brigen hervortritt und dominirt, ja unter Umstnden Ein Element […] den ganzen Rest von Elementen aufzuheben scheint.15
Atheoretisch ist dieser Anspruch offenbar nicht. Das zuletzt gegebene Zitat deutet eine methodische Ausrichtung an, die jenem Denken in flssigen Figurationen und in nicht normierten oder normierten Spielmodellen, wie es Elias fr die Soziologie fruchtbar macht, bereits sehr nahe kommt. Wie Nietzsche geht auch Elias davon aus, dass aller „Sinn eben Beziehungssinn“16 ist. Dies gilt umso mehr, wenn vom Sinn oder dem vermeintlichen Wesen des Menschen die Rede ist. Dass dieser ein ergebnisoffenes Projekt ist, zhlt auch zu den Voraussetzungen einer Theorie, die auf allen Ebenen den soziologischen Nominalismus untergraben will. Nietzsche hat den Menschen auf bis heute rtselhafte Weise vom bermenschen aus und damit in seinem bergangscharakter jenseits fester Bestimmungen vom Wesen des humanum denken wollen. Elias hat hier ungleich prosaischer, dafr aber prgnant, die stndige Bewegung des Menschen betont: dieser „durchluft nicht nur einen Prozeß, er ist ein Prozeß.“17 Will man diesen Prozess berhaupt in den Blick bekommen, treten an die Stelle von Autonomiepostulaten und methodischen Solipsismen die Sichtung und dichte Beschreibung von Interdependenzketten, in denen sich Menschen, ob sie 15 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 13, KSA 5, S. 317. 16 Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 2[77], S. 97. 17 Elias, Was ist Soziologie?, S. 127.
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wollen oder nicht, immer schon miteinander ereignen. Als Bestandteile von Beziehungen, die sie als Ganze nicht durchschauen kçnnen, sind Menschen in wechselnden Figurationen sowohl voneinander abhngig als auch aufeinander angewiesen. Jenseits des abstrakten Gegensatzes von Individuum und Gesellschaft zeigen sich so Beziehungen, die ungleich flssiger sind als institutionell normierte, hierarchisch organisierte Verhltnisse. Berhmt und vielsagend ist in diesem Zusammenhang das Beispiel des Spielzuschauers, mit dem Elias die neue Perspektive des Soziologen plastisch erfahrbar macht: Hier wird es besonders deutlich, dass zwei interdependente gegnerische Gruppen […] eine einzige Figuration miteinander bilden. Die fließende Gruppierung der Spieler der einen Seite ist nur verstndlich im Zusammenhang mit der fließenden Gruppierung der Spieler der anderen Seite. Um das Spiel zu verstehen […], mssen die Zuschauer in der Lage sein, den wechselnden Positionen der Spieler beider Seiten in ihrer Bezogenheit aufeinander, also eben der flssigen Figuration, die beide Seiten bilden, zu folgen.18
Bei Nietzsche und Elias, so ließe sich vorlufig festhalten, ist ,Sinn‘ nichts Vorgegebenes mehr, sondern jeweils als Funktion auf Zeit gegeben, die innerhalb einer verschiebbaren Ordnung von sich wechselseitig limitierenden Elementen bestimmt wird. Es ist unter diesen Vorzeichen nur konsequent, dass sich beide von einem eindimensionalen Denken der Macht als einer im Modus der Gewalt auftretenden, nur restriktiven Grçße verabschiedet haben. Sie haben eben damit die einseitige Fokussierung auf institutionelle Herrschaftsverhltnisse aufgegeben. Nietzsche entfernte sich mit dieser Sicht erst allmhlich von seinem wichtigen Bezugspunkt der Basler Zeit, dem Kulturgeschichtler Jacob Burckhardt, in dessen Potenzenlehre Macht die einseitig ausgebte Zwangsgewalt des Staates und insofern – ein berhmtes Diktum – „an sich bçse“19 war. Elias hat sich in diesem Zusammenhang bis zuletzt produktiv am schnell kanonisch gewordenen Max Weber gerieben und vermutet, dass dieser das eigentliche Problem der Machtverhltnisse in seiner Typologie der Herrschaftsverhltnisse nur unzureichend erfasst habe. Anstelle statischer Macht im Sinne bereits institutionalisierter bzw. verfgbarer Gewalt ,von oben nach unten‘ sichten beide das Feld menschlicher und gesellschaftlicher Beziehungen ausgehend von Machtbalancen, die sich notwendig verndern und jeglicher institutioneller Verfestigung vorgelagert sind. Darin sind In18 Elias, Was ist Soziologie?, S. 142. 19 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 7, hrsg. von Albert Oeri und Emil Drr, Basel 1929, S. 25.
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dividuen immer schon in Machtbeziehungen eingelassen, gerade weil sie als Fhlende, Denkende und Handelnde stets auch auf andere Individuen bezogen sind. Diese elementare, wechselseitige Bezogenheit gibt insofern sowohl den Spielraum als auch die Grenze allen Handelns vor. Fr Elias ist Macht unter diesen Voraussetzungen eine „Struktureigentmlichkeit aller menschlichen Beziehungen“20 : „der Mensch ohne Restriktion“, heißt es mit gezielter Invektive gegen wissenschaftlich oder außerwissenschaftlich auftretende Erlçsungsangebote, „ist eine bloße Fiktion“. Nietzsche hat den Begriff der Macht bekanntlich ber die institutionellen Verhltnisse und biologischen Kontexte hinweg bis in die Verstehensund Interpretationsprozesse hinein verlagert. Seine lange abschreckende, vermeintliche Lehre vom „Willen zur Macht“ ist, wie seit langem bekannt, nicht mehr als das Resultat eines Publikationsmissverstndnisses. Man hat in Deutschland vergleichsweise lange gebraucht, um zu sehen, dass hier keinem affirmativen Machtpositivismus das Wort geredet wird und ebensowenig eine, wie Heidegger auslegte, alles durchherrschende Metaphysik der Macht im Sinne einer Endgestalt der europischen Metaphysik waltet. Die intensiven Forschungen der letzten Jahrzehnte haben Nietzsches „Willen zur Macht“ als Leithypothese einer Pluralitt aufeinander angewiesener und gegeneinander agierender Machtquanten freigelegt. Als Denker der Macht in einem Gesellschaft neu erschließenden Sinn begann Nietzsche in Deutschland erst zu wirken, als er in Frankreich bereits vollstndig rehabilitiert und auf verschiedenste Weise be- und genutzt wurde – aber dies ist ein anderes Kapitel.21
20 Elias, Was ist Soziologie?, S. 96 f. 21 Exemplarisch hinzuweisen bleibt hier auf Michel Foucault, der sein Verhltnis zu Nietzsche in einem Gesprch mit J. J. Brochier u. a. wie folgt charakterisiert: „Wenn ich anspruchsvoll wre, wrde ich das, was ich mache, unter den Titel ,Genealogie der Moral‘ stellen. Nietzsche ist der Philosoph der Macht, dem es gelungen ist, die Macht zu denken, ohne sich dabei in eine politische Theorie einzuschließen […]. Die einzige Anerkennung, die man einem Denken wie dem Nietzsches bezeugen kann, besteht darin, dass man es benutzt, verzerrt, misshandelt und zum Schreien bringt“ (Gesprch aus: Mikrophysik der Macht. Michel Foucault ber Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 46 f.).
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4. Zum Zusammenhang von Sprachkritik und Wissenschaft Wir kommen nunmehr auf einen letzten Befund zu sprechen, der einmal mehr die Nhe in Bezug auf gewisse Voraussetzungen, vor allem aber auch eine Ferne in Bezug auf die daraus resultierenden Konsequenzen zwischen beiden Denken signalisiert und darin unser komparatistisches Vorhaben vor eine nicht geringe Herausforderung stellt. Es ist dies der Zusammenhang von Sprachkritik und Wissenschaftsfhigkeit. Elias und Nietzsche haben hinsichtlich ihrer revolutionren Projekte gleichermaßen immer wieder auf eine Erfahrung abgehoben, die Elias vergleichsweise nchtern als ein Wissen um die „Notwendigkeit neuer Denk- und Sprachmittel“22 formuliert. In der Genealogie der Moral hat Nietzsche die Bedingtheit unserer Logik und unserer Wahrnehmung durch die allgegenwrtige „Verfhrung der Sprache“ an einem einfachen Beispiel veranschaulicht.23 Es sei hier skizziert wiedergegeben: Das „Volk“, also wir, komme nicht umhin, das leuchtende Aufzucken am Himmel bei Unwetter einem Blitz zuzuordnen. Propositionales Resultat dieser durch die Sprache befangenen Wahrnehmung ist der banale Satz: „Ein Blitz leuchtet.“ Philosophisch aber sind mit einer solchen Aussage bereits die entscheidenden Weichen gestellt, oder aber – um in der Metaphorik zu bleiben – Gleise in den Irrweg kardinaler abendlndischer Plausibilitten verlegt. Wird der Blitz als wesenhaft genommen, seine Zuckungen und Leuchteffekte als dessen akzidentielle Bestimmungen gefasst, so bewegen wir uns bereits unweigerlich im Bereich der Substanzontologie. Wir konzedieren ein ,Wesen‘, das lediglich seine ,Eigenschaften‘ wechselt. Interpretiert man in einem Folgeschritt den Blitz als ,Grund‘ fr seine Leuchtkraft, ist das Kausalschema von ,Ursache‘und ,Wirkung‘aktualisiert. Personalisiert man den Blitz zum Tter eines Tuns, des Leuchtens, ist auf diesem Weg ein ,Subjekt‘ unterstellt, dem es folgerichtig freisteht, zu leuchten oder nicht und dem sich ebendarum ,Verantwortung‘ zuschreiben oder absprechen lsst. Nietzsches pointiertestes Fazit im Hinblick auf die europische Tendenz, logisch, ontologisch, epistemologisch und nicht zuletzt ethisch immer wieder ein „indifferentes Substrat“24 zu unterstellen ist prominent: „Ich frchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben…“.25
22 23 24 25
Elias, Was ist Soziologie?, S. 118 – 121. Vgl. dazu Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, I § 13, KSA 5, S. 279. Ebd. Nietzsche, Gçtzen-Dmmerung, Die „Vernunft“ in der Philosophie 5, KSA 6, S. 78.
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Nun war Gott loszuwerden nicht das Problem von Elias. Weniger unter dem Eindruck Nietzsches als vielmehr in Auseinandersetzung mit Benjamin Lee Whorfs Language, Thought, and Reality 26 hat er jedoch exakt die gleiche Sprachreflexion mitsamt ihrer die Bedingungen der Mçglichkeit von Wissenschaft betreffenden Folgen durchgefhrt: Er hat sie anhand des nicht minder schlichten Satzes „Der Wind weht“ demonstriert und in erstaunlicher Entsprechung zu Nietzsche gefolgert: „als ob der Wind etwas anderes wre als das Wehen, als ob es auch einen Wind geben kçnne, der nicht weht.“27 In Was ist Soziologie? wird die unausweichliche Praxis, Substantive ins Zentrum unserer Sprache zu rcken und alle Vernderungen in Form von Verben als Zustzliches auszudrcken, zum kardinalen Problem, das zwangslufig in falsche Konzeptualisierungstechniken mndet. Von ihm aus nimmt Elias seine Kritik soziologischer Kategorien vor und zeigt in geradezu nietzscheanischer Manier auf, „dass man die Tauglichkeit der berlieferten Denk- und Sprachstrukturen fr die wissenschaftliche Erschließung von Zusammenhngen auf der menschlich-gesellschaftlichen Integrationsstufe kritisch beurteilen muß.“28 Nun ist es eine Sache, einen fundamentalen Verstrickungszusammenhang zu konstatieren und eine – wie wir glauben – ganz andere Sache, die Konsequenzen dieser Verstrickungen als Denker auszutragen. „[W]ir hçren auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange thun wollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn“ – dies schreibt Nietzsche in einer spten Nachlassnotiz.29 Und an diesem neuralgischen Punkt, eben eine Grenze als Grenze zu sehen und sie damit auch anerkennen zu mssen, haben sich Nietzsches und Elias’ Wege trotz berwltigender diagnostischer Einstimmigkeit deutlich voneinander getrennt. Nietzsche wird kurz und knapp zweierlei konstatieren: „Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.“30 Und: „wer in Worten denkt, denkt als Redner und nicht als Denker“.31 Er nennt sein sptes philosophisches Selbstverstndnis in gezielter Abkehr vom Logos-Begriff der Tradition ein Pathos, bzw. genauer: die „Umsetzung des Dionysischen in 26 Language, Thought, and Reality. Selected Writings of Benjamin Lee Whorf, ed. by B. Carroll, Cambridge, Mass. 1956. 27 Elias, Was ist Soziologie?, S. 119. 28 Ebd., S. 121. 29 Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 5[22], S. 193. 30 Nietzsche, Gçtzen-Dmmerung, Sprche und Pfeile 26, KSA 6, S. 63. 31 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, III § 8, KSA 5, S. 354: „es verrth, dass er im Grunde nicht Sachen, nicht sachlich denkt, sondern nur in Hinsicht auf Sachen, dass er eigentlich sich und seine Zuhçrer denkt“.
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ein philosophisches Pathos“.32 Er stellt nicht nur methodisch auf Sinnverflssigung, sondern auch der schriftstellerischen Form nach auf antiwissenschaftliche Mitteilungstechniken um: Erzhlungen, Fabeln, Aphorismen, scheinbar maßlose Polemiken, doppelt reflektiertes Maskenspiel, ironische Uneigentlichkeit, hochexaltierte Lyrik, um schließlich das Ganze dieses performativ gewordenen Denkens als seine Philosophie zu verstehen. Auf diese Weise nutzt er die sthetischen Mçglichkeiten der Sprache, um im Sagen stets auch das nicht mehr Sagbare aufscheinen zu lassen, es gleichsam zu zeigen. Elias scheint derartig „dionysischen“ Ausdrucksmçglichkeiten, zumindest sofern sie sich innerhalb eines Diskurses bewegen wollen, mit deutlicher Skepsis gegenber gestanden zu haben. Er hat die bestehenden Ausprgungen der Wissenschaften fundamental kritisiert, bis zuletzt aber mit deutlicher Betonung an der Idee der Wissenschaft festgehalten und darber hinaus auch an dem Gedanken, dass ber einen behutsamen Umgang mit Terminologie durchaus auch ein Weg zurck zu einem aufgeklrten soziologischen Realismus fhren kann. Seine Prosa ist von einer Stilistik, an der zunchst das auffllt, was Johan Goudsblom einmal die Strategie der „Begriffsvermeidung“ bzw. die „Unbegrifflichkeit“ genannt hat.33 Auf diese realittsgesttigte Anspruchslosigkeit im Begrifflichen scheint es Elias um jeden Preis anzukommen. Es bleibt trotz aller Kritik an der akademischen Hypertrophie im begrifflichen Diskurs bei gleichzeitiger Statik seiner Grundelemente ein bleibendes Vertrauen in die Realismusfhigkeit der Sprache bestehen. Wie ernst er die Notwendigkeit eines sprachlichen Neuanfangs innerhalb seiner Disziplin genommen hat und wie sehr er sich selbst nicht mehr als einen ersten Schritt in eine neue Richtung zugebilligt hat, zeigt ein sptes Diktum von 1984: „In der Soziologie, so meine ich bis heute, stecken wir immer noch in der vorwissenschaftlichen Phase […].“34 Wer außer ihm kçnnte es wagen, derartiges zu behaupten? Dieses Fragezeichen sei also zum Schluss eines ersten Annherungsversuchs gesetzt: Wer sich zu Nietzsche und Elias in ein interpretatorisches Verhltnis setzen will, scheint immer auch gençtigt, sich ihren Sprachen als eigenstndigen Ausdrucksmçglichkeiten fr eigenstndiges Denken zu stellen. Die eminente Verschiedenheit dieser Ausdrucksmçglichkeiten 32 Nietzsche, Ecce homo, Die Geburt der Tragçdie 3, KSA 6, S. 312. 33 Vgl. dazu die Einleitung von: Menschen in Figuration. Ein Lesebuch zur Einfhrung in die Prozeß- und Figurationssoziologie von Norbert Elias, zusammengestellt und eingeleitet von Peter Bartels, Opladen 1995. 34 Elias, ber sich selbst, S. 55.
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macht die hier angestrebte Begegnung beider Denker sicherlich nicht einfacher, aber, wie wir glauben, allemal reizvoll.
5. Zu den Beitrgen Die direkten Bezugnahmen auf Nietzsche im verçffentlichten Werk von Elias scheinen zunchst wenig geeignet, um von einer nachhaltigen Wirkung des Philosophen auf den Soziologen sprechen zu kçnnen. Ebendarum ist das hier erstmals entworfene Nietzsche-Elias-Projekt auch nicht als Beitrag zur Quellen- oder Einflussforschung angelegt, sondern von vornherein an inhaltlichen und methodischen Strukturparallelen zwischen beiden Denkern ausgerichtet. Andererseits stellt sich als Ausgangspunkt fr ein solches Projekt auch die Aufgabe, Umfang und Reichweite der direkten Nietzscherezeption von Elias berhaupt erst einmal gesondert in den Blick zu nehmen. Zu Beginn des Bandes wird dieser Forderung Rechnung getragen. Angela Holzer gewhrt in ihrer Dokumentation „Philosoph der Kultur und des Krieges. Zur Nietzsche-Rezeption von Norbert Elias“unter Rckgriff auf bisher noch unverçffentlichtes Material nicht nur einen exemplarischen Einblick in die Denk- und Arbeitspraxis des Soziologen. Sie zeigt vor allem, dass Elias’ Auseinandersetzung mit Nietzsches Schriften werkbiographisch durchgehender und inhaltlich deutlich umfassender angelegt ist als es die vereinzelten Bezge im verçffentlichten Werk vermuten lassen. Wie sehr die Reflexion auf die franzçsische Hofkultur bei Nietzsche und Elias durch das jeweilige Verstndnis dessen bedingt ist, was eine Kultur ist bzw. sein sollte, arbeitet der Beitrag von Renate Reschke, „Hçfische Kultur. Der kulturkritische und soziologische Blick: Zur Differenz von Norbert Elias und Friedrich Nietzsche“ heraus. Whrend in der soziologischen Perspektive von Elias der Prozess der interindividuellen Verhçflichung als ein spezifisches, fr Europa folgenreiches Zivilisationsschema rekonstruiert wird, gehe es Nietzsche vornehmlich um die Darstellung einer idealtypischen aristokratischen Lebensform, die ihm als diagnostisches Instrument zur Kritik der zeitgençssischen Moderne diene. Stephen Mennell („A smouldering ember: Nietzsche and Elias on aristocratic and warrior ethics in the light of the American civilising process“) zeigt, dass Elias’ Untersuchungen zur Soziogenese des deutschen Militarismus im 19. Jahrhundert auch analytische Mçglichkeiten bereitstellen, um den jngeren amerikanischen Zivilisationsprozess zu charakterisieren. Nietzsche dient hierbei wie schon bei Elias mehr als Vermittler und intellektueller Exponent eines militrischen Habitus denn als dessen Kritiker.
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Mennell macht deutlich, dass im Gegensatz zu den postheroischen Gesellschaften Europas der Gedanke einer warrior ethic bis heute konstitutiv fr das amerikanische Selbstverstndnis geblieben ist. Christian Emden („Anthropologien der Gewalt bei Norbert Elias und Friedrich Nietzsche“) und David Wachter („Dionysische Zivilisation? Kulturtechniken der Enthemmung bei Nietzsche und Elias“) gehen in ihren Beitrgen von hnlichen Beobachtungen aus: In der soziologischen Rationalisierung von Elias scheint die Progression des zivilisatorischen Niveaus mit der Abnahme der Mçglichkeiten (letztlich physischer) Gewaltausbung beinahe proportional einherzugehen: Gewalt wird so mehr und mehr ein vonseiten der Zivilisation ausgeschlossenes Anderes, das sich, wenn berhaupt, nur noch im Modus affektiver Sublimierung denken lsst. Nietzsche unterbindet eine solche sukzessive Reduktion der Gewalt als Bedingung gesellschaftlicher Entwicklung. Vielmehr sei kulturelle Eigendynamik immer auch als eine Transformation des Triebes zur Grausamkeit in den Blick zu nehmen – auch die vermeintlich hochentwickelten Gesellschaften bleiben somit anfllig fr regressive Ausbrche nackter Gewalt. Im gemeinsamen Wissen darum konzipieren Nietzsche und Elias auf ihre Weise Kulturtechniken kontrollierter Enthemmung, die sich jedoch angesichts der unterschiedlichen kulturtheoretischen Gewichtung der Gewalt ihrem Intensittsgrad nach deutlich voneinander abheben. Andreas Urs Sommer rekonstruiert in seinem Beitrag „Das Sterben denken. Zur Mçglichkeit einer ars moriendi nach Nietzsche und Elias“ beide Denker als „Todes-Ernchterungsstrategen“ jenseits existentialistisch oder religiçs motivierter Todesmystagogie. Die Minimal-Thanatologien von Nietzsche und Elias folgen dabei dem philosophischen Programm Epikurs: Die gezielte Entwertung des Todes steht im Dienste der Bedeutsamkeitssteigerung des Lebens und erfolgt auf dem Wege einer Aufklrung ber bestimmte europische Traditionen angstinduzierter Dramatisierung des Sterbevorgangs. Friederike Felicitas Gnther („Die kopernikanische Wende als anthropologische Denkfigur bei Nietzsche und Elias“) rckt in ihrem metaphorologischen Beitrag den Gebrauch einer wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamen Metapher im Werk beider Denker ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Hierbei wird ersichtlich, dass Nietzsche und Elias die Figur der kopernikanischen Wende jeweils in anthropologischer Absicht verwenden, dabei aber zu beinahe gegenlufigen Schlussfolgerungen gelangen: Whrend Elias den Begriff des Individuums soziologisch verflssigt, folgen Nietzsches rhetorische Strategien eher dessen philosophischer Fundierung.
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Chiara Piazzesi („Die soziale Verinnerlichung von Machtverhltnissen. ber die produktiven Aspekte der Selbstdisziplinierung und der Affektkontrolle bei Nietzsche und Elias“) gibt in ihrem Beitrag eine dichte Beschreibung des fr beide Denker konstitutiven Zusammenhangs von individueller Affektkontrolle und gleichzeitiger gesellschaftlicher Ausdifferenzierung. ber die Analyse von Selbstdisziplinierungsmechanismen hinaus sieht sie Nietzsche und Elias in der therapeutisch motivierten Absicht geeint, den Menschen von bestimmten eindimensionalen Selbstvorstellungen der Tradition zu befreien und ihn auf dem Wege individueller und soziologischer Selbstaufklrung gestaltungsfhiger fr seine Zukunft zu machen. Prozesssoziologie und Genealogie sind Verfahrensweisen, in denen das Verhltnis zwischen Beobachter und Beobachtung und somit nicht zuletzt auch das Verhltnis von Autor und Text zur Disposition gestellt wird. Denn die Neuerzhlungen der spezifischen Eigendynamik des europischen Kulturverlaufs sind so angelegt, dass sie auch ihren Erzhler der Geschichte einverleiben, ihn vereinzeln und damit um jede Mçglichkeit eines unabhngigen Standpunkts zu bringen scheinen. Annette Hilts Beitrag „Rollen des Kritikers: Kritik als Gedchtnis und Erzhlung im Prozess der Zivilisation“ stellt sich dieser Ausgangslage und geht der Frage nach, wo Kritik unter solchen Bedingungen ihren Ort hat und wie sie berindividuelle Wirksamkeit entfalten, mithin konstruktiv werden kann. Im Beitrag „Kultur/en im Wandel denken. Zu den Voraussetzungen genealogischer und genetischer Reflexion“ nimmt Enrico Mller die Eigenheiten der prozessorientierten Interpretationsmodelle von Nietzsche und Elias in den Blick und zeichnet deren Genese nach. Als Ausgangspunkte dafr sind die Begriffe der ,Geschichte‘, der ,Evolution‘ und der ,Macht‘ gewhlt worden, die beide Denker innerhalb ihrer eigenen Sozialisation zunchst aufnehmen und kritisieren, um sie schließlich in den Gestalten der Genealogie bzw. der Prozessontologie durchgreifend umzudenken. Leander Scholz („Die ungeahnten Mçglichkeiten des ,demokratischen Nivellirungs-systems‘: Nietzsche und die Theoretiker der Weltgesellschaft“) entwirft ausgehend von Niklas Luhmann ein Theoriepanorama, das nach kollektivistischen, individualistischen sowie nach jenen Gesellschaftsentwrfen unterscheidet, die die Interdependenz von Individuum und Gemeinschaft auf Begriffe bringen. Elias, der das globale Ordnungsniveau der Interdependenzen in der Weltgesellschaft ebenso konstatiert wie eine bisher kaum ausgeprgte „Wir-Identitt“ der globalen Gemeinschaft, sieht in diesem Befund zugleich eine Gefhrdung des Zivilisationsprozesses. Nietzsches konfliktorientierte, an historischen Diskontinuitten ausge-
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richtete Modellierung der Gesellschaft sei demgegenber eher befhigt, die Individualisierungsschbe der Moderne zu analysieren. Werner Stegmaier entwickelt in seinem Beitrag „Nietzsches Mitteilungszeichen, Elias’ Symboltheorie und die Spielrume der Orientierung“ aus den spteren Werken beider Denker eine Philosophie bzw. eine soziologische Theorie der Kommunikation. Beide Denker gehen von einer evolutionren Perspektive auf die Kommunikation aus, von der aus das Verhltnis von Individuum und Gesellschaft offen gehalten halten wird, um es in seiner Eigendynamik beobachten und beschreiben zu kçnnen. Die Vergleichbarkeit und theoretische Produktivitt beider Anstze weist der Autor nach, indem er diese sukzessive in die Begrifflichkeit einer Philosophie der Orientierung berfhrt. Johan Goudsblom, dem frhen Wegbegleiter von Norbert Elias und Pionier der Elias-Forschung, gilt das Schlusswort des Bandes. In einem als Selbstvergewisserung angelegten Beitrag „Nietzsche and Elias as educators. Their role in the writing of Nihilism and Culture“ blickt er ber ein halbes Jahrhundert zurck auf sein Erstlingswerk, in dem er Nietzsches philosophisch weit reichende Ausfhrungen zum europischen Nihilismus mit soziologischen Mitteln zu analysieren versuchte. In der freien Rekapitulation seiner Arbeit bekennt er sich offen zu den faszinierenden Mçglichkeiten, aber auch zu den hermeneutischen Grenzen einer Soziologisierung Nietzsches. Die Herausforderung, welche in der Begegnung von Nietzsche und Elias liegt, wird dabei geradezu persçnlich erfahrbar. Der vorliegende Band als Ganzes hat sich eben dieser Herausforderung stellen wollen.
I. Dokumentation
Philosoph der Kultur und des Krieges: Zur Nietzsche-Rezeption von Norbert Elias Angela Holzer Norbert Elias bezog sich nur selten – in zwei beinahe ein halbes Jahrhundert auseinander liegenden Texten – explizit auf Nietzsche.1 Zwischen diesen Bezugnahmen lag der Zweite Weltkrieg. Er hat sichtbare Spuren in der Haltung hinterlassen, die Elias Nietzsche gegenber einnahm. Whrend Nietzsche in ber den Prozeß der Zivilisation als luzider Kulturkritiker und zeitgençssischer Zeuge fungiert, der die Unterschiede nationaler Affektmodellierung in Frankreich und Deutschland hellsichtig wahrnahm, so erscheint er im Sptwerk von Elias als Philosoph des Willen zur Macht und als Propagandist einer wilhelminischen Romantik der Gewalt. Von einer affirmativ zitierten und kultursoziologisch rezipierten Autoritt in den dreißiger Jahren wurde Nietzsche in den spten siebziger Jahren fr Elias zum mit Distanz betrachteten Symptom des deutschen Entzivilisierungsprozesses; vom Kulturphilosophen wurde Nietzsche zum Kriegsphilosophen. Der handschriftliche Nachlass von Elias, der ein Notizbuch von 1946 mit Nietzsche-Exzerpten enthlt, ermçglicht eine genauere Rekonstruktion der Rezeption und gibt Hinweise auf die Genese des Wandels in der Sicht auf den Philosophen. Die unmittelbar nach Kriegsende im englischen Exil angefertigten Exzerpte stammen teilweise aus dem 1942 in London erschienenen Buch Friedrich Nietzsche. Philosopher of Culture des englischen Jesuiten und Professoren fr Philosophiegeschichte Frederick Copleston. Die Exzerpte zeigen, dass Elias sich bereits unmittelbar nach dem Krieg auf Aspekte in Nietzsches Werk konzentrierte, die noch seine sptere Interpretation des Philosophen bestimmen. Doch belegen sie auch eine umfassendere Auseinandersetzung mit Nietzsche, als die verçffentlichten Werke vermuten lassen. Die in der Bibliothek Elias noch vorhandenen Bnde mit 1
Ich danke der Norbert Elias Foundation und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach fr die Gewhrung eines Norbert-Elias-Stipendiums, welches die Arbeit an diesem Beitrag ermçglichte. Der Norbert Elias Foundation danke ich auch fr die Erlaubnis zur Publikation der unverçffentlichten Texte und Notate aus dem Nachlass Elias.
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Werken und bersetzungen Nietzsches erlauben zustzlich, die Textgrundlagen fr Elias’ Haltung zu Nietzsche erstmals genauer zu bestimmen.
1. Nietzsche in den verçffentlichten Werken und unverçffentlichten Typoskripten Zum ersten Mal zitiert Elias Nietzsche in ber den Prozeß der Zivilisation. Hier verwendet er Nietzsches spçttische Darstellung der deutschen „Offenheit“ und „Biederkeit“ aus Jenseits von Gut und Bçse (§ 244) als Beleg seiner These von der Entstehung des deutschen Nationalcharakters aus dem mittelstndischen Ethos.2 Elias modellierte Nietzsches Gedankengehalt an dieser Stelle um. Unmarkierte Auslassungen in seinem Zitat verweisen auf die Art der Umformung – Elias umging die von Nietzsche betonte Doppeldeutigkeit, die Widersprche, die Tuschung durch die „Mephistopheles-Kunst“3 des Deutschen. Die psychologisch-hintersinnige Darstellung, in der Nietzsche den Anschein der lteren „,deutsche[n] Tiefe‘“4 gegenber der neuen „preussische[n] „Schneidigkeit‘“5 – Nietzsche nennt beide nur in Anfhrungszeichen – als List versteht, wird bei Elias zum einfachen Beleg fr die historische Existenz eines deutschen Nationalcharakters. Whrend Nietzsche dessen Undefinierbarkeit und sein Wesen als Werden feststellt, dient Nietzsches Beschreibung Elias als definitorisches Dokument des deutschen Seins. Wo Nietzsche die „deutsche Seele“6 im Moment ihres vermeintlichen Verschwindens reflektiert, sie ihm also im Kaiserreich bereits als Anachronismus gelten konnte, zitiert Elias Nietzsches Satz als Beleg fr ihre Genese. Kurz darauf zieht Elias Nietzsche wieder heran: nun als Zeugen einer anderen Entwicklung in Frankreich. Dort habe sich der Nationalcharakter aus dem hçfischen Stil entwickelt. „Nietzsche hat auch hier den Unterschied sehr deutlich gesehen“.7 Nietzsche ist fr Elias hellsichtiger Analytiker der 2 3 4 5 6 7
Norbert Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I [1939], Frankfurt a. M. 1976, S. 41 (vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 244, KSA 5, S. 186). Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 244, KSA 5, S. 186. Nietzsches Satz: „sie ist seine eigentliche Mephistopheles-Kunst, mit ihr kann er es ,noch weit bringen‘!“ ist im Zitat, das Elias anfhrt, ohne Markierung ausgelassen. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 244, KSA 5, S. 186. Ebd. Ebd., S. 184. Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, S. 44. Elias zitiert hier aus § 101 der Frçhlichen Wissenschaft. Die Quelle dieses Zitats wird noch in der Ausgabe von 1976
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verschiedenen Habitus-Genesen und ihres begrifflichen Niederschlages; doch auch hier wird er wieder mit unmarkierten Auslassungen zitiert. Elias verwendet Nietzsches Text als Beleg fr die Entstehung eines Nationalcharakters, wohingegen diese Entstehung nicht aus Nietzsches Aphorismus hervorgeht. Nietzsche versucht hier vielmehr, die „hçfische Sprache“, als deren Vollender Voltaire ihm erscheint, im Gegensatz zur Sprache des Spezialisten zu bestimmen. Keine nationale, sondern eine historische Unterscheidung dominiert den Gedanken, „jetzt, wo alle Hçfe Caricaturen von sonst und jetzt geworden sind“.8 Die Zitate im frhen Hauptwerk verdeutlichen, dass Elias nicht die inhaltliche Auseinandersetzung mit der kulturkritischen und theoretischen Komplexitt Nietzsches anstrebte, sondern Stellen aus dessen Aphorismen als Belege fr eigene Thesen der Herausbildung nationaler Verhaltens- und Denkformen anfhrte. Die Zitate entstammen Nietzsche-Texten der mittleren und spten Periode, sie sind aus Die frçhliche Wissenschaft und Jenseits von Gut und Bçse entnommen. Doch die Erstausgabe und die sptere Neu-Ausgabe von ber den Prozeß der Zivilisation geben fr beide Zitate Jenseits von Gut und Bçse als Quelle an: Elias kannte also vor allem dieses Werk und ergnzte anscheinend die Quellen des anderen Zitats aus dem Gedchtnis. In den dreißiger Jahren las Elias Nietzsche kultursoziologisch, die Zitate von ihm werden im Kontext historischer Beobachtungen zur Genese von Verhaltensweisen und Selbstbeschreibungen angebracht. Doch verurteilt Elias im Kontext seiner frhen Bemhungen, Soziologie als Wissenschaft zu betreiben, schon Nietzsches „einseitige Wertung“.9 Hier deutet sich im Gestus der Distanzierung die Richtung der Rezeption an, die Elias zunehmend intensiviert. Die Distanzierung von Nietzsches Wertungen fhrt schließlich zur Historisierung seiner Position. Die von Elias wahrgenommene „Einseitigkeit“ Nietzsches wird spter als Zeitgenossenschaft und Nietzsche damit als Symptom einer spezifisch deutschen Entwicklung gedeutet. Betrachtet man nur die Verçffentlichungen, so liegen zwischen der frhen kulturanalytischen Inanspruchnahme Nietzsches und der spten kritisch-distanzierten Haltung zu ihm, die besonders in den Studien ber die Deutschen deutlich wird, um die vier Jahrzehnte.
8 9
falsch (als Stck 101 von Jenseits von Gut und Bçse) angegeben. Erst die Ausgabe der Gesammelten Schriften (Bd. 3.1, S. 133) hat dies stillschweigend verbessert. Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 101, KSA 3, S. 458. Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, S. 41.
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Der Text von „Die satisfaktionsfhige Gesellschaft“10 und die verschiedenen Versionen von „Zivilisation und Gewalt“11 sind zwischen 1978 und 1981 entstanden. Elias plante auch ein Buch mit diesem Titel, das, im Widerspruch zum çkonomischen Deutungsmonismus des Marx’schen Modells, die Art der Konflikte zwischen Regierung und Regierten, zwischen verschiedenen Staaten und Generationen figurationssoziologisch analysieren wollte, um einen positiven Begriff der Zivilisation zu erarbeiten, der nicht nur Pazifizierung implizieren sollte.12 Im Kontext dieser Analysen des Verhaltenswandels im Kaiserreich stellt sich Nietzsches Werk fr Elias nun als „philosophische Fassung“13 der Tendenz einer „Adoption“14 oder „Absorption“15 von Adelswerten durch das wilhelminische Brgertum dar. In dem fr den 20. Soziologentag in Bremen 1980 verfassten Vortragsskript „Zivilisation und Gewalt“ heißt es, Nietzsches Werk sei der strkste philosophische Ausdruck der „romantischen Verehrung von Gewalt“,16 die generell im Brgertum des wilhelminischen Reiches zu finden gewesen sei. Auch die anderen Versionen von „Zivilisation und Gewalt“ heben diese Rolle Nietzsches im zeitgençssischen Kontext hervor. Nach dem Krieg von 1870 habe sich das wilhelminische Brgertum zu weiten Teilen an Werte des Adels assimiliert, da man diesem die nationale Einigung verdankte. Doch habe die 10 Der Text von ,Die satisfaktionsfhige Gesellschaft‘ in den Studien ber die Deutschen, Frankfurt a. M. 1992, entstand nach 1978 und beruht in seiner vorliegenden Fassung auf der Redaktion von Michael Schrçter. 11 Im Nachlass von Elias befinden sich weitere unverçffentlichte Textstrnge sowie eine Einleitung des geplanten Buches zu ,Zivilisation und Gewalt‘ (DLA Marbach, Nachlass Elias, Bremen 1, Mappe 1). Dort befindet sich auch eine Liste mit Schlagwçrtern, die mçglicherweise den Aufbau des Buches strukturieren sollten. Hier heißt es: „Folge: nationale Selbstberschtzung, die Brger bernahmen das militre Adelsethos 14. brgerliche Version davon ist z. B. Nietzsche“ (sic). 12 Michael Schrçter, auf den auch die Version von ,Zivilisation und Gewalt‘ in den Studien ber die Deutschen zurckgeht, verweist ebenfalls auf dieses Buchprojekt. Fr ihn war die Redaktion und Herausgabe von ,Zivilisation und Gewalt‘ die „schwierigste Aufgabe, die ich im Zusammenhang meiner Elias-Editionen zu bewltigen hatte.“ Michael Schrçter, Erfahrungen mit Norbert Elias, Frankfurt a. M. 1997, S. 315. 13 Elias, Zivilisation und Gewalt, in: Joachim Matthes (Hrsg.), Lebenswelt und soziale Probleme: Verhandlungen d. 20. Dt. Soziologentages zu Bremen 1980, Frankfurt a. M./ New York 1981, S. 104. 14 Elias, Exkurs ber den Nationalismus, in: Studien ber die Deutschen, S. 185. 15 Elias, Die satisfaktionsfhige Gesellschaft, in: Studien ber die Deutschen, S. 84 und 114. 16 Elias, Zivilisation und Gewalt [1981], in: Gesammelte Schriften, Bd. 15, Frankfurt 2006, S. 58.
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Verbrgerlichung der Adelswerte auch deren Funktion verndert, ein Vorgang, der sich in Nietzsches Wille zur Macht fr Elias paradigmatisch manifestierte: Aber in Adelskreisen waren militrische Werte verkçrpert durch begriffliche Symbole wie Mut, Gehorsam, Ehre, Disziplin, Verantwortung und Loyalitt gewçhnlich Teil einer langen Familientradition. Brgerliche Kreise bernahmen, entsprechend ihrer anderen sozialen Lage, den Adelskanon nur in einer bestimmten Auslese. Dabei erfuhr er einen schichtenspezifischen Funktionswandel; er verlor den Charakter eines traditionsgebundenen, dementsprechend wenig reflektierten Verhaltensmusters und erhielt seinen Ausdruck in einer durch Reflektion erhrteten und explicit formulierten Doktrin. In der großen philosophischen Tradition findet man eine Darlegung dieser Doktrin eigentlich nur in einigen Schriften Nietzsches, vor allem in seinem Werke ,Der Wille zur Macht‘. Nietzsche, der ja als freiwilliger Krankenpfleger zeitweilig noch an dem 70ger Krieg zwischen Deutschland und Frankreich teilnahm, gab hier der neuen Lebensphilosophie breiter Kreise des wilhelminischen Brgertums ihren klarsten Ausdruck, ganz gewiß, ohne sich dessen bewußt zu sein.17
Die Einleitung der Studien ber die Deutschen geht noch weiter und erkennt nicht nur einen Funktionswandel der Adelsmodelle, sondern eine Fehldeutung derselben mit dem Ergebnis der brgerlichen Befrwortung eines grenzenlosen Einsatzes von „Macht und Gewalt.“18 Elias sah in Nietzsche den Doktrinr der Macht, die er vor allem auf die Glorifikation der tatschlichen Gewaltausbung bezog. Dies wird besonders deutlich im handschriftlichen Zusatz zu einem Typoskript von „Zivilisation und Gewalt“. Hier ist die Rede von der „romantischen Verehrung der kriegerisch[en] Gewalt, der Macht nicht als Tatsache sondern als hçchs[ter] Wert“erscheint und die „merkwrdigerweise“ ihren „strksten philosophischen Ausdruck in Nietzsche hat“.19 Erst dieser kriegerische „Kult der Gewalt“20 habe schließlich zur Durchbrechung des Staatsmonopols gefhrt, die Elias vor allem, aber nicht nur, im Falle der Freikorps in der Weimarer Republik analysierte. Der Kult der Gewalt habe sich in der „extremen brgerlichen rechten“ wie auch der „de facto ebenfalls jugendlich-brgerlichen extremen linken“ (sic) fest- und noch im Terrorismus der siebziger Jahre fortgesetzt. 17 DLA Marbach, Nachlass Elias, Bremen 4, S. 12 ** ** [Seitenmarkierung von Elias]. Die Passage in den Studien ber die Deutschen, S. 236 – 237 bietet die von Schrçter redigierte Form dieser Gedanken, wobei hier und im Vortragstext nicht mehr von „Lebensphilosophie“, sondern von „Ideologie“ die Rede ist. 18 Elias, Einleitung, in: Studien ber die Deutschen, S. 23. 19 DLA Marbach, Nachlass Elias, Bremen 6, S. 8. Die Kursivierung markiert handschriftliche Zustze von Elias in seinem Typoskript. 20 DLA Marbach, Nachlass Elias, Bremen 4, S. 15.
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Dass Elias die Linke nicht nur am bundesdeutschen Terrorismus, sondern auch an der Genese der Romantisierung der Gewalt im 19. Jahrhundert beteiligt sah, ist ein Aspekt, der in den verçffentlichten Versionen von „Zivilisation und Gewalt“ nicht zur Sprache kommt. Ein Typoskript im Nachlass lsst Nietzsche in dieser Hinsicht jedoch als Nachfolger von Marx und Engels erscheinen, denn „Vorformen“ der gedanklichen Verdichtung der Gewalt zum moralischen Imperativ seien bereits bei ihnen zu finden.21 Elias sah die Fatalitt vor allem darin, dass hier der „Gebrauch von Gewalt in der Reflektion als etwas Gutes, Notwendiges, Wertvolles und Wnschenswertes hingestellt“22 wird. In Nietzsches Willen zur Macht konzentrierte sich fr Elias „merkwrdigerweise“ diese Tendenz. Die Qualifikation deutet darauf hin, dass Elias sich der mit dieser Interpretation Nietzsches verbundenen Paradoxie deutlich bewusst war. Diese Paradoxie besteht darin, dass ihm ausgerechnet jener zum ideologischen Vertreter der „satisfaktionsfhigen Gesellschaft“ geriet, der diese zunehmend verachtete und ihr als Außenseiter erschienen war.23 In einem anderen Textstrang von „Zivilisation und Gewalt“ heißt es: „Ihren philosophischen Ausdruck fand diese Doktrin des wilhelminischen Brgertums nur in einigen Schriften Nietzsches, vor allem in seinem ,Willen zur Macht‘, wo Nietzsche das Ethos des wilhelminischen Brgertums in geradezu paradigmatischer Form zum Ausdruck bringt – paradoxerweise, da er ja zugleich auch dieses Brgertum nicht wenig haßte und verachtete.“24 Elias war sich des Problems offensichtlich bewusst, das in der Konfrontation von seiner Deutung und den Selbstaussagen Nietzsches besteht. Er versuchte auch, es zu lçsen. Doch fhrte der Lçsungsversuch erneut zu einem Paradox, da Nietzsches Rolle nun zu der eines unreflektiert Reflektierenden geriet. Denn Elias sah in Nietzsches Willen zur Macht 25 einerseits die philosophische Kondensation26 einer im Brgertum weitverbreiteten Verherrli21 DLA Marbach, Nachlass Elias, Bremen 4, S. 9: „Vorformen dieses Wandels begegnet man bereits bei Marx und Engels, die die Gewaltttigkeiten der englischen und franzçsischen Revolutionen (gedanklich) zum moralischen Postulat der notwendig kommenden Kommunistischen Revolution verdichteten. Nietzsches Wille zur Macht, wie anti-wilhelminisch er sich auch gebrdet, bringt in kondensierter philosophischer Form Gedanken zum Ausdruck denen man auch in Kreisen des wilhelminischen Brgertums begegnet.“ 22 DLA Marbach, Nachlass Elias, Bremen 4, S. 9. 23 Elias, Die satisfaktionsfhige Gesellschaft, in: Studien ber die Deutschen, S. 153. 24 DLA Marbach, Nachlass Elias, Bremen 4, S. 12 ***. 25 In dem Vortrag auf dem Soziologentag scheint Elias das Werk „Willen zur Macht“ noch fr ein Werk Nietzsches zu halten: „Nietzsche […] gab dieser Ideologie des
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chung des adligen Kriegerethos. Ohne sich dessen bewusst zu sein, habe er trotz expliziter Einwnde gegen die wilhelminische Gesellschaft ihre dominanten, aus den Zeitereignissen resultierenden Erfahrungsschlsse philosophisch reprsentiert. Andererseits habe er auch die Reflexion einer „unreflektierten“, „vom blinden Schicksal der Geschichte hervorgebrachten Verhaltens- und Empfindenstradition“ vollbracht.27 Dieser Zusammenhang seiner Glorifikation der Gewalt als „reflektierte Verbalisierung einer sehr alten gesellschaftlichen Strategie“28 und der gesellschaftlichen Tendenzen seiner Zeit sei Nietzsche jedoch ebenfalls verborgen geblieben. Er habe, „ohne sich dessen bewußt zu sein“,29 in der Nachfolge Machiavellis den praktischen Kriegerkanon auf eine noch hçhere theoretische „Generalisierungsebene“ hinaufgehoben und in eine „noch allgemeinere Sollvorschrift“ verwandelt.30 Nietzsches Philosophie stellte fr Elias also in doppelter Hinsicht eine Ideologie bestimmter gesellschaftlicher Handlungsweisen dar. In diachroner Perspektive habe Nietzsche eine Verallgemeinerung des in Kriegergesellschaften jeher gepflegten Verhaltens vorgelegt, die zuerst von Machiavelli in Worte gefasst worden sei. In synchroner Perspektive schlage sich in seinem Willen zur Macht die Verbrgerlichung der Adelswerte nieder, welche den wilhelminischen Wandel des moralischen Kodex des Brgertums verdeutliche. In Nietzsches „Hochstellung der Macht“31 kristallisierte sich so fr Elias die Umwertung des brgerlichen Moralkanons und der Aufstieg des Brgertums im staatlichen Machtgefge seit dem Ende des 18. Jahrhunderts heraus. Nietzsche ist in diesen spten Texten vor allem das Sprachrohr der „satisfaktionsfhigen Gesellschaft“.32 Die in seiner Philosophie beobacht-
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wilhelminischen Brgertums […] in seinem ,Willen zur Macht‘ ihre philosophische Fassung“ (Elias, Zivilisation und Gewalt, in: Lebenswelt und soziale Probleme, S. 104). Ebenso erscheint es in der von Michael Schrçter berarbeiteten Version in: Studien ber die Deutschen, S. 237. DLA Marbach, Nachlass Elias, Bremen 4, S. 9. Elias, Die satisfaktionsfhige Gesellschaft, in: Studien ber die Deutschen, S. 149. Ebd., S. 154. Elias, Zivilisation und Gewalt, in: Lebenswelt und soziale Probleme, S. 104. hnlich formuliert die Vorstufe Bremen 2, S. 8. Elias, Die satisfaktionsfhige Gesellschaft, in: Studien ber die Deutschen, S. 155. Ebd., S. 157. Die Rezensenten der Studien ber die Deutschen sahen diese Interpretation Nietzsches großteils unkritisch. So Joachim Campe, Frankfurter Rundschau, 25. 11. 1989, S. 9: „Auch manch brgerlicher Literat machte den Wilhelminischen Kult des Kriegerischen mit, pries Hrte und Gewalt und zeigte Verachtung fr die kom-
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bare Herausbildung eines menschlichen Habitus ohne Mitleid33 stellt fr Elias eine Etappe des deutschen Entzivilisierungsprozesses dar – „Mitleid und Tiefe der Identifizierung von Menschen miteinander, Empathie“34 sind fr Elias zentrale Kriterien der Zivilisierung –, dessen Wegmarken die brgerliche Wertschtzung des Kriegerethos und die daraus resultierende Durchbrechung des staatlichen Gewaltmonopols durch die Freikorps sind. Nietzsches Wille zur Macht war fr Elias der philosophische Fokalisationspunkt einer bewussten Glorifikation der Gewalt, deren Kulmination er schließlich im Nationalsozialismus sah. Kriegerische Adelswerte seien durch ihre Verbrgerlichung in den „nationalen deutschen Kanon“35 eingegangen und htten schließlich ihre konsequente, wenn auch nicht notwendige, „Fortfhrung […] im kleinbrgerlichen Gewande“,36 nmlich im vergrçberten37 Adelskanon des Eroberungs- und Rassenethos des nationalsozialistischen Glaubenssystems gefunden.38 Diese spte Sicht auf Nietzsche beruft sich wiederholt auf das „Werk“ Der Wille zur Macht; doch stammt das lngste Nietzsche-Zitat im verçffentlichten Werk von Elias aus Der Antichrist. Es ist wahrscheinlich, dass Elias sein Verstndnis des Willens zur Macht aus dieser Passage gewann, und mit seiner spten Perspektivierung
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promissbereite Vernunft der Zivilisten, die in den westlichen Demokratien den Ton angaben. Prophet dieses neuen und gewissermaßen zackigen Denkens war Friedrich Nietzsche, dessen Werk sich eben auch als Hoheslied auf die Krieger- und Herrentugenden lesen lsst.“ Etwas differenzierter Katharina Rutschky, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 11. 1989, S. L9: „Der Sprecher, nicht der Opponent dieser wilhelminischen guten Gesellschaft, vor allem des Brgertums, ist Nietzsche. Schon wenige Jahre nach seinem Tod taucht in einem Nachruf auf den Berliner Germanisten Erich Schmidt ein Ausdruck wie ,arische Schneidigkeit‘ auf, obwohl Nietzsche, wie Elias andeutet, wirklich Besseres verdient htte, als derart Beispiel fr ein Menschen- und Mnnerideal zu werden, das so inhuman wie unzeitgemß dem adligen Kriegerleben abgeschaut ist.“ Elias, Die satisfaktionsfhige Gesellschaft, in: Studien ber die Deutschen, S. 144. Ebd., S. 145. Ebd., S. 114. Elias, Vernderungen europischer Verhaltensstandards im 20. Jahrhundert, in: Studien ber die Deutschen, S. 36 (Anm.). Elias, Einleitung, in: Studien ber die Deutschen, S. 23. Hier ist von einer Vergrçberung der Adelswerte im Dritten Reich in Form der rassistischen Ahnenprobe die Rede. An anderer Stelle heißt es: „Es wre eine Untersuchung wert, zu prfen, wie viel am nationalsozialistischen Typ der Menschenbewertung gesunkenes und vergrçbertes deutsches Adelsgut war“ (Elias, Die satisfaktionsfhige Gesellschaft, in: Studien ber die Deutschen, S. 114). Vgl. Elias, Einleitung, in: Studien ber die Deutschen, S. 23. Diese „Ausbreitung von militrischen Modellen in Teilen des deutschen Brgertums“ hlt Elias fr entscheidend zum Verstndnis des Nationalsozialismus. Vgl. ebd., S. 27.
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eine Deutung Nietzsches als Philosoph der Strke und des Krieges fortsetzte, zu der er in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gelangt war.
2. Nietzsche in der Bibliothek Elias In der Bibliothek Elias befinden sich heute sechs Bnde von Nietzsche, darunter je zwei Ausgaben von Jenseits von Gut und Bçse und Zur Genealogie der Moral. Es ist wahrscheinlich, dass Elias in ber den Prozeß der Zivilisation aus der Krçner-Ausgabe dieser Texte von 1930 zitierte. Er nahm diesen Band wahrscheinlich mit ins Exil. Die anderen fnf Bnde wurden alle nach dem Zweiten Weltkrieg angeschafft, darunter zwei englische und drei deutsche.39 Die deutschen Ausgaben enthalten smtlich Texte des spten Nietzsche. Elias hat sich also nach dem Krieg verstrkt fr die Werke der Umwertungsperiode interessiert. Nur ein Band weist Anstreichungen auf. Er enthlt Der Antichrist und Ecce homo. Anhand der Bibliothek ist damit fr diese Texte eine Rezeption sicher belegbar. Elias’spte Darstellung Nietzsches geht wohl auf seine Lektre des Antichrist in einer Ausgabe des Goldmann-Verlages von 1978 zurck. In ihr sind genau jene Passagen angestrichen, die Elias in Die satisfaktionsfhige Gesellschaft zitiert: „Was ist gut? – Alles, was das Gefhl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhçht“.40 Die hier enthaltene Bewertung des Willens zur Macht bildet die Grundlage fr Elias’spte Einschtzung Nietzsches, fr das, was er Nietzsches „Loblied auf Krieg und Strke“41 nannte. Es gibt in der Bibliothek Elias keinen Beleg dafr, dass Elias eine der unter dem Titel Der Wille zur Macht erschienenen Kompilationen aus dem Nietzsche-Nachlass bekannt war – obwohl er auf 39 Dies sind folgende Ausgaben: Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse/ Zur Genealogie der Moral, Leipzig (Krçner) 1930; Nietzsche, The Use and Abuse of History, New York (The Liberal Arts Press) 1949; Nietzsche, The Birth of Tragedy. The Genealogy of Morals, Garden City (Doubleday & Company) 1956; Nietzsche, Der Antichrist, Ecce Homo, Dionysos-Dithyramben, Mnchen (Wilhelm Goldmann Verlag) 1978; Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, Mnchen (Wilhelm Goldmann Verlag) o. J.; Nietzsche, Morgenrçthe. Gedanken ber die moralischen Vorurteile, Mnchen (Wilhelm Goldmann Verlag) o. J. 40 Die Studien ber die Deutschen geben hier als Quelle die Werkausgabe Nietzsches von Karl Schlechta, Bd. 2, 1966 an. Es ist aber wahrscheinlich, dass Elias aus seinem Exemplar des Goldmann-Verlages zitierte (Nietzsche, Der Antichrist, § 2, Mnchen 1978, von Elias unterstrichene Stelle. Vgl. Elias, Die satisfaktionsfhige Gesellschaft, in: Studien ber die Deutschen, S. 154). 41 Elias, Die satisfaktionsfhige Gesellschaft, in: Studien ber die Deutschen, S. 157.
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diese an verschiedenen Stellen verweist42 und obwohl die Gesammelten Schriften ihn in einer – nicht-existenten – Ausgabe von Colli und Montinari als Quelle angeben.43 Die oben dargestellte Einsicht von Elias in Nietzsches Distanzierung vom Deutschen beruht auf Passagen, die Elias ebenfalls durch Anstreichungen hervorhob. Sie befinden sich in Ecce homo und betreffen die Invektiven bezglich des Deutschen im Abschnitt Der Fall Wagner, nmlich Nietzsches Ehrgeiz, „Verchter der Deutschen par excellence“44 zu sein. Elias schrieb auf den Vorsatz seiner Goldmann Klassiker-Ausgabe des Ecce homo: „ber Deutschland S.178 ff“. Ihn haben also vor allem diese Stellen interessiert. Er unterstrich hier unterschiedliche Passagen, welche die „Unzucht“ in historischen Dingen, die auf dem „Deutschsein“als Argument beruhe, die ironisierte Vorstellung, die Deutschen seien „die Trger der Freiheit“, Treitschkes „Hof-Geschichtsschreibung“ und die „großen Kulturverbrechen von vier Jahrhunderten“ betreffen.45 Nietzsche Vorwurf, „man will ber sich nicht im klaren sein“ ist mehrfach markiert, die „Existenz Napoleons“ als Wunder von Sinn ist gar eingerahmt.46 „Der ,deutsche Geist‘ ist meine schlechte Luft“47: Elias unterstrich auch diesen Satz Nietzsches. Er war sich also derjenigen Passagen, die seine Darstellung Nietzsches als Sprachrohr des wilhelminischen Brgertums komplizieren, nicht nur bewusst, sondern hob sie sogar hervor. Sie spiegeln sich vor allem in seiner Einfgung in den Text von „Die satisfaktionsfhige Gesellschaft“ wider, „Nietzsches gelegentlicher Deutschenhaß“ sei „wohl zum Teil eine Art von Selbsthaß“; er habe in diesen Passagen „mit sich selbst“ gehadert, er habe ja auch vor sich „verheimlicht“, „dass er selbst der Schwache war, mit der Sehnsucht nach einer kriegerischen Strke, deren er nicht fhig war“.48 Die Lçsung von Elias bestand also darin, Nietzsches Aussagen gegen Nietzsche zu wenden, diesen gleichsam als Opfer seines eigenen Unbewussten darzustellen. 42 Z. B. in DLA Marbach, Nachlass Elias, Bremen 8, einem Textstrang von „Zivilisation und Gewalt“. 43 In Bd. 15 (S. 69) der Gesammelten Schriften wird „Wille zur Macht“ als Zitation aus KGW und KSA ohne Bandangabe genannt. 44 DLA Marbach, Bibliothek Elias (N.E.B. 2): Nietzsche, Ecce homo, Mnchen 1978, S. 182, von Elias unterstrichener Satz (vgl. KSA 6, S. 362). 45 DLA Marbach, Bibliothek Elias (N.E.B. 2): Nietzsche, Ecce homo, Mnchen 1978, S. 179 (vgl. KSA 6, S. 358 f.). 46 DLA Marbach, Bibliothek Elias (N.E.B. 2): Nietzsche, Ecce homo, Mnchen 1978, S. 180 (vgl. KSA 6, S. 360). 47 DLA Marbach, Bibliothek Elias (N.E.B. 2): Nietzsche, Ecce homo, Mnchen 1978, S. 181 (vgl. KSA 6, S. 361). 48 Elias, Die satisfaktionsfhige Gesellschaft, in: Studien ber die Deutschen, S. 154.
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So wren dann Teile von Nietzsches Werken nicht nur als Ausdruck einer Assimilation des Brgertums an das kriegerische Adelsethos zu sehen, sondern auch als individuelle soziale Kompensation. Elias verfolgte diesen Aspekt seiner Nietzsche-Darstellung nicht weiter. Er interpretierte Nietzsche letztendlich gegen dessen explizite Aversion und trotz seiner Einsicht in die Widersprchlichkeiten der eigenen Nietzsche-Auslegung in einer Art ideologiekritischer Hermeneutik: Paradoxerweise sei derjenige, der den Deutschen vorwarf, „ber sich nicht im klaren“49 zu sein – ein Satz, den Elias wie gesagt mehrfach markierte – sich ber sich selbst nicht im klaren gewesen; derjenige, der die Erhebung brgerlicher Adelsethik auf ein philosophisches Reflexionsniveau vollbrachte, habe diesen Reflexionscharakter und den Zusammenhang mit seiner Zeit verschleiert. Elias bringt Nietzsche bewusst in jene Nhe, vor der sich dieser in demselben Abschnitt aus Ecce homo verwahrte, nmlich in die Nhe von „,unbewusste[r]‘“philosophischer Falschmnzerei und in diejenige des „,deutsche[n] Geist[es]‘“.50 Es scheint, als htten andere philosophisch-soziologische Diskussionen ber die Rolle Nietzsches Elias bei seiner Interpretation nicht beeinflusst. Sowohl Ernst Bloch als auch Theodor W. Adorno entwickelten in der Kritik an Lukcs’ These von Nietzsche als „philosophischem Herold der imperialistischen Barbarei“51 frh eine komplexe Sicht auf Nietzsche. Vor allem Adorno, bei dem Elias in seiner Preisrede einen „humanen Marxismus“52 als „soziale Krankheit des Intellekts“,53 ja letztlich eine „Paralyse des Vermçgens zu einer theoretischen Synthese, die ber die Marxsche hinausging“54 vermutete, „bewertet nach 1933 Nietzsche, den er schon seit Schlerzeiten kannte, neu und bemht sich, ihn quer zum Trend der Epoche als kritischen 49 DLA Marbach, Bibliothek Elias (N.E.B. 2), Nietzsche, Ecce homo, Mnchen 1978, S. 182. Vgl. Nietzsche, KSA 6, S. 361: „[genau diese Instinkt-Unsauberkeit gegen sich,] von der ich eben rede: man will ber sich nicht im Klaren sein.“ (sic; unterstrichen und dreifach seitlich angestrichen von Elias). 50 Nietzsche, Der Fall Wagner, KSA 6, S. 361. 51 Norbert Rath, ,Nietzsche ist in gewissen kritischen Dingen weiter gegangen als Marx‘. Adornos Affinitt zum Philosophen der Außenseiter, in: Andreas Schirmer/ Rdiger Schmidt (Hrsg.), Widersprche. Zur frhen Nietzsche-Rezeption, Weimar 2000, S. 449 – 462, hier S. 451 (Zitat von Lukcs). Vgl. Norbert Rath, Zur Nietzsche-Rezeption Horkheimers und Adornos, in: Willem van Reijen/ Gunzelin Schmid Noerr, Vierzig Jahre Flaschenpost: ,Dialektik der Aufklrung 1947 bis 1987‘, Frankfurt a. M. 1987, S. 73 – 110. 52 Elias, Adorno-Rede. Respekt und Kritik, Frankfurt a. M. 1977, S. 54. 53 Ebd., S. 48. 54 Ebd., S. 54.
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Denker anzueignen.“55 Im kalifornischen Exil sprach sich Adorno 1942 fr eine Adoption Nietzschescher Theoreme als „Mittel gegen die dogmatische Erstarrung ,marxistischer‘ Optionen zu Legitimationsphrasen von diktatorischer Herrschaft“56 aus. Elias, der ber die freundliche Distanz zu Adorno in den Frankfurter Jahren berichtete, war im englischen Exil von derlei Diskussionen abgeschnitten. Nachdem Adorno Nietzsche anfangs kritisiert hatte, galt ihm dieser bereits in den vierziger Jahren als „Modell kritischen Philosophierens“57 und blieb lebenslang Anregung „fr eine das Paradox nicht scheuende Dialektik“.58 In einer Redevorlage zur Begrßung Thomas Manns ist bereits 1952 von dem Unrecht, das man Nietzsche durch einseitige Rezeptionen antat, die Rede: „Die deutsche Philosophie hat an Nietzsche alles wiedergutzumachen.“59 In der unmittelbaren Nachkriegszeit verfasste auch Elias’ frherer Lehrer Alfred Weber eine Einschtzung Nietzsches im Angesicht der jngsten Geschichte. Sie stellt gewissermaßen eine Gegenposition zu Adorno dar. Weber suchte nicht das Wahre, sondern das Gefhrliche in Nietzsches Werk auf. In seinem Abschied von der bisherigen Geschichte stellte er die Analyse des Werkes Der Wille zur Macht ins Zentrum seiner Beschftigung mit Nietzsche, da hier „die großen Fehlgnge“ sichtbar wrden, „die diese Schrift in 55 Rath, Adornos Affinitt, S. 452. 56 Ebd., S. 453. Adorno sprach laut Protokoll Gretel Adornos im Juli 1942 in Kalifornien von den wahren Elementen in Nietzsches Philosophie: „Er hat gewisse kritische Intentionen weiter getrieben, als sie in der nachmarxistischen Tradition entfaltet worden sind.“ (Theodor W. Adorno, [1. Zu einem Referat Ludwig Marcuses ber das Verhltnis von Bedrfnis und Kultur bei Nietzsche, 14. Juli 1942], in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 12, Frankfurt a. M. 1985, S. 566); vgl.: „Er hat gesehen, daß nicht nur die Demokratie, sondern auch der Sozialismus eine Ideologie geworden ist. Man muß den Sozialismus so formulieren, daß er seinen ideologischen Charakter verliert. Nietzsche ist in gewissen kritischen Dingen weiter gegangen als Marx, insofern als er in gewissem Maße eine schrfere Witterung gegen den Brger hatte. Im Kapitel vom Vorbergehenden zeigt Nietzsche, daß er nicht nur ein Kritiker der Kultur ist, sondern er war auch gegen die Art der Kulturkritik, die einen individualistischen Begriff der Kultur beibehlt. Mit anderen Worten, die Frontstellung von Nietzsche ist nicht nur gegen die Demokratie, sondern auch gegen die individualistische Gesellschaft, der Begriff der Liebe bedeutet bei ihm objektiv Solidaritt“ (ebd., S. 568); vgl. „Genau an der Stelle, daß er seiner Philosophie keine Anweisung mitgegeben hat, ist das Moment seiner Wahrheit“ (ebd., S. 570). 57 Rath, Adornos Affinitt, S. 450. 58 Rath, Adornos Affinitt, S. 456 und 458. 59 Adorno, Imaginre Begrßung Thomas Manns. Ein Entwurf fr Max Horkheimer, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 20.2, Frankfurt a. M. 1986, S. 471.
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ihrem populren Verstndnis oder Mißverstndnis zu einem wahren Pulverfaß gemacht haben.“60 Weber nahm an, dass die hier enthaltenen Gedanken noch „zum großen Teil“61 von Nietzsche selbst systematisch geordnet wurden. Er nahm Stellung nicht nur zu Nietzsches Werk angesichts seiner Wirkung bei den „Terrordiktatoren“62 und angesichts seines Beitrages zur Spaltung der „Weltgeschichte in zwei Teile“,63 sondern auch zur eigenen Vorkriegsrezeptionshaltung, einer „Auswahl-Rezeption“,64 die nun nicht mehr anginge. Der Vorkriegs-Nietzsche war nicht zuletzt ein Nietzsche, der bei Webers Bestimmung des neuen nationalen Ideals der kommenden Jugend Pate gestanden hatte: Idealisten ganz ohne Pathos, Realisten aus dem Bewußtsein der Erdverbundenheit und doch frei vom Nur-Technischen des einseitigen Realismus, national bis in die Knochen und doch bewußt herausstrebend aus der bisherigen Enge […] Eine Generation nicht denkbar ohne Nietzsche, ausgestattet mit seinem neuen Kçrpergefhl, erfllt von seiner Abneigung gegen das Allzumenschliche.65
Das Ergebnis der Auseinandersetzung Webers mit dem Willen zur Macht besteht in der Feststellung sowohl von Nietzsches Verdiensten als auch von Nietzsches Irrtmern, welche aus dessen Zeitverhaftetheit, aus seinem unberwundenen Nihilismus hervorgegangen seien. Nietzsches Irrtmer zeigten sich vor allem in seiner Glorifikation des Krieges als Mittel zur Erneuerung der Kultur, seiner Verachtung der Masse und der Fehleinschtzung ihrer soziologischen und politischen Macht, schließlich in seinem „Verrat an den seelisch-geistigen Grundkrften“66 Europas, nmlich an den „Mchten der aktiven Menschlichkeit in ihrer Verbindung mit Freiheit“.67 Weber legt seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche, die im Rahmen einer historisch60 Alfred Weber, Abschied von der bisherigen Geschichte. berwindung des Nihilismus?, Hamburg 1946, S. 146. Vgl. ebd., S. 193: „Was ist dieses Werk? Wohin gehçrt es und wo steht es rein sachlich? Man muß den Willen zur Macht, die theoretisch durchgearbeitetste Konsequenz dabei zum Ausgangspunkt whlen.“ 61 Weber, Abschied, S. 146. 62 Ebd., S. 193. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Weber, Rede des Professors Alfred Weber, Dritte Generalversammlung des Verbandes fr kulturelle Zusammenarbeit, in: Neue Freie Presse, Nr. 22306, 1926, zitiert bei Eberhard Demm, Von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik. Der politische Weg Alfred Webers 1920 – 1958, Dsseldorf 1999, S. 87. hnlich Weber, Der Deutsche im geistigen Europa, in: Europische Revue 2, 1927. 66 Weber, Abschied, S. 206. 67 Ebd.
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soziologischen Diagnose vom Ende Europas stattfindet, den Glauben an objektive, unverlierbare und transzendente Gehalte der Menschheitserfahrung, an eine „Mchtewelt, die uns aufbaut“,68 zugrunde. Der Verlust einer Einsicht in diese Mchte sei Nietzsche, der selbst Symptom dieses Verlustes war, zwar vorausgegangen, doch habe Nietzsche Anteil an der Steigerung dieses Verlustes zur gegenwrtigen Katastrophe gehabt. Seine gefhrlichste Wirkung habe er erst nach dem Ersten Weltkrieg entfaltet – also zu der Zeit, als Elias bei Weber in Heidelberg studierte. Alfred Weber lag nach dem Erlebnis des Zweiten Weltkrieges an der Wiedergewinnung der Orientierung an den objektiven Mchten als Aufgabe und Bestimmung des Menschen. Im Unterschied zu Webers werkanalytischer und wirkungsfokussierter Haltung, die auf einer eigenen liberal-humanen Werteauffassung beruht und in eine appellative Struktur eingebunden ist, hebt Elias in seinen spteren Texten Nietzsches Theorem vom Willen zur Macht hervor, ohne dass eine analytische Auseinandersetzung mit diesem durch eine Lektre der Kompilation nachweisbar ist. Fr Weber ist die Theorie des Willen zur Macht, die er fr Nietzsches zentrale Idee, seinen „Weltschlssel“ hlt, als „schlechthin unmçgliche Form des Streits von Kraft- und Machtquanten“ Dokument von Nietzsches Zeitbedingtheit, „schlechtestes und berholtestes neunzehntes Jahrhundert!“69 Weber sieht in Nietzsches Theorem die „naturalistisch-relativistische(n) und subjektivistische(n) Einkleidung“, es sei letztlich eine „absolut unadquate, verußerlichende und entseelende, von ihm bei den geistigen Postulaten, die er aufstellt, letztlich auch gar nicht festgehaltene Hlle fr Dinge, die tiefer liegen“.70 Es ist nicht bekannt, ob Elias mit dieser Nachkriegs-Analyse von Weber vertraut war. In seiner spten Sicht auf Nietzsche kçnnte man jedoch eine soziologisch-historische Fassung des von Weber festgestellten „Irrtums“ der Nietzscheschen Kriegsverherrlichung sehen. Doch whrend Weber den Tendenzen der Eskalation zum Kriege nachgeht und in Sorels Sur la violence den grçßten „Explosionsstoff“neben Nietzsches Willen zur Macht und im brigen „Machtlibertinage also berall“,71 besonders in Russland und England, erkennt, fhrt der Fokus auf die Sonderentwicklung Deutschlands – eine nationale Einengung, die Michael Schrçter in den Studien ber die Deutschen vornahm und die Elias so nicht 68 69 70 71
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konzipiert hatte72 – dazu, dass die zeitgençssische europische Dimension im Text von Elias ausgeblendet wird und Nietzsches Philosophie als einzigartiges Zeugnis einer spezifisch deutschen Figuration, nmlich der satisfaktionsfhigen Gesellschaft, erscheint. In einer hochspezialisierten Wissensgesellschaft fordern menschenwissenschaftliche Synthesen leider Opfer: Elias war kein Fachwissenschaftler, und musste weder die philologische noch die philosophische Auseinandersetzung mit dem Willen zur Macht verfolgen. Einige Jahre vor den Studien ber die Deutschen erschien Montinaris Studie des Nachlasses,73 eine Beweisfhrung, dass Nietzsche kein Werk mit diesem Titel als summa seiner Philosophie plante, und bereits 1962 und 1974 hatten Gilles Deleuze und Wolfgang Mller-Lauter deutlich komplexere Deutungen von Nietzsches „Lehre vom Willen zur Macht“ vorgelegt.74 Lassen sich jedoch Erklrungen dafr finden, dass Elias noch in den achtziger Jahren eine Sicht auf Nietzsche als Philosophen des Krieges hatte? Norbert Rath wies darauf hin, dass Adorno nie auf „manche problematischen Aspekte“, beispielsweise „Nietzsches Verteidigung der Sklaverei als notwendig fr eine hçhere Kultur“ zu sprechen kam.75 Elias hingegen konzentrierte sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf diese Aspekte und auf die Passagen in Nietzsches Schriften, die eine Kriegsbefrwortung auszudrcken scheinen. Dies belegt sein Notizbuch 1038, das 194676 in England entstand. Es ist meines Wissens der einzige Beleg einer NietzscheRezeption neben den wenigen Bezgen im verçffentlichten Werk und den Unterstreichungen in den Nietzsche-Bnden der Bibliothek Elias. Es scheint, als habe diese Kenntnisnahme der Nietzscheschen Kriegspassagen auch die spte Sicht von Elias geprgt, sodass er noch bei seiner Lektre des Antichrist auf die vermeintliche Verherrlichung der Macht und der Strke fokussierte.
72 Schrçter, Erfahrungen, S. 317 – 318. 73 Mazzino Montinari, Nietzsches Nachlaß von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht, in: Jahrbuch fr internationale Germanistik Reihe A, Bd. 2, Heft 1 (1976), S. 36 – 58. 74 Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Paris 1962. Wolfgang Mller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Nietzsche-Studien 3, 1974, S. 1 – 60. 75 Rath, Adornos Affinitt, S. 457. 76 Die Datierung stammt von Saskia Visser.
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3. Das Notizbuch 1038: Nietzsche-Copleston-Elias Das unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in England entstandene Notizbuch 1038 enthlt Exzerpte, die zum Teil auf eine Lektre des 1942 in London verçffentlichten Buches Friedrich Nietzsche. Philosopher of Culture 77 zurckgehen. Der Verfasser dieser Studie ist Frederick Charles Copleston, vom Rezensenten des Buches „Father Copleston“78 genannt, ein jesuitischer Priester und seit 1939 Professor der Philosophiegeschichte am Heythrop College in London. Nach dem Nietzsche-Buch verfasste Copleston 1946 ein Buch ber Schopenhauer, 1955 befasste er sich mit St. Thomas und Nietzsche, und seine neunbndige A History of Philosophy (1946 – 74) stellte eine Grundlage der Einfhrung englischer Universittsstudenten in die Philosophie dar. 1975 erschien das Nietzsche-Buch in erweiterter Form. Copleston war bis zu seinem Tode im Jahr 1994 ein in England populrer und respektierter Philosophiehistoriker. Coplestons Deutung stellt eine Kritik an Nietzsches Werk im Lichte der Weltkriegserfahrung und aus Sicht des Christen dar – er argumentiert „from the Christian standpoint“.79 Nietzsche sei weder Philosoph80 noch Psychologe gewesen und werde auch nicht als klassischer Philologe in Erinnerung bleiben.81 Fr Copleston ist Nietzsche hauptschlich als Schriftsteller, as „tragic poet, a man of blacks and whites, of sharp antithesis“82 bedeutsam. Doch kçnne man sein Werk inhaltlich nicht einfach als zusammenhangslos verwerfen. Copleston bemhte sich durchaus um eine im damaligen englischen Rezeptionshorizont gerechte Bewertung Nietzsches. Er wies grundstzlich den Vorwurf des Wahns und der Widersprchlichkeit zurck, gab aber die Einseitigkeit der Wertungen Nietzsches zu bedenken: „That Nietzsche is only too frequently one-sided and exaggerated in his
77 Frederick Copleston, Friedrich Nietzsche. Philosopher of Culture, London 1942 (=The Bellarmine Series VII). 78 F. H. Heinemann, Review [untitled], in: Philosophy, 19 (72), 1944, S. 86 – 89. 79 Copleston, Nietzsche, S. XI. 80 Ebd., S. 29: „He lacked the detachment necessary for a true philosopher, and the power of sustained, scientific and rational argument. It does not require a profound knowledge of his works in order to realize that he cannot be considered as one among men like Aristotle, St. Thomas Aquinas, Leibniz, Kant, Hegel, Whitehead. He made no real contribution to logic, ontology or theory of knowledge.“ 81 Ebd., S. 32: „it is as a master of the German language that he lives, and will live, and secondly as the poet-philosopher of culture.“ 82 Ebd., S. 31.
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assertions cannot be denied; but his philosophy is very far from being a mere jumble of inconsistencies.“83 Fr Copleston bestand die zeitgençssische Notwendigkeit, sich mit Nietzsche zu befassen, darin, dass dieser einen Begriff von „true culture“ geprgt habe, welcher nun im europischen Kriege gegen den „New Barbarian“84 verteidigt werden msse. Jedoch habe Nietzsche selbst die Grundlagen der „wahren Kultur“ durch seinen nihilistischen Angriff auf die spirituellen Grundlagen Europas unterminiert.85 Der erste Teil des Buches – nach einer biographischen Beschreibung, die Nietzsches Einsamkeit hervorhebt – befasst sich daher mit Nietzsches Begriff einer hçheren Kultur. So richtig auch seine Vorstellungen von wahrer Kultur und ihrer Herbeifhrung im Einzelnen seien, so falsch sei doch letztlich seine Begrndung des Endzwecks dieser Kultur, nmlich die Produktion des Genies, das Copleston mit dem bermenschen in eins setzt. Fr Copleston kann wahre Kultur nur im Bezug auf Gott, nicht auf den Menschen existieren: „we insist that God is glorified in the true and harmonious development of all the powers of man, and that this divine glorification is the ultimate end of culture.“86 Das Genie oder der bermensch sei nicht das Endziel der Kultur, und ebenso wenig kçnne das Leben der „ordinary men and women“87 seiner Hervorbringung untergeordnet werden. Grundstzlich pflichtet Copleston einer aristokratischen Konzeption der Kultur bei und lehnt einen brgerlichen und demokratischen Kulturbegriff, der zur Mittelmßigkeit fhre, ab.88 Im Prinzip msse man also nur den Gedanken des bermenschen durch den Gottes ersetzen, um Nietzsche zustimmen zu kçnnen. Doch bleibe sein Werk eben unrettbar berschattet vom „Antichristentum“, dessen Zweifelhaftigkeit ihm wohl selbst im Wahn bewusst geworden sei. Nietzsche habe seine eigene
83 Ebd., S. 51. 84 Ebd., S. VII. 85 Ebd., S. 72: „The spiritual and cultural values, for which we are fighting to-day, are an inheritance of that great medieval period of European civilization, even if not always recognized as such; and in challenging Christianity and the Catholic Church Nietzsche is challenging those very factors which have made European culture possible, those very factors, the denial of which leads, not to a higher culture but to Nihilism. If European culture does break down in the future, it will be because Christianity has not succeeded in permeating the whole political and social structure of Europe.“ 86 Ebd., S. 41. 87 Ebd., S. 77. 88 Ebd., S. 41 und 77.
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religiçse Bindung nicht berwinden kçnnen und sein innerer Kampf sei vielleicht auch der Grund seines mentalen Zusammenbruchs gewesen.89 Dieses „Antichristentum“, Nietzsches „campaign against Christianity und universal morality“90 stellt den zweiten Hauptstrang der Untersuchung dar. Nietzsche gilt als „intellectually wicked man“: „We cannot, therefore, regard Nietzsche as an atheistic ,saint’: he was not a saint at all but a wicked man. […] to fight deliberately against God is a worse sin, and more deeplyrooted in the soul, than the common vices into which men fall through human frailty.“91 Auch wenn Copleston den antichristlichen Impetus von Nietzsches Moralkritik verurteilt, so ist er doch um ein tieferes Verstndnis Nietzsches bemht und verfolgt dessen Argumentation, der er ihre gelegentliche Dogmatik bescheinigt. Copleston erkennt, dass fr Nietzsche der Nihilismus Konsequenz der christlichen Wertordnung ist. Nietzsche sei nicht bei der Analyse des Nihilismus stehengeblieben und habe diesen nicht als Ziel angesehen, sondern ihm neue Werte entgegengesetzt. Im Vergleich zum „bad Christian“ sei Nietzsches bermensch sogar berlegen, doch „the true bermensch of Christianity“ sei schließlich die hçchste „flower of humanity.“92 Nietzsche habe nicht die Abschaffung der „Herdenmoral“ gepredigt, sondern im Gegenteil ihre Ntzlichkeit fr die Perfektion hçheren Lebens erkannt. Das Christentum schade nur den „higher men“.93 Nietzsche unterscheide zwischen Christus, christlichem Leben und christlicher Institution. Copleston widerspricht Nietzsche in einigen Aspekten seiner Darstellung des Christentums, doch er erkennt, dass die Ablehnung des Christentums keinen Antisemitimus mit sich bringt: Nietzsche sei ein „constant opponent of anti-Semitism“94 gewesen. In gewisser Hinsicht versucht Copleston Nietzsche gegen Nietzsche zu verteidigen: „Nietzsche’s idealism and earnestness deserved a better philosophy than the atheistic philosophy of the Will to Power and the Superman.“95 Er versucht sogar, Nietzsches Lob der Natur fr das Christentum fruchtbar zu machen.96 Gleichwohl findet die Auseinandersetzung mit Nietzsche hufig auf einem 89 90 91 92 93 94 95 96
Ebd., S. 117. Ebd., S. IX. Ebd., S. X. Ebd., S. 98. Ebd., S. 121. Ebd., S. 107. Ebd., S. 112. Ebd., S. 116: „We are at one with Nietzsche in desiring life and vitality, but that desire is not to be fulfilled by the denial of the higher life. Possibly we Christians need Nietzsche’s stimulus to affirm the values of natural life […].“
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Niveau der Buchstblichkeit statt, das uns heute naiv erscheint, nicht nur im Vergleich von Nietzsches Beschreibung der Ehe und der Analyse gegenwrtiger Praxis97 oder im wiederholt versuchten Nachweis, dass das Christentum dem Leben und der Kultur nicht feindlich sei.98 Auf dieser Sicht beruht letztlich Coplestons gesamte Argumentation, die darlegen will, dass es keine echte Kultur geben kçnne, welche nicht auf der kirchlichen Sicherung geistiger Werte beruhe. Dies sei im Weltkrieg deutlich geworden, der sowohl die Nachteile des Totalitarismus als auch die Mngel der liberalen Demokratie offengelegt habe. Fr Copleston ist Nietzsche schließlich ein Abtrnniger, der, htte er den Krieg erlebt, zum Christentum zurckgekehrt wre: „we suggest that if Nietzsche were alive to-day, he might by God’s grace have returned to Christ.“99 Coplestons Haupteinwand gegen Nietzsche ist und bleibt dessen Verleugnung Gottes, die seine ansonsten wahren Einsichten in den Wert der echten Kultur und die Psychologie des Christentums relativiere.100 Am Ende seines Buches stellt Copleston deshalb Bergson als berwinder Nietzsches dar. Jener habe die „bewundernswrdigste Lçsung“ der Nietzscheschen Probleme erreicht und zeige, „that we have to surpass Nietzsche by admitting the Transcendent and Supernatural, and not surrender to Nietzsche by riveting our attention on Dasein in the sense of Martin Heidegger.“101 Bergsons bermensch sei kein „egoistic master“, sondern verkçrpere „the love of humanity“, erhebe sich nicht aus Verachtung, sondern als Vorbild ber die Massen. Bergson stelle also „preeminently the Christian Saint and Mystic“ dar.102 Coplestons gesamtes Werk basiert auf der Annahme, dass der Wille zur Macht Nietzsches unvollendetes Hauptwerk gewesen sei: „This great systematic work was never completed; but the notes collected by Nietzsche for his projected chief work were published posthumously as The Will to Power.“103 Dieser Auffassung war Copleston auch noch in den Nietzsche betreffenden Abschnitten seiner History of Philosophy, in der er dem „Will to Power“ ein ganzes Kapitel widmete.104 Der Wille zur Macht sei das 97 98 99 100 101 102 103 104
Ebd., S. 110 – 111. Ebd., S. 119, 127 und 137. Ebd., S. 142. Ebd., S. 116. Ebd., S. XI. Ebd., S. 210. Ebd., S. 22. Im 1963 erschienenen siebten Band der History of Philosophy, in dem Nietzsche zwei Kapitel gewidmet werden, wird der „Will to Power“ als Theorem besonders hervorgehoben. Zum Werk The Will to Power schreibt Copleston: „But in point of fact
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grundlegende Prinzip Nietzschescher Philosophie, aus dem alle anderen Theorien, vor allem die Moralkritik, folgten. Die Textgrundlage Coplestons bestand in Anthony M. Ludovicis bersetzung von Der Wille zur Macht, die zuerst 1910 als Band 14 und 15 der englischen Gesamtausgabe erschien und in der von Copleston benutzten dritten Auflage von 1924 berarbeitet vorlag. Die bersetzung basiert auf der deutschen Ausgabe von 1906. Auch fr Ludovici war der Wille zur Macht „the principle that is at the root of all his philosophy.“105 Seine Konzeption gehe, wie Fçrster-Nietzsche dargelegt habe, auf Nietzsches Kriegserfahrung des Jahres 1870 zurck – Elias fhrte eben diese Kriegserfahrung in seinen Spttexten ebenfalls ins Feld. Im Jahre 1946, als Elias Coplestons Buch ber Nietzsche las, erschien neben Alfred Webers Abschied von der bisherigen Geschichte auch Karl Jaspers’ Nietzsche und das Christentum. 106 Jaspers verfasste zudem das Vorwort fr die zweite Auflage von Nietzsche: Einfhrung in das Verstndnis seines Philosophierens, in dem er sich deutlich gegen eine Konzentration auf extremistische Phrasen in Nietzsches Werk aussprach: Wer Nietzsche versteht, wie es dieses Buch lehren mçchte, fr den verschwinden jene Abgleitungen in nichts. Wer jene Stellen ernst nimmt, auf sie den Finger legt oder sich gar von ihnen fangen und fhren lßt, der besitzt nicht die Reife und das Recht zur Nietzsche-Lektre. Denn der Gehalt dieses Lebens und Denkens ist so großartig, daß, wer an ihm Teil gewinnt, geschtzt ist gegen die Irrungen, denen Nietzsche fr Augenblicke verfallen ist und die sogar den Unmenschlichkeiten der Nationalsozialisten phraseologisches Material liefern konnten.107
Elias scheint diese Auseinandersetzung seines ehemaligen Lehrers mit Nietzsche nicht mehr zur Kenntnis genommen zu haben. Er hatte Heidelberg bereits verlassen, als Jaspers die Vorlesungen ber Nietzsche hielt, aus denen sein Buch hervorging. Zuletzt stand er 1929 mit Jaspers in Kontakt.108 Seine Beschftigung mit Nietzsche in der Nachkriegszeit fand also wohl vor allem ber das Buch von Copleston statt. Er scheint es ganz gelesen zu haben,
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the projected magnum opus was never completed, though The Antichrist (Der Antichrist) was meant to be the first part of it. Nietzsche’s notes for the work which he planned have been published posthumously“ (Copleston, History of Philosophy, Wellwood 1999, S. 394). Anthony M. Ludovici, Translator’s Preface, in: Friedrich Nietzsche, The Will to Power, Edinburgh und London 1924, S. X. Karl Jaspers, Nietzsche und das Christentum, Hameln 1946. Die Verçffentlichung beruht auf einem Vortrag von 1938. Jaspers, Nietzsche: Einfhrung in das Verstndnis seines Philosophierens, Berlin 1947, Vorwort zur zweiten Auflage, o. P. Reinhard Blomert, Intellektuelle im Aufbruch, Mnchen 1999, S. 236.
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denn die Exzerpte in seinem Notizbuch 1038 stammen aus verschiedenen Kapiteln. Seine Beziehung zu Nietzsche nach dem Krieg ist damit doppelt vermittelt: Elias hat es nicht nur mit der englischen bersetzung Nietzsches zu tun, sondern destilliert Nietzsche-Zitate auch aus dem Argumentationszusammenhang von Copleston. Die Notizen von Elias setzen ein mit Teilen des Aphorismus 477 (flschlicherweise 444 genannt) aus Menschliches, Allzumenschliches I: „Der Krieg unentbehrlich“. Die von Elias bernommenen Passagen stammen aus Coplestons Kapitel „The Cold Monster“ – so nennt Zarathustra den Staat109 –, das der Darstellung von Nietzsches widersprchlichen Meinungen zu Staatlichkeit, Krieg und Demokratie dient. Diese Widersprche ließen eine Einheitlichkeit der Auffassung erkennen, wenn man sie auf die Hervorbringungen des bermenschen bezogen she: „it is in function of this unity that they should be regarded if we are to begin to understand Nietzsche as politician and sociologist.“110 Copleston diskutiert Nietzsches Auffassung von Ursprung und Rolle des Staates und stellt wiederholt fest, dass sie jeder Form von Totalitarismus und Staatsglorifikation zuwiderlaufe. Nietzsche sei keinesfalls ein Verherrlicher des Militarismus und schon gar nicht des Nationalismus. Copleston betont Nietzsches Vision eines vereinten Europa. Er diskutiert Nietzsches Haltung zum Krieg ausfhrlich, da sie besonders oft falsch dargestellt worden sei: „That Nietzsche in places extols war and the benefits conferred by war, that he lauds the warrior and the warlike spirit, is quite true, but these passages should not be stressed to the exclusion of those other passages in which he clearly recognizes the evils due to war.“111 Copleston argumentiert, dass aus katholischer Sicht ein gerechter Krieg mçglich sei und dass es „gute Seiten“112 des Krieges gbe. Der Jesuit rechtfertigt mit Nietzsche den gegenwrtigen Krieg der Alliierten, lehnt aber Nietzsches Gedanken vom Krieg als Purifikation, als „remedy for national enervation and decrepitude“113 ab. Copleston betont die metaphorische Bedeutung der militaristischen Rhetorik, reflektiert auf die christliche Kriegsmetaphorik, und sieht in der ausschließlich militaristischen Auslegung Nietzsches eine Absurditt. Vielmehr 109 Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Vom neuen Gçtzen, KSA 4, S. 61: „Staat heisst das klteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lgt es auch; und diese Lge kriecht aus seinem Munde: ,Ich, der Staat, bin das Volk‘.“ 110 Copleston, Nietzsche, S. 180. 111 Ebd., S. 170. 112 Ebd., S. 170. 113 Ebd., S. 172.
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Abb. 1 Notizbuch 1038 von Norbert Elias, S. 49r. Die Originale dieser und der folgenden im Text abgebildeten Seiten des Notizbuchs von Elias befinden sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Norbert Elias Foundation.
handele es sich um die „attitude of soul, of the active, dynamic personality“.114 Nietzsches Kriegsreflektion sei immer auf die Kultur und die Hervorbringung des bermenschen bezogen, nie werde der Krieg als Endzweck glorifiziert. Copleston nennt schließlich die Passagen Nietzsches aus Menschliches, Allzumenschliches I, in denen die Nachteile tatschlicher Kriege hervorgehoben werden. Aus dieser Diskussion heraus exzerpierte Elias nun bereits von Copleston selektiv zitierte und teilweise paraphrasierte Gedanken Nietzsches: Culture (civilisation) can by no means dispense with passions, vices, malignities […] The English who appear on the whole to have renounced war, adopt other means in order to generate anew vanishing forces of the soul – such as dangerous expeditions, sea-voyages and mountaineering. Such a highly cultivated and therefore necessarily enfeebled humanity as that of modern Europe not only NEEDS WARS, but the greatest and most terrible wars – consequently occa-
114 Ebd., S. 173.
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sional relapses into barbarism – lest, by the means of culture, it should lose its culture and its very existence.115
Elias fgt das Wort „civilisation“ein und hebt die beiden Worte „needs wars“, die weder von Nietzsche noch von Copleston betont werden, hervor. Das Interesse, das Elias nach der Erfahrung des Krieges an Nietzsches Philosophie zeigt, betrifft hier offenbar diejenigen Stellen, die eine ostentative Kriegsbefrwortung Nietzsches im Dienste der Kultur nahelegen. Er exzerpiert nur die den Krieg legitimierende Passage aus diesem Kapitel und lsst die abwgende Argumentation Coplestons, die auch andere Stellen anfhrt, unbercksichtigt. Elias zitiert nicht nur Nietzsche sondern bernimmt auch Paraphrasen von Copleston. Doch zitierte er meistens, wenn der Text von Copleston es zuließ, sehr genau und mit klarem Fokus auf die Originalzitate Nietzsches. In diesem Aphorismus erregten auch die „Surrogate des Krieges“, nmlich „Entdeckungsreisen, Durchschiffungen, Erkletterungen“116 der Englnder, wie es bei Nietzsche heißt, die Aufmerksamkeit von Elias. Wahrscheinlich arbeitete er seit 1941 an den Studies in the Genesis of the Naval Profession,117 deren Ziel es war, die spezifische Herausbildung der englischen Kriegsmarine aus dem Konflikt zweier sozialer Gruppen in ihrer Verstrickung mit gesamtgesellschaftlichen Machtverteilungen zu sehen. Da die englische Ausbildung zum naval officer in einer Amalgamierung der Fhigkeiten der adligen Militrs und der den Unterschichten entstammenden seamen bestand und schließlich zur maritimen berlegenheit Englands sowie zu seiner imperialen Vorrangstellung fhrte, mag Nietzsches Sicht auf die sptere Substitution des Krieges durch Seefahrt bei den Englndern fr Elias von Interesse gewesen sein, wenngleich Nietzsches Aphorismus in den
115 DLA Marbach, Nachlass Elias, Notizbuch 1038, 49r. Vgl. Copleston, Nietzsche, S. 174. 116 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 477, KSA 2, S. 312. 117 Elias, Studies in the Genesis of the Naval Profession, in: British Journal of Sociology, 1(4) 1950, S. 291 – 309. Dies ist der erste Teil einer auf drei Teile angelegten Studie. Die beiden anderen Aufstze erschienen nicht mehr. Erst 1977 wurde ein Abschnitt des zweiten Teils auf Hollndisch verçffentlicht. Elias hatte sogar ein Buch zu diesem Thema geplant. Im Zuge der englischen Ausgabe, die Stephen Mennell und Ren Moelker 2007 veranstalteten, hat Moelker Umfang und Ziel des Projektes anhand des Nachlasses rekonstruiert (Ren Moelker, Norbert Elias, maritime supremacy and the naval profession: on Elias’ unpublished studies in the genesis of the naval profession, in: British Journal of Sociology, 54 (3) 2003, S. 373 – 390). Ein Notizbuch von 1941 im Nachlass Elias enthlt bereits Material zur Studie ber die „naval profession“.
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Abb. 2 Notizbuch 1038 von Norbert Elias, S. 49v und 50r.
wissenschaftlichen „Durchschiffungen“ ein letztendlich insuffizientes Mittel sieht, Affekte zu kultivieren und Krfte zu erneuern. Die nchsten Seiten des Notizbuches bringen bernahmen aus frheren Kapiteln des Buches von Copleston. Das erste Zitat betrifft einen Gedanken Nietzsches, der die politische Vorrangstellung des Deutschen Reiches mit Frankreichs kultureller berlegenheit kontrastiert, und deutet zurck auf den Problemkreis der Einleitung zu ber den Prozeß der Zivilisation: „At the very moment when Germany arose as a great power in the world of politics, France won new importance as a force in the world of culture“.118 Elias bernahm weiterhin Zitate aus Der Griechische Staat und aus Menschliches, Allzumenschliches. Dies sind Stellen, welche die Notwendigkeit der Sklaverei und die Existenz zweier Kasten – einer zwangsarbeitenden und einer freiarbeitenden – fr eine hçhere Kultur zu postulieren scheinen. „Slavery is of the essence of culture“ notiert Elias von Copleston, der aus dem Griechischen Staat zitiert, und „In order that there may be a broad, deep, and fruitful soil for the development of art, the enormous majority must, in the service of a 118 Elias, Notizbuch 1038, 49v. Vgl. Copleston, Nietzsche, S. 38.
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minority, be slavishly subjected to life’s struggle“.119 Dann folgt ein Zitat aus Menschliches, Allzumenschliches I, § 439, ebenfalls von Copleston ausgewhlt und von Elias aus dessen Darstellung bernommen: „A higher culture can only originate where there are two distinct castes of society: that of the working class, and that of the leisured class who are capable of true leisure; or, more strongly expressed, the caste of compulsory labour, and the caste of free labour.“120 Elias exzerpierte also nach den Stellen, die Krieg als Krftesteigerung einer Kultur propagieren, jene, welche einen notwendigen Zusammenhang von Sklaverei und Kultur postulieren. Ein weiterer fr Elias bedeutsamer Themenkreis bestand in der Frage nach dem kulturellen Wert der Wissenschaft, oder, in Nietzsches Worten, im „Problem der Wissenschaft“.121 Unter dem Stichwort „Optimism and Pessimism“ notierte er Nietzsche-Zitate aus Coplestons Kapitel „The History of Culture“, die aus der Vorrede der Geburt der Tragçdie von 1886 stammen und den Pessimismus der Griechen im tragischen Zeitalter im Kontrast zum sokratischen Optimismus als Zeichen des Niedergangs betreffen: What if the Greeks in the very wealth of their youth had the will to be tragic and were pessimists? … And what if, on the other hand and conversely, at the very time of their dissolution and weakness, the Greeks became always more optimistic, more superficial, more histrionic, also more ardent for logic and the logicizing of the world – consequently at the same time more „cheerful“ and more „scientific“?122
Copleston stellt hier Zitate vor allem aus der Geburt der Tragçdie zusammen, um Nietzsches Begriff des Pessimismus zu erfassen, und erlutert das Apollinische und das Dionysische als Reaktionen auf das ursprngliche „feeling that life is terrible, inexplicable, dangerous“.123 Er konzentriert sich vor allem auf den Pessimismus und seine Bedeutung fr die Kunst, wohingegen Elias sich besonders fr den Optimismus zu interessieren scheint. Dies zeigen auch die Zitate auf der nchsten Seite des Notizbuches (50v), die aus demselben Argumentationszusammenhang von Copleston stammen, 119 Elias, Notizbuch 1038, 49v. Vgl. Copleston, Nietzsche, S. 39, und Nietzsche, Der griechische Staat, KSA 1, S. 767. 120 Elias, Notizbuch 1038, 49v-50r. Vgl. Copleston, Nietzsche, S. 39, vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 439, KSA 2, S. 286. 121 Nietzsche, Die Geburt der Tragçdie, Versuch einer Selbstkritik, KSA 1, S. 13. 122 Elias, Notizbuch 1038, 50r. Vgl. Copleston, Nietzsche, S. 59. Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragçdie, Versuch einer Selbstkritik, KSA 1, S. 16. Die Auslassungen von Elias und Copleston sind Krzungen des Nietzsche-Zitats. 123 Copleston, Nietzsche, S. 59.
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Abb. 3 Notizbuch 1038 von Norbert Elias, S. 50v und 51r.
nun aber aus Nachlass-Notizen Nietzsches, die im Zusammenhang mit der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen stehen, entnommen sind: Greek thought during the tragic age is pessimistic or artistically optimistic … Deep distrust of reality: nobody ASSUMES A GOOD GOD WHO HAS MADE EVERYTHING OPTIME … WITH SOCRATES OPTIMISM begins, an optimism no longer artistic, with teleology and faith in the good god, faith in the enlightened good man. DISSOLUTION OF THE INSTINCTS.124
Die Zitate stammen nicht aus dem ausformulierten Text der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, sondern sind Notate, die Nietzsche wohl als Stichworte fr den projektierten Schlussteil der Abhandlung niedergeschrieben hatte.125 Die Hervorhebungen stammen von Elias, der die von 124 Elias, Notizbuch 1038, 50v. Vgl. Copleston, Nietzsche, S. 59. 125 Nietzsche, Nachlaß 1869 – 1874, KSA 7, 23[35], S. 554 f.: „Schluß: das Denken der Griechen im tragischen Zeitalter ist pessimistisch oder knstlerisch optimistisch. Ihr Urtheil ber das Leben besagt mehr. Das Eine, Flucht vor dem Werden. Aut Einheit aut knstlerisches Spiel. Tiefes Mißtrauen gegen die Realitt niemand nimmt einen guten Gott, der alles optime gemacht, an. […] Mit Sokrates beginnt der Optimismus,
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Copleston mit Auslassungen zitierte Stelle kopierte. Die Verbindung des Wahren und des Guten, Aufklrung als Symptom einer Auflçsung der Instinkte, optimistische Wissenschaftlichkeit als Zeichen kulturellen Niedergangs: Diese Passagen mssen eine Herausforderung fr Elias dargestellt und seinen Widerspruch erregt haben, denn seine wissenstheoretischen und wissenschaftssoziologischen Annahmen, die er in spteren Schriften ausarbeitete, gehen von der berzeugung aus, dass nur eine wissenschaftliche Haltung Selbst- und Weltkontrolle erlangen, nur denkende Distanzierung die affektive Verstrickung des Menschen berwinden, sein instinktives Verhalten in bedrohlichen Zusammenhngen und Zwangssituationen verndern und damit sein berleben sichern kçnne. Man denke z. B. an den Mahlstrom.126 Zugleich gehen aus den Referaten Coplestons wesentliche Gedanken Nietzsches, die den Pessimismus als Zeichen der Strke, die frhe griechische Philosophie als Ausdruck des Glcks, der „feurigen Heiterkeit“,127 verstehen, kaum hervor. So bleibt auch das Verstndnis des Optimismus in ihnen ein vergleichsweise oberflchliches, da Copleston die Referenz auf das Leben ausblendet: weder „Wissenstrieb“ noch „Wissenshaß“128 wirken an sich in Nietzsches Darstellung barbarisierend, es geht vielmehr um ihre Balance, ihre Bndigung, die Grundlage des Bedrfnisses nach ihnen. Die letzten englischen Nietzsche-Zitate im Notizbuch von Elias stammen aus Ecce homo und Nietzsche contra Wagner. Copleston fhrt sie in seiner Diskussion von Nietzsches Verhltnis zur deutschen Kultur an, aus beiden Zitaten tritt dessen ostentative Hinwendung zu Frankreich hervor: I believe only in French culture, and regard everything else in Europe which calls itself „culture“ as misunderstanding. I do not even take the German kind into consideration. The few instances of higher culture which I have met in Germany were all French in origin.129
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der nicht mehr knstlerische, mit Teleologie und dem Glauben an den guten Gott; der Glaube an den wissenden guten Menschen. Auflçsung der Instinkte.“ Elias, Der Fischer im Mahlstrom, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 171 – 283, bes. S. 171 – 180. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 805. Ebd., S. 807. Elias, Notizbuch 1038, 51r. Vgl. Copleston, Nietzsche, S. 74. Das Exzerpt weicht nur geringfgig von Coplestons Zitat ab, vermutlich aus Flchtigkeit. Nietzsches Text hingegen spricht nicht von Kultur, sondern von Bildung, und steht im Kontext der Darstellung seiner Lesegewohnheiten: „ich glaube nur an franzçsische Bildung und halte Alles, was sich sonst in Europa ,Bildung‘ nennt, fr Missverstndniss, nicht zu reden von der deutschen Bildung… Die wenigen Flle hoher Bildung, die ich in
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Die Stelle aus Nietzsche contra Wagner lautet: „Even at present day, France is still the refuge of the most intellectual and refined culture in Europe, it remains the high school of taste.“130 Nietzsche spricht hier vom „Frankreich des Geistes“,131 das Schopenhauer und Heine zu wrdigen wisse. Beide Zitate beziehen sich zudem auf Wagners, das erste auf Cosimas Herkunft, das zweite auf das Paris der Dekadenz als eigentlichen „Boden fr Wagner“,132 stehen also in einem spezifischen zeit- und personengebundenen Zusammenhang. Diese Zusammenhnge gehen aus Coplestons Text kaum hervor. Obwohl Copleston Nietzsche contra Wagner nennt, scheint er hier auch Jenseits von Gut und Bçse § 254 vor Augen zu haben, wo derselbe Satz in einem etwas anderen Kontext steht. Nietzsche hat sich in Nietzsche contra Wagner selbst zitiert. In Jenseits von Gut und Bçse wird das geheime, das geistige Frankreich ausfhrlicher beschrieben; Copleston fasst auch diese Charakteristik selektiv zusammen. Fr Elias spielte schließlich vor allem Nietzsches Lob Frankreichs als Hochkultur eine Rolle, die Nietzscheschen Nuancen, soweit sie aus Copleston berhaupt hervorgehen, verschwinden im Exzerpt letztendlich ganz.
4. Rckkehr zum Original Im Anschluss an diese englischen Auszge finden sich deutsche Zitate im Notizbuch. Sie sind insgesamt umfangreicher. Offensichtlich hielt Elias es fr notwendig, sich nach der Lektre Coplestons wieder den deutschen Originaltexten zuzuwenden. Das letzte im Notizbuch festgehaltene Zitat von Nietzsche (S. 59v) stammt nmlich aus Jenseits von Gut und Bçse, § 254 und stellt das deutsche Original der aus Copleston zuletzt notierten Passage ber Frankreich als hohe Schule des Geschmacks dar.133 Bei der Suche nach diesem Zitat scheint Elias noch andere Stellen aus Jenseits von Gut und Bçse
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Deutschland vorfand, waren alle franzçsischer Herkunft […]“ (Nietzsche, Ecce homo, Warum ich so klug bin 3, KSA 6, S. 285). Elias, Notizbuch 1038, 51r. Vgl. Copleston, Nietzsche, S. 75. Vgl. Nietzsche, Nietzsche contra Wagner, KSA 6, S. 427: „Auch jetzt noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten und raffinirtesten Cultur Europa’s und die hohe Schule des Geschmacks“. Ebd. Ebd., S. 428. DLA Marbach, Nachlass Elias, Notizbuch 1038, S. 59v: „Auch jetzt noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten und raffinirtesten Cultur Europa’s und die hohe Schule des Geschmacks: aber man muss dies ,Frankreich des Geschmacks‘ zu finden wissen.“ Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 254, KSA 5, S. 198.
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fr bedenkenswert gehalten zu haben. So exzerpierte er aus § 239 in kleiner Schrift am unteren Rand der Seite 51r: Als ob nicht die Geschichte so eindringlich wie mçglich lehrte, dass ,Cultivirung‘ des Menschen und Schwchung – nmlich Schwchung, Zersplitterung, Ankrnkelung der Willenskraft, immer mit einander Schritt gegangen sind.134
Der Aphorismus Nietzsches hat ausschließlich die als „Entartung“ und „Entzauberung“ verstandene Emanzipation der Frau, in der Nietzsches Text eine Schwchung ihrer Position dem Mann gegenber sieht, zum Thema. Elias zitiert hier einen auf die weibliche „Cultivirung“ – im Verstndnis Nietzsches ein negativer Begriff, der die allgemeine Bildung des spten 19. Jahrhunderts, das „Zeitungslesen und Politisiren“135 meint – gemnzten Satz, der durch die Isolation an Allgemeingltigkeit gewinnt. Diese Kultivierung bezeichnet eigentlich das Gegenteil von der Eliasschen Zivilisierung, da sie nicht in der Zunahme, sondern in der Auflçsung der Selbstzwnge, im Verschwinden der psychischen Tiefendimension, der List und der taktischen Berechnung besteht. Unter dem Stichwort „Leiden Nietzsche 1878“ beschftigen Elias weiterhin vor allem Nietzsches Gedanken aus Menschliches, Allzumenschliches ber die Notwendigkeit der Sklaverei der „Stumpfesten“ zur Lebenserleichterung der Leidensfhigsten als „Utopie“einer „besseren Ordnung der Gesellschaft“.136 Diese Zitate weisen zurck auf die problematische Ambivalenz der hçheren Kultur. Auch die schon zu Beginn der Exzerpte hervorgehobene Kriegsthematik steht weiterhin im Vordergrund. Es scheint, als ob Elias die schon bei der Lektre Coplestons isolierten Stellen, die einer Kriegsbefrwortung im Dienste der Kultur das Wort zu reden scheinen, nun ebenfalls im Original aufsuchte, berprfte und ergnzte. „KRIEG“ notiert er stichwortartig auf der Mitte der Seite 51v und bernimmt nun den kompletten Aphorismus 444 aus Menschliches, Allzumenschliches: 134 DLA Marbach, Nachlass Elias, Notizbuch 1038, S. 51r. Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 239, KSA 5, S. 177 f. Elias fgte „(sic)“ hinzu und verzichtete auf die Betonung der „Willenskraft“ bei Nietzsche. 135 Ebd., S. 177. 136 DLA Marbach, Nachlass Elias, Notizbuch 1038, S. 51v. Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 462, KSA 2, S. 299: „Meine Utopie. – In einer besseren Ordnung der Gesellschaft wird die schwere Arbeit und Noth des Lebens Dem zuzumessen sein, welcher am wenigsten durch sie leidet, also dem Stumpfesten, und so schrittweise aufwrts bis zu Dem, welcher fr die hçchsten sublimirtesten Gattungen des Leidens am empfindlichsten ist und desshalb selbst noch bei der grçssten Erleichterung des Lebens leidet.“ Elias exzerpiert den kompletten Aphorismus.
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Abb. 4 Notizbuch 1038 von Norbert Elias, S. 51v und 52r.
Krieg. – Zu Ungunsten des Krieges kann man sagen: er macht den Siegerdumm, den Besiegten boshaft. Zu Gunsten des Krieges: er barbarisirt in beiden eben genannten Wirkungen und macht dadurch natrlicher; er ist fr die Cultur Schlaf oder Winterszeit, der Mensch kommt krftiger zum Guten und Bçsen aus ihm heraus.137
Offensichtlich – in die Richtung deutet auch seine Unterstreichung – konzentriert sich Elias vor allem wieder auf die Passagen, die im Krieg eine Strkung der menschlichen Krfte sehen. Hier mag Elias die grçßten Widerstnde gegenber Nietzsche versprt haben, da die Zitate seiner These von der Zivilisation als zunehmender Pazifizierung zuwiderliefen. Sie haben wohl auch die Distanzierung bewirkt oder verstrkt, die sich in seiner spten Sicht auf Nietzsche als dem Philosophen der „moralinfreien Tugend“ manifestiert. So sichtbar sich der Gravitationspunkt der Eliasschen Beschftigung mit Nietzsche durch die wiederholten Exzerpte dieser einschlgigen Passagen auch darstellen mag, so wenig lsst sich seine Nietzsche-Rezeption nach dem 137 DLA Marbach, Nachlass Elias, Notizbuch 1038, S. 51v. Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 444, KSA 2, S. 289.
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Weltkrieg auf sie reduzieren. Das Notizbuch zeigt, dass sein Interesse an Nietzsche viel weiter ging, als die verçffentlichten Schriften vermuten lassen. Weitere Zitate, die fr Elias von Bedeutung waren, finden sich im Folgenden unter den Stichworten „Nietzsche Fortschritt“, „Kein Fortschritt“, „Nietzsche gestohlen(e) Kultur“ und „Die Lust am Erkennen“. Sie stammen vor allem aus dem fnften Hauptstck von Menschliches, Allzumenschliches I, „Anzeichen hçherer und niederer Cultur“ (§ 224, § 236, § 244, § 246, § 248, § 249, § 250, § 252, § 260). Der Fokus auf die Thematik des Fortschritts ist auch sichtbar in anderen Auszgen, welche die NietzscheExzerpte unterbrechen oder auf sie folgen: Aus der Grande Encyclopdie, aus Condorcet, aus d’Holbach isolierte Elias Stellen, die ebenfalls Fortschrittsdefinitionen und -konzeptionen betreffen. Zunchst exzerpierte Elias Nietzsches als Kritik an der Auffassung der Darwinistischen Evolutionslehre zu verstehende dialektische Konzeption des Fortschritts aus § 224, die den Schwachen als Trger des Fortschritts sieht: Jedem Fortschritt im Grossen muss eine theilweise Schwchung vorhergehen. Die strksten Naturen halten den Typus fest, die schwcheren helfen ihn fortbilden. – Etwas Aehnliches ergiebt sich fr den einzelnen Menschen; selten ist eine Entartung, eine Verstmmelung, selbst ein Laster und berhaupt eine kçrperliche oder sittliche Einbusse ohne einen Vortheil auf einer anderen Seite. [Unmarkierte Auslassung]. Der Einugige wird ein strkeres Auge haben, der Blinde wird tiefer ins Innere schauen und jedenfalls schrfer hçren. Insofern scheint [mir] DER BERHMTE KAMPF UMS DASEIN nicht der einzige Gesichtspunkt [zu] sein, aus dem DAS FORTSCHREITEN ODER STRKERWERDEN eines Menschen, einer Rasse erklrt werden kann. Vielmehr muss zweierlei [52v] zusammen kommen: Einmal die Mehrung der stabilen Kraft durch Bindung der Geister in Glauben und Gemeingefhl; sodann die Mçglichkeit zu hçheren Zielen zu gelangen, dadurch dass entartende Naturen und, in Folge derselben, theilweise Schwchungen und Verwundungen der stabilen Kraft vorkommen; G[E]RADE DIE SCHWCHERE NATUR, ALS DIE ZARTERE UND FEINERE [freiere], MACHT ALLES FORTSCHREITEN BERHAUPT MGLICH. Ein Volk, das irgendwo anbrçckelt und schwach wird, aber im Ganzen noch stark und gesund ist, vermag die Infektion des Neuen aufzunehmen und sich zum Vortheil einzuverleiben.138
Aus § 236 isolierte er eine Feststellung, welche Nietzsches den Aphorismus dominierende Analogie von Klimazonen und Kulturentwicklung zuspitzt, 138 DLA Marbach, Nachlass Elias, Notizbuch 1038, S. 52r und 52v. Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 224, KSA 2, S. 188. In eckigen Klammern stehen ausgelassene oder vernderte Formulierungen Nietzsches.
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Abb. 5 Notizbuch 1038 von Norbert Elias, S. 52v und 53r.
jedoch aus der Sicht des Knstlers argumentiert: „Insofern haben Knstler wohl das Recht, den ,Fortschritt‘zu leugnen, denn in der That: ob die letzten drei Jahrtausende in den Knsten einen fortschreitenden Verlauf zeigen, das lsst sich mindestens bezweifeln“. Der Rest des Aphorismus kennt jedoch durchaus eine normative Vorstellung von Fortschritt: „Uns gilt aber die Existenz der gemssigten Zone der Cultur selbst als Fortschritt.“139 Das Eliassche Isolationsverfahren folgt hier nicht den Regeln affirmativer Selektion normativer Nietzschescher Vorstellungen, sondern bleibt fokussiert auf die in Nietzsches Texten auffindbaren Facetten einer Fortschrittskritik, die lineare Entwicklungen aus verschiedenen Blickwinkeln, etwa der Biologie, der Geographie und der Kunst, verneint und dabei mit einer Vielzahl argumentativer Muster operiert. In diesen Themenbereich fllt auch das nchste Zitat. Es weist zugleich zurck auf die vorangegangenen Aussagen, die im Krieg Mittel der Kulturerneuerung sehen; zudem beleuchtet es das Wissenschaftsverstndnis des „mittleren“ Nietzsche, das wesentlich positiver ist – die entsprechende Passage am Schluss des Aphorismus kopiert Elias jedoch nicht. Sein Notat 139 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 236, KSA 2, S. 198.
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Abb. 6 Notizbuch 1038 von Norbert Elias, S. 57r.
stammt aus Menschliches, Allzumenschliches I, § 244, „In der Nachbarschaft des Wahnsinns“. Elias entnimmt dem Aphorismus den Zusammenhang von „Cultur-Last“ und Neurose, der nur durch eine Verminderung der Gefhlsspannung, einer „neuen Renaissance“ mçglich sei. Nietzsche beschwçrt hier als Remedium den „Geist der Wissenschaft“,140 ein Aspekt, den Elias erstaunlicherweise bergeht: Die Summe der Empfindungen, Kenntnisse, Erfahrungen, also die ganze Last der Cultur, ist so gross geworden, dass eine Ueberreizung der Nerven- und Denkkrfte die allgemeine Gefahr ist, ja dass die cultivirten Classen der europischen Lnder durchweg neurotisch sind und fast jede ihrer grçsseren Familien in einem Gliede dem Irrsinn nahe gerckt ist. Nun kommt man zwar der Gesundheit jetzt auf alle Weise entgegen; aber in der Hauptsache bleibt eine Verminderung jener Spannung des Gefhls, jener nieder- (57r) niederdrckend[en] Cultur-Last vonnçthen, welche, wenn sie selbst mit schweren Einbussen erkauft werden sollte, uns doch zu d[er] grossen Hoffnung einer neuen Renaissance Spielraum gibt.
140 Ebd., § 244, S. 204.
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Aus dem § 246 entnimmt Elias (S. 57r) einen Halbsatz, den er zu einem Aussagesatz macht: „Die schrecklichen Energien – Das, was man das Bçse nennt – sind die cyclopischen Architekten und Wegebauer der Humanitt“.141 In Nietzsches § 248, „Trostrede eines desperaten Fortschritts“, ist fr Elias ein „Anpassungsproblem“ (57r) anvisiert, er kopiert: Unsere Zeit macht den Eindruck eines Interim-Zustandes; die alten Weltbetrachtungen, die alten Culturen sind noch theilweise vorhanden, die neuen noch nicht sicher und gewohnheitsmssig und daher ohne Geschlossenheit und Consequenz. Es sieht aus, als ob Alles chaotisch wrde, das Alte verloren gienge, das Neue nichts tauge und immer schwchlicher werde. Aber so geht es dem Soldaten, welcher marschiren lernt; er ist eine Zeit lang unsicherer und unbeholfenerals je,weildie Muskeln baldnach demalten System, baldnachdemneuen bewegt werden und noch keines entschieden den Sieg behauptet. Wir schwanken, aber esist nçthig, dadurch nicht ngstlich zu werden und das Neu-Errungene etwa preiszugeben. Ueberdiess kçnnen wir ins Alte nicht zurck, wir haben die Schiffe verbrannt; es bleibt nur brig, tapfer zu sein, mag nun dabei diess oder jenes herauskommen. – Schreitenwir nur zu, kommen wir nur vonder Stelle! Vielleicht sieht sich unser Gebahren doch einmal wie Fortschritt an […].142
Die Unterstreichungen von Elias markieren Nietzsches Hervorhebungen; das sehr ausfhrliche Zitat belegt, wie sehr Elias von der Vorstellung angetan war, dass „Fortschritt“ eine Zwangslufigkeit besitze, seine normativen Implikationen aber eine rckwirkende Illusion sein kçnnten. In letzter Konsequenz lassen die von Elias exzerpierten Stellen Nietzsches keinerlei Zweifel an der Unbegrndetheit einer Annahme kultureller, knstlerischer oder evolutionrer Entwicklung, die zu berlegenheitsgefhlen jedweder Couleur fhren kçnnte. Mag man im Prozeß der Zivilisation noch einen gewissen Fortschrittsglauben wahrnehmen, so hat sich auch Elias in spten Interviews viel skeptischer zu dieser Thematik geußert. Als einzigen kompletten Aphorismus bernimmt Elias schließlich § 249 unter dem Stichwort „Cultur-Stealing“ in sein Notizbuch: WER SICH das Problem der Cultur klar gemacht hat, leidet dann an einem hnlichen Gefhle wie Der, welcher einen durch unrechtmssige Mittel erworbenen Reichthum ererbt hat, oder wie der Frst, der durch Gewaltthat seiner Vorfahren regiert. Er denkt mit Trauer an seinen Ursprung und ist oft beschmt, oft reizbar. Die ganze Summe von Kraft, Lebenswillen, Freude, welche er seinem Besitze zuwendet, balancirt sich oft mit einer tiefen Mdigkeit: er kann seinen Ursprung nicht vergessen. Die Zukunft sieht er wehmtig 141 DLA Marbach, Nachlass Elias, Notizbuch 1038, S. 57r. Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 246, KSA 2, S. 205. 142 DLA Marbach, Nachlass Elias, Notizbuch 1038, S. 57r-58r. Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 248, KSA 2, S. 206.
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Abb. 7 Notizbuch 1038 von Norbert Elias, S. 57v und 58r.
an, seine Nachkommen, er weiss es voraus, werden an DER VERGANGENHEIT LEIDEN WIE ER.143
Hier stammen die Hervorhebungen von Elias. Nietzsche skizziert die psychischen Bedrngungen, die affektive Ambivalenz und das Leiden an der akkumulierten Kultur, wobei Elias den Aspekt der Unrechtmßigkeit des Erbes – die Kultur als gestohlene Erwerbung – und das Leiden an diesem Erbe betonte. Aus § 250, „Manieren“, exzerpiert Elias die einleitende Beobachtung, dass die guten Manieren proportional zum Einfluss des Hofes nachließen: „Die guten Manieren verschwinden in dem Maasse, in welchem der Einfluss des Hofes und einer abgeschlossenen Aristokratie nachlsst: man kann diese Abnahme von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlich beobachten […].“144
143 DLA Marbach, Nachlass Elias, Notizbuch 1038, S. 58r-58v. Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 249, KSA 2, S. 207. 144 DLA Marbach, Nachlass Elias, Notizbuch 1038, S. 58v. Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 250, KSA 2, S. 207.
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Abb. 8 Notizbuch 1038 von Norbert Elias, S. 58v und 59r.
Das letzte lange Exzerpt aus Menschliches, Allzumenschliches stammt aus § 252, „Die Lust am Erkennen“. Elias erfasst die drei Hauptgrnde dieser Lust: Wesshalb ist das Erkennen, das Element des Forschers und Philosophen, mit Lust verknpft? Erstens und vor allem, weil man sich dabei seiner Kraft bewusst wird, […] Zweitens, weil man, im Verlauf der Erkenntniss, ber ltere Vorstellungen und deren Vertreter, hinauskommt, Sieger wird oder wenigstens zu sein glaubt. Drittens, weil wir uns durch eine noch so kleine neue Erkenntniss ber Alle erhaben und uns als die Einzigen fhlen, welche hierin das Richtige wissen. Diese drei Grnde zur Lust sind die wichtigsten, doch giebt es, je nach der Natur des Erkennenden, noch viele Nebengrnde.145
Im Falle des vorletzten Exzerpts: „Die Menschen unterwerfen sich aus Gewohnheit Allem, was Macht haben will“,146 isolierte Elias einen einzigen 145 DLA Marbach, Nachlass Elias, Notizbuch 1038, S. 59 r. Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 252, KSA 2, S. 209 f. Die Unterstreichungen stammen von Elias, nur im Falle von „Alle“ geht sie auf eine Sperrung in Nietzsches Text zurck. 146 DLA Marbach, Nachlass Elias, Notizbuch 1038, S. 58v. Der ganze Aphorismus Nietzsches lautet: „Das Vorurtheil zu Gunsten der Grçsse. – Die Menschen ber-
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Satz Nietzsches. Außerhalb des Kontextes wirkt dieser Satz thetisch; mit dem Vorhergehenden gelesen muss er jedoch als Problematisierung, ja Kritik dieser Tendenz – vor allem im Bereich der Kunst und Bildung – verstanden werden. Das Auswahlverfahren von Elias ist teilweise also durchaus problematisch, insofern als es einzelnen Aussagen den Charakter des Affirmativen verleiht, die sich im Kontext der Nietzscheschen Darstellung auch anders verstehen lassen. Doch belegen die Auswahl der Stellen und das Verfahren ihrer Isolation, welche Aspekte Nietzschescher Gedanken fr Elias nach dem Krieg im Vordergrund standen, und dass dieses Interesse sich vor allem auch auf die Fortschrittsproblematik und die Wissenschaftskritik erstreckte.
5. Spurensuchen Elias hat sich umfassend und ber mehrere Jahrzehnte hinweg mit Nietzsche beschftigt. Er war mit Nietzscheschen Gedanken, vielleicht zuerst in der Vermittlung Thomas Manns,147 wohl sptestens in Heidelberg bekannt. Eine eigene Lektre Nietzsches fand von den dreißiger bis in die achtziger Jahre statt. Elias kannte Die Frçhliche Wissenschaft und Jenseits von Gut und Bçse seit den dreißiger Jahren nachweislich und besaß Zur Genealogie der Moral in der Ausgabe von 1930. In den vierziger Jahren las er Coplestons Buch ber Nietzsche und Menschliches, Allzumenschliches. Die 1949 erschienene englische Ausgabe der dritten Unzeitgemßen Betrachtung, die sich schtzen ersichtlich alles Grosse und Hervorstechende. Diess kommt aus der bewussten oder unbewussten Einsicht her, dass sie es sehr ntzlich finden, wenn Einer alle Kraft auf Ein Gebiet wirft und aus sich gleichsam Ein monstrçses Organ macht. Sicherlich ist dem Menschen selber eine gleichmssige Ausbildung seiner Krfte ntzlicher und glckbringender; denn jedes Talent ist ein Vampyr, welcher den brigen Krften Blut und Kraft aussaugt, und eine bertriebene Production kann den begabtesten Menschen fast zur Tollheit bringen. Auch innerhalb der Knste erregen die extremen Naturen viel zu sehr die Aufmerksamkeit; aber es ist auch eine viel geringere Cultur nçthig, um von ihnen sich fesseln zu lassen. Die Menschen unterwerfen sich aus Gewohnheit Allem, was Macht haben will.“ (Menschliches, Allzumenschliches I, § 260, KSA 2, S. 214). 147 Elias, Notizen zum Lebenslauf, in: Gesammelte Schriften 17, S. 11, 25 und 36; vgl. Blomert, Intellektuelle, S. 232. In den Notizen zum Lebenslauf erwhnt Elias Nietzsche nicht. Fr den Prozess seiner Distanzierung vom klassischen Bildungskanon und der Kritik an dem „spezifischen Humanismus dieser Tradition“ (Elias, Notizen, in: Gesammelte Schriften 17, S. 14) wird die durch Nietzsche inspirierte Zeitstimmung zu Beginn des frhen 20. Jahrhunderts sicherlich ihren Beitrag geleistet haben.
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Abb. 9 Notizbuch 1038 von Norbert Elias, S. 59v.
in seinem Besitz befindet, wird er wahrscheinlich ebenfalls gelesen haben. Sptestens in den fnfziger Jahren las er Zur Genealogie der Moral, denn er schaffte sich zur bereits in seinem Besitz befindlichen deutschen eine englische Ausgabe von 1956 an, die zudem die Geburt der Tragçdie enthielt. In den siebziger Jahren las Elias nachweislich den Antichrist und Ecce homo in der Ausgabe von Peter Ptz und besorgte sich wahrscheinlich in den achtziger Jahren die Morgenrçthe ebenfalls in der Goldmann-Ausgabe. Er ging im gleichen Zeitraum noch immer vom Willen zur Macht als von einem Werk Nietzsches aus und zog fr die Nietzsche-Zitate der eigenen Texte die kritische Ausgabe nicht heran. Elias hat sich nachweislich weder mit einer der Kompilationen, die unter dem Titel Der Wille zur Macht 1901, 1906 und 1911 erschienen sind, noch mit den philosophischen und philologischen Diskussionen um die Authentizitt des Willen zur Macht befasst, die im Zuge der Entstehung der Kritischen Gesamtausgabe stattgefunden haben. Es ist wahrscheinlich, dass die Nachkriegslektre Coplestons, der von The Will to Power als projektiertem Hauptwerk148 und vom Wille zur Macht als zentraler 148 Copleston, Nietzsche, S. 26.
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Idee Nietzschescher Philosophie149 ausging und in Hitler die „praktische Konsequenz“von Nietzsches „Doktrin“150 sah, die Sicht auf Nietzsche in den spteren Schriften von Elias entscheidend geprgt hat. Am Ende seines Lebens sah Elias jedenfalls Nietzsches Philosophie in einem engen soziogenetischen Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus. Noch in einem unverçffentlichten Textstrang von „Zivilisation und Gewalt“ ersetzte Elias Nietzsches sicherlich nicht so eindeutigen Begriff des „neuen Adels“ fr das ursprngliche Wort „Herrenschicht“: „Denen, die den Befehlen des Fhrers gehorchten, winkte der hohe Preis, als Mitglied der neuen Elite Europas, eines neuen Adels, ber alle anderen Vçlker Europas herrschen zu kçnnen.“151 Mit Blick auf die Exzerpte in Elias’ Notizbuch von 1946 lsst sich die Tendenz erkennen, welche schließlich in der spten Haltung zu Nietzsche als dem philosophischen Reprsentanten eines wilhelminischen Kultes der Gewalt dominiert, eine Haltung brigens, die besonders in England seit dem Ersten Weltkrieg Tradition hat.152 Elias’ explizite Auffassung Nietzsches zeigt einen deutlichen Wandel, dessen Genese in die unmittelbare Nachkriegszeit datiert werden kann. Es lsst sich belegen, dass Elias sich nach dem Zweiten Weltkrieg besonders fr diejenigen Passagen aus Nietzsches Werken interessierte, die vom Zusammenhang von Kultur und Krieg, von Wissenschaftlichkeit und Instinktverlust, von Zivilisierung und Schwchung der Menschheit handeln. Gleichzeitig wird offenbar, dass Elias einen umfassenderen Dialog mit Nietzsche fhrte, ber dessen Einfluss auf sein Werk jedoch hçchstens spekuliert werden kann. Diese Spekulationen sind besonders hypothetisch, da Elias nach dem Krieg „social psychology“ unterrichtete und sich im folgenden der Naval Profession und dem Problem von Involvement and Detachment 153 zuwandte, also Aufstze verfasste, die keine direkten Spuren der Nietzsche-Lektre aufweisen. Auch ist seine intellektuelle Biographie der vierziger Jahre noch kaum erschlossen. Elias hat sich zu keiner Zeit ex-
149 Copleston, Nietzsche, S. VII und 82. 150 Copleston, Nietzsche, S. 95: „[…] I am convinced that the abnormal self-exaltation and unbridled will to power of Adolf Hitler is a practical consequence of the Nietzschean doctrine.“ 151 DLA Marbach, Nachlass Elias, Bremen 1, Mappe 2, S. 238y. 152 Gertrud von Petzold, Nietzsche in englisch-amerikanischer Beurteilung bis zum Ausgang des Weltkrieges, in: Anglia N.F. 41, 1929, S. 148. 153 Elias, Problems of Involvement and Detachment, British Journal of Sociology 7, London 1956, S. 226 – 252.
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plizit zu einem Einfluss Nietzsches auf sein Werk geußert.154 Außer an den direkten Bezugnahmen ist die Nietzsche-Rezeption von Elias jedoch auch daran erkennbar, dass er immer wieder Begriffe benutzt, die an Nietzsche erinnern und diesen so als Hintergrund der Gedanken erkennbar machen. Ob man bereits in der hufigen Verwendung des Wortes „Zchtung“ im Prozeß der Zivilisation Spuren der Nietzsche-Rezeption sehen will oder nicht; ob Elias bei der Referenz auf die unmçgliche evolutionstheoretische Prognose bezglich der „bermenschen“155 in Was ist Soziologie? nicht nur Nietzsches Wort, sondern auch dessen Einwnde gegen Darwin erinnert haben mag oder nicht – nicht nur angesichts von Elias’ weitreichender Lektre Nietzsches gibt es genug Grnde, der intellektuellen Konstellation der beiden Denker nachzugehen.
154 Im Nachlass von Elias befindet sich ein Brief einer franzçsischen Wissenschaftlerin, der nach dem Einfluss Nietzsches fragt. Er blieb unbeantwortet. 155 Elias, Was ist Soziologie?, S. 177.
II. Adelskultur und Kriegerethos
Hçfische Kultur. Der kulturkritische und soziologische Blick: Zur Differenz von Norbert Elias und Friedrich Nietzsche Renate Reschke Der Mond hat seinen Hof, und der Hof hat seine Mondklber […] (Friedrich Nietzsche) Nur in dieser einen hçfischen Gesellschaft konnten die zugehçrigen Menschen das, was ihrem Leben in ihren eigenen Augen Sinn und Richtung gab, […] das Zentrum ihres Selbstbildes […] aufrecht erhalten. (Norbert Elias)
1. Es bereitet einige Schwierigkeiten, zwei so unterschiedliche Denker wie Norbert Elias und Friedrich Nietzsche unter einer gemeinsamen Perspektive zu besichtigen. Der eine, Philosoph des 19. Jahrhunderts, der große Kulturkritiker aller Vergangenheit(en) und der eigenen Zeit, mit Ambitionen einer Kulturprognose fr die nchsten zwei Jahrhunderte und mit deutlicher Abneigung gegen sozialwissenschaftlichen Statistikfetischismus und soziologische Gesellschaftsanalysen, der andere, Denker des 20. Jahrhunderts, Soziologe aus Profession, der aus seiner tiefen Skepsis gegenber geschichtsphilosophischen Gesellschaftsmodellen keinen Hehl gemacht hat, dem es um soziale Zusammenhnge ging, wie eine Gesellschaft aus ihrem Kern aufgebaut ist und wie sich aus ihren Individual-Elementen mehr als die Summe der Teile ergibt. Der Kulturkritiker, der mit psychologischem Feinund physiologischem Hintersinn nach den Fragen sucht, auf die die kulturellen individuellen Verhaltenweisen die Antwort sind und der Soziologe, der nach den Verflechtungen der Individuen untereinander und mit den sozialen Gegebenheiten fragt, dem es um ihre Berechenbarkeit geht und der aufzeigen will, auf welchen Fundamenten die Epochen und Kulturen grnden.
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Aus dem Denkfeld des Soziologen ist auf sein Konzept der Interdependenz zu verweisen, das meint Elias’ berlegungen zu den wechselseitigen Abhngigkeiten, das existenzielle Aufeinander-Angewiesensein („Interdependenzketten“1) aller Gesellschaftsmitglieder, auf Begriffe wie Figuration, Konfiguration, System, Struktur, Sozialitt und Affektkontrolle. Letzterer, im Kontext des Kçnigsmechanismus, deutet auf die große Bedeutung der Feudalkultur fr Elias hin. Gegen den Trend der Philosophie und Historie, mit einer besonderen Art von Wissen, das nicht ausschließlich auf Nachweisbarkeit rekurriert, zu operieren, hat er zeitlebens seine intellektuelle Redlichkeit in die Waagschale geworfen, um mit dem Gewicht empirischer Beobachtung und Wahrheit dem Außer- oder Vorwissenschaftlichen im philosophischen Umgang mit Individuen und Gesellschaften den Garaus zu machen. Um gegen „Augentuschungen“ vorzugehen, jenem Phnomen, das den „Gebrauch der Begriffe ,Gesellschaft‘ und ,Individuum‘ […] so erscheinen lßt, als ob es sich hier um zwei getrennte Gegenstnde mit verschiedener Substanz handle.“2 Worauf es ihm ankam, war, mit Hilfe soziologisch fundierter Gesellschaftsstrukturanalysen „den in der Sache selbst liegenden Zusammenhngen auf die Spur zu kommen“ und sie so herauszuarbeiten, dass in ihnen „die Autonomie des Erforschten nicht durch vorgefaßte Wertungen und zeitgebundene Ideale des Forschers verdunkelt wird.“3 Das liest sich wie eine Kritik an Nietzsche. Der hat nicht nur alle Gesellschaftstheorien mit spçttischer Ablehnung quittiert, sondern wirkungstrchtig deren nichtssagende Ergebnisse mit Hohn kommentiert: Sie setzen auf die große Zahl, biedern sich sklavisch der Masse an und geben ihrer Kulturlosigkeit Legitimation,4 stellen die soziale Frage in den Mittelpunkt und verlieren das große Individuum, den außergewçhnlichen Einzelnen, den bermenschen aus den Augen. In Differenz zu Elias favorisierte er in der 1 2 3 4
Norbert Elias, Die hçfische Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1983, S. 55. Ebd., S. 47. Ebd., S. 58. „Man fahre nur fort, […] die Geschichte vom Standpunkte der Massen zu schreiben und nach jenen Gesetzen in ihr zu suchen, die aus den Bedrfnissen dieser Massen abzuleiten sind […]. Gerade diejenige Art der Historie ist aber jetzt allgemein in Schtzung, welche die grossen Massentriebe als das Wichtige und Hauptschliche in der Geschichte nimmt und alle grossen Mnner nur als den deutlichsten Ausdruck, gleichsam als die sichtbar werdenden Blschen auf der Wasserfluth betrachtet. Da soll die Masse aus sich das Grosse, das Chaos aus sich die Ordnung gebren […]. Heisst das aber nicht recht absichtlich Quantitt und Qualitt verwechseln?“ (Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben, KSA 1, S. 319 f.).
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Dialektik von Individuum und Gesellschaft die kulturstiftende Bedeutung des großen Einzelnen und hat den Wert einer Gesellschaft in ihren herausragenden Exemplaren gesehen: Das Ziel der Menschheit liege in ihren „hçchsten Exemplaren“.5 In Polemik gegen Nikolai Hartmann und mit Blick auf Arthur Schopenhauer formulierte er sein Konzept, den Einzelnen aufzufordern, sich zu fragen, wie weit er es vermag, sich selbst ein Ziel zu geben, sich selbst Zweck zu sein, den Sinn seines Daseins zu rechtfertigen mit einem „hohe[n] und edle[n] ,Dazu‘“.6 Um so der Messwert fr Kultur berhaupt zu werden. Lieber daran zugrunde gehen als sich den vielen Einzel-Egoismen zu ergeben, die als selbstbetrgerische Troststrategien angeboten werden: „ich weiss keinen besseren Lebenszweck als am Grossen und Unmçglichen, animae magnae prodigus, zu Grunde zu gehen“.7 Die Menschheit solle „fortwhrend daran arbeiten, einzelne grosse Menschen zu erzeugen – und dies und nichts Anderes sonst ist ihre Aufgabe“.8 Nietzsche hielt es fr einen folgenschweren Irrtum, die Masse zum kulturellen Maßstab und ihr Glck zum Sinn gesellschaftlicher Zielstellung zu machen. Der Gesellschaft komme die alleinige Aufgabe zu, „jene gnstigen Bedingungen aufzusuchen und herzustellen […], unter denen jene grossen erlçsenden Menschen entstehen kçnnen.“ So war es fr ihn folgerichtig, darin, „dass der Mensch eines andern Menschen wegen da sein sollte“ eine „Ungereimtheit“9 zu sehen und die Forderung an den Einzelnen zu przisieren: wie erhlt dein, des Einzelnen Leben den hçchsten Werth, die tiefste Bedeutung […]? Gewiss nur dadurch, dass du zum Vortheile der seltensten und werthvollsten Exemplare lebst, nicht aber zum Vortheile der Meisten, das heisst, der, einzeln genommen, werthlosesten Exemplare.10
Darin blieb er sich treu. Von den frhen berlegungen, wie der große Einzelne sich durch Bildung hervorbringen kçnne bis zum bermenschen, dessen Wille zur Macht und zur Machtsteigerung dem Gesamtkonzept integriert wird. Elias htte ein solches Konzept als verhngnisvollen Irrtum eingestuft und unter das „Dickicht der Mythologien“ gerechnet, das dem reinigenden Besen soziologischer Aufrumarbeiten zu berantworten war. Einer der Grnde dafr ist, dass eine ausschließende Konzentration auf die großen 5 6 7 8 9 10
Ebd., S. 317. Ebd., S. 319. Ebd. Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 383 f. Ebd., S. 384. Ebd., S. 384 f.
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Einzelnen und ihre superlativische Wertung in keiner Weise mit dem Interdependenz-Gedanken zu vereinbaren ist und sich struktureller Gesellschaftsanalyse oder der Figurationsthese verweigert. Aus seiner Sicht sind Einzelne in Geschichte und Kultur als groß zu bestimmen durch ihre Zugehçrigkeit zu sozialen Gruppen und deren komplexe Beziehungskonstellationen. Als Zugehçrige politischer, militrischer, wissenschaftlicher, knstlerischer Eliten erst wird ihre Außerordentlichkeit mçglich, die weder angeboren noch aus sich selbst zu begrnden ist. Wie Nietzsche es sehen wollte.
2. Beiden stand das Modell hçfischer Gesellschaft und Kultur in Frankreich vor Augen. Der Hof unter Ludwig XIV. und Ludwig XV. war paradigmatisch fr ihre Ansichten zur Gesellschaft und Kultur, zu deren Existenzweisen und Wirkungsmechanismen. An ihm konnte Elias zeigen, wie zwischen dem Kçnig und den Hçflingen ein ußerst differenziertes Beziehungsgeflecht den Machtanspruch und die Herrschaft des Monarchen sicherte, aufgrund derer er erst zu den politischen, kulturellen, militrischen Leistungen befhigt wurde, die wiederum die schon vorhandene Macht befestigten, und wie durch Verschiebungen im Krfteverhltnis zwischen Kçnig und Adel das diffizile Gleichgewicht der Macht, die Anfechtbarkeit der Grçße des Monarchen transparent und real folgenreich wurde. Und wie sehr der Glanz des Sonnenkçnigs ,nur‘der Abglanz, die Besttigung der Konstellationen des hierarchischen Gleichgewichtes waren. Auffllig ist, dass auch Nietzsche den franzçsischen Hof nicht unter der heraushebenden Optik gegenber Ludwig XIV. sah, sondern sein Interesse wesentlich den Momenten des hçfischen Lebens galt, an denen sich die normative Verhaltensweise des Kçnigs und der Hçflinge besonders deutlich zeigen. Dahinter mag der Verdacht stehen, dass der Sonnenkçnig, allem Glanze zum Trotz und Widerspruch, nicht in die Kategorie der wirklich Großen gehçre: in seiner barocken Natur, mit der er die Kultur der Epoche berzogen hat, entdeckte Nietzsche, was er an allem Barocken zu bemerken und zu kritisieren wusste, den Hang zur Dcadence, das heißt: immer schon Verfall zu sein, den Hauch des Ruinçsen und Vergehenden an sich zu haben: Wie ihm der Barockstil „eine Dcadence-Kunst“11 war, so war ihm wahr-
11 Nietzsche, Nachlaß 1887 – 1889, KSA 13, 14[61], S. 247.
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scheinlich auch Ludwig XIV. nicht mehr der Kçnig mit dem Format zu jener Grçße, die sich an den großen Stil bindet, denn: Dieser Stil hat das mit der großen Leidenschaft gemein, daß er es verschmht zu gefallen; daß er es vergißt zu berreden; daß er befiehlt; daß er will … ber das Chaos Herr werden das man ist; sein Chaos zwingen, Form zu werden; Nothwendigkeit werden in Form: logisch, einfach, unzweideutig […]; Gesetz werden –: das ist hier die große Ambition. Mit ihr stçßt man zurck; nichts reizt mehr die Liebe zu solchen Gewaltmenschen – eine Einçde legt sich um sie, ein Schweigen, eine Furcht wie vor einem großen Frevel…12
Elias fragte nach genau dieser hçfischen Figuration, die seit ber den Prozeß der Zivilisation an zentraler Stelle seines Denkens stand. Hatte er hier ihre Genese zum Thema gemacht und verfolgt, so wurde in Die hçfische Gesellschaft die Konstellation Hof-Kçnig-Adel zum soziologischen „Kernmodell“, an dem sich die „Figuration interdependenter Menschen“ zeigen ließ, „die es nicht nur mçglich, sondern anscheinend nçtig machte, daß sich viele Tausende von Menschen Jahrhunderte oder Jahrtausende hindurch immer und immer wieder ohne jede Kontrollmçglichkeit von einer einzelnen Familie oder deren Reprsentanten regieren ließen.“13 Was historisch klingt, benutzt die historische Dimension aber als Ummantelung eines Phnomens, das soziologischer Erklrung bedarf, um beschrieben zu werden. Es geht darum, zu begrnden, warum unter bestimmten historischen Konstellationen sich ein Hof herausbildet, an dem es zu komplexen Interaktionen der an ihm lebenden Individuen kommt. Die historische Perspektive rckt einzig „einzelne Individuen ins helle Licht, also […] einzelne Kçnige“, aus soziologischer Perspektive interessieren jedoch „zugleich auch gesellschaftliche Positionen, […] in diesem Fall die Entwicklung der Kçnigsposition.“14 An dieser hngt die Interdependenz. Ohne Bezug zu den feudalen Eliten wre die Kçnigsposition nicht(s). Die Eigentmlichkeit hçfischer Strukturen ergibt sich dabei aus der spezifischen Figuration aller Beteiligten: Die hçfische Gesellschaft ist nicht ein Phnomen, das außerhalb der Individuen, die sie bilden, existiert; die Individuen, die sie bilden, ob Kçnig oder Kammerdiener, existieren nicht außerhalb der Gesellschaft, die sie miteinander bilden.15 12 Ebd., S. 246 f. 13 Ralf Baumgart/ Volker Eichener (Hrsg.), Norbert Elias zur Einfhrung, Hamburg 1991, S. 122. 14 Elias, Hçfische Gesellschaft, S. 11. 15 Ebd., S. 34.
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Weil dies am franzçsischen Hof augenscheinlich zu demonstrieren war, avancierte er fr Elias zum Modellfall schlechthin: Der Hof Ludwigs XIV. war etwas Einzigartiges. Ludwig XIV. selbst war eine einmalige und unwiederholbare Erscheinung. Aber die gesellschaftliche Position, die er innehatte, die Position des Kçnigs, war nicht einmalig […] Es gab Kçnige vor Ludwig XIV. und es gab Kçnige nach Ludwig XIV. Sie alle waren Kçnige, aber ihre Personen waren verschieden.16
Die Einzigartigkeit bestand darin, dass der „Spielraum der Individualisierung besonders groß [war]“: Er war besonders groß, „weil er ein Kçnig war.“17 Was so widersprchlich klingt, entbehrt jedoch jeder Widersprchlichkeit; vielmehr formuliert es Elias’ Vorstellung, dass der Kçnig nur Kçnig sein konnte in der ausdrcklichen Figuration des Hofes und dass er in dieser Position als einziger sich erlauben konnte, was den Hçflingen verwehrt blieb, sich als Individuum darzustellen und die Außerordentlichkeit auch unangefochten zu leben. Der berhmte Kçnigsmechanismus garantiert den Friedensfall zwischen dem Herrscher und den subalternen hçfischen Eliten. Die Position der Einzelnen in diesem Gefge hngt nicht von der vorherbestimmten Außerordentlichkeit der Persçnlichkeitsstruktur ab, sondern von dem Entwicklungsstand und der Gesamtsituation des Gesellschaftsverbandes, zu dem sie gehçren. Dieser bildet das Rahmenwerk mit seinen Grenzen und seinen Mçglichkeiten; jene entwickeln diese Mçglichkeiten oder lassen sie brachliegen.18
Nicht ohne Max Weber avancierte der Versailler Hof zum „Zentralorgan des Haushalts“, zum „Ursprungsort“19 jener Erfahrungen, die die Welt- und Menschenauffassung Ludwigs XIV. geprgt haben. Der Hof war sein „primre[r] Aktionsbereich“,20 war der Mittelpunkt des Beziehungsgefges zwischen dem Kçnig und dem Land, zwischen Kçnig und Untertanen, zwischen ihm und dem hçfischen Adel. Das ancien rgime im 17. Jahrhundert war die Gesellschaft, deren Eliten ihre Identitt in jeder Hinsicht vom Hof ableiteten und auf ihn bezogen, in der der Hofadel sich seiner Macht begeben hatte um des Privilegs der Prsenz am Hofe, der Kçnigsnhe wegen, und der Kçnig diese Prsenz herbeizitiert und akzeptiert hat, um die 16 17 18 19 20
Ebd., S. 35. Ebd., S. 36. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt a. M. 1994, S. 145. Elias, Die hçfische Gesellschaft, S. 68 f. Ebd., S. 70.
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eigene Macht zu sichern.21 Unter dieser Perspektive interessierten Elias das ancien rgime, der Hof in Versailles und das hçfische Leben, die Architektur, die Feste, die Teilnahme der Hçflinge am Zeremoniell, ihre anstrengende Unttigkeit und die Etikette, derer sie sich bedienten, die Maskeraden und die Sprache, die Intrigen, diffizilen Symbole und Codes der Kçnigsherrschaft, die hçfischen Formen der Konkurrenz, die berlebensstrategien im Kampf um den Platz in Sonnenkçnigsnhe. Dabei geht es immer auch um die Soziogenese hçfischen Verhaltens, um die Soziologie der courtoisen biensceance. Nietzsche wre einer solchen Prferenz der Sichtweise abhold gewesen. Zwar wusste auch er um das Verhltnis zwischen Ludwig XIV. und dem franzçsischen Adel: Dieser Adel hatte sich alle seine Macht und Selbstherrlichkeit nehmen lassen und war verchtlich geworden: um diess nicht zu fhlen, um diess vergessen zu kçnnen, bedurfte es eines kçniglichen Glanzes, einer kçniglichen Autoritt und Machtflle ohne Gleichen, zu der nur dem Adel der Zugang offen stand. Indem man gemss diesem Vorrecht sich zur Hçhe des Hofes erhob und von da aus blickend Alles unter sich, Alles verchtlich sah, kam man ber alle Reizbarkeit des Gewissens hinaus. So thrmte man absichtlich den Thurm der kçniglichen Macht immer mehr in die Wolken hinein und setzte die letzten Bausteine der eigenen Macht daran.22
Zwar galt auch sein Interesse dem hçfischen Habitus, der Noblesse und Raffinesse des adligen Verhaltens, den listenreichen Selbstbehauptungstaktiken der Hçflinge, zwar wusste auch er um die konfliktintensiven Beziehungen zwischen den Hçflingen und dem Kçnig, die sich nach gegebener Machtlage in sich selbst erschçpften ohne Hoffnung auf Vernderung. Aber ihm war ihre kulturelle Dimension weit reizvoller, will heißen: von perspektivischerer Bedeutung. Als Modell einer Kultur, deren Verlust er hauptverantwortlich machte fr die Mediokritt der nachfolgenden Kultur(en), vorzglich der demokratischen Moderne und der modernen Massenkultur. Feudale Hçfe galten ihm als sichere Orte und Institutionen gegen die kulturelle „Verflachung“23 wie aristokratische Gesellschaften generell von ihm als Bedingungen fr die „Erhçhung des Typus Mensch“ und fr die „Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch“24 angesehen wurden. Der Kulturkritiker Nietzsche machte dies als 21 Daher hat Elias seine „Soziologie des Hofes“ als eine des „Kçnigstums“ angesehen (ebd., S. 69). 22 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 136, KSA 3, S. 487 f. 23 Nietzsche, Nachlaß 1875 – 1879, KSA 8, 21[56], S. 375. 24 Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 2[13], S. 73.
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Leistung der hçfischen Gesellschaft ebenso geltend wie er die „aristokratische[] Societt“gegen den Macht werdenden „Heerdeninstinkt“25 nicht nur als die Kulturen bestimmende Opposition formulierte, sondern sie auch gegen den letzteren hçher ansetzen und verteidigen zu mssen glaubte. Hier die emphatische Frage nach den Werten, da die nchterne soziologische Distanz. So lassen sich Nietzsche und Elias an dieser Stelle differenzieren.
3. In der Frçhlichen Wissenschaft kleidete Nietzsche sein Bild vom franzçsischen Hof unter Ludwig XIV. in einen Traum, den er im Aphorismus 22 unter dem Titel L’ordre du jour pour le roi 26 berichtet: Der Tag beginnt: beginnen wir fr diesen Tag die Geschfte und Feste unseres allergndigsten Herrn zu ordnen, der jetzt noch zu ruhen geruht. Seine Majestt hat heute schlechtes Wetter: wir werden uns hten, es schlecht zu nennen; man wird nicht vom Wetter reden, – aber wir werden die Geschfte heute etwas feierlicher und die Feste etwas festlicher nehmen, als sonst nçthig wre. Seine Majestt wird vielleicht sogar krank sein: wir werden zum Frhstck die letzte gute Neuigkeit vom Abend prsentiren, die Ankunft des Herrn von Montaigne, der so angenehm ber seine Krankheit zu scherzen weiss […]. Wir werden einige Personen empfangen […] und der Empfang wird lnger dauern, als irgend Jemandem angenehm ist: Grund genug, von jenem Dichter zu erzhlen, der auf seine Thre schrieb: „wer hier eintritt, wird mir eine Ehre erweisen: wer es nicht thut – ein Vergngen.“ – Dies heisst frwahr eine Unhçflichkeit auf hçfliche Manier sagen! Und vielleicht hat dieser Dichter fr seinen Theil ganz Recht, unhçflich zu sein […] Wir werden plaudern, und der ganze Hof meint, wir arbeiteten schon und zerbrchen uns die Kçpfe: man sieht kein Licht frher, als das in unserem Fenster brennen. – Horch! War das nicht die Glocke? Zum Teufel! Der Tag und der Tanz beginnt, und wir wissen seine Touren nicht! So mssen wir improvisiren, – alle Welt improvisirt ihren Tag. Machen wir es heute einmal wie alle Welt!27
Dieser ,Traum‘ ist ein Kabinettstck in punkto hçfischer Kultur, wie Nietzsche sie verstand. In ihm sind in poetischer Imagination ihre Schlsselmerkmale vereint: Herrschaftsdenken, Kçnigsmechanismus, hçfischer Verhaltenskodex, hçfische Sprache, Rangordnung, Wertehierarchie, Selbstverstndnis der Hçflinge. Man wird dem Kçnig huldigen, man wird ihm das Leben angenehm machen, die Hrten der Realitt von ihm fern25 Nietzsche, Nachlaß 1887 – 1889, KSA 13, 14[40], S. 238. 26 In einer Vorstufe lautete der Titel: Travailler pour le roi Moi (vgl. KSA 14, S. 242). 27 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 22, KSA 3, S. 394 f.
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halten oder wegreden, man wird ihm mittels der Knste und Philosophie schmeicheln, man wird alle Mçglichkeiten von Zeremoniell und Etikette in die Waagschale werfen, um den Hof als Hof, das heißt: als die Welt, die monde, erscheinen zu lassen und den Kçnig als ihren Mittelpunkt. Und der Schein wird die Realitt sein und diese der wohl kalkulierte Schein. Aus der Sicht der Hçflinge baut sich eine Szenerie auf, in der diese etwas tun, was ihnen eigentlich nicht zukommt. Indem sie ber das reflektieren, was sie tun werden, um beim Kçnig nicht in Ungnade zu fallen, tun sie nicht nur Unerhçrtes, aus dem Verhaltenskodex Fallendes, sondern erst dieses Tun, der Kunstgriff der Reflexion ihres Handelns ermçglicht die Transparenz ihrer Motivation, die ebenso psychologisch wie kulturkritisch relevant ist. Eine der großen Garantien fr den Glauben an und den Erhalt dieses Scheins sah Nietzsche in der Fhigkeit der Hçflinge zur Huldigung als grundlegendem Ausdruck der Subordination und zugleich als sie auszeichnendes Kulturverhalten: Auch das Huldigen mssen die Menschen lernen […]. Es bedarf ganzer Geschlechter, um auch nur eine hçfliche Convention des Dankes zu erfinden: und erst sehr spt kommt jener Zeitpunct, wo selbst in die Dankbarkeit eine Art Geist und Genialitt gefahren ist: dann ist gewçhnlich auch Einer da, welcher der grosse Dank-Empfnger ist, nicht nur fr Das, was er selber Gutes gethan hat, sondern zumeist fr Das, was von seinen Vorgngern als ein Schatz des Hçchsten und Besten allmhlich aufgehuft worden ist.28
Damit die Huldigungsgeste, dem der huldigt, nicht als demtigende bewusst wird und der, dem die Huldigung gilt, sie annehmen kann, ohne die eigene Eitelkeit als subjektive Schwche entblçßen zu mssen, bedarf es einer genealogisch zu begrndenden Souvernitt des Herrschers, die diese Huldigung erst zu einem grundlegenden Moment des hçfischen Beziehungsgefges macht. Nietzsche sah sehr wohl die Beziehungsqualitt der Hofkultur, aber der entscheidende Faktor darin war und blieb fr ihn der Kçnig selbst. Und zwar kraft seiner aus sich bestimmten Außerordentlichkeit, an der sich auch dann nichts nderte, wenn wechselseitige Abhngigkeiten ins Blickfeld gerieten. Das hierarchische Geflle blieb unangetastet. Es war der die Huldigung Entgegennehmende, der durch ihre Annahme die Identitt aller herstellte. Dem vornehm geborenen Geist obliegt es nach Nietzsche, den Gedanken der Rangordnung zu denken und zu leben, ihn als seine Pflicht anzusehen.29 Es ist primr eine Frage der Herkunft, die Rangordnung aufrechtzuerhalten. 28 Ebd., § 100, S. 457 f. 29 Vgl. Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, KSA 11, 26[260], S. 218.
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Fr Elias stand das Schlafzimmer des Kçnigs im Mittelpunkt des exemplarischen Geschehens am Hofe. Das große und kleine lever, das morgendliche und abendliche An- und Auskleidungszeremoniell Ludwigs XIV., die feudale Schlafzimmer-Szene als Schaltzentrale feudalabsolutistischer Macht, von derdie Existenz des Hofes und seiner Struktur ausging und die sie aufrecht erhielt und garantierte, war fr ihn der symboltrchtigste Ausdruck fr das, was er unter der Interdependenz der Individuen verstand: Es gehe nicht an, das Zeremoniell als historisches Kuriosum oder als museales Schlossgeschehen zu behandeln, vielmehr: Schritt fr Schritt msse man es vor Augen stellen, um in ihm „Aufbau und Funktionsweise der hçfischen Figuration […] und damit zugleich die Charaktere und die Attitden der Menschen, die sie mit einander bilden und durch sie geprgt werden, verstndlich zu machen.“ Durch die Ausfhrlichkeit, mit der der Ablauf geschildert ist, entdeckte Elias darin „Aufbau, Technik und Durchbildung des Hoflebens“30 und entzauberte das Zeremoniell, indem er die Genauigkeit seiner Organisation, die Rationalitt der Durchfhrung und den Prestigewert der Gunstbezeugungen des Kçnigs fr die Teilnehmenden und fr die nicht Geladenen als wichtigste Begrndungsmerkmale hervorhob. Zum Zeremoniell „verurteilt“,31 lebten alle in einer „reprsentativen ffentlichkeit“ (Jrgen Habermas): sie bildete den Rahmen fr hohe und hçchste Gunst, mit deren Erteilung oder Verweigerung der Kçnig das perpetuum mobile des hçfischen Sonnensystems in Gang hielt. In diesen Kontext hat Elias die Frage nach sozialen Rangordnungen gestellt und fr bedeutend erklrt. Anders als Nietzsche, dem sie wertender und gegebener Ausdruck eines außerordentlichen Kulturverhalten (Etikette, Vornehmheit, Noblesse) waren: Der Kçnig nutzt seine privatesten Verrichtungen, um Rangunterschiede herzustellen, und Auszeichnungen, Gnadenbeweise oder entsprechend auch Mißfallensbeweise zu erteilen. Damit deutet sich bereits an: die Etiquette hatte im Aufbau dieser Gesellschaft und dieser Regierungsform eine symbolische Funktion von großer Bedeutung.32
Die hçfische Gesellschaft funktionierte „im Sinne eines multipolaren Spannungsgefges unterschiedlicher Funktionsgruppen, in das der Kçnig selbst eingebunden“33 war. In ber den Prozeß der Zivilisation hatte Elias 30 Elias, Die hçfische Gesellschaft, S. 126. 31 Claudia Albert, Norbert Elias, in: Bernd Lutz (Hrsg.), Metzler-Philosophen-Lexikon, Stuttgart/ Weimar 2003, S. 199. 32 Elias, Die hçfische Gesellschaft, S. 129. 33 Baumgart und Eichener, Norbert Elias zur Einfhrung, S. 130.
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davon gesprochen, es koste eine „gewaltige Anspannung, eine starke Selbstbeherrschung, das Gleichgewicht der Menschen und Gruppen in diesem Geflecht zu erhalten und auf den Spannungen spielend, das Ganze zu steuern.“34
4. Dass an Hçfen alles hçfisch wird, hçfisch werden muss, hat Nietzsche auch Zarathustra erkennen lassen.35 Was dies meinte, hat ihn immer wieder umgetrieben. In bemerkenswerter Verkehrung der Gestirnsymbolik: „Der Mond hat seinen Hof, und der Hof hat seine Mondklber […]. ,Ich diene, du dienst, wir dienen’– so betet alle anstellige Tugend hinauf zum Frsten: dass der verdiente Stern sich endlich an den schmalen Busen hefte!“36 gelang ihm (metaphorisch, nicht faktenanalytisch) das eindringliche Bild des symptomatisch hierarchischen Hofgeflles. Aber nicht der Funktionsmechanismus interessierte ihn, sondern die hçfischen Verhaltensweisen, die die feudale Hochkultur maßgeblich bestimmten und in denen er ihr beispielgebendes Niveau sehen wollte. Ihn faszinierte, wie sehr die Beziehung zwischen Hofadel und Kçnig eine des kulturellen, sinnenfreudigen Genusses war, „welchen der franzçsische Adel an Ludwig dem Vierzehnten hatte“.37 Das opulente Hofleben wog zwar nicht die verlorene Unabhngigkeit und Selbstbestimmung auf, aber sie konnte erfolgreich als Palliativ fr das Bewusstsein eigener Ohnmacht dienen und die hçfischen Feste mit ihren Feuerwerken an Sinnlichkeit und Farbenpracht genießen lassen als sthetischen Ersatz fr die Verluste. Und die eigene Statistenrolle vergessen machen, um sich als unverzichtbarer Teil des Ganzen zu fhlen. Wo Elias nchtern auf die internen Strukturen dieser Machtspiele rekurrierte und sich jeder kulturellen Wertung enthielt, richtete Nietzsche seine Blicke auf den Genuss der Not bei den Beteiligten und darauf, mit welchen Strategien (die er bewunderte) sie Hçflinge waren. Wo Elias (nicht ohne Sigmund Freud) von Affektkontrolle gesprochen hat als notwendiger Psychohaltung der Individuen und das psychoanalytische Erklrungsmodell in die soziologische Perspektive integrierte, um schnçrkellos auszusprechen, worum es geht: Affektkontrolle als (ist) berlebensnotwendiges Macht- und Konkurrenz34 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation. Soziologische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. II, Frankfurt a. M. 1976, S. 278. 35 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, KSA 4, S. 255. 36 Ebd., S. 223. 37 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 136, KSA 3, S. 487.
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potential, da versprach sich Nietzsche von ihrer Thematisierung Argumentationszuwchse fr seine Kulturkritik der Moderne. Weil das, was am franzçsischen Hof Lebenselixier war, in der modernen Kultur im Begriff stand, außer Geltung zu geraten (Pathos der Distanz, Sinn fr Rangunterschiede) und ein Prozess in Gang gekommen war, durch Werte ersetzt zu werden, die aus seiner Optik den kulturellen Niedergang forcieren (Arbeitsethos, Gleichheitsideale, Distanzlosigkeit). 4.1. Mßiggang und Langeweile Im Traum Nietzsches war von einer aufschlussreichen Identitt die Rede: dass das Plaudern als Arbeit gelte. Arbeit als produktive Ttigkeit am Hofe stand dem Hofadel nicht zu. Sein Selbstverstndnis grndete auf dem NichtTtigsein, nichts herzustellen, nur dem Monarchen zu Diensten zu sein. Dies brachte auf Dauer die Psyche in Bedrngnis und unter den Druck notwendiger Energieverschwendung an Nichtigkeiten, dem nachzugeben zu den Tugenden gehçrte. Jedenfalls wollte Nietzsches es so begreifen. Es sei die „vornehmste“ Sitte des Adels, „die Langeweile aushalten zu kçnnen“,38 notierte er 1881. Dass Arbeit schnde, gehçre noch immer unter die „Aristokraten-Gefhl[e]“, denen spiegelverkehrt der „Mssiggang mit gutem Gewissen“39 parallel geht und so geadelt wird: „Die Langeweile ist ein aristok Gefhl“.40 Sich auf Langeweile zu verstehen, darin liegt die Kultur der Hçflinge. Nach seinem Gesprch mit den Kçnigen, ließ Nietzsche Zarathustra das Resmee ziehen, es sei der „Kçnige ganze Tugend […]: Warten-kçnnen“.41 Dies stellte der Philosoph frontal gegen die Begierden der modernen Masse nach einem sich beschleunigenden Lebensrhythmus und gegen die sozialistischen „Verfhrungs- und Beruhigungsworte von der […] ,Wrde der Arbeit‘“,42 um gegen den seit der Franzçsischen Revolution von 1789 aufgekommenen Gedanken von der Gleichheit polemisch eine Alternative zu formulieren:
38 39 40 41 42
Nietzsche, Nachlaß 1880 – 1882, KSA 9, 11[30], S. 453. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 58, KSA 5, S. 76. Nietzsche, Nachlaß 1887 – 1889, KSA 13, 11[341], S. 148. Nietzsche, Also sprach Zarathustra IV, KSA 4, S. 308. Nietzsche, Die Geburt der Tragçdie, KSA 1, S. 117.
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Wie nah steht jetzt auch dem Mssigsten von uns die Arbeit und der Arbeiter! Die kçnigliche Hçflichkeit in dem Worte „wir Alle sind Arbeiter!“ wre noch unter Ludwig dem Vierzehnten ein Cynismus und eine Indecenz gewesen.43
Bei Elias fand die Langeweile Eingang in sein Blickfeld unter der Perspektive der zu verausgabenden physischen wie psychischen Energien, die sowohl beim Kçnig als auch beim hçfischen Adel unter Ludwig XIV. eingesetzt werden mussten, um eigene Machtpositionen zu sichern. Erst unter seinem Nachfolger erfuhr dies eine nachhaltige Vernderung.44 Insofern stand fr den Sonnenkçnig der Erhalt der Herrschaft und die Abwehr ihrer Bedrohung durch den entmachteten Adel noch im zentralen Bereich seiner Aufgabenfelder, die einen großen Teil seiner Aufmerksamkeit in Anspruch nahm: Er war ein Gipfel. Er hatte eine Position ohne Hoffnung. So war sein Ziel, das er den durch seine Position freigesetzten Energien gab, die Sicherung, die Verteidigung und vor allem die Verklrung seines gegenwrtigen Daseins.45
Bloßer Mßiggang htte dem Herrschaftszwang entgegengestanden und wre mit dem dynastischen Selbstverstndnis kollidiert. Die hçfischen „Spitzenschichten“46 mussten darauf bedacht sein, ihre Positionen durch wache Aufmerksamkeit vor Konkurrenzbedrohung zu schtzen und alle Energien auf das strukturelle Gefge der Hofgesellschaft fokussieren, um nicht aus der Gunst des Herrschers zu fallen. Jeder Anflug von produzierender Ttigkeit htte Isolation bedeutet, wre als verchtlich angesehen und ein selbst eingeschlagener Sargnagel fr die eigene Existenz geworden. Auf der anderen Seite war der Langeweile noch nicht Tr und Tor geçffnet. Wie berhaupt der Begriff ,Arbeit‘ in seiner brgerlichen Ausprgung vom Ttigsein am Hofe differenziert werden muss. In Versailles war die anstrengende Anwesenheit bei organisierten Zerstreuungen die Ttigkeit, die fr den hçfischen Adel charakteristisch war. Ihr Aufgabenfeld waren die großen und kleinen Feste, auf denen sie der Selbstdarstellung des Monarchen die Kulisse gaben und sich der Illusion hingeben durften, sich selbst darstellen zu kçnnen. Fr die Dauer der Feste wurde die Illusion widerspruchsvolle Wirklichkeit und diese ein Fluchtort vor drohender und latent immer schon existierender Langeweile: 43 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 188, KSA 3, S. 503. 44 Ludwig XV. bernahm eine gesicherte Herrschaft. Er konnte die „freigesetzten Energien in das Aufsuchen von Genssen und Freuden“ investieren (Elias, Die hçfische Gesellschaft, S. 202). 45 Ebd. 46 Ebd.
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In der hçfischen Welt ist jeder Raum Festraum und alle Zeit Festzeit. Das hçfische Leben ist totales Fest. In ihm gibt es nichts als das Fest, außer ihm keinen Alltag und keine Arbeit, nichts als die leere Zeit und die lange Weile. Und es sieht aus, als ob es der Horror vacui sei, der das hçfische Fest erzeugt habe, der gleiche Horror vacui, der dem barocken Auge eine leere Wand zu einem so unertrglichen Anblick macht, daß die Knstler angehalten werden, sie mit einem Netz von Pomp oder Zierlichkeit zu berspinnen. So scheint die Jagd nach dem Vergngen nichts als die Flucht aus der Langeweile.47
Die Feste verschafften, wie die Lektre des Mercure Galant, die Illusion, teilzunehmen an wichtigen Ereignissen der Gesellschaft. Der Kçnig als ihr unumschrnkter Regisseur wusste um deren machterhaltende Notwendigkeit. 4.2. Etikette und Noblesse (Vornehmheit) Elias hat auf die Frage, wie der Hof „wirklich war“, mit seiner „Bedrfnisformel, d. h. Art und Maß der Interdependenzen […], welche die verschiedenen Menschen und Menschengruppen jeweils zum Hofe zusammenschweißten und im Hof zusammenhielten“,48 geantwortet. Der Etikette kam darin ein herausragender Stellenwert zu. Nicht bloß ußerlich oder berflssig war sie, sondern ein „hçchst sensitiver Anzeiger und ein hçchst zuverlssiges Meßinstrument fr den Prestigewert des Einzelnen im Netzwerk seines Beziehungsgeflechtes“, ein „Instrument[ ] der Herrschaft und Machtverteilung.“49 An ihr war zu demonstrieren, dass der Funktionsmechanismus hçfischer Macht ber ein kompliziertes Reglement fr alle Verhaltensweisen verfgte, das von den Beteiligten anzuerkennen war und dessen Sinn darin bestand, die „Machtbalance zwischen den vielen Hçflingen“50 zu steuern und augenfllig zu machen.51 Unter Ludwig XIV., so Elias’ Beobachtung, war die „Etikette-Apparatur“ noch nicht „versteinert“, kein „gespenstische[s] Perpetuum mobile, das niemand mehr steuert“, sondern in den Hnden des Kçnigs eine Klaviatur, auf der er die „Gunstkonkurrenz“ und den „Seelenaufbau“ der Hçflinge, der den des Hofes 47 Richard Alewyn, Das große Welttheater. Die Epoche der hçfischen Feste, Berlin 1985, S. 14. 48 Elias, Die hçfische Gesellschaft, S. 239. 49 Ebd., S. 19 und 51. 50 Ebd., S. 130. 51 „Die Etikette ist es, in der dieser Balancezustand, fr alle Augen sichtbar, zum Ausdruck kam“ (Ebd., S. 135).
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spiegelte, souvern bediente. So sehr, dass Elias die Etikette eine „Selbstdarstellung der hçfischen Gesellschaft“52 nennen konnte. Und: Ein absolutistischer Herrscher kann gut sein fr die Zivilisierung einer Elite […] Im 17. Jahrhundert hatte der absolutistische Herrscher großen Einfluß auf die Entwicklung eines Selbstzwangs der Hçflinge, indem er den Adel zwang, sich von Kriegern in Hçflinge zu verwandeln; und das Hofleben erforderte einen hohen Grad an Selbstzwang.53
Ein Selbstzwang, dessen grundlegendes Merkmal seine genaue Organisation ist: Die Genauigkeit, mit der […] jede Etikette-Aktion durchorganisiert, die Sorgfalt, mit der der Prestigewert jedes Schrittes durchfhlt und berechnet wird, entspricht dem Maße von Lebenswichtigkeit, das die Etikette wie das wechselseitige Verhalten berhaupt fr die hçfischen Menschen besitzt.54
Dies entsprach der Rationalitt des Zeitalters und gab den Betroffenen die Sicherheit, den Wert ihres Daseins nicht in Begrndungen zu suchen, die außerhalb dieser Etikette-Konfiguration angesiedelt sein mussten. Es erschließt sich erst (und vielleicht nur) dem soziologischen Blick. Dieser erkennt auch, wie sehr der Kçnig zwar der Dirigent der Etikette war, aber auch deren, alle Konsequenzen tragender, Beteiligter und von ihr in seinem Selbstbild Abhngiger. Weil die Etikette der Handlungsrahmen, aber immer auch die Handlung selbst war, gab sie den Boden fr die ethischen Grundstze des Hofes und war zugleich deren Verwirklichung. Nur so konnte gewhrleistet werden, dass der Kçnigsmechanismus nicht infrage gestellt wurde. Nur so wird verstndlich, warum alle Beteiligten sich den Unbequemlichkeiten der Etikette ausgesetzt haben. Es waren die Ketten der Etikette, die ihre Identitt bedeuteten. Indem Elias auf die diffizilen Zusammenhnge aufmerksam gemacht und alle Beobachtungen zum Habitus der Hofangehçrigen unter ihre Dominanz gestellt hat, gelang ihm eine Soziologie der Hofkultur, die sich sehr wohl der psychokulturellen Dimension hçfischen Verhaltens versicherte, sie aber aus dem Kontext soziohistorischer Bedingungen erklrte, die keinen Platz ließen fr Reklamationen zu wertehierarchischen Ableitungen unterschiedlicher sozialer Gruppen, die einer Favorisierung elitrer Werthierarchien das Wort reden wollten.
52 Ebd., S. 154. 53 Elias, Norbert Elias ber sich selbst, Frankfurt a. M. 1996, S. 78. 54 Elias, Die hçfische Gesellschaft, S. 154.
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Nietzsche hat der soziologische Untergrund hçfischer Verhaltensmuster wenig tangiert. Das Spannungsverhltnis zwischen Ludwig XIV. und der Fronde, das die Unterwerfung per Etikette zu den Hçhepunkten trieb, interessierte allein aus der Sicht eines Willens zur Herrschaft, den der Kçnig wie keiner seiner Vorgnger oder Nachfolger an die eigenen Verhaltensformen und an die seines Hofstaates gebunden hat. Wichtiger war ihm, das 17. Jahrhundert als aristokratisches zu wrdigen: Nietzsche sah darin die unwiederbringliche Note des franzçsischen Hofes, der beispielgebend fr seine Epoche war, mit der der Moderne ein Wertmaßstab entgegengehalten werden konnte. Vornehmheit, Noblesse, Geschmack waren fr ihn Schlsselmomente hçfischer Etikette, deren Verlust er fr den kulturellen Niedergang zumindest der gesellschaftlichen Eliten verantwortlich machte. „Eine gemeinere Gattung von Menschen“ habe das Regiment „statt der noblesse“55 bernommen: wer heute noch Vornehmheit in sich spre, der hlt nichts von modernen Frsten. Die neue Aristokratie desavouiert sich selbst nicht nur durch ihr Misstrauen gegenber der Noblesse,56 sondern durch die Grobheit ihrer Begierden und die Abhngigkeit von ihnen: „Menschen der hçchsten Cultur“57 erst komme jene Noblesse zu, die diese sich als grçßte Tugend anrechnen kçnnen. In der „aristokratische[n] Werthgleichung (gut = vornehm = mchtig = schçn = glcklich = gottgeliebt)“58 sah er eine Identifikationskette, die zu leben fr die Eliten nach wie vor anzustrebendes Ideal sei. Aristokratische Noblesse verkçrpert oder ist die Fhigkeit, sich nicht als Dienende, als „Funktion des Kçnigthums“ zu verstehen, sondern „als dessen Sinn und hçchste Rechtfertigung [zu] fhl[en]“.59 Dazu gehçre die Akzeptanz, dass es um ihres Erhaltes wegen eine große Schicht von Menschen geben msse, die zu Werkzeugen reduziert werden, damit „sich eine ausgesuchte Art Wesen zu ihrer hçheren Aufgabe und berhaupt zu einem hçheren Sein emporzuheben vermag“.60 Vielleicht liegt hier die grçßte menschen- und weltbildliche Differenz zwischen beiden Denkern. Noblesse war das Gefhl der Macht und zugleich die Macht selbst. Hatte der Schwertadel sein Machtgefhl aus kriegerischen Aktivitten gezogen, so bemerkte Nietzsche am Hofadel folgenreiche Verschiebungen zur perennie55 56 57 58 59 60
Nietzsche, Nachlaß 1880 – 1882, KSA 9, 6[31], S. 200. Vgl. Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, KSA 11, 25[70], S. 27. Ebd., 25[273], S. 82. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, I § 7, KSA 5, S. 267. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 258, KSA 5, S. 206. Ebd., S. 207.
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renden Relevanz des vornehmen Habitus und zur Ausbildung feinerer Selbstdarstellungsstrategien und Kommunikationspraktiken. Tapferkeit und Mut wurden berlagert durch Khnheit und Taktik, man musste auf dem Tanzparkett, in Wortgefechten und in der Gunst des Kçnigs siegen. Das Gewaltpotential wurde sublimer und hatte sich der Vornehmheit anzuverwandeln. Dies zu kçnnen, daran beweist sich vornehmer Charakter. Manieren zu haben, meint Noblesse zu besitzen, von vornehmer Herkunft zu sein: „Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich“, glaubt an sich. Nicht auf Grund ihrer Handlungen oder Werke kommt ihr das Merkmal des Vornehmen zu, sondern „irgend eine Grundgewissheit, welche eine vornehme Seele ber sich selbst hat, Etwas, das sich nicht suchen, nicht finden und vielleicht auch nicht verlieren lsst“.61 Mit dem ganzen Blick in die Welt sehen, mit offenem Visier, nicht mit schielendem Auge, darin zeigt sich der vornehme Charakter.62 Selbst Napoleon habe die „noblesse des Charakters verloren“.63 Er war fr Nietzsche das Musterbeispiel eines pçbelhaft gewordenen Herrschers, weil er in seiner Seele nie vornehm gewesen war. Eine gefllige Haltung einzunehmen, gefallen zu wollen und zu kçnnen, „auf geistreiche Art zu huldigen und zu schmeicheln“,64 damit schreiben sich vornehme Manieren in den hçfischen Verhaltenskodex ein. Hçfisch buchstabiert, schwinden sie mit dem sinkenden Einfluss der Hçfe und den abgeschlossenen Aristokratien und werden nur noch als nachgeahmte erinnert. Darin sah Nietzsche das Desaster der Moderne. Weil sie zu wirklicher Vornehmheit nicht mehr willens ist, hat sie auch die Fhigkeit dazu verloren. Die moderne Welt war ihm nichts anderes als „die abgeblaßte Nachahmung der frheren Hofkultur“.65 In Ecce homo bekannte er, „gegen Alles, was heute noblesse heisst, ein souveraines Gefhl von Distinktion“ zu besitzen; dem deutschen Kaiser es nicht zuzugestehen, des Philosophen Kutscher zu sein.66 Der kulturkritische Hieb, der ausgeteilt wird, traf die moderne Kultur am wichtigsten Punkt: Ihre Demokratisierung zeitigte eine Pçbelhaftigkeit, deren symptomatischster Ausdruck der Verzicht auf Selbstbeherrschung des Kçrpers und des Geistes, auf Distanz, und der Verlust an Geschmack war. 61 Ebd., § 287, S. 233. 62 „Es muß meinem Auge unmçglich sein, mit schielenden Blicken hin und dahin zu sehen: sondern immer muß ich den ganzen Kopf mit drehen – so ist es vornehm“ (Nachlaß 1880 – 1882, KSA 9, 17[14], S. 667). 63 Nietzsche, Nachlaß 1882 – 1884, KSA 10, 7[27], S. 251. 64 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 250, KSA 2, S. 207. 65 Nietzsche, Nachlaß 1869 – 1874, KSA 7, 25[1], S. 567. 66 Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, S. 268.
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Gefhl, Sitte, Geschmack waren „Frankreich’s Werk und Erfindung“,67 eine Erfindung am franzçsischen Hof. Das Galante, Raffinierte der Kultur garantierte die Abwesenheit alles Pçbelhaften. Als pçbelhaft galt Nietzsche alles Zudringliche, Begehrliche und Rachschtige: Es macht den hçheren Menschen unmçglich,68 mit dem er die historisch nicht zu begrndende Hoffnung auf eine zuknftige Kultur verbunden hat. Den „schweren verhngten Himmel der beginnenden Pçbelherrschaft, durch den Alles undurchsichtig und bleiern“69 geworden sei, aufzureißen mittels des Ideals der vornehmen Seelen („es waren die ganzeren Menschen“ mit der schçpferischen Barbarennatur70), dies war der Grund fr die unverhohlene Apologie hçfischer Vornehmheit. 4.3. Eitelkeiten, Intrigen und Affektkontrolle Im Frhjahr 1880 notierte Nietzsche: Die feine hçfische Cultur unter Ludwig XIV hatte in vielen Stcken den Stoicismus nçthig; viele Empfindungsstrme mußte man in’s Herz verschließen, viele Mdigkeit verhehlen, vielen Schmerz mit Heiterkeit bedecken. Unsern bequemen Mitmenschen wrde diese Lebensart zu streng sein.71
Dies war der kritische Finger in der Wunde moderner Lebensformen, aber auch eine Skizze hçfischen Verhaltens, die wesentliche Momente hervorhebt: Selbstverleugnung, Selbstbeherrschung, Gefhlskontrolle, Distanz, eine gewisse Klte, die am Hofe berlebensnotwendig war. Was geschieht und was gefordert wird ertragen und annehmen zu kçnnen (zu wollen), darin bestand das Leben der Hçflinge: „Im Wollen ist ein Affekt“.72 So wundert es nicht, dass Nietzsche ihnen bescheinigte, darin Meister sein zu mssen und alle andere Lebensart in den Bereich unerfllbarer Wnsche zu verlagern. Wer, wie der Hofadel „bunt wie ein Flamingo stundenlang im flachen Wasser stehen“ msse, der betrachte „das Sitzen als ein Glck des ,Lebens nach dem Tode‘“.73 Selbstbeherrschung und Kontrolle des Kçrpers, die Fhigkeit, ihn als Zeichen zu benutzen, sich der Signalwirkung von Gesten, Blicken, Be67 68 69 70 71 72 73
Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 253, KSA 5, S. 197. Vgl. Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, KSA 11, 26[351], S. 242. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 287, KSA 5, S. 232. Ebd., § 257, S. 206. Nietzsche, Nachlaß 1880 – 1882, KSA 9, 3[55], S. 62. Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, KSA 11, 34[251], S. 506. Nietzsche, Nachlaß 1880 – 1882, KSA 9, 15[61], S. 656.
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wegungen bewusst zu sein und sie kalkuliert einzusetzen, darin und daran (das Surplus der Hofkultur) eine Lust auszubilden: so erst wurde hçfische Kultur vorbildlich. Er nannte es die „Veredelung der alltglichen Gewohnheiten“: „die Lust sich zu beherrschen und seine Empfindungen nicht merken zu lassen (oder in ein seidenes Gewebe eingehllt) wurde groß.“74 Verstellung, Maskerade sieht Nietzsche als Pflicht am Hofe, als Kommunikationsstrategie, aus der der Hof seine Lebensenergie bezog und die in den „erblichen Aristokratien“ aus der „dauernden bung einer Verstellung […] zuletzt Natur“ geworden sei.75 So, dass hçfische Verstellung eine sich selbst aufhebende und in dieser Selbstaufgehobenheit eine herausgehobene Qualitt kultureller Verhaltensmuster berhaupt sei. Wie sehr Verstellung und Selbstbeherrschung das Gefhl der Macht tangieren, wie unterschiedlich sich dies auf der Seite der Hçflinge und auf der des Monarchen zeigt, waren fr Nietzsche nur zwei Momente einer ihnen gemeinsamen Grundhaltung. Dem hçfischen Adel stand es gut zu Gesicht, die eigene Stimmung auszuforschen, um die des Kçnigs zu erkennen und die eigene danach neu einzurichten: Dabei prft er sein Verhalten: und wenn es berhaupt Mittel giebt, bestimmte Geister, die er kennt, sich freundlich zu stimmen, so fragt er sich, ob er auch wirklich Alles gethan habe, was er dazu htte thun kçnnen. Wie ein Hçfling sein Verhalten zu dem Frsten geprft, wenn er an ihm eine ungndige Stimmung wahrgenommen hat […].76
Seitens des Herrschers, der ebenso unter dem Druck dauernder Selbstbeherrschung und dem Konventionszwang zu vorbestimmten und festgelegten Handlungsablufen steht, dreht sich der Schlssel seiner Verhaltensentscheidungen nach Maßgabe seiner als notwendig erachteten Gndigkeit, also um das Selbstgefhl der Macht, nicht aus egoistischen Motiven, sondern im Bewusstsein der zentralen Position, an der die Lebensfhigkeit des Gesamtensembles hing. Mit befehlender Geste, die sich gefllig und anmutig gibt, den Hçflingen den eigenen Willen so aufzudrngen, dass diese ihn als den ihrigen lustvoll empfinden, dies hatte nach Nietzsche Noblesse. Dass es einen Geschmack, einen Willen, eine Schçnheit gebe. Elias’ Beschreibung der Affektkontrolle ist der Nietzscheschen auffallend vergleichbar: in der fast literarischen Sprache, der subtilen Psychologie, divergierend in der bewertenden Bilanz. Er nahm eine Szene, die Louis de Saint-Simon in seinen Aufzeichnungen vom Hofe geschildert hat, zum 74 Ebd., 7[95], S. 336. 75 Nietzsche, Morgenrçthe, § 248, KSA 3, S. 204. 76 Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 1[46], S. 21.
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Anlass, die affektive Selbstbeherrschung Ludwigs XIV. transparent zu machen und an ihr zu demonstrieren, wie weit eine Theorie der Affektkontrolle taugt fr die strukturelle Analyse der hçfischen Gesellschaft, wie weit Selbstbeherrschungsstrategien soziale Verhaltensicherheit geben und die Struktur einer ganzen Gesellschaft prgen kçnnen. Saint-Simon hatte seinen Abschied aus der Armee genommen und Ludwig XIV. reagierte entsprechend. Beim Coucher des Kçnigs, zu dem der Abtrnnige geladen war, wurde er durch die Ehre des Leuchtertragens ausgezeichnet. Doch der Schein der Auszeichnung trgt. Der Ausgezeichnete wusste die Zeichen genau zu deuten; ebenso verstanden alle Hçflinge den Code, der darin lag und entschlsselten ihn als langfristige Demtigung und Ausgrenzung: „Der Kçnig tat dies“, so Saint-Simon, „weil er gegen mich gereizt war, und es sich nicht merken lassen wollte. Aber das war auch alles, was ich whrend dreier Jahre von ihm erhielt. Whrend dieser Zeit bentzte er jede kleine Gelegenheit, mir seine Ungnade zu zeigen. Er sprach nicht mit mir, sah mich nur wie zufllig an, sagte mir auch kein Wort ber meinen Austritt aus der Armee.“ Elias interpretierte die Szene. Sie zeige nicht nur die kalkulierten Gunstbezeugungen als Balance hçfischer Rangordnung, sondern die hohe Bedeutung der Selbstbeherrschung: der Kçnig ist etwas verletzt, aber er poltert nicht los, er entldt nicht seinen rger unmittelbar in einem Affektausbruch, sondern beherrscht sich und bringt durch eine hçchst abgemessene Haltung, welche bis auf die Nuance genau den Grad der Ungnade wiedergibt, den der Kçnig in diesem Falle auszudrcken fr wnschenswert hlt […] zum Ausdruck. Die kleine Auszeichnung, verbunden mit der brigen Nicht-Beachtung St.-Simons, stellt die abgestufte Antwort auf dessen Verhalten dar. Und diese Abgemessenheit, diese genaue Berechnung der Stellung, in der man sich zu einem anderen befindet, diese charakteristische Zurckhaltung der Affekte, ist fr die Haltung des Kçnigs und der hçfischen Menschen berhaupt typisch.77
Der Soziologe beließ es nicht bei der Beschreibung und fragte weiter nach der Funktion dieser kalkulierten Haltung, er stellte die Affektkontrolle in den Zusammenhang der Abhngigkeitssituation am Hofe. Sie war es, die die Kontrolle auch der persçnlichen Affekte erfordert. In der Hof-Figuration waren alle aufeinander bezogen und dadurch in Abhngigkeit voneinander. Wie sie sich verhielten und darstellten, so verhielten sie sich als fr den Hof reprsentativ und unabkçmmlich. Die eine Haltung bedingte die andere und daraus schloss Elias auf die strukturelle Balance des Ganzen.
77 Elias, Die hçfische Gesellschaft, S. 136 f.
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Feinheit und Anmut, darin hatte Nietzsche zwei Momente des Vornehmen gesehen, die das hçfische Reglement hervorgebracht hat. Am Hofe habe man es verstanden, Hçflichkeit (im Sinne des Wortes) tatschlich zu leben, sie durch den Habitus auszudrcken und eine allen sichtbare Gestalt zu geben: Die Gebrden der vornehmen Welt drcken aus, dass in ihren Gliedern fortwhrend das Bewusstsein der Macht sein reizvolles Spiel spielt. So lsst sich der Mensch von adeliger Sitte, Mann oder Weib, nicht gern wie ganz erschçpft in den Sessel fallen, er vermeidet es, wo alle Welt es sich bequem macht, […] den Rcken anzulehnen, er scheint nicht mde zu werden, wenn er stundenlang bei Hofe auf seinen Fssen steht, er richtet sein Haus nicht auf das Behagliche, sondern grossrumig und wrdevoll […] ein, er beantwortet eine herausfordernde Rede mit Haltung und geistiger Helle, nicht wie entsetzt, zermalmt, beschmt, ausser Athem, nach Art des Plebejers. So wie er den Anschein einer bestndig gegenwrtigen hohen physischen Kraft zu wahren weiss, wnscht er auch durch bestndige Heiterkeit und Verbindlichkeit, selbst in peinlichen Lagen, den Eindruck aufrecht zu erhalten, dass seine Seele und sein Geist den Gefahren und den berraschungen gewachsen ist.78
Der Aphorismus 201 der Morgenrçthe, aus dem der Passus stammt, trgt den Titel Zukunft des Adels. Wiederum nutzt Nietzsche das Bild hçfischer Kultur, um seinem Gegenbild zur modernen plebejischen Kultur Konturen zu geben. Mehr noch: Dem Adel selbst wird eine Zukunft zugesprochen kraft seiner Verhaltenformen, die eine vornehme Kultur ausschreiben und auch eine zuknftige garantieren (sollen). In seinem reizvollen Gebrdenspiel sah Nietzsche die Voraussetzung jeder kulturvollen Zukunft. Der Adel sei in der Lage, eintretende Verarmung und Entmachtung mit Sinn an Feinheit und Noblesse zu bewltigen: „Der grosse Vorzug adeliger Herkunft ist, dass sie die Armuth besser ertragen lsst“.79 So beobachtete er mit kulturkritischer Sorge die „Abnahme der Anmuth“, „den Mangel an Feinheit“, die sich in einer „allgemeinen Verhßlichung“zeigten und im „wachsende[n] Sich-gehen-lassen“, Tendenzen, die einem „Zeitalter gemß [seien], das den Pçbel immer mehr zum Herrn macht“.80 In diese Sorge ist die Umkehrung dessen eingegraben, was sich fr ihn als hçfische Anmut buchstabiert. „,Fremd zu sein jeder Intrigue: fast ein Fehler an Hçfen. Was Frsten am wenigsten verzeihen: dass man in ihrem Dienste einige Mittel beobachtet ihrer Macht zu entschlpfen‘“.81 Fr Nietzsche stand außer Zweifel, dass jede 78 79 80 81
Nietzsche, Morgenrçthe, § 201, KSA 3, S. 175. Ebd., § 200, S. 174. Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, KSA 11, 38[21], S. 617. Nietzsche, Nachlaß 1880 – 1882, KSA 9, 6[34], S. 202.
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kulturelle Naivitt in Versailles zugrunde gegangen war. Sie gehçrte nicht mehr zu den kulturnotwendigen Voraussetzungen hçfischer Kultur. Im Gegenteil. Das raffiniert Intrigenhafte des Hoflebens, die hohe Kunst der Verstellung, die charmante, kalkulierte Unwahrheit, geschliffene Sophismen hinter vorgehaltner Hand, das Repertoire larmoyanter Gesten, die gekonnte und gewollte verletzende Hçflichkeit (alles in bestndiger Abwesenheit individueller Rckzugsmçglichkeiten, dem Fehlen einer privaten Sphre), verbunden mit dem selbsterhaltenden Hang zur superlativischen Eitelkeit, machte jenes Konglomerat von Eleganz und Mßiggang, Maskerade und Mode, Kostm und Kçrper, Genuss und uneingestandener Anstrengung aus, in dem der Hof sich im Einzelnen erkennen und spiegeln konnte. So wurde aus anderer Perspektive der Einzelne in seiner intriganten Eitelkeit zur Verkçrperung des Hofes: Nur „der Eitelste geht zu Hofe“.82 In und mit ihr konstituierte sich ein Manierismus des Verhaltens, der in seiner hçchsten Ausprgung nur dem franzçsischen Hof gelingen konnte. Nur er ließ seine Hçflinge jene Meisterschaft in der Eitelkeit und Intrige hervorbringen und Techniken entwickeln, die zu Instrumenten der Formalisierung der Selbstdarstellung wurden, mit denen der einzelne Angehçrige des Hofadels sich in die gnstigste Stellung zum Kçnig bringen konnte und zugleich die Konkurrenz in ihrer Stellung zum Herrscher beschdigen konnte: verbindlich lchelnd, mit Gesten und Blicken, die die eigene Position immer als die gnstigere herausstellten. Aber die eigene Position wurde ebenso angetastet von der Konkurrenz. Darum gehçrte die Kunst der subtilen Intrige zu den Bereichen der Verhaltensmechanismen, die die volle Anstrengung der Beteiligten erforderte. In der Intrige kein Meister zu sein, bedeutete Positions-, Einfluss- und Machtverlust. Nietzsche sah es darum als großen Vorzug an, dem Verhalten die Formen zu geben, mit denen sich der Erhalt, wenn nicht die Vergrçßerung der eigenen Macht durchsetzen ließ. Der Wertmaßstab des Hçflings lag wie der des Kçnigs im Grad der Herrschaft ber andere; war die des Kçnigs absolut, so bestimmte die des Hçflings sich an der zugelassenen Nhe zum Zentrum absolutistischer Macht. Darin lag ein Selbstbehauptungspotential, das am Hofe seine unbedingte Dignitt erhielt und sich weitgehend in der Selbstmanipulation und in der der anderen manifestierte. Ihre quasi Verbindlichkeit erzeugende Kraft war das individuelle Zugestndnis an die Normativitt des hçfischen Regelkanons. Die Motivation zur Intrige entsprang dem Willen zur Macht, dieser fand in ihr eine seiner hçfischen Entsprechungen. Nietzsches Sinn, aus den psychologischen Begrndungen 82 Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 422.
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auf die Ursachen des hçfischen Verhaltens zu schließen, gab seiner Beschreibung von lust- und listvollem Intrigantentum den Charakter kulturwissenschaftlicher Argumentation. Der sezierende Zugriff auf die hçfische Mentalitt, die ihm an der mentalen Disposition der Leidenschaften zum Thema wurde, legte den Kern einer Lebenstaktik frei, die darin bestand, mit scharfer Aufmerksamkeit das Handeln und Denken der anderen zu durchschauen, um es notfalls vereiteln zu kçnnen, um sich selbst mçglichst unangreifbar zu machen und den anderen immer um einige Schritte voraus zu sein. Dazu mssen eigene Leidenschaften kontrolliert werden, damit an ihnen weder die Demtigungsabsicht noch das eitle Interesse am eigenen Erfolg zu ahnen sind. Dass dies einer hohen Kunst entsprach, zeigt nach Nietzsche die niedergehende Fhigkeit dazu nach der Herrschaft des Sonnenkçnigs. Elias hat diese Verhaltensweisen unter die Selbstkontrolle subsumiert. Sie unterlagen ihrem Zwang und waren zudem integrierende Momente in die Gesellschaft des Hofes, Markzeichen sozialer Zugehçrigkeit. Ihre sthetisch-mimetische Bedeutung war nur eine Folgeerscheinung, fr Elias nicht von erstem Wert: Hçfische Menschen mssen verstehen, ihre Gesichtszge, ihre Worte, ihre Bewegungen genau auf die Menschen, denen sie jeweils begegnen, abzustimmen. Nicht nur die Interdependenzzwnge, die durch andere Menschen reprsentiert werden, sind am Hofe verhltnismßig unausweichlich, sondern auch die Zwnge, die man entsprechend diesem Typ der Interdependenzen auf sich selbst auszuben lernt […] Mag sein, daß im Leben der hçfischen Menschen die Nuancierung des Lchelns, die Gradierung der guten Manieren, die ganze komplizierte Ausfeilung des Verhaltens entsprechend dem Rang und Status der jeweiligen sozialen Partner ursprnglich den Charakter einer durch bewußte bung erlernten Maskierung hat. Aber das Vermçgen der selbstbewußten Formung, der bewußten Selbstformung entwickelt sich in Gesellschaften, deren spezifische Struktur eine verhltnismßig hohe, stabile und gleichmßige Maskierung momentaner, emotionaler Impulse als Mittel des gesellschaftlichen berlebens und Erfolges erforderlich macht, als integrale Eigentmlichkeit der Persçnlichkeitsstruktur. Wenn der Hçfling als Erwachsener in den Spiegel sieht, so findet er, daß das, was er vielleicht zunchst als bewußt angelegte Maskierung in sich entwickelt hat, ein Bestandstck seines eigenen Gesichtes geworden ist.83
83 Elias, Die hçfische Gesellschaft, S. 356.
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4.4. Sprache Hinsichtlich der Bedeutung der Sprache als Ausdruck von Hofgeschehen und dessen Artikulation stehen Nietzsche und Elias fast in einer Linie. Jedenfalls ging es beiden um ihre Funktion bei der Ausbildung wesentlicher Verhaltens- und Selbstdarstellungsstrategien. Wiederum aber schlagen die bekannten Differenzen zu Buche. Fr Nietzsche gab die Sprache des franzçsischen Hofes in erster Linie das Beispiel eines formvollendeten Stils, den er der deutschen Sprache frontal entgegenstellt. Der Klang der deutschen Sprache trug in seinem Ohr den Makel entweder des Plebejisch-Groben oder es war „Offizierdeutsch“,84 in beiden Fllen nicht in hçfischer Tradition, das heißt geschliffen an den Manieren der Feinheit und Raffinesse. Elias hat Gleiches beobachtet: Bis zum heutigen Tag hat die franzçsische Kultur und Zivilisation etwas von der Eleganz des Hofes bewahrt; man kann im Klangfluss der franzçsischen Sprache immer noch das Echo einer hçfischen Gesellschaft hçren. Wenn man sich etwa die Floskel am Schluß eines Briefes ansieht … je vous prie de croire, cher Mionsieur usw., whrend im Deutschen ein pedantisches, brokratisches ,Mit vorzglicher Hochachtung’ dasteht, und auch das ist inzwischen weggefallen. Dies beruhe darauf, dass in Deutschland nur der Adel die franzçsische Sprache und die vornehmen Sitten angenommen hatte, die Mittelklassen dagegen „nie, oder nur auf eine sehr eigentmliche Weise, Verhaltensmodelle vom Hof bernommen haben.“85 Daher die Grobheit der Sprache. Dass sich das Franzçsische zur Formvollendung ausbilden konnte, lag fr beide daran, dass es zu den Selbstdarstellungsstrategien gehçrte und es jedem Angehçrigen des Hofes Pflicht war, die Sprache zum Hçchsten zu entwickeln. Sie war das Medium des Selbstausdrucks, eine Handhabe gegen die Konkurrenz. Ihr formvollendeter Gebrauch zhlte zum Programm von Herrschaftswillen (Nietzsche) resp. von Figuration und Interdependenz (Elias). Die Sprache bedurfte ihres eleganten Stils, um der Gewçhnlichkeit bloßer Kommunikation enthoben zu sein. Im Stil treffen sich Verstndnis und Handhabung der Sprache als Energie, in der sich Machtstreben und Affektkontrolle widersprchlich bndeln. Ihre semantische Opakheit macht sie dabei zu einem singulren Akt in einer ungleichen Krftekonstellation zwischen den Ausdrucksmçglichkeiten individueller Eitelkeiten, zwischen kçrperlicher und verbaler Mimesis, die jedes emanzipatorische Moment ausschließt: um Maskerade und Pathos zu werden, die die List und 84 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 104, KSA 3, S. 461. 85 Elias, Norbert Elias ber sich selbst, S. 75.
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Intrige brauchen, um gefllig und anmutig daherzukommen. Mittels der Sprache erhalten sie ihren gltigsten und nachhaltigsten Ausdruck. In ihr konnte sich der Sprechende so darstellen, wie er sein wollte, wie er gesehen werden wollte, wie er glaubte zu sein oder wie er zu sein scheinen wollte. In ihr wurde er selbst zu der Maske, die er benutzen zu mssen glaubte. Die Sprache am Hofe war Mitteilungs-, Informations- und Meinungsbildungsmedium. Durch ihren Stil war die hierarchische Anpassung vorgegeben, ihre souverne Handhabung Teil des Konkurrenzkampfes. Ihre Qualitt maß sich am Sieg ber die Konkurrenten. Dem kunstvollen Geflecht ihrer Rhetorik war dabei eine Ver- und Enthllungspraxis zugedacht, den Vorteil der Glaubhaftigkeit dem Sprechenden zuzugestehen und sie zugleich auf gefllige Weise dem Gesprchspartner zu verweigern. Die List auf ihrem hçchsten Punkt. Ihr Reiz lag in der Verstndigungsarbeit und Verfhrungskunst mittels einer diffizil zu handhabenden Logik ihres Zeichensystems. Das ver- und aufdeckende Spiel (mit) der Sprache spornte die Lust an ihr an, machte sie zum Instrument der Herrschaftsausbung durch den Kçnig und Adel. Mit- und gegeneinander. Manchmal als zynischer Konformismus, der sich nicht um Wahrheit kmmerte, sondern darum, inwieweit sie fr den hçfischen Umgang richtig war. So sehr, dass der in ihr formulierte aristokratische Herrschaftsanspruch die feudale Ethik bestimmte und zum Mittelpunkt hçfischer Lebensklugheit wurde. Mittels Sprache sich zu behaupten und den oder die Gesprchspartner zu berlisten bedurfte der Schicklichkeit, des anmutigen Sprachgefechtes. Jede zu offensichtliche Herausstellung der eigenen Position galt als faux pas und wurde nicht geduldet. Es ging um feinsinniges Unterbieten, um ironisches Unterlaufen des Gesprchspartners, um die Nuance. Der Verfeinerung hçfischer Konkurrenz durch die Eleganz der Sprache geht die Eleganz der Gestik und Kleidermode parallel und macht die Beteiligten zu Spielern, die ihre Rolle im Rahmen der Etikette gut zu spielen wussten, mit der ganzen Wucht mimetischer aisthesis, die nur am Hofe sich ausbilden konnte. Nur in diesem Kontext verlor die Sprache ihre naive Natrlichkeit und wurde artifiziell: in einer Dimension, die, wie alles am Hofe, die Handschrift der sthetik getragen hat. Das Ideal einer eleganten Sprache war es denn auch, das ber den sinnlichen Eindruck hinaus den entscheidenden Impuls gegeben hat fr ihren Einsatz als Herrschaftstechnik. Auch fr Elias gehçrte die Ausbildung eines eleganten Sprachstils zu den notwendigen Prozessen innerhalb hçfischer Grundfigurationen. Auch er siedelte seine Wertschtzung vor dem Hintergrund von Selbstdarstellung,
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Abhngigkeitsstrukturen und Selbstzwngen an. „Wortgefechte“ anstelle von „Duellen mit Waffen“,86 die Sublimierung militanter Gewalt in scharfzngiger, formvollendeter Satzgestaltung statt der Genugtuung des Blutvergießens metaphernreicher Bilder. Weit wichtiger schien ihm aber, wie sehr die Hçflinge darauf bedacht sein mussten, im richtigen Augenblick die richtigen Worte einzusetzen. In den Gesprchen am Hofe sah er das neue Schlachtfeld um den Erfolg. So nutzte Elias Saint-Simons Bericht ber ein Gesprch mit dem Dauphin, auf die Strategien im Umgang mit der Sprache zu verweisen. Saint-Simons Beschreibung: „ich benutzte den gnstigsten Augenblick, um ihm zu sagen, dass, wenn er, der so groß und dessen Rang so gesichert sei, Grund habe, darber zu wachen, um wie viel mehr erst wir, denen man ihn so oft streitig mache und zuweilen sogar nhme“87 verriet viel von den Befindlichkeiten und Anstrengungen des Sprechenden: stets darauf bedacht sein zu mssen, den Kanon des Gesprches nicht nur nicht infrage zu stellen, sondern sich in ihm so zu bewegen, dass die eigene Position sinnfllig gemacht werden kann, ohne dies den Hçherstehenden als Affront empfinden zu lassen. Wo Nietzsche vorrangig von der Sprache selbst fasziniert war, faszinierte den Soziologen die Erklrbarkeit ihrer Form aus den Strukturen der Interdependenzen des Hofes, sah er darin den Grund ihrer Eleganz.
5. Das Ideal einer aristokratischen (nicht unbedingt hçfischen) Kultur stand seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur bei konservativen GeistesEliten hoch im Kurs. Nietzsches Sympathie fr alles Aristokratische bewegte sich im Strahlfeld einer intellektuellen Krisensituation, die als Folge eskalierender sozialer Bindungslosigkeit das Bildungsbrgertum nach kulturellen Wertmaßstben greifen ließ, von denen man glaubte, sie wrden der Kapitalisierung und massenkulturellen berformung der brgerlichen Kultur der Moderne eine bewahrende Alternative sein. Unter diesen Rahmen sind seine Sympathien fr Vornehmheit und Noblesse, Raffiniertheit und Feinheit hçfischen Verhaltens und Sprechens, Maskeraden und Intrigen zu stellen: als Versuche, zuknftiger Kultur problematische Parameter zu liefern.
86 Elias, Die hçfische Gesellschaft, S. 356. 87 Saint-Simon in seinen Mmoires, zit. nach: Elias, Die hçfische Gesellschaft, S. 303.
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Man muss allerdings vorsichtig sein, inwieweit Nietzsche von der Allgemeingltigkeit seiner Vorschlge berzeugt war. Schnell wird man darauf gestoßen, dass alles Historische fr ihn eine Folie war, auf der er Ereignisse narrativ imaginiert hat, deren tiefster Kern nicht in der Historie lag. Nimmt man hinzu, dass es ihm darum ging, den kulturellen Nçten der Menschen in der Moderne auf die Spur zu kommen, wird deutlich, das seine Idealisierung und Favorisierung der hçfischen Kultur des 17. Jahrhunderts als umfngliche Kulturkritik der Moderne angesehen werden muss. Vieles von dem, was Nietzsche zur hçfischen Kultur gesagt hat, kçnnte auch Elias gesagt haben. Weniges von dem, wie er es gesagt und wozu er es genutzt hat, htte Elias unterstrichen. Der Tenor schreibt sich bei Elias unbersehbar soziologisch aus. Er wollte Gesetzmßigkeiten aufspren, wodurch eine Gesellschaft existiert und sich ihre Kultur bestimmt. Fr Nietzsche standen hçfische kulturelle Verhaltensweisen in seiner Aufmerksamkeit. Elias ging es um das Beziehungsgefge, das sie notwendig bilden mussten, um das zu leben, was als ,Hof‘ zu bestimmen ist. Vielleicht ließe sich sagen: Fr Nietzsche lag das Besondere des Hofes in der besonderen Kultur seiner am Hofe lebenden Menschen; fr Elias lag das Allgemeine der wechselseitigen Abhngigkeiten von Hçflingen und Kçnig darin, dass sie zusammen den Hof bildeten, an dem als historischem Phnomen Strukturen gesellschaftlichen Zusammenlebens exemplarisch aufzuzeigen sind. Ohne Absicht einer kulturellen Vorbildkonstruktion fr die Zukunft und ohne das Verlustbewusstsein, das Nietzsche mit den Beobachtungen nachhçfischer Kultur verbunden hat.
A smouldering ember: Nietzsche and Elias on aristocratic and warrior ethics in the light of the American civilizing process Stephen Mennell Norbert Elias was influenced by Nietzsche in two ways: directly, by his own reading of Nietzsche, and – we should not forget – also indirectly through the impact of Freud, which is evident in his work from about the time of his years in Frankfurt. Here, I shall be concerned only with what is direct and obvious – that is, Elias’s references to Nietzsche, which always arise in connection with his discussion of Germany and Germans. And then I shall try to show how Nietzsche and German history are relevant to understanding what the United States has become today – an aggressive militaristic state.
1. Nietzsche in Elias Elias first cited Nietzsche in the opening chapter of ber den Prozeß der Zivilisation, when he was discussing the rivalry between the social models of Zivilisation and Kultur in eighteenth- and nineteenth-century Germany. He quotes aphorism 244 from Beyond Good and Evil, in which Nietzsche pokes fun at brgerliche notions of Kultur: The German loves “sincerity” and “uprightness”. How comforting it is to be sincere and upright. It is today perhaps the most dangerous and deceptive of all the disguises in which the German is expert, this confidential, obliging, German honesty that always shows its cards. The German lets himself go, looking the while with trustful blue empty German eyes – and foreigners immediately mistake him for his nightshirt.1
And later in part II of The Civilizing Process, without a specific citation Elias again alludes to Nietzsche in the context of his discussion of the contrasting ways in which the French and German languages were socially modelled: 1
Norbert Elias, The Civilizing Process, revised edition, Oxford 2000, p. 29.
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[T]hese two socially closely related entities, Chancellery and university, influenced speech less than writing; they formed the German written language not through conversation but through documents, letters and books. And if Nietzsche observes that even the German drinking song is erudite, or if he contrasted the elimination of specialist terms by the courtly Voltaire to the practice of the Germans, he saw very clearly the results of these different historical developments.2
The amused tone may perhaps prompt the speculation that the young Elias may have found Nietzsche’s writings attractive in the first place because of his strong hostility to anti-Semitism; although for some reason he covered up the fact late in his life, the young Elias had been an active Zionist.3 But there is no such ambiguity in Elias’s references to Nietzsche after the Second World War. In Studien ber die Deutschen – the essays which appear to have been written between the 1940 s and the 1980 s – Nietzsche is always invoked in connection with the warrior ethic that had brought disaster to Germany, to the Jews of Europe, and to Elias personally. A major thesis of Studien ber die Deutschen is that a warrior ethic associated initially with the East Elbian Junker nobility gradually infiltrated bourgeois circles in Germany, particularly after the success of Prussian arms in uniting Germany in the mid nineteenth century. The fighting fraternities in the universities were an important channel for the diffusion of the warrior ethic, and Elias writes: If one is looking for a clearly articulated version of the principles on which the training and social customs of the fighting fraternities were based, it can be found in the writings of a man of the Wilhelmine era – Friedrich Nietzsche, who, despite his occasional hatred of Germans, formulated some of the implicit articles of faith of the satisfaktionsfhige Gesellschaft of the Kaiserzeit better and more sharply than anyone else.4
Elias then quotes from The Anti-Christ: What is good? – Everything that heightens the feeling of power in man, the will to power, power itself. What is bad? – Everything that is born from weakness. What is happiness? – The feeling that power is growing, that resistance is overcome.5 2 3 4 5
Ebd., p. 95. Jçrg Hackeschmidt, Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias, Hamburg 1996. Elias, The Germans, Cambridge 1996, p. 115. Friedrich Nietzsche, The Anti-Christ, quoted from Walter Kauffmann (ed.), The Portable Nietzsche, New York 1954, p. 570.
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In his chapter on “Violence and Civilisation”, Elias invokes Nietzsche’s posthumously assembled book The Will to Power, and comments upon the unforeseen consequences that such writings could have: People whose knowledge is based on books tend to obscure the difference between reflections of higher generality on social usage set out in books and the relatively unreflected or less highly reflected usage itself. And Nietzsche was no exception. He barely took into account how deeply his praise of strength and the will to power was connected with then-contemporary events, and the practical conclusions which they suggested to thinking people.6
And in his short appendix “On the ethos of the Wilhelmine bourgeoisie”, Elias demonstrates how far military values and vocabulary, ideals of “discipline” and “honour”, and the emulation of a hard, tough, unemotional style showing a lack of human sympathy had penetrated even as far as the code governing the entrepreneur–worker relationship.7
2. Aristocracies in America Elias’s reflections on Nietzsche’s relevance to German history are also relevant to understanding the historical development of the USA, because, I want to argue, there are homologies between Germany and the USA. The conventional wisdom tends to draw comparisons between the USA and its original political parent, Britain. But there are some striking parallels between the USA and Germany, especially in Elias’s interpretation of German development. Unlike France or Britain, the USA never had a single national modelsetting class that succeeded in monopolising the moulding of manners and habitus. In that respect, it more resembles Germany. The relatively autonomous social elites of many American cities in the past offer a parallel to those of Germany before the Kaiserreich; Elias, it will be remembered, suggested that Satisfaktionsfhigkeit became a key criterion in integrating the regional elites with each other after 1870. The plutocracy that arose after the Civil War and today exercises overwhelming economic and political power is another highly significant elite in the USA. Perhaps we should also mention the significance of Hollywood, the media and the heroes and heroines of popular culture. All these have provided compet6 7
Elias, The Germans, p. 181. Ebd., pp. 204 – 5.
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ing and conflicting models in America, and perhaps to some extent they conflict within the habitus of individual Americans today. But I have argued that there is a more interesting parallel in America to the competing German ideals of Zivilisation and Kultur, associated with the aristocracy and the bourgeoisie.8 America never had a nobility, but it had in effect several competing aristocracies. In New England there took shape something like the German Bildungsbrgertum, an elite – or indeed aristocracy – of educated professionals and merchants. Massachusetts, with a passing footnote to Quaker Philadelphia, still looms too large in Europeans’ perception of what shaped American social character. There is a tendency to turn a blind eye to the South, where there took shape a rival formation that has more than a passing resemblance to the Junker class.9 Here I want to concentrate on the rivalry between the New England Bildungsbrgertum and the Southern Junkers. This is not a matter of the remote history of antebellum America, but of currents flowing to the present day. In our perceptions of America past and present, the New England model plays too large a part and its rival from the South far too little – something that is of great importance given the massive shift in the power ratio in favour of the South since about 1970. To the New England educated middle class, and to the pressures of commercial and professional life, can be attributed to a certain extent the egalitarian strain in American habitus, not showing open disdain towards their fellow citizens, even if they were inwardly confident of their superior education, understanding and feeling. Visiting the USA in the 1830 s, not long after Tocqueville, Harriet Martineau commented upon the great cautiousness that was entrenched early and deeply in Northern people;10 she described as “fear of opinion” something very similar to what Elias termed the habitual “checking of behaviour” in anticipation of what others would think.11 She thought she could distinguish Northern from Southern members of Congress simply by the way they walked: 8 Stephen Mennell, The American Civilizing Process, Cambridge 2007, pp. 85 – 100. 9 The parallel was suggested by Shearer Davis Bowman; see his ,Antebellum Planters and Vormrz Junkers in Comparative Perspective‘, in: American Historical Review, 85/4 (1980), pp. 779 808, and Masters and Lords – Mid-Nineteenth Century United States Planters and Prussian Junkers, New York 1993. 10 Harriet Martineau, Society in America, 3 volumes, London 1837, vol. III, p. 10. 11 Elias, The Civilizing Process, p. 70.
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It is in Washington that varieties of manners are conspicuous. There the Southerners appear at most advantage, and the New Englanders to the least; the ease and frank courtesy of the gentry of the South (with an occasional touch of arrogance, however), contrasting with the cautious, somewhat gauche, and too deferential air of the members from the North. One fancies one can tell a New England member in the open air by his deprecatory walk. He seems to bear in mind perpetually that he cannot fight a duel, while other people can.12
In a number of respects the planters shared social traits with the aristocracies of ancien rgime Europe. For a start, plantations and slavery were linked to disdain for manual labour – in strong contrast to the North. Indeed, the antebellum South was some distance – geographically, economically and socially – towards South America and its hacienda system.13 Another respect in which some at least of the quasi-aristocrats of the South were closer than most Northerners to the courtly attitudes of the ancien rgime was in how they viewed expenditure. Many of them pursued a costly lifestyle that to northern eyes appeared extravagant, even reckless, to the point of “irrationality”. This is reminiscent of French courtiers, who spent according to the demands of their rank rather than to their income, often financially ruining themselves in the process. Elias pointed out that expenditure on consumption of many kinds was a necessary expression of the seigneurial ethos of rank. He argued that the conspicuous consumption of court society represented a specific form of rationality under a specific form of social compulsion, a “court-rationality” very different from bourgeois or “economic” rationality. Both require rational foresight and calculation. Both therefore require restraint of short-term affects for the sake of certain vital interests. But what is being calculated and made calculable is very different: Bourgeois-industrial rationality is generated by the compulsion of the economic mesh; by it power opportunities founded on private or public capital are made calculable. Court rationality is generated by the compulsion of the elite social mesh; by it people and prestige are made calculable as instruments of power. 14
Traces of a similar court-rationality can be seen for instance in Thomas Jefferson’s mounting debt, resulting in the forced sale of Monticello 12 Martineau, Society in America, vol. I, p. 145. 13 Darcy Ribeiro, The Americas and Civilization, London 1971, p. 350. 14 Elias, The Court Society, Dublin 2006 [=Collected Works, vol. 2], p. 121; my italics.
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upon his death. Or in the following extract from the diary of Mary Chesnut, dated 11 March 1861 in Charleston, just immediately before guns firing on Fort Sumter in the harbour signalled the beginning of the Civil War: Mr Ledyard thought the twenty thousand (and little enough it is) was given to the President of these United States to enable him to maintain an establishment of such dignity as befits the head of a great nation. It is an infamy to economise with the public money and to put it into one’s private purse. Mrs Browne was walking with me when we were airing our indignation against Mrs Lincoln and her shabby economy.15
While this trait is reminiscent of the French courtiers described by Elias, in other respects the antebellum planters of the South may be more fruitfully compared with the Junker class. The aristocratic noble and nonnoble landowners of eastern Prussia did not own slaves, but until 1807 their lands were worked by serfs “subject to the personal, nearly despotic, authority of the owner”.16 In both cases, Prussia east of the Elbe and the Old South, the dominance of the landowning class depended ultimately on their capacity to use violence in its defence. Both the slave owners and the Junkers enjoyed the benefits of the Privatrechtsstaat (“private law state”) their right to adjudicate and enforce their judgements in their own domains which, although it implied some limitation of the national state’s monopoly of the legitimate use of the means of violence, in the end rested on the confident expectation that the forces of the state would uphold landowners’ rights.17 In both cases, the landowning class was also the military class. The Junkers provided the Prussian officer corps and also, though less exclusively, the backbone of its administrative corps. In a similar way, before the Civil War, most of America’s Presidents and a disproportionate number of Justices of the Supreme Court came from the South; planters and their sons typically served in the state militias, and provided a large part of the (admittedly small) federal army. Visiting the US Military Academy in 1861, Anthony Trollope was told that before the Civil War “no officer or board of officers then at West Point
15 Mary Boykin Chesnut, A Diary from Dixie, Gloucester/ MA 1961 [1905], p. 18. 16 Bowman, Antebellum planters, p. 782. 17 Bowman contrasts the persistence of the ,private law state‘ with the growth in Britain since about the seventeenth century of first civil, then political, and finally social rights of ,citizenship‘ applicable equally to all (on which, see T. H. Marshall, Citizenship and Social Class, Cambridge 1950).
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was able to dismiss a lad whose father was a Southerner, and who had friends among the Government”.18 The “warrior ethic” was a strong element in the habitus of the planter aristocracy. Again, Mrs Chesnut’s diary is illuminating. Writing on 5 December 1864, as the Civil War neared its end, she first remembered Stonewall Jackson, the Confederate general who had died the previous year of injuries received at the battle of Chancellorsville: He classed all who were weak and weary, who fainted by the wayside, as men wanting in patriotism. […] He was the true type of all great soldiers. Like the successful warriors of the world, he did not value human life where he had an object to accomplish. He could order men to their death as a matter of course. His soldiers obeyed him to the death.
She then recounts a conversation with her own husband, formerly a US Senator, then an aide to Confederate President Jefferson Davis and a brigadier-general in the rebel army: My husband, as I told him today, could see me and everything he loved hanged, drawn and quartered without moving a muscle, if a crowd were looking on; he could have the same gentle operation performed on himself and make no sign. To all of which violent insinuation he answered in unmoved tones: “So would any civilised man. Savages, however Indians, at least are more dignified in that particular than we are. Noisy, fidgety grief never moves me at all; it annoys me. Self-control is what we all need. You are a miracle of sensibility; self-control is what you need.” “So you are civilised!”, I said. “Some day I mean to be”.19
The extreme self-control of the Indian warriors under torture also fascinated Elias.20 But, more to the present point, the emotional style that Mary Chesnut describes is very close to that which Elias describes as dominant in Germany under the Kaiserreich. In The Germans, Elias argued that, in the specific circumstances of Germany in the nineteenth century, a form of the “warrior code” of behaviour and feeling not only persisted among the Junkers and higher aristocracy, but also took hold among the higher middle class civil servants, lawyers and other professionals, and even permeated relations between employers and workers. A stable hierarchy of dominance and subordination anchored an autocratic form of rule in the very habitus of individual people. It was expressed in a hard, highly self-constrained, rigidly unemotional style: 18 Anthony Trollope, North America, London 1968 [1862], p. 105. 19 Chesnut, Diary from Dixie, pp. 262 – 3. 20 Elias, An Essay on Time, Dublin 2007 [Collected Works, vol. 9], pp. 129 – 31.
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[I]n order in life to be man, one had to be tough. As soon as one showed any weakness, one was lost. Therefore it was a good thing to display one’s strength. Anyone who showed weakness deserved to be expelled; anyone who was vulnerable deserved to have salt rubbed into his wounds […].21
The similarity to the qualities Mary Chesnut observed in her husband and other Southern gentlemen is striking. The style was an essential badge of membership of a dominant stratum. In Germany, another essential badge of membership consisted in being deemed worthy to give satisfaction in a duel, a qualification that by the nineteenth century upper middle class men principally gained at university, along with a degree, through membership of one of the fighting fraternities: the duel was characteristic of a socially strategic type of behaviour which was widespread in the less pacified societies of earlier times, and now, hemmed around with formalized ritual, still remained alive in later, more strongly pacified societies, even though it breached the central ruler’s and the state’s monopoly of violence. It raised above the masses those who belonged to certain social strata; in the first place the nobles and officer corps, and then the fighting fraternities of middle-class students and their Old Boys – in short, the stratum of those entitled to demand satisfaction. Through it, they submitted to the constraint of a special norm which made the formalized use of violence, possibly with lethal consequences, a duty for individual people under certain circumstances. In this form was preserved the typical social strategy of warrior castes: a scale of values in which physical strength, skill and readiness personally to do battle were ranked particularly high, if not highest of all. Alternative, more peaceful forms of competition and social strategy, especially the art of verbal debate through argument and persuasion, were accordingly regarded as of lesser value or virtually contemptible.22
Although the social hierarchy of the Old South was a great deal more open and fluid than that of Prussia, the persistence of duelling there was something that marked it out for visitors as quite different from the North. Harriet Martineau noted that in 1834 more duels were fought in New Orleans than there are days in the year, almost all of them for what from her point of view were frivolous reasons.23 Sir Charles Lyell, visiting the city in 1846, recorded that: Over the grave of one recently killed in a duel was a tablet, with the inscription “Mort, victime de l’honneur!” Should any one propose to set up a similar tribute to the memory of a duellist at Mount Auburn, near Boston, 21 Elias, The Germans, p. 112. 22 Ebd., p. 65. 23 Martineau, Society in America, vol. III, p. 56.
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a sensation would be created, which would manifest how widely different is the state of public opinion in New England from that in the “First Municipality”.24
Duelling, for Martineau, betokened a “recklessness of life which is not confined to the semi-barbarous parts of the country.”25 But although it was not unknown in the North, it was never so prevalent, and it more or less died out after Alexander Hamilton’s death at the hands of Aaron Burr.26 The Ohioan Ulysses S. Grant expressed what was probably the attitude even of fighting men from the North: If any man should wrong me to the extent of my being willing to kill him, I would not be willing to give him the choice of weapons with which it should be done, and of the time, place and distance separating us, when I executed him. If I should do another such a wrong as to justify him in killing me, I would make any reasonable atonement within my power, if convinced of the wrong done. I place my opposition to duelling on higher grounds than any here stated. No doubt the majority of duels fought have been for want of moral courage on the part of those engaged to decline.27
The motives of individuals for duelling in the antebellum South as in nineteenth-century Germany, and as it had been in many countries at an earlier stage of development could, however, only be understood as part of a complex social code of “honour”.28 In his classic book Southern Honor: Ethics and Behaviour in the Old South, Bertram Wyatt-Brown shows how “honour” is both internal and external to individual men: [H]onour is reputation. Honour resides in the individual as his understanding of who he is and where he belongs in the ordered ranks of society. […] The internal and external aspects of honour are inalienably connected because honour serves as ethical mediator between the individual and the community by which he is assessed and in which he must also locate himself in relation to others.29
Wyatt-Brown captures the idea that a code of honour includes both an external and an internal component. A better way still of expressing 24 25 26 27 28
Allan Nevins (ed.), America through British Eyes, New York 1948, p. 239. Martineau, Society in America, vol. III, p. 55 Roger Lane, Murder in America: A History, Columbus/ OH 1997, p. 84. Ulysses S. Grant, Personal Memoirs of U.S. Grant, New York 1994 [1885], p. 40. The fullest account of duelling and the code of honour in America is William Oliver Stevens, Pistols at Ten Paces: The Story of the Code of Honour in America, Boston 1940. 29 Bertram Wyatt-Brown, Southern Honor: Ethics and Behavior in the Old South, New York 1982, p. 14.
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the distinction is Elias’s idea of the differences, and changes over time, in the balance between external constraints (Fremdzwnge) and self-constraints (Selbstzwnge) in the steering of individual people’s conduct – that is the kernel of the idea of a civilising process, and it means that in a technical sense the code of honour dominant in the South was “less civilised” than the code of “dignity” prevalent in the North. The New England “man of dignity” would very likely take a quarrel to court rather than fight a duel; but the propensity to litigation through the legal apparatus of the state is a function not only not mainly, indeed of culturally conditioned individual dispositions, but also of the degree of internal pacification and the effectiveness of the state monopoly of the legitimate use of violence in a given territory. In the antebellum South, upper class duelling over issues of “honour” stood at the apex of a pyramid of violence, and served to legitimate less refined forms; widespread violence against blacks for instance was another symptom of the weakness of the state monopoly.30 The gentlemanly duel of the South was gradually ,democratised‘ – it became everyone’s privilege – in the form of the ,walkdown‘ gunfight of the West, classically depicted in Wister’s novel The Virginian,31 and in countless ,cowboy‘ films such as Fred Zinneman’s High Noon in 1952. And then, in the twentieth century, it became a component in the powerful current of romanticism known as the myth of the frontier.32 Its power was possibly felt especially in the constrained and disciplined industrial cities that were most remote in experience from the actual frontier, and it may have something in common with the appeal in the nineteenth century of the medieval romanticism seen in the music-dramas of Nietzsche’s friend Richard Wagner.
30 Dick Steward, Duels and the Roots of Violence in Missouri, Columbia/ MO 2002. Steward argues, furthermore, that although duelling largely died out at the end of Reconstruction, the idea of people killing each other over matters of reputation has persisted. 31 Owen Wister, The Virginian, Oxford 1998 [1902]. 32 See especially Richard Slotkin’s trilogy: Regeneration through Violence: The Mythology of the American Frontier, 1600 1860, New York 1973; The Fatal Environment: The Myth of the Frontier in the Age of Industrialization, New York 1985; and Gunfighter Nation: The Myth of the Frontier in Twentieth-Century America, New York 1992.
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3. The Problem of Violence in America A discussion of the “warrior ethic” in the antebellum South may seem remote from present-day concerns, but it can be shown to have cast a long cultural shadow down the centuries. It appears still to be relevant to the complex question of why the USA still has much higher rates of violence – of homicide, at least – than comparable countries. They are highest in the South and those parts of the West that were settled from the South.33 The tradition of “taking the law into one’s own hands” remained strong. In many southern States, it was for a long time actually legal for a man to kill his wife’s lover.34 (In the 1920 s, Georgia struck an early blow for women’s liberation by also making it legal for a woman to kill her husband’s lover.) Lynching, mainly of African American men, declined after the 1920 s, but did not die out until the 1960 s. Steven Messner and his colleagues have recently demonstrated that, county-by-county, murder rates today are highest where lynching was most common in the past.35 It is also significant that by far the greatest use of the death penalty occurs in those states and counties where vigilante activity and lynchings were most common in the past, and a very disproportionate fraction of those executed are African Americans.36 All this suggests a long-term, intergenerationally-transmitted legacy.
4. Conclusion: Nietzsche, Elias and the Superpower Rogue State How does all this relate to the bigger picture of America’s role in the world today? There is a tendency – especially among Americans, but also among those who have fallen under American intellectual hegemony – to think about the United States as if it were an emanation of the human 33 Lane, Murder in America, p. 350. 34 Peter N. Stearns, Jealousy: The Evolution of an Emotion in American History, New York 1989, pp. 154 – 7. 35 Steven F. Messner, Robert D. Baller, and Matthew P. Zevenbergen, The Legacy of Lynching and Southern Homicide, American Sociological Review, 70/4 (2005), pp. 633 655. 36 Richard Maxwell Brown, Strain of Violence: Historical Studies of American Violence and Vigilantism, New York 1975; Franklin E. Zimring, The Contradictions of American Capital Punishment, Oxford 2003.
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spirit, as if its existence and its constitutional arrangements were a bloodless product of the Enlightenment, John Locke, the genius of the Founding Fathers, and the pure democratic spirit of “No taxation without representation!” In fact, the formation of the territorial unit that we now know as the USA was a bloody business, not at all dissimilar to the formation of states in Western Europe. It was a violent “elimination contest”.37 It is a mistake to see the process as driven by a “warrior ethic” or “aggression”, as if the personality traits of individual warriors were the determining force. That would be to fall into the same trap of one-sided cultural explanation as the “pure Enlightenment” account of the USA’s origins. In an age when the control of land was the principal basis of power – as it remained to a considerable extent in North America throughout the nineteenth century, war and “aggression” had a survival value. In fact Elias hit the nail upon the head when he drew a humorous comparison between medieval Europe and the nineteenth-century USA: “To some extent the same is true of the French kings and their representatives as was once said of the American pioneer: ,He didn’t want all the land; he just wanted the land next to his‘”.38 One difference between the two continents is that in North America the struggle for territory after the beginnings of European settlement was initially driven exogenously by conflicts between the great powers back in Europe, as much as by rivalries endogenous to America. In the early stages, the process somewhat resembled the struggle for territory in nineteenth-century Africa. Most of the early wars there were branches of contemporaneous wars in Europe, whether the Anglo-Dutch wars, the War of the Spanish Succession, the Seven Years War or whatever. Through these contests, first the Swedish colonies and then the Dutch were eliminated, and later French and Spanish power was broken. The various Indian tribes were also involved in these struggles as allies of the European powers, and were simultaneously engaged in an elimination contest among themselves. Gradually, however, the struggles came to be shaped much more by endogenous forces, and especially the logic of wanting “the land next to his”. Thus it was no accident that the completion of the process of westward expansion in the 1890 s led smoothly into the 37 Elias, The Civilizing Process, pp. 263 – 78. For a fuller discussion of state formation processes in North America, see Mennell, American Civilizing Process, pp. 158 – 213. 38 Elias, The Civilizing Process, p. 312.
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acquisition of the USA’s “first empire” – including the Philippines, Hawaii, Puerto Rico and, for a time, Cuba.39 Yet there is another side to the coin. Historically, the USA always had what was in international terms a low “military participation ratio”40 – in other words, it normally had a very small army in relation to its population.41 After each war – in the War of 1812, the Mexican war, the Civil War, the war with Spain, the First World War – its military establishment fell back to very low peacetime levels. But, for the first time, that did not happen after the Second World War. By 1961, in his famous farewell address to the nation, President Eisenhower warned his fellow Americans against what he christened “the military–industrial complex”. His warning was not heeded. In effect, America has, ever since the Second World War, fought a series of “splendid little wars”42 that have had the latent function of keeping its economy going and feeding the congressional pork-barrel process. By the early twenty-first, what I have called the “Dubya Addendum”,43 propounded in the 2002 National Security Strategy of the United States, declared that the USA had the right to intervene against its opponents anywhere in the globe, and came very close to claiming for the American government a monopoly of the legitimate use of force throughout the world. In other words, in terms of Max Weber’s definition of a state, the regime of the second President Bush came close to declaring the USA a world state. America’s military expenditure is now as large as that of all the other countries in the world combined. It has in effect garrisoned the planet, dividing the entire globe into US military commands. It now has military bases in two-thirds of the countries of the world, including much of the former Soviet Union.44 In some 39 Warren Zimmerman, First Great Triumph: How five great Americans made their country a world power, New York 2002. 40 Stanislav Andreski, Military Organization and Society, London 1968 [1954]. 41 See Mennell, American Civilizing Process, pp. 240 – 244. 42 The phrase “splendid little war” was used by John Hay (subsequently US Secretary of State) to describe the Spanish-American War of 1898. In a letter to his friend Theodore Roosevelt, he wrote, “It has been a splendid little war; begun with the highest motives, carried on with magnificent intelligence and spirit, favoured by the fortune which loves the brave. It is now to be concluded, I hope, with that firm good nature which is after all the distinguishing trait of our American character.” (Quoted from Hugh Thomas, Cuba, or the Pursuit of Freedom, London 1971, p. 404). 43 Mennell, American Civilizing Process, pp. 211 – 12. 44 In 2004, it had bases in 130 out of 194 countries; see Chalmers Johnson, The Sorrows of Empire: Militarism, Secrecy, and the End of the Republic, London 2004.
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ways, indeed, the USA does now act as a world government.45 It claims extra-territorial jurisdiction for its own laws in many fields, while itself refusing to be bound by the corpus of international law that most other countries accept. In conclusion, I do not of course wish to argue that all this is the direct result of a Nietzschean warrior ethic transmitted through the generations from the antebellum South. Nevertheless, an appropriate analogy may be that it left a smouldering ember in American culture that has threatened to ignite from time to time over the last century, and finally did so under the Presidency of the second George Bush. Events in the international arena did not relight the fire on their own. At least as important was the tilting of the balance of political power within the USA in favour of the South since about 1970 – some have gone so far as to describe it as reversing the outcome of the Civil War – in conjunction with the vast expansion of US military forces above the peacetime levels that were traditional prior to 1945. It has been suggested that the flat, deadpan, unemotional style of speaking affected by US military spokesmen has its origins in the South. Perhaps we have seen the resurgence of something like a warrior ethic. But I would argue all this is to be seen in a broader historical context: the central experience shaping American habitus almost since the first European settlements in the seventeenth century is that of becoming steadily more and more powerful vis- -vis their neighbours. Their neighbours now include the whole world. And the power position of the USA in the world has enabled it in certain respects to continue to live in the 1890s. There have always been a great many Americans – it goes without saying – who opposed these trends in their country’s culture and politics. The Presidential election of 2008 may prove to be a turning point, a realigning moment at which America turns away from its Nietzschean current. On the other hand, Elias’s emphasis on the “compelling forces” exerted over individuals by the long-term processes in which they are caught up may suggest that a change of personnel is not on its own enough to change the direction of history.
45 Michael Mandelbaum, The Case for Goliath: How America acts as the World’s Government in the Twenty-First Century, New York 2006.
III. Anthropologie der Gewalt
Anthropologien der Gewalt bei Norbert Elias und Friedrich Nietzsche Christian J. Emden 1. Gewalt und Ordnung An einer Straßenkreuzung in Monrovia ersetzt der abgeschlagene Kopf eines Mannes die Verkehrsampel. Der kopflose Leichnam selbst sitzt auf einem Brostuhl an der Straßenseite. Zudem sind die Eingeweide des Mannes ber die Straße gespannt und blockieren die Weiterfahrt. Der afrikanische Brgerkrieg, der in der Mitte der 1990er Jahre fast die gesamte Mitte des Kontinents einnimmt, so weiß Hans Christoph Buch aus Liberia zu berichten, kehrt im wçrtlichsten Sinne das Innere des menschlichen Kçrpers nach außen.1 Der gesellschaftliche Zusammenbruch geht einher mit einer Entgrenzung der Gewalt, die eine eigentmliche Dynamik besitzt: Der menschliche Kçrper wird nicht nur angegriffen und verletzt, sondern auch oftmals in seine Teile zerlegt.2 Die Zerstckelung des gesellschaftlichen Kçrpers verluft parallel zur Zerstckelung des menschlichen Kçrpers. Mçgen die konventionellen Kriege der Moderne einiges an Grausamkeit zu bieten haben, so tendiert der Brgerkrieg stets zu einem Gemetzel, das sich jeder institutionellen Kontrolle zu entziehen scheint. Der Ursprung dieser Gewalt, so mag man diesen Gedanken fortfhren, liegt vor allem in einem Verlust von Kontrollmechanismen, d. h. in einem Verlust jenes Monopols der physischen Gewalt, das Max Weber in seiner berhmten Vorlesung „Politik als Beruf“ (1919) kurz nach dem Ersten Weltkrieg als grundstzliches Kennzeichen des modernen Staates hervorgehoben hat.3 Zwanzig 1 2 3
Vgl. Hans Christoph Buch, Blut im Schuh. Schlchter und Voyeure an den Fronten des Weltbrgerkriegs, Frankfurt a. M. 2001, S. 117. Vgl. Herfried Mnkler, The New Wars, bers. von Patrick Camiller, Cambridge 2005, S. 86 f. Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, in: ders., Gesammelte Politische Schriften, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tbingen 51988, S. 505 – 560, hier S. 505 f. Zur Erklrung der Gewalt als Verlust vor allem institutioneller Kontrollmechanismen vgl. Wilhelm Heitmeyer, Kontrollverlust: Zur Zukunft der Gewalt, in: ders./ Hans-
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Jahre spter, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, betont auch Norbert Elias die Monopolisierung der Gewalt als Voraussetzung fr die befriedeten sozialen Rume der Moderne: Die Monopolisierung der kçrperlichen Gewalt, die Konzentrierung der Waffen und der Bewaffneten in einer Hand macht die Gewaltausbung mehr oder weniger berechenbar und zwingt die waffenlosen Menschen in den befriedeten Rumen zu einer Zurckhaltung durch die eigene Voraussicht oder berlegung; sie zwingt diese Menschen mit einem Wort in geringerem oder hçherem Maße zur Selbstbeherrschung.4
Solche Selbstbeherrschung, die fr Elias nur mçglich ist durch den gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang,5 scheint Mitte der 1990er Jahre auf den Straßen Monrovias kaum mehr anzutreffen zu sein. Bedeutet dies jedoch, dass Gewalt in einem Gegensatz zu gesellschaftlicher Ordnung steht? Zumindest seit Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklrung (1944) ist der Zusammenhang von Gewalt und Moderne ein theoretischer Gemeinplatz der Kultur- und Sozialwissenschaften.6 Technische Rationalitt und epistemologische Finesse beugen kaum der Gewalt vor. Vielmehr erzeugt die hochdifferenzierte Ordnung moderner Gesellschaften – weit entfernt von der Straßenecke in Monrovia – anonyme Strukturen der Klassifikation, die nicht nur von einer Logik der Exklusion geprgt sind, sondern denen gerade hierdurch stets ein Gewaltpotential innewohnt. Der Ausschluss und die berwachung dessen, was bestehenden Ordnungsformen widerspricht, gewinnt in der Moderne eine neue Qualitt, die – wie Michel Foucault gezeigt hat – durch bestimmte Disziplinen des Wissens wie Medizin und Jurisprudenz abgesichert ist.7 Die Entstehung normativer Ordnung durch gesellschaftliche Klassifikation neigt dazu, das Andere nicht nur auszuschließen, sondern in letzter Konsequenz in seiner Existenz anzugreifen.8
4 5 6
7 8
Georg Soeffner (Hrsg.), Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme, Frankfurt a. M. 2004, S. 86 – 103, hier S. 88. Norbert Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, Frankfurt a. M. 1976, S. 326. Vgl. ebd., S. 312 – 336. Vgl. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklrung. Philosophische Fragmente, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, hrsg. von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a. M. 1985 – 1997, Bd. V, S. 25 – 66. Vgl. Michel Foucault, berwachen und Strafen. Die Geburt des Gefngnisses, bers. von Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1994. Vgl. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, bers. von Martin Suhr, Hamburg 1995, S. 29 f.
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Die These eines engen Zusammenhangs von Zivilisation und Gewalt, die sich durch Elias’ monumentales Werk ber den Prozeß der Zivilisation (1939) zieht, wird auch in der gegenwrtigen Gewaltforschung kaum in Zweifel gezogen.9 Gerade vor dem Hintergrund der politischen Situation der 1990er Jahre, die nicht nur vom Ende des Kalten Krieges, sondern auch von den gesellschaftlichen Zusammenbrchen auf dem Balkan und in Zentralafrika geprgt waren, ist es kaum erstaunlich, dass die Frage nach den historischen Erscheinungsformen und sozialen Funktionen von Gewalt erneute Aufmerksamkeit gefunden hat.10 Bei Elias hat der Zusammenhang von Gewalt und Ordnung allerdings eine Pointe, die zumindest in der jngsten Zeit eher als fragwrdig betrachtet wird: Die Dynamik mittelalterlicher und frhneuzeitlicher Zivilisationsprozesse fhrt zu einer zunehmenden Kontrolle der Gewalt und damit auch zu einer geschichtsphilosophisch motivierten Hoffnung auf mçgliche Gewaltberwindung. Elias’ These von der prinzipiellen Mçglichkeit der Kontrolle von Gewalt setzt in gewisser Hinsicht das Programm einer bestimmten Tradition der politischen Philosophie fort, die ihren prgnantesten Ausdruck in Immanuel Kants Zum ewigen Frieden (1795) findet. Dieser Tradition steht allerdings auch eine Theorie der Macht gegenber, die von Niccol Machiavellis Il Principe (1532) und Thomas Hobbes’ Leviathan (1651) bis zu Friedrich Nietzsches Zur Genealogie der Moral (1887) und darber hinaus gerade die Unhintergehbarkeit der Gewalt als einer anthropologischen Konstante betont. Wenn Macht, wie bereits Hobbes in seinem oft missbrauchten Satz auctoritas non veritas facit legem betont, als universales Element der Vergesellschaftung aufzufassen ist und Normen erst durch Macht erzeugt werden und Verbindlichkeit erhalten, so schließt dies auch die Gewalt ein, sowohl im Sinne einer Machthandlung als auch eines Ausdrucks von Macht.11 Wenngleich die Ausbung von Gewalt prima facie oft sinnlos erscheinen 9 Vgl. Peter Imbusch, Moderne und postmoderne Perspektiven der Gewalt, in: Sighard Neckel/ Michael Schwab-Trapp (Hrsg.), Ordnungen der Gewalt. Beitrge zu einer politischen Soziologie der Gewalt und des Krieges, Opladen 1999, S. 147 – 160. 10 Vgl. die Beitrge in Rolf-Peter Sieferle/ Helga Breuninger (Hrsg.), Kulturen der Gewalt: Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte, Frankfurt a. M. 1998; Michael Wimmer/ Christoph Wulf/ Bernhard Dieckmann (Hrsg.), Das zivilisierte Tier. Zur historischen Anthropologie der Gewalt, Frankfurt a. M. 1996 sowie Thomas Lindenberger/ Alf Ldtke (Hrsg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1995. 11 Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, with Selected Variants from the Latin Edition of 1668, hrsg. von Edwin Curley, Indianapolis, Ind. 1994, Kap. XXVI, und Heinrich Popitz, Phnomene der Macht, Tbingen 21992, S. 21.
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mag, so ist sie dennoch gebunden an eine „Form sozialer Ordnung.“12 Die jeweiligen Ausdrucksformen von Gewalt wie auch die mit ihnen verbundene Begrifflichkeit mçgen historisch kontingent sein, wie sich am Beispiel des politischen Denkens ber den Krieg unschwer zeigen lsst.13 Gewalt selbst tritt jedoch als eine anthropologische Konstante auf, die die noch immer weitverbreitete Annahme von der Gewalt als Ausnahme und der Gewaltfreiheit bzw. Gewaltkontrolle als gesellschaftliche Regel mehr als fragwrdig erscheinen lsst.14 Wenn Nietzsche wiederholt darauf hinweist, dass erst durch „Blut, Martern und Opfer“ die Langlebigkeit und Verbindlichkeit moralischer Wertvorstellungen gewhrleistet werden kann, so verdeutlicht dies nicht nur den Zusammenhang von Gewalt und kultureller Ordnung, sondern macht die Entstehung wie auch die langfristige Gltigkeit normativer Vorstellungen direkt abhngig von Gewalt.15 Zudem ist Gewalt bei Nietzsche stets auf den Kçrper bezogen, d. h. sie bezieht sich auf eine Verletzung des menschlichen Kçrpers oder auf dessen direkte Bedrohung. Zielt Elias’ Beschreibung des Zivilisationsprozesses – zumindest in seiner Darstellung aus den 1930er Jahren – mit anderen Worten auf eine Kontrolle der Gewalt, so schlgt Nietzsche im Rahmen seines genealogischen Unternehmens der 1880er Jahre vor, dass auch die Kontrolle konkreter Gewalt stets ein Ausdruck von Gewalt bleibt – allerdings nicht nur im Sinne eines gesellschaftlichen Gewaltmonopols, sondern im Sinne einer evolutionren Unhintergehbarkeit von Grausamkeit. Darum wird es im Folgenden gehen. Elias’ Zivilisationsprozess, so wird zu sehen sein, mndet in eine teleologische Erzhlung, an deren Ende die globale Erweiterung befriedeter sozialer Rume steht und die so Kants Hoffnung auf die Bewusstwerdung der Vernunft im Politischen letztlich bloß ersetzt durch einen psychologischen Zwang zum Selbstzwang. Im Gegensatz hierzu unterluft Nietzsches Naturgeschichte der Gewalt gerade diese Hoffnung auf eine mçgliche berwindung der Gewalt: als anthropologische Konstante kann Gewalt nicht Teil einer teleologisch orientierten Geschichte der Gewaltberwindung sein. 12 Trutz von Trotha, Zur Soziologie der Gewalt, in: ders. (Hrsg.), Soziologie der Gewalt, Opladen 1997, S. 9 – 56, hier S. 20. 13 Vgl. Herfried Mnkler, Gewalt und Ordnung. Das Bild des Krieges im politischen Denken, Frankfurt a. M. 1992, S. 11 – 53. 14 Vgl. Birgitta Nedelmann, Gewaltsoziologie am Scheideweg: Die Auseinandersetzungen in der gegenwrtigen und Wege der zuknftigen Gewaltforschung, in: Trotha, Soziologie der Gewalt, S. 59 – 85, hier S. 64, sowie Heinrich Popitz, Phnomene der Macht, Tbingen 1999, S. 57. 15 Vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 3, KSA 5, S. 295.
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Elias und Kant auf der einen Seite sowie Hobbes und Nietzsche auf der anderen markieren so die Eckpunkte einer Diskussion, die auch in der jngsten Zeit noch einmal die Frage nach dem Zusammenhang von Gewalt und kultureller Ordnung gestellt hat. Gerade Elias’ Annahme eines Zivilisationsprozesses ist in diesem Kontext in deutliche Kritik geraten.16 Aus der Perspektive der jngsten politischen Theorie erscheint gerade der Begriff der „Zivilisation“ selbst als problematisch und als Ausdruck jener politischen Interessen, die die Expansion der europischen Staaten seit der Neuzeit begleitet haben.17 Vor allem aber Elias’ Begriff der Gewalt bedrfe einer grundlegenden Korrektur. Zentrales Charakteristikum des „menschlichen Gewaltverhltnisses“, so Heinrich Popitz, sei eben nicht dessen Kontrolle durch Institutionen oder seine Sublimierung durch psychologische Zwnge, sondern vielmehr eine Logik der „Entgrenzung.“18 Die Theorielastigkeit und philosophischen Prmissen einer Gewaltforschung in der Tradition Elias’ haben sich deswegen auch den Vorwurf eingehandelt, konkrete Formen der Grausamkeit zu vermeiden und dadurch ihren Gegenstand zu verharmlosen.19 „Ein Begreifen der Gewalt“, meint Trutz von Trotha, „ist nicht in irgendwelchen ,Ursachen‘ jenseits der Gewalt zu finden. Der Schlssel zur Gewalt ist in den Formen der Gewalt selbst zu finden.“20 Dieser Befund steht auch im Mittelpunkt von Nietzsches Naturgeschichte moralischer Ordnung. Die Aktualitt der Positionen von Elias und Nietzsche ist vor diesem Hintergrund kaum zu unterschtzen. Damit zeigt sich auch, dass es hier um zwei unterschiedliche Anthropologien der Gewalt geht, deren 16 Die Kritik der neueren Gewaltforschung an Elias geht in dieser Hinsicht auch ber den von Hans Peter Duerr vorgetragenen bloßen Vorwurf hinaus, dass der These des Zivilisationsprozesses eine eurozentrische Illusion unterliege. Vgl. Hans Peter Duerr, Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, I. Nackheit und Scham, Frankfurt a. M. 1988. 17 Vgl. Brett Bowden, The Empire of Civilization: The Evolution of an Imperial Idea, Chicago 2009, S. 26 – 101. 18 Popitz, Phnomene der Macht, S. 48. 19 Vgl. Wolfgang Sofsky, Gewaltzeit, in: Trotha, Soziologie der Gewalt, S. 102 – 121, hier S. 104 f. ber die neuere Gewaltforschung und ihre Absetzung von Elias’ Paradigma eines Zivilisationsprozesses vgl. Nedelmann, Gewaltsoziologie am Scheideweg, S. 62 – 72, sowie Jçrg Httermann, ,Dichte Beschreibung‘ oder Ursachenforschung der Gewalt? Anmerkungen zu einer falschen Alternative im Lichte der Problematik funktionaler Erklrungen, in: Heitmeyer/ Soeffner, Gewalt, S. 107 – 124, hier S. 108 – 114. Nicht unerwhnt bleiben sollte aber, dass der ,neueren‘ Gewaltforschung trotz ihrer Betonung des Konkreten ein undifferenzierter Gewaltbegriff vorgeworfen wurde. Vgl. Alfred Hirsch, Inmitten von Gewalt und Barbarei, in: Philosophische Rundschau 46 (1999), S. 116 – 149. 20 Trotha, Soziologie der Gewalt, S. 20.
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gemeinsamer Verdienst darin besteht, eine historische Perspektive auf die Unhintergehbarkeit der Gewalt zu erçffnen.
2. Monopolisierung der Gewalt ,Gewalt‘ ist sicherlich ein von vornherein moralisch aufgeladener Begriff. Gewalt ist das, was zum Beispiel aus der Perspektive des brgerlichen Rechtsstaates jenseits des Alltglichen liegt und zugleich die gesellschaftliche Ordnung dieses Rechtsstaates bedroht. Zumindest in der çffentlichen Diskussion bleibt Gewalt ein Begriff der Verurteilung und Skandalisierung und steht damit auch fr einen archaisch anmutenden Exzess jenseits dessen, was als Zivilisation aufgefasst wird. Fr Elias ist die hiermit verbundene Annahme, dass das aufstrebende Brgertum des spten 18. Jahrhunderts fr einen zivilisatorischen Rationalisierungsschub verantwortlich zeichnet, durchaus problematisch. Gerade in der Periode zwischen Sptmittelalter und frher Neuzeit finde ein „besonders starker Schub der individuellen Selbstkontrolle“ statt, dessen Voraussetzung einerseits darin liegt, dass die offene Natur durch „Wegnetze“ und die „Verflechtung“ menschlicher Rume ihren Status als Gefahrenzone verliert. Andererseits treibt gerade die zunehmende „Verhçflichung“ im Verlauf des 15. und 16. Jahrhunderts die Verflechtung menschlicher Rume selbst voran und schafft zentrale Entscheidungsinstanzen wie z. B. den Kçnig als Richter ber die Konflikte des Adels.21 Die damit einhergehende Zentralisierung der kçrperlichen Gewalt, so meint Elias durchaus im Einklang mit Hobbes, ziele auf eine „eigentmliche Form von Sicherheit“, deren Erfolg allerdings im Gegensatz zu Hobbes nicht nur von der Macht der Zentralgewalt abhnge, sondern einzig garantiert werden kçnne durch eine Selbstregulierung der Affekte am Hof. Die Machtverhltnisse am frhneuzeitlichen Hof seien nicht nur bedingt von kçrperlicher Gewaltanwendung geprgt, sondern vielmehr an „Geist, Einfluß, Bedeutung“ orientiert.22 Freilich bleibt diese Selbstregulierung der Affekte nicht auf den Hof beschrnkt, sondern erstreckt sich zunehmend auf andere soziale Rume: Gewaltmonopolisierung und Selbstzwang erzeugen eine „Langsicht“, die komplexe „Geld- oder Handlungsverflechtungen“ ermçglichen und damit 21 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, S. LXI und Bd. II, S. 351 – 369 und S. 405. Zur Rolle des Brgertums im europischen Zivilisationsprozess vgl. ebd., Bd. II, S. 394. 22 Ebd., Bd. II, S. 325 und S. 371.
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eben auch die exponentielle Vernetzung unterschiedlicher wie auch oftmals miteinander konkurrierender sozialer Rume.23 Monopolisierung von Gewalt und gesellschaftliche Verflechtung bilden gewissermaßen den Motor des Zivilisationsprozesses: Die Entwicklung des Tausch- und Geldverkehrs samt der sozialen Formationen, die sein Trger sind, steht mit der Gestalt und Entwicklung des Herrschaftsmonopols innerhalb eines bestimmten Gebiets in unablssiger Wechselbeziehung; beide Entwicklungsreihen greifen stndig ineinander und schrauben sich wechselseitig hoch.24
Die Zurckdrngung des individuellen wie gesellschaftlichen Gewaltpotentials ist vor diesem Hintergrund eine Konsequenz notwendiger sozialer Differenzierung, die komplexe Beziehungs- und Abhngigkeitsnetzwerke entstehen lsst und so menschliches Handeln – inklusive der damit verbundenen Motivationen – in bestimmte Bahnen lenkt. Vernetzung ist bei Elias Prinzip des Zivilisationsprozesses und damit eine dynamische Kulturtechnik, die auch das modelliert, was Elias als menschlichen Affekthaushalt betrachtet, und somit direkte politische Folgen hat.25 Menschliches Handeln im gesellschaftlichen Kontext ist bei Elias – wie auch schon zuvor bei Max Weber – vor allem zweckrationales Handeln. Elias mag dem Begriff der Rationalitt skeptisch gegenberstehen, da der von ihm attestierte Zwang zum Selbstzwang jeglicher Rationalitt vorauszugehen hat; dennoch gilt auch fr die von Elias beschriebenen gesellschaftlichen 23 Ebd., S. 336 – 341. Diese Entwicklung ist bei Elias verbunden mit einer Vernderung des Zeitbewusstseins und einer zunehmenden Geschwindigkeit sozialer Tauschvorgnge. Die Entwicklung des Geldes und der Zeitinstrumente schaffen nicht nur eine Standardisierung menschlicher Lebenswelt, sondern sind selbst Zeugen jener Dynamik der Selbstregulierung, die Elias im Zentrum des Zivilisationsprozesses sieht. Vgl. ebd., Bd. II, S. 337 f. Wenngleich sich Elias hier auf Charles Hubbard Judd, The Psychology of Social Institutions, New York 1926, S. 32 ff, S. 77 ff und S. 105 ff, bezieht, so findet sich diese These auch in einem der Grndungstexte der modernen Sozialwissenschaften in Deutschland: Georg Simmel, Philosophie des Geldes, in: ders., Gesamtausgabe, hrsg. von Otthein Rammstedt, Bd. VI, Frankfurt a. M. 1989, S. 614 f., S. 676 – 687 und S. 707 – 715. 24 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 224 f. 25 ber die zentrale Rolle gesellschaftlicher Vernetzung, die Elias vor allem mit dem organischen Begriff der „Verflechtung“ beschreibt, vgl. ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 312 ff., S. 317 ff., S. 438 und S. 444. Zur Vernetzung als philosophische Metapher und Kulturtechnik vgl. Christian J. Emden, Netz, in: Ralf Konersmann (Hrsg.), Wçrterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2007, S. 248 – 260, sowie die Beitrge in Jrgen Barkhoff/ Hartmut Bçhme/ Jeanne Riou (Hrsg.), Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, Kçln 2004.
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Verflechtungen die von Weber ins Zentrum einer ,verstehenden Soziologie‘ gestellte gegenseitige Abhngigkeit der Handelnden: „Einen wichtigen normalen – wenn auch nicht unentbehrlichen – Bestandteil des Gemeinschaftshandelns bildet insbesondere dessen sinnhafte Orientierung an den Erwartungen eines bestimmten Verhaltens anderer und den darnach fr den Erfolg des eigenen Handelns […] geschtzten Chancen.“26 Wenngleich Elias mehrfach betont, dass der gesellschaftliche Zwang, sich „richtig“ zu verhalten, und die „automatisch und blind arbeitende Selbstkontrollapparatur“ einzelner Individuen durchaus bisweilen grobe „Verstçße gegen die gesellschaftliche Realitt“zur Folge haben kann, so besteht der wesentliche Vorteil eines solchen Zwangs zum Selbstzwang in einer „Vernderung in der Organisation der physischen Gewalt“, die letztlich zu einer „Aussonderung der physischen Gewalttat“fhren soll.27 Die Gewaltvermeidung als Konsequenz des Zivilisationsprozesses ist kein Produkt der Vernunft und ihrer brgerlichen Institutionen (z. B. der Rechtsstaat), sondern Produkt einer anonymen und strukturell operierenden Verflechtungsordnung, die den Gang geschichtlichen Wandels bestimmt.28 Die These von der Verflechtung als einer Art gesellschaftlicher Selbstorganisation jenseits bewusster Zweckrationalitt mag sich zunchst den Vorwurf einhandeln, dass hier traditionelle philosophische Erklrungsmodelle historischer Prozesse – etwa Kants Bewusstwerdung der Vernunft oder Hegels Rede von der „List der Vernunft“ und dem „Trieb der Perfektibilitt“ – ohne eigentlichen Erklrungsgewinn durch ein nicht minder abstraktes Modell ersetzt werden.29 Trotz einer deutlichen Tendenz zum Metaphorischen in Elias’ Begriffsapparat soll die von ihm beschriebene zivilisatorische Entwicklung an konkrete gesellschaftliche Verhltnisse gebunden bleiben: Was von seinen philosophischen Vorgngern als Ausdruck der „Vernunft“ bezeichnet werde, sei letztlich bloß jene „Gewohnheit“, die vor allem durch „waffenlose Zwnge und Gewalten“wie z. B. wirtschaftliche 26 Max Weber, „Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie“, in: ders., Gesammelte Aufstze zur Wissenschaftlehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tbingen 71988, S. 427 – 474, hier S. 441. 27 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 317, S. 444 und S. 331. ber den gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang vgl. ebd., S. 312 – 336. 28 Ebd., S. 314. 29 Vgl. Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht, in: ders., Werkausgabe, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 9 1991, Bd. XI, S. 33 – 50, sowie Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen ber die Philosophie der Geschichte, in: ders., Werke, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1969 – 1971, Bd. XII, S. 49 und S. 74.
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Abhngigkeit erzeugt werde.30 Ablesen lasse sich deswegen der Zivilisationsprozess nicht nur am bereits erwhnten Geldverkehr oder der Standardisierung der Zeit, sondern eben auch an Essgewohnheiten, zwischengeschlechtlichen Verhaltensweisen, hçfischen Konkurrenzformen, Straßennetzen und Steuerausgaben.31 Die zunehmende Verflechtung bzw. Vernetzung gesellschaftlichen Handelns und seiner Institutionen fhrt nicht zu einem diffusen Begriff der politischen Gewalt oder einer Auflçsung von Souvernitt, wie sie in der gegenwrtigen politischen Theorie unter dem Vorzeichen der Globalisierung verhandelt wird, sondern gerade zu ihrem Gegenteil: zur Zentralisierung der Gewalt im Staat.32 Erst solche stabile Gewaltmonopole ermçglichen, so Elias, eine hohe soziale und damit auch funktionale Differenzierung. Anders gewendet ist die gegenseitige Abhngigkeit von Individuen und Institutionen keine hinreichende Garantie fr die zivilisatorische Gewaltvermeidung. Vielmehr sorgt gerade die Monopolisierung physischer Gewalt im Staat (z. B. durch Polizei und Militr) dafr, dass physische Gewalt selbst im Kontext der neuzeitlichen Staatenbildung zum Ausnahmefall wird: Die Bedrohung, die der Mensch fr den Menschen darstellt, ist durch die Bildung von Gewaltmonopolen einer strengen Regelung unterworfen und wird berechenbarer. Der Alltag wird frei von Wendungen, die schockartig hereinbrechen. Die Gewalttat ist kaserniert; und aus ihren Speichern, den Kasernen, bricht sie nur noch im ußersten Falle, in Kriegszeiten und in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs, unmittelbar in das Leben des Einzelnen ein. Gewçhnlich ist sie als Monopol bestimmter Spezialistengruppen aus dem Leben der anderen ausgeschaltet; und diese Spezialisten, die ganze Monopolorganisation der Gewalttat, steht jetzt nur noch am Rande des gesellschaftlichen Alltags Wache als eine Kontrollorganisation fr das Verhalten des Einzelnen.33
Physische Gewalt als Ausnahme, dieser Befund kennzeichnet Elias’ Darstellung des neuzeitlichen und modernen Gewaltmonopols. Fluchtpunkt seiner Anthropologie der Gewalt ist deren zunehmende Sublimierung: Im 30 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 328 – 329. 31 Vgl., ebd., Bd. I, S. 110 – 145 und S. 219 – 262 sowie Bd. II, S. 123 – 129, S. 279 – 311 und S. 318 – 319. 32 Vgl. fr die gegenwrtige Diskussion z. B. Saskia Sassen, Losing Control? Sovereignty in the Age of Globalization, New York 1996; Jrgen Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders., Die postnationale Konstellation. Philosophische Aufstze, Frankfurt a. M. 1998, S. 91 – 169; James Tully, Public Philosophy in a New Key, Cambridge 2008, Bd. I, S. 133 – 219 und Bd. II, S. 243 – 309. 33 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 325.
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bergang vom spten Mittelalter zur Neuzeit und schließlich zur Moderne sorgt die Verflechtung von Individuen zunchst fr eine Modellierung der Affekte, die selbst schließlich in gesellschaftlichen Regeln und Gesetzen zum Ausdruck kommt, d. h. in Gesetzen, deren Einhaltung durch das staatliche Gewaltmonopol garantiert wird.34 Elias’ historische Anthropologie der Gewalt stellt vor diesem Hintergrund letztlich eine Geschichte gesellschaftlicher Normativitt dar und angesichts der zentralen Rolle, die Elias dem Staat oder staatenhnlichen Gebilden als befriedende Zentralgewalten einrumt, ist der Einfluss Max Webers kaum zu bersehen.35 Elias – der Marianne Webers Salon in Heidelberg frequentiert und bei Max Webers Bruder, dem Soziologen Alfred Weber, ein Habilitationsprojekt zur hçfischen Kultur in Florenz in Angriff nimmt, bevor er Karl Mannheim als Assistent nach Frankfurt am Main folgt – betont wie Max Weber, dass erst „festere Monopolinstitute der kçrperlichen Gewalttat“ jene gesellschaftlichen Selbstzwnge institutionalisieren, die schließlich „befriedete Rume“ ermçglichen.36 Ist allerdings diese faktische Monopolisierung physischer Gewalt nicht zugleich auch von einer Ambivalenz geprgt, die dem modernen Staat und seinen administrativen Techniken selbst eingeschrieben ist? Die erhçhte Kontrolle von Gewalt zumindest beinhaltet stets auch deren effizientere 34 Vgl. ebd., S. 323. 35 Vgl. ebd., S. 123 – 129, S. 142 – 159, S. 180 – 221, S. 470 f. und S. 489. Elias bezieht sich hier vor allem auf Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tbingen 1922, und William MacLeod, The Origin and History of Politics, New York 1932. Im Hintergrund steht allerdings auch Franz Oppenheimer, Der Staat, Frankfurt a. M. 1907. Vgl. Dieter Haselbach, „Monopolmechanismus“und Macht: Der Staat in Norbert Elias’ Evolutionslehre, in: KarlSiegbert Rehberg (Hrsg.), Norbert Elias und die Menschenwissenschaften. Studien zu Entstehung und Wirkungsgeschichte seines Werkes, Frankfurt a. M. 1996, S. 331 – 351. Elias betont den Einfluss Webers noch einmal in ,Zivilisation und Gewalt‘, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Reinhard Blomert, Heike Hammer, Johan Heilbron, Annette Treibel und Nico Wilterdink, Frankfurt a. M. 1997 – 2006, Bd. XV, S. 53 – 71, hier S. 54. Vgl. auch Johan Goudsblom, Zum Hintergrund der Zivilisationstheorie von Norbert Elias: Das Verhltnis zu Huizinga, Weber und Freud, in: Peter Gleichmann/ Johan Goudsblom/ Hermann Korte (Hrsg.), Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie, Frankfurt a. M. 1979 – 1984, Bd. II, S. 129 – 147, und Stefan Breuer, Gesellschaft der Individuen, Gesellschaft der Organisationen: Norbert Elias und Max Weber im Vergleich, in: Rehberg, Norbert Elias und die Menschenwissenschaften, S. 303 – 330. 36 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 320. Vgl. Weber, Politik als Beruf, S. 506 – 507, sowie ders., Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: ders., Gesammelte Aufstze zur Wissenschaftslehre, S. 475 – 488.
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Ausbung und mçgliche Ausweitung; die Vermeidung wie auch moralische chtung der Gewalt in der Gesellschaft ist selbst an die Potenzierung organisierter Gewalt gebunden.37 Bloße Gewaltmonopolisierung ist, wie gesagt, allein keine hinreichende Bedingung zur tatschlichen Einschrnkung von Gewalt. Erstaunlich ist, dass Elias – dessen Habilitation bei Karl Mannheim durch die Machtbernahme der Nazis verhindert wird und der ber Frankreich ins britische Exil gehen muss – dieser Ambivalenz der Monopolisierung physischer Gewalt ganz im Gegensatz zu Webers Vorlesung „Politik als Beruf“ in seiner Beschreibung des Zivilisationsprozesses keinen wesentlichen Platz einrumt. In deutlichem Abstand zu der politischen Situation der 1930er Jahre konstatiert Elias vielmehr: „Wenn sich ein Gewaltmonopol bildet, entstehen befriedete Rume, gesellschaftliche Felder, die von Gewalttaten normalerweise frei sind.“38 Jenseits dieses staatlichen Gewaltmonopols trete Gewalt so vor allem in sublimierter Form auf, d. h. „im Traum, in Bchern und Bildern.“39 Zwar fhre die Gewçhnung an stabile Gewaltmonopole und die „grçßere Berechnung der Gewaltausbung“ bisweilen zu einer Unterschtzung der Rolle physischer Gewalt im Zivilisationsprozess wie auch zu einer Verdrngung zuknftiger Gewaltmçglichkeiten, aber Elias’ auf kulturelle und gesellschaftliche Faktoren ausgerichtete Anthropologie der Gewalt ist von einer kaum zu bersehenden Hoffnung geprgt, dass Gewalt im Zivilisationsprozess zunehmend zu einer Ausnahmeerscheinung wird.40
37 Vgl. Hans-Georg Soeffner, Gewalt als Faszinosum, in: Heitmeyer/ Soeffner, Gewalt, S. 62 – 85, hier S. 75 f.; Mark Mazower, Violence and the State in the Twentieth Century, in: American Historical Review 107 (2002), S. 1147 – 1167; Abram De Swaan, Zivilisierung, Massenvernichtung und der Staat, in: Leviathan 28 (2000), S. 192 – 201. Zum historischen und soziologischen Kontext vgl. auch Charles Tilly, Coercion, Capital, and European States, AD 900 – 1990, London 1990, und Anthony Giddens, The Nation State and Violence, Cambridge 1985. 38 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 330. Vgl. dagegen Weber, Politik als Beruf, S. 556 ff. 39 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 330. 40 Ebd., 444 f. Elias selbst ndert diese Einschtzung erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Vgl. Elias, Zivilisation und Gewalt, S. 72 – 117.
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3. Geschichtsphilosophische Hoffnungen Elias’ Zivilisationstheorie entstand sicherlich in einer Zeit gesellschaftlichen bergangs und politischer Unsicherheit. Vielleicht lsst sich die These vom Zivilisationsprozess deswegen im Sinne Odo Marquards als eine Art Kompensationsunternehmen betrachten.41 Schließlich geht es Elias nicht nur darum festzustellen, „was war und ist, und auf welche Weise, aus welchen Grnden es so wurde, wie es war und ist“, sondern eben auch um die Beschreibung unhintergehbarer „Gesetzmßigkeiten“ historischer Ordnung – Gesetzmßigkeiten, die der historischen Realitt bisweilen entgegenstehen.42 Theoretische Grundlage eines solchen Unternehmens ist „eine Untersuchung zugleich des ganzen, psychischen und des ganzen, gesellschaftlichen Gestaltwandels“, d. h. eine Untersuchung, die sich neben historisch kontingenten sozialen Ordnungen auch der in ihnen verlaufenden triebhaften Selbststeuerung von Individuen widmet.43 Diese Selbststeuerung kann fr Elias weder auf die traditionelle Kategorie des Geistes reduziert noch mit der Natur gnzlich identifiziert werden. Gesellschaftliche Verflechtung und Gewaltmonopolisierung korrespondieren vielmehr mit einer historischen Vernderung der Affektstrukturen, d. h. sie sind Ergebnis einer langfristigen „Modellierung des plastischen, psychischen Apparats“.44 Gerade die traditionelle Geistesgeschichte, aber auch die moderne Wissenssoziologie unterschtzen durch ihre Fokussierung auf ideologische Konstrukte gerade jene psychischen Vernderungen des menschlichen Habitus, die sich an der Entwicklung von Scham und Peinlichkeit ebenso ablesen lassen wie direkt an 41 Vgl. Odo Marquard, Kompensation: berlegungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher Prozesse, in: ders., Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische berlegungen, Paderborn 1989, S. 64 – 81. 42 Vgl. Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 478 und S. 393. Elias bezieht sich hier auf Frederick John Taggart, Theory of History, New Haven, Conn. 1925, S. 148. 43 Vgl. Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 391 – 392. Zu den theoretischen Rahmenbedingungen eines solchen Unternehmens vgl. ebd., S. 385 f. Whrend in den 1930er Jahren fr Elias vor allem die psychologische Dimension gesellschaftlicher Prozesse im Vordergrund steht, beklagt er in den 1970er Jahren gerade die historische Blindheit der gegenwrtigen Soziologie. Vgl. Elias, Die Dynamik des Bewußtseins als Teil der Dynamik von Gesellschaften, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. XIV, S. 383 – 401, hier S. 390; ders., Zur Grundlegung einer Theorie sozialer Prozesse, ebd., S. 509 – 560; ders., ber den Rckzug der Soziologen auf die Gegenwart (II), ebd., Bd. VI, S. 297 – 333. 44 Vgl. Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 316.
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der historischen Vernderung von Gesichtsausdrcken.45 Gesellschaftliche Verflechtung, Gewaltmonopolisierung und Affektmodellierung gehen fr Elias von Anfang an Hand in Hand; damit zeige diese Affektmodellierung trotz der jeweiligen individuellen Unterschiede eine „menschlich-gesellschaftliche Gesetzmßigkeit.“46 Die Verinnerlichung gesellschaftlicher Zwnge wie z. B. die stete Erweiterung der Scham- und Peinlichkeitsgrenzen hat letztlich grçßere Einwirkung auf den Verlauf des Zivilisationsprozesses als die bloße Angst vor direkter physischer Gewalt, kann dies aber nur erreichen, indem die Modellierung der Affekte und des Habitus selbst langfristig auch zu physiologischen Vernderungen fhrt: Der Zivilisationsprozess ist angewiesen auf die Modellierung „naturaler Funktionen“, durch die bestimmte Verhaltensformen erst zu einer „Art von zweiter Natur“werden.47 Damit weist Elias ber bloß psychogenetische Erklrungsmodelle hinaus, ohne allerdings die hier in den Vordergrund tretende Kçrperlichkeit des Zivilisationsprozesses weiter im Detail zu verfolgen. Vielmehr ist es der Fall, dass Elias vor den biologischen Hintergrnden des Zivilisationsprozesses geradezu zurckschreckt. Tatschlich sind es gerade diese Hintergrnde menschlichen Verhaltens, die den Zivilisationsprozess gefhrden: Whrend menschliches Handeln im Normalfall durch den Zwang zum Selbstzwang vernderbar sein soll, so gehen „psychische Abnormalitten“ – d. h. die Missachtung geltender Normativitt durch Verhaltensweisen, die sich der Affektmodellierung entziehen – fr Elias letztlich zurck „auf unvernderliche, hereditre Qualitten“.48 Die Biologie menschlichen Verhaltens, die sich nicht durch Monopolisierung und soziale Verflechtung in feste Bahnen lenken lsst, erscheint als eine Bedrohung des Zivilisationsprozesses, die die gesellschaftliche Vermeidung der Gewalt untergrbt. Elias scheint sich hier, mit anderen Worten, der eigentlichen Konstitution von Gewalt als einer anthropologischen Konstante bewusst zu werden, vermag allerdings nicht, aus dieser Einsicht die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Die Macht des Biologischen und damit eigentlich auch die Kçrperlichkeit der von Elias beschriebenen Normierung von Verhaltensformen
45 Vgl. ebd., S. 388 und 378. Vgl. Karl Mannheim, Das Problem einer Soziologie des Wissens, in: ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hrsg. von Kurt H. Wolff, Berlin 1964, S. 308 – 387. 46 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, S. 278 f. und Bd. II, S. 380. 47 Ebd., S. 379 und 443. Vgl. auch ebd., Bd. II, S. 397 – 409 und 449. 48 Ebd., S. 333.
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widersteht durch ihre Unvernderlichkeit gerade jener teleologischen Entwicklung, die Elias als Verlauf des Zivilisationsprozesses betrachtet: Was der abendlndischen Entwicklung ihr besonderes Geprge gibt, ist die Tatsache, daß in ihrem Verlauf die Abhngigkeit aller von allen gleichmßiger wird. In steigendem Maße hngt das hçchst differenzierte, hçchst arbeitsteilige Getriebe der abendlndischen Gesellschaften davon ab, daß auch die unteren, agrarischen und stdtischen Schichten ihr Verhalten und ihre Ttigkeit aus der Einsicht in langfristigere und fernerliegende Verflechtungen regeln […]. [S]o tendiert das ganze Abendland, Unterschichten und Oberschichten zusammen, dahin, eine Art von Oberschicht und Zentrum eines Verflechtungsnetzes zu werden, von dem sich Zivilisationsstrukturen ber immer grçßere Teile des besiedelten und unbesiedelten Erdballs außerhalb des Abendlandes hin ausbreiten.49
Diese kaum zu bersehende eurozentrische Perspektive, die fr Elias dem Zivilisationsprozess unterliegt, steht nicht nur in erheblichem Gegensatz zu jenem Gewaltpotential, das außerhalb der relativ stabilen Gewaltmonopole der europischen Staaten fr eine Entgrenzung der Gewalt im Massaker und Brgerkrieg sorgt.50 Vielmehr noch widerspricht Elias’ Einschtzung der europischen Situation selbst und unterschtzt jene Ambivalenz der modernen staatlichen Gewaltmonopolisierung, die nicht erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einer kaum zu bersehenden Entgrenzung der Gewalt gefhrt hat. Angesichts eines historischen Kontexts, der geprgt ist von den Folgen des Ersten Weltkriegs, von der Weltwirtschaftskrise sowie der Konsolidierung totalitrer Ideologien, ist Elias’ These vom Prozess der Zivilisation letztlich von einer erstaunlichen geschichtsphilosophischen Hoffnung geprgt. Die Zwanglufigkeit des Zivilisationsprozesses, so scheint es, fhrt zu einer Rationalisierung der Weltpolitik, die nicht mehr von einem Gleichgewicht zwischen einzelnen Staaten geprgt sein soll, sondern der Elias eine geradezu kosmopolitische Dimension zuweist: Was Elias als „die ersten Umrisse eines erdumfassenden Spannungssystems von Staatenbnden“ betrachtet, ist zugleich „Voraussetzung fr die Bildung eines irdischen Gewaltmonopols, eines politischen Zentralinstituts der Erde und damit auch fr deren Pazifizierung.“51 49 Ebd., S. 340 f. 50 Zur Entgrenzung der Gewalt im Brgerkrieg vgl. Mnkler, The New Wars, S. 74 – 98, und Trutz von Trotha, Die Zukunft der Gewalt, in: Kursbuch 47 (2002), S. 161 – 173. Zu Phnomen und Eigendynamik des Massakers vgl. Wolfgang Sofsky, Traktat ber Gewalt, Frankfurt a. M. 1996, S. 173 – 190. 51 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 452. Vgl. ebd., S. 434 – 438.
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Elias’ kosmopolitische Hoffnung als Fluchtpunkt der Zivilisationstheorie – eine Hoffnung, die stets an die „berlegenheit“ europischer Gesellschaften gebunden ist52 – erinnert deutlich an die Friedensprojekte des 18. Jahrhunderts vom Projet de paix perpetuelle entre les souverains chrtiens (1713) des Abb de Saint Pierre bis zu Kants philosophischem Entwurf Zum ewigen Frieden (1795). Im Gegensatz zu Kant basiert Elias’ geschichtsphilosophische Hoffnung sicherlich nicht auf der „Vernunftidee einer friedlichen […] Gemeinschaft aller Vçlker auf Erden“, aus der zumindest prinzipiell ein „Weltbrgerrecht“abgeleitet werden kann. Zudem ist sich Kant der Grenzen einer solchen globalen Gewaltmonopolisierung bewusst und sieht bloß einen „Staatenverein“ als geschichtsphilosophische Mçglichkeit.53 Dennoch lsst sich die strukturelle hnlichkeit zwischen Kant und Elias kaum bersehen: Whrend bei Kant der historische Prozess an die Bewusstwerdung der Vernunft gebunden ist, ersetzt Elias jene durch die Dynamik der Affektmodellierung. Wenngleich Elias nach dem Zweiten Weltkrieg aus verstndlichen Grnden die Mçglichkeit eines globalen Gewaltmonopols zurckzieht, so bleibt die teleologische Orientierung des Zivilisationsprozesses erhalten. Letzterer ist zwar nun nicht mehr eine Entwicklung zur Gewaltvermeidung, aber zumindest eine Entwicklung zur Verringerung gesellschaftlicher Machtunterschiede.54
4. Staat, Macht und Gewalt Dass die von Elias veranschlagte teleologische Orientierung des Zivilisationsprozesses kaum mit Nietzsches geschichtstheoretischen berlegungen vereinbar ist, bedarf kaum einer Erklrung. berraschend ist allerdings, dass Elias als ,Schler‘ Max Webers den zivilisationskritisch formulierten Nexus von Kultur und Gewalt, der sich in Nietzsches philosophischen Arbeiten entdecken lsst, als problematisch betrachtet. Elias’ Nietzsche-Lektre, die im Detail noch kaum untersucht worden ist,55 scheint nicht zuletzt beeinflusst zu sein von einer populrphilosophischen Rezeption des ,Willens zur Macht‘. Bei Elias wird der ,Wille zur Macht‘ nicht zuletzt verstanden als Ausdruck autoritrer Strçmungen im wilhelminischen Brgertum, wobei Elias Nietzsches ausdrckliche Distanz zu Kultur und Gesellschaft des 52 53 54 55
Vgl. ebd., S. 344 f. und S. 347 f. Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: ders., Werkausgabe, Bd. VIII, S. 474 ff. Vgl. Elias, Zivilisation und Gewalt, S. 87 f. Vgl. jedoch den Beitrag von Angela Holzer in diesem Band.
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Kaiserreichs als ,autoritren Nationalstaat‘ vçllig bersieht.56 Deswegen kann Elias Nietzsche auch eine Verklrung jenes Gewaltpotentials vorwerfen, das er dem deutschen Staat um 1900 attestiert: Nietzsche selbst mag sich dessen vielleicht nicht gnzlich bewusst sein, aber dem ,Willen zur Macht‘ unterliege eine „Romantik der Macht“ und damit auch eine den Zivilisationsprozess bedrohende Romantisierung der Gewalt.57 Elias’ aus heutiger Sicht eigentmliche Lesart von Nietzsche Machtbegriff, der vor allem in den 1880er Jahren zum Angelpunkt von Nietzsches philosophischem Unternehmen wird, richtet sich allerdings auch gegen Nietzsches frhere Schriften aus dem Umfeld der Geburt der Tragçdie (1872). Besonders in Nietzsches kurzem Aufsatz „Der griechische Staat“ findet sich aus Elias’ Perspektive eine autoritre Romantisierung der Gewalt, wenn z. B. Kunst und Staat in der „Erzeugung des militrischen Genius“ zusammenkommen sollen und der „Krieg“ als das „einzige Gegenmittel“ zu jenem „liberalen Optimismus“ erscheint, der „die Politik zum Mittel der Bçrse“ macht.58 Nietzsches Rede von dem „geheimnisvollen Zusammenhang […] zwischen Staat und Kunst, politischer Gier und knstlerischer Zeugung, Schlachtfeld und Kunstwerk“59 versteht sich allerdings nicht nur als Kritik am technokratisch organisierten Nationalstaat des 19. Jahrhunderts oder als Ablehnung brgerlicher Demokratie, sondern versucht auch, die „plçtzliche Macht des Staates“ zu erklren, die selbst erst „den Gesellschaftsprozeß“ erzwingt.60 Bereits im Umkreis von Nietzsches Tragçdienbuch und unter dem Eindruck eines neuen deutschen Kaiserreichs als Konsequenz des DeutschFranzçsischen Krieges von 1870/71 entsteht hier nicht nur eine erste Einsicht in die Unhintergehbarkeit von Gewalt und „Grausamkeit“ als anthropologische Konstanten, die sich „im Wesen jeder Kultur […] und 56 Vgl. Elias, Zivilisation und Gewalt, S. 58. Zu Nietzsches Kritik des Kaiserreichs vgl. Christian J. Emden, Friedrich Nietzsche and the Politics of History, Cambridge 2008, S. 112 – 128, S. 150 – 156, S. 203 – 212 und S. 308 – 316. Zur Charakterisierung des Kaiserreichs als autoritrem Nationalstaat vgl. Wolfgang J. Mommsen, Der autoritre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur des deutschen Kaiserreiches, Frankfurt a. M. 1990. 57 Elias, Zivilisation und Gewalt, S. 83 f. 58 Nietzsche, Der griechische Staat, KSA 1, S. 774 f. 59 Ebd., S. 772. 60 Ebd., S. 769. Vgl. dagegen Barbara von Reibnitz, Nietzsches „Griechischer Staat“ und das Deutsche Kaiserreich, in: Der altsprachliche Unterricht 30/3 (1987), S. 76 – 89, und Martin A. Ruehl, Politeia 1871: Young Nietzsche and the Greek State, in: Paul Bishop (Hrsg.), Nietzsche and Antiquity. His Reaction and Response to the Classical Tradition, Rochester/ New York 2004, S. 79 – 97.
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berhaupt in der Natur der Macht“ finden lassen, sondern eben auch die Frage nach der Entstehung normativer Ordnung, die Nietzsche in den folgenden Jahren beschftigen wird: „[O]hne Staat, im natrlichen bellum omnium contra omnes“, so bemerkt Nietzsche mit Blick auf Hobbes, kann „die Gesellschaft berhaupt nicht in grçßerem Maaße und ber das [sic] Bereich der Familie hinaus Wurzeln schlagen.“61 Was hier leicht als kapriziçse Rechtfertigung eines autoritren Staates verstanden werden kann, wird fr Nietzsche selbst zum Ausgangspunkt einer wiederholten Untersuchung des Zusammenhangs von Kultur und Gewalt, die zunehmend in das Zentrum seines philosophischen Unternehmens rckt. Wird die berwindung des gewaltvollen gesellschaftlichen Naturzustandes in Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne (1873) z. B. an „eine gleichmssig gltige und verbindliche Bezeichnung der Dinge“ gebunden, die in Nietzsches Gedankenexperiment „die ersten Gesetze der Wahrheit“ gibt, so entsteht hier eben auch jener „Contrast von Wahrheit und Lge“, der dem eigentlich epistemologischen Begriff der Wahrheit eine moralische Autoritt zuweist und damit gesellschaftliche Normativitt ermçglicht.62 Der zivilisatorische Schritt von der bloßen Gewalt zur normativen Ordnung geschieht einerseits auf der Grundlage der philosophischen Illusion einer adaequatio rei et intellectus, die andererseits eine anthropologische Notwendigkeit darstellt. Whrend Nietzsche am Anfang der 1870er Jahre – wenngleich unter Vorbehalt – davon auszugehen scheint, dass Gewalt entweder durch den Staat als Institution politischer Macht oder durch die Illusion einer moralischen Autoritt der Wahrheit berwunden werden kann, so verndert sich das Verhltnis von Gewalt und normativer Ordnung nachtrglich ab den spten 1870er Jahren, wenn er im ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches (1878) die normative Ordnung der Moderne vor dem Hintergrund der politischen Kultur des deutschen Kaiserreichs betrachtet. Sowohl Nietzsche als auch Elias teilen die Erfahrung des Krieges. Whrend Elias als Telegrafist an beiden Fronten des Ersten Weltkriegs teilnimmt und nach einem Zusammenbruch den Krieg als Sanitter beendet, hat Nietzsche, der sich freiwillig zum Deutsch-Franzçsischen Krieg 61 Nietzsche, Der griechische Staat, KSA 1, S. 768 und 772. 62 Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne, KSA 1, S. 877. Zum Problem der Autoritt von Wahrheit bei Nietzsche vgl. Bernard Williams, Truth and Truthfulness. An Essay in Genealogy, Princeton/ NJ 2002, S. 12 – 19. Zum epistemologischen Hintergrund, auf den hier nicht eingegangen werden kann, vgl. Maudemarie Clark, Nietzsche on Truth and Philosophy, Cambridge 1990, S. 63 – 93, und Christian J. Emden, Nietzsche on Language, Consciousness, and the Body, Chicago 2005, S. 46 – 51.
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meldet, eher geringe Kriegserfahrung. Als Sanittssoldat in relativer Sicherheit hinter der elsssischen Front macht er dennoch eine nicht zu unterschtzende Erfahrung der Gewalt kurz bevor er aufgrund einer DiphterieErkrankung nach Erlangen verlegt wird. Am 28. August 1870 wird Nietzsche mehrere Wochen nach der entscheidenden Schlacht von Woerth auf das dortige Schlachtfeld kommandiert, um die sterblichen berreste eines bayrischen Offiziers ausfindig zu machen. Im Gegensatz zu den oft als Idealisierung des Krieges betrachteten Bemerkungen in dem Aufsatz zum griechischen Staat beklagt er in einem Brief nach Hause die Entsetzlichkeit des verwsteten Schlachtfeldes, ber dem der Geruch verwesender Leichen hngt.63 Diese Erfahrung des Krieges ist sicherlich auch einer der Grnde, warum Nietzsche bereits kurze Zeit spter – etwa in der ersten Unzeitgemßen Betrachtung von 1873 – einerseits auf deutliche Distanz zum Kaiserreich geht und andererseits in Menschliches, Allzumenschliches die politische Funktion des Staates zu einem seiner Untersuchungsgegenstnde macht.64 hnlich wie nach ihm Max Weber und Elias sieht Nietzsche im Staat das eigentliche Gewaltmonopol der Moderne, wenngleich der Staat selbst zur Erhaltung dieses Gewaltmonopols, d. h. letztlich als „Vormund zu Gunsten einer unmndigen Menge“, der Religion bedarf.65 Die in diesem Kontext oft als anti-liberal begriffene Rede von der „moderne[n] Demokratie“ als „historische Form vom Verfall des Staates“verweist eigentlich nur darauf, dass der Staat als „organisirende Gewalt“ an die Notwendigkeit der „Herrschaft“ gebunden ist, whrend die Illusion einer „Souvernitt des Volkes“ gerade dieses Prinzip der Herrschaft stets unterschtzt.66 Nietzsches Bemerkungen zu Macht und Gewalt mçgen in Menschliches, Allzumenschliches oft zwischen einer Betonung der kulturellen Notwendigkeit des Krieges und einer gegen sozialrevolutionre Bewegungen gerichteten Forderung nach weniger Ge63 Vgl. Nietzsche, KGB 2.1, S. 137. Zur Schlacht von Woerth, in der am 6. August 1870 innerhalb weniger Stunden rund 20.000 Soldaten den Tod finden, vgl. Geoffrey Wawro, The Franco-Prussian War. The German Conquest of France in 1870 – 1871, Cambridge 2003, S. 121 – 137. 64 Vgl. Nietzsche, David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller, KSA 1, S. 159 f., und Menschliches, Allzumenschliches I, Ein Blick auf den Staat, § 438 – 482, KSA 2, S. 285 – 316. Vgl. zu diesem politischen Interesse auch Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin/ New York 1987, und Urs Marti, „Der grosse Pçbel- und Sklavenaufstand“. Nietzsches Auseinandersetzung mit Revolution und Demokratie, Stuttgart 1993. 65 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 472, KSA 2, S. 302. 66 Ebd., S. 306.
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waltttigkeit oszillieren, fest steht allerdings, dass die Grundlage des Politischen nicht in Recht und Gerechtigkeit zu finden ist, sondern „ein Problem der Macht“ darstellt.67 Im Zentrum jeder normativen Ordnung – auch jenseits des staatlichen Gewaltmonopols – steht letztlich das Phnomen der Macht, die in gesellschaftlicher Hinsicht fr Nietzsche unausweichlich eine Macht ber andere darstellt und die deswegen stets an die Mçglichkeit von Gewalt gebunden ist. Ausdruck dieser Macht im modernen Staat ist sicherlich dessen direktes Gewaltmonopol. Eigentlich interessant ist der Zusammenhang von Macht und Gewalt fr Nietzsche allerdings erst, wenn jenseits staatlicher Kontrollmechanismen die Erzeugung „çffentliche[r] Leidenschaften“ zu Strategien der Exklusion fhrt.68 Die „grosse Politik“ des europischen Nationalismus, die „fortwhrend eine Menge der hervorragenden Talente auf dem ,Altar des Vaterlandes‘oder der nationalen Ehrsucht opfert“, tritt hierbei nur als ein konkretes Beispiel auf, das die Tendenz normativer Ordnungen zur Gewalt an einem zeitgençssischen Phnomen verdeutlichen soll.69 Entscheidend ist fr Nietzsche hierbei allerdings nicht der direkte Zeitbezug, sondern die philosophisch motivierte Frage nach dem unhintergehbaren Nexus von Gewalt und normativer Ordnung.
5. ber das Martern und Foltern des Kçrpers Nietzsches philosophische Untersuchung der Geschichte moralischer Normen tritt sicherlich am deutlichsten in Zur Genealogie der Moral (1887) auf. Der im ersten Essay beschriebene „Sklavenaufstand der Moral“ fhrt nicht nur zu jener „Umkehrung des werthesetzenden Blicks“, die fr Nietzsche die jdisch-christliche Tradition kennzeichnet, sondern die hiermit einhergehende „Moral des gemeinen Mannes“ und die Entstehung moralischer Gemeinschaften fhren zu Strategien der gewaltvollen Exklusion: Was jenseits oder außerhalb solcher Gemeinschaften steht, avanciert zum radikal Bçsen, dessen bloße Existenz es auszulçschen gilt.70 Die Identitt solcher Gemeinschaften – unabhngig davon, ob diese politisch oder religiçs motiviert sind – kann erst langfristig gesichert werden, indem diese Gemeinschaften in einen deutlichen Gegensatz gestellt werden zu dem, 67 Ebd., § 446, S. 289 f. Vgl. ebd., § 452, S. 293 f. sowie § 463, S. 299 und § 477, S. 311 f. 68 Ebd., § 453, S. 294. 69 Ebd., § 481, S. 314 f. 70 Vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 269 ff. und S. 274.
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was als entweder bedrohlich oder unverstndlich erscheint. Das Bçse ist stets das Andere und vice versa. Gewalt gegen das Andere ist moralischen Gemeinschaften als Prinzip eingeschrieben. Nietzsche leugnet hierbei durchaus nicht die gewaltvolle Grausamkeit jener „Vornehmen“, die sich als exemplarische Individuen jenseits traditioneller moralischer Gemeinschaften aus sich selbst heraus definieren und deren Handlungen – wie die eines Perikles, Caesar, Cesare Borgia oder Napoleon Bonaparte – von einer „Gleichgltigkeit“ und „Verachtung“ der Masse charakterisiert sind.71 Was dem Beobachter solcher Individuen als Grausamkeit erscheinen mag, ist fr Nietzsche Ausdruck einer epikureischen ataraxa, einer emotionalen Gelassenheit, deren Ursprung darin liegt, dass das exemplarische Individuum seine jeweilige Situation als solche zu akzeptieren vermag und nicht mit einem unerreichbaren wie auch handlungslhmenden moralischen Sollen vergleichen muss.72 Damit ist ataraxa als Geisteshaltung zugleich auch unabhngig von moralischen Normen. Was Georg Brandes in einem Brief an Nietzsche durchaus zutreffend als „aristokratischen Radikalismus“ bezeichnet hat, ist in diesem Sinne auch Ausdruck eines politischen Realismus, dessen neuzeitliche Vorlufer bei Machiavelli und Hobbes zu finden sind.73 Im Gegensatz zu einer solchen Haltung, die nicht nur das Primat des moralisch Guten verwirft und hierdurch zugleich keinen wirklichen Begriff des Bçsen aufweist, mssen sich jene moralischen Gemeinschaften, die das Ergebnis des in Zur Genealogie der Moral beschriebenen „Sklavenaufstandes“sind, in besonderem Maße auf einen Begriff des Bçsen beziehen. Dieser ist letztlich auch durch die philosophische Tradition abgesichert. Nicht nur in der christlichen Theologie bei Augustinus und Thomas Aquinas findet sich ein solcher Begriff des Bçsen, sondern – und gerade dies ist fr Nietzsche entscheidend – im Zentrum des deutschen Idealismus, wenn das Bçse z. B. bei Kant als Verstoß gegen das moralische Gesetz auftritt 71 Vgl. ebd., S. 274 f. Zu Nietzsches Begriff einer solchen ,Aristokratie des Geistes‘ vgl. die unterschiedlichen Wertungen bei Don Dombowsky, Nietzsche’s Machiavellian Politics, New York 2004, und Bruce Detwiler, Nietzsche and the Politics of Aristocratic Radicalism, Chicago 1990. 72 Zu Nietzsches Begriff der Exemplaritt vgl. James Conant, Nietzsche’s Perfectionism: A Reading of Schopenhauer as Educator, in: Richard Schacht (Hrsg.), Nietzsche’s Postmoralism. Essays on Nietzsche’s Prelude to Philosophy’s Future, Cambridge 2000, S. 181 – 257. Zum Begriff derataraxa vgl. Gisela Striker, Ataraxia. Happiness and Tranquility, in: The Monist 73 (1990), S. 97 – 110. 73 Vgl. Nietzsche, KGB 3.5, S. 206. Nietzsches Antwort an Brandes datiert vom 2. Dezember 1887, d. h. nach Abschluss der Arbeiten an Zur Genealogie der Moral.
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und letzteres der Handlungsfreiheit unterordnet.74 Die hiermit verbundene Gleichsetzung des Bçsen sowohl mit einer radikal autonomen Handlungsfreiheit als auch mit dem, was sich der Intelligibilitt entzieht, wird bei Hegel zum Prinzip: Das Bçse ist, was notwendigerweise nicht existieren und deswegen auch „aufgehoben“ werden sollte.75 Diese Moralisierung politischen Denkens um 1800 bleibt fr Nietzsche allerdings nicht nur ein philosophisches Problem, sondern ist direkt gebunden an die Logik der Gewalt. Die stets durch das Bçse bedrohte moralische Gemeinschaft ermçglicht erst das gewaltvolle Opfer des Einzelnen: Der Ursprung der Sitte geht auf zwei Gedanken zurck: „die Gemeinde ist mehr wert als der Einzelne“ und „der dauernde Vortheil ist dem flchtigen vorzuziehen“; woraus sich der Schluss ergiebt, dass der dauernde Vortheil der Gemeinde unbedingt dem Vortheile des Einzelnen, namentlich seinem momentanen Wohlbefinden, aber auch seinem dauernden Vortheile und selbst seinem Weiterleben voranzustellen sei. Ob nun der Einzelne von einer Einrichtung leide, die dem Ganzen frommt, ob er an ihr verkmmere, ihretwegen zu Grunde gehe, – die Sitte muss erhalten, das Opfer gebracht werden.76
Die Unbedingtheit der Sitte, die Nietzsche mit Blick auf Kant und Hegel mit der „Sittlichkeit“ gleichsetzt, erfordert nicht nur die Unterordnung des Einzelnen unter eine „Majoritt“, sondern der Wille zur Opferung der Einzelnen „entsteht […] nur in Denen, welche nicht das Opfer sind“.77 Die Selbstlosigkeit im Dienste moralischer Gemeinschaften, die stets durch eine Logik des Opfers charakterisiert sind, tritt so auf als Ausdruck einer „MachtErweiterung“,78 die auf die langfristige „Erhaltung einer Gemeinde, eines Volkes“ durch die tatschliche Einlçsung normativer Ordnung gerichtet ist.79 Die Funktion von Sittlichkeit und gewaltvoller Strafe als deren Einlçsung, so legt Nietzsche in seinen Notizheften unter Bezug auf die rechtsanthropologischen berlegungen Rudolf von Jherings und Albert Hermann Posts dar, besteht eben ausschließlich in der „Sicherung der 74 Vgl. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Bd. VIII, S. 665 – 694. Zu Kants Begriff des Bçsen vgl. im Detail Richard J. Bernstein, Radical Evil. A Philosophical Investigation, Cambridge 2002, S. 11 – 44. 75 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Werke, Bd. VII, S. 260 – 265. 76 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, § 89, KSA 2, S. 412. 77 Ebd. 78 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 21, KSA 3, S. 393, vgl. den gesamten Aphorismus S. 391 ff. 79 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 96, KSA 2, S. 93.
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Lebensbedingungen der Gesellschaft in der Form des Zwanges“, die zunchst im „Martern und Foltern von Seiten des Staates“ zum Vorschein kommt, aber gerade dann besonders erfolgreich ist, wenn die Mçglichkeit der gewaltvollen Strafe physiologisch verinnerlicht wird.80 Was prima facie an Elias’ These vom Zwang zum Selbstzwang erinnert, luft eigentlich auf eine Umkehrung von Elias’ Perspektive heraus. Geschichtsphilosophische Hoffnung ist hier keine Option mehr. Dass Zwang stets Bedingung von Gesellschaft ist, mag offensichtlich sein. Der Fluchtpunkt dieses Zwangs ist fr Nietzsche aber weder die fr Elias entscheidende Bndigung der Gewalt noch die altruistische Selbstlosigkeit der christlichen Tradition, sondern gerade die blanke Furcht vor der gewaltvollen Grausamkeit des Nchsten, die stets eine Handlungsmçglichkeit bleibt: Zuletzt ist die „Liebe zum Nchsten“ immer etwas Nebenschliches, zum Theil Conventionelles und Willkrlich-Scheinbares im Verhltnis zur Furcht vor dem Nchsten. Nachdem das Gefge der Gesellschaft im Ganzen festgestellt und gegen ussere Gefahren gesichert erscheint, ist es diese Furcht vor dem Nchsten, welche wieder neue Perspektiven der moralischen Werthschtzung schafft.81
Die Kompensation der Furcht vor der bestndigen Mçglichkeit von Gewalt durch die normative Ordnung der Sittlichkeit ist im Kontext der Genealogie sicherlich als eine historische Kritik des Politischen aufzufassen, die verdeutlicht, dass Macht im Zentrum menschlichen Handelns steht; moralisches Gesetz und Gerechtigkeit sind sekundr. Vor diesem Hintergrund ist auch die Entstehung des Gewissens als Erfahrungsweise der Sittlichkeit ein Produkt der Macht. Das Gefhl der Schuld und des schlechten Gewissens entsteht dort, wo entweder eine bestimmte Verpflichtung nicht erfllt und dies bedauert wird oder die Erfllung dieser Verpflichtung durch eine bewusste Unzulnglichkeit verhindert wird.82 Fr Nietzsche stellt dies jedoch eine relativ spte Entwicklung dar, die auf das çkonomische „Vertragsverhltniss zwischen Glubiger und Schuldner“zurckzufhren ist.83 Die Umwandlung çkonomischer Schuld in schlechtes Gewissen entsteht selbst durch die gesellschaftliche Notwendigkeit rechtlicher Haftbarkeit, d. h. vor allem durch die kçrperliche Be80 Nietzsche, Nachlaß 1882 – 1884, KSA 10, 7[69], S. 265. Vgl. Rudolf von Jhering, Der Zweck im Recht, Leipzig 1877 – 1883, Bd. II, S. 191, S. 212 und S. 226, sowie Albert Hermann Post, Bausteine fr eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend ethnologischer Basis, Oldenburg 1880 – 1881, Bd. I, S. 224. 81 Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 201, KSA 5, S. 122. 82 Vgl. Simon May, Nietzsche’s Ethics and His War on „Morality“, Oxford 1999, S. 57. 83 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 4, KSA 5, S. 298.
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strafung des Schuldners, der die ursprngliche Obligation nicht zu erfllen vermag: Namentlich aber konnte der Glubiger dem Leibe des Schuldners alle Arten von Schmach und Folter anthun, zum Beispiel so viel davon herunterschneiden als der Grçsse der Schuld angemessen schien: – und es gab frhzeitig und berall von diesem Gesichtspunkte aus genaue, zum Theil entsetzlich in’s Kleine und Kleinste gehende Abschtzungen, zu Recht bestehende Abschtzungen der einzelnen Glieder und Kçrperstellen. […] Die quivalenz ist damit gegeben, dass an Stelle eines gegen den Schaden direkt aufkommenden Vortheils (also an Stelle eines Ausgleichs in Geld, Land, Besitz irgend welcher Art) dem Glubiger eine Art Wohlgefhl als Rckzahlung und Ausgleich zugestanden wird, – das Wohlgefhl, seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu drfen, die Wollust „de faire mal pour le plaisir de le faire“, der Genuss in der Vergewaltigung […]. Der Ausgleich besteht also in einem Anweis und Anrecht auf Grausamkeit.84
Die Form dieser Gewalt ist es, die fr Nietzsche durch ihre „Verinnerlichung“ zum eigentlichen „Ursprung des ,schlechten Gewissens‘“ wird. Die Grausamkeit der Bestrafung richtet sich „nicht“ gegen „die anderen Menschen“, sondern der „Stoff, an dem sich die formbildende und vergewaltigende Natur dieser Kraft auslsst, [ist] hier eben der Mensch selbst, sein ganzes thierisches altes Selbst.“85
6. Eine Naturgeschichte normativer Ordnung? Nietzsches Genealogie ist bisweilen als ein Projekt theoretischer Imagination beschrieben worden oder zumindest als von einem Defizit an historischen Tatsachen geprgt.86 Gerade Nietzsches Betonung der Gewalt als unhintergehbarem Bestandteil normativer Ordnungen bezieht sich allerdings auf den zeitgençssischen Diskurs der Rechtsanthropologie, vor allem Albert Hermann Posts Bausteine fr eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend ethnologischer Basis (1880 – 1881).87 Fr Post ist die Geschichte des 84 Ebd., S. 299 f. 85 Ebd., S. 322 f. und S. 326. 86 Vgl. z. B. Raymond Geuss, Genealogy as Critique, in: European Journal of Philosophy 10 (2002), S. 209 – 215, hier S. 213, und Williams, Truth and Truthfulness, S. 31 und 37. 87 Vgl. hierzu Martin Stingelin, Konkordanz zu Friedrich Nietzsches Exzerpten aus Albert Hermann Post, Bausteine fr eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis, Oldenburg 1880/81 (2 Bde.) im Nachlaß vom FrhjahrSommer und Sommer 1883, in: Nietzsche-Studien 20 (1991), S. 400 – 432, und
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Individuums als Rechtssubjekt das Ergebnis einer langfristigen Entwicklung, die von „ethnisch-morphologischen Verbnden“ und ihren auf Blutsverwandtschaft beruhenden Beziehungen ber stets grçßere politische Strukturen – hnlich wie bei Elias – zum modernen Staat fhrt.88 Was diesen Prozess vorantreibt und fr Post die rechtliche Verantwortung von der Gemeinschaft auf das einzelne Individuum verschiebt, ist allerdings im Gegensatz zu Elias nicht die Bndigung der Gewalt durch ihre Monopolisierung, sondern vielmehr ihre zunehmende Differenzierung. Normative Ordnungen werden vor allem durch Strafe und Opfer aufrecht erhalten, deren Formen Post, oft unter Rckgriff auf Jacob Grimms Deutsche Rechtsalterthmer (1828), im Detail beschreibt – von der Abtrennung einzelner Kçrperteile ber das Herausnehmen der menschlichen Eingeweide bis zur çffentlichen Zerquetschung des Schdels.89 Die Verstmmelung und Zergliederung des Kçrpers ist wesentlicher Bestandteil der Geschichte moderner Rechtsvorstellungen.90 Selbst wenn die tatschliche Verstmmelung des Kçrpers nicht praktiziert wird, bleibt sie dennoch grundstzlich mçglich, weil sie in den Bereich menschlicher Handlungsoptionen gehçrt. Sowohl die Forderungen gemeinschaftlicher normativer Ordnungen als auch die grundlegende Offenheit individuellen wie gemeinschaftlichen Handelns tragen als Ausdruck der Macht stets die Mçglichkeit der Gewalt in sich. Dies ist fr Nietzsche nicht nur der Fall in Bezug auf das Recht als direktem Ausdruck sittlicher Normen, sondern die Kçrperlichkeit der Gewalt ist auch Grundlage normativer Ordnung. Whrend bei Elias moralisches Handeln durch die gesellschaftliche Verflechtung des Individuums und den Zwang zum Selbstzwang Gewalt gerade auszuschließen sucht, stellt die Naturgeschichte der Moral fr Nietzsche letztlich eine Geschichte der Gewalt dar. Moralisches Handeln ist weder Resultat bloß gesellschaftlicher Handlungszwnge wie bei Elias noch ist es wie bei Kant begrndet durch die Einsicht in das moralische Gesetz. Vielmehr ist moralisches Handeln fr Nietzsche Resultat einer physiologischen Verinnerlichung der Gewalt, die von den Formen der kçrperlichen Gewalt ber die Erfahrung des Schmerzes David S. Thatcher, Zur Genealogie der Moral: Some Textual Annotations, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 587 – 599. 88 Vgl. Post, Bausteine fr eine allgemeine Rechtswissenschaft, Bd. I, S. 73 f. 89 Vgl. ebd., Bd. I, S. 188 – 215, und Jacob Grimm, Deutsche Rechtsalterthmer, Gçttingen 1828, S. 695 – 709. 90 Vgl. Wolfgang Schild, Verstmmelung des menschlichen Kçrpers: Zur Bedeutung der Glieder und Organe des Menschen, in: Richard van Dlmen (Hrsg.), Erfindung des Menschen. Schçpfungstrume und Kçrperbilder, 1500 – 2000, Wien 1998, S. 261 – 281.
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schließlich zu mentalen Bildern und zur Einschrnkung menschlichen Handelns fhrt: „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedchtniss bleibt: nur was nicht aufhçrt, weh zu thun, bleibt im Gedchtniss“ – das ist ein Hauptsatz aus der allerltesten (leider auch allerlngsten) Psychologie auf Erden. […] Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nçthig hielt, sich ein Gedchtniss zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfnder (wohin die Erstlingsopfer gehçren), die widerlichsten Verstmmelungen (zum Beispiel die Castrationen), die grausamsten Ritualformen aller religiçsen Culte (und alle Religionen sind auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten) – alles Das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mchtigste Hlfsmittel der Mnemonik errieth. […] man denke […] an das Steinigen […], das Rdern […], das Werfen mit den Pfahle, das Zerreissen- oder Zertretenlassen durch Pferde […], das Sieden des Verbrechers in l oder Wein […], das beliebte Schinden […], das Herausschneiden des Fleisches aus der Brust; auch wohl dass man den belthter mit Honig bestrich und bei brennender Sonne den Fliegen berliess. Mit Hlfe solcher Bilder und Vorgnge behlt man endlich fnf, sechs, „ich will nicht“ im Gedchtniss, in Bezug auf welche man sein Versprechen gegeben hat, um unter den Vortheilen der Societt zu leben, – und wirklich! mit Hlfe dieser Art von Gedchtniss kam man endlich „zur Vernunft“!91
Die Gebundenheit moralischen Handelns und ethischer Vernunft an die Voraussetzung konkreter Gewalt und Grausamkeit ist eine bisweilen in den Hintergrund gedrngte Schlussfolgerung von Nietzsches philosophischem Unternehmen einer Genealogie der Moral. Wenn gerade die konkreten Formen der Gewalt einen Schlssel zu ihrem Verstehen bieten, hat Nietzsche Elias einiges voraus: Was Nietzsche in seiner Genealogie gelingt, ist eine Rckbersetzung normativer Ordnung in den Kçrper, die bisweilen zwar auf psychologische und soziologische Argumente angewiesen sein mag, deren eigentliche Strke aber gerade darin liegt, die Kontinuitt konkreter Gewalt und die Herausbildung normativer Ordnungen im Gegensatz zu Elias auch als Teil biologischer Prozesse zu sehen. Die Entstehung gesellschaftlicher Normativitt ist damit stets eingebettet in evolutionre Rahmenbedingungen.92 Gewalt, Schmerz und Grausamkeit sind fr Nietzsche Konstanten menschlicher Evolution und sorgen fr eine „Einverleibtheit“ normativer Ordnungen, d. h. fr ihren „Charakter als Lebensbedingung“.93 Kaum verwunderlich ist deswegen auch, dass fr
91 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 3, KSA 5, S. 295 ff. 92 Vgl. John Richardson, Nietzsche’s New Darwinism, Oxford 2004, S. 70 – 94, und Emden, Friedrich Nietzsche and the Politics of History, S. 269 – 285. 93 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 110, KSA 3, S. 469.
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Christian J. Emden
Nietzsche – wiederum im Gegensatz zu Elias – „Werthschtzungen […] angeboren“ sind, d. h. „angeerbt“.94 Die Anerkennung der Gewalt als einer unhintergehbaren anthropologischen Konstante ist fr Nietzsche Teil jenes bereits in der Frçhlichen Wissenschaft (1882) angekndigten Projekts, „uns Menschen […] zu vernatrlichen!“95 Angesichts der gewaltvollen Geschichte normativer Ordnungen einerseits und der Hoffnung auf eine zivilisatorische Bndigung der Gewalt andererseits bençtigt die genealogische Perspektive selbst eine „Art Grausamkeit des intellektuellen Gewissens“, die es erst ermçglicht, jenseits der Moralisierung menschlichen Handelns den „schrecklichen[n] Grundtext homo natura“zu erkennen. Whrend Elias’ Zivilisationsprozess auf eine verdeckte geschichtsphilosophische Hoffnung setzt, schließt Nietzsches Genealogie gerade jedwede Hoffnung aus. Was bleibt ist jene Geisteshaltung der ataraxa, die der Hoffnungslosigkeit mit Gleichmut begegnet. „Den Menschen […] zurckbersetzen in die Natur“, wie Nietzsche in Jenseits von Gut und Bçse (1886) formuliert, fhrt daher zu einem Realismus der Macht, d. h. zu einer Besinnung auf die konkreten Formen der Gewalt als Voraussetzung fr die Entstehung jeglicher normativer Ordnung. Hieraus ergeben sich zwei Konsequenzen, die auch fr einen politischen Realismus der Gewalt von Belang sind. Erstens fhrt die Bndigung der Macht als „Grundprincip der Gesellschaft“ zu einer „Verneinung des Lebens“, d. h. zu einer Verleugnung biologischer Unhintergehbarkeiten, die Nietzsche durchaus polemisch als „Aneignung, Verletzung, berwltigung“ und „Einverleibung“ beschreibt.96 Zweitens – und dies ist in philosophischer Hinsicht die interessantere Pointe – verdeutlicht Gewalt als anthropologische Konstante und als direkter Ausdruck von Macht, dass die Annahme eines Primats des Guten zu relativieren ist: „Der Hass, die Schadenfreude, die Raub- und Herrschsucht und was Alles sonst bçse genannt wird: es gehçrt zu der erstaunlichen Oekonomie der Arterhaltung“.97 Dies bedeutet jedoch gerade nicht ein Primat des Bçsen als bloße Umkehrung der normativen Ordnung, sondern zeigt vielmehr, dass derartige moralische Unterscheidungen nur von bedingter Reichweite sind: „In Wahrheit sind aber die bçsen Triebe in eben so hohem Grade zweckmssig, arterhaltend und 94 Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 1[21], S. 15. Zu Nietzsches Rezeption der zeitgençssischen Evolutionstheorie vgl. vor allem Gregory Moore Nietzsche, Biology, and Metaphor, Cambridge 2002. 95 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 109, KSA 3, S. 469. 96 Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 259, KSA 5, S. 207. 97 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 1, KSA 3, S. 369.
Anthropologien der Gewalt
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unentbehrlich wie die guten: – nur ist ihre Function eine verschiedene.“98 Die jeweils unterschiedlichen Anthropologien der Gewalt, die sich bei Elias und Nietzsche finden lassen, beinhalten so auch einen jeweils unterschiedlichen Begriff des Politischen. Eine Anthropologie der Gewalt hat, mit anderen Worten, stets Konsequenzen, die ber die bloße Anerkennung oder Leugnung der Unhintergehbarkeit von Gewalt hinausgehen. Wie mit diesen Konsequenzen umzugehen ist, bleibt allerdings eine Frage, die kaum von der Hand zu weisen ist.
98 Ebd., § 4, S. 376 f.
Dionysische Zivilisation? Kulturtechniken der Enthemmung bei Nietzsche und Elias David Wachter Nietzsche und Elias sehen den Motor kultureller Ordnungsstiftung in einer „Arbeit des Menschen an sich selber“.1 Auf einem langen Weg der Selbstdisziplinierung werden aggressive Triebe, die sich im hypothetischen Naturzustand diffus und ungehindert ausdrcken konnten, durch staatliche Organisationen und individuelle Affektkontrollen eingeschrnkt, zugleich aber auch konstruktiv umgeformt. Beide Denker heben somit die zentrale Bedeutung von Triebregulierungen fr den Zivilisationsprozess hervor. Jenseits dieser gemeinsamen Perspektive unterscheiden sich ihre Deutungen des Zusammenspiels von Gewalt und Zivilisation gleichwohl erheblich. Whrend Elias von einer progressiven Befriedung des Menschen durch die Abnahme physischer Gewalt auszugehen scheint, stellt Nietzsche die kulturelle Selbstformung des Menschen als einen Akt sublimierter Grausamkeit dar, in der triebhafte Gewalt nicht reduziert wird, sondern auf zahlreichen Umwegen ihre Gestalt ndert. Der folgende Beitrag mçchte durch einen gezielten Vergleich zwischen Nietzsches und Elias’ Zivilisationstheorien deren Sicht auf das Verhltnis zwischen Gewalt und Zivilisation beleuchten. Wirkt die von beiden beobachtete Affektdisziplinierung in jedem Fall befriedend? Oder generiert sie nicht auch neue Formen einer spezifisch zivilisatorischen Gewalt? Und wird diese neue Gewalt explizit thematisiert – sei es als verborgene Pathologie, als dialektisches Umschlagsphnomen oder als problematische Ambivalenz sowohl des staatlichen Gewaltmonopols wie der individuellen Affektdisziplinierung? Folglich steht die Frage im Raum, ob Nietzsche und Elias den Einbruch destabilisierender Gewalt in die kulturellen Arrangements von Fremd- und Selbstkontrollen ausschließlich als einen unzivilisierten Rest anarchischer Triebhaftigkeit auffassen, oder ob sich mit ihren Denkmodellen immanente Dezivilisierungstendenzen begreifen lassen – etwa die spezifisch modernen Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts, Weltkriege und Holocaust, die durch ein komplexes Zusammenspiel von staatlicher Ma1
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 2, KSA 5, S. 293.
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David Wachter
krogewalt, individueller Selbstdisziplinierung und gezielter Triebenthemmung zu charakterisieren wren. Und zuletzt bleibt zu untersuchen, ob Nietzsche und Elias mçgliche Deregulierungstendenzen nur als destruktive Gefhrdung zivilisatorischer Ordnung, oder im Gegenteil auch als konstruktiven Motor denken, der in einem gelingenden Zivilisationsprozess produktive Funktionen erfllt. Auf eine solche integrale Funktion von Deregulierungsbewegungen zielt die Wendung ,Kulturtechniken der Enthemmung‘ im Untertitel des vorliegenden Beitrags ab. Als ,Kulturtechnik‘ ließe sich eine solche Lockerung von Affektkontrollen verstehen, die nicht zum zerstçrerischen Ausbruch aus zivilisatorischen Ordnungsstrukturen fhrt, sondern einen funktionalen Bestandteil zivilisatorischer Triebçkonomien darstellt. Wie im Verlauf des Beitrags gezeigt werden soll, weisen Nietzsche und Elias – wenn auch mit sehr unterschiedlicher Tragweite – sportlichen Wettkmpfen und theatralen Inszenierungen eine solche Funktion gezielter Trieberregung als Lockerung von Affektkontrollen zu. Im Folgenden soll zunchst der Zusammenhang von Affektkontrolle und Gewalt in Norbert Elias’ Prozeß der Zivilisation 2 rekonstruiert werden. Sein Modell einer befriedenden Triebregulierung bildet zugleich den Hintergrund jener berlegungen zur „mimetischen Erregung“3 in sportlichen Wettkmpfen, die er zusammen mit Eric Dunning in Sport und Spannung im Zivilisationsprozeß entwickelt. In dieser Arbeit untersucht Elias kulturell produktive Formen einer gezielten Erregung agonaler Affekte, die als temporre Lockerungen der harten zivilisatorischen Kontrollen eine wichtige triebçkonomische Funktion erhalten. Doch entwickelt er auch ein berzeugendes zivilisationstheoretisches Modell zur Erklrung offensichtlich destruktiver Auflçsungen von Triebkontrollen, also der exzessiven Makrogewalt im 20. Jahrhundert, die doch dem Modell gelingender Triebregulierung auf Mikro- wie Makroebene so grundlegend zu widersprechen scheinen? Diese Frage soll in einem vergleichenden Blick auf die seit den sechziger Jahren entstandenen Studien ber die Deutschen 4 und den Aufsatz „Zivilisation und Gewalt“5 (1981) besprochen werden. Elias’ 2 3 4 5
Norbert Elias, ber den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1997 [1939]. Norbert Elias und Eric Dunning, Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, hrsg. von Reinhard Blomert u. a., bers. von Detlef Bremecke u. a., Frankfurt a. M. 2003, S. 84. Elias, Studien ber die Deutschen. Machtkmpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Michael Schrçter, Frankfurt a. M. 1992. Elias, Zivilisation und Gewalt, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 15, hrsg. von Reinhard Blomert u. a., Frankfurt a. M. 2006, S. 53 – 71.
Kulturtechniken der Enthemmung
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Deutung deregulierender Tendenzen soll dann kontrastiv mit Nietzsches Genealogie der Moral verglichen werden. Im Spannungsfeld von affektiver Gewaltttigkeit und zivilisatorischer Triebbearbeitung verschiebt Nietzsche gegenber Elias, so meine These, den Fokus auf den barbarischen Untergrund der Zivilisation, den er als notwendigen und produktiven Bestandteil jeder kulturellen Selbstbearbeitung des Menschen begreift. Elias deutet den Zivilisationsprozess als eine zunehmende Verinnerlichung von Fremd- zu Selbstzwngen. Trotz einer gelegentlich intonierten Rhetorik der Diskontinuitt treten Sprnge und Rckschritte sowohl auf der Ebene seiner prinzipiellen Konstruktion wie auf der Ebene seiner materialen Analysen in den Hintergrund, erscheint der Disziplinierungsprozess als im Wesentlichen linear gerichtet (Ausnahmen besttigen die Regel). Nietzsches Denken dagegen kreist gerade um die Spannung zwischen konstruktiver Affektkontrolle und rauschhaft-dionysischer Triebenthemmung, die in ihrer problematischen Verschrnkung die dynamische Grundlage der abendlndischen Kultur bilden sollen. Diese prinzipielle Differenz lsst sich auf einen unterschiedlichen normativen Impuls der Kulturtheorien von Nietzsche und Elias zurckfhren, aus dem wiederum bei beiden Autoren charakteristische konzeptionelle Blindheiten entstehen. Denn whrend Elias – seinem machtanalytischen Blick auf die Zwangsapparaturen der Zivilisation zum Trotz – als Advokat distinguierter Humanitt fr ein rationales Zivilisationsmodell einsteht, in dem aggressive Enthemmungen allenfalls als „freudige Erregung“6 in der Freizeitsphre produktiv werden kçnnen, verweist Nietzsches Genealogie auf eine immer auch grausame Kultur, bei der Triebformung und dionysischer Exzess miteinander verschrnkt bleiben.
1. Gewalt und Zivilisationsprozess bei Norbert Elias In seinem frhen Hauptwerk beschreibt Elias den Prozeß der Zivilisation als eine langfristig gerichtete Verhaltensnderung, die durch das Zusammenwirken von gesellschaftlichen Monopolisierungs- und Zentralisierungstendenzen (Soziogenese des Staats) und sozialen Zwngen entsteht, welche die Individuen bei erhçhter sozialer Interdependenz zu normkonformem Verhalten zwingen (Psychogenese des Individuums). Basierend auf der anthropologischen Auffassung vom Menschen als einem „modellierbare[n] und variable[n] Wesen“7 begreift Elias die Zivilisation als eine prozessuale 6 7
Elias und Dunning, Sport und Spannung, S. 115. Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 388.
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„Modellierung des ganzen Seelenhaushalts“,8 einen „gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang“.9 Zivilisierung ist demnach ein historischer Prozess, bei dem chaotisch-expressive Affekte durch zunehmende Kontrolle teilweise kulturell sublimiert, teilweise aber auch strikt unterdrckt werden. Die Voraussetzung dieser Triebdisziplinierung bildet die Befriedung des gesellschaftlichen Raums, die Elias beispielhaft an der çkonomisch-politischen Monopolbildung und der damit zusammenhngenden Entstehung staatlicher Strukturen vom Sptmittelalter bis zum franzçsischen Absolutismus untersucht.10 Er begreift diese Monopolbildung als eine Verstaatlichung jener Gewalt, die im vorstaatlichen Zustand zur alltglichen Selbstverteidigung der Menschen in anarchischen Lebensrumen notwendig war. Elias versteht Gewalt dabei als eine zunchst berlebensnotwendige physische Aggressivitt, die im vorstaatlichen Zustand der Bewltigung von Konflikten diente, im Rahmen staatlicher Ordnung jedoch bestndig abnimmt. Die Entstehung staatlicher Rahmenstrukturen ermçglicht und erfordert, im Zusammenhang mit der Entstehung lngerer Interdependenzketten durch wirtschaftliche Verflechtung und Konkurrenz, Elias zufolge eine zunehmende Regulierung auch der individuellen Triebbasis. Im Rahmen dieser Affektregulierung entstehen soziale Kontroll- und Disziplinierungsmechanismen, die vom Individuum ein hohes Maß an normkonformem Verhalten erzwingen. Diese ußere „Prgeapparatur“11 wird von den Individuen in hohem Maße als eine „Selbstkontrollapparatur“12 verinnerlicht, die automatisch abluft und ußere Kontrollen zunehmend berflssig macht. Hinsichtlich des Verhltnisses von Zivilisation und Gewalt weist Elias’ Theorie jedoch eine eigentmliche Ambivalenz auf. Einerseits hebt Elias hervor, dass die Internalisierung sozialer Verhaltensnormen und Triebregulierungen eine ganze Bandbreite zivilisatorischer Errungenschaften hervorbringt – vom Verzicht auf aggressive Gewalt im Alltag ber hygienische Tischsitten bis hin zur Privatisierung der Sexualitt. Diese produktiven Leistungen werden als Einhegung diffuser Gewalt und zugleich als zunehmende Emanzipation des Menschen von seinen Trieben verstanden. Gewalt bildet aus dieser Perspektive das negierte Andere der Zivilisation, gegen das 8 Ebd., S. 389. 9 Ebd., S. 323. 10 Siehe den lngeren Abschnitt „Zur Soziogenese des Staates“ in: ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 132 – 319. 11 Ebd., S. 331. 12 Ebd., S. 328.
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sie sich wendet und das sie zunehmend verringert. Andererseits beschreibt Elias die Zivilisierung der Individuen durch Verinnerlichung sozialer Kontrollen ihrerseits als eine Machtausbung. Der „Zwang zum Selbstzwang“13 stellt eine systematische Form der Gewalt dar, durch die zivilisierte Subjekte mittels Kontrolle berhaupt erst produziert werden. Die Regulierung der Triebe, direkte Wirkung einer ußeren Befriedung des Verhaltens, wird um den Preis einer strukturellen, anonymen und gewaltsamen Unterdrckung nach innen erkauft. Vermeintlich machtneutrale Aspekte von Subjektivitt wie rationales Denken oder moralisches Gewissen erweisen sich daher fr Elias als innerpsychische Kontrollinstanzen, welche soziale Zwnge in den Subjekten selbst verankern. Die Wirkungsweise dieser Instanzen beruht nicht zuletzt darauf, massive ngste vor Normbertretungen so im Unbewussten zu verankern, dass Grenzberschreitungen und Rckflle in spontane Affektußerungen unwillkrlich verhindert werden.
2. Pathologien der psychogenetischen Zivilisation? Doch entstehen aus einer solchen Manipulation von Triebwnschen nicht spezifische Spannungen im Affekthaushalt der Individuen, die als eine Art Unbehagen in der Kultur gerade die produktiven Errungenschaften der Zivilisation unterlaufen wrden? Im Prozeß der Zivilisation, der ja in erster Linie die produktiven Verzweigungen der Triebbearbeitung in den Blick bekommen will, wird dieses Problem nur an wenigen Stellen zur Sprache gebracht. Dort entwirft Elias jedoch ein psychoanalytisch anmutendes triebçkonomisches Konfliktmodell,14 demzufolge die aggressiven Affekte des Menschen nach agonaler Auseinandersetzung mit anderen Menschen drngen. Werden sie durch internalisierte Kontrollen an diesen Kmpfen gehindert, dann wird „der Kriegsschauplatz […] in gewissen Sinne nach innen verlegt“.15 Es entsteht ein „innerer Druck“,16 durch den die ußere Befriedung des Verhaltens in einem untergrndigen Krieg der Affekte gegen ihre Formungsinstanzen konterkariert wird. Die aggressiven Triebe wollen 13 Ebd., S. 323. 14 Zu Elias’ Bezug auf Freud siehe Johan Goudsblom, Zum Hintergrund der Zivilisationstheorie von Norbert Elias. Das Verhltnis zu Huizinga, Weber, Freud, in: Peter Gleichmann/ Johan Goudsblom/ Hermann Korte (Hrsg.), Macht und Zivilisation. Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie 2, Frankfurt a. M. 1984, S. 129 – 147. 15 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 341. 16 Ebd., S. 343.
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heraus; gleichzeitig verhindern die inneren Kontrollinstanzen deren Ausleben, das sie mit automatisierten ngsten belegen. Mit diesem kritischen Blick auf die Zivilisierungskonflikte als „Wunden“17 kçnnte Elias der vermeintlich befriedeten Zivilisation ihre pathologischen Kehrseiten aufzeigen. Und in der Tat entwirft er im Prozeß der Zivilisation zwei Szenarien eines mçglichen Scheiterns der zivilisatorischen Affektkontrolle: Auf der einen Seite eine so konsequente Durchsetzung der Zwangsapparaturen, dass die individuellen Triebe „ansthesiert“18 und gnzlich am Ausdruck gehindert werden; auf der anderen Seite eine Durchbrechung der Triebkontrollen durch „Zwangshandlungen und andere Stçrungserscheinungen“,19 die nicht in eine gelingende Affektregulierung integriert werden kçnnen. Gleichwohl nimmt Elias die kritischen Potentiale dieser Anomalie-Diagnose umgehend wieder zurck, wenn er die innerpsychischen Spannungen nicht als notwendige Konsequenz der Zivilisierung behandelt, sondern nur als mçgliches Problem in „relativ wenigen Fllen“,20 in denen die konsequente Umformung der Triebe nicht das zivilisierte Ausmaß an „bewußte[r] Selbstbeherrschung“21 erreicht. Diesen Stçrungen, die Elias zudem als „einseitige Zuund Abneigungen“22 oder als „Vorliebe fr irgendwelche kuriosen Steckenpferde“23 verharmlost, steht der Idealfall einer gelungenen Triebregulierung in der harmonischen Verbindung von affektiven Es- und kontrollierenden ber-Ich-Strukturen gegenber. Somit erhalten Elias’ berlegungen zum mçglichen Scheitern der Triebkontrolle nur von einem Verstndnis gelingender Zivilisierung her ihre Kontur. Er geht dabei von einem Sublimierungsmodell aus, nach dem der Zivilisierungsprozess gerade nicht in einer bloß repressiven Zwangsmaßnahme gegen ungeformte Triebe, sondern in deren konstruktiver „Umleitung und Verwandlung“24 besteht. Implizit wird hier also die Mçglichkeit einer erfolgreichen Zivilisierung hervorgehoben, bei der Triebkontrolle und Triebausdruck so verbunden werden kçnnen, dass einerseits soziale Konventionen verinnerlicht werden, andererseits jedoch subjektive Wnsche, Impulse und Begierden „in einer individuell hçchst befriedigenden und gesellschaftlich hçchst fruchtbaren Ttigkeit oder Begabung ihren Ausdruck 17 18 19 20 21 22 23 24
Ebd., S. 344. Ebd., S. 343. Ebd. Ebd., S. 346. Ebd., S. 342. Ebd., S. 343. Ebd. Ebd., S. 344.
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finden“.25 Elias scheint somit das disziplinatorische Zivilisationsmodell, das in seiner Machtsemantik von „Zwang“ und „Kontrolle“ ja auch rhetorisch akzentuiert wird, ein flexibleres Konzept der ,Regulierung‘ an die Seite zu stellen, das Spielrume individueller Selbstgestaltung erçffnet.
3. Kathartische Enthemmung: Mimetische Erregung im Sport Diese Differenz erhlt fr die Frage nach der Bedeutung affektenthemmender Gegentendenzen gegen die zunehmende Selbstbeherrschung eine entscheidende Bedeutung. Denn wenn Elias in einem Atemzug die Verunsicherung der zivilisatorischen Schranken durch revoltierende Triebregungen notiert und deren Integration durch sublimierende Formung in Aussicht stellt, erçffnet sich eine theoretische Verbindung zwischen der Regulierungsthese des Prozesses der Zivilisation und den berlegungen zur affektçkonomischen Funktion von Sport und Spiel, wie sie Elias in dem zusammen mit Eric Dunning verfassten Band Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation ausarbeitet.26 Im Prozeß der Zivilisation geht Elias nur an einer Stelle ausfhrlich auf sportliche Wettkmpfe ein, und zwar im Kapitel „ber Wandlungen der Angriffslust“, wo er am Beispiel von Boxkmpfen den Sport als einen „gemßigte[n] und genau geregelten Spielraum zur Entladung solcher Affekte“27 beschreibt. In seinen ausdrcklich dem Sport gewidmeten Arbeiten geht Elias dann von einem Sublimierungsmodell aus, das soziale Praktiken der Integration aggressiver Triebimpulse in zivilisatorisch produktiver Form diskutiert. Sport und Spiel werden dabei in erster Linie im Sinne agonaler Wettkmpfe verstanden, also eingeschrnkt auf denjenigen Aspekt von Spielen, den der franzçsische Kulturtheoretiker Roger Caillois auch als „comptition“ bezeichnet hat.28 Sie stellen fr Elias eben das dar, was ich mit der Wendung von den ,Kulturtechniken der Enthemmung‘ im Sinn habe: Eine gezielte und kulturell funktionale Erregung jener Affekte, die im Rahmen der zivilisatorischen Triebkontrolle unterdrckt worden sind. ,Kulturtechniken der Enthemmung‘ bieten diesen verdrngten Triebimpulsen die Mçglichkeit eines Ersatzausdrucks; sie 25 Ebd. 26 Vgl. Stephen Mennell, Sport and Violence, in: ders., Norbert Elias. Civilization and the Human Self-Image, Oxford 1989, S. 140 – 158. 27 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, S. 373. 28 Siehe Roger Caillois, Les jeux et les hommes, Paris 1967, dort besonders das Kapitel „Comptition et hasard“, S. 195 – 251.
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bestimmen den Bereich der Freizeit als einen Gegenraum zu jenem Bereich der Arbeit, in dem die individuellen Triebe weitgehend rationalisiert, d. h. eingeschrnkt und unterdrckt werden. Diese Kulturtechniken stellen jedoch keine anthropologischen Universalien jenseits des Zivilisationsprozesses dar, sondern haben ihrerseits eine Geschichte der Regulierung und Begrenzung durchlaufen. In seinem zentralen Aufsatz „Sport und Gewalt“ skizziert Elias den Verlauf dieses sportlichen Zivilisationsprozesses. Beginnend mit den Wettkmpfen im antiken Olympia, maßgeblich dem Ring- und Faustkampf Pankration, sieht er den Ursprung des Sports in einer Lust an gewaltttigen Wettkmpfen, die sich in frhen Stadien der Zivilisation noch weitgehend ungehemmt ausdrcken konnte, nur minimal geregelt und berwacht wurde und gelegentlich sogar tçdlich endete. Im Rahmen einer „Versportlichung“29 haben diese zunchst hçchst gewaltttigen und aggressiven Wettkmpfe dann aus Elias’ Sicht mehrere Zivilisationsschbe erfahren, in deren Folge sowohl ußere Regelwerke differenziert, als auch innere Gewalthemmungen installiert und bertretungen dieser durch sozialen Zwang errichteten Schranken zunehmend sanktioniert worden sind. Im Rahmen einer „wachsende[n] Internalisierung des gesellschaftlichen Gewaltverbots“30 werden diese ußeren Regeln von den Teilnehmern so weitgehend verinnerlicht, dass ihnen Gewaltausbrche und grausame Handlungen als unzulssige „Barbarei“ erscheinen, weil sie gegen die im Zivilisationsprozess errichteten Peinlichkeitsschwellen verstoßen wrden. Gleichwohl stellt sich aus dieser Perspektive die Frage, warum zivilisierte Gesellschaften, die sich ja durch eine erfolgreiche Sublimierung von Affekten auszeichnen sollen, die gezielte Enthemmung eben jener kontrollierten Affekte berhaupt nçtig haben – und sei es in noch so begrenzter und gewaltreduzierter Form. Stellt der Sport in seinen agonalen Varianten nur einen bedauerlichen Restbestand jener aggressiven Gewalt dar, die durch den Zivilisationsprozess zunehmend abgeschwcht worden ist, oder erfllt er positive kulturelle Funktionen? Die Antwort liegt in jener Diagnose der „Anpassungsspannungen“,31 die aus Elias’ Sicht die zivilisierten Menschen heimsuchen. Denn die Instanzen der Selbstkontrolle – Elias nennt sie „Gewissen“32 oder auch „ber-Ich“33 – sublimieren die verdrngten 29 30 31 32 33
Elias und Dunning, Sport und Spannung, S. 45. Ebd., S. 296. Ebd., S. 81. Ebd., S. 88. Ebd.
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Triebenergien nur bedingt; unbewltigte Reste drngen gegen die zivilisatorischen Schranken an. Zum Ausgleich dieser Spannungen werden Gegenmaßnahmen nçtig, gemßigte Lockerungen der Affektkontrollen, welche die durch die Zivilisierung entstandenen psychischen Irritationen kompensieren. Der Sport nun ermçglicht es dem zivilisierten Menschen, seine weiterhin bestehenden aggressiven Impulse in einem „kontrollierten gewaltlosen mimetischen Kampf“34 auszuleben, anstatt sie bloß zu negieren und zu verdrngen. An diesem Zitat ist jedes Wort hervorzuheben. Zunchst zum „Kampf“: Der Sport trgt nach Elias Spuren und Reste aggressiver Triebregungen in die zivilisatorisch befriedete Gesellschaft hinein. Gleichwohl untergrbt er damit nicht auf destruktive Weise die zivilisatorischen Triebschranken, sondern wird seinerseits durch institutionalisierte Regeln im Zaum gehalten – er wird „kontrolliert“. Als „angenehme Erregung“ befriedigt er aggressive Impulse, ohne schdliche Gewalt mit sich zu fhren. Diese verschobene und regulierte Befriedigung geschieht „mimetisch“, nmlich in einem simulierten und imitierten Kampf, der zugleich reale Grausamkeiten unterbindet, indem er diese auf eine „symbolische Ebene“ verschiebt.35 Damit erfllt der Sport als ,Kulturtechnik der Enthemmung‘ eine kathartische Funktion der Affektreinigung, wie Elias mit Bezug auf Aristoteles’ Tragçdientheorie hervorhebt. Dieser Bezug zeigt zudem, dass Elias die kathartische Funktion regulierter Affekterregung nicht allein auf den Sport eingeschrnkt sehen will. Vielmehr zhlt er, wenn auch nur auf kursorische Weise, zahlreiche weitere Freizeitbeschftigungen „vom Sport bis zur Musik und zum Theater, von Krimis bis zum Western, vom Jagen und Fischen bis hin zum Rennsport und Malen, vom Glcksspiel und Schach bis zum Swing- und Rocktanz“36 – und auch die „dionysischen Feste der alten Griechen“37 – zu den Techniken einer gezielten Lockerung von Affektkontrollen durch „Spannung“. Trieberregung erfllt somit, als spielerische Bewltigung mçglicher Zivilisations-
34 Ebd., S. 99. 35 Siehe Mennell, Norbert Elias, S. 142. Mit lockerem Bezug auf Elias beschreibt etwa der Kunsthistoriker Horst Bredekamp die Entlastungsfunktionen des florentinischen Calcio als „kathartische berfhrung roher Gewalt in eine Kunstform“, deren Genese er historisch nachzuzeichnen versucht, die er aber deutlicher als Elias als eine Form der Kompensation spezifischer Spannungen versteht. Siehe Horst Bredekamp, Florentiner Fußball: Die Renaissance der Spiele. Calcio als Fest der Medici, Frankfurt a. M./ New York 1993, S. 110. 36 Elias und Dunning, Sport und Spannung, S. 126 – 127. 37 Ebd., S. 125.
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schden, auch in der fortgeschrittenen Zivilisation eine unerlssliche Funktion.38 Bezieht man diese positive Darstellung kulturell funktionaler Erregungstechniken auf die Eingangsfrage nach dem Verhltnis von Zivilisation und Gewalt, so fllt auch hier auf, dass Elias dieses Verhltnis als das eines wechselseitigen Ausschlusses begreift. Gewalt erscheint als das Andere, von dem sich der Zivilisationsprozess auch im Bereich von Sport, Spielen und Festen nach und nach entfernt. Gewalt erscheint zudem ausschließlich als (stetig abnehmende) physische Aggression im direkten Wettkampf zwischen Individuen, nie jedoch als strukturelle Macht in gesellschaftlichem Zusammenhang. Elias’ Sportsoziologie bergeht damit systematisch die hçchst gegenwrtige kçrpertechnologische Macht, bei der die Affektregulierung im Dienst eines Kults der Fitness steht und der Kçrper zum Ort der Manipulation und der Leistungsoptimierung werden kann.39 Dass die zunehmende Rationalisierung des Sports spezifisch moderne Pathologien hervorbringen kçnnte, entgeht Elias’ allzu harmonischem Blick auf die affektive Kompensationskraft des Sports, der auf gelungene Weise in die zivilisatorische Befriedung gesellschaftlicher Rume wie individueller Kçrper integriert zu sein scheint. Damit ist jedoch ein Grundproblem seiner Zivilisationstheorie benannt, das auch fr die folgenden berlegungen zu destruktiven Formen der Affektenthemmung in der fortgeschrittenen Zivilisation von Bedeutung ist: Die Frage nmlich, ob Elias’ Zivilisationstheorie Gewalt nur als dasjenige begreifen kann, von dem sich Zivilisation zunehmend abgrenzt, oder ob sie auch einen Blick auf zivilisatorisch bewirkte destruktive Triebenthemmungen als spezifische Kehrseite der Triebregulierung mçglich macht.
4. Destruktive Enthemmung: Gewaltdynamik der Zivilisation? Bezogen auf die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts kann die Frage auch so formuliert werden: Wie lsst sich Elias’ Sicht der Zivilisation mit den kriegerischen und rassistischen Gewaltexzessen des 20. Jahrhunderts vereinbaren, die seinen Thesen doch so grundstzlich zu widersprechen scheinen? Außer Frage steht dabei natrlich, dass Elias persçnlich vom Nationalsozialismus existenziell betroffen war, hat er doch den Prozeß der Zivilisation und andere wichtige Arbeiten im britischen Exil verfassen 38 Siehe Mennell, Norbert Elias, S. 158. 39 Vgl. Gnter Seubold, Der idealische Kçrper. Philosophische Reflexionen ber die Machtergreifung der Kçrpertechnologien, Bonn 2008.
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mssen.40 Das Problem besteht vielmehr darin, welche theoretische Perspektive sich von seinem Zivilisationskonzept fr die Erklrung spezifisch moderner Gewaltdynamiken gewinnen ließe. Im Prozeß der Zivilisation selbst beschreibt Elias den gesellschaftlichen Formungsprozess als eine ußere (gesellschaftliche) und innere (psychische) Befriedung des Menschen, die mit einer zunehmenden Einrichtung und Befestigung staatlicher Ordnungen durch die Monopolisierung der Gewalt einhergeht. Obwohl er diesen Prozess der Affektdisziplinierung – wie schon gezeigt – als „Zwang zum Selbstzwang“41 bezeichnet und damit als eine von staatlichen Institutionen ausgehende gesellschaftliche Herrschaft beschreibt, bleibt sein Gewaltbegriff ausschließlich auf jene physische Gewalt begrenzt, die aus seiner Sicht im Verlauf der Zivilisierung stetig abnimmt. Andere Formen der Gewalt wie psychische Gewalt, strukturelle Gewalt42 oder symbolische Gewalt43 bleiben in seinem Hauptwerk weitgehend unterreflektiert. Und auch die von Staaten ausgehende Makrogewalt – die nur selten berhaupt erwhnt wird – kommt ausschließlich in ihrer ordnungsstiftenden und -verstrkenden, nicht aber in einer mçglichen zerstçrerischen Hinsicht in den Blick.44 Kriege stellen dann stets einen konstruktiven Schritt hin zu einer Befriedung der Gesellschaft auf hçherer Ebene dar, indem sie zur „Bildung 40 Siehe dazu Hermann Korte, ber Norbert Elias. Das Werden eines Menschenwissenschaftlers, Opladen 1997. 41 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 323. 42 Siehe etwa Johan Galtung, Strukturelle Gewalt, Reinbek bei Hamburg 1975. 43 Siehe etwa Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1993, dort besonders das Kapitel „Die Herrschaftsweisen“, S. 222 – 245. 44 Die kritische Forschung hat wiederholt hervorgehoben, dass der problematische Bezug von Gewalt und Zivilisation in Elias’ Theorie unterbelichtet bleibt, da seine Zivilisationstheorie ihn allein als ein Verhltnis des wechselseitigen Ausschlusses begreift. Fr die wichtigsten Kritikpunkte an Elias’ Modell der Zivilisation als Gewaltverringerung durch Triebkontrolle siehe Peter Imbusch, Moderne und Gewalt. Zivilisationstheoretische Perspektiven auf das 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2005, S. 274 – 306; Hartmut Kçnig, Zivilisation und Barbarei. ber eine blinde Stelle der Zivilisationstheorie, in: Gerald Mader/ Wolf-Dieter Eberwein/ Wolfgang R. Vogt (Hrsg.), Frieden durch Zivilisierung? Probleme – Anstze – Perspektiven, Mnster 1996, S. 146 – 155; Stefan Breuer, ber die Peripetien der Zivilisation. Eine Auseinandersetzung mit Norbert Elias, in: Helmut Kçnig (Hrsg.), Politische Psychologie heute, Opladen 1988, S. 411 – 432. Zum Versuch, die Schwchen von Elias’ Modell durch eine Weiterentwicklung seines eigenen Ansatzes zu beheben und einen spezifisch zivilisationstheoretischen Blick auf die Dezivilisierungsbewegungen der Moderne zu entwickeln, siehe folgende Arbeiten: Jonathan Fletcher, Violence and Civilization. An introduction to the work of Norbert Elias, Cambridge u. a. 1997; Mennell, Norbert Elias, S. 227 – 250.
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von Gewaltmonopolen ber grçßere Teile der Erde und damit, durch alle Schrecken und Kmpfe, zu deren Pazifizierung“45 beitragen: Sie erscheinen nicht als Defizite, sondern als Katalysatoren des Zivilisationsprozesses, die Elias’ Grundannahme zunehmender Ordnung nicht infrage stellen. Ausfhrlicher als im Prozeß der Zivilisation setzt sich Elias in spteren Arbeiten, maßgeblich in seinen Studien ber die Deutschen und in kleineren Aufstzen wie „Zivilisation und Gewalt“, mit den radikalen Dezivilisierungsprozessen des 20. Jahrhunderts, besonders dem Holocaust, auseinander. Dort verortet er die ideologischen Wurzeln des Nationalsozialismus in einem spezifisch deutschen „nationalen Habitus“,46 der historisch entstanden sei und mit strukturellen Defiziten der Staatsbildung zusammenhnge. Abgesehen von der hier nicht zu erçrternden Frage, wie plausibel diese These vom deutschen Sonderweg sein mag, gelingt Elias auch hier keine im engeren Sinne zivilisationstheoretische Erklrung dieser modernen Form der Makrogewalt. Vielmehr stellt der Nationalsozialismus mit seinem „primitiven, barbarischen Nationalmythos“47 aus Elias’ Sicht einen Sonderfall misslungener Zivilisierung dar, zurckzufhren auf die lange Abwesenheit eines deutschen Zentralstaats, und nicht etwa auf eine grundstzliche Ambivalenz des spezifisch zivilisatorischen Gewaltmonopols des Staates.48 Gewalt tritt nicht als mçgliche Konsequenz des Zivilisationsprozesses auf, sondern ist ausschließlich als dessen barbarisches und irrationales „Gegenspiel“49 denkbar. Auch die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts sind aus Elias’ Sicht nicht auf die konzentrierten Gewaltpotentiale des modernen Staates zurckzufhren. Vielmehr entstehen sie in einem unvollendeten Stadium der Zivilisierung, in dem die staatliche Pazifizierung im zwischenstaatlichen Bereich noch nicht angekommen ist. Dieses Defizit wre aus Elias’ Sicht durch die Errichtung eines zwischenstaatlichen Gewaltmonopols, also im Gefolge einer konsequenten Durchsetzung der zivilisatorischen Ordnungsstrukturen, prinzipiell durchaus zu beheben. Diese theoretische Blindheit mag damit zusammenhngen, dass Elias von einer prinzipiell unilinearen Richtung zunehmender Affektkontrollen ausgeht, bei der dialektische Kippbewegungen und radikale Brche keine spezifisch zivilisatorischen Phnomene darstellen – was ihm von dem 45 46 47 48
Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 463. Elias, Studien ber die Deutschen, S. 7. Ebd., S. 501. Zwar ist bei Elias gelegentlich auch von einem „Doppelgesicht“ (ebd., S. 228) des staatlichen Gewaltmonopols die Rede. Doch von eher kursorischen Bemerkungen abgesehen, entwickelt Elias diese Erkenntnis nicht weiter. 49 Elias, Zivilisation und Gewalt, S. 55.
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Ethnologen Hans Peter Duerr in einer langjhrigen Polemik auf empirischer Basis auch in extenso vorgeworfen worden ist.50 Fr die spezifisch moderne Ambivalenz staatlicher Ordnungen und ihrer brokratischen Apparate, die aufgrund ihres erhçhten Gewaltpotentials infolge von Monopolbildung, zweckrational-effizienter Organisation, funktionaler Arbeitsteilungen und erweiterten technischen Mçglichkeiten eben auch ganz neuartige Gewaltexzesse hervorbringen kçnnen, entwickelt Elias kein berzeugendes theoretisches Erklrungsmodell.51 Ebenso entgeht seinem Blick die Ambivalenz der individuellen Selbstregulierung: Dass gerade der Holocaust keinen Ausbruch irrationaler Mordlust darstellte, sondern im Gegenteil disziplinierte und kalkulierbare Subjekte zur Voraussetzung hatte, lsst sich mit Elias’ Pazifizierungsmodell der Zivilisation offensichtlich nicht begreifen.52 50 Siehe die monumentale Reihe von Hans Peter Duerr, Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Frankfurt a. M. 1988 – 2002, besonders Bd. 3: Obszçnitt und Gewalt [1993]. Vgl. dazu auch Michael Hinz, Der Zivilisationsprozeß: Mythos oder Realitt? Wissenschaftssoziologische Untersuchungen zur Elias-Duerr-Kontroverse, Opladen 2002. 51 „Ambivalenz“ bildet dagegen das zentrale Stichwort in der Moderne- und Zivilisationstheorie des polnischen Soziologen Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992. Eine ausfhrlichere Auseinandersetzung mit Elias’ Deutung des „Zusammenbruchs der Zivilisation“ im nationalsozialistischen Regime htte anzusetzen bei Baumans Erkenntnis einer fundamentalen Ambivalenz des modernen Staats, der Sicherheitsgarant und potentiell destruktive Bedrohung zugleich sein kann. Siehe dazu auch Imbusch, Moderne und Gewalt, S. 303 – 304. Dass die Entzivilisierungsbewegung des NS-Regimes nicht ein Zerfallsphnomen moderner Staatlichkeit darstellt, sondern staatliche Strukturen gerade die Bedingung der Mçglichkeit des Holocaust bildeten, darauf verweisen besonders Abram de Swaan, Zivilisierung, Massenvernichtung und der Staat, in: Leviathan 28/2 (2000), S. 192 – 201 sowie Ian Burkitt, Civilization and Ambivalence, in: British Journal of Sociology 47/1 (1996), S. 135 – 150. Und dass auch der frhneuzeitliche Staat nicht durchweg gewaltmindernd wirkte – Stichwort: Systematisierung der Folter – das betont Martin Dinges, Formenwandel der Gewalt in der Neuzeit. Zur Kritik der Zivilisationstheorie von Norbert Elias, in: Rolf Peter Sieferle/ Helga Breuninger (Hrsg.), Kulturen der Gewalt: Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte, Frankfurt a. M./ New York 1998, S. 171 – 194, hier S. 183 – 184. Siehe zu dieser Thematik auch den Sammelband von Max Miller/ Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Modernitt und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnose am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1996. 52 Auf Elias’ einseitigen Gewaltbegriff verweist Mary Fulbrook, Introduction: The Character and Limits of the Civilizing Process, in: dies. (Hrsg.), Un-civilizing Processes? Excess and Transgression in German Society and Culture: Perspectives Debating with Norbert Elias, Amsterdam/New York 2007, S. 1 – 16, hier besonders S. 13 – 14.
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5. Grausamkeit und Kultur in Nietzsches Genealogie der Moral Wie aber stellt sich der komplexe Zusammenhang von Gewalt und Zivilisation aus der Perspektive Friedrich Nietzsches dar? Seine spte Schrift Zur Genealogie der Moral (1887) untersucht die „Herkunft“53 moralischer Urteile und ihre historischen Sinnverschiebungen. Im Zentrum steht dabei die Metamorphose vorkultureller Grausamkeit in Prozessen der ,Selbstzchtung‘ des Menschen. Nietzsches genealogischer Blick zeichnet, darin der Eliasschen Zivilisationstheorie durchaus vergleichbar, die Herkunft der Kultur aus einer exzessiven Triebhaftigkeit nach, die im Rahmen kultureller Ordnungen bearbeitet wird. Anders als Elias jedoch, der in der Gewalt ungeformter Affekte das zu bewltigende Andere des Zivilisationsprozesses sieht, begreift Nietzsche affektive Grausamkeit als zentrale kulturelle Triebkraft. Entsprechend seiner Machthypothese, nach der „das Leben essentiell, nmlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungirt“,54 verortet er den Beginn jeder Kultur im rauschhaften Ausdruck eines aggressiven Lebenswillens, der sich gegenber Anderen mit Gewalt durchsetzt. Der frhe „Barbar“ bekommt dabei eine kulturell positive Funktion und wird zum Faszinosum. An den Trgern elementarer Vitalitt begeistert und erschreckt Nietzsche das Unberechenbare, das Unwahrscheinliche selbst ihrer Unternehmungen […] ihre Gleichgltigkeit und Verachtung gegen Sicherheit, Leib, Leben, Behagen, ihre entsetzliche Heiterkeit und Tiefe der Lust in allem Zerstçren, in allen Wollsten des Siegs und der Grausamkeit […].55
Gewalt und kulturelle Dynamik schließen sich fr Nietzsche nicht aus. Vielmehr wirkt der triebhaft ausschweifende Barbar aus seiner Sicht zugleich als erster Begrnder einer kulturellen Ordnung. Wie Nietzsche auch in der frhen Schrift „Der griechische Staat“ (1872) hervorhebt, sieht er die Urform eines politischen Gemeinwesens in der Leistung von „Eroberer[n]“56, die ihre „Lust am Staate“57 notfalls auch mittels Kriegen gegen andere durchsetzen und strken. Entsprechend seinem Diktum aus Jenseits von Gut und Bçse (1886), nach dem „[f ]ast Alles, was wir ,hçhere Cultur‘ nennen, […] auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit“58 beruht, ver53 54 55 56 57 58
Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Vorrede § 2, KSA 5, S. 248. Ebd., II § 11, S. 312. Ebd., I § 11, S. 275. Nietzsche, Der griechische Staat, KSA 1, S. 770. Ebd., S. 771. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 229, KSA 5, S. 166.
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steht Nietzsche den Prozess der kulturellen Selbstformung des „noch nicht festgestellte[n] Thier[s]“ Mensch59 als Bearbeitung und Umwandlung jener triebhaften Grausamkeit, die im Rahmen der Herstellung regulierender Affektschemata durch „berwltigungsprozesse[ ]“60 nicht aufgehoben wird, sondern in Prozessen der „Sublimirung und Subtilisirung“61 bloß ihre Gestalt ndert. Was den kulturellen Menschen jedoch von der diffusen Aggressivitt der „blonde[n] Bestie“62 unterscheidet, sind die disziplinatorischen Zwangsmechanismen, mit denen er seinen Triebhaushalt hemmt, verndert und umformt. Diesen diskontinuierlichen, gleichwohl durch Machtstrategien gerichteten Prozess bezeichnet Nietzsche auch als eine Zchtung der Kçrper. Die Individuen werden gewaltsam in eine bestimmte Richtung manipuliert, es wird ihnen durch ein komplexes System von Strafen ein kçrperliches Gedchtnis „angezchtet“:63 „der Mensch wurde mit Hlfe der Sittlichkeit der Sitte und der socialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht“.64 Der Grausamkeit und dem durch sie bewirkten Schmerz kommt die zentrale Funktion in einer solchen Politik der Erinnerung zu, wie Nietzsche in seinem berhmten Aphorismus zur Mnemotechnik hervorhebt: „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedchtniss bleibt: nur was nicht aufhçrt, weh zu thun, bleibt im Gedchtnis“.65 Gleichzeitig zeigt Nietzsche – und auch hier lsst sich der Bezug zu Elias’ Internalisierungsthese herstellen – dass diese Triebmanipulationen von den Individuen einverleibt und als Selbstzwnge reproduziert werden.
6. Kritik der Zivilisation als kultureller Niedergang Die zweite Abhandlung der Genealogie der Moral bildet das Kernstck von Nietzsches Nachvollzug der Metamorphosen der Grausamkeit und ihrer produktiven Auswirkungen im Prozess der kulturellen Erinnerungsbildung. Fr den Vergleich mit Elias’ Zivilisationstheorie ist dabei besonders das Verhltnis zwischen dem Recht als erster sozialer Ordnung und den Prozessen einer „Verinnerlichung“66 der Grausamkeit entscheidend, bei dem 59 60 61 62 63 64 65 66
Ebd., § 62, S. 81. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 12, KSA 5, S. 314. Ebd., II § 7, S. 303. Ebd., I § 11, S. 275. Ebd., II § 1, S. 292. Ebd.,II § 2, S. 293. Ebd., II § 3, S. 295. Ebd., II § 16, S. 322.
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Nietzsche „schlechtes Gewissen“ und „Schuld“ als innere Kontrollinstanzen der Selbsthemmung, also der Richtungsnderung triebhafter Aggressivitt identifiziert.67 Dabei verortet er die Entstehung des Rechts in einer vorgeschichtlichen konomie der Grausamkeit, und zwar als ein obligationsrechtliches Verhltnis zwischen einem Schuldner und einem Glubiger.68 Denn die Strafe, die der Glubiger bei ausbleibender Rckzahlung çkonomischer Schulden gegen seinen Schuldner erhebt, stellt eine Ersatzhandlung dar: Beim „Anrecht auf Grausamkeit“69 wird der erlittene Schaden durch das Vergngen des Qulen-Drfens aufgewogen. Den Ursprung des Rechts sieht Nietzsche somit im Machtwillen eines (sozial strkeren) Glubigers, der sich durch wollstige Grausamkeit an seinem Schuldner schadlos hlt.70 Trger dieses Machtbeweises ist der Staat, den Nietzsche – anders als Elias – nicht in erster Linie als Rahmenstruktur gesellschaftlicher Befriedung, sondern als Ausdruck eines Machtwillens einzelner Gruppen, mithin als ein „Herrschafts-Gebilde“71 analysiert. Wie bei Elias erscheint der Staat als ein Ordnungsfaktor, der jedoch – verschoben auf die idealtypische Vorzeit – deutlicher auf einen Akt der Bemchtigung zurckgefhrt und damit als Resultat einer gewaltsamen Aneignung – eine „furchtbare Tyrannei“72 – kenntlich gemacht wird. Entscheidend an Nietzsches Straftheorie ist, dass er das individuelle Obligationsverhltnis in staatlichem Rahmen auf die gesamte Gesellschaft bertrgt: Der Verbrecher fungiert als Glubiger gegenber dem Gemeinwesen, das sich an ihm rcht, indem es ihn aus seiner Mitte ausstçßt. Damit wird die individuelle Glubiger-Schuldner-Beziehung zu einem gesellschaftlichen Herrschaftsverhltnis, das den eigenen Machtwillen des Verbrechers grausam bestraft. An diese Straftheorie schließt Nietzsche seine Hypothese zur Entstehung des „schlechten Gewissens“ an. Die Furcht vor Grausamkeit und Rache, zuvor nur Eigenschaft des Verbrechers, weitet sich 67 Vgl. Marco Brusotti, Die ,Selbstverkleinerung des Menschen in der Moderne‘. Studie zu Nietzsches ,Zur Genealogie der Moral‘, in: Nietzsche-Studien 21 (1992), S. 81 – 136. 68 Zur konomie der Grausamkeit siehe auch Peter Sedgwick, Violence, Economy and Temporality. Plotting the Political Terrain of On the Genealogy of Morality, in: Nietzsche-Studien 34 (2005), S. 163 – 185; Henry Kerger, Autoritt und Recht im Denken Nietzsches, Berlin 1988, S. 20 – 24. 69 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 5, KSA 5, S. 300. 70 Vgl. Jean-Christophe Merle, Nietzsches Straftheorie (II 8 – 15), in: Otfried Hçffe (Hrsg.), Friedrich Nietzsche. Zur Genealogie der Moral, Berlin 2004, S. 97 – 113. 71 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 17, KSA 5, S. 325. 72 Ebd., S. 324.
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auf die ganze Gesellschaft aus. Aus Furcht, von der Gemeinschaft fr die eigene Grausamkeit gegen andere bestraft zu werden, wendet sich die Gewaltlust der Individuen gegen sich selbst. Das schlechte Gewissen entsteht aus einer zunchst aktiven Lust an Grausamkeit, einem „Instinkt der Freiheit“,73 dem es jedoch verwehrt wird, sich als Machtwillen gegen andere auszudrcken. Auf diese Weise entsteht, „als die Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der thierischen Vergangenheit“,74 eine subjektive Innenwelt, in der das „an den Gitterstangen seines Kfigs sich wund stossende Thier“75 sich selbst qult – es kommt zur „Verinnerlichung des Menschen“.76 Anders als in Elias’ Perspektive fhrt die „Zhmung“77 somit bei Nietzsche nicht zu einer Rationalisierung des Trieblebens, sondern zu einer „heimlichen Selbst-Vergewaltigung“,78 in der sich die aggressiven Triebe gegen sich selbst wenden. Zugleich hebt Nietzsche, wenn er den „inneren Menschen“79 als Ergebnis einer Richtungsnderung der Grausamkeit interpretiert, die kulturell produktive Wirkung der Triebmetamorphose hervor, in deren Folge Subjekte, die sich ihrer selbst bewusst sind, berhaupt erst entstehen. Hierin trifft er sich mit Elias, der ebenfalls die Selbstkontrollinstanzen des Gewissens und des ber-Ichs auf eine „Verinnerlichung“80 ußerer Zwnge zurckfhrt. Nietzsche betont jedoch deutlicher den ambivalenten Charakter dieses Prozesses – und damit zugleich die Mehrdeutigkeit der Zivilisation. Denn anders als Elias, fr den der Zivilisationsprozess bei allem Zwangscharakter eine erfolgreiche Emanzipation des Menschen von der Willkr seiner Triebe darstellt, interpretiert Nietzsche die Entstehung des schlechten Gewissens als einen kulturellen Niedergang. Die Moral des Ressentiment, die aus seiner Sicht die spezifisch christliche Form der Selbstbeherrschung prgt und das nach innen gewendete „schlechte Gewissen“ in einem langdauernden Prozess verfestigt,81 erscheint ihm als ,Vermittelmßi-
73 74 75 76 77 78 79 80 81
Ebd., S. 325. Ebd., II § 16, S. 323. Ebd. Ebd., S. 322. Siehe dazu Brusotti, Die Selbstverkleinerung des Menschen, S. 101 – 102, sowie Werner Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘, Darmstadt 1994, S. 155 – 161. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 22, KSA 5, S. 332. Ebd., II § 18, S. 326. Nietzsche, Nachlaß 1880 – 1882, KSA 9, 4[164], S. 142. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 16, KSA 5, S. 322. Zur Verbindung von „schlechtem Gewissen“und „Ressentiment“siehe Brusotti, Die Selbstverkleinerung des Menschen, S. 110 – 111.
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gung‘ des Menschen zum „Hausthier“, mithin als „Rckgang der Menschheit“.82
7. Dionysische Kulturtechniken beim „souverainen Individuum“ In gewissem Sinne ließe sich somit Nietzsches Zivilisationskritik als eine Gegenerzhlung zu Elias’ positiver Bewertung der Triebregulierung auffassen. Dies ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Denn mehrdeutig erscheint die Zivilisation fr Nietzsche insofern, als er ihren Prozess als agonale Auseinandersetzung zwischen zwei gegenlufigen „Macht-Complexen“83 begreift: Der Tendenz zur Lebensverneinung in der Moral des Ressentiment, die er auch als „Sklaven-Moral“84 bezeichnet, steht eine „vornehme Moral“ gegenber, die „aus einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber herauswchst“.85 Auch wenn Nietzsche die „vornehme Moral“ wiederholt an die Figur des lebensbejahenden, in aggressivem Schaffenstrieb schwelgenden Barbaren rckkoppelt, stellt der Gegensatz der beiden Moralarten nicht einen blanken Dualismus zwischen Barbarei und Zivilisation dar, in dem Nietzsche allein die Blickrichtung ndern und den verfemten Part – den Barbaren – favorisieren wrde. Vielmehr markieren „Sklavenmoral“ und „vornehme Moral“ zwei gegenlufige Tendenzen eben jener affektregulierenden „Zhmung“,86 die als Umformung des menschlichen Affekthaushaltes aus Nietzsches Sicht die entscheidende Triebkraft kultureller Prozesse darstellt. In diesem Sinne singt Nietzsche, aller Faszination fr die „blonde Bestie“87 zum Trotz, auch nicht das Loblied zgelloser Triebhaftigkeit. Vielmehr geht es seiner Genealogie der Moral, die dezidiert die Grenzen zwischen distanzierter Analyse und kulturkritischem Engagement berschreitet, um eine Richtungsnderung der Zivilisation: Im Rahmen einer „Hçherzchtung“88 sollen sich Entgrenzung und Regulierung in der Figur des „souveraine[n] Individuum[s]“89 treffen. Diese „Hçherzchtung“ ließe 82 83 84 85 86 87
Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, I § 11, KSA 5, S. 276. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 11, KSA 5, S. 313. Ebd., I § 10, S. 271. Ebd., S. 270. Ebd., II § 22, S. 332. Ebd., I § 11, S. 275. Zur langen Geschichte der Fehllektren eben jenes Diktums von der „blonden Bestie“ siehe Detlef Brennecke, Die blonde Bestie. Vom Missverstndnis eines Schlagworts, in: Nietzsche-Studien 5 (1976), S. 113 – 145. 88 Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, S. 313. 89 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 2, KSA 5, S. 293.
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sich als ein paradoxer Versuch deuten, formende Affekt-Hemmung und dionysische Affekt-Enthemmung als kulturell produktive Komplementrstrategien miteinander zu verbinden, so dass sich die Figuren des Vornehmen und der Bestie in einer Art ,vornehmer Bestie‘ treffen. Aus Nietzsches Sicht wird dabei die Selbstdisziplinierung weitergefhrt, aber ber den Bereich der heteronomen Moral hinausgetrieben – in Richtung auf ein „autonome[s] bersittliche[s] Individuum“90, das sich gleichsam die (Selbst-) Regulierungsformen der tradierten Kultur neu aneignet. Fr die so entstehende neue Kultur spielen dann ,Kulturtechniken der Enthemmung‘eine entscheidende Rolle. Denn Nietzsche betont ausdrcklich die kulturelle Notwendigkeit einer zumindest temporren bertretung von Affektschranken, in der jene aggressiven Bemchtigungsimpulse des barbarischen „Raubthiers“91 erneuert werden: „[E]s bedarf fr diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Thier muß wieder heraus, muss wieder in die Wildniss zurck […]“.92 Nietzsches Faszination fr das grausame „Raubthier“ richtet sich direkt gegen die verstockten Hemmungen der Ressentiment-Moral – und sollte in seiner explosiven und transgressiven Potenz nicht unterschtzt werden: Es widersteht, wie mir scheint, der Delikatesse, noch mehr der Tartfferie zahmer Hausthiere (will sagen moderner Menschen, will sagen uns), es sich in aller Kraft vorstellig zu machen, bis zu welchem Grade die Grausamkeit die grosse Festfreude der lteren Menschheit ausmacht.93
Die ausdrckliche Erwhnung des „Festes“, vielleicht das markanteste Beispiel einer trieberregenden Kulturtechnik, lsst zugleich ahnen, dass Nietzsche grausame Affekte nicht als destruktiven Gegensatz, sondern als produktiven Bestandteil jeder Kultur begreift. Dieser Motivkomplex der ,Enthemmung‘ lsst sich zudem mit Nietzsches berlegungen zur kulturellen Notwendigkeit einer „aktiven Vergesslichkeit“94 verbinden, mit denen er seine Diskussion des „souveraine[n] Individuum[s]“ einleitet. Dort erscheint die Vergesslichkeit als Vermçgen einer „tabula rasa des Bewusstseins“.95 In diesem Sinne stellt auch die temporre Aufhebung von Triebhemmungen eine physiologische Variante des Vergessens dar, zu dem der in sich selbst verschachtelte und seine aktiven Triebe verleugnende Mensch des 90 91 92 93 94 95
Ebd. Ebd., I § 11, S. 275. Ebd. Ebd., II § 6, S. 301. Ebd., II § 1, S. 291. Ebd.
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Ressentiments nicht (mehr) fhig ist. Hier wre mit Nietzsche der produktive Ort des Barbaren in der Triebçkonomie des souvernen Individuums zu suchen. Zugleich betont Nietzsche aber auch das Gegenprinzip zur Vergesslichkeit, das „Gedchtniss des Willens“.96 Es bildet die Voraussetzung fr jene „Verantwortlichkeit“,97 die den eigentlichen Fluchtpunkt der kulturellen Triebumformung darstellt: „Ein Thier heranzchten, das versprechen darf“.98 Die Voraussetzung eines solchen Versprechen-Drfens besteht in der Emanzipation des Menschen von der Willkr seiner vorgeschichtlichen Triebe, in der Selbstdisziplinierung hin zu einer „Herrschaft ber sich“,99 die Bestndigkeit und Verlsslichkeit mit sich bringt. Sie bildet das Gegenprinzip zum Vergessen der Triebschranken und setzt eine lange Anstrengung der Selbstregulierung voraus, die mitten durch kulturelle Zwnge hindurch zum „autonome[n] bersittliche[n] Individuum“fhrt. Damit hat aber das souverne Individuum eine Richtungsnderung eben jener sublimierten Grausamkeit zur Voraussetzung, die Nietzsche an der Moral des schlechten Gewissens herausarbeitet. Dieser Horizont wirft zugleich ein neues Licht auf die von Nietzsche beschriebene „Verinnerlichung des Menschen“100 in der Moral. Denn so defizitr sie in der Gestalt des Ressentiments erscheint, so notwendig ist sie zugleich fr die Herausbildung eines mit der Moral ber die Moral hinausgelangenden Individuums, das sie als „grosses Versprechen“101 in sich trgt. Der souverne Mensch stellt sich so dar als einer, der weder primitiven Triebzwngen noch den disziplinierenden Fremdzwngen der Moral des schlechten Gewissens heteronom unterworfen ist, sondern sich selbst aus seinem dominierenden Instinkt heraus ein Gesetz gibt, sich selbst formt und somit quasi aus sich selbst heraus „versprechen darf“ – immer mit der Mçglichkeit, im Sinne dieses dominierenden Instinktes erinnerte Affektschranken immer auch wieder temporr vergessen zu kçnnen.102 96 Ebd., S. 292. Siehe dazu auch Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘, S. 131 – 139 sowie Otfried Hçffe, ,Ein Thier heranzuzchten, das versprechen darf‘ (II 1 – 3), in: ders. (Hrsg.), Friedrich Nietzsche. Zur Genealogie der Moral, Berlin 2004, S. 65 – 79. 97 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA 5, II § 2, S. 293. 98 Ebd., II § 1, S. 291. 99 Ebd., II § 2, S. 294. 100 Ebd., II § 16, S. 322. 101 Ebd., S. 324. 102 In diesem Sinne wre freilich die allzu autonomieethische Deutung, die Volker Gerhardt dem „Versprechen“ Nietzsches gibt, um ihr barbarisches Anderes zu ergnzen. Siehe Volker Gerhardt: ,Das Thier, das versprechen darf‘. Mensch, Gesellschaft und Politik bei Friedrich Nietzsche, in: Otfried Hçffe (Hrsg.), Der Mensch
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Mit Blick auf spezifische Kulturtechniken dieser Synthese aus Vergessen und Erinnern lsst sich an dieser Stelle ein knapper Bezug zur frhen Arbeit Die Geburt der Tragçdie (1872) herstellen. Dort deutet Nietzsche die antike Tragçdie als eine Verbindung von regulierender Form (apollinisches Prinzip) und enthemmendem Rausch (dionysisches Prinzip), bei der dem Rausch eben die Funktion einer gezielten Erregung zukommt. Das Dionysische steht hier fr ein zugleich schreckliches wie lustvoll erfahrenes „Zerbrechen des principii individuationis“,103 bei dem die Selbstregulierungsschranken des zivilisatorischen Subjekts berschritten werden. Durch diese Transgression, die mittels der Tragçdie in eine kulturell produktive Form gebracht wird, bleibt ein notwendiger Bezug der gezhmten Individuen zu ihrer barbarischen und triebhaften Lebensgrundlage erhalten. Formung und Deregulierung werden dabei wechselseitig aufeinander verwiesen: „Apollo konnte nicht ohne Dionysus leben!“104
8. Fazit Der vorliegende Beitrag versuchte zu zeigen, dass Elias und Nietzsche jeweils spezifische Zivilisations- bzw. Kulturmodelle entwickeln, die auf der produktiven Formung und Regulierung diffuser aggressiver Affekte beruhen – einer Regulierung, die jedoch ihrerseits gesellschaftlichen Zwngen (Elias) bzw. der Selbstbemchtigung durch einen dominierenden Trieb (Nietzsche) verpflichtet bleiben. Dabei hat sich gezeigt, dass beide zugleich die Frage nach der Integration triebenthemmender Tendenzen in den Prozess der Selbstformung stellen und dabei zu je eigenen ,Kulturtechniken der Enthemmung‘ gelangen – als Formen einer regulierten Transgression. Vor diesem gemeinsamen Hintergrund unterscheiden sich Nietzsche und Elias gleichwohl darin, wie radikal sie diese regulierten Enthemmungen begreifen. Zwischen Elias’ „angenehmer Freizeiterregung“ und Nietzsches dionysischem Rausch besteht zweifellos ein Unterschied der Intensitt, der jedoch auch kulturtheoretische Differenzen impliziert. Dieser Unterschied hngt damit zusammen, dass Elias’ Disziplinierungsmodell in letzter Instanz rationalistisch argumentiert, whrend Nietzsches Kulturmodell der subli-
– ein politisches Tier? Essays zur politischen Anthropologie, Stuttgart 1992, S. 134 – 156. 103 Nietzsche, Die Geburt der Tragçdie, KSA 1, S. 28. 104 Ebd., S. 40.
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mierten Grausamkeit auch die kulturelle Notwendigkeit radikaler Brche, des Vergessens und der produktiven tabula rasa betont.
IV. Anthropologie der Endlichkeit
Das Sterben denken. Zur Mçglichkeit einer ars moriendi nach Nietzsche und Elias Andreas Urs Sommer Weder Friedrich Nietzsche noch Norbert Elias haben eine ars moriendi ausgearbeitet. In seinem Essay ber die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen beleuchtet Elias den modernen Umgang mit Sterben und Tod als Symptom der menschlichen Selbstdeutung unter ganz bestimmten zivilisatorischen Bedingungen. Er wrde es von sich weisen, als Ratgeber seinen Zeitgenossen ,einen anderen Umgang mit dem Tod’ empfehlen zu wollen, wie das Pastorinnen, philosophische Praktiker und andere spirituelle Problemverwalter zu tun pflegen. Sein kleines Buch hat – so scheint es zumindest – einen analytischen, keinen therapeutischen Ansatz, vermeidet Hinweise, wie anders oder wie besser gestorben werden kçnnte. Nietzsche seinerseits gilt gemeinhin nicht als Philosoph des Sterbens, sondern des Lebens, der schon in seiner zweiten Unzeitgemssen Betrachtung: Ueber Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben auf das vom Christentum „der Menschheit sowohl wie dem Einzelnen zugerufene ,memento mori’“ mit einem „,memento vivere’“ antworten will.1 Einer ars moriendi, einer ars bene moriendi wren Nietzsche und Elias gleichermaßen mit Misstrauen begegnet. Denn zunchst einmal bezeichnet der Begriff ein sptmittelalterliches Genre von Erbauungsliteratur, die es sich – entsprechend illustriert – zur Aufgabe macht, dem Menschen vor Augen zu fhren, was ihm bei einem unchristlichen Lebenswandel fr ein postmortales Schicksal beschieden ist – Fegefeuer und Hçlle – und ihn zur Umkehr zu motivieren, damit er dereinst der Seligkeit teilhaftig wird. Heilmittel gegen die Schrecknisse des Todes sind in den Artes moriendi der christliche Glaube, Reue und Buße. Der Prototyp des Genres Ars moriendi, Jean Gersons um 1408 entstandenes Opusculum tripertitum de praeceptis Decalogi, de Confessione et Arte moriendi,2
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Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben, KSA 1, S. 304. Joannis Gersonii Opusculum tripertitum de praeceptis Decalogi, de Confessione et Arte moriendi, in: Opera omnia, ed. Lud. Ellies du Pin, tom. 1, Antwerpen 1706, Sp. 425 – 450.
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das also im (kurzen) dritten Teil ber die Kunst des Sterbens spricht,3 gilt zugleich als Prototyp der Gattung des christlichen Katechismus – mit anderen Worten als eine Art von Text, der fr gottlose Neuzeit-Intellektuelle nicht mehr anschlussfhig ist. Nicht nur fr Nietzsche, der seinen tollen Menschen bekanntlich den Tod Gottes verkndigen ließ,4 sondern auch fr Elias ist es ausgemacht, dass die religiçsen Jenseitsvorstellungen, Hoffnungen auf ein Weiterleben nach dem Tod, nichts weiter als menschliche Wunschphantasien sind, mit denen die Endgltigkeit und Unwiderruflichkeit des Todes vergessen gemacht werden soll. Gegen Philippe Aris’ Behauptung, man sei in frheren, christlichen Zeiten ruhig und gelassen gestorben,5 erinnert Elias daran, dass „das Leben in mittelalterlichen Feudsalstaaten ehemals […] leidenschaftlich, gewaltttig, unsicher, kurz und wild“ gewesen sei.6 Seine Kritik an den religiçsen Unsterblichkeitsphantasien hllt er vornehm in Frageform: „Heute, im Besitz eines gewaltigen Erfahrungsschatzes, kann man nicht lnger unterlassen zu fragen, ob die wohltuenden Lgen auf die Dauer fr Menschen beim Zusammenleben miteinander nicht weit unwillkommenere und gefhrlichere Folgen haben als das Wissen ungeschminkt.“7 Nmlich das ungeschminkte Wissen, dass ich mit meinem Tod vorbei sein werde. Die Abkehr von trçstlichen Aussichten in eine individuelle Ewigkeit htten Nietzsche und Elias also wenig empfnglich gemacht fr die sptmittelalterlich-theologische ars moriendi. Aber auch der der Sache nach viel ltere Typus der philosophischen ars moriendi, wie sie der Platonische Sokrates vertrat, wre vom Misstrauen der beiden nicht verschont geblieben. 3
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Ebd., S. 447 – 450, unter dem Titel „De scientia mortis“, eingeteilt in „exhortationes“, „interrogationes“, „orationes“ und „observationes“, einen Sterbenden ansprechend, der sich auf die gçttlichen Wohltaten, seine Snden und seine Reue besinnen soll. Vgl. Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 125, KSA 3, S. 480 ff. Vgl. z. B. Andreas Urs Sommer, „Gott ist todt“ oder „Dionysos gegen den Gekreuzigten“? ber Friedrich Nietzsche, in: Richard Faber/ Susanne Lanwerd (Hrsg.), Atheismus. Ideologie, Philosophie oder Mentalitt?, Wrzburg 2006, S. 75 – 90. Philippe Aris, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, Mnchen/ Wien 1976, S. 25. Norbert Elias, ber die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen [1982], in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Reinhard Blomert u. a., Bd. 6, bearbeitet von Heike Hammer, Frankfurt a. M. 2002, S. 20. Die Formulierung erinnert an Hobbes’ Charakterisierung des Naturzustandes: „the life of man [was] solitary, poore, nasty, brutish, and short.“ (Thomas Hobbes, Leviathan, I 13). Elias, ber die Einsamkeit, S. 40.
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Wenn Philosophieren Sterben-Lernen bedeutet,8 dann scheint dies, so zumindest in Nietzsches Lesart von Platons Philosophie, gleichfalls auf eine Schwerpunktverlegung weg von diesem Leben in ein anderes, jenseitiges Leben, von dieser Welt in eine Hinterwelt hinauszulaufen. Und selbst, wenn man den Platonischen Sokratismus nicht als eine Jenseitigkeitsmetaphysik deutet, sondern ihn versteht als eine Aufforderung, alle Dinge so zu betrachten, als ob wir unbeteiligt, uninteressiert, objektiv, also so gut wie tot wren, anders gewendet, alle Dinge in der Ewigkeitsperspektive der Ideen zu schauen, auch dann wrden Nietzsche und Elias daraus schwerlich brauchbare Handreichungen fr das eigene Sterben, geschweige denn fr das eigene Leben ziehen kçnnen. Kurz gesagt: ars moriendi, sowohl in ihrer christlichen als auch in ihrer traditionell philosophischen Variante, rechnet mit einem Anderen, einem Nicht-Kontingenten, das Elias und Nietzsche nicht in Rechnung stellen wollen. Es gibt fr sie kein Anderes, das in Rechnung zu stellen wre.
1. Distanzierung und Engagement im Angesicht des Todes: Norbert Elias Ein sozialwissenschaftlicher Purist wird Schwierigkeiten haben, Elias’ Text ber die Einsamkeit der Sterbenden in die blichen Genre-Raster seiner Disziplin einzuordnen. Mit Sicherheit handelt es sich nicht um ein Exempel quantitativer Sozialforschung, die auf einer empirischen Erhebung beruht, wer gegenwrtig in westlichen Gesellschaften auf welche Weise, in welchem Umfeld, in wessen Begleitung vom Leben zum Tode kommt. Dennoch erhebt Elias’ Text Anspruch darauf, eine generelle, dominierende Tendenz im modernen Umgang mit dem Sterben in diesen gegenwrtigen westlichen Gesellschaften aufzuweisen. Dieser Anspruch spricht auch dagegen, das Buch umstandslos als Exempel qualitativer Sozialforschung abzubuchen, fr die ein ganz konkreter Untersuchungsgegenstand (wie die von Elias stellenweise herangezogene Broschre der deutschen Friedhofsgrtner) erforderlich wre. Mit einer derartigen qualitativ-sozialwissenschaftlichen Studie wre im schulmßigen Verstndnis freilich gerade eine Beschrnkung des Deutungshorizonts, der Verzicht auf Verallgemeinerung verbunden. Der sozialwissenschaftliche Purist wird also Unbehagen verspren, weil er Elias’ Bchlein nicht leicht in seine Schemata wird einbauen kçnnen. Ein phi8
Vgl. Platon, Phaidon 64a und 80e.
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losophierender Leser wird dieses Unbehagen hingegen zu seinen eigenen Gunsten ausbeuten: Gerade, dass diese Schrift nicht so recht die Erwartungen an einen fachwissenschaftlichen Text zu erfllen scheint, macht sie fr ihn interessant. Vielleicht zieht ihn das Unbehagen an – ein Unbehagen, das nach Elias’ Diagnose den modernen Menschen ohnehin angesichts des behandelten Gegenstandes, des Sterbens befllt. Elias setzt den Befund, der den Titel seines Buches ausmacht, bereits auf den ersten Seiten voraus: Die Vereinsamung betreffe nicht nur den akut Sterbenden, sondern setze bereits viel frher, mit zunehmendem Alter ein. Menschen trfen deshalb „besondere Maßnahmen – als Einzelne und als Gruppen –, um sich vor der Gefahr der Vernichtung zu schtzen. Das war durch die Jahrtausende hin die Zentralfunktion des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Menschen und ist es bis heute geblieben.“9 Das eigentliche menschliche Problem sei demnach das Wissen um den Tod – ein Wissen, das man zu bannen versuchte, indem man sich allerlei Hoffnungen auf ein jenseitiges Weiterleben hingegeben habe. In modernen Gesellschaften habe mit besserer ußerlicher Sicherung des Lebens freilich dieser Wunsch nach religiçs-metaphysischen Rckversicherungen gegen die persçnliche Vergnglichkeit abgenommen. Es sei die Redeweise aufgekommen, dass die Menschen heute den Tod „verdrngten“, und zwar sowohl auf der individuellen als auch auf der sozialen Ebene. Man weiche der Konfrontation mit dem eigenen Ende tunlichst aus, was zu einem „allgemeineren Problem unserer Tage“ fhre, nmlich zu „der Unfhigkeit, Sterbenden diejenige Hilfe zu geben und diejenige Zuneigung zu zeigen, die sie beim Abschied von Menschen am meisten brauchen“.10 Allerdings solle man sich, spricht man von der Verdrngung des Todes, nicht der Illusion hingeben, frher seien die Menschen generell gelassener gestorben – allein schon die Hçllenangst htte derlei Gelassenheit im christlichen Kulturkreis leicht zu verhindern gewusst. Jedoch sei das Sterben „eine weit çffentlichere Angelegenheit als heute“ gewesen.11 Heute hingegen sei die „Verlegenheit der Lebenden in der Gegenwart eines Sterbenden“ ebenso charakteristisch wie die floskelhafte Sprachlosigkeit gegenber Hinterbliebenen.12 Entstanden seien „eine erhebliche Scheu und oft genug ein Unvermçgen, starken Emotionen Aus9 Elias, ber die Einsamkeit, S. 11. Das ist wiederum die Funktion, die schon Hobbes der menschlichen Gesellschaft zuschreibt, herrscht doch im (hypothetischen) Naturzustand der Krieg aller gegen alle. 10 Ebd., S. 17. 11 Ebd., S. 24. 12 Ebd., S. 29.
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druck zu geben“.13 Diese Situation scheint fr den Stand des Zivilisationsprozesses in hohem Masse charakteristisch: Auch wenn es im Bereich der Sexualitt whrend des 20. Jahrhunderts Informalisierungsschbe gegeben habe, so doch nicht im Bereich des Sterbens; die „Sterbesituation“ sei „in unseren Tagen weitgehend ungeformt, ein weißer Fleck auf der sozialen Landkarte“.14 Die Vereinsamung der Sterbenden korrespondiert nach Elias mit einer Individualittsideologie, die die Menschen als „vereinzelte, von anderen total unabhngige Individuen“zu betrachten heißt, wobei vergessen werde, dass „der Sinn all dessen, was ein Mensch tut, in dem liegt, was er fr andere bedeutet“.15 Whrend man frher den Tod mithilfe kollektiver Unsterblichkeitsphantasien verdrngt habe, seien im Zuge eines großen „Individualisierungsschubes“16 auch allfllige Jenseitsaspirationen privatisiert worden. Der Umgang mit Sterben und Tod erscheint bei Elias nicht einfach als ein individuelles Problem, sondern vielmehr als Ausdruck spezifischer gesellschaftlicher Bedingungen, die bestimmte Todesbilder begnstigen oder hervorbringen. Im Umgang mit Sterben und Tod wird der Zustand der jeweiligen Gesellschaft wie im Vergrçßerungsglas sichtbar. In unseren Gesellschaften ist durch die hohe Lebenserwartung, die Hegung und die staatliche Monopolisierung physischer Gewalt der Tod meist ferngerckt. „[D]as Wissen, daß es sich [beim Tod, AUS] um das Ende eines Naturablaufs handelt, trgt viel dazu bei, die Beunruhigung zu dmpfen“.17 Elias fhrt nun breiter aus, dass das spezifische Individualisierungsmuster moderner Gesellschaften, in denen sich Menschen durchaus im Banne der neuzeitlichen Subjekt-Philosophie als monadenartige EinzelWesen, als homines clausi 18 verstehen, dazu fhrt, dass man sein Leben ebenso wie sein Sterben als sinnlos ansieht. Die Vereinsamung fngt also nicht erst beim Sterben an, sondern bereits bei der modernen, individualistischen Selbstkonzeption, die berdies mit starker Selbstkontrolle und Emotionshemmung einhergeht.19 Eigentlich aber sei Sinn eine „soziale Kategorie; das zugehçrige Subjekt ist eine Pluralitt miteinander verbundener Menschen“.20 Sterbende Menschen bençtigten das Empfinden mehr denn je, 13 14 15 16 17 18 19 20
Ebd., S. 33. Ebd., S. 34. Ebd., S. 39. Ebd., S. 41. Ebd., S. 51. Vgl. ebd., S. 68. Vgl. ebd., S. 59. Ebd., S. 58.
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„daß sie ihre Bedeutung fr andere Menschen noch nicht verloren haben“.21 Dennoch sei das Verhalten des Sterbenden dem eigenen Sterben gegenber wesentlich davon bestimmt, ob er meine, ein sinnvolles oder aber ein sinnleeres Leben gefhrt zu haben.22 Dies wiederum „hngt aufs engste mit der Bedeutung zusammen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens, sei es durch seine Person, sei es durch sein Verhalten und seine Arbeit, fr andere Menschen erlangt hat“.23 Elias schließt mit der Wendung, dass der Tod nichts Schreckliches sei, dass er kein Geheimnis verberge und keine Tr çffne. „Schrecklich sind oft die kollektiven und individuellen Phantasien, die den Tod umgeben. Sie zu entgiften, ihnen die einfache Realitt des endlichen Lebens gegenberzustellen, ist eine Aufgabe, die noch vor uns liegt.“24 Diese Rekapitulation von Elias’ Einsamkeit der Sterbenden verrt schon, dass es diese Schrift entgegen dem ersten Anschein nicht allein auf eine nchterne Analyse bestimmter Folgeerscheinungen des Zivilisationsprozesses abgesehen hat. Vielmehr schließt der Verfasser es nicht aus, dass auf diesen ungerichteten, von keiner Vorsehung oder Naturabsicht gesteuerten oder gewollten Prozess Einfluss genommen werden kann. Sein Buch lsst sich durchaus als Versuch einer solchen Einflussnahme werten, zu der Elias auch von seinen theoretischen Voraussetzungen her befugt zu sein scheint. Denn so sehr er auch in diversen Schriften betont, dass der Zivilisationsprozess von niemandem direkt intendiert werde, so wenig degradiert er doch den einzelnen Menschen zum bloßen Ausfhrungsgehilfen dieses Prozesses, der ber keinen Eigenwillen verfgt. Elias’ Kritik an der Subjektphilosophie und am Selbstverstndnis des Menschen als „homo clausus“ fhrt ihn nicht dazu, das Individuum einfach zum Produkt seiner Umstnde und damit zur blossen Funktion eines Kollektivs, ,der Gesellschaft’ zu erklren. Mit seinem Begriff der Figuration versucht er bekanntlich, sowohl kollektivistische wie individualistische Einseitigkeiten auszumerzen. Einen irgendwie als absolut oder naturgegeben gedachten Gegensatz von Individuum und Gesellschaft lehnt er ab.25 Damit ist von den gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen her der Weg offen, dem sich in Figurationen bewegenden, sie bestimmenden und von ihnen bestimmten einzelnen Menschen die Macht einzurumen, den Zivilisationsprozess mitzugestalten. Elias selbst unternimmt diesen 21 22 23 24 25
Ebd., S. 60. Vgl. ebd., S. 64. Ebd., S. 66. Ebd., S. 68. Vgl. Elias, Was ist Soziologie?, Mnchen 1970, S. 141.
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Mitgestaltungsversuch auf klassisch aufklrerische Weise, nmlich durch die Herstellung von ffentlichkeit, durch Publikation. Schaut man genauer hin, hlt seine Einsamkeit der Sterbenden eine ganze Reihe therapeutischer Vorschlge bereit. Nur drei zur Auswahl, angefangen mit einem pdagogischen: Fr Kinder wre es „heilsam“, wenn sie frh schon mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert wrden.26 Sodann wird’s prinzipiell: Es bedrfe „einer weitergehenderen Entmythologisierung des Todes, eines weit klareren Bewußtseins, als es bis heute erreicht wurde, daß die Menschheit eine Gemeinschaft der Sterblichen ist und daß Menschen in ihrer Not Hilfe nur von Menschen erwarten kçnnen.“27 Andernorts schließlich heißt es, man drfe „sich der Tatsache nicht mehr verschließen, daß es nicht eigentlich der Tod an sich ist, der Furcht und Schrecken erregt, sondern die vorwegnehmende Vorstellung vom Tode. Wenn ich hier und jetzt auf der Stelle schmerzlos tot wre, so wre das fr mich selbst ganz und gar nichts Schreckliches.“28 Elias’ therapeutische Devisen klingen aufklrerisch, insofern sie sich vom çffentlichen Vernunftgebrauch, von Einsicht eine Vernderung des Verhaltens, eine Vernderung des Welt- und Selbstverhltnisses versprechen. Die in der letzten zitierten ußerung gemachte Unterscheidung zwischen der Vorstellung, die wir von einer Sache haben und dieser Sache selbst, korrespondiert mit einer klassisch stoischen Maxime der Selbstpazifizierung: „Nicht die Sachen selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Meinungen darber.“29 Nach stoischer Auffassung ist es ein grundlegendes Problem der Menschen, dass sie sich Vorstellungen von den Dingen machen und sich dann von diesen Vorstellungen ngstigen lassen. Die Beruhigungstechnik, die dagegen empfohlen wird, besteht in der radikalen DeSemantisierung der Dinge, um sie in ihrer Bedeutungslosigkeit fr den auf Weisheit Aspirierenden in ein grelles Licht zu stellen. Die meisten Dinge sind fr den Stoiker eigentlich gleichgltig; nur ihre Aufladung mit Bedeutung, ihre berwucherung mit allerlei Imagination blht sie auf zu etwas, was uns verschreckt. Elias’ therapeutische Devisen schlagen diesen Weg der De-Semantisierung des Todes mittels Naturalisierung ein: Er ist nichts weiter als ein natrliches Ereignis, ohne Hintersinn, ohne metaphysischen oder religiçsen Abgrund.
26 27 28 29
Elias, ber die Einsamkeit, S. 25. Ebd., S. 11. Ebd., S. 49. Epiktet, Encheiridion 5.
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Man kçnnte nun einwenden, mit dieser De-Semantisierung des Todes trage Elias selbst zu jener von ihm ja durchaus auch diagnostizierten Verdrngung des Todes bei, insofern er dazu rate, sich vom Tod nicht in Angst und Schrecken versetzen zu lassen. Vielmehr msse sich zur Verdrngungsvermeidung das Leben doch gerade als „Sein zum Tode“ vollziehen, als „Vorlaufen in ein Seinkçnnen des Seienden, dessen Seinsart das Vorlaufen selbst ist“,30 oder, wer es statt existenzialanalytisch lieber stoisch ausgedrckt haben will, als eine praemeditatio malorum, eine Vorwegnahme knftiger Schrecken und namentlich des Todesschreckens, um auf diese Weise das ganze Leben immer im Angesicht des Todes einzurichten.31 Jedoch wrde man Elias’ therapeutische Strategie grndlich verzeichnen, wollte man ihm auf diese Weise unterstellen, er partizipiere letztlich doch am großen Verdrngungsgeschft. Denn er pldiert mitnichten dafr, die Tatsache der eigenen Sterblichkeit und also des unabweisbaren eigenen Todes mittels DeSemantisierung aus dem Lebensblickfeld zu verbannen. Vielmehr bleibt er ganz auf der stoischen Linie, nmlich einerseits den Todesschrecken vorwegzunehmen, andererseits aber diesen Schrecken von allem Beiwerk zu befreien: Der Tod erscheint so weder als eine Strafe noch als ein Tor zu einem mçglicherweise hçllischen Jenseits. Der Tod ist das Ende des Lebens und damit das Ende des jeweiligen Individuums. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Die zivilisationsgeschichtliche Lage, in der Elias seine berlegungen anstellt, unterscheidet sich wesentlich von der der hellenistischen und rçmischen Stoiker. Elias sieht sich mit einem Menschenbild konfrontiert, das das Individuum als vçllig isolierte Grçße versteht, das quasi nur ußerlich auf Mitmenschen, auf eine Gesellschaft trifft. Wenn dieser „homo clausus“ nun seines Todes innewird, dann whnt er, mit ihm gehe seine Welt unter. Wenn das Individuum alles ist, dann ist mit seinem Tod auch alles verloren. Der von Elias zur Entschrfung des vermeintlich so festgefgten Gegensatzpaares Individuum-Gesellschaft vorgeschlagene Begriff der Figuration scheint nun – ohne dass Elias dies eigens auszufhren bruchte – die Absolutheit des Verlusts zu brechen, der mit dem Tod eintritt: Der „Sinn“ des Lebens liegt nicht in erster Linie darin, was das Individuum fr sich selber ist, sondern, was es fr andere ist. So hçrt mit dem Tod des Individuums nicht alles auf; das 30 Martin Heidegger, Sein und Zeit [1927], Tbingen 161986, S. 262. 31 Zur praemeditatio malorum vgl. z. B. Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit. Aus dem Franzçsischen von Ilsetraut Hadot und Christiane Marsch, Frankfurt a. M. 22005, S. 18 und 72, zu ihrer Adaption bei Heidegger S. 32.
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Leben des Individuums wirkt nach im Leben, in den Figurationen der berlebenden. Das Denken in der Kategorie der Figuration entlastet im Blick auf die individuelle Todesaussicht: Das Bedeutungsschwergewicht wird vom Individuum, vom „Subjekt“ genommen und auf das figurative Miteinander verlagert, das sich mit den Individuen zwar stetig verndert, aber nicht endet, solange die menschliche Gattung fortbesteht. Die Pointe dieser subkutanen Entlastungsstrategie angesichts der Unausweichlichkeit des individuellen Todes besteht darin, dass sich das Individuum zwar der Aussicht auf das eigene Sterben zu stellen hat, jedoch nicht lnger zu glauben braucht, es sei selbst der erste und letzte Bezugspunkt all dessen, was es in seinem Leben tut und lsst. Die von Elias vorgeschlagene Abkehr von der Subjekt- und Individualzentrierung kçnnte erhebliche Konsequenzen fr einen gelasseneren Umgang mit dem eigenen, individuellen Tod haben. Das moderne Vertrauen auf das Individuum, das Verlangen, das Subjekt als letzte Bezugsgrçße (und Norm) anzusehen, entpuppt sich als ein Ideologem, das wesentlich dafr verantwortlich ist, dass sich Menschen in der Gegenwart noch immer vor dem eigenen Tod entsetzen, obwohl sie die religiçs motivierten Jenseits-ngste abgelegt haben und also weder Fegefeuer, Jngstes Gericht und Hçlle gewrtigen zu mssen glauben. Elias’ Versuch, durch Naturalisierung eine De-Semantisierung des Todes herbeizufhren, ist ein Akt der Aufklrung, zu dem die De-Semantisierung des Individuums die Parallelaktion darstellt. Es geht mit anderen Worten nicht bloß darum, die metaphysischen und religiçsen berformungen, die den Tod umstellen, abzubauen, sondern auch die berformungen, mit denen das Individuum zum „homo clausus“ gemacht worden ist. Hatte die Aufklrung bislang metaphysische und religiçse Illusionen entlarvt, entlarvt die jetzt nottuende Aufklrung die individualistischen und subjektivistischen Illusionen. Befreit man den Menschen so vom Zwang, ein Erstes und Letztes sein zu mssen, mildert man seine Todesangst. Er kçnnte, so die hoffnungsvolle Botschaft, offen werden fr Empathie mit anderen Menschen, mit Sterbenden. Solidaritt wrde unter Menschen mçglich, die jeweils als einzelne nicht mehr die Last der Absolutheit tragen mssen. Denkbar wrde damit, so ließe sich Elias’ Faden weiterspinnen, eine neue Balance zwischen Distanzierung und Engagement. Der Zivilisationsprozess, der sich als ein Prozess der Distanzierung, einer Verstrkung des emotionalen Abstands von den umgebenden Realitten verstehen lsst, kçnnte dank der Aufklrung der Individualittsideologie aufgewogen werden mit einer neuen, selbstreflexiven, selbstdistanzierten Form des Engagements, eines Engagements des Gefhls, ohne in eine neue Gefhlsseligkeit und Distanzlosigkeit abzugleiten. Elias’ Nachdenken ber den Tod
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lsst sich so lesen als eine ars moriendi des Maßes, der Balance zwischen Distanzierung und Engagement.
2. Todesfreiheit: Friedrich Nietzsche Von Nietzsches einschlgigen ußerungen wrde man erwarten, dass sie weniger der Balance, als dem berschwang verpflichtet seien, der seine Philosophie ber weite Strecken zu kennzeichnen scheint: kein Maß, sondern bermaß, keine Mitte, sondern die Einseitigkeit radikaler Selbst(aus)schçpfung. Genaueres Hinsehen im Blick auf die hier interessierende Frage nach dem philosophischen Umgang mit Sterben und Tod ergibt jedoch ein anderes Bild. Im Wanderer und sein Schatten, also im zweiten Band von Menschliches, Allzumenschliches nimmt Nietzsche jene DeSemantisierung des Todes vorweg, die bei Elias zum therapeutischen Programmpunkt wird: Neue Schauspieler. – Es giebt unter den Menschen keine grçssere Banalitt, als den Tod; zu zweit im Range steht die Geburt, weil nicht Alle geboren werden, welche doch sterben; dann folgt die Heirath. Aber diese kleinen abgespielten Tragikomçdien werden bei jeder ihrer ungezhlten und unzhlbaren Auffhrungen immer wieder von neuen Schauspielern dargestellt und hçren desshalb nicht auf, interessirte Zuschauer zu haben: whrend man glauben sollte, dass die gesammte Zuschauerschaft des Erdentheaters sich lngst, aus Ueberdruss daran, an allen Bumen aufgehngt htte. Soviel liegt an neuen Schauspielern, so wenig am Stck.32
Dieser Aphorismus, der den Anschein erweckt, sein Verfasser sei all dessen enthoben, was den Menschen gemeinhin als ernst und erhaben gilt, ist direkt aus dem Leben gegriffen: Er ist die Abwandlung eines Briefes, den Nietzsche an seinen Jugendfreund Carl von Gersdorff schrieb. Dieser Brief vom 21. Dezember 1877 hat dezidiert therapeutische Absichten, nmlich den Freund zu trçsten, dessen Eheplne gescheitert sind. Entsprechend liegt der Akzent auf der Versicherung, dass die Ehe eigentlich etwas Belangloses sei: Die Liebenden selber shen „gewçhnlich schon nach wenigen Monaten ein, daß sich fr sie nichts Wesentliches gendert hat, geschweige denn fr die brige Welt.“33 Diese Umstnde rechtfertigen die berraschende Eingangsklimax hinreichend: „die grçßte Trivialitt in der Welt ist der Tod, die zweitgrçßte das Geborenwerden; dann aber kommt zu dritt das Hei32 Nietzsche, Der Wanderer und sein Schatten, § 58, KSA 2, S. 578 f. 33 Nietzsche, KSB 5 [Nr. 674], S. 295.
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rathen.“34 Im Fortgang des Briefes tritt der Tod hinter dem Heiraten dann ganz zurck – und doch bleibt das Trivialittsverdikt haften. Egal, ob man dem alten metaphysisch-religiçsen Schattenglanz des Todes mit seinen dunklen Jenseitsversprechen nachtrauert oder an das neuere, schrill-existenzialistische Todes-Pathos glaubt – man wird dieses Trivialitts- oder Banalittsverdikt, wie es dann im publizierten Aphorismus ausgesprochen wird, als ungehçrig empfinden. Auch wenn die metaphysisch-religiçsen Sichterweiterungen ber den Tod hinaus in ein erhabenes Jenseits fr viele Heutige weggebrochen sind, so hat sich das Pathos im Umgang mit dem Tod offensichtlich eher noch gesteigert: Das Trivialitts- oder Banalittsverdikt ber den Tod pflegen wir als schamlos zu empfinden – ein Umstand, der gut als Beleg fr Elias’ These einer Anhebung der Schamschwelle im Umgang mit dem Tod herhalten kçnnte. Man mag argumentieren, unserer spezifischen Sozialisation sei es geschuldet, dass wir den Tod als Trivialitt oder Banalitt nicht akzeptieren kçnnten. Und doch wird man Schwierigkeiten haben, Nietzsches Urteil zu widerlegen, denn „trivial“ und „banal“ ist der Tod schon im ursprnglichen Wortsinn – nmlich auf çffentlicher Straße zu finden, fhren doch alle Lebenswege zum Tod und ist alles Leben dem Bannherrn Tod, seinem Zwangsrecht unterworfen. Es gibt, nchtern betrachtet, tatschlich nichts Gewçhnlicheres als Tod und Geburt, insofern jede uns bekannte Form von Leben das eine unausweichlich zum Anfang, das andere zum Ende hat – trotz Nietzsches launigem Nachsatz, dass nicht alle geboren wrden, die doch strben.35 Die Heirat scheint als menschliche Institution hingegen nicht in diese Reihe zu gehçren, und dennoch ist sie, im menschlichen Leben Mitteleuropas gegen Ende des 19. Jahrhunderts, ein so hufiges Geschehen, dass sie schon statistisch Anspruch auf den dritten Platz in der Trivialittsskala anmelden darf. Was den Leser des Aphorismus im Wanderer und sein Schatten vor den Kopf stçßt, ist die Herablassung, aus der heraus der Text das Menschliche behandelt: Wenn der Tod, Geburt und Heirat banal sind, so ist es das Leben selbst – und genau das, nmlich Banalitt im pejorativen Sinn, besttigt der Fortgang des Aphorismus, der das Leben als großes Theater schildert – als ein Theater mit stndig wechselnder Besetzung, das nicht ernstgenommen zu werden verdient. Eigentlich ist – so liest sich dieser Text – alles Leben eitel, nichtig. In Aphorismus 58 wird scheinbar die Sicht jener alten Verachtung des Vergnglichen, des Wandelbaren, des irdischen Lebens reproduziert, die 34 Ebd. 35 Sind damit diejenigen gemeint, die nicht wirklich zu leben anfangen, diejenigen, die nie ein Leben fhren, das in Nietzsches Augen den Namen „Leben“ verdient?
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seit Platon und dem Christentum die Metaphysiker und Theologen hegen, die die Dinge sub specie aeternitatis, im Jenseits- und Ewigkeitshorizont zu betrachten pflegen. Die Pointe der Reproduktion einer solchen Betrachtungsweise besteht nun darin, dass das in metaphysisch-theologischem Kontext eben immer notwendige Gegengewicht, nmlich die Ewigkeit, das Jenseits, das Unvernderliche, das Hinterweltlerische ersatzlos gestrichen wird, sodass dem Leser nichts bleibt, was des großen Ernstes wrdig wre – nichts, woran er sich fr die Nichtigkeit der Welt schadlos halten kçnnte. Nietzsches Aphorismus ist eine Fingerbung in angewandtem Nihilismus, die ihre Kraft aus der radikalen Distanzierung zieht, ohne ein positives Substitut fr die negativierte, vergngliche, theaterhafte Welt anzubieten. Am Banalittsverdikt, das der Aphorismus ber den Tod verhngt, mogelt man sich nicht so leicht vorbei. Nietzsche bleibt im Wanderer und sein Schatten freilich nicht beim bloßen Hinnehmen der Todesbanalitt stehen, sondern propagiert die aktive Verfgung ber das eigene Sterben: Vom vernnftigen Tode. – Was ist vernnftiger, die Maschine stillzustellen, wenn das Werk, das man von ihr verlangte, ausgefhrt ist, – oder sie laufen zu lassen, bis sie von selber stille steht, das heisst bis sie verdorben ist? Ist Letzteres nicht eine Vergeudung der Unterhaltungskosten, ein Missbrauch mit der Kraft und Aufmerksamkeit der Bedienenden? Wird hier nicht weggeworfen, was anderswo sehr noth thte? Wird nicht selbst eine Art Missachtung gegen die Maschinen berhaupt verbreitet, dadurch, dass viele von ihnen so nutzlos unterhalten und bedient werden? – Ich spreche vom unfreiwilligen (natrlichen) und vom freiwilligen (vernnftigen) Tode. Der natrliche Tod ist der von aller Vernunft unabhngige, der eigentlich unvernnftige Tod, bei dem die erbrmliche Substanz der Schale darber bestimmt, wie lange der Kern bestehen soll oder nicht: bei dem also der verkmmernde, oft kranke und stumpfsinnige Gefngnisswrter der Herr ist, der den Punct bezeichnet, wo sein vornehmer Gefangener sterben soll. Der natrliche Tod ist der Selbstmord der Natur, das heisst die Vernichtung des vernnftigen Wesens durch das unvernnftige, welches an das erstere gebunden ist. Nur unter der religiçsen Beleuchtung kann es umgekehrt erscheinen: weil dann, wie billig, die hçhere Vernunft (Gottes) ihren Befehl giebt, dem die niedere Vernunft sich zu fgen hat. Ausserhalb der religiçsen Denkungsart ist der natrliche Tod keiner Verherrlichung werth. – Die weisheitsvolle Anordnung und Verfgung des Todes gehçrt in jene jetzt ganz unfassbar und unmoralisch klingende Moral der Zukunft, in deren Morgenrçthe zu blicken ein unbeschreibliches Glck sein muss.36
36 Nietzsche, Der Wanderer und sein Schatten, § 185, KSA 2, S. 632 f.
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Zweifellos ist das ein engagiertes Pldoyer fr den Suizid – ein Pldoyer, das Zarathustra dann unter die Maxime: „stirb zur rechten Zeit!“37 stellen sollte. Das Verfgen ber das eigene Leben schließt das Verfgen ber das eigene Sterben mit ein – nur wer glaube, ein anderer sei ber sein Leben Herr, kçnne sich der Verantwortung dieses Verfgens ber den Tod entziehen. Ohne eine solche religiçse Rckendeckung gibt es nach Aphorismus 185 keine hinreichenden Grnde, sich einfach dem Verlauf der Natur und damit ihrer Bestimmung der Todesart und des Todeszeitpunkts auszuliefern. Dennoch scheinen die moralischen Vorurteile, die sich aus religiçsen Quellen speisen, ohne die dogmatischen Voraussetzungen der Religion zu teilen, nach wie vor ein derartiges Beharrungsvermçgen zu haben, dass die Lehre vom vernnftigen oder freien Tod als unmoralisch erscheint. Andererseits folgt eine solche Lehre aus der Selbstermchtigung des Menschen, der Gott als Herr seines Lebens und seiner Welt abgeschafft hat. Dem freien Leben muss ein freier Tod entsprechen. Auch diese Darstellung des Todesthemas ist eine Form der Distanzierung durch De-Semantisierung: Wer sein eigenes Sterben in die Hand nehmen kann, entzieht sich dem Ausgeliefertsein, das man gewçhnlich dem Tod gegenber empfindet, wenn man ihn als „natrlichen“ auf sich zukommen lsst. Die Freiheit des Lebens schließt die Freiheit des Todes mit ein – die Pflichtbindung, die als sozialethische Rckversicherungsklausel den Stoiker noch vom Suizid hatte abhalten kçnnen, wird ersatzlos gestrichen. Das Provozierende von Nietzsches Aphorismus liegt fr heutige Leser aber weniger im Affront gegen die herkçmmliche christliche und metaphysische Moral und im Pochen auf das Selbstbestimmungsrecht im Hinblick auf das eigene Leben und Sterben, sondern vielmehr in der Technik der Distanzierung, die hier angewandt wird: Sie erfolgt mittels einer machinalen, einer instrumentellen, einer çkonomischen Betrachtung des Kçrpers, als ob dieser ein vom ,eigentlichen’ Menschen, vom regierenden Teil abgelçster Gebrauchsgegenstand wre. Der Kçrper, der sterben muss, wird als eine Maschine dargestellt, ber die eine Instanz zu verfgen scheint, die von diesem Kçrper prinzipiell unterschieden ist. Traditionell htte man diese Instanz „Seele“ oder „Geist“ genannt – und tatschlich spricht Nietzsche auch nicht wie in Also sprach Zarathustra I vom freien, sondern vom vernnftigen Tod, als ob die Vernunft eine Macht außerhalb des Kçrpers wre, die sich des Kçrpers nur zu hçheren Zwecken, zu ihrer Entfaltung oder zu (Kunst-) Werken außerhalb des Kçrpers bedient. Das Provozierende besteht mit anderen Worten darin, dass Nietzsche die Erwartung seiner Leser, die seine 37 Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Vom freien Tode, KSA 4, S. 93.
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anderen Schriften kennen, nicht erfllt, nmlich die Erwartung, dass er mit dem alten Leib-Seele-Gegensatz aufrume und keinen Geist, keine Vernunft, keine Seele jenseits des Kçrpers zu akzeptieren bereit ist. Mit einiger auslegerischer Billigkeit lsst sich Nietzsches Verfahren in Aphorismus 185 beschreiben als ein listiges Sich-Einnisten in die Denkstrukturen der dualistischen Metaphysik zum Zwecke ihrer reductio ad absurdum. Denn der Aphorismus unterlsst die in diesen Denkstrukturen bliche Versicherung, die Seele oder der Geist als das „eigentlich“ Menschliche transzendiere den Kçrper nicht nur whrend dessen irdischem Leben, sondern auch danach – werde also den hinflligen Kçrper wie ein verschmutztes Hemd schließlich abstreifen und unsterblich sein. Gerade diese Aussicht ist mit der Eskamotierung Gottes dauerhaft versperrt – der Benutzer und Bediener der Maschine Kçrper wird mit ihr gemeinsam untergehen. Die Wahrnehmung des Todes hat sich, wie Nietzsche in Die frçhliche Wissenschaft, Aphorismus 152 ausfhrt, in der Moderne radikal verndert.38 Der Tod hat seinen Hintersinn, seine Bedeutsamkeit, sein Pathos verloren – ein Pathos, das Nietzsche in Also sprach Zarathustra stattdessen dem Leben zuzuschreiben trachtet. Andernorts sinnt Nietzsche darber nach, dass der Tod doch eigentlich „das einzig Sichere und das Allen Gemeinsame“ der Zukunft sei:
38 „Die grçsste Vernderung. – Die Beleuchtung und die Farben aller Dinge haben sich verndert! Wir verstehen nicht mehr ganz, wie die alten Menschen das Nchste und Hufigste empfanden, – zum Beispiel den Tag und das Wachen: dadurch, dass die Alten an Trume glaubten, hatte das wache Leben andere Lichter. Und ebenso das ganze Leben, mit der Zurckstrahlung des Todes und seiner Bedeutung: unser ,Tod’ ist ein ganz anderer Tod. Alle Erlebnisse leuchteten anders, denn ein Gott glnzte aus ihnen; alle Entschlsse und Aussichten auf die ferne Zukunft ebenfalls: denn man hatte Orakel und geheime Winke und glaubte an die Vorhersagung. ,Wahrheit‘ wurde anders empfunden, denn der Wahnsinnige konnte ehemals als ihr Mundstck gelten, – was uns schaudern oder lachen macht. Jedes Unrecht wirkte anders auf das Gefhl: denn man frchtete eine gçttliche Vergeltung und nicht nur eine brgerliche Strafe und Entehrung. Was war die Freude in der Zeit, als man an die Teufel und die Versucher glaubte! Was die Leidenschaft, wenn man die Dmonen in der Nhe lauern sah! Was die Philosophie, wenn der Zweifel als Versndigung der gefhrlichsten Art gefhlt wurde, und zwar als ein Frevel an der ewigen Liebe, als Misstrauen gegen Alles, was gut, hoch, rein und erbarmend war! – Wir haben die Dinge neu gefrbt, wir malen immerfort an ihnen, – aber was vermçgen wir einstweilen gegen die Farbenpracht jener alten Meisterin! – ich meine die alte Menschheit.“ (Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 152, KSA 3, S. 495).
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Wie seltsam, dass diese einzige Sicherheit und Gemeinsamkeit fast gar Nichts ber die Menschen vermag und dass sie am Weitesten davon entfernt sind, sich als die Brderschaft des Todes zu fhlen! Es macht mich glcklich, zu sehen, dass die Menschen den Gedanken an den Tod durchaus nicht denken wollen! Ich mçchte gern Etwas dazu thun, ihnen den Gedanken an das Leben noch hundertmal denkenswerther zu machen.39
Das memento mori hat demnach in der Moderne seine Bannmacht verloren, der Tod kann in seiner Banalitt von den Lebenden ad acta gelegt werden. Tot sind wir alle frh genug – idealerweise durch eigenes Zutun, aus freien Stcken – dann sind wir nicht mehr und mssen uns ber den Tod keine Sorgen machen. Was Nietzsche bei seinen sich der Religion und der Metaphysik entledigenden Zeitgenossen diagnostiziert, ist eine Schwerpunktverlagerung vom Tod und von dem, was vermeintlich jenseits des Todes noch wartet, auf das Leben, das einzige, irdische, endliche Leben, das wir haben. Das Ich in Aphorismus 278 bekennt programmatisch, dass es sich in den Dienst dieser Schwerpunktverlagerung stellt, die – mit Elias gesprochen – den Fortgang des Zivilisationsprozesses anzeigt: Alle Dinge, auch den Tod, sub specie vitae zu betrachten.40
3. Sich den/m Tod geben? Nietzsche und Elias sind Todes-Ernchterungsstrategen. Das unterscheidet sie sichtlich von jenen existenzialistischen Todes-Mystagogen, die im 20. Jahrhundert das uralte Gespenst des bedeutungsvollen, frchterlichen Todes aus der Versenkung zerrten, ohne doch die alten Trostrezepte noch ernsthaft anbieten zu kçnnen – was die Schrecklichkeit dieses Gespenstes noch potenzierte. Das massenhafte, industrielle Sterben in den Schtzengrben und Vernichtungslagern hat der Reaktivierung des Todes-Gespenstes Vorschub geleistet. So reichte die Lektre einiger Seiten Nietzsche damals beispielsweise kaum aus, den bleiernen Pomp der Todesbeschwçrung in Heideggers Sein und Zeit am berwuchern des Lebens zu hindern.41 Vielleicht sind wir, weiter weg von den Schtzengrben und Vernichtungslagern, heute eher imstande, uns dieser Ernchterung auszusetzen und anzuer39 Ebd., § 278, S. 523. 40 In Also sprach Zarathustra I, Vom freien Tode, KSA 4, S. 93 – 96, hat dieses Fest des Lebens selbst bei seiner Auslçschung etwas Gezwungenes, womçglich Zwanghaftes. 41 Zu Heideggers rhetorischen Strategien siehe noch immer Pierre Bourdieu, Die politische Ontologie Martin Heideggers [1975]. Aus dem Franzçsischen von Bernd Schwibs, Frankfurt a. M. 1998, bes. S. 115 – 127.
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kennen, dass der Tod fr sich weder Sinn hat noch fr sich sinnlos ist. Sinn macht er fr das Leben, insofern er uns eine Frist setzt, die wir als Lebende nutzen kçnnen und sollen. Die Distanzierungsanstrengungen, die Elias und Nietzsche unternehmen, entkleiden den Tod seiner vielbemhten Rtselhaftigkeit. Es mag sein, dass das Leben ein Rtsel ist – der Tod ist es nicht, ist Leben ohne Ende, ohne Tod doch schlicht nicht zu haben. Es gibt in Sachen Tod nichts zu erklren. Webt man an den von Nietzsche und Elias ausgeworfenen Netzen weiter, langt man bald bei der Frage an, ob die Angst vor dem Tod denn wirklich, wie immer wieder behauptet wird,42 zur natrlichen Ausstattung des Menschen gehçrt. Weshalb sollte mich die Vorstellung, dereinst oder bald nicht mehr zu sein, in Angst und Schrecken versetzen? Was spricht gegen die Annahme, dass die Todesangst in erster Linie ein knstliches, kulturelles Produkt sei?43 Schwindet die Todesangst im Laufe zivilisatorischer Prozesse nicht, wenn der Tod de-semantisiert wird – mit der Abschaffung des Jenseits? Die einzige Angst, die bleibt, ist die Angst, sein befristetes Leben nicht ausgeschçpft zu haben. Das ist aber keine Todesangst, sondern eine Lebensangst. „Der Tod ist ein Problem der Lebenden. Tote Menschen haben keine Probleme.“44 Aber vielleicht sind weder Tod noch Sterblichkeit ein Problem. Vielleicht ist nur das Leben das Problem. Und dieses Leben gibt uns, wegen seiner Endlichkeit, Freiheitsrume. Nullum maius solacium est mortis quam ipsa mortalitas. 45 Oder anders gesagt: Leben ist nur um den Preis des Todes zu haben. Ohne Tod gibt es kein Leben. Ohne Tod ist Leben unmçglich.
42 Vgl. z. B. Walter Burkert, Die Straße der Seligen. Griechische Mysterien, in: Rainer Beck (Hrsg.), Der Tod. Ein Lesebuch von den letzten Dingen, Mnchen 1995, S. 57 – 64, hier S. 62; Ernst Tugendhat, Unsere Angst vor dem Tod, in: Friedrich Wilhelm Graf/ Heinrich Meier (Hrsg.), Der Tod im Leben. Ein Symposium, Mnchen/ Zrich 2004, S. 47 – 62. 43 Vgl. auch Nietzsche, Nachlaß 1875 – 1879, KSA 8, 23[12], S. 408: „Die große Angst vor dem Tode, mit der Schopenhauer ebenfalls zu Gunsten seiner Annahme vom Willen argumentirt, ist in langem Zeitraum großgezchtet durch einzelne Religionen, welche den Tod als entscheidende Stunde ansehen; sie ist hier und da so groß geworden. Falls sie aber unabhngig davon beobachtet wird, so ist sie nicht mehr als Angst vor dem Sterben d. h. dem ungeprobten und vielleicht zu groß vorgestellten Schmerz dabei, dann vor den Verlusten, welche durch das Sterben eintreten. Es ist nicht wahr daß man das Dasein um jeden Preis will, z. B. nicht als Thiere, auf welche Schopenhauer so gern hinweist um die ungeheure Macht des allgemeinen Willens zum Leben festzustellen.“ 44 Elias, ber die Einsamkeit, S. 11. 45 Seneca, Quaestiones naturales VI 2, 6.
Die kopernikanische Wende als anthropologische Denkfigur bei Nietzsche und Elias Friederike Felicitas Gnther Die Lehre des Kopernikus, die als ,kopernikanische Wende‘ in den Sprachgebrauch eingegangen ist, kennzeichnet rckblickend eine umwlzende Neuorientierung des Welt- und Menschenbildes.1 Nicht von ungefhr setzen daher so bewusste Stilisten wie Friedrich Nietzsche und Norbert Elias die Rede von Kopernikus bzw. von einer kopernikanischen Wende ein, um ihr jeweiliges Verstndnis vom Menschen zu artikulieren. Dieser Ausrichtung ihres Denkens zu folgen – und zwar anhand der Ausschnitte ihres jeweiligen stilistischen Gebrauchs der kopernikanischen Wende – ist das Anliegen der folgenden Seiten, mit dem Ziel, einen Vergleich zwischen der Anthropologie von Nietzsche und Elias anzustellen. Dass es beiden Denkern um eine vernderte Auffassung vom Menschen geht, ist der Ausgangspunkt dieser berlegungen. Friedrich Nietzsches grundstzliches Anliegen, in seinen Schriften die Grenzen und Mçglich1
Im Anschluss an Hans Blumenberg, Die kopernikanische Wende, Frankfurt a. M. 1965, S. 100, verstehen Untersuchungen in den Geisteswissenschaften die kopernikanische Wende als Metapher fr einen „Wandel des menschlichen Selbstverstndnisses“. Sandra Kluwe demonstriert in ihrem einschlgigen berblick „Trauma und Triumph: Die kopernikanische Wende in Dichtung und Philosophie. Stationen der Rezeptionsgeschichte von Gryphius bis Nietzsche“, in: Hans Gebhardt/ Helmut Kiesel, Weltbilder, Berlin/ Heidelberg 2004 [= Heidelberger Jahrbcher 47] die Rezeptionsgeschichte der Metapher und erinnert daran, dass es sich hierbei um eine „metaphorologische Umdeutung“ der eigentlichen Lehre des Kopernikus handelt, die erst ab dem 17. Jahrhundert als „Abwertung der menschlichen Wrde“ begriffen wird (ebd., S. 180). Vgl. zur kopernikanischen Wende außerdem Volker Gerhardt, Die kopernikanische Wende bei Kant und Nietzsche, in: Jçrg Albertz (Hrsg.), Kant und Nietzsche – Vorspiel einer knftigen Weltauslegung?, Wiesbaden 1988, S. 157 – 182; K. Dienst, Artikel ,Kopernikanische Wende‘, in: Joachim Ritter/ Karlfried Grnder (Hrsg.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, Sp. 1094 – 99; Karl Richter, Die kopernikanische Wende in der Lyrik von Brockes bis Klopstock, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 12 (1968), S. 132 – 169; Peter Andr Alt, Kopernikanische Lektionen. Zur Topik des Himmels in der Literatur der Aufklrung, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 48 (1998), H. 2, S. 141 – 164.
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keiten des Menschlichen auszuloten, darf vorausgesetzt werden.2 „Mir lag alles am Menschen“, schreibt er in einem Brief vom 19. 12. 1876 an Cosima Wagner,3 und fasst damit den Antrieb seines Schreibens zusammen, den er unmissverstndlich betont. Bei Norbert Elias findet sich gleich zu Beginn seines Buches ber den Prozeß der Zivilisation – im fr diese Untersuchung besonders relevanten neunten Abschnitt seines Vorworts von 1968 – eine deutliche Formulierung seines Erkenntnisinteresses: ihm liege daran, „ein sachgerechteres Verstndnis vom Menschen […] zu gewinnen.“4 Der Komparativ seiner Formulierung signalisiert, dass er das bisherige Verstndnis vom Menschen – bezogen auf philosophische und soziologische Paradigmen – offensichtlich fr unzureichend hlt. Elias fordert ein anthropologisches Umdenken, das er mit seinem Buch befçrdern will, und eben diese Wende umschreibt er mit dem Umbruch der kopernikanischen Lehre.5 Im Folgenden wird daher interessieren, was der Gebrauch dieser zur Metapher gewordenen naturwissenschaftlichen Erkenntnis impliziert – einerseits in Bezug auf die Deutung der bestehenden anthropologischen Paradigmen, die fr Elias noch immer „geozentrisch“ verhaftet bleiben, und andererseits in Bezug auf den von ihm eingeforderten „heliozentrisch“ gewandelten Blick auf den Menschen.6 Gemeinhin bezeichnet die kopernikanische Wende die Entdeckung, dass die Erdenwelt nicht das Zentrum des Kosmos bildet, sondern vielmehr Teil eines planetaren Systems ist, in dessen Zentrum die Sonne steht. Elias hebt hervor, welche schwerwiegenden Folgen dieses Weltbild fr das menschliche Selbstverstndnis hat, denn es „versetzte die Menschen aus ihrer Position im Zentrum des Weltalls auf einen von vielen Planeten, die um das Zentrum kreisen.“7 Die Vorstellung eines feststehenden Zentrums htte daher eigentlich lngst fr ein dynamischeres und dezentrales Modell aufgegeben werden mssen, doch in der Wissenschaft vom Menschen ist diese Erkenntnis, so Elias, noch immer nicht angekommen. Allenfalls werde die 2 3 4 5 6 7
Vgl. zu Nietzsches sthetischer Anthropologie: Friederike Felicitas Gnther, Rhythmus beim frhen Nietzsche, Berlin/ New York 2008 (= Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung 55). Nietzsche, KGB 2.5 [Nr. 581], S. 210. Norbert Elias, ber den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. I, Frankfurt a. M. 1997, S. 57. Vgl. Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, S. 59 ff. Elias spricht diesbezglich davon, „den bergang von einem geozentrischen zu einem heliozentrischen Weltbild zu ermçglichen“ (Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, S. 60). Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, S. 61.
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heliozentrische Sichtweise in Bezug auf die unbelebte Natur bercksichtigt, wo man entsprechend dem kopernikanischen Weltbild ein System aus Interdependenzen annimmt, statt an der Vorstellung abgegrenzter Einheiten festzuhalten. Eben dieser dynamisierende Aspekt der kopernikanischen Metaphorik von Elias gleicht deren Gebrauch bei Friedrich Nietzsche. Nietzsche bezieht die wissenschaftliche Errungenschaft, Kosmos und Natur nicht als Ansammlung fester Kçrper, sondern als dynamische Felder zu begreifen, ebenfalls auf die Entdeckungen des Kopernikus, und geht unmittelbar auf deren Konsequenzen fr die menschliche Wahrnehmung ein. In Jenseits von Gut und Bçse widmet er Kopernikus einen ganzen, in den Publikationen zu Nietzsches Kopernikus-Bild oftmals bergangenen Paragraphen.8 Dort hebt Nietzsche ihn – mit Ruggero Giuseppe Boscovich – positiv als denjenigen hervor, der das als fest und unverrckbar Angenommene unaufhaltsam auflçst: Dank vorerst jenem Polen Boscovich, der, mitsammt dem Polen Kopernicus, bisher der grçsste und siegreichste Gegner des Augenscheins war. Whrend nmlich Kopernicus uns berredet hat zu glauben, wider alle Sinne, dass die Erde nicht fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben an das Letzte, was von der Erde „feststand“, abschwçren, dem Glauben an den „Stoff“, an die „Materie“, an das Erdenrest- und Klmpchen-Atom: es war der grçsste Triumph ber die Sinne, der bisher auf Erden errungen worden ist.9
Nicht dem unmittelbaren Sinneseindruck zu glauben, der uns vortuscht, wir stnden auf dem festen Mittelpunkt der Welt, und der uns glauben machen will, Dinge und Kçrper seien tatschlich unbeweglich und auf letzte kleinste Teilchen reduzierbar – dies ist die große Errungenschaft der Naturwissenschaften. Kopernikus und Boscovich, notiert Nietzsche, haben es geschafft, sich ber den „Sinnen-Pçbel“10 zu erheben. In seinem Vorwort formuliert Elias – etwas gesetzter, doch mit derselben Zielrichtung: 8 Seit Blumenberg, Die kopernikanische Wende, Frankfurt a. M 1965, S. 158, rezipiert die Forschung meist allein Nietzsches negatives Kopernikus-Bild aus Zur Genealogie der Moral, III § 25, KSA 5, S. 404, in der von der „Selbstverkleinerung des Menschen“die Rede ist. Der affirmative Blick Nietzsches auf die kopernikanische Wende gert oft aus dem Blickfeld, wenn allein seine diesbezglichen kritischen ußerungen zur Gefahr des Nihilismus infolge der kopernikanischen Wende behandelt werden (wie z. B. bei Gerhard, Die kopernikanische Wende, oder auch bei Kluwe, Trauma und Triumph, S. 213), auf die weiter unten eingegangen wird. 9 Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 12, KSA 5, S. 26. 10 Ebd., § 14, S. 28. Gerhard, Die kopernikanische Wende, S. 162, erinnert daran, dass bereits Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Methodik der modernen Wissenschaften am Beispiel des Kopernikus als „Widersinnisch“ bezeichnet.
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[U]m den bergang von einem geozentrischen zu einem heliozentrischen Weltbild zu ermçglichen […], bedurfte [es] vor allem auch eines erhçhten Vermçgens der Menschen, sich im Denken von sich selbst zu distanzieren […] sich von der primren Selbstverstndlichkeit [zu] lçsen, mit der [Menschen] alles Erfahrene zunchst unreflektiert und spontan aus seinem Zweck und Sinn fr sich selbst zu verstehen suchen.11
Doch was dem Menschen in Bezug auf die Natur gelungen ist, jene Distanzierung, derzufolge das scheinbar Gegebene sich in zeitliche Prozesse auflçst, endet bei der Anwendung auf sich selbst. Das Menschenbild sei gegen die kopernikanische Wende resistent geblieben, so Elias’ Kritik und Analyse der modernen Geistes- und Sozialwissenschaften. Hier beschftige man sich hartnckig als Ausgangspunkt aller berlegungen mit dem Individuum, als habe es eine in sich geschlossene und feste Identitt, als sei der Mensch als statischer „homo clausus“ 12 zu verstehen, der einer von ihm wie durch eine Mauer getrennten Außenwelt gegenbersteht. Wie eine Besttigung von Elias’ These liest sich die Metaphorik der kopernikanischen Wende in Immanuel Kants Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1787. Kant festigt hier – paradoxerweise mit der Legitimation kopernikanischer Bildlichkeit – die Vormachtstellung des transzendentalen Ichs.13 Als „,geschlossene Persçnlichkeit‘ des homo philosophicus“, so Elias’ Kommentar dazu in seiner Vorrede, trete jenes „erkenntnistheoretische Subjekt auf die Bhne“.14 Daraus folgt eine Zentrierung auf das Erkenntnissubjekt, die Elias in seiner Kritik am Idealismus gerade mit Kopernikus berwunden wissen will. Daher ist auch seine unmittelbar folgende Frage in 11 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, 60 f. 12 Ebd., S. 52. 13 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders.: Werke, Darmstadt 1963, Bd. 3, S. 25. Kant setzt die kopernikanische Metaphorik hier ein, um eine grundstzliche Wende in der Herangehensweise an die Wirklichkeit zu beschreiben. Inhaltlich aber sagt er das Gegenteil von dem, was die Metapher suggeriert. Keinesfalls beginnt sich bei ihm das Subjekt wie der Zuschauer bei Kopernikus um die Gegenstnde zu drehen, wie seine Parallelisierung nahe legt, sondern gerade umgekehrt: Sicheres Zentrum dieses wissenschaftlichen Orbits bleibt das transzendentale Subjekt mit seinen Anschauungsformen und Kategorien. Gerhard, Die kopernikanische Wende bei Kant und Nietzsche, S. 160 f., fhrt die seit Bertrand Russell gefhrte These von der eigentlich „anti-kopernikanischen“ Revolution Kants an, die er im Folgenden diskutiert. Vgl. die Deutung von Kluwe, die berzeugend zeigt, wie die scheinbare Erniedrigung des Menschen durch die kopernikanische Wende im 18. Jahrhundert in Selbstbehauptung, wenn nicht Selbsterhçhung umschlgt (Kluwe, Trauma und Triumph, S. 200). Zur kopernikanischen Wende bei Kant s. ebd. S. 200 ff. sowie Alt, Kopernikanische Lektionen, S. 162 ff. 14 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, S. 50.
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Bezug auf die Vorstellung eines in sich geschlossenen Subjekts rhetorisch zu verstehen: Handelt es sich hier, wie es oft erscheint, um eine ewige, keiner weiteren Erklrung zugngliche Grunderfahrung aller Menschen oder handelt es sich um einen Typ der Selbsterfahrung, der fr eine bestimmte Stufe in der Entwicklung der von Menschen gebildeten Figurationen […] typisch ist?15
Die Provokation der Elias’schen Grundthese ist eindeutig: die Vorstellung vom Einzelmenschen ist nur als vorbergehendes Stadium eines Zivilisationsprozesses zu verstehen, in dem nicht die Anordnung von einzelnen Figuren zhlt, sondern vielmehr „wandelbare Figurationen“ zu beobachten sind.16 Sein Prozessdenken beschrnkt sich demnach nicht auf bewegte Handlungsspielrume zwischen Zustnden, Formen oder auch Individuen, die wie Punkte auf einem bewegten Zeitpfeil zu fixieren wren,17 sondern die Wandelbarkeit betrifft auch jene Punkte und Gestalten selbst: rumliche Grenzen werden in einem zeitlichen Prozess aufgelçst gedacht. Deutlich ist, dass Elias mit der Auflçsung scheinbar fest etablierter Grenzen einschließlich derjenigen des eigenen Kçrpers ein zutiefst modernes Erleben anspricht und in die wissenschaftliche Erkenntnis vom Menschen zu integrieren sucht. Nun ist dieses Bestreben allerdings nicht neu. Zieht man beispielsweise einen der philosophischen Stichwortgeber der sthetik des frhen 20. Jahrhunderts, den Philosophen und Literaturnobelpreistrger Henri Bergson heran, so hat dieser es sich bereits zur Jahrhundertwende zur Aufgabe gemacht, eben diese Vorstellung abgegrenzter Zustnde, die er mit dem logozentrischen rumlichen Denken gleichsetzt, zu berwinden und in einer unabgegrenzten dure aufzulçsen. Eines der vielen Bilder, die er fr einen solchen Wandel der Wahrnehmung sucht, ist der Klang von Kirchenglocken, die zur Feier rufen. Er illustriert seine Thesen folgendermaßen: Versucht man, einzelne Schlge aus dem Klangeindruck der lutenden Glocken abzusondern, indem man sie zhlt, so reduziert man den Klangverlauf auf separate, fr sich stehende Einzeleindrcke: „nehme [ich] mir ausdrcklich vor, sie zu zhlen; […]
15 Ebd., S. 59. 16 Ebd., S. 51. 17 So lautet seine Kritik am soziologischen Modell von Talcott Parsons, dass dieser zwar den Wandel mit in seine Theorie einbezieht, der „soziale Wandel“ beziehe sich hier jedoch „auf einen durch Stçrungen herbeigefhrten bergangszustand zwischen zwei Normalzustnden der Wandellosigkeit“ (ebd., S. 23). Normal seien hier die statischen Zustnde, whrend die dynamischen bergnge vorbergehende Phasen zwischen den fixierbaren Punkten darstellen.
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dann muß ich sie aus ihrer Verbindung lçsen“.18 Lsst man dagegen den Klangeindruck als Ganzen auf sich wirken, so berlappen sich Anfang und Ende der aufeinanderfolgenden Schlge derart, dass man keine Einzelschlge mehr differenzieren kann. Der Gesamtklang stellt sich fr die Wahrnehmung dann nicht durch die Aneinanderreihung von separaten Schlgen, sondern vielmehr durch ihr ineinander verwobenes Zusammenspiel her. Eine hnliche Umstellung der Wahrnehmung schwebt Elias wohl als kopernikanische Wende der wissenschaftlichen Anthropologie vor: Anstelle des vorherrschenden „Einzelmenschenbild[es]“19 will er Interdependenzen, gegenseitige Durchdringung und soziale Zusammenhnge ins Auge fassen, und so das Menschenbild von einem statischen in ein prozesshaftes wandeln.20 Wenn er die Vorstellung vom in sich geschlossenen Einzelindividuum verabschiedet, dann zugunsten einer bewegteren, zeitlich bedingteren Struktur als derjenigen eines in sich verkapselten Ich. In Bezug auf die Relevanz des Individuums sieht er selbst hier allerdings eine gewisse Rechtfertigungsnot seines neuen Menschenbildes. „Bei dieser Vernderung der Perspektive“, betont er in seinem Buch Die hçfische Gesellschaft, verlieren die Menschen nicht, wie es manchmal dargestellt wird, ihren Charakter und Wert als einzelne Menschen. Aber sie erscheinen nicht mehr als vereinzelte Menschen, von denen jeder zunchst einmal unabhngig von jedem anderen ganz fr sich steht.21
Die feine Differenzierung zwischen dem „einzelnen“ und dem „vereinzelten“ Menschen ist nicht unmittelbar einleuchtend – wie ist der Mensch als Einzelner zu verstehen, wenn er nicht als solcher in den Blick genommen werden soll? Ein hnliches Dilemma weist die Elias’sche Unterscheidung von „Figuren“ im Sinne von Einzelmenschen und demgegenber von „Figurationen“ auf, die jene Einzelnen stattdessen in ihrer wechselseitigen Bezglichkeit ins Auge fassen sollen: in der Figuration erscheinen die Menschen, wie er schreibt, „als relativ, nicht als absolut autonome, als relativ, nicht als absolut unabhngige Individuen“.22 Auch diese Differenzierung 18 Henri Bergson, Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung ber die unmittelbaren Bewusstseinstatsachen, Jena 1911 [frz. : Essai sur les donnes immdiates de la conscience, Paris 1889], S. 68. 19 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, S. 53. 20 Sein Untersuchungsziel ist, wie der Titel seines Buches verkndet, „[d]er Prozeß – der einzelne Mensch als Prozeß im Heranwachsen, die Menschen zusammen als Prozeß der Menschheitsentwicklung […]“ (ebd., S. 50). 21 Elias, Die hçfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Kçnigtums und der hçfischen Aristokratie, Frankfurt a. M. 1983, S. 46. 22 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, S. 51.
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bleibt unbefriedigend, und angesichts dieser Unklarheit scheint es angebracht, die von Elias gewhlten sprachlichen Bilder zur Umschreibung des heliozentrisch gewandelten Menschenbildes genauer zu betrachten. Anschaulich vergleicht er den Begriff der „Figuration“ mit Gesellschaftstnzen, in denen austauschbare Individuen miteinander Tanzfiguren bilden, deren klare Ablufe durch Konventionen festgelegt sind und deren Figurationen sich im Laufe der Zeit wandeln, ohne dabei jedoch ihre grundstzliche Strukturiertheit aufzulçsen. Hier ist ein solcher Prozess illustriert, wie ihn Elias mit seinen Untersuchungen vor Augen fhren will. Dass allerdings unter dem von ihm vorgeschlagenen Blickwinkel der Figurationen nun endlich jene „Gegenstzlichkeit“ verschwindet, „die gewçhnlich heute mitschwingt, wenn man die Worte ,Individuum‘ und ,Gesellschaft‘ gebraucht“,23 leuchtet weniger ein. Zwar betont er, dass kein Tanz ohne Individuen stattfinden kçnne, aber diese Tnzer in ihrem „Charakter und Wert als einzelne Menschen“ (s. o.) zu betrachten, sei zur Untersuchung des Wandels der Tanzformationen in der Zeit nicht notwendig. Da insofern hier der einzelne Mensch aus dem Blickfeld verschwindet, ist Elias’ in den bereits zitierten Passagen formulierter Anspruch, sowohl den Blick auf den Einzelmenschen als auch den Blick auf große Zusammenhnge im Wandel der Zeit zu vereinen, nicht eingelçst. hnliches ist bei einem weiteren Bild zu beobachten, das Elias fr den heliozentrisch gewandelten Blick auf den Menschen heranfhrt und das sich kosmischer Metaphorik bedient. Sind es im planetarischen System die gegenseitigen gesetzmßigen Anziehungs- und Abstoßungskrfte, die es stabilisieren, so nennt Elias in Die hçfische Gesellschaft die einzelnen Individuen in ihrer wechselseitigen Bezglichkeit „offene, gegenseitig aufeinander ausgerichtete Eigensysteme, die durch Interdependenzen verschiedenster Art miteinander verbunden sind und die kraft ihrer Interdependenzen miteinander spezifische Figurationen bilden.“24 Um eine solche historische Figuration anschaulicher werden zu lassen, whlt Elias als Beispiel u. a. den Roi Soleil, Ludwig XIV. Wenn es zunchst so scheinen mag, als sei der Kçnig in der Absolutheit seines Machtanspruchs gerade eine besonders freie und unabhngige Einzelgestalt, so zeigt demgegenber ein Beispiel aus Elias’ Analyse vielmehr, dass die Grçße seiner Macht durch den strategischen Verlust seiner Privatsphre und damit auch seiner Autonomie bedingt ist. „Der Kçnig“, so Elias, „nutzte seine privatesten Verrichtungen, um Rangunterschiede herzustellen“.25 In 23 Ebd., S. 71. 24 Elias, Die hçfische Gesellschaft, S. 47. 25 Ebd., S. 129.
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diesem Sinne werden die Grenzen seines Kçrpers zur Schnittstelle gesellschaftlicher Wechselbeziehungen und gehçren nicht mehr ihm allein. Je hçher die Position am Hof, die ein Adliger inne hatte, desto nher rckte er an die Intimsphre des Kçnigs: Das Reichen des Hemdes oder das Leeren des Nachttopfes waren gewissermaßen die hçchsten Auszeichnungen im hçfischen Kosmos. Die genau vorgeschriebene Etikette war nicht etwa lcherliches Beiwerk hçfischen Zeremoniells, sondern zeigte vielmehr die exakte Position und den Grad des Einflusses im gesellschaftlichen Orbit des Sonnenkçnigs an. Um also die Figuration jener absolutistischen Epoche zu verstehen, ist nicht der Kçnig als separate Einzelgestalt ins Auge zu fassen, sondern vielmehr im wahrsten Sinne des Wortes ein Sonnensystem, das aus Interdependenzen und nicht aus aneinander grenzenden festen Kçrpern besteht und das die hçfischen Individuen in seine festgelegten Bahnen zieht. Dementsprechend verleiht nicht die individuelle Einzelgestalt Ludwig XIV. dieser historischen Gesellschaftsformation ihre Bedeutung und kulturelle Dauer, sondern vielmehr das System, dessen Sonnenfunktion verschiedene Kçnigsgestalten ausfllen kçnnen. Dass der Sonnenkçnig diesem prozessorientierten Erkenntnisinteresse zufolge als Individuum weniger interessiert und der Anspruch von Elias, sowohl den historischen Zivilisationsprozess als auch den Einzelmenschen anthropologisch ins Auge zu fassen, in seinen Untersuchungen nicht eingelçst wird, liegt, wenn man Nietzsche folgt, in der Natur der Sache: schon aus physiologischen Grnden ist es unmçglich, zugleich in die Nhe wie auch in die Ferne zu blicken und damit weit berspannende Zusammenhnge zu fixieren. Bereits in seinen frhen Schriften betont er, dass der Blick auf das Kleine den weiten Blick verstellt,26 und umgekehrt: die weiter gespannten Rhythmen der Geschichte sind nur fr denjenigen sichtbar, der sich „auf die Schultern von Riesen“ stellt und das „lrmende[ ] Gezwerge“ unter sich bersieht.27 Der Anspruch, zugleich das zeitlich begrenzte individuelle Leben wie auch berindividuelle soziale Prozesse in den Blick zu 26 So z. B. seine Wissenschaftskritik in der dritten Unzeitgemßen Betrachtung: der biedere Gelehrte zeige „Scharfsichtigkeit in der Nhe, verbunden mit grosser Myopie [Blindheit, FFG] fr die Ferne und das Allgemeine“ (Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 395). In einem spten Brief an Carl Fuchs vom 26. August 1888 greift er diesen Gedanken als physiologische Feststellung wiederum auf: „In dem Maße, in dem sich das Auge fr die rhythmische Einzelform (,Phrase‘) einstellt, wird es myops fr die weiten, langen, großen Formen“ (Nietzsche, KSB 8, S. 401). 27 Vgl. Gnther, Rhythmus beim frhen Nietzsche, Kap. „Betontes und Unbetontes in der Historienschrift“, bes. S. 141 ff. Das Zitat findet sich in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben, KSA 1, S. 317.
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nehmen, wre demnach gar nicht einlçsbar, sondern es ist eine perspektivische Entscheidung fr das eine oder das andere zu treffen. Zugespitzt formuliert ließe sich dann ein Menschenbild, das das Individuum wirklich bercksichtigt, berhaupt nicht kopernikanisch wenden.28 Und es gibt gute Grnde, warum gerade die „Menschenwissenschaften“,29 die Elias so vehement kritisiert, fr das kopernikanische Weltbild resistent geblieben sind. Betrachten wir nochmals Elias’ Kritik an der philosophischen Tradition, den Menschen als „geschlossene Persçnlichkeit“30 zu verstehen. Wo wrde man deren Grenze ansetzen, fragt er aus seiner prozessorientierten Perspektive? „Ist der Leib das Gefß, das in seinem Innern das eigentliche Selbst verschlossen hlt? Ist die Haut die Grenze zwischen dem ,Innern‘ und dem ,ußern‘?“31 hnliches fragt Hugo von Hofmannsthal bereits 1902 in seinem Schlsseltext der sthetischen Moderne Ein Brief und spricht damit eine zutiefst moderne Erfahrung des Menschen aus, der die Auflçsung seiner Kçrpergrenzen erlebt. Der fiktive Briefschreiber seines Textes, Lord Chandos, leidet daran, keine fest umrissenen Grenzen mehr erkennen oder ziehen zu kçnnen. An den Adressaten Francis Bacon schreibt er: [A]lles erschien mir so […] lçcherig wie nur mçglich. Mein Geist zwang mich, alle Dinge […] in einer unheimlichen Nhe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrçßerungsglas ein Stck von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Brachfeld mit Furchen und Hçhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen.32
Hier wird deutlich, dass die Konzentration auf das Dynamische, sich in der Zeit Wandelnde, dass die Auflçsung der festen Grenzen und der Blick auf die erwiesene Lçcherigkeit unseres Ich und unserer Begriffe von der Welt auch außer Kontrolle geraten und so weit gehen kçnnen, dass fr ein anthropologisches Erkenntnisinteresse berhaupt keine Unterscheidungen und 28 Elias sieht dies anders: „[E]s ist gewiß nicht unmçglich, diese Erfahrung [das ptolemisches Weltbild, FFG] und das Menschenbild, das ihr entspricht, aus ihrem selbstverstndlichen Gebrauch in der Forschungsarbeit der Menschenwissenschaften zu entfernen“ (Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, S. 69). 29 Ebd. 30 Ebd., S. 50. 31 Ebd., S. 53. 32 Hugo von Hofmannsthal, Ein Brief, in: ders., Smtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 31: Erfundene Gesprche und Briefe, hrsg. von Ellen Ritter, Frankfurt a. M. 1991, S. 49.
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Strukturen mehr erkennbar werden. Lord Chandos macht im zitierten Text seinen „Geist“ fr diese diffundierende Sichtweise verantwortlich. Friedrich Nietzsche erkennt es als eben diese große Gefahr einer wissenschaftlichen Herangehensweise, wenn sie sich in zu extremer Manier von den Maßstben des eigenen Augenscheins und dem menschlichen Bedrfnis nach anhaltenden und bleibenden Zustnden und Strukturen, nach dem „vereinfachenden Blick der Gewohnheit“, wie Chandos schreibt, entfernt. Hier liegt Nietzsche im direkten Gegensatz zum Erkenntnisinteresse von Elias, der als konsequente wissenschaftliche Leistung gerade die innere Distanz des Menschen zu seinen wahrnehmungsspezifischen Schlussfolgerungen in Bezug auf die Welt hervorhebt und sie als kopernikanische Wende einfordert.33 Nietzsche sieht diese unwiderrufliche Entwicklung der modernen Wissenschaft ebenfalls, jedoch erkennt er bereits knapp hundert Jahre vor Elias auch die Gefahren, die gerade fr die Lebensfhigkeit des Menschen in der fortwhrenden Auflçsung der physiologisch gegebenen Grenzen lauern. In der zweiten Unzeitgemssen Betrachtung schreibt er: „Die Wissenschaft […] lebt in einem innerlichen Widerspruche […] gegen die aeternisirenden Mchte der Kunst und der Religion“, d. h. gegen diejenigen Geistesstrçmungen, die Dauer und Ewigkeit versprechen. Denn, wie er fortfhrt, die Wissenschaft sucht „alle Horizont-Umschrnkungen aufzuheben […] und [wirft] den Menschen in ein unendlich-unbegrenztes Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens hinein[ ]. Wenn er nur darin leben kçnnte!“34 Es besteht die Gefahr, dass das Abstandnehmen von den Sinnesvorgaben nicht etwa eine neue, prozessorientierte ,Figuration‘ offenbart, sondern vielmehr in der Haltlosigkeit flimmernder bergnge endet, in der sich der Mensch selbst nicht mehr positionieren kann und die infolgedessen das Leben selbst vernichtet. Zwar richtet Nietzsche seine Kritik ebenso wie Elias gegen eine metaphysische berhçhung des Menschen, doch sieht er auf der anderen Seite die Risiken jenes Orientierungsverlusts, wenn allen „Horizont-Umschrnkungen“ des Individuums eine Absage erteilt wird. Die Natur selbst
33 Die Konsequenz der neuzeitlichen wissenschaftlichen Haltung, jenen „Akt des gedanklichen Abstandnehmens von den Objekten des Nachdenkens, den jede in hçherem Maße gefhlskontrollierte Reflexion einschließt, den insbesondere die wissenschaftliche Denk- und Beobachtungsarbeit verlangt – und der sie zugleich mçglich macht […]“, bewertet Elias in Bezug auf die Selbsterfahrung des Menschen als „sachgerechteres, wenn auch gefhlsmßig weniger ansprechendes“ Verfahren (Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, S. 63 und 69). 34 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben, KSA 1, S. 330.
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gebe ein „Bedrfnis nach beschrnkten Horizonten“35 vor, das die Wissenschaft nur unter Preisgabe der menschlichen „Lebens- und WachsthumsBedingung[en]“36 berwinden kann. Die Vorgabe der Sinnesorgane hat daher notgedrungen auch fr den wissenschaftlichen Blick auf den Menschen zu gelten, der gewissermaßen „[i]m Gefngniss“37 seiner organischen Grenzen bleiben muss, will er sich nicht selbst verlieren. Nun hatten wir aber zu Beginn dieser Untersuchung festgestellt, dass Elias und Nietzsche in ihrer Aufwertung der kopernikanischen Lehre durchaus parallel zu sehen sind, und zwar bei Nietzsche insbesondere in Bezug auf die berwindung der physiologischen Gegebenheiten.38 Wie passt dies zu den vorangehenden Beobachtungen? Nietzsche hatte, wie bereits erwhnt, in Jenseits von Gut und Bçse Kopernikus (wie auch Boscovich) als berwinder des Augenscheins, als weit erhaben ber den „Sinnen-Pçbel“ vorgestellt. Sehen wir uns diese Stze noch einmal an: „Dank vorerst jenem Polen Boscovich, der, mitsammt dem Polen Kopernicus, bisher der grçsste und siegreichste Gegner des Augenscheins war.“39 In diesen affirmativen Satz hat Nietzsche allerdings ein zçgerndes Moment eingebaut: „vorerst“ sei den beiden zu danken. Dann fhrt er fort:
35 Vgl. „[D]ie ,Natur‘ […] ist es, welche das laisser aller, die allzugrosse Freiheit hassen lehrt und das Bedrfniss nach beschrnkten Horizonten, nach nchsten Aufgaben pflanzt ,– welche die Verengerung der Perspektive, und also in gewissem Sinne die Dummheit, als eine Lebens- und Wachsthums-Bedingung lehrt“ (Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 188, KSA 5, S. 109 f ). 36 Ebd. 37 „Im Gefngniss […]. Um jedes Wesen legt sich derart ein concentrischer Kreis, der einen Mittelpunkt hat und der ihm eigenthmlich ist […]. Nach diesen Horizonten, in welche, wie Gefngnissmauern, Jeden von uns unsere Sinne einschliessen, messen wir nun die Welt […] – es giebt durchaus kein Entrinnen, keine Schlupf- und Schleichwege in die wirkliche Welt!“ (Nietzsche, Morgenrçthe, § 117, KSA 3, S. 110). 38 Diesen affirmativen Aspekt von Nietzsches ußerungen zu Kopernikus vernachlssigt Kluwe, die in ihrem kurzen berblick zur „kopernikanische[n] Wende im Kontext der Modernittskrisen“ansonsten berzeugend auf Nietzsches Konzept des bermenschen als „ber-Kompensation der kopernikanischen Krnkung“verweist (Kluwe, Trauma und Triumph, S. 214). Ohne die Bewunderung, die er fr die wissenschaftliche berwindung der Sinneswahrnehmung hegt, verlçre die Anthropologie Nietzsches ihre tragische Grundierung. Er ist kein Gegner der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern bewundert sie als Mittel genialer sthetischer Neuentwrfe der Welt durch einzelne große Individuen, die jedoch damit gleichzeitig die Grundlagen des Lebens zerstçren, wie im Folgenden gezeigt wird. 39 Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 12, KSA 5, S. 26.
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Whrend nmlich Kopernicus uns berredet hat zu glauben, wider alle Sinne, dass die Erde nicht fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben an das Letzte, was von der Erde „feststand“, abschwçren […].
Dies sei der bislang grçßte Triumph „auf Erden“.40 Vordergrndig lobt Nietzsche hier Kopernikus und Boscovich als Triumphatoren ber die Sinne. Bei genauerem Blick auf seine Formulierung wird dieser Triumph aber merkwrdig unterhçhlt: Kopernikus habe „uns berredet zu glauben“, er hat nicht eine wahrere oder realittsgetreuere Anschauung des kosmischen Geschehens geliefert, sondern vielmehr rhetorisch die besten Mittel eingesetzt, um von seiner Weltsicht zu berzeugen. Man kann daraus schließen, dass Nietzsche Kopernikus weniger aufgrund seiner Entdeckung selbst als vielmehr aufgrund seines Widerstandes gegen die vorherrschende Meinung und aufgrund seiner gewaltigen rednerischen berzeugungskunst so hervorhebt. Aus Kopernikus spreche ein „Genuss in dieser Welt-berwltigung und Welt-Auslegung“, schreibt er im selben Aphorismus.41 Nun ist das berreden hier keineswegs als Schmlerung der Leistung des Kopernikus zu verstehen, vielmehr sieht Nietzsche in der Welt-Auslegung und damit in der berredungskunst eines mchtigen Individuums gerade den Motor, durch dessen Kraft sich allgemeine Weltvorstellungen wandeln kçnnen. Von einer Diagnose wie der in der Forschung blichen, dass Kopernikus fr Nietzsche als rein negative Figur erscheint, da er „zur Metapher fr den neuzeitlichen Nihilismus“ geworden sei,42 kann angesichts dieser Emphase fr die berredungskraft des Kopernikus keine Rede sein. Wie eine Besttigung lesen sich Nietzsches „Studien aller Art zu die frçhliche Wissenschaft“ von 1882, in denen er gerade das Agonale, den Widerstand gegen die communis opinio durch Kopernikus hervorhebt: Die Polen galten mir als die begabtesten und ritterlichsten unter den slavischen Vçlkern […]. Es that mir wohl, an das Recht des polnischen Edelmanns zu denken, mit seinem einfachen Veto den Beschluß einer Versammlung umzuwerfen; und der Pole Copernikus schien mir von diesem Rechte gegen den Beschluß und den Augenschein aller andern Menschen eben nur den grçßten und wrdigsten Gebrauch gemacht zu haben.43
Sein Veto einzulegen und damit gegen den Strom der Masse zu schwimmen, wodurch er in einer retrospektiven Lesart die Weichen der Geschichte anders stellte und schließlich die Wahrnehmung der Massen selbst vernderte und 40 41 42 43
Ebd. Ebd., § 14, S. 28. Vgl. Dienst, Kopernikanische Wende, Sp. 1097. Nietzsche, Nachlaß 1880 – 1882, KSA 9, 21[2], S. 682.
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prgte – das ist es, was Nietzsche hier als die große Leistung des Kopernikus benennt. An anderer Stelle bezeichnet er ihn als einen „Despoten“, der sich „der Macht bemchtigt“ habe, und stellt ihn darin dem Rhetoriker Cicero und dem Knstler Shakespeare gleich.44 Die kopernikanische Wende erscheint bei Nietzsche als rhetorischer, als ein sthetischer Gewaltakt eines Individuums, das sich gegen herrschende Ansichten stemmt und dadurch neue durchsetzt, nicht aber als Anstoß, das Einzelindividuum in der jeweiligen historischen Formation aufzulçsen, in deren Orbit es kreist, wie bei Elias. Lassen wir Letzteren noch einmal zu Worte kommen, um die Differenz deutlicher zu machen: Die Vorstellung von den absolut unabhngig von einander entscheidenden agierenden und „existierenden“ Einzelmenschen ist ein Kunstprodukt der Menschen […]. Es beruht zum Teil auf einer Verwechslung von Ideal und Tatsache […].45
Die Imagination eines separaten, in sich geschlossenen wirkmchtigen Einzelnen erscheint ihm als sthetische Tuschung, der die tatschliche innere und ußere soziale Vernetzung jedes scheinbaren Individuums entgegensteht. Dass diese „Vorstellung“ ein reines „Kunstprodukt“ ist, entsprche zwar noch dem Denken Nietzsches, der jedoch ebenso die Vernetzungen und Formationen, die Elias als demgegenber „sachgerechter“ heranzieht, als Kunstprodukte bezeichnen wrde, weil nur sthetische und idealisierende Mittel zur Verfgung stehen, um die Wirklichkeit zu erklren. Zurck ins Ich-Gehuse geht es allderdings infolge der wissenschaftlichen Erkenntnis auch nicht mehr, und anstelle der Hypothese einer fr sich begriffenen Seele, so Nietzsche in Jenseits von Gut und Bçse, stehe nunmehr der Weg zu neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelen-Hypothese […] offen: und Begriffe wie „sterbliche Seele“ und „Seele als Subjekts-Vielheit“ und „Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte“ wollen frderhin in der Wissenschaft Brgerrecht haben.46
Dies mag ganz im Sinne von Elias’ ,Figurationen‘ wie derjenigen des Sonnenkçnigs verstanden werden, jedoch sind diese fr Nietzsche keine „sachgerechteren“ Erklrungen der Welt und des Menschen, sondern vielmehr ebensolche Hypothesen und Konstrukte wie die von Elias abgetane Vorstellung von homines clausi, die miteinander in Beziehung treten. Man kann zudem die These wagen, dass Nietzsche diese neue Hypothese einer 44 Nietzsche, Nachlaß 1887 – 1889, KSA 13, 11[341], S. 147. 45 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, S. 68. 46 Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 12, KSA 5, S. 27.
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,Seele als Gesellschaftsbau‘ anthropologisch fr weniger wirkmchtig einschtzt als Elias. Zwar hlt er ebenso wie dieser und, so ein Zitat aus den Notaten „wie Copernicus […] alles Ausgehen von der Selbstbespiegelung des Geistes fr unfruchtbar“, fgt dem jedoch gleich hinzu, dass er „ohne den Leitfaden des Leibes an keine gute Forschung glaube.“47 Bereits 1873 in Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne hlt Nietzsche fest, dass jeder noch so kleine Funke von Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermçgen, und sei es der einer Mcke, an die pathetische Vorstellung gebunden ist, selbst das Zentrum der Welt zu sein.48 Kopernikus’ khner Weltentwurf, den Nietzsche als sthetische Leistung und rhetorisch-agonalen Akt bewundert, richtet sich in seiner Konsequenz schließlich gegen das Erkenntnisvermçgen und damit auch gegen den Menschen selbst. „Verkleinerung des Menschen seit Copernikus“, notiert er 1886, und reflektiert die nihilistischen Consequenzen der jetzigen Naturwissenschaft […]. Aus ihrem Betriebe folgt endlich eine Selbstzersetzung, eine Wendung gegen sich, eine Anti-Wissenschaftlichkeit. – Seit Copernikus rollt der Mensch aus dem Centrum ins x49
Die Wissenschaft, das zeigt das Beispiel des Kopernikus, ist nicht nur Quelle der berredung zu neuen Wirklichkeitsmodellen, sondern bei Nietzsche besitzt sie auch das Vermçgen, den Erkenntnisapparat zu zerstçren und damit unmenschlich zu werden. Es ist dieser zweite Aspekt, der in Elias’ Vorhaben, ein wissenschaftlicheres und, wie anfangs zitiert, „sachgerechteres“ Menschenbild zu etablieren, nicht bercksichtigt wird. Elias hat einen optimistischeren und auch pragmatischeren Wissenschaftsbegriff als Nietzsche: die wissenschaftliche Loslçsung vom Augenschein fhrt in seinen Augen auch zu einer adquateren Erkenntnis des Menschen. Dass mit der berschreitung des Individuums und dessen Augenschein, und sei es zugunsten erweiterter Figurationen, ein Schritt auf die Zeitlichkeit und Prozesshaftigkeit des Menschen hin getan wird, ist von ihm bewusst intendiert. Das Unheimliche, das Nietzsche wie auch Hofmannsthal daran erkennen, wenn nmlich durch das Einlassen auf die Zeit- und Vergnglichkeit, auf die Lçcherigkeit unserer individuellen Grenzen eine Todesahnung, ein „Unendlichkeitsgrauen“50 evoziert wird, integriert er nicht in sein „sachge47 Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, KSA 11, 26[432], S. 266. 48 „Kçnnten wir uns aber mit der Mcke verstndigen, so wrden wir vernehmen, dass auch sie […] in sich das fliegende Centrum dieser Welt fhlt“ (Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne, KSA 1, S. 875). 49 Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 2[127], S. 126 f. 50 Dienst, Kopernikanische Wende, Sp. 1097.
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rechteres“ Bild vom Menschen. Grund dafr, diesen Aspekt auszulassen, ist sicherlich sein soziologisches Interesse: er wrde wohl nie annehmen, dass Menschen nicht in sozialen Figurationen eingebunden sein kçnnten. Selbst die persçnliche Todeserfahrung ist fr ihn durch die Einbindung in grçßere Zusammenhnge neutralisiert.51 Nietzsche dagegen versteht pessimistischer sowohl die Individuen als auch die Figurationen als fragile kulturelle Errungenschaften, deren wissenschaftliche Zergliederung auch ins Unmenschliche und Unheimliche fhren kann: in ein horizontloses „Lichtwellen-Meer“, in das unendliche „x“, das die anthropologische Lebensgrundlage eines Standpunktes vernichtet.
51 Vgl. den vorangehenden Beitrag von Andreas Urs Sommer in diesem Band, der Elias’ Pldoyer gegen eine auf das individuelle Erleben reduzierte Todeserfahrung durch homines clausi zugunsten der Einbettung des Todes in einen sozialen Zusammenhang erlutert.
V. Affektkontrolle und Subjektivitt
Die soziale Verinnerlichung von Machtverhltnissen. ber die produktiven Aspekte der Selbstdisziplinierung und der Affektkontrolle bei Nietzsche und Elias* Chiara Piazzesi In der Gçtzen-Dmmerung gibt Nietzsche als philosophischen Zweck seiner Kritik der Moral, der metaphysischen Psychologie und der Subjektivitt an, er wolle dem Werden seine Unschuld wieder zurckgeben.1 Es geht ihm darum, die krankhaften Wirkungen eines bestimmten Selbstbildes des Menschen zu entschrfen. Diese philosophische Aufgabe verfolgt Nietzsche anhand eines Verfahrens, das die menschlichen psychischen Eigenschaften auf eine bestimmte historische Entwicklung zurckfhrt. Insofern sie das Selbstbild des Menschen durch diesen Verweis zugleich in Frage stellt, ist Nietzsches Genealogie einer selbstbestimmten Subjektivitt mit dem philosophischen Endziel verbunden, die Vernderung des Menschen durch ein alternatives Selbstbild zu erzielen. Wenn man Elias’ allgemeines zivilisationstheoretisches Vorhaben im Licht seiner erkenntnistheoretischen berlegungen in Engagement und Distanzierung liest, kann man eine hnliche Konzeption des Zusammenhangs zwischen genealogischer Arbeit und therapeutischer Absicht feststellen: indem sie auf die wechselseitige Abhngigkeit des Psychischen, Gesellschaftlichen und Historischen besteht, versucht seine Zivilisationstheorie den Menschen von einem sich als unabhngig begreifenden Selbstverstndnis (homo clausus) zu befreien, welches die Realitt solcher Prozesse kaum widerspiegelt und ihn am richtigen Verstndnis sowohl seiner selbst als auch der Welt hindert. Der vorliegende Beitrag setzt sich zum Ziel, diesen Parallelismus zwischen den beiden Denkern ans Licht zu bringen. Erstens erkunden wir einige gemeinsame theoretische Voraussetzungen von Nietzsches und Elias’ An* 1
Fr seine Hilfe bei der sprachlichen Revision des Textes sei Emanuel Herold herzlich gedankt. Den Organisatoren, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern und dem Publikum der Tagung bin ich fr ihre Anregungen sehr dankbar. Friedrich Nietzsche, Gçtzen-Dmmerung, Die vier grossen Irrthmer, KSA 6, S. 88 – 97.
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stzen im Rahmen ihrer Versuche, psychische und scheinbar individuelle Phnomene durch Distanz schaffende Verweise auf ihre Entstehung und ihre soziale Funktion zu relativieren. Zweitens werden wir Nietzsches und Elias’ jeweilige Genealogien der Individualitt analysieren, d. h. die Entstehung der Selbstbeobachtungs- und Selbstbeherrschungsfhigkeiten, die sich allmhlich im Laufe der Entwicklung einer „Wendeltreppe des Bewusstseins“ (Elias) herausdifferenzieren. Wie die Stadien dieser langfristigen Entwicklung tatschlich die konkreten Einzelnen prgen, d. h. wie jeder Einzelne innerhalb der jeweiligen Machtverhltnisse zum Individuum wird, werden wir im dritten Abschnitt erçrtern. Im letzten Abschnitt wird die Untersuchung mit einer Schlussbetrachtung versehen, in der die jeweiligen aufklrerischen Ziele beider Denker im Mittelpunkt stehen.
1. Distanzierung durch die Hypothese einer psychologischen Kontinuitt Sowohl Nietzsche als auch Elias unternehmen eine Genealogie des Subjektbegriffs und der Individualitt mit der Absicht, dadurch das Selbstbild des (westlichen) Menschen und die wichtigsten theoretischen Anstze in Bezug auf seine Geschichte und seine Selbsterfahrung in Frage zu stellen. Denn auf die Vorstellung einer selbstbestimmenden Subjektivitt sttzt sich eine bestimmte Form der Selbsterfahrung und eine Auffassung von Handlung und Interaktion, die den Menschen in einer Welt „phantastischer Causalitten“ (Nietzsche) gefangen hlt.2 Nach Elias steht darber hinaus die Idee eines selbstbezglichen inneren Lebens in enger Verbindung mit einigen soziologischen Theorien, die Individuen und gesellschaftliche Prozesse als voneinander getrennt betrachten. Elias setzt sich mit soziologischen Anstzen auseinander, die von einer Unabhngigkeit der sozialen Prozesse oder von einer Ursprnglichkeit der individuellen Erfahrung ausgehen. Solche Anstze isolieren drei Ebenen, die laut Elias unmittelbar zusammen gehçren: „die Strukturen der menschlichen Psyche, die Strukturen der menschlichen Gesellschaft und die Strukturen der menschlichen Geschichte“.3 Die Komplementaritt der Phnomene und der Erscheinungen, die auf diesen drei Ebenen vorhanden sind, muss auf jeder von ihnen gesucht und untersucht werden. Dies erfordert eine 2 3
Nietzsche, Morgenrçthe, § 10, KSA 3, S. 24. Norbert Elias, Die Gesellschaft der Individuen, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10, Frankfurt a. M. 2001, S. 60.
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Theorie der Zivilisation, welche die Entfaltung der jeweiligen Phnomene in zwei Richtungen verfolgen kann – von den Makrostrukturen der gesellschaftlichen Prozesse zu den Mikrostrukturen der individuellen Psyche und umgekehrt. Dieser neue theoretische Horizont schließt den Abschied von einigen alten Denkgewohnheiten ein. Wie Elias’ Untersuchungen in ber den Prozeß der Zivilisation zeigen, fhrt die historische Forschung unmittelbar vor, dass die Kategorien unserer Selbsterfahrung einer Entwicklung unterliegen, die in Bezug zu berindividuellen Phnomenen steht. Die theoretische Verbindung zwischen dem „Aufbau des Menschengeflechts“und dem „Aufbau des Individuums“ ermçglicht Elias eine Kritik der blichen Verallgemeinerung einer bestimmten Auffassung von Individualitt und die Umstellung auf einen Ansatz, der vom „Typus der Individualitten“ in Bezug auf die entsprechenden sozialen Bedingungen redet.4 Unser ganzer Apparat von Selbstdarstellungskategorien (Subjekt, Individuum, Vernunft, Bewusstsein usw.) hat als Form der individuellen Selbstreferenz eine Geschichte und ist mit der entsprechenden, sich aus dem jeweiligen Stadium des Zivilisationsprozesses ergebenden Gesellschaftsform gekoppelt.5 Wichtig ist, dass diese kritische Arbeit ausschließlich durch den Verweis auf historische Prozesse mçglich ist: weder phylogenetisch noch ontogenetisch kçnnen wir auf die vorherigen Stufen unserer psychischen Entwicklung zurckgreifen. Doch sind wir einerseits von der Selbstbezogenheit der Kategorien unserer Selbsterfahrung geblendet, und andererseits zielt die Sozialisiation darauf ab, frhere Stadien der psychischen Entwicklung (die Kindheit z. B.) zu verdrngen, so dass wir uns nur mit großem „Unbehagen“ oder „Peinlichkeit“ vorstellen, Triebe, Affekte, kçrperliche Funktionen usw. nicht kontrollieren oder kaschieren zu kçnnen.6 Das genealogische Verfahren unterbricht diese Selbstbezglichkeit: das Relativieren der theoretischen Werkzeuge, mit denen das Verhltnis von Individuen und Gesellschaft gedacht wird, bedeutet zunchst das Relativieren der psychischen Mechanismen, auf denen sie beruhen. Sowohl ber den Prozeß der Zivilisation als auch Die Gesellschaft der Individuen unternehmen eine Rekonstruktion der Entwicklung der Indi4 5
6
Ebd., S. 60. Oft betont Elias, wie schnell unsere gesamten psychischen Strukturen sich verndern, wenn die sozialen Umstnde ihrerseits einer plçtzlichen Transformation unterliegen: vgl. z. B. in ber den Prozeß der Zivilisation, in: Gesammelte Schriften, Bd. I (3.1) und II (3.2), Frankfurt a. M. 1997, hier Bd. II, S. 455. Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I., S. 165 f.
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vidualitt, die Elias mit dem Ausdruck „homo clausus“oder mit der Metapher (und der „Parabel“) der „denkenden Statuen“ darlegt, derzufolge das Individuum sich selbst „als ein vçllig freies, vçllig unabhngiges Wesen“, als eine „geschlossene Persçnlichkeit“ erfhrt, die externem Einfluss nur in der Form des ,Erlebens‘ oder ,Empfindens‘ von Gegenstnden bzw. anderen individuellen Persçnlichkeiten ausgesetzt ist.7 Elias zielt nicht darauf ab, „die Echtheit der Selbsterfahrung in Zweifel zu ziehen“, sondern kritisiert deren Verlsslichkeit als Ausgangspunkt fr „ein sachgerechteres Verstndnis von Menschen“,8 das Individualitt, Bewusstsein und Selbstbestimmungsvermçgen als Prozesse darstellbar macht. Dem Menschenbild des homo clausus entspricht das „Unvermçgen, sich langfristige gesellschaftliche Prozesse vorzustellen, also strukturierte Wandlungen der Figurationen, die viele interdependente Menschen miteinander bilden“. Solange man das Selbst, das Ego, das Ich als „von allen anderen Menschen und Dingen, von allem, was ,draußen‘ ist, abgeschlossen“ und „ganz fr sich“, in seinem „Inneren“ existierend denkt, „ist es schwer, allen jenen Tatsachen Bedeutung zuzuschreiben, die darauf hinweisen, daß Individuen von klein auf in Interdependenz mit andern leben“.9 Die Untersuchung des Zivilisationsprozesses zielt dagegen auf der einen Seite darauf ab, „diesen Typ der Selbsterfahrung zu lockern und das Menschenbild des homo clausus aus seiner Selbstverstndlichkeit zu lçsen“; auf der anderen Seite „bietet die Theorie der Zivilisation […] selbst eine Handhabe zur Lçsung dieser Probleme“, die von jener Vorstellung verursacht werden.10 Diese Form der Selbsterfahrung entsteht aus der historischen Entwicklung der politischen und çkonomischen Macht. Die Zivilisation als „spezifische Vernderung des menschlichen Verhaltens“ entfaltet sich als zunehmende Verinnerlichung von Verboten, als progressive Einbung der Selbstbeherrschung in einer sozialen Welt, in der die physische Gewalt allmhlich monopolisiert wird. Der Raum der Spontaneitt wird immer enger, die Selbstkontrolle immer spezifischer, als Korrelat der sozialen Ordnung einer funktionalen Interdependenz. Die Einbung jener Selbstkontrolle gestaltet erst die Vorstellung einer Trennung von ,Innen‘ und ,Außen‘,11 da 7 8 9 10 11
Ebd., S. 50. Ebd., S. 57. Ebd., S. 51. Ebd., S. 59. Wo „Handlungsantriebe“, z. B. Liebe und Hass, sich „meist nur gedmpft, verzçgert, indirekt und jedenfalls nur unter starker, gewohnheitsmßiger Selbstkontrolle im Handeln ußern kçnnen, da drngt sich dem Einzelnen oft das Gefhl auf, er sei durch einen unsichtbaren Wall von allen anderen Menschen und der ganzen brigen
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sie auf der vorwegnehmenden Reflexion und auf der ununterbrochenen Beobachtung der eigenen Handlungen sowie der fremden Aktionen und Reaktionen beruht: „der Akt der Detachierung im Beobachten und Denken verdichtete[t] sich im Erleben der Menschen zur Vorstellung eines universellen Detachiertseins des Einzelmenschen“. Dementsprechend wird auch die Kapazitt des Beobachtens und Denkens allmhlich verdinglicht, als „Verstand“, „Vernunft“ und „Geist“ bezeichnet und als „Bestandteil des Menschen“ betrachtet.12 Darber hinaus entspricht laut Elias diese Vorstellung, die sich in Descartes’ Zeit durchgesetzt hat, auch dem wissenschaftlichen Beobachtungsmodell, das sich parallel entwickelt: die Entgegensetzung von Objekt und Subjekt in der Beobachtung von Naturphnomenen wird als Vorbild fr zwischenmenschliche Phnomene genommen. Man geht davon aus, dass die Gesellschaft aus Individuen besteht: die „Verwandtschaft“ der naturwissenschaftlichen und der sozialwissenschaftlichen Fragestellung besteht also in dem gleichen Ansatz, nmlich „daß all unser Wissen primr ein Wissen von einzelnen Kçrpern oder jedenfalls von kçrperlichen Ereignissen ist, die wir mit Sinnen wahrnehmen“.13 In Engagement und Distanzierung 14 fgt Elias dem noch etwas hinzu. In den Naturwissenschaften gilt die endgltige Trennung zwischen dem Beobachter und den beobachteten Phnomenen, die mit den frheren animistischen und magischen Einstellungen Schluss macht, als Distanzierungsprozess, als Gewinn an ,Objektivitt‘ der Analyse. Der von dem affektiven „Engagement“ befreite Mensch fragt nicht mehr, was Naturereignisse fr ihn und die Gemeinde bedeuten, sondern was sie sind. Die gleiche Einstellung wirkt in den Sozialwissenschaften jedoch anders. Auf ihr basiert die Tendenz, sowohl jenen Prozessen einen absichtlichen, den individuellen Interessen entgegengesetzten Charakter zu unterstellen, als auch den Individuen einen auf das eigene Wohl zielenden freien ,Willen‘ zuzuschreiben („Individualismus“): beide Interpretationen hemmen das Verstndnis der gesellschaftlicher Makroprozesse und halten die Menschen in einer „engagierten“ Perspektive gefangen (Elias fhrt das Beispiel des Kalten
Welt getrennt“. Darber hinaus „verschmilzt im Empfinden dieser unsichtbare Wall oft genug mit dem sichtbaren Kçrper“ (Elias, Gesellschaft der Individuen, S. 161 f.). 12 Elias, Gesellschaft der Individuen, S. 148. 13 Ebd., S. 138. 14 Norbert Elias, Engagement und Distanzierung, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M. 2003.
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Krieges an).15 Darum ist „ein Bruch mit dem Denken in einzelnen isolierbaren Substanzen und der bergang zu einem Denken in Beziehungen und Funktionen erforderlich“16 : kritisiert wird die vorausgesetzte Trennung von Beobachter und Beobachtetem. Seine Idee einer psychologischen Kontinuitt, einer genealogischen Bindung zwischen ,Vernunft‘ und ,Subjekt‘ auf der einen und Trieb und Affektivitt auf der anderen Seite gilt ihm als Voraussetzung fr die Kritik der Individualitt als absoluter Form der Selbsterfahrung, fr die Behauptung der strukturellen Kopplung von Formen der Erfahrung und entsprechenden sozialen Figurationen – also auch fr die theoretische Distanzierung in den Sozialwissenschaften. Das theoretische Rderwerk entspricht operativ den Grundlagen einer Theorie der Zivilisation, d. h. der Komplementaritt der Strukturen der menschlichen Psyche, der Gesellschaft und der Geschichte. Auch Nietzsche setzt eine physio-psychologische Kontinuitt voraus. Vernunft, Wille, Gewissen usw. gelten ihm als genealogische Errungenschaften und nicht als wesentliche Attribute einer ewigen menschlichen Natur. Aber auch begrifflich bestehen fr ihn die hçheren psychologischen Leistungen, wie im Falle des Willens, aus „etwas Complicierte[m], Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist“.17 Dem Willen und dem Denken, die wegen uralter philosophischer Vorurteile als Einheiten und Einzelphnomene betrachtet werden, liegen tatschlich komplexe Dynamiken von Trieben und Affekten zugrunde: die „Freiheit des Willens“ selbst ist kein ontologisches Merkmal des Menschen, sondern eine affektive Erfahrung – und zwar „wesentlich der berlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den, der gehorchen muss“ innerhalb des Wettkampfes zwischen den verschiedenen Affekten, die uns konstituieren.18 15 „Auf den sozialen Ebenen luft die Kreisbewegung, in der eine relativ hohe Affektivitt des Denkens und Handelns in Reaktion auf unkontrollierbare Gefahren, die von Menschengruppen ausgehen, erhalten bleibt und vice versa, weiterhin auf hohen Touren; ihr Niveau ist dem von vorwissenschaftlichen Beziehungen der Menschen zur nichtmenschlichen Natur in frheren Tagen vergleichbar. […] Ein offensichtliches Beispiel ist die Abdrift zu einem Atomkrieg“ (Elias, Gesellschaft der Individuen, S. 218 f.). 16 Elias, Gesellschaft der Individuen, S. 38. 17 Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 19, KSA 5, S. 32. 18 Ebd. Man kann das Leben unter diesen Voraussetzungen dann auch als „Wille zur Macht“ beschreiben (vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 13, KSA 5, S. 27: „[V]or Allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen“). Wie von Wolfgang Mller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 189 – 223 gezeigt, bedient sich Nietzsche bei Roux’ Auffassung des Organismus als Kampf seiner Teile
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Nietzsches Versuch richtet sich gegen die bliche Darstellungsform der psychologischen Kausalitt: die metaphysische Psychologie setzt als Ursache der psychischen Ereignisse ein Subjekt voraus, dem die Fhigkeit zu deren Bestimmung zugeschrieben wird: so kann dem Subjekt auch die Verantwortung fr jene Denk- oder Willensakte zugeschrieben werden. Wie Patrick Wotling herausgestellt hat, dient in diesem Sinne Nietzsches Kritik der metaphysischen Psychologie hauptschlich der Kritik ihrer Allianz mit der Moral.19 Darum schreibt Nietzsche in Jenseits von Gut und Bçse die „Moral der Methode“ vor, d. h. „[n]icht mehrere Arten von Causalitt annehmen, so lange nicht der Versuch, mit einer einzigen auszureichen, bis an seine usserste Grenze getrieben ist“. Wenn man an „die Causalitt des Willens“ glauben will, dann muss man versuchen, auch alles damit zu beschreiben. So kommt Nietzsche zur Hypothese, dass „unser gesammtes Triebleben“ und „alle organischen Funktionen“ Grundformen des Willens sind, nmlich des Willens zur Macht.20 Noch wichtiger als die bliche Frage, ob Nietzsche hier wirklich versucht, die gesamte Welt durch den Willen zur Macht zu erklren, ist eigentlich die Bedeutung des Abschnittes als Einbung der Befreiung von jenen „phantastischen Causalitten“.21 Schon in Menschliches, Allzumenschliches hatte der Autor gezeigt, inwiefern eine angemessene Erkenntnis auch die Mçglichkeit einer Befreiung von Verantwortungszuschreibungen ermçglicht.22 Diese Befreiung und berwindung der Moral wird durch den von Nietzsche wie von Elias dargestellten Prozess der Distanzierung gestaltet. Die Menschen werden dadurch fhiger, die Phnomene zu kontrollieren und vor allem das, was sie direkt betrifft, von dem zu unterscheiden, was nicht unter ihre absichtliche Kontrolle fllt.23 Einem grçßeren affektiven, weniger distanzierten Engagement entspricht dagegen die Erfindung von Erklrungen
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(Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus, Leipzig 1888) und stellt das menschliche Lebewesen als dynamisches Aggregat von Trieben dar, die mehr oder weniger stabile Strukturen bilden. Vgl. Patrick Wotling, La pense du sous-sol, Paris 1999. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 36, KSA 5, S. 55. Kurz davor beschreibt Nietzsche ebd. § 32, S. 51 die „aussermoralische“ Periode der Geschichte als „heute, wo wenigstens unter uns Immoralisten der Verdacht sich regt, dass gerade in dem, was nicht-absichtlich an einer Handlung ist, ihr entscheidender Werth zu belegen sei, und dass alle ihre Absichtlichkeit, Alles, was von ihr gesehn, gewusst, ,bewusst‘ werden kann, noch zu ihrer Oberflche und Haut gehçre […]“. Vgl. insbesondere Menschliches, Allzumenschliches I, § 105 und 107, KSA 2, S. 102 – 106 sowie das ganze II. Hauptstck. Ein Beispiel dafr ist die Lehre von der Notwendigkeit und Unverantwortlichkeit ebd., § 107, KSA 2, S. 103 ff.
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und Theorien, die hauptschlich der Beruhigung von Angst oder Furcht dienen. Elias bezeichnet dies mit Gregory Batesons Wort als eine „Doppelbindung“: die Furcht vor einer potentiellen oder realen Gefahr fhrt zu affektiv engagierten (unrealistischen) Erklrungen, die Furcht und affektives Engagement noch weiter steigern.24 Nietzsches Vergleich der Moral mit der Astrologie, also mit dem Aberglauben, entspricht in diesem Sinne Elias’ Ansicht. Der Aphorismus § 10 der Morgenrçthe setzt bereits den „Sinn der Causalitt“ dem „Sinn der Sittlichkeit“ entgegen: je breiter und solider die Naturphnomene erkannt werden, desto berflssiger werden in der menschlichen Geschichte die „phantastische[n] Causalitten“, die als Grundlage der Sitte wirken – und mit diesem Aberglauben verschwinden schrittweise auch „ngstlichkeit und Zwang“ aus der „wirkliche[n] Welt“.25 Nietzsche versucht in diesem Sinne, die Bedingungen fr die Reifung einer „aussermoralische[n]“ Periode zu schaffen,26 den Prozess der Distanzierung zu beschleunigen: nicht um eine alte Theorie durch eine neue zu ersetzen, sondern um eine neue Lebensform zu erzeugen.27 Die Kritik der (falschen) psychologischen „Urschlichkeit“ – vor allem des freien Willens –, mit der Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches angefangen hatte, wird in der Gçtzen-Dmmerung zusammengefasst und vollendet: es geht hier um „die vier grossen Irrthmer“, zu welchen der Bedarf nach affektiv befriedigenden und beruhigenden Erklrungen gefhrt hat und durch welche die ganze Welt schrittweise moralisch gefrbt wurde.28 Damit zielt Nietzsche auf die zentrale philosophische Aufgabe, die „Unschuld des Werdens“ wieder herzustellen.29 Die genealogische Rekonstruk24 „Ein hohes Gefahrenniveau findet sein Gegenstck in einem hohen Affektniveau des Wissens und so auch des Denkens ber diese Gefahr und des Handelns in bezug auf sie, also in einer hohen Phantasiegeladenheit der Vorstellung von den Gefahren, die zur stndigen Reproduktion des hohen Gefahrenniveaus und so auch zur Reproduktion von Denkweisen fhrt, die mehr phantasie- als wirklichkeitsorientiert sind“ (Elias, Engagement und Distanzierung, S. 176). Zum ,double bind‘ vgl. Gregory Bateson, Steps to an Ecology of Mind [1969], Chicago 1972 und ders., Toward a theory of schizophrenia, in: kologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1981, S. 353 – 361 und S. 270 – 301. 25 Nietzsche, Morgenrçthe, § 10, KSA 3, S. 24. 26 Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 32, KSA 5, S. 51. 27 Vgl. dazu Tracy Strong, Friedrich Nietzsche and the Politics of Transfiguration, Urbana and Chicago 2000. 28 Entsprechend dazu hat auch Elias festgestellt, dass „die affektive Bedeutung von Wissen […] in seiner Produktion und Entwicklung nicht weniger eine Rolle als sein kognitiver Wert“ spielt (Elias, Engagement und Distanzierung, S. 209). 29 Nietzsche, Gçtzen-Dmmerung, Die vier grossen Irrthmer, KSA 6, S. 97.
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tion der Herkunft und der Funktion der „inneren Thatsachen“30 ermçglicht erst den bergang zu einer korrekten Beschreibung des Geschehens (durch die Hypothese eines Willens zur Macht), die ihrerseits den Menschen von den einverleibten moralischen Hemmungen entlastet. So wird die Verantwortungszuschreibung durch die genealogische Auflçsung des metaphysischen Subjekts untergraben. Im nchsten Abschnitt werden wir uns daher auf die Genealogie der Individualitt und der Subjektivitt als Korrelat der Kritik der Moral konzentrieren.
2. Genealogien der Individualitt 2.1. Vom Individuum zum „dividuum“ In einem Notat von 1884/85, in dem der Einfluss der Auseinandersetzung mit Roux sprbar ist, bezeichnet Nietzsche den Begriff ,Individuum‘ als falsch. Der Mensch ist eine Vielheit von miteinander verbundenen und kmpfenden Krften, das Schwergewicht dieses Gewebes „ist etwas Wandelbares“, so wie die Zahl der beteiligten „Wesen“.31 Der freie Wille, das Ich,32 das Bewusstsein33 sind ntzliche Vereinfachungen und Verdinglichungen, die der Koordination des Organismus und dem sozialen kommunikativen Leben dienen. In diesem Sinne befindet sich im Bewusstsein nicht das Persçnlichste, das Individuellste, sondern das „was an ihm [scil. dem Menschen] Gemeinschafts- und Heerden-Natur ist“, was „nur in Bezug auf Gemeinschafts- und Heerden-Ntzlichkeit fein entwickelt ist“. Wie auch von Elias herausstellt,34 bringt man bei dem Versuch, „sich selbst so individuell wie mçglich zu verstehen, ,sich selbst zu kennen‘, doch immer nur
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Ebd., S. 91. Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, KSA 11, 34[123], S. 462. Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 19, KSA 5, S. 33. Vgl. Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 11, KSA 3, S. 282 f. und § 354, ebd., S. 590 ff. 34 Vgl. Elias, Gesellschaft der Individuen, S. 86 ff. Wir denken durch „ewige Antithesen“ („,innen‘und ,außen‘“, „,naturgegeben‘und ,gesellschaftsbedingt‘“): „der Gedanke, daß ,fremde‘ Menschen einen integralen Anteil an der Entstehung der eigenen Individualitt haben, erscheint heute beinahe als eine Schmlerung der Verfgung und des Besitzrechts an sich selbst.“
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gerade das Nicht-Individuelle an sich zum Bewusstsein […], sein ,Durchschnittliches‘“.35 Das individuelle Ich entsteht unter sozialen Bedingungen, in denen der Einzelne durch die Entwicklung der Selbstreferenzialitt zur spezifischen „Function des Ganzen“36 wird. In Menschliches, Allzumenschliches betont Nietzsche, wie das moralische Handeln nicht durch die Unterscheidung von altruistisch und egoistisch zu verstehen ist, sondern als Prozess des Vorziehens: der Mensch opfert einen Teil von sich aufgrund einer strkeren Neigung oder eines mchtigeren Triebs. Unter der scheinbaren Selbstlosigkeit der Mutter, des Soldaten, der Verliebten verbergen sich eine Selbstzerteilung und eine – keineswegs unbedingt rationale – Wahl: „In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum“.37 Als Folge der Sozialisierung lernt der Mensch zunchst auf der affektiven Ebene durch moralische Kriterien zu unterscheiden: er bt seinen Trieben und Leidenschaften gegenber emotionale Einstellungen ein, die nichts anderes als einverleibte moralische Urteile sind, und entwickelt entsprechende Zu- oder Abneigungen (er behandelt sich als „dividuum“).38 Die erste Phase der Moralitt besteht darin, dass der Mensch „ntzlich, zweckmssig wird“ und „sein Handeln nicht mehr auf das augenblickliche Wohlbefinden, sondern auf das dauernde“ bezieht.39 Diese Fhigkeiten sind erforderlich, um mit anderen Menschen innerhalb der von einer Ordnung geregelten Gemeinschaft leben zu kçnnen: der Einzelne lernt, sein Verhalten 35 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 354, KSA 3, S. 592. Dass Selbsterfahrung nur durch Fremderfahrung mçglich ist, hebt auch Bernhard Waldenfels, Antwortregister, Frankfurt a. M. 1994, S. 419 ff. hervor: er behauptet, das Soziale sei genau das Zusammengehçren von Eigenem und Fremdem, die Voraussetzung jedes Verstehens und jedes Kommunizierens. Die Selbsterfahrung ist nie wirklich „eigen“ und „persçnlich“, oder sie ist es nur durch den Umweg ber das Andere. So auch Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a. M. 2003, S. 102, in Bezug auf das Sprechen: die Mçglichkeit der Sprache existiert bereits vor dem individuellen Sprechakt und wird vom Subjekt, das „Ich“ sagt, aktualisiert, aber nie wirklich besessen. „Im absoluten Prsens der jeweiligen Rede fallen Subjektivierung und Entsubjektivierung in jedem Punkt zusammen […]. Anders gesagt: Was spricht, ist nicht das Individuum, sondern die Sprache – doch dies bedeutet nichts anderes, als daß eine Unmçglichkeit zu sprechen auf unbekannte Weise zur Sprache gelangt ist.“ 36 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 21, KSA 3, S. 392. 37 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 57, KSA 2, S. 76. 38 „Der naive Egoismus des Thieres ist durch unsere sociale Einbung ganz alterirt: wir kçnnen gar nicht mehr eine Einzigkeit des ego fhlen, wir sind immer unter einer Mehrheit“ (Nietzsche, Nachlaß 1880 – 1882, KSA 9, 6[80], S. 215). 39 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 94, KSA 2, S. 91.
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in Bezug auf die anderen einzuschtzen – er wird sittlich. Der „[e]rste[ ] Satz der Civilisation“ lautet: „jede Sitte ist besser, als keine Sitte“. Wichtig ist, bei jedem Einzelnen „den unausgesetzten Zwang, Sitte zu ben, fortwhrend im Bewusstsein zu erhalten“. Darum findet man „bei rohen Vçlkern“ auch „peinliche und im Grunde berflssige Bestimmungen“, „eine Gattung von Sitten, deren Absicht die Sitte berhaupt zu sein scheint“.40 Das Sittliche ist ursprnglich nur insofern gut, als es das Herkommen, das bliche ist; das Herkommen wird nicht etwa wegen seiner Vernnftigkeit geachtet: „Was ist das Herkommen? Eine hçhere Autoritt, welcher man gehorcht, nicht weil sie das uns Ntzliche befiehlt, sondern weil sie befiehlt.“41 Solange die erste Sorge der Gemeinde die Selbsterhaltung ist, gilt ein individuelles Sein als die schlimmste Bedrohung. Aus der ursprnglichen Not, in der Gemeinde alles, was „frei“, „individuell“ und damit „unberechenbar“ ist, zu verringern und zu kontrollieren, entspringt die Bezeichnung des freien Menschen als „bçse“. Infolgedessen wird die Sittlichkeit regelmßig mit dem Aberglauben gekoppelt, „dass die Strafe fr die Verletzung der Sitte vor Allem auf die Gemeinde fllt“.42 Bis die Erhaltung der Gemeinde außer Frage steht, erregt „[j]ede individuelle Handlung, jede individuelle Denkweise […] Schauder“.43 So wird die individuelle Empfindlichkeit fr moralische Erfahrungen betubt: Sittlichkeit „verdummt“ – eben auf die Weise, welche von Pascal zugunsten der religiçsen Bekehrung empfohlen wurde.44 Dies erfordert aber zugleich vom Einzelnen einen zunehmenden Grad an Selbstkontrolle. Je hçher die Kapazitt der Unterwerfung, umso sittlicher der Mensch: „der Sittlichste ist Der, welcher am meisten der Sitte opfert“. Diese bestndige Selbstunterwerfung wird aber nicht ihrer ntzlichen Folgen halber, die sie fr das Individuum hat, gefordert, sondern damit die Sitte, das Herkommen herrschend erscheine, trotz allem individuellen Gegengelst und Vortheil.45
Individualitt wird nur in der Form des hohen Maßes an Unterwerfung und Anpassung zugelassen: das „freiwillige Leiden“ und Selbstopfern wird schrittweise zum Synonym der Sittlichkeit, zur Tugend, „welche der Ge40 41 42 43 44
Nietzsche, Morgenrçthe, § 16, KSA 3, S. 29. Nietzsche, Morgenrçthe, § 9, KSA 3, S. 22. Ebd., S. 23. Ebd., S. 24. Vgl. Pascal, Penses, in Oeuvres compltes, prs. et notes de L. Lafuma, Paris 1963, Fr. 418: „Suivez la manire par o ils [scil. die, welche schon glauben] ont commenc […]. Naturellement cela vous fera croire et vous abÞtira“. 45 Nietzsche, Morgenrçthe, § 9, KSA 3, S. 23.
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meinde bei den bçsen Gçttern einen guten Geruch macht und wie ein bestndiges Versçhnungsopfer auf dem Altare zu ihnen empordampft.“46 Insofern erhlt die individuelle Handlung durchaus einen breiteren Entfaltungsraum. Obwohl das freiwillige Leiden „nicht […] als Mittel der Zucht, der Selbstbeherrschung, des Verlangens nach individuellem Glck“ gefçrdert wird, werden allmhlich die Selbstbeherrschungs- und Selbstberwindungsfhigkeiten gesteigert.47 Whrend die Sittlichkeit auf der einen Seite verdummt, weckt die entsprechende Anstrengung zur Selbstopferung auf der anderen Seite die feinsten Zge der inneren Empfindungen, der Selbst- und Fremdbeobachtung, der Reflexivitt, der psychologischen Kunstfertigkeit.48 „Nichts ist theurer erkauft, als das Wenige von menschlicher Vernunft und vom Gefhle der Freiheit, welches jetzt unseren Stolz ausmacht“. Wegen dieses Stolzes stehen wir jetzt blind vor der „wirkliche[n] und entscheidende[n] Hauptgeschichte, welche den Charakter der Menschheit festgestellt hat“, nmlich der Geschichte der Sittlichkeit als Grausamkeit und Selbstqual.49 Auch fr Elias entspricht die zunehmende Bestndigkeit sozialer Ordnung einer deutlichen Steigerung der eingebten Selbstkontrolle bei den Einzelnen. So wird die Erhaltung der Ordnung allmhlich ,çkonomischer‘, indem die Motivation statt durch direkte Anwendung physischer Gewalt durch Sittlichkeit ersetzt wird, indem das ,sittlichere‘ Verhalten die besseren Chancen hat, Anerkennung und Schtzung zu finden. Whrend einem niedrigeren Grad an sozialer Monopolisierung der Gewalt krzere und instabilere Handlungsketten entsprechen, fordert die Bildung von festen Gewaltmonopolen eine hçhere Kapazitt der Einzelnen, ihre Handlungen in lngeren und bestndigeren Interdependenzketten wechselseitig anzupassen. Wenn die schlimmste Bedrohung fr soziale Ordnung eine Differenzierung der Verhaltensweisen ist, erhlt die Form der Regel, wie von Nietzsche betont, eine funktional grçßere Bedeutung als ihr Inhalt – so-
46 Nietzsche, Morgenrçthe, § 18, KSA 3, S. 30 f. 47 Ebd., S. 31. 48 In diesem Sinne schreibt Nietzsche der Moral als Gegensatz zum „laisser aller“ die Erziehung des raffinierten europischen Geistes zu: das lange Gehorchen und SichZwingen hat auf Dauer immer etwas produziert, „dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben, zum Beispiel Tugend, Kunst, Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit“ (Jenseits von Gut und Bçse, § 188, KSA 5, S. 108 f.). 49 Nietzsche, Morgenrçthe, § 18, KSA 3, S. 32.
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zusagen als symbolische Inszenierung der Unterwerfung der Einzelnen.50 Zunchst muss jeder Einzelne sein Verhalten berwachen und steuern kçnnen, d. h. die ,gefhrlichen‘ Triebe und Neigungen stndig unterdrcken: so wird „der Kriegsschauplatz […] nach innen verlegt“.51 Der Einzelne muss sich selbst als Teil der sozialen Szene beobachten kçnnen, sich weitere Szenarien vorstellen, die Folgen potentieller eigener Handlungen vorwegnehmen und sie dem gemß ausrichten. Dies vollzieht sich aber nicht dank einer universellen Vernunft, die Leidenschaften und Affekte beherrscht: genau das will die Theorie der Zivilisation bestreiten. Der Zivilisationsprozess prgt laut Elias zunchst und vor allem den menschlichen Gefhlshaushalt. Eine erste innerliche Zerspaltung vollzieht sich mit der Einverleibung von ngsten und Befrchtungen, die als Scham oder Peinlichkeit ,selbstbestrafend‘ wirken. Diese Gefhle drcken nicht „ein[en] Konflikt des Individuums mit der herrschenden, gesellschaftlichen Meinung“aus, sondern „ein[en] Konflikt, in den sein Verhalten das Individuum mit dem Teil seines Selbst gebracht hat, der diese gesellschaftliche Meinung reprsentiert“, „ein[en] Konflikt seines eigenen Seelenhaushalts“: das Individuum frchtet den Verlust der Liebe oder Achtung von Anderen, an deren Liebe und Achtung ihm liegt oder gelegen war. Deren Haltung hat sich in ihm zu einer Haltung verfestigt, die er automatisch sich selbst gegenber einnimmt.52
Bevor der Einzelne zum Individuum wird, muss er also, durch diese wertbezogene Affektivitt, sozusagen zum „dividuum“werden. Die Entwicklung und Vertiefung jener ursprnglichen Trennung fhrt nicht nur zur aktuellen Form der Individualitt als Selbsterfahrung, sondern auch zu allen ,asketischen‘ Nuancen, die mit ihr eng verbunden sind. Diese innerliche zunehmende Spannung kann als eine erste Stufe dessen, was Elias „die Wendeltreppe des Bewusstseins“ nennt, bezeichnet werden, um die es im folgenden Abschnitt geht.
50 So stellt Nietzsche fest, dass Tugend auch ein Schauspielen des Tugendhaften „vor sich selber“ einschließt – so wie auch die Snde im Christentum (Morgenrçthe, § 29, KSA 3, S. 39). 51 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 341. 52 Ebd., S. 409.
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2.2. Die „Wendeltreppe des Bewusstseins“ Es bedarf einer differenzierten psychologischen Ausstattung, damit der Mensch im Laufe der Zivilisation fhig wird, sich selbst freiwillig zu zwingen: damit der Mensch, wie Nietzsche formuliert, das Tier wird, „das versprechen darf“.53 Um sein eigener Sklave werden zu kçnnen, ist ein gewisser Freiheitsraum unumgnglich: denn der moralische Mensch mit der Fiktion des freien Willens muss, wie wir gesehen haben, zugleich Befehlender und Gehorchender sein. Um dieses Tier „heranzuzchten“, muss der Zivilisationsprozess es mit jenen Vermçgen ausstatten, die als Voraussetzungen eines Versprechens gelten: zunchst mit dem Vermçgen gegen die natrliche Tendenz zur Vergesslichkeit, d. h. mit einem starken Gedchtnis. Um „ber die Zukunft zu verfgen“, muss darber hinaus der Mensch „erst gelernt haben, das nothwendige vom zuflligen Geschehen scheiden, causal denken, das Ferne wie gegenwrtig sehn und vorwegnehmen, was Zweck ist, was Mittel dazu ist, mit Sicherheit ansetzen, berhaupt rechnen, berechnen kçnnen“. Er muss fr sich selbst „berechenbar, regelmssig, nothwendig geworden sein“54 : denn Versprechen bedeutet die moralische Leistung der Stabilisierung einiger (sozialer) Reziprozitten.55 Der Mensch muss sodann die Selbstreferenz, sein Bild von sich als ,getrenntem‘ Wesen, die berzeugung von der Selbstbestimmung (d. h., dass der Wille bzw. das Ich die Handlung verursacht), die Vorstellung der Realitt als Verkettung von Ursachen und Wirkungen, d. h. auch die Fhigkeit, zwischen Tter und Tat zu unterscheiden, eingebt haben. Und ebenso muss er die Selbstbeobachtungsfhigkeit und die Einschtzung seiner Handlungen bzw. seines Verhaltens in Bezug auf die von seiner Umgebung angewandten Kriterien beherrschen – was auch eine Vorstellung der Art und Weise einschließt, wie andere denken, empfinden, einschtzen und reagieren wrden. Darber hinaus muss dieses „dividuum“ sich all dieser Leistungen bewusst sein. Die freiwillige Unterwerfung unter eine Sitte erfordert einen hçheren Grad an Selbstbewusstsein und Selbstbeherrschung. Dazu entwickelt der Mensch schrittweise auch eine Psychologie, nach der er weiß, dass er denkt (empfindet, handelt) und sich bis zu einem gewissen Grad vorstellen kann, wie er dies tut. Diesen Prozess bezeichnet Elias als die Wendeltreppe des Bewusstseins: 53 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 1, KSA 5, S. 291. 54 Ebd., S. 292. 55 Laut Martin Saar, Genealogie als Kritik, S. 61, ist das Versprechen in diesem Zusammenhang „vielleicht sogar die Allegorie des sozialen Verhaltens schlechthin“.
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Menschen sind in der Lage, zu wissen, daß sie wissen; sie vermçgen ber ihr eigenes Denken nachzudenken und zu beobachten, daß und wie sie beobachten. Sie kçnnen unter bestimmten Bedingungen weiterklimmen und ihrer selbst als Wissende gewahr werden, die sich ihres Wissens ber sich selbst als Wissende bewußt sind.56
Die Mçglichkeit der Menschen, auf dieser Treppe auf und ab zu gehen, hngt laut Elias von der entsprechenden Gesellschaft ab. Auf den unteren Stufen dieser Wendeltreppe befinden sich jene erwhnten affektiven Phnomene, die als Ergebnis des Sozialisierungsprozesses regelmßig einen Trieb mit einer wertbezogenen affektiven Einschtzung begleiten (Scham, Peinlichkeit, aber auch Stolz, Sicherheit usw.). Whrend bei Kindern die „Trieb-, Fhl- und Denkimpulse“ nicht von den entsprechenden „Muskelbewegungen“ und „Verhaltensweisen“ getrennt sind, schalten sich bei „Heranwachsenden“ „Gegentriebe“ dazwischen: das ist die erste und unterste Form der Selbstbeherrschung. Wie Nietzsche und wie spter die Soziologie der Dispositionen (z. B. Bourdieu) betont, bedarf es keineswegs eines Subjekts, damit diese Prozesse sich intelligent vollziehen. Auf den hçheren Stufen werden jene elementaren Prozesse reflektiert und in ein System komplexerer Leistungen aufgenommen. Darber hinaus werden die Einzelnen zur Achtung der gesellschaftlichen Verhaltensstandards durch den Mechanismus der Anerkennung stark motiviert: jede Verhaltensweise wird sozial eingeschtzt und bt insofern einen wichtigen Einfluss auf die „soziale Existenz“ des Individuums aus. Die Selbstregulierung, entspringend aus dem Streben nach Anerkennung, bedingt auf jeder sozialen Ebene das Bewahren der eigenen Position im Rahmen des Kampfes um die Macht und wirkt auf diese Weise unmittelbar als Triebkraft zur Aufrechthaltung des Verhaltenscodes, zur Zchtung des ber-Ich […]; sie setzt sich in individuelle Angst, in die Furcht des Einzelnen vor der persçnlichen Degradierung oder auch nur vor Minderung seines Prestiges in der eigenen Gesellschaft um.57
Den hçheren Stufen des Bewusstseins entspricht laut Elias ein bestimmtes Selbstbild des Individuums innerhalb der Gesellschaft: dasjenige einer zunehmenden Trennung zwischen Innen und Außen, des individuellen ,Gefangenseins‘ in der eigenen Innerlichkeit; ein Selbstbild, dessen Entwicklung ab Descartes’ Zeit festzustellen ist und mit dem einerseits ein zunehmender Zwang zur Selbstbeherrschung, andererseits die Lockerung der sozialen 56 Elias, Gesellschaft der Individuen, S. 144. 57 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 332.
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Bindungen (zur Familie, zur Gruppe usw.) einhergeht.58 Nietzsche nennt eben diesen Prozess „die lange Geschichte von der Herkunft der Verantwortlichkeit“,59 welche das Produkt der „ungeheure[n] Arbeit“ der Sittlichkeit der Sitte, „die eigentliche Arbeit des Menschen an sich selber in der lngsten Zeitdauer des Menschengeschlechts, seine ganze vorhistorische Arbeit“ ist.60 Am Ende dieses „ungeheuren Prozesses“ findet man, als dessen „reifste Frucht“, „das souveraine Individuum“, „das autonome bersittliche Individuum“, „den Menschen des unabhngigen langen Willens“, den, der wirklich „versprechen darf“.61 So wie von Elias hervorgehoben, bezieht sich dieser Mensch dann nicht mehr aus Furcht unmittelbar auf die Autoritt der Sitte, sondern auf sich selbst und seine freie Selbstbestimmung: die Moral gilt jetzt als selbstauferlegtes Gebot, die Strafe fr die Missachtung der herrschenden Moral besteht im „schlechten Gewissen“, im „Gewissensbiss“.62 Diesbezglich vertritt Nietzsche in der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral Thesen, die Elias’ Beobachtungen sehr nahe kommen. Die Herkunft des (schlechten) Gewissens lsst sich genealogisch dem Prozess der „Verinnerlichung des Menschen“ zuordnen, im Laufe dessen die ursprnglichen Triebe und Instinkte des menschlichen Tiers sich progressiv „nach Innen“ gewendet haben, als ihre Entladung „nach Aussen“ gehemmt wurde. Infolgedessen hat das innere Leben, „[d]ie ganze innere Welt“ des Menschen, die „ursprnglich dnn wie zwischen zwei Hute eingespannt“ war, allmhlich „Tiefe, Breite, Hçhe bekommen“.63 Der psychische Apparat des Menschen bildet sich im Laufe der Zivilisation demnach durch die Verinnerlichung des „Kriegsschauplatz[es]“ heraus. Die Individualitt ist also das Produkt der Moralisierungsarbeit selbst. Der Teufelkreis des
58 „Die den Menschen eigentmliche Ttigkeit des Beobachtens und Denkens und die zugehçrige Verzçgerung des Handelns, die wachsende Zurckhaltung der Gefhlsantriebe und das mit ihr verbundene Erlebnis des Losgelçstseins, des der Welt Gegenberstehens verdinglichte sich im Bewußtsein zu der Vorstellung von etwas, das sich im Innern der gleichen Menschen lokalisieren ließ, wie sie sich in ihrer Eigenschaft als beobachtbare Gegenstnde ihres Nachdenkens, als Kçrper unter Kçrpern erschienen“ (Elias, Gesellschaft der Individuen, S. 149). 59 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 2, KSA 5, S. 293. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd., II § 14, S. 318. Und nur ausnahmsweise aus dem, was Michel Foucault „l’clat des supplices“ nennt (vgl. berwachen und Strafen, Frankfurt a. M. 1976). 63 Ebd., II § 16, S. 322.
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Selbstzwangs, aus dem das „souveraine Individuum“entspringt, spiegelt sich im Modell der Wendeltreppe des Bewusstseins.64
3. Das Individuum als „Mnze und Prgstock zugleich“: Machtverhltnisse und individuelle Gestalt Wenn Bewusstsein, Gewissen und Vernunft keine ontologischen Merkmale des Menschen sind, mssen wir jetzt erçrtern, wie jeder existierende Einzelne zum Individuum wird: denn das Korrelat einer Genealogie der Subjektivitt ist die analytische Rekonstruktion der Ontogenese der sozialisierten Persçnlichkeit. Die Affekte, Instinkte und Leidenschaften bis hin zum Gewissen als dem „dominirenden Instinkt“65 sind als etwas Plastisches zu verstehen, das sich verschiedenen Existenzbedingungen entsprechend weiter gestaltet.66 Darum mssen die menschlichen Triebe in ihrem Wachstum auf das herrschende moralische „Klima“zurckgefhrt werden und dieses wiederum auf seine Grnde und damit auf die „Irrthmlichkeit“ des ganzen „bisherigen moralischen Urtheils“.67 Jede Moral ist „nur eine Zeichensprache der Affekte“68 und entsteht aus Bedrfnissen, die sie ausdrckt und die wiederum die Einzelnen affektiv prgen. So sind der Ursprung und die Geschichte der moralischen Empfindungen mit einer Menge „sociologische[r] Probleme“ verbunden.69 In jedem Einzelnen verkçrpert und wiederholt sich „die ganze Eine Linie Mensch“: „er ist nichts fr sich, kein Atom, kein ,Ring der Kette‘, nichts bloss Vererbtes von Ehedem“. Dies bedeutet auf der einen Seite, dass sich im 64 Diesbezglich betont Nietzsche die potentielle Zchtungs- und Verstrkungsfunktion der religiçsen Disziplin im Prozess der Selbstgestaltung der Philosophen und der „Starken, Unabhngigen, zum Befehlen Vorbereiteten und Vorbestimmten“ (Jenseits von Gut und Bçse, § 61, KSA 5, S. 79). Die Entkopplung der Religion (und der Moral) von ihrer metaphysischen Aura ermçglicht ihre Anwendung als Mittel der Zchtung einer Lebensform, welche neu zu schaffenden Werten entsprechen kann (ebd., § 62, S. 81 ff.). So betrachtet Nietzsche auch die (europische) Form der freiwilligen Unterwerfung, „amour-passion“, als Bestandteil der aristokratischen Moral (ebd., § 189, S. 111). 65 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 2, KSA 5, S. 294. 66 Vgl. dazu Norbert Elias, On human beings and their emotions: a process-sociological essay, in: Theory, Culture and Society 4 (1987), S. 339 – 361. 67 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 7, KSA 3, S. 379. 68 Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 187, KSA 5, S. 107. 69 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 37, KSA 2, S. 60.
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Einzelnen die Zeichen einer „absteigende[n]“ oder aufsteigenden Entwicklung zeigen;70 auf der anderen Seite, dass sich in ihm die Geschichte der Selbstgestaltung des Menschen abbildet. Die Wirkungen auch von einander entgegengesetzten Wertschtzungen71, die von den Menschen als Bedingungen ihrer Existenz angenommen werden, gestalten die Einzelnen und entwickeln sich dadurch weiter. So entspricht dieser Entwicklung auf einer gewissen Stufe die Idee des Individuums, die aber an sich „ein Irrthum“ ist.72 Wie werden aber die Wertschtzungen einer Gemeinde von den Einzelnen angenommen? Hauptschlich durch das Mittel der Furcht. Der Einzelne lernt zuerst, die Rache der Gemeinde, der Gçtter, Gottes zu frchten, sich vor den anderen zu hten; er lernt, dass er seinen Vorfahren etwas (etwa seine Existenz) schuldet usw. Aus Furcht tun wir, als ob die von den gefrchteten Anderen vertretenen Wertschtzungen „auch die unsrigen wren – und gewçhnen uns an diese Verstellung, sodass sie zuletzt unsere Natur ist“. Als Kinder lernen wir, „und lernen selten wieder um“.73 Die „Furchtsamkeit“ ist insofern ein „sociale[r] Trieb“, der „als Oberstes, Wichtigstes, Nchstes“will, dass „dem Leben alle Gefhrlichkeit“genommen wird. Dass die Handlungen, „welche auf die gemeinsame Sicherheit und das Sicherheitsgefhl der Gesellschaft abzielen, das Prdicat ,gut‘ bekommen“, sollte nicht ber ihre außermoralische Herkunft tuschen.74 Die Furcht ist also „die Mutter der Moral“75 – was uns zugleich auf den aberglubischen 70 Nietzsche, Gçtzen-Dmmerung, Streifzge eines Unzeitgemssen 33, KSA 6, S. 132. 71 Vgl. Nietzsches Definition der dekadenten Moderne als „physiologische[r] SelbstWiderspruch“ (ebd. S. 143) und des modernen Menschen als „Widerspruch der Werthe“ (Der Fall Wagner, Epilog, KSA 6, S. 52). Dazu schreibt Nietzsche noch: „wir Alle haben, wider Wissen, wider Willen, Werthe, Worte, Formeln, Moralen entgegengesetzter Abkunft im Leibe, – wir sind, physiologisch betrachtet, falsch…“ (ebd., S. 53). 72 Die „ganze Eine Linie“, als Konfiguration der Triebe und Affekte, wirkt im Einzelnen aktiv und unabhngig von seinem Willen: sie beeinflusst seine Ab- und Zuneigungen, seine affektiven Reaktionen usw. (Nietzsche, Gçtzen-Dmmerung, KSA 6, S. 132). Darin besteht unsere grundstzliche ,Unvernnftigkeit‘: „Wir ziehen immer noch die Folgerungen von Urtheilen, die wir fr falsch halten, von Lehren, an die wir nicht mehr glauben, – durch unsere Gefhle“ (Nietzsche, Morgenrçthe, § 99, KSA 3, S. 89). Vgl. Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, KSA 11, 26[72], S. 167. 73 Nietzsche, Morgenrçthe, § 104, KSA 3, S. 92. 74 Ebd., § 174, S. 154. 75 Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 201, KSA 5, S. 122 erklrt, dass, „[n]achdem das Gefge der Gesellschaft im Ganzen festgestellt und gegen ussere Gefahren gesichert erscheint“, die Gefahr in den internen Konfliktverhltnissen zwischen
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Charakter der Moral und auf Elias’ Unterscheidung zwischen „engagierter“ und „distanzierter“ Bewltigung der Furcht zurckverweist. Nietzsche weist der sozialen Erziehung mithin nach, dass sie nicht zur individuellen Entwicklung des Menschen beitrgt, sondern ihm Tugenden und Wertschtzungen beibringt, die ihn zur bloßen Funktion innerhalb der Gemeinde machen: Die Erziehung […] sucht den Einzelnen durch eine Reihe von Reizen und Vortheilen zu einer Denk- und Handlungsweise zu bestimmen, welche, wenn sie Gewohnheit, Trieb und Leidenschaft geworden ist, wider seinen letzten Vortheil, aber „zum allgemeinen Besten“ in ihm und ber ihn herrscht.76
Der Einzelne wird, mit Elias Worten, von diesen Prozessen wie eine Mnze geprgt. Er frchtet, dass, wenn er seine Macht der Macht der Gesellschaft (oder eines anderen) entgegensetzte, er gestraft, unterdrckt bzw. zerstçrt wrde, wenn auch nur symbolisch.77 Darum fhrt Furcht nicht bloß dazu, nichts zu tun und zu verzichten, sondern vielmehr genau zu vergleichen, zu beobachten, zu verstehen – und eventuell etwas zu verzçgern oder voranzubringen, sich anders zu orientieren usw.: Die Furcht hat die allgemeine Einsicht ber den Menschen mehr gefçrdert, als die Liebe, denn die Furcht will errathen, wer der Andere ist, was er kann, was er will: sich hierin zu tuschen, wre Gefahr und Nachtheil.78
Die genealogische Beschreibung zeigt, dass die Evolution der Moral als Zeichensprache der Macht und die Entwicklung der Kapazitt der Einzelnen, anhand jener Sprache zu kommunizieren, zwei Aspekte des gleichen Prozesses sind. Der sich selbst disziplinierende Einzelne behauptet sich innerhalb dieses Rahmens und steuert seine Macht nach den Regeln der Trieben („Unternehmungslust, Tollkhnheit, Rachsucht, Verschlagenheit, Raubgier, Herrschsucht“) der Einzelnen besteht. Dementsprechend heißt die Reziprozitt der „Liebe zum Nchsten“ in der Tat „Furcht vor dem Nchsten“. Zur Moral als Schutz vor der Gefahr der eigenen Leidenschaften vgl. ebd., § 198, S. 118 f. 76 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 21, KSA 3, S. 392. 77 Pierre Bourdieu betont, dass das Problem der Legitimation der eigenen (individuellen) Existenz sowohl ein eschatologisches als auch ein soziologisches Problem ist: „mit der Investition in ein Spiel, mit seiner Besetzung und mit der Anerkennung, die der kooperative Wettbewerb mit den anderen bringen kann, bietet die soziale Welt den Menschen, was ihnen am meisten fehlt: eine Rechtfertigung ihrer Existenz“ (Meditationen, Frankfurt a. M. 2001, S. 307). Vgl. auch Axel Honneth, Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivitt, Frankfurt a. M. 2003, insb. den ersten Beitrag (S. 10 – 27) ber Unsichtbarkeit als Modus der (manifest) nicht anerkannten sozialen Existenz. 78 Nietzsche, Morgenrçthe, § 309, KSA 3, S. 225.Vgl. auch ebd., § 142, S. 133 ff.
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Machtverhltnisse, um sie zu steigern. Innerhalb des legitimierten Bewegungsraums versucht der Einzelne, seine eigenen Existenzbedingungen zu behaupten: es geht, wie von Elias und spter von Foucault betont, um die Spielrume der Selbstbehauptung und -gestaltung. Der Moral bleiben Machtverhltnisse also nicht fremd: sie sind in ihren Werten zugleich ausgedrckt und geleugnet. „Das Streben nach Auszeichnung“ gilt Nietzsche z. B. in § 113 der Morgenrçthe als „Streben nach berwltigung des Nchsten“: „Man will […] wahrnehmen oder errathen, wie der Nchste an uns usserlich oder innerlich leidet, wie er die Gewalt ber sich verliert und dem Eindrucke nachgiebt, den unsere Hand oder auch unser Anblick auf ihn machen“. Dies wirkt als Schrfung der Beobachtungsund Mitempfindungsfhigkeit: man hat es nçtig, stndig zu wissen, wie dem Nchsten „zu Muthe ist“.79 Dieses Spiel der Macht wird in der Gesellschaft in Bezug auf festgelegte Werte symbolisch gespielt und durch moralische Motive und Spieleinstze verkleidet80 – das asketische Ideal ist dafr das exemplarische Beispiel. Die Zeichensprache der Macht (vom Stadium der unmittelbaren physischen Gewalt bis hin zu dem der raffiniertesten Askese81) entwickelt sich wiederum nicht unabhngig von allen beteiligten Einzelnen, die sie beherrschen und anwenden. Diesen Mechanismus erklrt Nietzsche am Beispiel des Hofs des Sonnenkçnigs. Innerhalb eines bestimmten moralischen Klimas (hier: des Hofs) und des entsprechenden symbolischen Bezugssystems ist, um sich z. B. von den „Gemeinen“ zu unterscheiden, die Selbstbeherrschungsarbeit der Unterdrckung von Leidenschaften erforderlich. So unterdrckt man nicht nur die ußeren Zeichen, sondern die Leidenschaften selbst, indem eine bestimmte prgende Gewohnheit einverleibt wird.82 Folglich wird der soziale Mensch von einem moralischen Wertsystem gestaltet, indem er sich im Rahmen von dessen symbolischer Sprache ausdrckt und in ihrem Rahmen handelt, wozu er sich selbst zwingt, um seinen eigenen legitimen Handlungs- und Selbstbehauptungsraum zugleich positiv (als Drfen, Kçnnen) und negativ (als Nicht-Drfen) einzugrenzen. Das symbolische Spiel wird weiter entwickelt, indem die Spieler auf der einen Seite ihm Anerkennung verleihen, es auf der anderen Seite aber auch ,kreativ‘ spielen. So werden auch die Mitspieler geprgt, indem das symbolische Spiel 79 Ebd., § 113, S. 102. 80 Das gilt u. a. fr das System von Rechten und Pflichten, das Nietzsche in die ihm zugrunde liegenden Machtdynamiken zurckbersetzt (ebd., § 112, S. 100 ff.). 81 Vgl. ebd. 82 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 47, KSA 3, S. 412.
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(z. B. die moralische Zeichensprache) keine automatische Wiederholung von Routinen ist, sondern eine Sprache, die sie stndig ,lernen‘. Diese Selbststeuerungsarbeit gilt als ,soziale Performance‘. Von den Einzelnen wird in diesem Sinne auch verlangt, dass sie ihre Strategien (Verhaltensweisen) differenzieren, dass sie immer feinere Unterscheidungen einben, wahrnehmen und anwenden kçnnen. Der Akteur muss innerhalb der Regel (der Sittlichkeit) nach dem sozialen einverleibten ,Einsatz‘ – z. B. nach Macht als Prestige – streben, was gegebenenfalls neue Unterscheidungen zwischen den sozialen Stnden einfhrt.83 In diesem Sinne ist die Gesellschaft „nicht nur das Gleichmachende und Typisierende, sondern auch das Individualisierende.“84 So verkçrpert der Einzelne stets auch die gesamte Linie der Entwicklung, indem er etwas Neues ist und sie zugleich fortsetzt. Wie von Elias festgestellt, ist jeder Akteur nicht nur eine geprgte Mnze, sondern zugleich ein die anderen Mnzen gestaltender Prgestock.
4. Schlussbemerkungen: die Unschuld des Werdens In einem spten Notat behauptet Nietzsche, dass der falsche Begriff „Individuum“ zu dem „Unsinn“ fhre, von der „tiefen Ungerechtigkeit“ des sogenannten „socialen Pakt[s]“ zu reden: Die Umstnde, aus denen ein Mensch wchst, von ihm zu isoliren und ihn, wie eine „seelische Monade“, gleichsam bloß hineinsetzen oder fallen lassen: ist eine Folge der elenden Seelen-Metaphysik. Niemand hat ihm Eigenschaften gegeben, weder Gott, noch seine Eltern; niemand ist verantwortlich, daß er ist, daß er so und so ist, daß er unter diesen Umstnden ist…85
Die metaphysische Psychologie, der die Idee einer unabhngigen Individualitt (des Subjekts) zugrunde liegt, basiert auf einer Moral der Verantwortlichkeit und vor allem auf der Mçglichkeit, Verantwortungen zu verteilen und dadurch richten und strafen zu kçnnen. Die soziale Ordnung wegen ihrer Ungerechtigkeit den Einzelnen (bzw. den Schwachen, den Arbeitnehmern usw.) gegenber zu tadeln hieße dementsprechend, das Verhltnis von Individuen und Gesellschaft und die evolutionre Natur der Gesellschaft als Prozess zu verflschen. Die bestndige Versuchung, das 83 Die Mechanismen dieser Prozesse der sozialen Unterscheidung wurden auch von Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Frankfurt a. M. 1982, ausfhrlich analysiert. 84 Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 90. 85 Nietzsche, Nachlaß 1887 – 1889, KSA 13, 11[156], S. 75.
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Dasein zu verdinglichen86 und schuldig zu sprechen, erscheint allerdings als Ausdruck tiefer Bedrfnisse, aufgrund derer wir zu bestimmten Weltbildern neigen. Eine alternative Interpretation der (sozialen) Welt zielt nicht bloß auf den Austausch einer Theorie durch eine andere, sondern – in Anspielung auf Wittgenstein gesagt – auf die progressive Vernderung der Lebensform,87 deren Bedrfnissen jene Versuchung entspricht. Auch in der Entwicklung der Wissenschaften geht es um die Bewltigung von ngsten. Die Demaskierung von den der Psyche zugrunde liegenden moralischen Einstellungen dient der progressiven Befreiung von der Notwendigkeit, Verantwortung und Schuld zu verteilen. Nietzsche versucht insofern dadurch diejenigen Menschen zu unterscheiden, die ohne „Ressentiment“88 leben und denken kçnnen. Die genealogische Perspektive bietet den Individuen die Mçglichkeit, sich selbst als Linie einer gesellschaftlichen Entwicklung zu erkennen, d. h. sich und die Gesellschaft distanziert zu betrachten: sie leistet also gewissermaßen eine therapeutische, befreiende Arbeit. Diesbezglich ist der Unterschied zwischen Genealogie und Kritik wichtig: die Genealogie ist nur mittelbar Kritik. Bevor man mit einer traditionellen Kritik ansetzt, muss klar sein, woher die Werkzeuge der Rationalitt selbst stammen – wobei die Enthllung ihrer pudenda origo wiederum keinen Verzicht bedeutet. Da allerdings die Moral und die entsprechende Psychologie eine Demaskierung nicht tolerieren kçnnen, die ihre metaphysische Selbstbezglichkeit zur Flschung erklrt, wird die Genealogie zur (endgltigen) Kritik von deren Grundlagen. So wie Nietzsche im Lenzer-Heide-Fragment feststellt,89 kann die Moral die Folgen ihrer eigenen Ansprche, vor allem den der Wahrhaftigkeit, nicht ertragen – was die Hypothese eines Willens zur Macht hingegen offensichtlich kann. Auch Elias zielt darauf ab, die sozialtheoretischen Bedingungen zu schaffen, um den Verzicht auf jene falschen Voraussetzungen zu begnstigen, 86 Vgl. ebd., 11[72], S. 36. 87 Martin Saars Gegenberstellung von Nietzsches und Foucaults genealogischen Verfahren basiert auf einer hnlichen Interpretation deren gemeinsamer Absicht, den Leser mit der historischen Gewordenheit seines Denkapparats zu konfrontieren: „Ihrer beider Genealogien sind Geschichten der Genese von Selbstverstndnissen und der Konstruktion von Selbstverhltnissen, die als Erzhlung an die Subjekte selbst gerichtet sind und bei ihnen Zweifel an der Notwendigkeit ihres So-sein auslçsen oder verstrken und ein Anders-sein denkbar machen“ (Genealogie als Kritik, S. 21). 88 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, I § 10, KSA 5, S. 270. 89 Vgl. Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 5[71], S. 211 ff.
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welche die Menschen in einem rein individuellen Verstndnis ihrer selbst und der Gesellschaft gefangen halten. Seine Zivilisationstheorie will die Kategorien der Selbsterfahrung nicht nur in Frage stellen, sondern den Menschen vom Zauber einer unmittelbaren Selbstbezglichkeit erlçsen, indem sie die Abhngigkeit ihres Selbstbildes von sozialen Bedingungen hervorhebt. Auch Elias verbindet solche Selbstbezglichkeit mit ursprnglichen Bedrfnissen und ngsten, von denen die Menschen sich bei ihm langsam befreien. Die bewltigten Urngste tauchen jedoch immer wieder auf,90 sobald der Mensch in einen Prozess einbezogen ist, den er nicht ganz beherrscht: So mçgen im Krankheitsfalle die eigenen Gedanken wieder und wieder zu der Frage abschweifen: „Wer ist daran schuld?“ Die Kindheitserfahrung des Schmerzes als Folge eines Angriffs von außen mag sich fhlbar machen und dann vielleicht ein gewisser Vergeltungsdrang, oder der Angriff erscheint unter dem Druck eines hypertrophen Gewissens als verdient, so daß man, zu Recht oder Unrecht, sich selbst die Schuld an der Krankheit gibt.91
Elias’ Analyse des Gewissens erklrt, wie die Subjektivitt der Verantwortungszuschreibung dient. So entspricht dem Selbstbild des homo clausus und der selbstbegrndeten Subjektivitt noch immer die Gewohnheit, gesellschaftlichen Prozesse eine Absicht zu unterstellen. Seine Zivilisationstheorie beschreibt hingegen die soziale Ordnung als Ergebnis des Geflechts individueller, voneinander abhngiger Handlungen und Plne, die sich wechselseitig bedingen und „aus der Matrix einer bereits existierenden Gesellschaftsordnung hervorgehen“. Aus dieser „Verkettung“ bildet sich „das ungeplante fnfdimensionale Rahmenwerk einer Menschengesellschaft“: Jeder Mensch hat ungeplante Eltern und beginnt damit, daß er in Reaktion auf sie oder auf Ersatzeltern handelt. Seine Willensakte erfolgen im Dienst von Bedrfnissen, die nicht das Ergebnis eines Willensaktes sind. Ebenso wenig sind andere Menschen, ihre Plne und Wnsche, die die eigenen erfllen oder enttuschen, das Ergebnis von Willensakten. Und ebenso wenig ist es von einem Menschen gewollt und bewirkt, daß er oder sie als Kind vçllig von anderen abhngig ist – und es bis zu einem gewissen Grad das ganze Leben hindurch bleibt.92
90 „In der Tat kann man das Wachstum des Wissens mit dem eines Baumes vergleichen: im Holz des lteren Baumes bleibt seine Oberflchengestalt als junger Baum immer noch als eine innere Schicht oder ein Ring innerhalb der grçßeren Gestalt sichtbar“ (Elias, Engagement und Distanzierung, S. 202). 91 Elias, Engagement und Distanzierung, 113 f. 92 Ebd., S. 265.
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Genau in diesem Sinne bedeutet die genealogische Arbeit, dem Werden seine Unschuld wieder zuzuschreiben. Nietzsches Genealogie versucht, mit neuer Redlichkeit, „Psychologie, Geschichte, Natur, die gesellschaftlichen Institutionen und Sanktionen“ vom „Schuldbegriff“ und „Strafbegriff“ zu befreien: Man hat das Werden seiner Unschuld entkleidet, wenn irgend ein So-und-soSein auf Wille, auf Absichten, auf Akte der Verantwortlichkeit zurckgefhrt wird: die Lehre vom Willen ist wesentlich erfunden zum Zweck der Strafe, das heisst des Schuldig-finden-wollens. […] Die Menschen wurden „frei“ gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu kçnnen, – um schuldig werden zu kçnnen: folglich musste jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung im Bewusstsein liegend gedacht werden (– womit die grundstzlichste Falschmnzerei in psychologicis zum Princip der Psychologie selbst gemacht war …)93
So wirkt die genealogische Arbeit nicht nur als Selbstdiagnose, sondern auch als Selbsttherapie der Zivilisation, was gleichermaßen Nietzsches Verstndnis der Philosophie wie Elias’ Verstndnis der Soziologie entsprechen drfte.
93 Nietzsche, Gçtzen-Dmmerung, Die vier grossen Irrthmer 7, KSA 6, S. 95. Vgl. dazu auch Nachlaß 1887 – 1889, KSA 13, 15[30], S. 426.
Rollen des Kritikers: Kritik als Gedchtnis und Erzhlung im Prozess der Zivilisation Annette Hilt Unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen […] (Friedrich Nietzsche1)
An Friedrich Nietzsches und Norbert Elias’ Entwrfen der Kulturgeschichte zeigt sich, wie sehr ihre Arbeit an der Analyse und Kritik historischer Prozesse selbst Teil der Vernderungen ist, die sie rekonstruieren und extrapolieren: Vor dem theoretischen Hintergrund ihrer Modelle erscheinen sie als zwei individuelle Charaktere von kritischen Genealogen oder genealogischen Kritikern, deren Perspektiven sich ineinander spiegeln, aber auch voneinander abheben lassen, um daraus praktische Formen der Kritik zu gewinnen. Denn solche solche Differenzen sind bereits ein Teil der fr die Kritik notwendigen Multiperspektivik, die sich allerdings erst vor dem Hintergrund der Geschichte solcher genealogischen, historischen und zuknftigen Prozesse als Wege der Kritik lesen und deuten lassen. In diesem Sinne sollen mit Nietzsche und Elias zwei Kritikergestalten einander gegenbergestellt werden: dies vor dem Hintergrund der von ihnen nachgezeichneten und in eine Zukunft entworfenen Geschichte, deren Dynamik von vielerlei Motiven hervorgebracht wird und die ihr eigenes Ziel immer erst finden muss. Gerade diesen doppelt verborgenen ,Ursprung‘ von Geschichte und sein Wirksamwerden sucht Kritik zu verstehen. Und so zeigen sich durch einen solchen Impetus und seine Methodik Bezge zwischen genealogischer Philosophie und einer prozessual verstandenen Soziologie, die fr Orientierung und Handeln in diesen Verflechtungen fruchtbar gemacht werden kçnnen. Elias gewinnt aus der Struktur der Verflechtungserscheinungen und -ordnungen, der Relationen zwischen Individuum und Gesellschaft einen kritischen Standpunkt zum Prozess der Zivilisierung. Seine Gesellschaft der Individuen 2 – Aufstze aus dem Zeitraum von 1939 – 1987, die er als me1 2
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 19, KSA 5, S. 33. Norbert Elias, Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt a. M. 1991.
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thodische Reflexionen aus dem Prozeß der Zivilisation 3 ausgekoppelt hatte und mit denen er spter hermeneutisch auf seinen eigenen Weg der Verstndigung ber die Zivilisation zurckblickte – hebt die Eigendynamik seiner Suche nach Perspektiven auf den Prozess der Zivilisation hervor. Nun mag Nietzsches Polemik gegen die sozio-historische Leidenschaftslosigkeit der englischen Historiker zunchst fast wie ein Seitenhieb auf Elias’ Vorfhrung der reflexiven Selbstdisziplinierung gesellschaftlicher Individuen klingen. Doch stellt sich gerade bei Elias die Frage, wie in einem Nachvollzug des gesellschaftlichen Wandels, den nicht zuletzt sein eigener prozess-soziologischer Ansatz erçffnet hat, Transformationen von Machtstrukturen und einer flexiblen Ich-Wir-Balance mçglich werden, in die sich dann auch unterschiedliche kollektive und individuelle Perspektiven integrieren lassen. Was aber wre der Ort, wo Kritik in solchen Prozessen ihren Stand gewinnt? Entsteht bei Nietzsche in den mehrstufigen Zivilisierungsstadien durch Gewalt und Zwang ein habitualisiertes Gedchtnis fr soziale Tabus, so ist dies auch ein Gedchtnis des Willens und der verantwortlichen Selbstdisziplin: ein individuelles Gedchtnis. ber dieses Gedchtnis des „souveraine[n] Individuum[s]“4 çffnen sich auch Rume fr ein kollektives Gedchtnis in gemeinsamer Verantwortung. Solche Verantwortung zielt gerade auf eine geteilte Sphre von Selbstmchtigkeit und Ohnmacht, auf ein Zwischen von Individuum und Gesellschaft, wenn dies auch erst auf eine Ich-Wir-Balance hin extrapoliert werden msste. Verantwortung wre also dann eine Form des Gedchtnisses, die nicht nur in Anpassung an Normen gelebt wird, sondern auch so gelebt werden kann, dass sie zum reflexiv gestaltbaren Movens von Zivilisationsprozessen wird. Ausgehend von Kritik als Antwortsuche lsst sich unter dem Stichwort der Perspektivierung und der genealogischen Erweiterung eines ,geschlossenen Subjektbegriffs‘5 eine Brcke zwischen den beiden Anstzen schlagen: Dies soll in einem ersten Schritt von Elias’ soziologischer Methodik her angegangen werden, in der er seine ,Perspektivik‘ der Verflechtungsordnungen von Denkmodellen zu einer „Gesamtvision“6 entwickelt, die bei ihm auf einen ,geglckten Zivilisationsprozess in einer Balance von Ich- und Wir3 4 5 6
Elias, ber den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. II, Frankfurt a. M. 1976. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 2, KSA 5, S. 293. Vgl. dazu illustrierend Elias’ Bild des geschlossenen Subjekts als ,denkende Statue‘ (Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 157 f.). Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 109.
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Identitt‘ hinzielt. Diese Balance impliziert nicht zuletzt einen Wert und ein moralisches Maß – nmlich die Selbstdistanzierung und -perspektivierung, schließlich die Verhaltens- und Praxisformen, in denen solch geteilte Werte und Sinnentwrfe im Sinne einer,Gesellschaft der Individuen‘mçglich sind oder mçglich sein kçnnen. Die bereits genannte Verantwortung wird bei Elias zu einem in Lebenspraktiken verkçrperten Wert, zu einem Habitus, einer habitualisierten Tugend der sich vom unmittelbaren Erleben distanzierenden Erfahrung des Selbst und der Anderen. Im Anschluss an Elias’ kollektiv gefasste Verantwortungs-Rolle sollen in einem zweiten Schritt Nietzsches Kritik an der Vorstellung einer rational verfassten Subjektivitt beleuchtet werden, die hinter der Transformationsdynamik moralischer Werte die dem Zivilisationsprozess und der Selbstdisziplinierung immanenten Mçglichkeiten selbstreflexiver Strategien aufzeigt: bei Nietzsche ist dies ein Weg zu einem „Wissen um das ausserordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit“7: ein Weg, der vom Kollektivsubjekt zum souvernen Individuum, zu einem „Pathos der Distanz“8 und einer souvernen Perspektivik fhrt.9 Die genealogische Strategie zeigt sich hier als Erinnerungsgeschichte von sozialer Disziplinierung: Dem Menschen wird ein Gedchtnis ,gemacht‘, das Ursprung seiner Individualisierung ist. So erzhlt der Genealoge mit seiner eigenen erlebten Geschichte, wie er zum berechenbaren, verantwortlichen Subjekt wurde, die gemeinsame Historie der Zivilisation: Kritisch angesichts seines eigenen Leidens, zu dem er Distanz gewonnen hat, erinnert er zugleich an die vergessene Formierungsgeschichte im kollektiven Gedchtnis und entwirft diese als eine gemeinsame Geschichte. Diese Bewegung im Prozess der Zivilisation luft vom verantwortlichen Individuum zur gemeinsamen Erinnerung, aus der Verantwortung erst entstehen muss. Nietzsches Perspektive auf die Verantwortlichkeit wird von ihm als Phnomen der Mitteilungsbedrftigkeit, des individuellen Ausdrucks gegenber anderen behandelt, und dies wird in einem dritten Schritt mit Elias’ Ausblick auf die leidenschaftslose Selbstbeherrschung10 gespiegelt: Zwischen dem Pathos der eigenen Geschichte und der Distanzierung von ihr durch Manifestierungen kollektiver Identitten entwickeln sich Darstellungsstrategien von Sinn, und so wird die eigene Geschichte zu einer ex7 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 2, KSA 5, S. 294. 8 Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 257, KSA 5, S. 205. 9 Vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, III § 12, KSA 5, S. 365 zum „perspektivische[n] Sehen“. 10 Vgl. hierzu v. a. Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 327 ff.
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emplarischen und symbolisch durch andere und fr andere vermittelten. Durch Geschichten und ihre Identifikationsmçglichkeiten entsteht Erfahrung von Sinn, entstehen schließlich auch Perspektiven von den „wandelbare[n] Strukturen“: Perspektiven davon, mit welcher Absicht und welchem Ziel wir (genealogische) Kritik der Geschichte, der Moral und der Zivilisation betreiben.11 Dies fhrt dann zum abschließenden vierten Schritt einer Arbeitshypothese, wie die Genealogie als Kritik zu einer reflexiven Perspektivik und vor allem einer Praxis der kollektiven Erinnerung und Erzhlung, also der Verantwortlichkeit zwischen Individuen in einer Gesellschaft weiter gefhrt werden kçnnte: Eine Gesellschaft souverner Individuen differenziert sich so in ihren Beziehungen zwischen Menschen in sozialen Kontexten mit multiplen Identitten aus, die ihre Formen stets wieder in neuen Konstellationen finden mssen.
1. Elias’ Genealogie der Verflechtungen in einer Gesellschaft der Individuen Elias’ Fragestellung in der Gesellschaft der Individuen nimmt ihren Ausgang von einer Kritik an substanzialistischen Modellen und an der Mittel-ZweckBeziehung von Gesellschaft und Individuum: In der Verbindung dieser beiden Strategien miteinander werde das eine durch das andere erklrt, insofern das ,letzte Ziel‘ einer Entwicklungsgeschichte entweder die Gesellschaft oder das Individuum rechtfertigen solle. Fr Elias ist bekannterweise erst durch einen Bruch mit diesem ,Entweder-Oder‘ ein Verstndnis von individuellen und kollektiven Strukturen in ihrer konstitutiven Verflechtung zu gewinnen. Dabei ist bereits schon die Geschichte der Ausformung dieses missverstandenen Antagonismus selbst Teil des Verstndigungsprozesses.12 11 Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 109. 12 Vgl.: „Die Akutheit der Kmpfe, die heute stndig das ganze Verhltnis von Individuum und Gesellschaft in Frage stellen, bannt unser Denken in bestimmte Grenzen. […] Jeder Gedanke, der von fern oder nah auf diese Auseinandersetzung anspielt, wird unfehlbar als ein Fr oder Wider in jener stehenden Antithese verstanden, die entweder das Individuum als den ,Zweck‘ und die Gesellschaft als ,Mittel‘ oder umgekehrt als das ,Wesentliche‘, als den ,obersten Zweck‘ die Gesellschaft und den Einzelnen nur als ein ,Mittel‘, als etwas ,weniger Wichtiges’ erscheinen lßt. Hinter diesen Gegensatz zurckzugehen [zu einem ihm Zugrundeliegenden, A.H.], scheint sinnlos. Auch hier machen die Fragen in einer ganz
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hnlich wie Nietzsche in seiner interpretativen Vorrede zur Genealogie der Moral kontextualisiert auch Elias seine Untersuchungen zum Zivilisationsprozess im Rckblick; 1987 schreibt er in einer biographischen Reflexion zur Gesellschaft der Individuen: In der Vernderung des Zugangs zu dem Problem des Verhltnisses von Gesellschaft und Individuum, die sich so im Laufe von gut und gern 50 Jahren vollzogen hat, spiegeln sich ganz gewiß bestimmte Vernderungen, die sich mit den menschlichen Individuen und Gesellschaften selbst vollzogen haben, […] und nicht zuletzt Vernderungen der Selbsterfahrung der einzelnen Menschen, die miteinander diese Gesellschaften bilden […]. Auf der anderen Seite aber hat sich die ganze Art und Weise, in der man an das Problem herantritt, erheblich gendert. Das Problem konkretisiert sich […] in dem Begriff der Wir-IchBalance. Dieser weist darauf hin, daß das Verhltnis der Ich-Identitt und der Wir-Identitt des einzelnen Menschen nicht ein fr allemal festliegt, sondern ganz spezifischen Wandlungen unterworfen ist.13
Was bringt diese Wandlungen zustande – ein rein formal gefasster sozialer Kontext von Deutungsparadigmen in sozialen Praktiken oder auch die individuelle Entwicklungsgeschichte, wie sie sich am Beispiel einer Selbstdeutung Nietzsches als sein ,historisches Apriori‘14 zeigt? Bei Elias verlaufen diese Vernderungen des eigenen Standpunktes und der methodologischen Perspektiven von seiner deskriptiven Kritik an dem impliziten Prinzip des Denkens in Mittel-Zweck-Strukturen ber einen tentativ-normativen Wertbegriff bis schließlich hin zu einem Begriff von Sinn, der in kommunikativen Praktiken nach Anerkennung heischt: der im Habitus verkçrperten und vom Habitus bejahten Lebenserfahrung. Gerade dieser affirmative Sinn-Begriff, der von Individuen aus sozialen Strukturen, in denen sie leben, gewonnen und dann auch von ihnen transformiert wird, ist maßgeblich fr eine soziale Integration des flssigen Sinns, der sich in der durchaus individuellen Perspektive des ,souvernen Kritikers‘ offenbart.
bestimmten Ebene halt: Was nicht dazu dient, als das ,Wichtigere‘, als den ,obersten Zweck’ entweder die Gesellschaft oder das Individuum zu rechtfertigen, erscheint als unwesentlich, als inaktell und unwert der Mhe des Denkens.“ (ebd., S. 25). 13 Ebd., S. 12. 14 „Bei einer mir eignen Bedenklichkeit, die ich ungern eingestehe […], einer Bedenklichkeit, welche in meinem Leben so frh […], so unaufhaltsam, so in Widerspruch gegen Umgebung, Alter, Beispiel, Herkunft auftrat, dass ich beinahe das Recht htte, sie mein ,A priori‘ zu nennen, – musste meine Neugierde ebenso wie mein Verdacht bei Zeiten an der Frage Halt machen, welchen Ursprung eigentlich unser Gut und Bçse habe.“ (Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Vorrede § 3, KSA 5, S. 249).
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Wodurch diese (Selbst-)Verstndigung in der von Elias skizzierten soziologischen Problemgeschichte des Zivilisationsprozesses ihren Stand gewinnt, ist eine Revision des ,herkçmmlichen Selbstbewusstseins‘15 bzw. der alltglichen ,natrlichen Einstellung‘: Was nicht nur im Denken, sondern auch in der reflexiv gewordenen Erfahrung geprgt werden soll, ist ein Verstndnis von der Ordnung dieser unaufhçrlichen Verflechtung ohne Anfang: es ist die Geschichte [der Beziehungen des Selbst, A. H.], die Wesen und Gestalt des einzelnen Menschen bestimmen […] – durch den Aufbau des Menschengeflechts, in dem er, als einer seiner Knotenpunkte zu einer Individualitt heranwchst und lebt.16
Darin prgt sich Individualitt als die individuelle Ausgestaltung des Typischen aus:17 im ,Ich-Ideal‘, sich vor anderen auszuzeichnen und sich von ihnen abhebend die eigene werthafte Identitt zu gewinnen. Dies entspricht bereits der Wertschtzung spezifischer durch Geschichte und Zivilisationsprozess bestimmter Menschenbilder und vorangegangener ,Individualisierungsschbe‘. Keine Rolle spielt fr Elias dagegen die Dynamik des „Ressentiments“ und der „Sklavenmoral“, wie sie Nietzsche in kritischer Absicht entfaltet: eine Dynamik, die Identitten nur negativ in der Abwertung anderer wertbesetzter Lebensformen gewinnt. Fr Elias ist diese Ich-Idealisierung – in einem auf andere Weise als bei Nietzsche strukturell analysierten Prozess – ein Fall der Selbstregulierung und Steuerung,18 und dies noch ohne moralischen Index. Zugleich wird jedoch das Gewissen von ihm in einer parallelen Funktion dazu genannt: Auch das Gewissen hat seine Entwicklungsgeschichte aus sozialen Lernprozessen19 – Selbstregulierung ist daher bei Elias keine Funktion der instrumentellen Rationalitt allein. Dieses Gewissen ist „hçchst persçnlich und zu gleicher Zeit gesellschaftspezifisch“.20 Gerade weil es einer Zeitgenossenschaft im Zivilisationsprozess entspringt, ist es nicht in freier Entscheidung aus einer Reihe anderer zeit- und kulturrelativer Ideale gewhlt und beinhaltet eine persçnliche Verpflichtung auf das angeeignete und darin auch aktiv affirmierte Ideal. An dieser Stelle werden die Unterschiede zu einem genealogischen Verfahren der Kritik mit seinen Entlarvungsstrategien der Motive deutlich, 15 16 17 18 19 20
Vgl. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 39. Ebd., S. 55 f., Hervorhebung A. H. Ebd., S. 89. Ebd., S. 87 f. Vgl. ebd., S. 192. Ebd., S. 193.
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doch Elias begibt sich nicht in den toten Winkel eines moralischen Werturteils ber die ,zivilisatorische Reife‘, die eine solche Individualisierung impliziert. Elias’ kritische Absicht besteht darin, aus solcher Einsicht in die Struktur des Zivilisationsprozesses und seine Geschichtlichkeit das kritische Hintergrundwissen des Soziologen zu festigen, dass die Gesellschaft nicht nur das Gleichmachende und Typisierende, sondern auch das Individualisierende sei.21 Es zeigen sich bei bergngen von weniger zu strker differenzierten, komplexeren sozialen Einheiten und gesellschaftlichen Organisationen, den Wir-Gruppen,22 Reflexionsschbe in der Ausprgung dieser sozialen Strukturen, die nun noch einmal auf der Ebene der soziologischen Erkenntniskritik, auf der Ebene des Kritikers des habitualisierten Soziologenblickes, nachvollzogen werden. Nun entstehen aus diesen bergngen, die Elias eingebettet in kontinuierliche Prozesse anonymer Regulation sieht, neue Mçglichkeiten der Integration von Ich- und Wir-Sphre, die dann als gelungen gelten kçnnen, wenn sich nach allen Mhen und Konflikten dieses Prozesses schließlich im Rahmen einer gesellschaftlichen Erwachsenenfunktion gut eingepaßte Verhaltensweisen, eine adquat funktionierende Gewohnheitsapparatur […] und zugleich […] eine positive Lustbilanz [herausbildet]; im anderen Fall wird entweder die gesellschaftlich notwendige Selbstregulierung immer wieder von neuem mit einer schweren Anspannung zur Bewltigung von entgegengerichteten Triebenergien, mit hohen Unkosten an persçnlicher Befriedigung erkauft […].23
Erst hier erscheint nun ein normativer Index in Elias’ ,Gesamtvision‘ von einer Gesellschaft der Individuen, deren Prozess der Zivilisation als Hintergrund den „Freiheitsspielraum der Wir-Sphre“24 hat: Wird Sinn – die positive Lustbilanz individueller Bedrfnisse als Zeichen von Freiheit – hier zur bloßen Funktionsgrçße?25 Nietzsches Perspektive dagegen liegt auf einem ,Freiheitsspielraum der Ich-Sphre‘. Hier befindet sich auch der Ort des Kritikers im Prozess der Zivilisation, der nicht identisch mit dem Trger des Ich-Ideals oder dem souvernen Individuum ist, der sich vielmehr als Kri-
21 22 23 24 25
Ebd., S. 90. Ebd., S. 224 f. Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 334 f. Vgl. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 270. „In Wirklichkeit ist das Resultat des individuellen Zivilisationsprozesses nur in relativ wenig Fllen, nur an den Rndern der Streuungskurve ganz eindeutig ungnstig oder gnstig. Die Mehrzahl der Zivilisierten lebt zwischen diesen Extremen auf einer mittleren Linie“ (Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 335).
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tiker als unverwechselbares Individuum mit seiner eigenen Geschichte zugleich stilisiert und wertschtzt.26 Elias nennt als eine methodische Fragestellung fr seine Prozess-Soziologie, dass ihre Perspektive auf die Verflechtungsbeziehungen in der Gesellschaft der Individuen „mit einer eigentmlichen Form des Selbstbewußtseins und des Menschenbildes zusammen[hngt].“27 Dieses Selbstbewusstsein, bzw. das Bild von ihm, wird gewonnen aus individueller Erfahrung oder zumindest aus einem Modell – eben einem Bild –, das erfahrungsmßig und methodisch von einem individuellen Selbst ausgeht. Dessen Genese, dessen Individualisierung in concreto und in einem maßgeblichen Modell, will verstanden sein, um es in Frage zu stellen und zu modifizieren – und dies ist Nietzsches methodischer Ausgangspunkt: die Bedeutung von Wertschtzung und Wertsetzung unserer Individuation fr unsere selbstreflexive Erfahrung und ihr normatives Maß.
2. Nietzsche und das souverne Gewissen der Verantwortlichkeit Der Zivilisationsprozess konkretisiert sich auf dem Weg zu einem Gedchtnis, schließlich zu einem verinnerlichten Gedchtnis, bei Nietzsche bekanntermaßen durch sozialen Zwang: Je schlechter die Menschheit „bei Gedchtniss“war, um so furchtbarer ist immer der Aspekt ihrer Bruche; die Hrte der Strafgesetze giebt in Sonderheit einen Maassstab dafr ab, wie viel Mhe sie hatte, gegen die Vergesslichkeit zum Sieg zu kommen und ein paar primitive Erfordernisse des socialen Zusammenlebens diesen Augenblicks-Sklaven des Affekts und der Begierde gegenwrtig zu erhalten.28
Erst ber den Kampf gegen die Vergesslichkeit, durch die der Fluss der Zeit zur reinen Gegenwart, zur Gegenwart der „Begierde“ bzw. allgemeiner: der „Interessen“, eingeschmolzen wird, kann ein Raum fr perspektivische Standpunkte, fr das „konzertante Handeln“ (H. Arendt) einer Gesellschaft von Individuen sich çffnen. Erst hier kann ein kritischer Standpunkt gewonnen werden, wo Bewegung in der auf andere hin geçffneten Vorstellung, der Vorstellung in Raum und Zeit, mçglich wird. Der kritische Standpunkt von Nietzsches genealogischer Anthropologie – nicht nur Moralphilosophie – liegt unter methodischen Gesichtspunkten 26 Vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, I § 2, KSA 5, S. 259. 27 Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 131. 28 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 3, KSA 5, S. 296.
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zunchst in der Frage nach den Voraussetzungen solch genealogischer Untersuchung: die Frage nach der Geschichte, wie Wille und Wert des autonomen Selbst zu Macht gekommen sind. Dies ist zugleich eine Geschichte des individuellen Leidens an diesem Prozess, in dem diesem Selbst ein Gedchtnis gemacht wird, durch das es berechenbar wird und seine Identitt erhlt. Die Perspektive des Genealogen bzw. des Kritikers will rekursiv diesem Prozess eine geschichtliche Form geben, die dann ber die Vergangenheit auch therapeutisch in die Zukunft hinausreicht, um dem Leiden am Sinn (der Moral und des gesellschaftlichen Zwanges) eine Wendung zu geben: Wenn sich dieses Selbst in seinen Transformationen auch bejahen kann, wird es aus sich selbst heraus fr seine Berechenbarkeit in Worten und Taten, fr seinen ,Vertrag‘mit der Gesellschaft Verantwortung bernehmen. Erst daraus wird ein Ausblick auf das „souveraine Individuum“ gewonnen, der das genealogische Unternehmen rechtfertigt und ihm Dignitt und auch berzeugungskraft verleiht. Der Kritiker wird so zum Gesetzgeber einer genealogischen Erzhlung, die ber diese Geschichte hinausreicht und nun ,im Konzert‘ mit anderen Stimmen die ,Gesellschaft der Individuen‘ zu gemeinsamen Identitten finden lsst. Es wre dies bei Nietzsche nicht mehr der Philosoph, ber dessen Menschenbild sich Elias mokiert, der „seinen Standort ,in‘dem einzelnen Individuum“nahm, durch dessen Augen er „wie durch kleine Fenster in die Welt draußen“ oder umgekehrt durch kleine Fenster in die ,Innensphre‘ des Individuums blickte.29 Doch was wre ein solch freier Geist, der nicht mehr wie der asketische Philosoph aus der dritten Abhandlung von Nietzsches Genealogie der Moral in die Eremiten-Wsten fliehen muss, sondern seinen Ort in der Gesellschaft der Individuen, in ihren vielzhligen und vielfltigen Perspektiven findet? Ein Individuum, das nicht mehr nur ein kollektives unter dem Schleier einer autonomen Selbsttuschung, das nicht mehr nur Teil einer „Heerde“ der autonomen Individuen30 ist? Nietzsche prgt die Selbstdistanzierung der Kritik um in ein „Pathos der Distanz“,31 in die Bestimmung und Bejahung seiner eigenen Perspektive und ihres Gesetzes. Das Wissen um die eigene Rolle in der Gesellschaft und in der Geschichte hat hier nach langer ,Form-Verwandlung‘ das gewonnen, was Nietzsche als ,seine Reife‘ bezeichnet: „Fr sich gut sagen drfen und mit Stolz, also auch zu sich Ja sagen drfen“32 : dies ist „das ausserordentliche Privilegium der Verantwort29 30 31 32
Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 164 f. Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 202, KSA 5, S. 124. Ebd., § 257, S. 204. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 3, KSA 5, S. 294 f.
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lichkeit“.33 In der genealogischen Erzhlung ußern sich Stellung und Stimme eines Kritikers, der nicht mehr nur einen kollektiven „historische[n] Sinn“, einen „unvornehme[n] Sinn“34 besitzt, sondern sich auf ein eigenes ,historisches Apriori‘ bezieht, das unverwechselbar ist fr dieses Individuum, nmlich ein konstitutiver Bestandteil seiner erzhlten Geschichte. Damit erhlt das genealogische Modell von Relationen und horizontalen Perspektiven, die „Verflechtung ohne Anfang“ (Elias), selbst eine verortbare Perspektive: die reflexiv gewordene Biographie macht aus der ZivilisationsGeschichte eine Sinn-Geschichte, ohne ihr jedoch ein Ende zu geben, das sich als autonomer Blickpunkt von dieser Perspektive ablçsen ließe. Hier liegt der Punkt, wo die Geschichte auf eine Antwort anderer Geschichten wartet. Nietzsche formuliert die Schwierigkeit des Philosophen – nicht des Soziologen – folgendermaßen, dass er [der Philosoph, A. H.] von sich ein Urtheil, ein Ja oder Nein, nicht ber die Wissenschaften, sondern ber das Leben und den Werth des Lebens verlangt, – dass er ungern daran glauben lernt, ein Recht oder gar eine Pflicht zu diesem Urtheile zu haben, und sich nur aus den umfnglichsten – vielleicht stçrendsten, zerstçrendsten – Erlebnissen heraus und oft zçgernd, zweifelnd, verstummend seinen Weg zu jenem Rechte und jenem Glauben suchen muss.35
Aus der Historie allein kann unter diesen Voraussetzungen noch kein kritischer Standpunkt mit Blick auf eine ethische Formierung des Zivilisationsprozesses, also eine Lebenshaltung in einer Ich-Wir-Balance gewonnen werden: Ich sehe Niemanden, der eine Kritik der moralischen Werthurtheile gewagt htte […]. Kaum dass ich einige sprliche Anstze ausfindig gemacht habe, es zu einer Entstehungsgeschichte dieser Gefhle und Werthschtzungen zu bringen (was etwas Anderes ist als eine Kritik derselben und noch einmal etwas Anderes als die Geschichte der ethischen Systeme).36
Kritik wre dann eine affektive, und das heißt individuell bezogene Stellung zur Geschichte, die ber eine Philosophie der Werte, der „Gefhle und Werthschtzungen“ hinausgeht durch ihre individuelle Zurechenbarkeit;37 33 34 35 36 37
Ebd., II § 2, S. 294. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 224, KSA 5, S. 157 f. Ebd., § 205, S. 132 f. Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 345, KSA 3, S. 578. Vgl. dazu Werner Stegmaiers Begriff der „ethischen Aufmerksamkeit“als „Pathos der Distanz“: Werner Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin/ New York 2008, S. 600 f.
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sie wre eine Perspektivierung der Habitus, in denen eine Gesellschaft ihre Regeln verkçrpert und fordert, sie wre eine Perspektivierung der Moral, die nicht anonym, sondern durch Individuen in ihrer gesellschaftlichen Verflechtung geleistet wird. Eine berzeugung, die diese ethische Haltung motiviert, sttzt und ihr Verbindlichkeit gibt, bringt es mit sich, eine kritisch gesuchte Perspektive in einer reflexiv gewordenen Geschichte gewonnen zu haben. Diese berzeugung erweist ihre Gltigkeit nicht nur als Regel, sondern als ein interpretatives Gesetz des „Anders-sehen-Wollens“ mit dem Vermçgen, Perspektiven nicht nur als ,Gucklçcher‘ aus denkenden und in denkende „Statuen“ hinein zu whlen, sondern sie als Trçffnungen zu den Welten anderer bzw. zu gemeinsamen Welten ein- und aushngen zu kçnnen. Dies aber in dem Maße, wie es – so msste man zu dieser Forderung38 hinzufgen – verantwortbar ist: verantwortbar vor einem individuellen Gesetz oder dem Gesetz der ,freien Geister‘ einer Gesellschaft, die ihre Individualitt nicht aus reiner Selbstbezglichkeit gewinnen, sondern sich in der Aufmerksamkeit fr die Unterschiede, fr die Nuancen in den Bezgen zwischen sich und anderen und innerhalb ihres eigenen Selbstverhltnisses ausdrcken. Solche habituelle ,Vornehmheit‘ beweist sich nicht in „Werke[n]“ und „Handlungen“, sondern vielmehr im „Glaube[n]“, der „Grundgewissheit, welche eine vornehme Seele ber sich selbst hat, Etwas, das sich nicht suchen, nicht finden und vielleicht auch nicht verlieren lsst.“39 Dies nennt Nietzsche die „Ehrfurcht vor sich selbst“, die Ehrfurcht vor der „Moral der Mchtigen“, die „Ehrfurcht vor dem Alter und vor dem Herkommen“. Man kçnnte diesen Gedanken weiterfhren: Das Selbst gewinnt in der Kritik, das heißt auf dem Weg seiner eigenen genealogischen Betrachtung, eine Macht, die sich im Gewissen manifestiert und sich als diese Macht dann auch wertschtzen lsst. Zugleich liegt darin auch eine Ehrfurcht vor der Unbestimmtheit der Geschichten, in denen man selber steht, die erst zu einer eigenen Geschichte, zu einer eigenen Identitt geprgt werden mssen,40 und zwar fortlaufend. Nietzsche selbst stilisiert diesen Ort des Gewissens immer wieder als eine Krise, als einen bergang, als einen nur temporren Standpunkt wie insbesondere im zentralen Thema der Genealogie der Moral,
38 Der Forderung, „dass man sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen fr die Erkenntniss nutzbar zu machen weiss“ (Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, III § 12, KSA 5, S. 364 f.). 39 Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 287, KSA 5, S. 233. 40 Vgl. ebd., § 260, S. 208 – 212.
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dem Ursprung des schlechten Gewissens: es erscheint als „Hypothese“ in einem „vorlufigen Ausdruck“: Ich nehme das schlechte Gewissen als die tiefe Erkrankung, welcher der Mensch unter dem Druck jener grndlichsten aller Vernderungen verfallen musste, die er berhaupt erlebt hat, – jener Vernderung, als er sich endgltig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand.41
Diese Krankheit nicht nur umdeutend in einem Ressentiment nach außen zu wenden, sie nicht nur mit leidenskalmierender Askese wiederum nach innen zu wenden, zu essentialisieren als chronische Schuld, sondern sie zu einem „Knstler-Gewissen“ zu gestalten wre die weiterfhrende Aufgabe eines ,freien Geistes‘, eines „souveraine[n] Individuums“.42 Betrachtet man diese Genealogie, dann lge „das Selbstbekenntnis ihres Urhebers“43 darin, ein Mensch zu sein, der Geschçpf und Schçpfer zugleich ist und der dies auch zu exemplarischem und exponiertem Ausdruck bringt, und zwar zunchst als Wertschtzung des eigenen Seins in seiner Unabhngigkeit: „pereat mundus, fiat philosophia, fiat philosophus, fiam!…“44 (Selbst-)kritische Verantwortung entsteht so aus der Perspektivierung von Sinn, „Feinheit und Strke des Bewusstseins“ stehen so im Verhltniss zur Mittheilungs-Fhigkeit eines Menschen […], die Mittheilungs-Fhigkeit wiederum im Verhltnis zur Mitteilungs-Bedrftigkeit […]: wo das Bedrfniss, die Noth die Menschen lange gezwungen hat, sich mitzutheilen, sich gegenseitig rasch und fein zu verstehen […].45
Dies fhrt uns zum Feld des Ausdrucks zwischen den Individuen, die sich erst in einer Gesellschaft und ihren Habitus-Formen zeigen und darstellen kçnnen. Aus diesem performativen Vollzug der Individualisierung im gesellschaftlichen Raum entsteht dann auch die Mçglichkeit der Kritik – aus dem Vermçgen der Aneignung von Identitten und der Verwandlung in Individualitten.
41 42 43 44 45
Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 16, KSA 5, S. 321 f. Ebd., § 2, S. 293. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 6, KSA 5, S. 19. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, III § 7, KSA 5, S. 351. Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 354, KSA 3, S. 590 f.
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3. Die symbolische Sinnstiftung der Zivilisierung bei Nietzsche und Elias Die Relevanz des Ausdrucks bei Nietzsche çffnet eine weitere Perspektive fr die Betrachtung der beiden Zivilisationskritiker: Die Bedeutung der Sprache, der Mitteilungsfhigkeit des Menschen fr die Konstitution des individuellen Selbst ist bei Elias – nicht anders als bei Nietzsche – zentral: Fr Elias sind Sprache und Mitteilung symbolischer Ausdruck46 von Differenzen zwischen alten und gegenwrtigen Habitusformen; und aus diesen Differenzerfahrungen, die erst in historischen Prozessen sich manifestieren und in ihnen ihren Ausdruck finden mssen, entsteht eine genealogische, eine produktive und damit auch eine kritische Erinnerung: „Je grçßer im Zuge der Gesellschaftsentwicklung der Spielraum fr Verschiedenheiten der im Gedchtnis der Einzelnen eingravierten Lebenserfahrungen wird, um so grçßer wird die Chance der Individualisierung.“47 Erst in diesem temporalen Feld, also nicht in dem homogenen Prozess eines gesetzhaften Gleichmaßes, sondern in einem Strukturgefge vielstimmiger Geschichten mit Zsuren und deren Spiegelungen ineinander, das zu einem Konzert, in dem einzelne Stimmen hçrbar sind, erst werden muss, entsteht eine Form der Distanz oder der Perspektivierung, die Elias (leidenschaftslose) ,Selbstdistanzierung‘ als elementare Eigentmlichkeit der menschlichen Erfahrung nennt. Wie aber kommt die Geschichte zum Ausdruck in Erinnerungen, d. h. zu einer ersten Stufe der interpretatorischen Vereinheitlichung? Elias entwirft ein Strukturmodell, in das die Erinnerung eines Wissens- und Wissenschaftskollektivs eingefgt wird und das weiter an dem Prozess der Zivilisation wirkt; wissenssoziologisch motiviert, gehen Stand- und Blickpunkt bereits ber den Erfahrungshorizont, in dem der gelebte Zivilisierungsprozess steht, hinaus: Es bedarf dieser langfristigen Erinnerung an das Werden der Menschheit vor allem auch, um menschliche Eigentmlichkeiten, auf die man mit Worten wie „Langsicht“, „Verstand“, „Zivilisation“, „Individualitt“ hinzuweisen sucht,
46 Elias beschreibt dies folgendermaßen: „Alle Begriffe, ob sie eine niedrigere oder eine hçhere Synthesenebene reprsentieren, haben den Charakter von Sprach- oder Schriftsymbolen. Um ihre Funktion als Kommunikations- und Orientierungsmittel zu erfllen, mssen sie nicht nur fr einen einzelnen, sondern fr eine Sprachgemeinschaft, eine spezifische Gruppe von Menschen verstndlich sein“ (Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 215). 47 Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 250; Hervorhebung A. H.
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statt als etwas Statisches und ein fr allemal Gegebenes vielmehr selbst als etwas Werdendes und Gewordenes, als Aspekte eines Prozesses zu verstehen.48
Dies ist Elias’ prozess-soziologischer Zugang zu diesem Problem. Fr Elias bedeutet dies die Entdeckung der Ordnung im Wandel der Zeit und die Suche nach Begriffen, mit deren Hilfe sich Menschen ber einzelne Aspekte dieser Ordnung verstndigen, d. h. die Zsuren und Brche in ihr verstehen kçnnen. So gewinnt er aus dieser Perspektive auf die Gesellschaftsentwicklung eine Erklrungsfunktion fr unsere Begriffs- und Verstndigungsgeschichten: Welt, Gesellschaft und Sprache, wie wir sie verstehen und uns in ihnen orientieren, werden dann in stndiger Vernderung wahrgenommen,49 die nur als Strukturganzes in den Blick zu bekommen ist. Das Ganze eines sozialen Feldes untersuchen […] heißt zunchst einmal, die Grundstrukturen aufdecken, die allen Einzelvorgngen innerhalb dieses Feldes ihre Richtung und ihr spezifisches Geprge geben.50
Die Leidenschaftslosigkeit eines solchen Sinnhorizontes des Soziologen51 – leidenschaftslos unter der Voraussetzung, dass die Entwicklung der Menschheit als die allumgreifende bzw. kategoriale Form des menschlichen Zusammenlebens verstanden wird – muss genauer betrachtet werden, denn diese anonyme bzw. kollektive Perspektive wird immer auch flschlicherweise personifiziert. „Das Wort ,Gesellschaft‘ selbst wird oft gebraucht, als handle es sich um eine Person“, wie beispielsweise die Mutter in der Rolle einer Machthaberin.52 Dabei wird gerade das metaphorische Verstndnis dieses kritischen Verfahrens missverstanden: Das „Pathos der Distanz“ will mit seiner Sensibilitt fr Nuancen individuelle Verkçrperungen einer an Regeln gebundenen sozialen Existenz auch in nicht-alltglichen Formen der Individualisierung und ihres Ausdrucks im Sinne eines ,individuellen Allgemeinen‘ (an-)erkennen.53 48 49 50 51
Ebd., S. 190 f.; Hervorhebung A. H. Ebd., S. 213 f. Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, S. 393. Fr einen Gewinn des wissenschaftstheoretischen Hintergrunds ist hierbei die Emanzipation der sozialwissenschaftlichen von den naturwissenschaftlichen Problemstellungen entscheidend, da bei jener ganz unterschiedliche Gesetzmßigkeiten in Struktur und Dynamik der Gruppenbildung und der geschichtlichen Ordnung maßgeblich werden und hier die Nomologie der statischen Theorien von Gesellschaften transformiert (vgl. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 233 ff.). 52 Ebd., S. 174. 53 Vgl. zu solch nicht-alltglicher Perspektivierung Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 452 und 587.
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Anders jedoch geht Nietzsches Ansatz von der Erfahrung der Außerordentlichkeit des Lebens – einem anderen Kollektivbegriff – aus. Die Gesetzesfçrmigkeit des Lebens bzw. dessen Außerordentlichkeit durchkreuzt immer wieder Ordnungsstrategien und Sinnstiftungsversuche, wie dies prominent und polemisch in dem Kapitel zu Ursprung, Zweck und Nutzen der Strafe sowie deren Umdeutungen hinter der Fassade moralischer Institutionen in der Genealogie der Moral dargestellt wird.54 Das heißt aber, dass die Genealogie soziologischer Sinnprozesse immer erst eingeholt werden muss von individuellen Sinnerfahrungen, wie sie z. B. in Brchen der Erfahrung an kollektiven Sedimenten von Moral zu Tage treten. Die Frage, die sich nun stellt, ist die, welche Strukturen diese Wir-IchBalance nicht nur transparent machen, sondern sie auch multiperspektivisch aus der individuellen und gemeinsamen Erfahrung – und nicht nur aus einer Wissenschaft heraus – nachvollziehbar machen. An welchem immanenten Standpunkt çffnet sich dieser Sinn- bzw. Gedchtnishorizont, und zwar als ein Horizont der Praxis solcherart, dass er sich durch Menschen zwischen Menschen, die fr ihre Mitteilungsbedrftigkeit eine Form des Ausdrucks suchen, manifestiert? Diese Strukturen einer sprachlich und ber Erzhlungen verfassten Gemeinschaft, in denen ein kritisches Potential zum Ausdruck kommt, Kritik also ihren Ort (oder im Plural: ihre Perspektiven) einnimmt, sollen nun abschließend ein Stck weit entworfen werden: nicht als Nietzsches Form der Kritik als Ressentiment des Ressentiments, nicht als Elias’ Wissenschaftskritik, sondern in einer Verflechtung dieser Typen des Kritikers und Genealogen. Darin drckt sich ein sowohl individuelles als auch soziales Anliegen aus: das Anliegen, sich in der Gesellschaft und in ihrer Geschichte zu erfahren und in eigenen Identitten zu erproben. Wie bilden sich gerade diese Perspektiven in dem multiperspektivischen Medium von Geschichten, vor allem in der Praxis von Erzhlung und ihrem Spiel von Fragen und Antworten? Wie bildet sich aus Geschichten eine Praxis des Gedchtnisses von Individuierung und gemeinsamer Verantwortung?
4. Gedchtnisgeschichten – Erinnerung und Kritik der Zivilisation Das individuelle Gedchtnis, das Gedchtnis des Erlebens und dessen erfahrungsgesttigte Sedimentierung im Gedchtnis des Leibes, ist perspektivisch; darin ist es unaustauschbar und unbertragbar als Lebens- und 54 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 12, S. 313 ff.
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Erlebensgeschichte, jedoch kommunizierbar durch Formen des Ausdrucks, ihrer Mitteilungsfhigkeit: Diese wird getragen von einem Mitteilungsbedrfnis, ja der Not einer Mitteilungsbedrftigkeit, die gerade unsre Kommunikations- und Kritikfhigkeit formt; dadurch ist sie immer schon bezogen auf andere. Individuelle Erinnerungen existieren nicht isoliert, sondern sind mit den Erinnerungen anderer ber ihre Entstehungsgeschichte vernetzt, nicht zuletzt durch das sozial habitualisierte ,Gedchtnis des Leibes‘: So besttigen und untersttzen sie sich gegenseitig, wirken in der Mitteilung gemeinschaftsbildend. Sind Erinnerungen auch fragmentarisch und momenthaft, so erhalten sie nicht nur eine verstndliche Form und eine anschlussfhige Struktur durch den Zwang bzw. Selbstzwang zur schematisierten ußerung in einer allein auf die sozialen Strukturen der Welt gerichteten Sprache, sondern gerade auch durch den je eigenen individuellen Stil ihrer ußerung: Darber wird ihr flssiger, nur an das ,Erlebnissubjekt‘geknpfter Sinn auch stabilisiert, sie werden zum Gedchtnis. Ein soziales Gedchtnis, das durch Erzhlen, Vergegenwrtigen und kommunikativen Austausch entsteht, sich fr unterschiedliche Zeitrume stabilisiert, aber auch flssig bleibt, verleiht der Gegenwart einen Sinn, çffnet sie auf ihre divergenten Vorgeschichten und auf ihre noch unbestimmte, nicht durch Gesetze zu extrapolierende Zukunft hin. Darin, dass ußerungsformen und ihre Geschichten auf einer Bhne des sozialen Gedchtnisses und Gedenkens nachvollziehbar werden, das sich eigener und fremder Identitten bewusst ist, legt eine Gesellschaft der Individuen Rechenschaft untereinander und vor anderen ab, wird verantwortlich; dies nicht nur in einem normativen Sinn der Zurechnungsfhigkeit (man kann und darf ja zu sich sagen und darin auch auf Anerkennung hoffen), sondern auch im Sinne einer Verantwortlichkeit des Vollzugs dieses kommunikativen oder besser: narrativen Geschehens. ußerung ist auf Antwort abgestellt, bedarf der Antwort, ist angewiesen auf die Deutung ihrer eigenen Zeichen und Symbole, der Sinnstiftung durch die Fragen und Antworten anderer; dafr muss eine Form, ein ethischer Habitus gefunden werden. Die Anpassung an solche symbolischen Sinnwelten mit ihren Regeln, aber auch ihren interpretations- und transformationsbedrftigen Strukturen bedeutet immer auch eine Distanzierung gegenber der ,Welt‘ des Faktischen und gegenber dem ,Selbst‘. „Bewußtes Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt darf man wohl als den Grundakt menschlicher
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Zivilisation bezeichnen“.55 Darin liegt ein Frei-Raum als Vorbedingung fr die Ausbildung von Perspektiven der Gegenseitigkeit, die in Sinnhorizonte eingebettet sind, die als Horizonte keinen Anfang haben, sondern die vielmehr nur ,genealogisch‘ erinnernd erforscht und verschoben werden kçnnen. Als solche Vorbedingungen sind diese Freirume weder individuell noch gesellschaftlich isoliert, sondern entstehen aus den kommunikativen, dialogischen, narrativen Ausdrucksversuchen von Identitten und Individualitten, die in ganz unterschiedlichen individuellen, inter- und transindividuellen Konstellationen sich konstituieren kçnnen. Normativitt wird aus solcher ,Formativitt‘ im Dialog gewonnen, aber diese Formierungsprozesse bedrfen nicht nur sozialer Praktiken, sondern auch Verfahren der kritischen Kommunikation, Manifestierung und Institutionalisierung56 sowie persçnlicher berzeugung und einer eigenen Aufmerksamkeit fr die Stimmen im Konzert mit anderen. Den notwendigen Hintergrund bildet hier eine in der Alltagspraxis kritisch und verantwortlich gewordene Reflexivitt, deren Transformation nicht allein „mit Vernderungen der Bewußtseinsgehalte zu tun hat, sondern mit den Vernderungen des gesamten menschlichen Habitus“,57 also mit Lebensformen, die nach einem Ethos suchen. Der Standpunkt des Kritikers ist hier also immer nur im Konzert anderer Perspektiven mçglich, die fr sich selbst einen solchen kritischen Standpunkt gewinnen. Es wre dies ein kritisches Ethos, nicht nur eine Moral einseitiger Normierungs- bzw. Zivilisierungsprozesse ohne die kritischen Zsuren, die von Individuen gesetzt werden: von Individuen, die sich in der Auseinandersetzung mit anderen spiegeln und formen und darin die Reflexivitt von ,Dividuen‘ gewinnen.58 Dieses Ethos wre eine Voraussetzung dafr, sich in der Perspektivitt der eigenen Geschichten, verflochten mit den Geschichten anderer,59 zu erfahren. Das souverne Individuum bleibt immer auf die Soziett bezogen – in Aneignung und Abstandnahme, in einer Exzentrik, die nicht nur in einem exzentrischen Bewusstsein, sondern in dieser sozialen Form des Erinnerns verortet ist und so der Kritik zugnglich bleibt. 55 Aby Warburg in der Einleitung zu Mnemosyne, zitiert in Ernst Gombrich, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt a. M. 1984, S. 382. 56 Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedchtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identitt in frhen Hochkulturen, Mnchen 1999, Kap. 2. 57 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, S. 388. 58 Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 57, KSA 2, S. 76. 59 Vgl. Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Frankfurt a. M. 1985.
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Die Individualisierungsgeschichte hat ihren Ort in der Kulturgeschichte,60 zugleich bedarf die Kulturgeschichte jedoch auch einer genealogischen Sichtung. Ein solch kollektives Erinnerungsgeschehen beinhaltet die genealogische und darin kritische Erinnerung; sie hat die Einmaligkeit der Ereignisse unter Verzicht auf eine monotone Finalitt ausfindig zu machen; sie muß den Ereignissen dort auflauern, wo man sie am wenigsten erwartet und wo sie keine Geschichte zu haben scheinen – in den Gefhlen, der Liebe, dem Gewissen, den Instinkten; sie muß ihre Wiederkunft erfassen, nicht um die langsame Kurve einer Entwicklung nachzuzeichnen, sondern um die verschiedenen Szenen wiederzufinden, auf welchen die Ereignisse verschiedene Rollen gespielt haben.61
Es ist ein ,gelebtes Gedchtnis‘62, dessen Mitteilungsbedrftigkeit und -fhigkeit sich ihre Praxis suchen mssen: in einer genealogisch-hermeneutischen Kritik von Verstndigungsstrategien des Alltags, einer Kritik, die zu weiteren Fragen und Antworten auffordert. Dies wre mehr als ein Anspruch an den Prozess der Zivilisation – ein Anspruch an seine Verantwortlichkeit als annhernde Bestimmung dessen, was Zivilisation und Zivilisierung bedeuten kçnnte, ohne sie teleologisch durch bestimmte Habitusformen oder einen Typus des „souverainen Individuums“ deuten zu mssen. Dazu muss jedoch ein ,Selbst des Kritikers‘ bzw. ,der Kritiker‘ transparent bleiben, sich Fragen und Antworten stellen. Die Standpunkte und Perspektivik, das Ethos und deren Geschichte verleihen der Kritik und ihren Zielen erst berzeugungskraft und Wirkmchtigkeit. Fr die Verantwortung der Identitt der Kritik, fr ihre Herkunft und ihre reflexiv gewordene Geschichte drfen Personen, Orte und Geschichten der Kritik nicht aus den Verstndigungsversuchen ber Individuation und Zivilisie60 Vgl. Volker Gerhardt, Die Tugend des freien Geistes. Nietzsche auf dem Weg zum individuellen Gesetz der Moral, in: Simone Dietz (Hrsg.), Sich im Denken orientieren, Frankfurt a. M. 1996, S. 198 – 213, hier S. 204. 61 Michel Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders., Von der Subversion des Wissens, Mnchen 1974, S. 83 – 109, hier S. 83. 62 Vgl. „Was einen Platz im Funktionsgedchtnis [das ich ,gelebtes Gedchtnis‘ nenne; A. H] einer Gesellschaft hat, hat Anspruch auf immer neue Auffhrung, Ausstellung, Lektre, Deutung, Auseinandersetzung. Solche bestndige Pflege und Auseinandersetzung fhrt dazu, dass bestimmte kulturelle Artefakte nicht fremd werden und gnzlich verstummen, sondern ber Generationen hinweg revitalisiert werden durch die Vermittlung mit einer immer anderen Gegenwart“ (Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Mnchen 2006, S. 56). Dies msste sich dann jedoch auch in ein erlebtes, d. h. manifest gewordenes Gedchtnis der Kritik und der Modifikation von Erinnerung an anderen Erinnerungen transformieren lassen.
Rollen des Kritikers
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rung ausgeschlossen werden, wenn sie denn als Kritik unserer eigenen individuellen und kollektiven Zivilisierung gelten kçnnen soll.63 Der Weg genealogischer Kritik hat uns von zwei Kritikerpersçnlichkeiten zu Perspektiven der Kritik, von zwei genealogischen Erzhlungen unserer Moral- und Individualisierungsgeschichte zu den Perspektiven gefhrt, die Geschichte und ihre Reflexion in Erinnerung und Erzhlung auf Orientierungsrume fr Kritik in den Verflechtungen von Gesellschaft, Moral und ihren Bewegungen hin çffnen kçnnten. Die Praktiken dieser Perspektivierung und ihre Verantwortlichkeit selbst wieder perspektivieren zu kçnnen, wre Aufgabe einer zuknftigen Soziologie sozialer Prozesse und deren genealogischer Kritik.
63 Vgl. Sçren Stenlund, Philosophie und Kulturkritik, in: Zeitschrift fr Kulturphilosophie 1 (2007) Heft 2, S. 211 – 222, hier S. 217.
VI. Theoriekontexte
Kultur/en im Wandel denken. Zu den Voraussetzungen genealogischer und genetischer Reflexion Enrico Mller 1. Kulturwissenschaft als Moralgenealogie und Zivilisationsforschung Wer nach einem historischen Dokument sucht, das den eindrucksvollen Aufstieg der Kulturwissenschaften bis hin zu ihrer fraglosen Etablierung ankndigt und diese dabei in ersten Umrissen skizziert, wird nicht an Nietzsches Frçhlicher Wissenschaft vorbergehen kçnnen. Deren siebenter Aphorismus, berschrieben mit Etwas fr Arbeitsame, ist derart zwingend und hellsichtig, dass er innerhalb jeder Archologie der Kulturwissenschaft als eines der Grndungsdokumente angesehen werden darf. Sein Anfang sei darum in gekrzter Form auch den folgenden Erçrterungen vorangestellt: Etwas fr Arbeitsame. – Wer jetzt aus den moralischen Dingen ein Studium machen will, erçffnet sich ein ungeheures Feld der Arbeit. Alle Arten Passionen mssen einzeln durchdacht, einzeln durch Zeiten, Vçlker, große und kleine Einzelne verfolgt werden; ihre ganze Vernunft und alle ihre Wertschtzungen und Beleuchtungen der Dinge sollen an’s Licht hinaus! Bisher hat alles Das, was dem Dasein Farbe gegeben hat, noch keine Geschichte: oder wo gbe es eine Geschichte der Liebe, der Habsucht, des Neides, des Gewissens, der Piett, der Grausamkeit? Selbst eine vergleichende Geschichte des Rechtes, oder auch nur der Strafe, fehlt bisher vollstndig. Hat man schon die verschiedene Eintheilung des Tages, die Folgen einer regelmßigen Festsetzung von Arbeit, Fest und Ruhe zum Gegenstand der Forschung gemacht? Kennt man die moralischen Wirkungen der Nahrungsmittel? Giebt es eine Philosophie der Ernhrung? […] Sind die Erfahrungen ber das Zusammenleben, zum Beispiel die Erfahrungen der Klçster, schon gesammelt? Ist die Dialektik der Ehe und Freundschaft schon dargestellt? Die Sitten der Gelehrten, der Kaufleute, Knstler, Handwerker, – haben sie schon ihre Denker gefunden? Es ist so viel daran zu denken! Alles, was bis jetzt die Menschen als ihre „Existenz-Bedingungen“ betrachtet haben, und alle Vernunft, Leidenschaft und Aberglauben an dieser Betrachtung, – ist diess schon zu Ende erforscht?1 1
Friedrich Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 7, KSA 3, S. 378 f.
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Ist es nicht, ließe sich auf die letzte Frage mit sehr wahrscheinlicher Zustimmung Nietzsches auch heute noch antworten. Und kann es wohl auch nicht sein. Denn das Neuland, das ein solches Programm erçffnet, kann sowohl hinsichtlich seiner ,Objekte‘, seiner Interpretationspraktiken als auch seiner ,Subjekte‘ nicht mehr abschließend abgesteckt werden. Die eingeforderte Arbeitsamkeit richtet den Fokus von der Großaufnahme, dem universalgeschichtlichen Panoramablick, auf die Mikroperspektiven des kulturellen Geschehens. Sie basiert in ihrer Forderung nach neuen und anderen Blickwinkeln auf ein vermeintlich gegebenes Phnomen maßgeblich auf dem, was heute interdisziplinre Forschung genannt wird. Und sie fordert berdies zur permanenten Vergegenwrtigung ihrer Praxis, zur Selbstreflexion des Forschers angesichts der eigenen Involviertheit in die zu erforschenden Phnomene auf. Nietzsche hat mit diesem Aphorismus nicht zuletzt seine eigene Arbeit rekapituliert und deren weitere Richtung vorgegeben: den Weg vom organologischen Konzept einer homogenen, ethnisch umgrenzbaren Hochkultur als „Einheit des knstlerischen Stiles in allen Lebensusserungen eines Volkes“2 hin zum fortwhrenden Vergleich des jeweils „Menschlich-Allzumenschlichen“ in den verschiedenen Kulturen. Den Weg von einer morphologisch interpretierten Geschichte, die „blht“, „wchst“ und „verfllt“, hin zu den ebenso radikalen wie differenzierten genealogischen Umwertungen der Sptzeit. Und nicht zuletzt den Weg von der kulturreformatorischen Missionsgebrde der Werke im Umkreis der Geburt der Tragçdie hin zur Diagnostik und Symptomatologie der spteren philosophischen Kulturkritik.3 Erstaunlich ist ferner der Ausgangspunkt des Aphorismus: Ersichtlich wird hier vor allem, dass all das, was zuvor (auch von Nietzsche) ber die Begriffe der ,Geschichte‘ und der ,Kultur‘, mithin eben kulturhistorisch entfaltet wurde, nunmehr in Gestalt eines umfassenden Studiums der Moral problematisiert wird. Hlt man sich etwa die Antinomie von deutschem Kulturbegriff und franzçsischem Zivilisationskonzept vor Augen, die Norbert Elias am Beginn seines Hauptwerks entwickelt, ließe sich sagen, dass Nietzsche, der zwar bis zuletzt am Leitbegriff der Kultur festhlt, innerhalb seiner Denkbewegung von der eingrenzbaren Kulturgeschichte zur interkulturellen Zivilisationsforschung in genealogischer Absicht bergeht. 2 3
Nietzsche, David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, KSA 1, S. 163. Zum Kulturverstndnis in Nietzsches Philosophie vgl. zuletzt Andreas Urs Sommer (Hrsg.), Nietzsche – Philosoph der Kultur(en), Berlin 2008.
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Ebendies, nicht den Zerfall der einen Geschichte in zahlreiche voneinander entkoppelte Bindestrich-Geschichten, sondern die ffnung des Blicks auf die Genese der sich in ihr ereignenden Vergesellschaftungs- und Wahrnehmungsformen, hat auch das groß angelegte Projekt der Zivilisationsforschung von Norbert Elias angestrebt. Wie Nietzsche die menschlichen und gesellschaftlichen Verhltnisse ber eine Heuristik der Nçte und Bedrfnisse erschließt, so stellt sich bei Elias das „Problem der Zivilisation“ in Gestalt einer „Untersuchung der Zwnge, denen Menschen ausgesetzt sind.“4 Heteronom ist der Mensch demnach zunchst auf der elementaren Ebene seiner animalischen Bedrfnisse, die nicht nur Hunger oder die basale Triebstruktur umfassen, sondern auch den Zwang des lterwerdens, des Verlangens nach Zuneigung ebenso wie das Aufwallen des Hasses betreffen. hnlich steht es mit den archaischen Zwngen, die aus der Abhngigkeit von außermenschlichen Naturgegebenheiten resultieren, sei es der Zwang zur Nahrungssuche, zum Schutz gegen die Witterung oder sonstige Anstrengung, sich mit den Umstnden der natrlichen Umgebung zu arrangieren. Erst von hier aus nimmt Elias die im engeren Sinn kulturspezifischen Zwnge in den Blick, wie jene, „die Menschen beim Zusammenleben aufeinander ausben“.5 Das Arsenal der „gesellschaftlichen Fremdzwnge“ reicht vom Steuermonopol des Staates bis hin zu den Erfordernissen, denen das Individuum in jedweder Gruppenbeziehung ausgesetzt ist. Von ihnen ausgehend formieren sich schließlich die Individualzwnge in Form einer durch Erfahrung und Lernen gewonnenen „Selbstkontrollapparatur“. Hier hat das Individuum die gesellschaftlichen Disziplinierungen so weit verinnerlicht, dass sie, zum „Habitus“ geworden, Teil seiner mentalen und emotionalen Ausstattung und von der eigenen Persçnlichkeit kaum mehr unterscheidbar sind. Erst im Zusammenspiel dieser vier Arten von Zwngen werden Zivilisationsprozesse fr Elias berhaupt sichtbar. Ob solche langfristigen Prozesse typologisch in die Richtung zunehmender oder abnehmender Differenzierung und Integrierung verlaufen oder in Mischtypen, ist fr die folgende Untersuchung angesichts eines grundlegenderen Umstands nachrangig: Elias hat seine soziologische Ausgangsperspektive ebenso aus der Erfahrung stetigen Wandels heraus gewhlt wie Nietzsche sein philosophisches Projekt als das Problem des „ewige[n] 4 5
Elias, Zivilisation und Informalisierung (1978), in: ders., Studien ber die Deutschen: Machtkmpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Michael Schrçter, Frankfurt a. M. 1989, S. 44 ff. Ebd., S. 46.
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und alleinige[n] Werden[s]“6 zu fassen versucht. Beide Projekte haben hierbei nicht zufllig den Anschluss an den faszinierenden frhen Außenseiter der europischen Geistesgeschichte, an Heraklit gewhlt. Und eben damit haben sie sich auch in ein polemisches Verhltnis zur fr die europische Wissenskultur prgenden Tradition des Parmenides gesetzt. Denn philosophiegeschichtlich vollzieht sich fr Nietzsche durch Parmenides und dessen „in ihren Folgen verhngnißvolle erste Kritik des Erkenntnißapparats“7 die Grndung und Begrndung des europischen Vernunftbegriffs. In ihr zeigt sich paradigmatisch die Exklusion und Subordination der als passiv und korrumpierbar gesetzten Sinnlichkeit von Seiten einer Vernunft, die in Gestalt des reinen Denkens (qua Logik) allein zur wahrheitstauglichen Seinserschließung (qua Ontologie) befhigt ist. Im Anspruch auf Universalitt und normative zeitlose Geltung entzieht sich Vernunft seitdem einer angemessenen Reflexion auf die von permanenten Vernderungen gekennzeichneten Lebensvollzge. Darin wird sie nach Nietzsche restriktiv und fr das Leben gefhrlich – sie verliert seit Parmenides „die Theilnahme fr die Phnomene“.8 Elias wiederum hat die Zustandsreduktion „heutiger Theoretiker der Soziologie“, nach der sich „Gesellschaften gewçhnlich immer in einem Gleichgewichtszustand befinden, so dass die lange Gesellschaftsentwicklung der Menschheit als eine Kette statischer Gesellschaftstypen erscheint“, mit „der eleatischen Auffassung vom Flug des Pfeiles“ verglichen, nach der ein solcher Flug „als eine Serie von Ruhezustnden“ vorgestellt wird und sich mithin eigentlich nicht bewege.9 Die funktionale Analyse der Gesellschaft geht von Daten aus, die Zustandsreduktionen und damit eben nichts Gegebenes sind. Dies ist der neuralgische Punkt, von dem aus die heraklitische Umorientierung auf eine Erforschung der Prozesse erfolgt. Um diese fundamentale Umstellung des Denkens vom Sein auf das Werden soll es im Folgenden gehen. Bei Nietzsche und Elias wird der Wandel nicht mehr als akzidentelle Vernderung an einem unvernderlichen Substrat gefasst und ebenso wenig ber eine ihm inhrente Teleologie beschrieben. Um die Voraussetzungen und Eigenheiten genealogischer und genetischer Kulturinterpretation sichtbar zu machen, sind fr die anste6 7 8 9
Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 824. Ebd., S. 843. Ebd., S. 844. Elias, ber den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. I.: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, 20., neu durchges. und erw. Aufl., Frankfurt a. M. 1997, S. 28 f.
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hende Untersuchung die Leitbegriffe der ,Geschichte‘, der ,Evolution‘ und der ,Macht‘ als gemeinsame Bezugspunkte gewhlt worden. Beide Denker haben diese Leitbegriffe aus ihren naturgemß unterschiedlichen Denkhorizonten und Sozialisationen aufgenommen, die traditionellen Ausprgungen derselben kritisiert und sie infolge dieser Kritik im Ganzen des eigenen Ansatzes umgedacht. Die gemeinsamen Grundzge dieses Umdenkens unter unterschiedlichen Voraussetzungen sollen im Folgenden herausgearbeitet werden.
2. Geschichte und Geschichtlichkeit: Zur Historisierung des Denkens „Mangel an historischem Sinn“ war nach Nietzsche ein, ja vielleicht der „Erbfehler aller Philosophen“.10 Fr Elias ist er im gleichen Maß ein kardinales Problem nicht nur des soziologischen Establishments, sondern vielmehr der ihn umgebenden Wissenschaftskultur im Ganzen. Seine Diagnose, nach der man eine Frage „heute gewçhnlich“ begrbt, „ehe man sie gestellt hat, indem man sie als ,bloß historische‘ Frage der sogenannten ,systematischen‘ gegenberstellt“,11 beschreibt eine noch immer vorherrschende einseitig szientistische Interpretation des Wissensbegriffs. Beiden geht es in ihrer Kritik nicht allein um den hermeneutischen Befund, nach dem auch wissenschaftliche Fragestellungen und die mit ihnen jeweils verbundenen Auffassungen von dem, was ein System sei, einer wirkungsgeschichtlichen berlieferung angehçren, aus der sie nicht ohne Sinnverlust extrahiert werden kçnnen. Mehr als dies ist ihr Ausgangspunkt die lebensweltliche Organisation von Zeitlichkeit in der Geschichte selbst und damit die jeweilige Geschichtlichkeit des Menschen, die den ußersten Sinnhorizont dafr bereit stellt, in dem berhaupt etwas als fragwrdig erachtet und in entsprechender Weise Antworten zugefhrt werden kann. Nietzsche und Elias haben ihr Geschichtsverstndnis zunchst auf dem Weg einer Auseinandersetzung mit den zeitgençssischen Methoden der Historiographie bzw. der Geschichtsphilosophie entfaltet. Beide setzten sich zunchst mit spezifischen Darstellungsformen des Historischen auseinander, um schließlich jenseits der Beschreibungsmçglichkeiten von Verlaufsformen der 10 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, 1. Von ersten und letzten Dingen, § 2, KSA 2, S. 24 f. 11 Elias, Was ist Soziologie?, Mnchen 21971 (= Grundfragen der Soziologie 1), S. 16.
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Geschichte die Geschichtlichkeit als erfahrungskonstituierende Grçße in den Blick zu nehmen. 2.1. Nietzsche in Basel: Das kulturgeschichtliche Panorama Als Jacob Burckhardt im November 1870 in Basel drei çffentliche Vortrge ber „historische Grçße“ und ber „Glck und Unglck in der Weltgeschichte“ hielt, fhlte sich der junge Professor und Neuankçmmling Nietzsche als einer der Zuhçrer geradezu persçnlich angesprochen. In einem Brief heißt es, Burckhardts Referate seien „vçllig aus unserm Denk- und Gefhlskreise heraus“12 gehalten. Zugleich glaubt er, „der Einzige“ unter smtlichen Zuhçrern zu sein, der „die tiefen Gedankengnge mit ihren seltsamen Brechungen und Umbiegungen, wo die Sache an das Bedenkliche streift“, nachvollzogen habe.13 Es ist bemerkenswert, dass Burckhardts geschichtstheoretische Selbstreflexionen, die spter unter dem Titel Weltgeschichtliche Betrachtungen Berhmtheit erlangen, erst zeitgleich mit den ersten Vorarbeiten zu einer griechischen Kulturgeschichte – und damit vergleichsweise spt – einsetzen. Jahrzehnte nach den anerkannten Meisterwerken Die Zeit Constantins des Großen (1853), Cicerone (1855) sowie Die Kultur der Renaissance in Italien (1860) scheint erst die anstehende Auseinandersetzung mit den Griechen eine Klrung des eigenen Geschichtsverstndnisses zu erzwingen.14 Damit sind die Parallelen zu Nietzsche angezeigt. Dessen Antrittsvorlesung ber Homer und die klassische Philologie kulminierte bekanntlich in einem Philologiekonzept, das anstelle einzelwissenschaftlicher Profilierung eine philosophische Fundierung der Philologie forderte. Der Umgang Nietzsches mit Burckhardt erhlt seine besondere Bedeutung vor diesem Hintergrund einer beinahe simultan einsetzenden Hinwendung zur Grundlagenreflexion auf die eigenen Arbeiten, die ihrerseits als Historiologie auftritt. Burckhardts geschichtstheoretische Selbstvergewisserung und Nietzsches zukunftsphilologisches Projekt verdanken sich beide einem sthetisch formulierten Kulturbegriff und sind in Konsequenz dessen polemisch gegen die innerdisziplinren Restriktionen einer als Fachwissenschaft auftretenden Geschichte beziehungsweise Philologie gerichtet. Nietzsches Auseinandersetzung mit den 12 Nietzsche an Carl von Gersdorff, 7. November 1870, KSB 3 [Nr. 107], S. 155. 13 Ebd. 14 Vgl. dazu Karl Christ, Jacob Burckhardts Weg zur „Griechischen Kulturgeschichte“. In: Historia 49 (2000), S. 101 – 125.
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Modi der Geschichtsschreibung in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben grndet in dem an Burckhardt anschließenden und bereits ber diesen hinausreichenden credo, dass in der Geschichtlichkeit des Menschen auch seine Zukunftsfhigkeit angelegt sei. Nietzsches eigenes historisches Philosophieren – so unsere These – nimmt bis hin zu den genealogischen Umwertungen der Sptzeit in entscheidenden Punkten ihren Anfang bei historiologischen Positionsbestimmungen Burckhardts. Die Ablehnung einer teleologischen Geschichtsauffassung stellt zentrale Begriffe der historischen Beschreibung in Frage. Gemeint sind dabei nicht nur das dem Entwicklungsgedanken inhrente emphatische Konzept der ,Vollendung‘ oder des ,Zum-Ziel-Gelangens‘, sondern schlichte, aber folgenreiche Kategorien wie die von ,Anfang‘ und ,Ende‘. Whrend das Absehen von einem vermeintlichen Ende oder Ziel des historischen Prozesses vergleichsweise einfach scheint und bereits vor Burckhardt praktiziert worden ist, wird die Skepsis gegenber dem Erklrungswert eines Anfangs von jenem erstmals formuliert und umgesetzt. Ausgehend von der Erfahrung, dass dasjenige, „was wir als Anfnge glauben nachweisen zu kçnnen […], ohnehin schon ganz spte Stadien“ sind, heißt es im Einleitungsteil der Weltgeschichtlichen Betrachtungen: berall im Studium mag man mit den Anfngen beginnen, nur bei der Geschichte nicht. Unsere Bilder derselben sind meist doch bloße Konstruktionen, […], ja bloße Reflexe von uns selbst.15
Geschichte mit dem Anfang der berlieferung beginnen zu lassen, ist offenkundig willkrlich. Doch auch der Konstruktions- und Selektionsprozess, den jede narrative oder theoretische Setzung von Anfngen und Ursprngen unweigerlich impliziert, prfiguriert die gesamte Struktur der nachfolgenden Geschichtsdarstellung. Der Fokus auf den vermeintlichen Zauber des Anfangs erklrt keine geschichtlichen Zusammenhnge, er verfhrt vielmehr zur Gleichsetzung von Ursprung und Wesen. Bei der Abfassung der Geburt der Tragçdie war auch Nietzsche der Verfhrungsgewalt eines derartigen Erklrungskonstrukts augenscheinlich noch erlegen. Vom dithyrambischen „Ursprung“ des tragischen Geschehens schloss er auf deren „Wesen“, vom „ursprnglich“ als Satyr verkleideten ekstatischen Snger auf eine Tragçdie, die „wesenhaft“ Satyrchor ist, von der „ursprnglichen“ Beziehung zwischen Satyr und Dionysos wiederum auf die dionysische Substanz aller spteren Bhnengestalten – nur aus der „Geburt“ 15 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 7, hrsg. von Albert Oeri und Emil Drr, Basel 1929, S. 4.
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der Tragçdie konnte ihr „Geist“ verstndlich werden. Dass dieses Argumentationsmuster16 Mitte der siebziger Jahre seine Selbstverstndlichkeit verloren hat, ist dem direkten Einfluss Burckhardts geschuldet und wird unter anderem bereits in der unvollendeten Studie zu den frhgriechischen Philosophen ersichtlich. Die „Fragen nach den Anfngen der Philosophie“ sind im Hinblick auf ein Verstndnis der Eigenheiten des vorsokratischen Denkens fr Nietzsche jetzt „ganz gleichgltig, denn berall ist im Anfang das Rohe, Ungeformte, Leere und Hssliche“. Ebenso wie die Zurckfhrung der griechischen Mythologie auf „physikalische Trivialitten […] als auf ihre Uranfnge“wenig oder nichts erklre, ebenso sei auch die Auslegung der ersten griechischen Philosophen am Leitfaden persischer oder altgyptischer Weisheit und Wissenschaft, welche „vielleicht ,originaler‘ und jedenfalls lter sind“, keine Erklrung des eigentlichen Phnomens als vielmehr deren chronologisch legitimierte sachliche Reduktion.17 Aus der Ablehnung des Ursprnglichkeitstheorems erwchst die generelle Skepsis gegenber einer bloß diachron verfahrenden Geschichtsschreibung. Burckhardts kulturgeschichtlicher Ansatz ist demgegenber auf Synchronie ausgerichtet, anstelle von Verlaufsbeschreibungen und der Darstellung von Ereignisfolgen ist eine historische Synopse, ein „Panorama“ angestrebt. Die hierbei auftretende Diskrepanz zwischen synoptischem Denken und dem diskursiven Voranschreiten jeder Darstellung, ihrer unvermeidlichen Aufeinanderfolge von Stzen, hat Burckhardt selbst deutlich empfunden und durch eine Reihe von Bild- und Anschauungsmetaphoriken zu verdeutlichen und zu mildern versucht.18 Geschichte wird jetzt als ein durch Wechselwirkung von Grundelementen bestehendes und sich vernderndes Gebilde verstanden. Grundelemente sind die drei „Potenzen“ Staat, Religion und Kultur – in ihrer permanenten Interaktion vollzieht sich die geschichtliche Bewegung. Die Interaktion ist ihrerseits nicht die eines or16 Andreas Urs Sommer, Der Geist der Historie und das Ende des Christentums. Zur „Waffengenossenschaft“ von Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck, Berlin 1997, S. 17 – 43, weist auf die anfngliche Gemeinsamkeit eines emphatischen Ursprungskonzepts in den Anstzen Overbecks und Nietzsches hin und arbeitet mit Blick auf die Antrittsvorlesungen beider (S. 17 – 43) die normativen Implikationen desselben heraus. 17 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 806 f. 18 Yoshihiko Maikuma, Der Begriff der Kultur bei Warburg, Nietzsche und Burckhardt, Kçnigstein 1985, rekonstruiert Burckhardts Kulturverstndnis vom Leitgedanken „Die Idee der humanistischen Bildung und die Totalitt der Anschauung“ (S. 221 – 339) aus und parallelisiert gezielt Burckhardts Ethos der Schau, seine Praxis der Koordination und seine malende Rhetorik.
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ganischen Funktionierens, sondern die einer strukturell gestçrten Kommunikation: „Die drei Potenzen sind unter sich hçchst heterogen und nicht koordinierbar […].“19 Die Pathologisierung jener Wechselwirkung unter den Potenzen mag zwar ihrerseits weltanschaulich motiviert und damit fragwrdig erscheinen, sie hat Burckhardt indessen gerade fr die Dynamik historischer Prozesse entsprechend sensibel gemacht. Es liegt nahe, dass Nietzsche, der vor dem Hintergrund seines fundamentalsthetischen Ansatzes und seines Kulturkonzeptes Religion, Philosophie und Wissenschaft als einander verwandte knstlerische Sinnstiftungen begriff, fr die Burckhardtsche Problematisierung der Geschichte aufgeschlossen war. Die Unterscheidung der Komplexe ,Staat‘ – ,Politik‘, ,Mythos‘ – ,Religion‘, ,Kunst‘ – ,Wissenschaft‘ hat er sich zunchst gnzlich zu eigen gemacht. Zahlreiche frhe Nachlassnotizen belegen, wie er bei der Erschließung der griechischen Antike immer wieder mit diesen grundlegenden Ausgangsdifferenzen arbeitete.20 Doch anders als Burckhardt scheint Nietzsche die geschichtskonstituierenden Potenzen nicht mehr als isolierte, sich erst im Nachhinein beeinflussende Grçßen vorauszusetzen, sondern eher als vorlufige und hypothetische Setzungen zu erachten. Kultur und Staat bilden insofern ebenso wenig einen Gegensatz wie Wissenschaft und Religion. Stattdessen sind sie Phnomenbereiche, die einander wechselseitig dynamisieren, Bestandteile eines relationalen Gefges, in dem sich ein Teil nur vor dem Hintergrund eines anderen abhebt und erst durch dieses SichAbheben thematisch wird. Burckhardt versuchte zwar Geschichte gegen das monokausale diachrone Entwicklungsschema als Wechselwirkung zu verstehen, tat dies jedoch um den Preis einer Isolation und Absolutsetzung der drei Potenzen. Um die historische Bewegung in Gang zu setzen, musste er die absolut gesetzten Bereiche gegeneinander konzipieren. Um die Geschichte in Gang zu halten, musste er schließlich auch innerhalb der Binnendifferenzierung seiner Darstellung die Teleologie, wenngleich in morphologischem Gewand, wieder einfhren. Ungeachtet dieser theoretischen Inkonsequenzen hat Nietzsche sich ohne Zweifel von Burckhardts Versuch, ein synchron organisiertes Netz von Beziehungen zu stiften, beeindrucken und inspirieren lassen.21 Whrend Geschichtsschreibung „bis jetzt vom Stand19 Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 20. 20 Vgl. dazu u. a. Nietzsche, Nachlaß 1869 – 1874, KSA 7, 3[73], S. 79 f.; 3[87], S. 84; 5[95], S. 119; 6[18], S. 135 f.; 7[85], S. 158. 21 Egon Flaig, Angeschaute Geschichte. Zu Jacob Burckhardts „Griechischer Kulturgeschichte“, Rheinfelden 1987 (Wissenschaftsgeschichte 8), S. 35, rckt Burckhardts Ansatz bereits „in die Nhe des Strukturalismus“, da dessen auf Synchronie ausgerichteter Fokus mit der „Depotenzierung diachronischer Kausalketten verbun-
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puncte des Erfolges und zwar mit der Annahme einer Vernunft im Erfolge“22 aus betrieben worden sei, wurde durch die Betrachtung des historischen Feldes als eines Beziehungsgeflechtes der Raum zu unzhligen Neuperspektivierungen der Vergangenheit erçffnet. Die Potenzenlehre scheint Nietzsche dabei vornehmlich als terminologisch noch unterregulierte Interdependenztheorie aufgefasst, aufgenommen und philosophisch entgrenzt zu haben. Burckhardt wiederum hat Nietzsches Verfahren der spekulativen Historisierung philosophischer Themen, ja der Philosophie selbst durchaus noch in den Blick bekommen. Er hat sie jedoch lediglich als originelle, zuspitzende Form von Geschichte, als Erçffnung „erstaunlicher historischer Perspectiven“, nicht mehr aber als eigenstndigen Ansatz einer alles verzeitlichenden Philosophie fassen kçnnen. In einem Antwortschreiben auf die bersendung der Frçhlichen Wissenschaft konstatiert er: „Im Grunde wohl lehren Sie immer Geschichte […].“23 Dass sich der Basler Kulturhistoriker fr den genealogischen Perspektivismus sensibel zeigt, um gleichzeitig dessen philosophische Relevanz zu verkennen, ist wiederum dem eigenen methodischen Selbstverstndnis geschuldet. Jener Abschnitt der Welthistorischen Betrachtungen, der von der wechselseitigen Bedingtheit der Potenzen handelt, setzt mit einer Grundlagenreflexion an, in der die Begriffsbildung in der Philosophie und in der Geschichte verglichen und explizit voneinander abgegrenzt werden: Philosophische und historische Begriffe sind wesentlich verschiedener Art und verschiedenen Ursprungs; jene mssen so fest und geschlossen sein als mçglich, diese so flssig und offen als mçglich gefasst werden.24
Angesichts einer „schwebend und in bestndigen bergngen und Mischungen“ existierenden Geschichte charakterisiert Burckhardt die Begriffe des Historikers, so sie angemessen sein sollen, durch ,Flssigkeit‘ und ,Offenheit‘. Kein Gedanke scheint geeigneter, die Einflusssphre Burckhardts fr das erwachende philosophische Selbstverstndnis Nietzsches zu umreißen, als dieses paradoxe Verstndnis vom flssigen Begriff. Die bisher geden“ sei: „Die Herabminderung des Ereignisses auf einen Indizienstatus erfolgt aus der Einsicht, dass das strukturelle Ganze, welches erst das Ereignis eintreten ließ und ihm eine Verlaufsform gab, eine hçhere systematische Stelle einnimmt als das Ereignis selber.“ 22 Nietzsche, Nachlaß 1875 – 1879, KSA 8, 5[58], S. 56. Burckhardt wird in diesem Fragment ausdrcklich als Alternative zu dieser Tendenz benannt. 23 Burckhardt an Nietzsche, 13. September 1882, KGB 3.2 [Nr. 144], S. 288 f. 24 Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 62.
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zeigten Strukturparallelen und Anknpfungspunkte lassen sich in ihm verdichten. Burckhardt hat den Begriff als das Werkzeug des Philosophen noch in einem durchaus traditionellen Sinn verstanden und in genau diesem Sinn auch fr die Philosophie eingefordert. Er verstand ihn als eine durch vorhergehende Definition gleichsam abgesicherte Abstraktionsleistung. Fr sein eigenes Anliegen indessen strebte er eine narrative adaeqatio ad rem an – die Bewegung der Geschichte soll durch Begriffe nicht still gestellt, sondern gezeigt und nachvollzogen werden.25 Zugleich aber hat Burckhardt sein Verfahren als konzeptionell defizitr eingestuft. Den eigenen Beitrag innerhalb der Geschichtsschreibung, der ohnehin schon „unwissenschaftlichsten aller Wissenschaften“ erachtete er als „systematische Harmlosigkeit“.26 Whrend Burckhardt fr die mçglichen Konsequenzen seines Ansatzes eigentmlich blind blieb, ist Nietzsches Philosophie durch eine radikale Umwertung an diesem neuralgischen Punkt gekennzeichnet. Eine Umwertung freilich, die nach unserer Interpretation ihrerseits als das Ergebnis einer andauernden, an Burckhardts berlegungen und Interpretationspraktiken ausgerichteten Reflexion auf Geschichte und deren Darstellbarkeit zu fassen ist. Ergebnis dieser Reflexion ist die Transformation der Philosophie zur Historie: „Die Philosophie, so wie ich sie allein noch gelten lasse, als die allgemeinste Form der Historie, als Versuch das heraklitische Werden irgendwie zu beschreiben und in Zeichen abzukrzen […].“27 2.2. Elias in Breslau: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie In der Konsequenz hnlich, jedoch unter denkbar anderen Voraussetzungen vollzieht sich die Transformation der Philosophie zur Geschichte in Leben und Denken von Norbert Elias. Dessen Dissertation verstand sich zunchst explizit als ein geschichtsphilosophischer Beitrag und markierte zugleich den Abschluss und akademischen Hçhepunkt seines Breslauer Philosophiestu25 Eine Diskussion und Analyse der stilistischen beziehungsweise rhetorischen Eigenheiten des kulturgeschichtlichen Schreibens Jacob Burckhardts gibt Linda Simonis, Genetisches Prinzip. Zur Struktur der Kulturgeschichte. Tbingen 1998 (Communicatio, Bd. 18). S. 61 – 125. 26 Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 62. 27 Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, KSA 11, 36[27], S. 562. Vgl. dazu Martin Stingelin, Historie als „Versuch das heraklitische Werden […] in Zeichen abzukrzen“. Zeichen und Geschichte in Nietzsches Sptwerk, in: Nietzsche-Studien 22 (1993), S. 28 – 41, der Nietzsches Genealogie auf ihre rhetorischen Implikationen und semantischen Strategien untersucht.
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diums. Faktisch aber ist mit der Arbeit Idee und Individuum. Ein Beitrag zur Philosophie der Geschichte 28 das abrupt anmutende Ende einer bestimmten Denkungsart angezeigt, mit dem biographisch die Abwendung von der Philosophie und die Hinwendung zur von da an soziologisch entfalteten Geschichte verbunden ist. Persçnlich und akademisch hat die Beziehung von Elias zu seinem Breslauer Lehrer und Doktorvater Richard Hçnigswald mit dieser Arbeit bekanntlich in einem „ganz echten und kaum heilbaren Krach geendet“.29 Inhaltlich war mit ihrem problematischen Ende die fr Elias zunchst vage und dennoch weitreichende Einsicht verbunden, dass „die Sache mit dem a priori nicht stimmte“. In Konsequenz bedeutet dies nicht mehr und nicht weniger als die Negation der eigenen philosophischen Sozialisation im Geist des Neukantianismus. Auch spter, ja bis zuletzt, wird Elias Philosophie weitgehend als Synonym fr eine Erkenntnislogik erachten, die als transzendentale Methode der wissenschaftlichen Gegenstandskonstitution und ihrer Begrndung auftritt.30 Hçnigswald, dem Elias gleichwohl bescheinigen wird, von ihm „denken gelernt“ zu haben, zhlt philosophiehistorisch zur Sdwestdeutschen Schule des Neukantianismus. In ihr war in der Nachfolge Wilhelm Windelbands und Heinrich Rickerts das Bemhen um die Ausweitung der erkenntniskritischen Aprioristik von Geltungsfragen hin zu Fragen des ,Sollens‘ und des ,Werts‘ und damit das Bemhen um die Formulierung einer erkenntnislogisch fundierten Kulturund Geschichtsphilosophie vorherrschend. Als produktiv hat sich in ihr vor allem die methodologische Unterscheidung zwischen ,nomothetischer‘ 28 Zur komplizierten berlieferungsgeschichte des Texts vgl. Peter-Ulrich Merz-Benz, Verstrickt in Geschichte. Norbert Elias in seiner Breslauer Zeit, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.), Norbert Elias und die Menschenwissenschaften: Studien zur Entstehung und Wirkungsgeschichte seines Werkes, Frankfurt a. M. 1996, S. 40 – 57, Anm. 36. 29 Elias, Notizen zum Lebenslauf, in: ber sich selbst, Frankfurt a. M. 1990, S. 120. 30 Die sich durch Elias’ Gesamtwerk ziehende Polemik gegen die Philosophie qua Erkenntnistheorie qua Logik qua Ontologie ist von dieser etwas einseitigen Ausgangsposition her zu verstehen. Zur Prgung durch Hçnigswald gehçrte auch die vorschnell anmutende, auch spter nicht mehr revidierte Abgrenzung gegenber der Phnomenologie Husserls, der Existenzphilosophie Jaspersscher Prgung oder der Existentialanalytik Heideggers als „Spekulation“ und „gedankliche Unsauberkeit“ (Elias, Notizen, S. 121). Das Paradox sei hier nochmals herausgearbeitet: Whrend Kritik an der Philosophie bei Elias sich weitgehend auf (begrndeten) Widerstand gegen die neukantianische Vereinseitigung der Philosophie beschrnkt, werden jene philosophischen Alternativen, die in Deutschland zeitgleich gegen den Neukantianismus antreten, von Elias wiederum mit Hçnigswald als „indiskutabel“ abgetan. In der Nicht-Zurcknahme dieser frhen Wertungen im Sptwerk ist somit auch die Grenze der Philosophie-Kritik von Elias angezeigt.
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Natur- und ,ideographischer‘ Geschichtswissenschaft erwiesen. Der Begriff des ,Gesetzes‘ bleibt hierbei den allgemein fassbaren Grundbestimmungen der Natur vorbehalten, whrend fr die Logik der Geschichte die „Gestalt“ als „das einmalige Geschehen in seiner Besonderheit und Individualitt“31 konstitutiv ist. Um die materiale Einmaligkeit der geschichtlichen Tatsachen berhaupt wissenschaftsfhig bzw. geschichtsphilosophisch artikulierbar zu machen, bedarf sie der Abbildung auf eine allgemein fassbare Bezugsgrçße. Die Sdwestdeutsche Schule hat als eine solche Bezugsgrçße den objektiv fassbaren ,Wert‘ zur Geltung gebracht und in den Mittelpunkt ihres Verstndnisses der Kulturwissenschaft gerckt. Kultur ist nach diesem Verstndnis, das Windelband, Rickert und Hçnigswald teilen und zur Voraussetzung auch ihres Geschichtsbegriffs machen, die „Gesamtheit der Objekte, an denen anerkannte Werte haften.“32 Die Arbeit des Geschichtsund Kulturwissenschaftlers besteht dann darin, die jeweilige Singularitt des geschichtlichen Faktums so mit den allgemeine Geltungskraft besitzenden Werten zu vermitteln, dass sie sich zu einem erkenntnishaften Gesamtzusammenhang, dem historischen Prozess verbinden. Dergestalt sind die methodischen Voraussetzungen, unter denen Elias seine Arbeit unter dem bezeichnenden Titel Idee und Individuum aufgenommen hat. Hçnigswald war fr Elias zunchst darin prgender Lehrer, dass er das Konzept der Subjektivitt ber den Begriff der ,Monade‘ als nunmehr konkrete, individuell und geschichtlich geprgte Subjektivitt zu fassen, zu bestimmen und letztlich zu begrnden versuchte: In der damit fr das Subjekt gewonnenen konstitutiven Offenheit und Bezogenheit auf die Welt hin hat Elias den Raum fr sein eigenes protosoziologisches Forschungsinteresse finden kçnnen. Die Etablierung einer Struktur des historischen Prozesses im Wechselverhltnis von kontingentem Ereignis bzw. Individuum und der es ermçglichenden Ordnung im Ganzen vollzieht sich bei ihm anfangs noch in weitgehender bereinstimmung mit Hçnigswald – sie vollzieht sich in Form eines stufenweise gewonnenen und sich dabei verdichtenden Ereigniszusammenhangs. Eben diese vom Lehrer entwickelte Konzeption einer Erlebnissubjektivitt wurde Elias mehr und mehr zum Anlass, einerseits die transzendentallogischen Voraussetzungen des Subjekts berhaupt zur Disposition und 31 So und hnlich in Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Freiburg 1896, S. 23 ff. sowie ders., Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Freiburg 1899, S. 16. 32 Rickert, Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, S. 258.
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andererseits in engem Zusammenhang damit auch den berzeitlichen Geltungscharakter der Werte in Frage zu stellen. Erst in der Endphase seiner Arbeit setzte sich dann eine in Teilen bereits soziologisch motivierte Einsicht durch, mit der Elias nicht nur die Konzeption seines eigenen Projekts weitgehend preisgibt, sondern auch in die offene Konfrontation mit Hçnigswald gert. Fr ihn wurde seinerzeit deutlich, wie es in einer spten Rekapitulation der Breslauer Zeit heißt, dass alles, was Kant als zeitlos und vor aller Erfahrung gegeben auffasste, sei es die Vorstellung einer Kausalverbindung, die der Zeit oder die natrlicher und moralischer Gesetze, zusammen mit den entsprechenden Worten von anderen Menschen gelernt werden mssen, um im Bewusstsein des Einzelnen vorhanden zu sein. Als gelerntes Wissensgut gehçren sie also zum Erfahrungsschatz eines Menschen.33
Fr die Genese des eigenen Denkansatzes ist diese Umakzentuierung von entscheidender Bedeutung. In der Tat sind mit ihr bereits wichtige Voraussetzungen fr die spter entwickelte Prozesssoziologie angezeigt.34 Die Leugnung der logisch-apriorischen Fundierung des Subjekts vollzieht sich auf dem Weg einer pragmatischen Verzeitlichung, Versprachlichung und Vergemeinschaftung des bisher atomistisch interpretierten Bewusstseins. Was sich hier im Medium des Zweifels an der eigenen akademischen Sozialisation erstmals artikuliert, ist zugleich eine erste Andeutung auf das sptere zivilisationsgeschichtliche Forschungsprojekt. Halten wir dies fest: Unabdingbare Voraussetzung fr die Etablierung genetischer und genealogischer Denkformen sind sowohl bei Nietzsche als auch bei Elias die frh erarbeitete Erfahrung der Geschichtlichkeit des Menschen und die Anerkennung der aus ihr resultierenden Konsequenzen. Nach ihnen ist das Bewusstsein kein Ausgangspunkt historischer Reflexion mehr – vielmehr hat es selbst seinen Ort in der Geschichte. Konsequenz dieser Historisierung des Ichs ist die spekulativ weiter reichende Einsicht, dass das Denken nicht mehr voraussetzungslos, sondern stets durch die Mannigfaltigkeit seiner jeweiligen Entstehungsbedingungen konditioniert ist. Genealogische und prozesssoziologische Reflexion sind sich dieser Ausgangslage bewusst – und in diesem Wissen anderen Theoriekonzeptionen durchaus voraus. hnlich wie bei Burckhardt die historischen sind fr Nietzsche auch die philosophischen und fr Elias die soziologischen Begriffe 33 Elias, Notizen, S. 120. 34 Merz-Benz, Verstrickt in Geschichte, S. 55, geht wohl etwas zu weit, darin bereits eine geschichtswissenschaftliche Methode Elias’ zu erblicken, die dann, unverndert, „zur zentralen Denkfigur seiner Zivilisationstheorie“ avanciere.
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„etwas Lebendiges“. Metaphorisch wren sie „als Zellen zu bezeichnen“, Zellen mit „einem Leibe herum“, der seinerseits „nicht fest“ sei.35 Als „lebendige“oder „flssige“ Begriffe sind sie zugleich auch „offen“. Sie stehen als notwendige sprachliche Abkrzungen dann zwar wieder fr etwas jeweilig Bestimmtes, etwas allerdings, worin „sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst“.36 Sie „entziehen sich der Definition; definierbar ist nur Das, was keine Geschichte hat“.37
3. Evolution und Darwinismus zwischen Aufklrung und Ideologie Mit der Evolutionstheorie wird die Naturwissenschaft zu einem maßgeblichen Anteil als Naturgeschichte reformuliert. Der inventarisierende und klassifizierende Blick auf die Natur weicht einer genetischen Erklrung des Wechselverhltnisses von Individuum und Umwelt. Nietzsche und Elias nehmen die im neunzehnten Jahrhundert vor allem mit dem Namen Darwins verbundene evolutionre Perspektive auf und machen sie sich in bestimmten, einander hnelnden Hinsichten zu eigen, halten dabei jedoch gezielte Distanz zum biologistisch verengten Naturalismus. Beiden geht es nicht um die Rezeption und Adaption eines naturwissenschaftlichen Paradigmas. Ihr Denken geht vielmehr vom wissenschaftsgeschichtlich-wissenschaftstheoretischen Umstand aus, dass mit Darwins Evolutionstheorie die Biologie hinsichtlich des Verstehens natrlicher Vorgnge die jahrhundertealte Fhrungsrolle der Physik Newton’scher Prgung abzulçsen beginnt. Der damit einsetzende Paradigmenwechsel ist nicht auf die Naturwissenschaft beschrnkt. Denn Darwins Denken des Lebendigen „nimmt eine endogene Unruhe, eine Tendenz zur Erzeugung von Vielfalt und Wachstum in der Natur an, statt von der Konstanz und Trgheit einer Maschine auszugehen.“38 Nietzsche hatte im Evolutionismus den entscheidenden Zug seines Jahrhunderts gesehen und diesen seinerseits von der Philosophie Hegels ausgehen lassen. Von der „Hegelschen Neuerung, die erst den entscheidenden Begriff ,Entwicklung‘ in die Wissenschaft gebracht hat“, wird in 35 36 37 38
Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, KSA 11, 40[51], S. 654. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 13, KSA 5, S. 317. Ebd. Bernhard Giesen, Die Entdinglichung des Sozialen. Eine evolutionstheoretische Perspektive auf die Postmoderne, Frankfurt a. M. 1991, S. 125.
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erstaunlicher Weise die Linie zu Darwin gezogen.39 Als tertium comparationis darf hierbei vor allem die Verflssigung der aristotelischen Substanzontologie hinsichtlich des Artbegriffs angesehen werden. Insbesondere im aristotelischen Begriff des eidos, mit dem im ontologischen und logischen Feld die in den wechselnden Inhalten bleibende Form, im biologisch konkretisierten Bereich wiederum die im Fortpflanzungsprozess konstante Art vorgestellt wird, ist der Vorrang der Substanz gegenber den sich an ihr vollziehenden Vernderungen angezeigt. Ebendieser Vorrang wird im Entwicklungsdenken des neunzehnten Jahrhunderts aus den verschiedensten Richtungen heraus zur Disposition gestellt. Nietzsche sieht sich hierbei durchaus auch selbst in der Tradition jenes erstaunlichen Griff Hegel’s, der damit durch alle logischen Gewohnheiten und Verwçhnungen durchgriff, als er zu lehren wagte, dass die Artbegriffe sich aus einander entwickeln: mit welchem Satze die Geister in Europa zur letzten grossen wissenschaftlichen Bewegung prformiert wurden, zum Darwinismus – denn ohne Hegel kein Darwin.40
Darwin also bildet im Verstndnis Nietzsches die letzte Konsequenz des durch Hegel philosophisch durchgreifend gewordenen Entwicklungsgedankens – und damit seine Selbstaufhebung. Durch die Eliminierung der Teleologie wird die progressive Fortbildung nunmehr als eine spontane Umbildung gedeutet, die auf letztlich zufllige Vernderungen der Lebensumstnde erfolgt. Nietzsches Philosophie macht aus der naturwissenschaftlichen Erklrung eines ateleologischen Funktionswandels dann ihrerseits eine das Methodenverstndnis der Genealogie im Ganzen betreffende Generalhypothese: „Entwicklung“ eines Dings, eines Brauchs, eines Organs ist demgemss nichts weniger als sein progressus auf sein Ziel hin,[…], – sondern die Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder von einander unabhngigen, an ihm sich abspielenden berwltigungsprozessen, hinzugerechnet die dagegen jedes Mal aufgewendeten Widerstnde, die versuchten Form-Verwandlungen zum Zweck der Vertheidigung und Reaktion, auch die Resultate gelungener Gegenaktionen. Die Form ist flssig, der „Sinn“ ist es aber noch mehr…41
In der Genealogie der Moral wird der quasiuniverselle Anspruch des evolutionstheoretischen Erklrungsprogramms dort offen angezeigt, wo unmittelbar nach der Einfhrung des Strafbegriffs bereits von „irgend welchem 39 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 357, KSA 3, S. 598 f. 40 Ebd. 41 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 12, KSA 5, S. 314 f.
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physiologischen Organ (oder auch einer Rechts-Institution, einer gesellschaftlichen Sitte, eines politischen Brauchs, einer Form in den Knsten oder im religiçsen Cultus)“ gehandelt wird.42 Andererseits ist ebenso an Darwin wie seine Interpreten der Vorwurf gerichtet, dass der „moderne Misarchismus“ auch „ber die ganze Physiologie und Lehre vom Leben Herr geworden“43 sei. Auch der evolutionren Interpretation des Funktionswandels als „Anpassung“ an vernderte Außenbedingungen liege trotz ihrer weitreichenden Erschließungsfunktion noch unreflektierter, ja unbewusster Hass (misos) auf die Macht (arche) zugrunde. Hinter dem Gedanken eines passiven Arrangements mit neuen Gegebenheiten im Sinn einer bloßen Reaktion, also einer „Aktivitt zweiten Ranges“44 bleibt fr Nietzsche noch immer ein moralisches Vorurteil als eine letzte Grenze im Denken des Werdens verborgen. Andererseits ist ohne den zunchst biologisch auftretenden Evolutionismus die durchgreifende Tendenz zur Verzeitlichung der sozialen Ordnung in den Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhunderts undenkbar: „Gesellschaftstheorie ist seitdem nicht mehr Vertragstheorie, sondern Evolutionstheorie.“45 Es ist bezeichnend, dass Nietzsche an der entstehenden Soziologie vor allem dort Interesse entwickelt, wo, wie im Falle Spencers, Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie mit Hilfe des Evolutionsgedanken in biologischen Prinzipien gespiegelt wird, oder, wie im Fall Comtes, Rationalittsstandards aus der Eigendynamik der sozialen Evolution heraus gedeutet werden. In gleicher Weise sieht sich Elias in der historisch-systematischen Rekapitulation seiner Disziplin den „Soziologen des 19. Jahrhunderts wie Comte, Marx und Spencer“ verpflichtet, eben weil sie die „spezifische, dem evolutionren Wandel entsprungene Wandelbarkeit des Menschen“ ihrerseits als Ordnung, als „Ordnung eigener Art“46 erschließen wollen. Sozialevolutionismus (Spencer), historisch-dialektischer Materialismus (Marx) und soziologischer Positivismus (Comte) sind fr Elias in ihren Grundzgen verkrzte Prformationen der eigenen Prozesssoziologie. Er positioniert sie gezielt gegen die soziologischen Theoriebildungen des zwanzigsten Jahrhunderts, namentlich die zum „soziologischen Nominalismus“ umgedeutete Theorie Max Webers und die systemtheoretische Soziologie von Talcott 42 43 44 45 46
Ebd., S. 314. Ebd., S. 315. Ebd., S. 316. Giesen, Entdinglichung des Sozialen, S. 75. Elias, Was ist Soziologie?, S. 123.
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Parsons, in denen das Individuum und die Gesellschaft begrifflich als „statische Gegebenheiten einander gegenber gestellt“ bleiben.47 Demgegenber ist die „Verflechtungsordnung“, die fr Elias den „Gang des geschichtlichen Wandels“ bestimmt und damit dem Prozess der Zivilisation zugrunde liegt,48 ohne Zweifel durch Darwins Paradigmenwechsel ateleologischer Evolution mitbestimmt. Maßgeblich ist hier vor allem das nicht normierte Fundierungsverhltnis von umweltbedingter Selektion einerseits und individueller Variationserzeugung andererseits. In Entsprechung dazu differenzieren sich im wechselseitigen Bezug von gesellschaftlich geformten Individuen und der ihrerseits aus Individuen konfigurierten Gesellschaft zivilisatorische Phnomene aus, die keiner „geplant“ oder „geschaffen“ hat. So entsteht eine von permanenter Verwandlung von Fremdzwngen in Selbstzwnge gekennzeichnete „Ordnung ganz spezifischer Art, eine Ordnung, die zwingender und strker ist, als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen, die sie bilden.“49 Spencers umfassendes System einer synthetischen Philosophie, das Gesellschaft in all ihren Aspekten analog zur biologischen Entwicklung als integrale, sich vom Niederen zum Hçheren differenzierende Evolution fasst, hatte in Teilen auch Darwin berzeugt und diesen zu einem Rezeptionsmissverstndnis gefhrt, von dem alle Spielarten des sogenannten Sozialdarwinismus ihren Ausgang nehmen werden: In die fnfte Auflage der Origins of Species by Means of Natural Selection wird bekanntlich die berhmt-berchtigte Formulierung des „survival of the fittest“ aus Spencers Principles of Biology aufgenommen. In der Folge avanciert sie zum Synonymbegriff der „natrlichen Selektion“ und drfte in ihrer raschen Verselbstndigung dem Verstndnis des Darwinschen „struggle for life“seitdem mehr geschadet als genutzt haben. Der ungemein schnell zur Populrphilosophie bzw. zur Weltanschauung gewordene Darwinismus mit seinen zahlreichen sozialdarwinistischen Transformationen schließt in weiten Teilen eher an den Evolutionismus Spencers an, der seinerseits noch im lamarckistschen Zentraltheorem der Vererbung erworbener Eigenschaften grndet. 47 Ebd., S 126 f. Zur ausfhrlichen Kritik am „Reduktionismus“ der Systemtheorie Talcott Parsons’ vgl. die Einleitung in: Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, S. 16 – 25. 48 Ebd. 49 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, S. 324 f. Nicht zufllig diskutiert Elias in der sein Hauptwerk abschließenden Zusammenfassung seiner Theorie der Zivilisation, aus der auch dieses Zitat stammt, in den dazugehçrigen Anmerkungen (S. 487 ff.) nochmals die „biologistische Vorstellung von den sozialen Prozessen.“
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Auch Nietzsche scheint in seinen Rekursen auf die evolutionren Verstehenskonzepte zwischen Darwin, Darwinismus und an Spencer orientiertem Sozialdarwinismus oftmals nicht mehr zu trennen.50 Seine vorgebrachten Einwnde sind einerseits eher Produkte genereller theoretischer Selbstvergewisserung, namentlich eines Klrungsbedarfs seiner genealogischen Verfahrensweise hinsichtlich ihrer „Stellung […] zu Hegel, Comte, Darwin den Historikern usw.“51 Werden sie der Sache nach konkreter, wie etwa im Aphorismus „Anti-Darwin“ der Gçtzen-Dmmerung 52 und den zugehçrigen Nachlass-Notaten, wird deutlich, dass es eher die fr die englische Moral- und Sozialphilosophie kennzeichnende Verbindung von Evolutionismus und Utilitarismus ist, gegen die polemisiert wird. Im Zeitraum der Sorrentiner Zusammenarbeit mit Paul Re, dessen Studie ber den Ursprung der moralischen Empfindungen eine der ersten systematisch darwinistischen Moralkonzeptionen im deutschen Sprachraum darstellt, hat Nietzsche Potential und Grenzen der „englischen Moralwissenschaft“ in nuce kennen gelernt.53 Es ist diese Schrift, auf die Nietzsche in seiner Vorrede zur Genealogie der Moral als ein biographischer Anlass und eine systematische Abgrenzungsfolie rekurriert. Sein ins Werk gesetztes Gegenprogramm ist unter methodologischen Gesichtspunkten auch eine Rehabilitierung Darwins gegenber den zeitgençssischen Spielarten des Darwinismus. Ebenso hat Nietzsche trotz berwiegender, teils heftiger Kritik an Auguste Comte diesen in eine Reihe mit Aristoteles, Bacon und Descartes gestellt und unter die „großen Methodologen“ der Philosophie gerechnet.54 Denn die methodologische Neuausrichtung Comtes, in der das Denken primr als eine gesellschaftlich bedingte kollektive Realitt ausgelegt und angesichts sich wandelnder gesellschaftlicher Strukturen eben damit auch zur Disposition gestellt wird, fasst die Reflexion fr Nietzsche materiell konkreter und damit lebensweltlich relevanter als die dialektische Bewegung der Begriffe bei Hegel. Auch Elias erkennt darin eine „weitere kopernikanische Wende“, der angesichts einer (heute) analytisch dominierten Wis50 Vgl. dazu Werner Stegmaier, Darwin, Darwinismus, Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 264 – 287. 51 Nietzsche, Nachlaß 1887 – 1889, KSA 13, 12[1], S. 205. 52 Nietzsche, Gçtzen-Dmmerung, KSA 6, S. 120. 53 Zu Re und Nietzsche vgl. Hubert Treiber, Zur Geburt einer „science positive de la morale en Allemagne“. Die Geburt der r(e)alistischen Moralwissenschaft aus der Idee einer monistischen Naturkonzeption, in: Nietzsche-Studien 22 (1993), S. 165 – 221, sowie zuletzt Enrico Mller, Mehr als Realismus? Paul Re – Neue Ausgaben und Neuerscheinungen, in: Nietzsche-Studien 35 (2006), S. 326 – 333. 54 Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 9[61], S. 368.
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senschaftstheorie noch immer entschieden zu wenig Rechnung getragen werde: Fr Comte stehen „Probleme des Denkens im Mittelpunkt seiner soziologischen Problematik“, sein Verdienst besteht darin, innerhalb seiner Begrndung der Soziologie als Wissenschaft „zugleich auch die Vorstellung vom Subjekt des Denkens soziologisiert“ zu haben.55 Die von Aristoteles bis Kant konstitutive Unterscheidung von ,Form‘ und ,Inhalt‘ im Denken des Verstehensprozesses weicht, wie Elias zustimmend hervorhebt, in der entwicklungssoziologischen Perspektive Comtes einer konsequenten Verzeitlichung des Denkens zu einer Geschichte der Wissensformen. Die vermeintlich unvernderlichen Denkgesetze der Logik und ein am Paradigma der klassischen Physik gebildeter einseitiger Methodenbegriff sind in Elias’ Rezeption der genetischen Wissenssoziologie Comtes ihrerseits Ausdruck eines „naiven Egozentrismus der am naturwissenschaftlichen Denken orientierten philosophischen Tradition“.56 Entwicklungen im Sinne langfristiger Transformation der Gesellschafts- und Persçnlichkeitsstrukturen lassen sich mit methodischer Orientierung auf das evolutionre Paradigma als „Strukturwandlungen in der Richtung einer zunehmenden Differenzierung und Integrierung und Strukturwandlungen in der Richtung einer abnehmenden Differenzierung und Integrierung“ effizienter und genauer beschreiben.57 In den Rollen des „Immoralisten“ bzw. des „Mythenjgers“ haben Nietzsche und Elias eine Kritik an der Entwicklungssoziologie des neunzehnten Jahrhunderts vorgetragen, die in weiten Teilen als deckungsgleich erachtet werden kann. Theoretischer Ausgangspunkt ihrer Interventionen ist der Befund, dass in den mit Spencer und Comte angezeigten Konzeptionen kultureller Evolution die Fortschrittsidee zunehmend wieder den fr Darwin konstitutiven Gedanken einer nicht-teleologischen Evolution berlagert. Mit freilich hçherer Aggressivitt als Elias macht Nietzsche seinen „Einwand gegen die ganze Sociologie in England und Frankreich“ geltend, nmlich, dass diese „die eigenen Verfalls-Instinkte als Norm des sociologischen Werthurteils nimmt.“58 So habe Spencer, der „im Sieg des Altruismus etwas Wnschenswerthes“ erblickt, demgemss einen auf Reaktion und Rezeptivitt grndenden Begriff des Lebens kultiviert und diesen zuletzt als „eine immer zweckmssigere innere Anpassung an ussere Um55 56 57 58
Elias, Was ist Soziologie?, S. 37. Ebd. Ebd. Nietzsche, Gçtzen-Dmmerung, KSA 6, S. 138.
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stnde definirt.“59 Im Bann des Ideals eines Liberalismus auf altruistischer Grundlage kulminieren die englischen Gesellschaftslehren von Spencer bis Mill in bloßem Komfortismus, der Vision einer progressiven Verbesserung der „Lebensqualitt“ der Menschheit. In der strategischen Rolle des Antichristen attackiert Nietzsche „Auguste Comte’s Sociologie mit ihrer rçmischen Logik der Instinkte“60 vor allem aufgrund ihrer „oberflchlichen Gegenberstellung […] vom Altruismus und Egoismus“61 und ihrem impliziten Glauben an die sittliche Vervollkommnung des Menschen. Comte habe letztlich gegen seine eigenen Ambitionen Wissenschaft auf religiçser Basis praktiziert und mit „seiner berhmtem Moralformel vivre pour autrui […] das Christenthum berchristlicht.“62 Elias, der sich programmatisch, wie schon gezeigt, durchaus in der Traditionslinie der Entwicklungstheorien „von Mnnern wie Marx, Spencer, Comte, Hobhouse“ sieht, diagnostiziert ebenso die „im 19. Jahrhundert vorherrschende ideologische Fassung dieser dynamischen Aspekte von Gesellschaften.“ Vorzugsweise in der Modellierung der Entwicklungsszenarien und der Beschreibung der sie bestimmenden Faktoren gingen diese von Hypothesen aus, „die primr durch die politisch-weltanschaulichen Ideale jener Mnner und bestenfalls sekundr durch ihre Sachbezogenheit bestimmt waren.“63 An mindestens diesen drei Punkten hat die Erschließungsfunktion des Evolutionsparadigmas fr Nietzsche und Elias ihre Grenze erreicht: Dort, wo die Entstehung und Entfaltung gesellschaftlicher Zusammenhnge durch Rekurs auf biologische Entwicklungsgesetze als notwendig unterstellt und gleichsam garantiert wird. Dort, wo Evolution zur kumulativen Pro59 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 12, KSA 5, S. 316. Zur umfangreichen Auseinandersetzung Nietzsches mit Spencer vgl. Maria Cristina Fornari, Die Spur Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“, in: Nietzsche-Studien 34 (2005), S. 310 – 328. 60 Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 48, KSA 5, S. 69. 61 Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, KSA 11, 35[34], S. 524. 62 Nietzsche, Morgenrçthe, § 132, KSA 3, 123. 63 Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, S. 25 – 46. Bemerkenswert ist, wie Elias seine ideologiekritische Wissenschaftsgeschichte der Soziologie fortsetzt. Die „reifere“ Wissenschaft habe sich demnach „nicht an die Arbeit gemacht“, „die lteren Entwicklungsmodelle zu revidieren und zu korrigieren“, sondern in einer „beraus scharfen Reaktion“ die „Beschftigung mit der langfristigen Entwicklung der Gesellschaft so gut wie vçllig verworfen“. In der Konzentration auf gesellschaftliche Normalzustnde und die Funktionsbeschreibung vermeintlich in sich ruhender gesellschaftlicher Systeme bleibe die Struktur- und Systemsoziologie des 20. Jahrhunderts letztlich eine „Reaktion gegen das Primat bestimmter Ideale […] im Namen anderer, zum Teil entgegengesetzter Ideale.“
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gression verkrzt wird. Und dort, wo gesellschaftlich bedingte Wnschbarkeiten in Gestalt von Idealen und unreflektierten Wertvorstellungen zu endogenen Wirkursachen des sozialen Evolutionsprozesses umgedeutet werden. Es bleibt zu sagen, dass keiner dieser Einwnde Darwin gelten kann, alle drei jedoch die im neunzehnten Jahrhundert frei fluktuierenden Spielarten des Darwinismus betreffen.
4. Die Produktivitt der Macht Es sind die Handlungen und Wertungen selbst, die ihren jeweiligen Trger im Vollzug berhaupt erst einer Form unterwerfen, ihn subjektivieren. Dies ist der gezielt atheoretische Ausgangspunkt, der die Moralgenealogie Nietzsches mit der Prozesssoziologie von Elias eint. Moral, sei es in Gestalt der gesellschaftlichen Fremdzwnge („Sittlichkeit der Sitte“) oder der gesellschaftlich konfigurierten Selbstzwnge („asketische Ideale“, „Gewissen“, „Vernunft“, „Mitleid“, „Nchstenliebe“ etc.), schafft sich als Praxis ihre Subjekte. Sie unterwirft das Ich immer schon einem wesenhaft heteronomen Gestaltungsprozess – es gibt kein Ich vor diesen Gestaltungen oder jenseits von ihnen. Die Genealogie der Moral und der Prozeß der Zivilisation sind in diesem Sinne zunchst von einer subjektkritischen Grundanlage gekennzeichnet, die an die „Seelen-Atomistik“ (Nietzsche) und das „homo clausus“Verstndnis (Elias) der europischen Philosophie- und Wissenschaftskultur und das in ihr tradierte Menschenbild adressiert sind. Ihre inhaltliche Sprengkraft beziehen beide Werke jedoch erst aus dem Umstand, zugleich Sozialgeschichten dieser bestimmten, europischen Form von Subjektivitt zu sein. Beiden Anstzen ist eigentmlich, diese Form weder aufzuheben noch verbessern zu wollen, sondern sie stattdessen berhaupt erst einmal in den Blick zu nehmen, sie zu zeigen. Foucaults desillusionierend erscheinende und seinerzeit als revolutionr bzw. konterrevolutionr empfundene Bemerkung, nach welcher der Mensch, von dem man spreche und zu dessen Befreiung man noch immer einlade, in sich bereits das Resultat einer viel tiefer reichenden Unterwerfung sei, als er berhaupt ermessen kçnne,64 ist fr das nachideologische Menschenbild Nietzsches und Elias’ bereits mehr oder minder selbstverstndlich. Die Formen, in denen Subjektivitt konstituiert ist, sind demgemß erschließbar, insofern sie als reale Mchte wirken, die das Ich, welches sie 64 Michel Foucault, berwachen und Strafen. Die Geburt des Gefngnisses, Frankfurt a. M. 1994 (Paris 1975), S. 42.
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erzeugen, eben auch kenntlich machen, es markieren. An die Stelle der supponierten Form im Sinne einer apriorischen oder idealen Urgestalt tritt damit der phnomenal konkrete Prozess der Formgebung in den Mittelpunkt der berlegungen. Der bestehende, existierende Mensch und seine Gesellschaft sind dann eben kein Gegebenes, kein Datum mehr, auf das die systematisierende Funktionsbeschreibung einer vermeintlichen gesellschaftlichen Wirklichkeit voraussetzungslos zugreifen kann. Vielmehr kommt man nicht umhin, die Bestimmungen dessen, was den Menschen ausmacht, aus den jeweiligen interindividuellen, gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Kontexten heraus vorzunehmen, in denen er sich ereignet und seine entsprechenden Markierungen erhlt. Der Mensch durchluft dann keinen Prozess mehr, „er ist ein Prozess“. Hat Elias das Menschenbild des homo clausus durch das des „offenen Menschen“65 ersetzen wollen, so hat Nietzsche, der sich eher als Physiologe denn als Menschenwissenschaftler versteht, seine emphatische Suche nach dem bermenschen ebenfalls von der prinzipiellen Offenheit des „noch nicht festgestellte[n] Thier[s]“66 ausgetragen. Die Freilegung solcher Markierungen im gesellschaftlichen Prozess fortgesetzter Menschwerdung kann dann keine voraussetzungslos „systematische“ mehr sein, vielmehr ist sie stets an die genetisch-genealogische Erçffnung bestimmter Kontexte gekoppelt. Nietzsche und Elias haben innerhalb ihrer methodischen Umstellung von Konstruktion auf beschreibende Rekonstruktion den Begriff der ,Macht‘ in neuer Weise zur Geltung gebracht, um solche Kontexte in ihrer phnomenalen, prgenden Konkretion anzuzeigen. Der im zwanzigsten Jahrhundert in weiten Teilen der Philosophie, der Soziologie und der Kulturwissenschaften vollzogene Paradigmenwechsel vom Denken der Macht im Sinne eines einseitig repressiven Gewaltmonopols hin zur allgegenwrtigen produktiven Bezugsgrçße ist, wissenschaftsgeschichtlich betrachtet, weitgehend und vor allem in seinen Anfngen ein Produkt der franzçsischen Nietzscherezeption. Nur selten wird zur Kenntnis genommen, dass innerhalb der soziologischen Forschung Norbert Elias bereits lange vor Foucault, Luhmann oder Bourdieu auf die Erschließungsfunktion eines produktiven Machtbegriffs fr die Soziologie nicht nur hingewiesen, sondern selbige bereits durchgreifend demonstriert hat. Auch im Denken der Macht scheint Nietzsche seinen Ausgangspunkt von Jacob Burckhardt aus genommen zu haben. Dessen vielzitiertes Diktum, 65 Elias, Was ist Soziologie?, S. 127 f. 66 Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 62, KSA 5, S. 81.
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nachdem die Macht „immer bçse“ bzw. „an sich bçse“ sei,67 speiste sich aus der politikkritischen, ja staatsfeindlichen Haltung seiner Konzeption von Kulturgeschichte. Motiviert ist sie durch eine an Schopenhauer orientierte pessimistische Anthropologie, die ihrerseits in einer berzeugung kulminiert, die Macht stets an eine Gier, die ihrem Wesen nach unerfllbar sei, bindet. So sei sie einerseits Ausdruck des unglcklichen Bewusstseins und gleichzeitig stetiger Produzent weiteren Unglcks. Unter dem direkten Einfluss der epochalen Ausfhrungen Burckhardts zur griechischen Geschichte hat Nietzsche sich dessen pessimistische Perspektive anfangs angeeignet, um gegen Klassizismus und Philhellenismus einerseits, Historismus und Positivismus andererseits sein „dionysisches“ Griechentum zu etablieren. In dem Maße jedoch, in dem er die agonale Gespanntheit, die die Griechen im allgemeinen verbindet und im einzelnen trennt, zum Hauptgesichtspunkt seiner kulturgeschichtlichen Bilanzierungen machte, setzt notwendig auch ein Umdenken der Macht ein. Was zahlreiche frhe Nachlassfragmente der Jahre 1871 bis 1875 verbindet, ist das Bemhen, alle Phnomene der griechischen Lebenswelt von der Zentralperspektive des Agons, der „Einheit der Griechen in den Normen des Wettkampfes“68 aufzuschließen. Politische Praktiken und die Bildung von Institutionen werden ebenso vom agonalen Ethos als dem entscheidenden Stimulans im griechischen Leben zusammengehalten wie die knstlerisch-intellektuellen Ausprgungen der somit als einzigartig ausgewiesenen Kultur. Fr Nietzsches Verstndnis des Wettkampfes ist festzuhalten, dass dieser kein individuelles Verhalten, sondern ein soziales Schema bezeichnet, in dem sich die spezifisch griechischen Formen von Individualitt berhaupt erst etablieren. Der Agon „entfesselt das Individuum.“69 Als das medium comparationis ist er nicht auf ultimative Siege ausgerichtet, sondern auf die Schaffung von Distinktionen und Differenzen. Der allgegenwrtige Hang der Griechen zur unbedingten Selbstdarstellung und Auszeichnung vor dem Anderen ist kein mentales Spezifikum, sondern Entsprechung der kulturellen Verfasstheit permanenter kompetitiver Praxis. Diese ist nicht an festen Wertzuschreibungen und statisch reglementierten Lebenslufen orientiert, vielmehr bemisst sich der soziale Status am, stets nur temporalen, Erfolg innerhalb des 67 Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 25 u. 36. Zum Hintergrund des Zitats vgl. Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht: Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin/ New York 1996 (= Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung 34), S. 71. 68 Nietzsche, Nachlaß 1869 – 1874, KSA 7, 16[22], S. 402. 69 Ebd.
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breiten Spektrums von Konkurrenzsituationen. In einer spten Rekapitulation der Genese seines Denkens wird Nietzsche fr den Zusammenhang von Agonalitt und politischer bzw. sthetischer Produktivitt anmerken, er „sah“seinerzeit erstmals in den Griechen den „Willen zur Macht“.70 Was sich als Kriegszustand zwischen den vereinzelten Poleis, als Stasis zwischen den verfeindeten Parteien innerhalb der Poleis, als sportlicher und musischer Agon, als Rednerduell auf der politischen Bhne und zuletzt noch als dialektisches Gesprch zu erkennen gibt, gehorcht nach Nietzsche stets dem Gedanken des Wettkampfes. Die im Verhltnis von individueller Profilierungssucht und Anerkennung der gemeinschaftlich agonalen Ausgangssituation angesiedelte permanente Spannung hat, sofern sie in der Balance gehalten werden konnte, zu jenen spezifisch griechischen Leistungen gefhrt, die auch Nietzsche ebenso wie seine klassizistischen Vorgnger rckhaltlos bewunderte. Produktivitt und Ubiquitt der Macht zeigten sich ihm in den Verhltnissen der griechischen Lebenswelt erstmals auf exemplarische Weise. Elias ging es ausdrcklich nicht darum, „das Problem der Macht“ zu lçsen, sondern darum, zu ihm, „als einem der Zentralprobleme der soziologischen Arbeit, den Zugang zu erçffnen.“71 Den Bezugspunkt hierfr bildet einmal mehr Max Weber. Dieser hat innerhalb seiner Typologie der Herrschaftsformen eine vorlufige Definition mit weitreichenden Folgen gegeben: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“72 Wie schon bei Burckhardt bleibt Macht auch hier personen- oder institutionsgebundene Durchsetzungsmacht. Auch darin ist sie Max Weber, der die Formen der Fgsamkeit gegenber Befehlen kategorial erfassen will, jedoch zu unspezifisch. Stattdessen erfhrt der Begriff der „Herrschaft“ an diesem Punkt seine soziologische Nobilitierung, whrend jener der Macht als „amorph“ zurckgelassen wird. Doch auch Herrschaft bedarf gerade in der autoritren Grundgestalt potentieller oder realer Gewaltausbung der permanenten Vermittlung, in Gesellschaften ist sie damit immer schon geteilte bzw. verteilte Macht. Eben dasjenige, was sich fr Weber als das „Amorphe“ der Macht dargestellt hat, wird fr Elias zur Herausforderung, „dem polymorphen Charakter der Machtquellen“ Rechnung zu tragen. Erforderlich ist dafr zunchst die vorhergehende 70 Nietzsche, Gçtzen-Dmmerung, Was ich den Alten verdanke 3, KSA 6, S. 157. 71 Elias, Was ist Soziologie?, S. 97. 72 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tbingen 51976, S. 28.
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Anerkennungsleistung gegenber der Einsicht, dass Macht als Phnomen „weder gut noch schlecht ist.“73 Folgerichtig ist fr Elias, der zuerst an gesellschaftlichen Beschreibungsmçglichkeiten interessiert ist, Macht eine „Struktureigentmlichkeit menschlicher Beziehungen – aller menschlichen Beziehungen.“74 Prozesssoziologisch stellen sich Gesellschaftsordnungen dann als Machtspiele zwischen Beteiligten mit „relativer Spielstrke“ dar. Je komplexer die gesellschaftlichen Beziehungen, desto strker sind auch die wechselseitigen Abhngigkeiten innerhalb dieser Beziehungen. Je strker bzw. differenzierter wiederum die wechselseitigen Abhngigkeiten sind, desto ausgeglichener sind die jeweiligen Machtchancen und dies bis hin zur weitgehenden Reziprozitt der Macht.75 Ausgehend von der Interdependenz, die eben keine Interpenetration theoretisch isolierbarer Einheiten,76 sondern ein grundlegender Verflechtungsprozess ist, wird die soziologische Arbeit dann zur Eruierung und Entschlsselung von „Machtbalancen“, „Machtdifferentialen“ und „Machtchancen“ innerhalb von sich wandelnden Ordnungen, die als Ensemble eine Gesellschaft ausmachen. Der Umstand, dass menschliche Beziehungen in einer solchen Betrachtungsart nicht Regeln und Normen folgen, die diesen Beziehungen logisch vorausgehen, ist angesichts seiner machttheoretischen Voraussetzungen keineswegs gleichbedeutend mit Unstrukturiertheit. Vielmehr ist es die spezifische Gestalt der Interdependenz innerhalb einer Beziehung, die den Handlungsspielraum der in ihr befindlichen Menschen berhaupt erst freigibt, ausrichtet und eben damit auch strukturiert. Es sind mithin die Machtbeziehungen, die aus sich Normierungen hervorbringen – bis hin zur Produktion jener Normalitt, die nur zu gern als stabile Ordnung im Sinne eines in Ruhe befindlichen Systems fehl interpretiert wird. Elias konnte den Menschen als ergebnisoffenes Projekt in den Blick nehmen, weil er dessen „natrliche Wandelbarkeit“ als „soziale Konstante“ zu fassen wagte. Nietzsches Konsequenz aus dem Zusammendenken der Begriffe der Geschichte, der Evolution und der Macht lautet, wie bereits angefhrt: „Die Form ist flssig, der ,Sinn‘ ist es noch viel mehr…“. Fr sein Theorem eines „in allem Geschehn sich abspielenden Macht-Willens“77 ist der Grundge73 74 75 76
Elias, Was ist Soziologie?, S. 77. Ebd. Vgl. dazu Byung-Chul Han, Was ist Macht?, Stuttgart 2005, S. 11 – 13. Zur Kritik am Interpenetrationsbegriff vgl. Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, S. 48. Zur theoretischen Weiterentwicklung des Interpenetrationsbegriffs in der Systemtheorie vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 286 – 345. 77 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 12, KSA 5, S. 315.
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danke leitend, dass „alle Zwecke, alle Ntzlichkeiten“, die in „die Geschichte eines ,Dings‘“ hineingetragen werden, zunchst nicht mehr sind als „Anzeichen davon, dass ein Wille zur Macht ber etwas weniger Mchtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprgt hat.“78 Macht trifft hier stets auf Gegenmacht und erzeugt in der Abstoßung, Abschwchung, Integration oder berwindung selbiger fortgesetzt neue Gebilde: alles „irgendwie Zu-Stande-Gekommene [wird] immer wieder von einer ihm berlegenen Macht auf neue Ansichten ausgelegt“.79 Gerade die Genealogie der Moral ist exemplarisch fr die neu gewonnene Korrespondenz von Geschichte, Machtanalytik und Philosophie. Unter Mithilfe soziologischer, ethnologischer, anthropologischer und psychologischer Perspektiven de-konstruiert Nietzsche in ihr die abendlndische Allgemeinheitsmoral eben durch ihre Genealogie als Ausdruck gerade des Machtwillens, gegen den sie sich richtet. Sie re-konstruiert dabei jedoch zugleich die Existenz bestimmter Lebensformen und Sinnhorizonte innerhalb der komplexen Struktur einer sich verselbstndigenden Moral. Die angezeigte Entmoralisierung und Entideologisierung des Machtbegriffs bei Nietzsche und Elias entgrenzt diesen nach mehreren Richtungen: Von der einen Macht hin zur Pluralitt der Mchte, vom Wunsch nach Abwesenheit der Macht hin zur Beschreibung ihrer permanenten Prsenz, vom Machtmonopol hin zu den Machtbeziehungen, von der steten, stabilen Machtordnung zur Zirkulation konkurrierender Mchte. Fr Elias sind „Machtprobleme […], von einigen Grenzfllen abgesehen, Beziehungs- und Interdependenzprobleme.“80 Sie bleiben in ihrem Erklrungswert auf Fragen des Vergesellschaftungsprozesses beschrnkt. Nietzsche hat sich an diesem Punkt weiter gefragt, ob „nicht nothwendig Sinn eben Beziehungs-sinn und Perspektive“ sei. Seine vorlufige Antwort war: „Aller Sinn ist Wille zur Macht (alle Beziehungs-Sinne lassen sich in ihn auflçsen).“81 Im Gegensatz zu Elias, so beginnt sich zu zeigen, ist in solchen Ausfhrungen auf ersichtlich mehr abgezielt als auf eine adquatere Beschreibung gesellschaftlicher Prozesse. Eine „Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht“82 geht ber die wechselseitige Explikation psychogenetischer und soziogenetischer Verlaufsformen hinaus – sie wird zum heuristischen Ausgangspunkt fr die Problematisierung jedweder 78 79 80 81 82
Ebd., S. 314. Ebd., S. 313. Elias, ber sich selbst, S. 188. Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 2[77], S. 97. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 23, KSA 5, S. 38.
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Formgebung. Genealogie ist darum als spekulative Geschichte der Sinnkonstitutionen und Machkonstellationen – im Gegensatz zu Elias – auch nicht mehr genetisch orientiert. Sie verbessert und vervollstndigt die Geschichte nicht durch strker realittsgesttigte Beschreibung hin zu einem mehrschichtigen kontinuittsorientierten Stufenmodell. Stattdessen entwirft sie Gegengeschichten in delegitimierender Absicht.83 Dem gemß bleibt Moral fr Nietzsche lebensnotwendige und insofern gleichermaßen strukturelle wie strukturierende Gewalt. Die Genealogie der Moral(en) problematisiert und inszeniert Machtverhltnisse, indem sie die fortgesetzten Transformationen von Gewalt in physischer, politischer, rechtlicher, emotionaler und diskursiver Gestalt zeigt und auf ihre kulturellen Konsequenzen hin auslegt. Moralgenealogie bleibt insofern bis zuletzt Explikation von Grausamkeit. Im soziogenetisch und psychogenetisch orientierten Blickwinkel von Elias scheint demgegenber der bergang von roheren, gewaltsameren zu immer feineren, gewaltloseren Formen im Sinn eines gemeinschaftlichen Gewinns immer hçherer „Integrationsstufen“ angelegt zu sein. Einerseits also wird „im Zuge eines Zivilisationsprozesses die Selbstzwangapparatur im Verhltnis zur Fremdzwangapparatur strker“.84 Andererseits „verringern“ sich mit fortschreitender sozialer und institutioneller Differenzierung auch die „Machtdifferentiale“ in dem Maß, in dem die wechselseitigen Abhngigkeiten steigen.
83 Vgl. dazu Martin Saar, Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt a. M./ New York 2007, S. 97 – 129. 84 Elias, Zivilisation und Informalisierung, in: Studien ber die Deutschen, S. 47 f.
Die ungeahnten Mçglichkeiten des „demokratischen Nivellirungs-systems“: Nietzsche und die Theoretiker der Weltgesellschaft Leander Scholz In seinem programmatischen Aufsatz mit dem Titel Individuum und Gesellschaft aus dem Jahr 1984 hat Niklas Luhmann der soziologischen Theoriebildung vorgeworfen, einen „undurchdachten Trivialbegriff von Individualitt“ zu benutzen, der sich einer „heruntergekommenen philosophischen Tradition“ verdanke.1 Denn unter einem Individuum begreife die gegenwrtige Soziologie einen „konkreten Einzelmenschen“, der sich „hinsetzt und wieder aufsteht, der lacht oder weint, schimpft, ißt“ oder „sich die Zhne putzt“, also genau das, was schließlich „jedermann“ unter diesem Begriff verstehe. Wenn man dagegen an den „eigentlichen Sinn“ von Individualitt erinnern wrde, muss das den wissenschaftlichen Gegenstand, den man in der soziologischen Theoriebildung damit zu erfassen glaubt, zwangslufig zersprengen. Die Aggressivitt, mit der Luhmann hier gegen einen vermeintlich „hartgetretenen Boden der Begriffstradition“anschreibt, zielt auf nichts Geringeres, als das fr die Soziologie so zentrale Schema von Individuum und Gesellschaft einem „leichtfertigen und selbstgerechten Humanismus“ zu entziehen und dadurch die soziologische Theoriebildung aus ihren anthropologischen Fundamenten zu lçsen. Auch wenn an dieser Stelle keine Autoren mit Namen genannt werden und man bei dem Generalvorwurf der Gedankenlosigkeit zunchst an die von Luhmann hufig und gerne mit deutlicher Kritik adressierte empirische Sozialforschung denken mag, so besteht das eigentlich ideologische Schlachtfeld, das den Kontext dieser antihumanistischen Einlassungen darstellt,2 in der Auseinandersetzung mit solchen Theorien, die von einer noch uneingelçsten Selbstverwirklichung oder im Gegenzug von einer gesellschaftlichen De1 2
Niklas Luhmann, Individuum und Gesellschaft, in: Universitas, Jg. 39 (1984), S. 1 – 11 (hier: S. 1). Zum historischen Kontext vgl. Thomas Laugstien, Verwaltung durch Sinn bei Luhmann, in: Theorien ber Ideologie/Projekt Ideologie Theorie, Berlin 1979, S. 165 – 177.
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formation des Individuums ausgehen: Den Gegner der systemtheoretischen Fruchtbarmachung des „hartgetretenen Bodens der Begriffstradition“ stellen all jene kritischen Theoriebildungen dar, die in den diskursiven Bahnen von Rousseau und Marx im Namen einer freien Entfaltung des Individuums agieren. Denn die systemtheoretische Lçsung, der Luhmann auf den folgenden Seiten das konfliktreiche Verhltnis von Individuum und Gesellschaft zufhrt, soll auch der „alten Wunschliste der Individualitt“, die Luhmann kurz mit den Stichworten „Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Autonomie, Emanzipation“ auflistet, einen neuen symbolischen Ort zuweisen: Folgt man der soziologischen Gesellschaftstheorie, sind dies nur Korrelate zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung. Das Individuum wird zwangslufig in die Individualitt abgeschoben, und dazu wird ihm noch souffliert, daß dies seinen eigensten Wnschen entspreche.3
Die Wnsche des Individuums verdanken sich demnach keinem vorgngigen individuellen Selbst, das diese Wnsche je nachdem mit oder auch gegen die Gesellschaft zu realisieren versucht, sondern dass es diese Wnsche hat bzw. berhaupt haben kann, ist einem grundlegenden Prinzip geschuldet, das sich das moderne Individuum mit der modernen Gesellschaft teilt. Was einem uninformierten Beobachter als eine „Wunschliste der Individualitt“ erscheinen mag, sind aus systemtheoretischer Perspektive tatschlich „nur Korrelate“ einer zunehmenden „gesellschaftlichen Differenzierung“. Die sich artikulierenden Wnsche nach „Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Autonomie, Emanzipation“ sind nicht im Inneren eines Subjekts lokalisiert, das im Zuge der modernen Anthropologie als das wahre Wesen des Menschen aufgedeckt wurde und das von da an den Maßstab gesellschaftlicher Gestaltungsprozesse abgibt,4 sondern diese Wnsche sind der Effekt einer Loslçsung der Gesellschaft von genealogischen Ordnungsmodellen zugunsten gesellschaftlicher Selbstreferenz. Und in dieser Hinsicht besteht zwischen dem Individuum und der Gesellschaft fr Luhmann kein Unterschied: Beide konstituieren sich ber Selbstreferenz und gehorchen dem Steigerungsimperativ der Ausdifferenzierung. Wenn Luhmann also daran erinnert, dass sptestens seit dem 3 4
Luhmann, Individuum und Gesellschaft, S. 7. Zur entsprechenden Kritik an der Systemtheorie aus der Perspektive einer in der Intersubjektivitt basierten Theorie kommunikativen Handelns vgl. Jrgen Habermas, Exkurs zu Luhmanns systemtheoretischer Aneignung der subjektphilosophischen Erbmasse, in: ders., Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwçlf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1988, S. 426 – 445.
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18. Jahrhundert unter dem Individuum nicht der „konkrete Einzelmensch“ zu verstehen ist, sondern das „Besondere des Einzelmenschen“,5 dann will er damit zugleich in Erinnerung rufen, dass nicht das, was die Individuen wollen, der entscheidende Maßstab fr eine Gesellschaftstheorie sein kann, sondern allein die Art und Weise, wie sie es wollen. Dass die „alte Wunschliste der Individualitt“ tatschlich nur ein „Korrelat“ einer zunehmenden „gesellschaftlichen Differenzierung“ sein soll, heißt nichts anderes, als dass sich die Individuen nicht selbst aneignen kçnnen, soviel sie sich auch befreien oder verwirklichen mçgen, sondern in ihren Wnschen lediglich ein Prinzip ausagieren, das die Individualitt des Individuums auf Dauer stellt. Mit der Zurckweisung des „Anspruchsindividualismus“, wie Luhmann jede Fundierung von sozialen Normen in Subjektivittsprozessen nennt, geht deshalb auch eine Zurckweisung von ethischen Perspektiven einer Gesellschaftstheorie einher.6 An die Stelle der „alten Wunschliste der Individualitt“ und damit an die Stelle der Frage nach den Mçglichkeiten einer emanzipativen Politik tritt in der Systemtheorie das sozialtechnische Problem, wie mit der Selbstreferenz der Gesellschaft zugleich die Selbstreferenz der Individuen sichergestellt werden kann. Im Zentrum steht also weder das Individuum, dessen anthropologische Wesensmerkmale die Art und Weise des Kollektivs begrnden, wie etwa in den Vertragstheorien, die sptestens seit Thomas Hobbes einen wesentlichen Strang der soziologischen Theoriebildung darstellen; noch ist es das Kollektiv selbst, das den Individuen gegenber etwas Hçheres darstellt und dementsprechend autoritative Vorgaben machen kann. Wenn sowohl die Individualitt des Individuums „ins Bodenlose“fhrt, wie Luhmann sagt, weil auf jede Selbstverwirklichung des Individuums nur mehr Selbstverwirklichung folgen kann, als auch die Gesellschaft ihre Einheit nicht mehr substantiell begrnden kann, dann bleibt als Maßstab einer systemischen Gesellschaftstheorie allein die „Kopplung“ zwischen Individuum und Gesellschaft brig. Aus diesem Grund kçnnen Luhmanns interventionistische Einlassungen ihre Rechtfertigung allein aus dem Interesse an einem mçglichst stçrungsfreien Funktionieren der Systeme beziehen. Was man aus dieser Perspektive vermeiden muss, betrifft ein Zuviel an Erwartungen, denen sich die Menschen mit ihren Hoffnungen auf Selbstverwirklichung und Emanzipation verschreiben kçnnten. Denn mit der dadurch vorprogrammierten Enttuschung kçnnte das genaue Gegenteil eintreten, wenn sich die Menschen 5 6
Luhmann, Individuum und Gesellschaft, S. 2. Vgl. dazu ausfhrlich Niklas Luhmann, Soziologie der Moral, in: ders./ Stephan H. Pfrtner (Hrsg.), Theorietechnik und Moral, Frankfurt a. M. 1978, S. 8 – 116.
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massenhaft von ihrer individuellen Selbstreferenz abwenden und dann anstelle von Gesellschaft auf Gemeinschaft setzen. Die sozialtechnische Abkhlung, mit der Luhmann auf den von ihm als „leichtfertig“ und „selbstgerecht“ bezeichneten „Humanismus“ reagiert, darf man daher als eine therapeutische Maßnahme verstehen, mit dem die sich ausdifferenzierende Individualitt des Individuums dauerhaft gewhrleistet werden soll, ohne dass jedoch die Nebenwirkungen des auf diese Weise in die „Umwelt“ der Gesellschaft abgeschobenen Individuums zu einer dauerhaften Stçrung der modernen „Kopplung“ zwischen Individuum und Gesellschaft fhren: Traum, Trauma, Traumatik der Emanzipation mßten demnach selbst einer Ideologiekritik unterworfen werden. Sie haben in den letzten beiden Jahrzehnten fast nur Befrworter gefunden, die als Partisanen des Subjekts sich die Frage gar nicht stellen, wie das Individuum seine Individualitt handhaben kçnne, wenn dies ihm berlassen bleibe.7
1. Die Kritik des Individualismus Mit der Empfehlung, das Schema von Individuum und Gesellschaft aus der Perspektive ihrer „Kopplung“ zu betrachten, steht Luhmann in einer liberalismuskritischen Theorietradition, die man mindestens bis zur Rechtsphilosophie Hegels zurckverfolgen kann. Denn Hegels Kritik an den Vertragstheorien von Hobbes bis Rousseau ist immer auch eine Kritik an der Vorstellung, dass es zunchst die Individualitt des Individuums gbe, der sich dann die konkrete Gestalt des Kollektivs zu verdanken htte. Whrend es fr Hegel jedoch noch keine Frage war, dass allein der Staatswille die entscheidende Instanz ist, die das „Prinzip der selbstndigen in sich unendlichen Persçnlichkeit des Einzelnen“8 zulsst und gegebenenfalls auch einzuschrnken hat, rcken sowohl bei den Rechts- als auch bei den Linkshegelianern aufgrund der zunehmenden Erosion eines souvernen Staatswillens unter dem Druck gesellschaftlicher Emanzipation andere Modelle an die Stelle der staatlichen Instanz. So kann man aus der fr Luhmann wohl wichtigeren konservativ geprgten liberalismuskritischen Theorietradition etwa Joachim Ritter nennen, der in seiner Hegel-Inter7 8
Luhmann, Individuum und Gesellschaft, S. 7. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke in 20 Bd. auf der Grundlage der Werke von 1832 – 1845, Bd. 7, hrsg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986, S. 339.
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pretation vor allem auf eine die gesellschaftlichen Werte sichernde berlieferung als das bindende Moment einer berhitzten Individualitt abgestellt hat. Ein vollstndig seiner Individualitt berlassenes Individuum wrde demnach ohne enge Bezge zu seiner historischen Herkunft genau diejenige Freiheit einbßen, die es in der Moderne gegenber der Gesellschaft erworben hat.9 Bei dem fr die Systemtheorie sicherlich wichtigsten Stichwortgeber, nmlich bei Arnold Gehlen, rckt dagegen an die Stelle von Staat oder Tradition als bindende Instanz ein emphatisch aufgeladener Begriff von Institution in den Vordergrund. Auch hier geht es darum, das sich selbst berlassene Individuum an eine entlastende Autoritt anzubinden, indem das, was bei Ritter noch als Tradition im geistigen Sinne verstanden wurde, nun in der „Apparatur“ einer Institution „konserviert“ werden soll. Berhmt geworden ist der Satz, in dem sich Gehlens Emphase fr die rettende Institution sogar auf die Individualitt des Individuums selbst erstreckt und die „Persçnlichkeit“ des Individuums als „eine Institution in einem Fall“ bezeichnet wird.10 Allen diesen Anstzen ist gemeinsam, dass die Situierung der Gesellschaft in der Individualitt des Individuums nicht nur als theoretisch unzulnglich betrachtet wird, um die sozialen Bindungskrfte erklren zu kçnnen, sondern dass eine Kritik des Individualismus aus dem Grund zwingend nçtig ist, um etwas aufzuhalten, das von diesem Individualismus als eine stndige Gefahr auszugehen scheint. Die Dynamik, die von der Situierung der Gesellschaft in der Individualitt des Individuums in Gang gesetzt worden ist, soll auf irgendeine Weise eingedmmt werden, weil die damit verbundenen Ansprche mçglicherweise die Gesellschaft berfordern kçnnten und diese berforderung in einer Katastrophe mnden kçnnte. Das viel diskutierte Diktum Gehlens, die industrielle Gesellschaft sei in einer posthistorischen Zeit angekommen, bedeutet in diesem Zusammenhang schließlich nichts anderes, als dass die Wnsche und Ansprche der Individuen zwar den maßgeblichen Horizont einer Massengesellschaft darstellen, jedoch keine neuen gesellschaftlichen Institutionen mehr hervorbringen werden. Besonders deutlich ist dieses Postulat einer Grenzziehung gegenber den sich vervielfltigenden Ansprchen einer Massengesellschaft bei Helmuth Plessner zum Ausdruck gekommen, wenn 9 Vgl. Joachim Ritter, Hegel und die franzçsische Revolution, in: ders., Metaphysik und Politik: Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a. M. 1977, S. 183 – 233. Vgl. dazu auch Jrgen Habermas, Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der Bundesrepublik, in: ders., Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, Leipzig 1990, S. 75 – 104. 10 Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1957, S. 118.
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im Rahmen einer politischen Reformulierung der modernen Anthropologie sogar die Unabnderlichkeit der „menschlichen Natur“ ins Feld gefhrt werden muss, um die unruhige Individualitt des Individuums zu beruhigen.11 Whrend die mit den genannten Autoren verbundenen Positionen einer konservativ ausgerichteten Liberalismuskritik es vor allem mit der Abwehr von Ansprchen zu tun hatten, die aus der Perspektive dieser Kritik zunchst von den Rndern der Gesellschaft ausgingen und eine privilegierte Mitte existentiell zu bedrohen schienen, stellt sich die gesellschaftliche Situation bei Luhmann Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts vçllig anders dar. War die Anrufung von Tradition oder Institution dem Postulat geschuldet, dass es noch eine andere Grçße geben msse als das liberalistische Versprechen der individuellen Entfaltung, um die Gefahr entweder eines kommunistischen oder aber eines faschistischen Abgleitens der Gesellschaft wirksam zu bannen, so geht die Gefahr einer berforderung der Gesellschaft durch die Ansprche der Individuen fr Luhmann nun nicht mehr von den Unzufriedenen aus, die sich unter ideologisch formierten Gemeinschaftskonzepten versammeln lassen, sondern von der Mitte der Gesellschaft selbst. Denn die emanzipatorischen Bewegungen der 60er und 70er Jahre, denen Luhmann stets sehr skeptisch gegenber stand,12 agierten nicht mehr im Namen eines strikten Kollektivismus, sondern verhalfen vielmehr im Sinne des liberalen Ideals ganz neuen Formen der Subjektivitt zu einem dauerhaften Durchbruch.13 Der neomarxistische Traum von einer befreiten Gesellschaft etablierte die Ideale der individuellen Selbstverwirklichung auf derart breiter Front, dass inzwischen selbst konservative Werte unter der Perspektive einer besseren Selbstverwirklichung gerechtfertigt werden mssen, weil der schlichte Verweis auf die Tradition nicht mehr ausreicht. Vor diesem Hintergrund muss man Luhmanns Vorwurf an die Adresse der Soziologie, einen „undurchdachten Trivialbegriff von Individualitt“ zu benutzen, als den Versuch verstehen, die konfliktreiche Problematik des Schemas von Individuum und Gesellschaft auf einer ganz neuen Ebene zu 11 Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a. M. 2002, S. 131. Vgl. dazu ausfhrlich Rdiger Kramme, Helmuth Plessner und Carl Schmitt. Eine historische Fallstudie zum Verhltnis von Anthropologie und Politik in der deutschen Philosophie der zwanziger Jahre, Berlin 1989. 12 Vgl. Niklas Luhmann, Systemtheorie und Protestbewegung. Ein Interview, in: Kai Uwe Hellmann (Hrsg.), Systemtheorie und soziale Bewegung, Frankfurt a. M. 1996, S. 174 – 200. 13 Vgl. dazu etwa Michael Rutschky, Erfahrungshunger. Ein Essay ber die 70er Jahre, Kçln 1980.
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lçsen, mit der die Entscheidung entweder zugunsten der einen oder aber der anderen Seite des Schemas vermieden wird. Denn im Unterschied zu den skizzierten Kritiken des Liberalismus kann man dann nicht mehr auf die Anrufung einer der Individualitt des Individuums bergeordneten Instanz zurckgreifen, wenn die Subjektivierungsprozesse zur maßgeblichen Grçße der Gesellschaft geworden sind, das heißt nicht mehr einer bestimmten privilegierten Schicht vorbehalten werden kçnnen, und ihre Universalisierung sogar aus çkonomischen Grnden im Sinne eines unternehmerischen Selbst geboten erscheint.14 Aus diesem Grund schlgt Luhmann eine gnzlich andere Perspektive vor, wenn er jede soziologische Theoriebildung zurckweist, die ein „Summenkonstanzverhltnis“ denkt, „[…] innerhalb dessen Individualismus und Kollektivismus sich um die Anteile streiten kçnnen.“15 Whrend bislang in den Bahnen sowohl der Rechts- als auch der Linkshegelianer gegen den Liberalismus stets die Notwendigkeit einer bergeordneten Kollektivitt ins Feld gefhrt wurde, geht es Luhmann darum, die Alternative zwischen entweder Individuum oder Gesellschaft zurckzulassen und an deren Stelle ein „Steigerungsverhltnis“ zu setzen, bei der sich die Steigerung beider Seiten wechselseitig ermçglichen soll, das heißt aus mehr Individualitt folgt mehr Gesellschaft und umgekehrt. Aus dieser Perspektive ergeben sich drei Typen von Gesellschaftstheorien, nmlich erstens solche, die vom Kollektiv ausgehen und von den Erfordernissen des Kollektivs her das Individuum bestimmen und begrenzen; zweitens solche, die vom Individuum ausgehen und die Gestalt des Kollektivs von dessen Individualitt abhngig machen. Der dritte Typus, dem Luhmann natrlich vor allem die Systemtheorie zurechnet, stellt dagegen die Bedingung der wechselseitigen Steigerung von Individuum und Gesellschaft ins Zentrum, bei der zwar beide aufeinander angewiesen sind, sich jedoch wechselseitig bloß als „Umwelt“ behandeln, das heißt sich nur insoweit freinander interessieren, als sie jeweils die Voraussetzung fr die eigene Selbstreferenz darstellen.16 Was Luhmann mit dieser Verschiebung der Aufmerksamkeit 14 Zum Zusammenhang postmoderner Subjektivitt und der çkonomischen Krise des Fordismus vgl. Michael Hardt/ Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, bers. von Thomas Atzert u. Andreas Wirthensohn, Frankfurt a. M./ New York 2002, S. 252 – 290. Vgl. auch Ulrich Brçckling, Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M. 2007. 15 Luhmann, Individuum und Gesellschaft, S. 5. 16 Im Anschluss an Gehlen hat Luhmann den Personenbegriff als entscheidende „Kopplung“zwischen „psychischem“und „sozialem System“gefasst. Vgl. Luhmann, Die Form „Person“, in: ders.: Soziologische Aufklrung: 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, S. 142 – 154.
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gewonnen zu haben meint, besteht einerseits in der vorbehaltlosen Anerkennung von Individualitt als einem unhintergehbaren Ausgangspunkt moderner Gesellschaften, der jedoch andererseits trotzdem nicht das letzte Wort gehçrt: Von der Gesellschaftsstruktur und der fr sie geeigneten Semantik hngt es dann ab, welche Individualittsmuster zugelassen sind, wie Individuen angesprochen werden kçnnen und was man von ihnen wissen muß, um erwarten zu kçnnen, wie sie sich verhalten werden.17
Anders ausgedrckt, jede noch so engagierte Emanzipation ist darauf angewiesen, bergreifende Muster auszubilden, deren Reproduktionsfhigkeit durch die Gesellschaft geprft und einer Selektion zugefhrt wird. Auf diese Weise ist es nicht mehr nçtig, an eine hçhere Instanz zu appellieren, sei es nun der Staat, die Tradition oder die Institution; vielmehr ist die Gesellschaft nun selbst an die Stelle dieser Instanz aufgerckt, indem sie als „autopoietisch“ verstandene ihre eigenen Selektionsprozesse steuert.
2. Das Ausbleiben der Menschheit Unter diesen dritten Typus von Gesellschaftstheorien kann man sicher auch die Untersuchungen zum Zivilisationsprozess von Norbert Elias einordnen, dessen theoretische berlegungen ebenfalls von der Bemhung ausgehen, das „Summenkonstanzverhltnis“ von Teil und Ganzem und damit das Entweder-Oder im Schema von Individuum und Gesellschaft zu berwinden. Auch wenn der methodische Zugriff auf die historischen Prozesse bei Elias strker einer Akteurtheorie verpflichtet ist, soll ganz hnlich wie bei Luhmann an die Stelle von unabhngig gegebenen Individuen ein „Gewebe der interdependenten Funktionen“ treten, in deren Rahmen die „Menschen sich gegenseitig binden“ und dem ein „Eigengewicht“ und damit auch eine „Eigengesetzlichkeit“ zukommt.18 Einerseits wird dieser „Funktionszusammenhang“ der Vorstellung entgegengesetzt, die moderne Gesellschaft verdanke sich einer „summativen Einigung“ von Individuen, andererseits resultiert dieser „Funktionszusammenhang“ aus den „Aktionen vieler einzelner Individuen“, die sich „unaufhçrlich zu langen Handlungsketten zusammenschließen“ und als ein „Glied in den Ketten“ gebunden sind: 17 Luhmann, Individuum und Gesellschaft, S. 9. 18 Norbert Elias, Die Gesellschaft der Individuen, in: ders., Die Gesellschaft der Individuen, hrsg. von Michael Schrçter, Frankfurt a. M. 2003, S. 15 – 98, hier S. 33.
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Diese Ketten sind nicht in der gleichen Weise sichtbar und greifbar wie Eisenketten. Sie sind elastischer, variabler und wandelbarer; aber sie sind nicht weniger real, sie sind ganz gewiß nicht weniger fest. Und dieser Zusammenhang der Funktionen, die die Menschen freinander haben, er und nichts anderes ist das, was wir „Gesellschaft“ nennen.19
Ohne an dieser Stelle ausfhrlich auf die durchaus gewichtigen Unterschiede zur Systemtheorie von Luhmann eingehen zu kçnnen,20 lsst sich trotzdem an beiden Theorietypen gleichermaßen eine Konsequenz beobachten, die sich aus der Instituierung der Gesellschaft als entscheidende Grçße des historischen Prozesses zwangslufig zu ergeben scheint. In seinem Aufsatz Wandlungen der Wir-Ich-Balance von 1987, der den „Gang der Gesellschaftsentwicklung“ im „Laufe der letzten zwei Jahrhunderte“ als eine „stndig sich steigernde Abhngigkeit aller Menschengruppen voneinander“ beschreibt,21 geht Elias ganz parallel zu Luhmann zunchst davon aus, dass zumindest fr diesen historischen Zeitraum zwischen Individuum und Gesellschaft ein Steigerungsverhltnis vorliegt. Denn mit der zunehmenden Abhngigkeit entstehen auch „zunehmend differenziertere Typen sozialer Einheiten“, woraus zugleich ein „Anstieg der Individualisierungschancen“ resultiert. Mit dieser Perspektive versucht Elias, der „Selbstverstndlichkeit Paroli zu bieten“, dass das „Problem des Verhltnisses von Individuum und Gesellschaft“ ein „universelles Problem“ sei, das sich zu jeder Zeit und fr jedes Kollektiv ergibt. Die „scheinbare“ Gegenstzlichkeit von „Ich-Identitt“ und „Wir-Identitt“, die von den „gegenwrtig lebenden Menschen“ erfahren wird, ist demnach keinem berzeitlichen „Primat der Ich-Identitt“ geschuldet, sondern einer bestimmten „Entwicklungsstufe“ der Gesellschaft: Die gegenwrtige Form der Individualisierung, die heute vorherrschende Gestalt des Ich- und Wir-Bildes, ist nicht weniger bedingt durch den gesellschaftlichen Standard des Zivilisationsprozesses und ihm entsprechend des Prozesses der individuellen Zivilisierung als diese vorstaatlichen Formen des sozialen Habitus.22
19 Ebd., S. 34. 20 Zur Situierung von Luhmann und Elias im Spektrum transintentionaler Theorien vgl. Rainer Greshoff/ Georg Kneer/ Uwe Schimank (Hrsg.), Die Transintentionalitt des Sozialen. Eine vergleichende Betrachtung klassischer und moderner Sozialtheorien, Wiesbaden 2003. 21 Elias, Wandlungen der Wir-Ich-Balance, in: ders., Die Gesellschaft der Individuen, S. 301. 22 Ebd., S. 289.
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Auf der einen Seite steht Elias damit ebenso wie Luhmann in der Tradition Hegels, insofern beide der Individualitt des Individuums auch fr den Zeitraum der Moderne nicht das letzte Wort lassen wollen; auf der anderen Seite jedoch fehlt beiden im Unterschied zu Hegel eine Instanz, in der sich das Kollektiv als solches verkçrpern und in der die „Wir-Identitt“ anschaulich werden kann. Besonders deutlich wird diese Problematik anhand der beiden „Individualisierungsschbe“, die Elias fr die Moderne unterscheidet, wenn er den „bergang zum Primat des Staates im Verhltnis zur Sippe“ von einem zweiten nachstaatlichen „Individualisierungsschub“ abzugrenzen versucht. Ganz hnlich wie Hegel beschreibt Elias die „neue Stellung des Individuums“ im „bergang zu einer neuen, hçheren Integrationsstufe“, nmlich zum modernen, zentralistischen Nationalstaat, im Gegenzug als ein „Heraussetzen des einzelnen Menschen aus seinen lebenslnglichen vorstaatlichen Verbnden“,23 die bislang sein berleben gesichert haben. Dieser Schub erstreckt sich nach Elias ber den Zeitraum von der Franzçsischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg. Bis dahin entwickelt sich die neue „Wir-Ich-Balance“ innerhalb einer Gesellschaft in der „Organisationsform eines Staates“. Erst der zweite „Individualisierungsschub“ setzt die Gesellschaft derart als eine eigenstndige Grçße frei, dass sich Individuum und Gesellschaft nicht mehr eindeutig unterscheiden lassen.24 Denn in dem historischen Moment, in dem nicht mehr die „einzelnen Staaten“, sondern an deren Stelle der „Staatenverbund der Menschheit“ am geschichtlichen Horizont als „maßgebliche gesellschaftliche Einheit“ auftaucht, tritt der Zivilisationsprozess in eine „recht lange Prozessphase“ ein, bei der die „IchIdentitt“ zumindest vorbergehend die „Wir-Identitt“ zu dominieren scheint: In der bergangszeit gibt es eine oft recht lange Prozeßphase, innerhalb deren die Gruppe der niedrigeren Ordnung im Gefhl ihrer Mitglieder erhebliche Einbußen als sinnerfllende Wir-Einheit erleidet, whrend gleichzeitig die Gruppe hçherer Ordnung noch nicht in der Lage ist, die Funktion einer gefhlsmßig ebenfalls sinngebenden Wir-Einheit an sich zu ziehen.25 23 Ebd., S. 309. 24 Ulrich Beck hat diese Phase als „reflexive Modernisierung“ beschrieben, bei der die staatliche Politik zugunsten einer „Gesellschaftsgestaltung von unten“ abgelçst werde. Ulrich Beck, Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt a. M. 1993, S. 164. Zur kritischen Darstellung dieser „postpolitischen Vision“ vgl. Chantal Mouffe, ber das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, bers. von Niels Neumeister, Frankfurt a. M. 2007, S. 48 – 84. 25 Elias, Wandlungen der Wir-Ich-Balance, S. 300.
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Dass in dieser „bergangsphase“ von einer niedrigeren zu einer hçheren Ordnung die Gesellschaft als eine Gesellschaft von Individuen erscheint, liegt also nur daran, dass sich das Modell fr das, „was man unter Gesellschaft versteht“, noch nicht vollstndig etabliert hat. Whrend dieses Modell bis zum zweiten Weltkrieg eindeutig durch den Staat definiert war, zeichnet sich die zuknftige „Integrationsstufe“ zwar schon ab, ist aber noch nicht als solche gegeben: „Als effektive Integrationsebene hçchster Ordnung tritt die Menschheit in der Tat gegenwrtig immer deutlicher hervor.“26 Seit sich die Gesellschaft vom Staat als ihrer „Organisationsform“ verabschiedet hat, ist sie auf der Suche nach einer hçheren „Integrationsebene“, die sowohl fr Elias als auch fr Luhmann nur die Gestalt einer „Weltgesellschaft“mit ihren entsprechenden Institutionen haben kann.27 Die Dynamik der Gesellschaft, die schon den Staatstheoretiker Hegel beunruhigt hat, kann aus der Perspektive der beiden Gesellschaftstheoretiker Elias und Luhmann erst dann ihre eigene „Wir-Identitt“ ausbilden und sich selbst steuern, wenn diese Gesellschaft als „Weltgesellschaft“ tatschlich zur hçchsten Instanz geworden ist. Auch wenn Luhmann humanistisch klingende Begrifflichkeiten wie den Diskurs der Menschheit peinlich vermieden hat, so sind beide Theoretiker aufgrund ihrer Prmisse einer wechselseitigen Steigerung von Individuum und Gesellschaft dazu gezwungen, dem zweiten „Individualisierungsschub“, der sich Mitte der 80er Jahre nicht mehr verleugnen ließ, auch einen Schub der Gesellschaft abzulesen. Aus diesem Grund muss die Gesellschaft ab dem historischen Moment, in dem sie nicht mehr in erster Linie von ihrer staatlichen Verfasstheit dominiert wird, aus der Perspektive einer Gesellschaftstheorie zwangslufig auf dem Weg zur „Weltgesellschaft“ sein. Dass dieser Schub sich jedoch zugleich ankndigt und doch auszubleiben scheint, ist das eigentliche Problem, das Elias in seinem Aufsatz Wandlungen der Wir-Ich-Balance nachhaltig beschftigt hat. An mehreren Stellen muss Elias festhalten, dass die gegenwrtige „bergangsphase“ von einer eigentmlichen „Diskrepanz“ gekennzeichnet ist, die in dem Zurckbleiben der „Wir-Identitt“ hinter der „Ich-Identitt“ besteht:
26 Ebd., 304 f. 27 Zum systemtheoretischen Begriff der Weltgesellschaft vgl. Rudolf Stichweh, Inklusion/ Exklusion, funktionale Differenzierung und die Theorie der Weltgesellschaft, in: Soziale Systeme 3 (1997), S. 123 – 136. Zu den Hoffnungen und den Enttuschungen einer Theorie der Weltgesellschaft, die mit dem historischen Ende des Kalten Krieges verbunden waren, vgl. Ulrich Menzel, Globalisierung versus Fragmentierung, Frankfurt a. M. 1998, S. 242 – 262.
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Zu den Merkwrdigkeiten der gegenwrtigen Lage gehçrt unter anderem die Tatsache, daß auch auf dieser Ebene das Wir-Bild, die Wir-Identitt der meisten Menschen hinter der Realitt des tatschlichen Integrationsniveaus herhinkt; das Wir-Bild bleibt weit hinter der Realitt der globalen Interdependenzen, also auch der mçglichen Zerstçrung des gemeinsamen Lebensraums durch einzelne Menschengruppen zurck.28
Obwohl die „Interdependenzen“ schon lngst das hçchste Ordnungsniveau erreicht haben, bilden sich trotzdem nicht die entsprechende „Wir-Identitt“ und damit die entsprechende „Organisationsform“ einer weltweiten Gesellschaft heraus. Was sich aus der Perspektive einer funktionalistischen Gesellschaftstheorie eigentlich als zwangslufiger Prozess einer nichtintentionalen Ordnungsstiftung vollziehen msste, findet in der erwarteten Form nicht statt. Obwohl die Individuen lngst auf globaler Ebene voneinander abhngig sind und somit schon in einer „Weltgesellschaft“ leben, scheinen sie sich auf fast schon hartnckige Weise immer noch mit „begrenzten Teilgruppen der Menschheit“ zu identifizieren. Um aus dieser „Diskrepanz“, die Elias mehrfach mit Verwunderung feststellt, jedoch keine Konsequenzen fr die Anlage seiner Prmissen einer wechselseitigen Steigerung von Individuum und Gesellschaft ziehen zu mssen, bleibt dem Theoretiker der Gesellschaft nichts anderes brig, als dieses Zurckbleiben hinter den funktionalen Realitten einem berkommenen „Habitus der Individuen“zuzurechnen, der den Zivilisationsprozess auf gefhrliche Weise aufzuhalten droht. Erst ganz zum Schluss seines Aufsatzes kommt Elias auf einen ganz anderen Grund fr dieses vermeintliche Zurckbleiben der Individuen zu sprechen, der jedoch außerhalb der theoretischen Reichweite einer funktionalistischen Gesellschaftstheorie zu liegen scheint: Auf allen Stufen der Integration entwickelte sich das Wir-Gefhl im Zusammenhang mit der Erfahrung einer Bedrohung der eigenen Gruppe durch andere Gruppen. Die Menschheit hingegen ist nicht durch andere, außermenschliche Gruppen bedroht, sondern nur durch Teilgruppen ihrer selbst.29
3. Jenseits der Gesellschaft Mit dieser Feststellung, dass der Zivilisationsprozess nicht nur durch das „Gewebe der interdependenten Funktionen“, sondern offensichtlich ganz maßgeblich ebenfalls durch die „Erfahrung einer Bedrohung der eigenen 28 Elias, Wandlungen der Wir-Ich-Balance, S. 302. 29 Ebd., S. 305.
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Gruppe durch andere Gruppen“ vorangetrieben wird,30 verlsst Elias insofern das Schema von Individuum und Gesellschaft, als die Frage der Bedrohung nicht mehr auf die Stillstellung des Schemas in einer „Weltgesellschaft“ fhrt, sondern im Gegenteil auf deren Zerteilung in einzelne Gruppen, die sich gerade nicht mehr funktionalistisch erklren lsst. Mit dem Problem der Bedrohung sind dagegen eher konflikttheoretische Modelle der Gesellschaft aufgerufen, wie sie in jngerer Zeit etwa von Michel Foucault im Anschluss an Nietzsche oder von Jacques Rancire im Anschluss an Marx oder aber von Chantal Mouffe im Anschluss an Carl Schmitt vertreten werden. Allerdings geht es dabei nicht nur um eine ußere Bedrohung, wie sie Elias zum Schluss seines Aufsatzes in den Vordergrund rckt, wenn er die Auffassung vertritt, die Abschaffung von Kriegen zwischen Teilgruppen der Menschheit und die Entwicklung eines menschheitlichen Wir-Gefhls wren sicherlich einfacher, wenn die Menschheit durch Außenstehende mit Vernichtung, mit der Auslçschung ihrer Existenz bedroht wre.31
Im Gegensatz zu einer Theorie des Zivilisationsprozesses, der zuletzt offensichtlich nichts anderes brig zu bleiben scheint, als ein solches Szenario anzurufen, um die „Abschaffung von Kriegen“ gewhrleistet zu sehen, gehen die oben genannten konflikttheoretischen Modelle jedoch nicht von einem vorbergehenden Konflikt im Sinne einer ußeren Bedrohung aus, sondern von einem die Gesellschaft konstituierenden Konflikt.32 Aus dieser Perspektive berdecken die Versuche funktionalistischer Gesellschaftstheorien, die Gestalt des Kollektivs aus der gesellschaftlichen Differenzierung zu erklren und damit das konfliktreiche Schema von Individuen und Gesellschaft einem von den Akteuren nicht intendierten Prozess gemeinsamer Ordnungsstiftung zuzufhren, einen grundstzlichen Konflikt, bei dem es keineswegs entweder um die Gesellschaft oder aber um die Individuen geht. 30 Vgl. dazu auch Norbert Bolz, Warum es keine Kriege mehr gibt, in: Bazon Brock/ Gerlinde Koschik (Hrsg.), Krieg und Kunst, Mnchen 2002, S. 149 – 160, hier S. 159, der zwar die Meinung vertritt, die weltweite „Verwandlung des politischen Feindes“ in einen „çkonomischen Konkurrenten“sei als gelungen anzusehen, weil es Feinde nun „nur noch an den Grenzen der Weltgesellschaft“ gebe, jedoch zugleich einrumen muss, dass das Problem der Feindschaft damit entgrenzt sei, weil diese Grenzen lngst „keine territorialen“ mehr sind. 31 Elias, Wandlungen der Wir-Ich-Balance, S. 305. 32 Vgl. dazu sowohl historisch am Beispiel der griechischen Polis als auch systematisch Nicole Loraux, Das Band der Teilung, bers. von Andreas Knop, in: Joseph Vogl (Hrsg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a. M. 1994, S. 31 – 64.
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Denn selbst Luhmann, der in seiner Zurckweisung einer ethischen Perspektive sich wohl am deutlichsten von jedem Versuch einer Normenbegrndung in der Subjektivitt des Individuums distanziert hat, legt trotzdem noch eine den Gesellschaftskçrper konstituierende Symmetrie nahe, wenn er alle Individuen in der gleichen Weise auf die Gesellschaft als ihre „Umwelt“ verpflichtet sieht und in seinem kurzen berblick der mçglichen Varianten des Schemas von Individuum und Gesellschaft eine ganz entscheidende Variante ausblendet, die man vielleicht als Variante der Entkopplung bezeichnen kçnnte und die sich wohl am deutlichsten bei Nietzsche finden lsst. Denn auch wenn man Nietzsche sicherlich nicht als einen Theoretiker der Gesellschaft im Sinne von Luhmann und Elias ansprechen kann, so lsst sich seine theoretische Aufmerksamkeit fr die spezifisch modernen Selektionsprozesse der Individuen, die ein demokratisch verfasstes Kollektiv zur Voraussetzung haben, trotzdem insofern als eine vierte Variante des Schemas von Individuen und Gesellschaft begreifen, als es Nietzsche darum geht, ein „souveraines Individuum“ zu denken, das sich zwar dem gesellschaftlichen Zivilisationsprozess verdankt und daher in der Schuld der Gesellschaft steht, jedoch die Kraft besitzt, sich von dieser Schuld loslçsen zu kçnnen. In seiner Schrift Zur Genealogie der Moral (1887) hat Nietzsche die kollektiven Kohsionskrfte in einem Schuldverhltnis situiert, das die Individuen aneinander bindet und in der wirkmchtigen Form einer „socialen Zwangsjacke“33 ihre Individualitt hervorbringt. In der Rekonstruktion der verschiedenen Formationen dieses Schuldverhltnisses folgt Nietzsche dem historischen Narrativ der Geschichtsphilosophie Hegels insofern, als er nicht nur die gleichen Stationen von der griechischen Welt der Herren ber die christliche Welt der Knechte bis zur modernen Welt der rechtlichen Selbstunterwerfung nachzeichnet, sondern darber hinaus den Hçhepunkt dieser Geschichte zunchst in der Hervorbringung eines allgemeinen Begriffs vom Menschen sieht. Whrend jedoch in den idealistischen Geschichtsschreibungen damit prinzipiell jeder als Mensch an der Freiheit seiner selbst als Selbstzweck partizipieren kçnnen soll, bestimmt Nietzsche diesen Hçhepunkt des „ungeheuren Prozesses“, in dem der Mensch durch spezifische Zwangsprozeduren als ein kalkulierendes und kalkulierbares Subjekt hervorgebracht worden ist, lediglich als eine „vorhistorische Arbeit“, deren Sinn nicht in ihr selbst liegt, sondern sich erst dann offenbaren wird, wenn man begreift, was dadurch mçglich geworden ist. Denn im Unterschied zu den Gesellschaftstheoretikern, bei denen die 33 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, II § 2, KSA 5, S. 293.
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Gesellschaft zur zentralen Instanz wird, die den Umstand verkçrpert, dass alle wechselseitig voneinander abhngig sind und jeder in der Schuld jedes anderen steht, bereitet fr Nietzsche die „Societt und ihre Sittlichkeit der Sitte“ lediglich das vor, „wozu sie nur das Mittel“ war, nmlich als „reifste Frucht“ das „souveraine Individuum“, das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome bersittliche Individuum (denn „autonom“ und „sittlich“ schliesst sich aus), kurz den Menschen des eignen und unabhngigen Willens, der versprechen darf – […].34
Bei Nietzsche stellen die Individuen also weder die Voraussetzung des Kollektivs dar, wie im Falle der Vertragstheorien, noch sind sie dem Kollektiv untergeordnet. Vielmehr gehçren sie ganz im Sinne von Luhmann und Elias so dem Kollektiv an, dass mit der Steigerung der kollektiven Krfte auch eine Steigerung der individuellen Krfte mçglich wird. Nietzsches Interesse gilt dabei aber nicht wie bei Luhmann und Elias der Kopplung von Individuum und Gesellschaft, sondern deren Entkopplung, die jedoch erst am Ende des „ungeheuren Prozesses“, dessen vorlufiger Hçhepunkt im Diskurs des Menschen und einer demokratischen Gesellschaft besteht, als eine historische Mçglichkeit aufscheint. Wenn Nietzsche diesem Diskurs das eminent politische Projekt eines „bermenschen“ entgegenhlt, dessen Souvernitt darin besteht, dass er der Gesellschaft, aus der er hervorgegangen ist, anders als im Modell des Gesellschaftsvertrags nichts schuldig ist, dann zielt diese Mçglichkeit auf eine Form von Individualitt, der es mçglich ist, die Gesellschaft in ihren Dienst zu nehmen, ohne ihrerseits dadurch verpflichtet zu sein.35 In einem nachgelassenen Fragment macht Nietzsche deutlich, dass diese Mçglichkeit keineswegs die soziale Schichtung einer vormodernen Gesellschaft und somit eine Restitution feudaler Herrschaftsmodelle anstrebt, bei denen selbst noch unter der Bedingung dauerhaft fixierter Asymmetrien eine Bindung der Herrschenden gegenber den Untertanen besteht, sondern eine „Rangordnung der Individuen“ zum Ziel hat, die weit ber traditionelle Herrschaftsformen hinausgeht: Zarathustra glcklich darber, daß der Kampf der Stnde vorber ist, und jetzt endlich Zeit fr eine Rangordnung der Individuen. Haß auf das demokratische Nivellirungs-system ist nur im Vordergrund: eigentlich ist er sehr froh, daß dies so weit ist. Nun kann er seine Aufgabe lçsen. – 34 Ebd., S. 293. 35 Vgl. dazu die gegenteilige und entpolitisierende Deutung von Nietzsche als dem Begrnder der „individualistischen Welle“ bei Peter Sloterdijk ber die Verbesserung der guten Nachricht. Nietzsches fnftes „Evangelium“, Frankfurt a. M. 2001, S. 55 ff.
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Seine Lehren waren bisher nur an die zuknftige Herrscher-Kaste gerichtet. Diese Herren der Erde sollen nun Gott ersetzen, und das tiefe unbedingte Vertrauen der Beherrschten sich schaffen.36
Fr eine auf individueller Selektion basierende „Rangordnung der Individuen“ stellt der bergang von vormodernen Modellen der Schichtung zugunsten von funktionalen Modellen deshalb die entscheidende Voraussetzung dar, weil damit zugleich eine weit reichende Anonymisierung von Abhngigkeitsverhltnissen einhergeht, sodass es fr eine Reihe von Individuen schließlich auch mçglich sein wird, die kollektiven Kohsionskrfte der Schuldverhltnisse hinter sich zu lassen. Aus dieser Perspektive ist die Wahrscheinlichkeit einer Entkopplung von sozial gebundenen und sozial nicht mehr gebundenen Individuen unter demokratischen Bedingungen deshalb viel hçher, weil sich die Ausgangsbasis fr die Selektion „bermenschlicher“ Individuen im Unterschied zu vormodernen Gesellschaften deutlich verbreitert hat und nicht mehr durch stndische Fixierungen behindert wird. Whrend sich die Idee einer demokratisch verfassten Gesellschaft aus der Sicht Nietzsches zunchst der Herrschaft der „Schwachen“ verdankt, ermçglicht der Gedanke der Gleichheit tatschlich eine weitaus gnstigere Aussicht auf die Hervorbringung von „starken“ Individuen, die ausschließlich sich selbst und nicht mehr dem Diskurs der Menschheit verpflichtet sind. Die Provokation Nietzsches, die sich keineswegs, wie vielfach geschehen, als antimodern abtun lsst, besteht daher darin, dem „demokratischen Nivellirungs-system“ die Mçglichkeit von derart starken Asymmetrien abzulesen, wie sie nicht einmal unter traditionellen Herrschaftsformen mçglich gewesen wren. Demnach geht mit der Steigerung von „Individualisierungschancen“, die von den Theoretikern der Gesellschaft in der Regel als der entscheidende Gewinn der Moderne hervorgehoben wird, auch eine entsprechend gesteigerte Mçglichkeit von Asymmetrien einher, so dass keineswegs alle Individuen in der gleichen Weise auf die Gesellschaft verpflichtet sind, und zwar auch dann nicht, wenn diese die Form einer Weltgesellschaft annimmt. Mçglicherweise ist Nietzsche der bessere Analytiker des Schemas von Individuum und Gesellschaft. Denn so wie Nietzsches Interesse fr die Figur des Verbrechers, der eine der mçglichen Exemplifizierungen des von der „Sittlichkeit der Sitte“ entbundenen Individuums darstellt,37 exakt der theoretischen Behandlung des Verbrechers bei 36 Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, KSA 11, 39[3], S. 620. 37 Vgl. dazu Friedrich Balke, From a biopolitical point of view: Nietzsches Philosophy of Crime, in: Cardozo Law Review 24 (2003), S. 705 – 722.
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Hegel entgegengesetzt ist,38 so kehrt Nietzsche auch das entscheidende Argument um, das Hegel der Gesellschaftstheorie geliefert hat: Whrend Hegel argumentiert, dass die Individuen selbst dort noch der Allgemeinheit dienen, wo sie meinen, nur sich selbst verpflichtet zu sein, argumentiert Nietzsche, dass die Individuen selbst dort noch anderen Individuen dienen, wo sie meinen, ausschließlich der Allgemeinheit verpflichtet zu sein.
38 Vgl. dazu Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 2003, S. 20 – 53.
Nietzsches Mitteilungszeichen, Elias’ Symboltheorie und die Spielrume der Orientierung Werner Stegmaier Nietzsche und Elias haben sich vergleichsweise spt, dann jedoch um so eindringlicher der Philosophie bzw. soziologischen Theorie der Kommunikation zugewandt. Nietzsche ist es gelungen, sie in einen einzigen Aphorismus des spten, 1887 verçffentlichten 5. Buchs der Frçhlichen Wissenschaft zu verdichten, dem Aphorismus 354, Elias hat sie in einem Alterswerk entfaltet, an dem er immer neu bis zu seinem Tod gearbeitet hat.1 Beide gehen davon aus, dass Gesellschaft sich in Kommunikationen ihrer Individuen vollzieht und durch diese Kommunikationen erst entsteht. Luhmann wird das zu der These radikalisieren, dass Gesellschaft berhaupt nur in diesen Kommunikationen besteht, und das Individuum als bloße Umwelt ausdifferenzierter Funktionssysteme der Kommunikation der Gesellschaft ansetzen. Nietzsche und Elias geht es jedoch gerade um das Verhltnis von Gesellschaft und Individuum, die Frage, wie Gesellschaft sich immer neu in den Kommunikationen der Individuen gestaltet und wie sie von sich aus die Individuen umgestaltet. Elias setzt nicht einfach, wie es von einem Soziologen zu erwarten wre, auf eine soziologische und Nietzsche nicht einfach, wie man es von einem Philosophen des freien Geistes vermuten wrde, auf eine individualistische Perspektive, sondern beide wollen, jeder von seiner Seite, das Verhltnis von Gesellschaft und Individuen offen halten, um seine Dynamik beobachten zu kçnnen. Beide, wie dann auch Luhmann, sind erklrte Evolutionisten. Der Gedanke der Evolution ist im Kern der Gedanke, dass Individuen mit anderen Individuen wieder andere Individuen zeugen. Danach gibt es kein zeitloses Allgemeines biologischer 1
Elias’ Symboltheorie erschien zunchst 1989 in englischer Sprache in drei aufeinanderfolgenden Ausgaben der Zeitschrift Theory, Culture and Society, dann, mit einer unvollendet gebliebenen Einleitung, als Buchausgabe, postum herausgegeben von Richard Kilminster, der an diesem Werk eng mit Elias zusammengearbeitet hatte und ihm half, es zu strukturieren: Norbert Elias, The Symbol Theory. Edited with an Introduction by Richard Kilminster, London/ Newbury Park/ New Delhi (SAGE Publications) 1991, deutsch: Symboltheorie (Gesammelte Schriften, Bd. 13), aus dem Engl. von Reiner Ansn, Frankfurt am Main 2001.
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Arten, an das Aristoteles und die ihm zweitausend Jahre lange folgende philosophische Tradition mit ihrem Begriff des Begriffs angeschlossen hatten. Individuen ihrerseits sind lediglich dadurch bestimmt, dass sie anders als andere Individuen sind und darum auch immer noch anders, als noch so feine allgemeine Begriffe sie erfassen kçnnen. Eine „Gesellschaft von Individuen“, wie Elias sie nannte, ist darum im Kern evolutionr und weder auf ontologische noch auf normative Begriffe festzulegen. Ihr evolutionrer Umgestaltungsprozess lsst der Individualitt der Individuen Spielrume: die Erhaltung und Steigerung der Spielrume der Individuen in Gesellschaften – nicht ihre abstrakte, natur- oder vernunftrechtlich begrndete ,Freiheit‘ – waren die Hauptsorge Nietzsches in seiner Philosophie und der Hauptgegenstand von Elias’ Soziologie. Von den Spielrumen der Individuen in Gesellschaften hngt aber, das ist am Beginn des 21. Jahrhunderts kaum mehr umstritten, die Entwicklungs- und damit die Zukunftsfhigkeit der Gesellschaften ab. Nach den Durchbrchen durch ontologische und normative „Vorurtheile“, wie Nietzsche, oder „Blockaden“des Denkens, wie Elias sie nannte, kçnnen wir heute die Bedingungen der Mçglichkeit der Zukunftsfhigkeit von Individuen und Gesellschaften mit einer zwar vertrauten, bisher aber nur selbstverstndlich gebrauchten und kaum kritisch durchdachten Begrifflichkeit erschließen, der Begrifflichkeit der Orientierung, und wir kçnnen dann auch versuchen, Nietzsches Philosophie und Elias’soziologische Theorie der Kommunikation in den Spielrumen dieser Begrifflichkeit zu verorten und dadurch auf ihre theoretische Produktivitt und aktuelle Plausibilitt hin vergleichbar zu machen. Ich werde, dem Titel meines Beitrags folgend, die Anstze beider zunchst kurz skizzieren, um sie dann in den Spielrumen der Orientierung, die die Philosophie der Orientierung erkennen lsst, auf ihre Differenzen hin zu analysieren.
1. Nietzsches Mitteilungszeichen Nietzsches durchgehend kritischer Ansatz in der Philosophie wird im Aphorismus 354 der Frçhlichen Wissenschaft soziologisch produktiv. Er stellt dort von der Sozialitt her den philosophischen Ansatz beim Bewusstsein, den Ausgangspunkt der Philosophie der Neuzeit, in Frage, stellt entschieden von Metaphysik auf „Physiologie und Thiergeschichte“ oder kurz auf Evolution um2 und entlarvt den Begriff des Bewusstseins kritisch als ens 2
Nietzsche meidet den Begriff Evolution wie zumeist wissenschaftliche termini technici. Er verwendet das Wort nur im frhen Werk und dort nicht im biologischen,
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metaphysicum. Es war ein solches geworden, nachdem Descartes die conscientia, das kritische ,Mitwissen‘ des Menschen um sein gutes oder schlechtes Handeln, mit der cogitatio, dem bloßen Vollzug des Denkens, verknpft und es als bloße Selbstgewissheit des Denkens konstituiert hatte.3 Bewusstsein ist individuell; sofern es sich jedoch als bloßes ,ich denke‘ ausspricht und Denken als schlechthin allgemein angesetzt wird, ist es zugleich ein allgemeines. Als denkendes wurde das Bewusstsein aus einem individuellen zu einem allgemeinen. Vollends zu einem ens metaphysicum wurde es, weil Descartes weiterhin mit Aristoteles den Vollzug des Denkens nur als Akzidens einer Substanz, der res cogitans, zu denken vermochte4 – ,Bewusst-Werden‘ war nun wieder ein ,Bewusst-Sein‘. Leibniz dagegen hatte, worauf Nietzsche hinweist, nur ein gelegentliches Bewusst-Werden einer perception in einer selbstbezglichen apperception angenommen, und auch Kant hatte die „ursprnglich-synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption“ oder das „Subjekt“ nur noch als Vorstellung gelten lassen, das „alle meine Vorstellungen begleiten“ kann, aber nicht muss. 5 Dennoch setzte sich die dogmatische Versuchung, dieses nur vorgestellte Subjekt wieder als gegebene Substanz zu fassen, in den kantianischen Erkenntnistheorien bis hin zur Transzendentalen Phnomenologie Husserls wieder durch: Husserls Begriff der Intersubjektivitt, heute einer der geschtztesten, geht von Gemeinsamkeiten gegebener Subjekte aus, whrend nach Kant doch nur Objekte sinnlich gegeben sein kçnnen, dies aber gerade bei Bewusstseinen nicht
3 4 5
sondern einem zunchst dramaturgischen und dann sogleich philosophisch entgrenzten Sinn. Vgl. Das griechische Musikdrama, KSA 1, S. 530: „In den Evolutionen der Choreuten, die sich vor den Augen der Zuschauer wie Arabesken auf der breiten Flche der Orchestra hinzeichneten, empfand man die gewissermaßen sichtbar gewordne Musik“; Nachlaß 1869 – 1874, KSA 7, 19[124], S. 459: „Die Ordnung in der Welt, das mhsamste und langsamste Resultat entsetzlicher Evolutionen als Wesen der Welt begriffen – Heraklit!“ und ebd., 19[151], KSA 7, S. 466: „Die Philosophie anzuschauen wie die Astrologie: nmlich das Schicksal der Welt mit dem des Menschen zu verknpfen: d. h. die hçchste Evolution des Menschen als die hçchste Evolution der Welt zu betrachten. Von diesem philosophischen Triebe aus empfangen alle Wissenschaften ihre Nahrung. Die Menschheit vernichtet erst die Religionen, dann die Wissenschaft.“ Vgl. A. Diemer, Art. Bewußtsein, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel/ Darmstadt 1971, Sp. 890 f. Vgl. Werner Stegmaier, Substanz. Grundbegriff der Metaphysik, Stuttgart/ Bad Cannstatt 1977, S. 92 – 99. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 131 f. – Vgl. zu Nietzsches Bezgen zu Leibniz und Kant Josef Simon, Das Problem des Bewußtseins bei Nietzsche und der traditionelle Bewußtseinsbegriff, in: Mihailo Djuric´/ Josef Simon (Hrsg.), Zur Aktualitt Nietzsches, Bd. II, Wrzburg 1984, S. 17 – 33.
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mçglich ist. Nietzsche brach entschieden mit der Ontologisierung des Bewusstseins, um es neu von der Kommunikation oder, in seiner Sprache, von der „Mittheilung“ her zu denken, und erçffnete dadurch zugleich einen soziologischen Zugang zu ihm. Auch Elias wollte in erster Linie die substantialistische „Blockade“ im Denken des Bewusstseins und der Kommunikation berwinden. Nietzsche konnte sich bei seiner kommunikationsphilosophischen Umwertung des Bewusstseins zum einen auf Schopenhauer sttzen, der es zum willenlosen Werkzeug des blinden, unbewussten Willens zum Dasein herabstufte,6 und zum andern an sprachphilosophische Entwicklungen anschließen, die ber Gustav Gerber und Wilhelm von Humboldt wiederum auf Kant zurckgingen.7 Im fnf Jahre frher publizierten 11. Aphorismus der Frçhlichen Wissenschaft prangerte er die „lcherliche Ueberschtzung und Verkennung des Bewusstseins“ an, als ob es „der Kern des Menschen; sein Bleibendes, Ewiges, Letztes, Ursprnglichstes“ sei, unterschied in Leibniz’ Sinn „Bewusstheit“ von „Bewusstsein“ und nahm sie in evolutionstheoretischer Perspektive in den Blick.8 Unser zum allergrçßten Teil unbewusst ablaufendes Verhalten wird nur bewusst, wenn es auffllig riskant wird und der berlegten Entscheidung bedarf, und es ist daher irrefhrend, aus der gelegentlichen Bewusstheit ein dauerndes Bewusstsein zu machen.9 Und so fragt er dann im Aphorismus 354: „Wozu berhaupt 6
7 8 9
Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, Ergnzungen zum zweiten Buch, Kap. 19: „Vom Primat des Willens im Selbstbewusstsein“, in: ders., Smtliche Werke, hrsg. von Arthur Hbscher, Bd. 3, Leipzig 1938, S. 224 – 276. Vgl. Benedetta Zavatta, Die in der Sprache versteckte Mythologie und ihre Folgen frs Denken. Einige Quellen von Nietzsche: Max Mller, Gustav Gerber und Ludwig Noir, in: Nietzsche-Studien 38 (2009). Auch im fnf Jahre spteren Aphorismus § 354 aus Die frçhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 593, heißt es noch: „das wachsende Bewusstsein [ist] eine Gefahr; und wer unter den bewusstesten Europern lebt, weiss sogar, dass es eine Krankheit ist.“ ,Bewusstheit‘ ist im Wçrterbuch der Gebrder Grimm (Bd. 1, Leipzig 1854) noch nicht nachgewiesen, auch nicht bei Schopenhauer. Der frhe Nietzsche gebrauchte das Wort jedoch regelmßig. Vgl. u. a. Ueber das Pathos der Wahrheit, KSA 1, S. 760 („Bewußtheits-Zimmer“ – in Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne, KSA 1, S. 877 jedoch „Bewusstseinszimmer“) und Nachlaß 1880 – 1882, KSA 9, 10[F101], S. 438: „[D]ie gewçhnlichste Form des Wissens ist die ohne Bewußtheit. Bewußtheit ist Wissen um ein Wissen […] – und dazu reichen zufllige Anstçße aus, die man vielleicht errathen kann.“ In der Vorstufe zu Die frçhliche Wissenschaft, § 354 verwendet Nietzsche abwechselnd „Bewusstheit“ und „Bewusstsein“ offenbar ohne Sinnunterschied (Nachlaß 1884 – 1885, KSA 11, 30[10], S. 356). Der spte Nietzsche differenziert dann jedoch wieder deutlich zwischen „Bewusstheit“ und,
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Bewusstsein, wenn es in der Hauptsache berflssig ist?“ Er bestreitet den Sinn der Rede vom Bewusstsein nicht schlechthin.10 Seine These ist vielmehr, dass die Kommunikation, die „Mittheilung“, stets riskant ist und daher dauernder Bewusstheit und in diesem Sinn dann eines anhaltenden Bewusstseins bedarf. Kommunikation ist immer riskant, weil der jeweils andere die bermittelten Zeichen immer anders verstehen und auch immer anders auf sie reagieren kann, als man es erwartet hat, und dies um so mehr, je grçßer die Spielrume der Individuen in den Gesellschaften werden. Kommunikation verluft mit Luhmanns Begriff stets in doppelter Kontingenz, und auf sie hat ein waches Bewusstsein stets aufmerksam zu bleiben. Dies ist fr Nietzsche der Sinn von ,Bewusstsein‘: Das Bewusstsein ist kein Sein, sondern die dauernde Bewusstheit der immer riskanten doppelten Kontingenz der Kommunikation. Nietzsche trgt seine „Antwort“ auf das „Problem des Bewusstseins (richtiger: des Sich-Bewusst-Werdens)“ in zwei, wie er schreibt, „vielleicht ausschweifenden Vermuthung[en]“ vor. Nach der ersten scheint, so Nietzsche, „die Feinheit und Strke des Bewusstseins immer im Verhltniss zur Mittheilungs-Fhigkeit eines Menschen (oder Thiers) zu stehn, die Mittheilungs-Fhigkeit wiederum im Verhltniss zur Mittheilungs-Bedrftigkeit […].“ Das Bewusstsein macht immer feinere Unterscheidungen und hlt sie immer strker fest, je riskanter die Kommunikationssituation wird. Bewusstsein entspringt wie alles brige einer „Noth“, die es not-wendig macht; man muss, so Nietzsche, um etwas zu verstehen, jeweils diese „Noth“ wie er jetzt sagt, „Gesammtbewußtsein“ (Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 10[137], S. 534) und kommt schließlich zum Begriff einer „Differenz-Bewußtheit“ (Nachlaß 1887 – 1889, KSA 13, 14[121], S. 300). – Erwin Schlimgen, Nietzsches Theorie des Bewußtseins, Berlin/ New York 1999 (= Monographien und Texte zur NietzscheForschung, Bd. 41), thematisiert die Unterscheidung nicht, sondern gebraucht ebenfalls beide Begriffe austauschbar. 10 Wenn die Moderne so sehr auf sie gesetzt hat, muss sie einen Sinn haben, einen Sinn jedoch, der nicht einfach selbsterklrend ist. In der Vorstufe zu Die frçhliche Wissenschaft, § 354, im Nachlaß 1884 – 1885, KSA 11, 30[10], S. 356, machte sich Nietzsche ber Kants Rede von „Vermçgen“ lustig: „Wie ist diese Bewußtheit mçglich? Ich bin fern davon, auf solche Fragen Antworten (d. h. Worte und nicht mehr!) auszudenken; zur rechten Zeit fllt mir der alte Kant ein, welcher einmal sich die Frage stellte: ,wie sind synthetische Urtheile a priori mçglich?‘ Er antwortete endlich, mit wunderbarem deutschem Tiefsinn: ,durch ein Vermçgen dazu‘. – Wie kommt es doch, daß das Opium schlafen macht? Jener Arzt bei Molire antwortete: es ist dies die vis soporifica. Auch in jener Kantischen Antwort vom ,Vermçgen‘ lag Opium, mindestens vis soporifica: wie viele deutsche ,Philosophen‘ sind darber eingeschlafen!“
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„errathen“.11 Nach der Heuristik der Not wird Bewusstsein besonders in gefhrlichen Situationen not-wendig, die man nur gemeinsam bestehen kann, in denen man deshalb zusammenstehen muss und es also darauf ankommt, „sich gegenseitig rasch und fein zu verstehen“. Die dort erworbene Mitteilungs-Fhigkeit steht dann aber auch bereit, wo keine akuten Nçte mehr herrschen, und so wird „endlich ein Ueberschuss dieser Kraft und Kunst der Mittheilung“ Gelegenheiten suchen, sich auch ohne Not „verschwenderisch“ auszugeben – die Mitteilungs-Fhigkeit und mit ihr das Bewusstsein verselbststndigt sich und kann nun auch, so Nietzsche, von Knstlern, Rednern, Predigern, Schriftstellern und, darf man hinzufgen, auch von Wissenschaftlern und Philosophen genutzt werden. Doch auch dann wird es sich kaum um ,herrschaftsfreie‘ Kommunikation handeln, die unter den Beteiligten schon das allgemeine Vermçgen und den Willen voraussetzt, auf individuelle Ansprche gnzlich zu verzichten, also die sogenannte Vernunft.12 Statt dessen geht es auch hier zuerst und zumeist, so spinnt Nietzsche den Faden in einem Notat fort, um „Eroberung des Andern“, 11 Vgl. unter vielen anderen Schopenhauer als Erzieher 3, KSA 1, S. 356: „Man muss den Maler errathen, um das Bild zu verstehen, – das wusste Schopenhauer“; Menschliches, Allzumenschliches I, § 211, KSA 2, S. 172: „Ein wirklicher Schriftsteller giebt dem Affect und der Erfahrung Anderer nur Worte, er ist Knstler, um aus dem Wenigen, was er empfunden hat, viel zu errathen“; Morgenrçthe, § 113, KSA 3, S. 102: „Man will vielmehr wahrnehmen oder errathen, wie der Nchste an uns usserlich oder innerlich leidet, wie er die Gewalt ber sich verliert und dem Eindrucke nachgiebt, den unsere Hand oder auch nur unser Anblick auf ihn machen“; ebd., § 123, S. 116: „Wie die Vernunft in die Welt gekommen ist? Wie billig, auf eine unvernnftige Weise, durch einen Zufall. Man wird ihn errathen mssen, wie ein Rthsel“; ebd., § 309, S. 225: „Die Furcht hat die allgemeine Einsicht ber den Menschen mehr gefçrdert, als die Liebe, denn die Furcht will errathen, wer der Andere ist, was er kann, was er will: sich hierin zu tuschen, wre Gefahr und Nachtheil“; Also sprach Zarathustra III, Vom Gesicht und Rthsel, KSA 4, S. 197: „wo ihr errathen kçnnt, da hasst ihr es, zu erschliessen“; Die frçhliche Wissenschaft, § 366, KSA 3, S. 614: „Wir lesen selten, wir lesen darum nicht schlechter – oh wie rasch errathen wir’s, wie Einer auf seine Gedanken gekommen ist“; Nachlaß 1887 – 1889, KSA 13, 14[89], S. 265: „Die zwei Typen: / Dionysos und der Gekreuzigte. / […] Man errth: das Problem ist das vom Sinn des Leidens: ob ein christlicher Sinn, ob ein tragischer Sinn…“; Nachlaß 1887 – 1889, KSA 13, 15[9], S. 409: „Dostoiewsky […] hat Christus errathen“. 12 Zur naiven Voraussetzung einer allgemeinen Vernunft, in deren Besitz alle Menschen gleichermaßen wren, vgl. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, hrsg. von Michael Schrçter, Frankfurt a. M. 1987, S. 114 f. Kant unterschied dagegen „eigene“und „fremde Vernunft“. Vgl. dazu Josef Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin/ New York 2003, passim.
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die, eben dann, wenn es auf „das (oft schmerzhafte) Einprgen eines Willens auf einen anderen Willen“ ankommt, mçglichst schnell verlaufen muss.13 Nietzsches zweite, noch weiter ,ausschweifende‘ Vermutung ist dann, dass nicht nur die „Feinheit und Strke des Bewusstseins“, sondern „Bewusstsein berhaupt sich nur unter dem Druck des Mittheilungs-Bedrfnisses entwickelt hat“.14 Bewusstsein berhaupt ist danach nur ein Effekt der Kommunikation. Es ist nicht seine Funktion, sich etwas bewusst zu machen, was mehr oder weniger auch ohne es gelnge, sondern sich etwas bewusst zu machen, um es anderen mitzuteilen: „Bewusstsein ist eigentlich nur ein Verbindungsnetz zwischen Mensch und Mensch“,15 und es ,enthlt‘ dann auch nur Mitteilbares – „das gefhrdetste Thier“ half sich dadurch, dass es „seine Noth“ anderen anzeigte, um sie mit ihnen (oder auch gegen sie) zu wenden.16 Nietzsche verwendet den Begriff der Vernunft weiter, entgrenzt ihn jedoch gegenber der philosophischen Tradition, legt die Vernunft gleichsam tiefer, setzt sie als „grosse Vernunft“ des Leibes, als bloßen, auch unbewussten Regelungsprozess und das Bewusstsein als dessen bloße Oberflche an.17 Danach kommen von den leiblichen Regelungsprozessen der ,grossen Vernunft‘ nur die wenigsten an die ,Oberflche‘ des Bewusstseins und seiner ,kleinen Vernunft‘, die sich fr autonom hlt und doch nur, im Sinn Schopenhauers, das ,Werkzeug‘ der ,grossen Vernunft‘ ist. Und dieses ,Werkzeug‘ ist nun das Organ der inter-individuellen und doppelt kontingenten Kommunikation. An ihr nimmt weiterhin, womit auch die Soziologie sich inzwischen ausfhrlich befasst hat,18 das Leibliche, „der Blick, der Druck, die Gebrde“, die jetzt sogenannte non-verbale Kommunikation teil, die Menschen fraglos mit anderen Tieren teilen. Doch der „Zeichen-erfindende Mensch“ konnte sich mit seinen verbalen Zeichen von der leiblichen Gegenwart in der Situation lçsen. Er konnte Sinneseindrcke durch Zeichen „fixiren“, sich so von der jeweiligen Situation berhaupt distanzieren und situationenbergreifend planen und handeln. Gerade dies aber musste er stets auch in Rcksicht auf andere tun, die mit denselben 13 Nietzsche, Nachlaß 1882 – 1884, KSA 10, 7[173], S. 298. 14 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 354, KSA 3, S. 590 f. 15 Ebd. Vgl. den intensiven Gebrauch der Metapher des Geflechts und der Verflechtung bei Norbert Elias, Die Gesellschaft der Individuen, bes. S. 67 ff. („Verflechtungssphre“, „Verflechtungszwnge“), und zur Metaphorik des Netzes berhaupt Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin/ New York 2008, S. 631 f. 16 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 354, KSA 3, S. 591. 17 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Von den Verchtern des Leibes, KSA 4, S.39 ff. 18 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 369 – 422.
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Zeichen dieselben Sinneseindrcke fixieren sollten, und darum musste er seine Zeichen auch kommunizieren: [D]as Bewusstwerden unserer Sinneseindrcke bei uns selbst, die Kraft, sie fixiren zu kçnnen und gleichsam ausser uns zu stellen, hat in dem Maasse zugenommen, als die Nçthigung wuchs, sie Andern durch Zeichen zu bermitteln.19
Der Gebrauch solcher fixierender Zeichen muss stets berlegt und also bewusst geschehen. Denn Zeichen erçffnen, anders als Sinneseindrcke, stets Alternativen, Alternativen anderer mçglicher Zeichen ebenso wie Alternativen anderen mçglichen Verstehens von Zeichen. Mit verbalen Zeichen aber kçnnen schließlich andere verbale Zeichen abgekrzt und so eine eigene Orientierungswelt aus selbstbezglichen Zeichen aufgebaut werden, in der weitgehend situationsunabhngig operiert werden kann. Dazu muss der „Zeichen-erfindende Mensch“ immer bewusster vorgehen, also immer mehr „seiner selbst bewusst werden“: Der Zeichen-erfindende Mensch ist zugleich der immer schrfer seiner selbst bewusste Mensch; erst als sociales Thier lernte der Mensch seiner selbst bewusst werden, – er thut es noch, er thut es immer mehr.
Nietzsches Resultat ist dann: Mein Gedanke ist, wie man sieht: dass das Bewusstsein nicht eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen gehçrt, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts- und Heerden-Natur ist; dass es, wie daraus folgt, auch nur in Bezug auf Gemeinschafts- und Heerden-Ntzlichkeit fein entwickelt ist, und dass folglich Jeder von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie mçglich zu verstehen, „sich selbst zu kennen“, doch immer nur gerade das Nicht-Individuelle an sich zum Bewusstsein bringen wird, sein „Durchschnittliches“, – dass unser Gedanke selbst fortwhrend durch den Charakter des Bewusstseins […] gleichsam majorisirt und in die Heerden-Perspektive zurck-bersetzt wird.20
Das Bewusstsein, das der Einzelne fr sein Eigenstes, das Arcanum seiner Individualitt hlt, enthlt in seinen Zeichen gerade das Allgemeine, Gesellschaftliche, ist Effekt und Funktion seiner Gesellschaftlichkeit, seiner Sozialitt. Zuvor, in seiner IV. Unzeitgemssen Betrachtung und noch einmal in Jenseits von Gut und Bçse (§ 268), hat Nietzsche von der gespenstischen „Gewalt“ der allgemeinen Sprache ber den einzelnen Sprecher gespro-
19 Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, § 354, KSA 3, S. 592. 20 Ebd., S. 592.
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chen.21 Sie reicht so weit, dass man in dem, was man sagt, weniger ihr als sich selbst misstraut.22 Auch diesen Gedanken hat Nietzsche in einem Notat noch weitergesponnen. Danach fordert die Gesellschaftlichkeit des Menschen, sich auch noch ber die Gesellschaftlichkeit seines Bewusstseins zu tuschen – damit er als Individuum ein soziales Wesen bleibt. Auch seine Wahrhaftigkeit werde so noch auf Gesellschaftlichkeit geeicht.23 Damit aber hat das Individuum nicht nur keinen Ansatz, sondern auch keinen Willen mehr, sich bewusst von seiner Gesellschaftlichkeit zu distanzieren. Seine bewusst gebrauchten Zeichen ziehen es gerade in sie hinein. Als Zeichen gebrauchender ist der Mensch ein durch und durch soziales Wesen.
21 Vgl. Nietzsche, Richard Wagner in Bayreuth, KSA 1, S. 455: „Der Mensch kann sich in seiner Noth vermçge der Sprache nicht mehr zu erkennen geben, also sich nicht wahrhaft mittheilen: bei diesem dunkel gefhlten Zustande ist die Sprache berall eine Gewalt fr sich geworden, welche nun wie mit Gespensterarmen die Menschen fasst und schiebt, wohin sie eigentlich nicht wollen; sobald sie mit einander sich zu verstndigen und zu einem Werke zu vereinigen suchen, erfasst sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe, ja der reinen Wortklnge, und in Folge dieser Unfhigkeit, sich mitzutheilen, tragen dann wieder die Schçpfungen ihres Gemeinsinns das Zeichen des Sich-nicht-verstehens, insofern sie nicht den wirklichen Nçthen entsprechen, sondern eben nur der Hohlheit jener gewaltherrischen Worte und Begriffe: so nimmt die Menschheit zu allen ihren Leiden auch noch das Leiden der Convention hinzu, das heisst des Uebereinkommens in Worten und Handlungen ohne ein Uebereinkommen des Gefhls.“ 22 Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, IX § 268, KSA 5, S. 222: „Gesetzt nun, dass die Noth von jeher nur solche Menschen einander angenhert hat, welche mit hnlichen Zeichen hnliche Bedrfnisse, hnliche Erlebnisse andeuten konnten, so ergiebt sich im Ganzen, dass die leichte Mittheilbarkeit der Noth, dass heisst im letzten Grunde das Erleben von nur durchschnittlichen und gemeinen Erlebnissen, unter allen Gewalten, welche ber den Menschen bisher verfgt haben, die gewaltigste gewesen sein muss.“ 23 Vgl. Nietzsche, Nachlaß 1882 – 1884, KSA 10, 24[19], S. 657: „Moral der Wahrhaftigkeit in der Heerde. ,Du sollst erkennbar sein, dein Inneres durch deutliche und constante Zeichen ausdrcken – sonst bist du gefhrlich: und wenn du bçse bist, ist die Fhigkeit dich zu verstellen, das Schlimmste fr die Heerde. Wir verachten den Heimlichen Unerkennbaren […]‘. Thatschlich ist es Sache der Erziehung, das Heerden-Mitglied zu einem bestimmten Glauben ber das Wesen des Menschen zu bringen: sie macht erst diesen Glauben und fordert dann darauf hin ,Wahrhaftigkeit‘.“
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2. Elias’ Symboltheorie Elias ist als Soziologe der Gesellschaftlichkeit des Menschen gegenber freundlicher gesonnen.24 Er sucht nicht wie Nietzsche das Individuum zum „Alleinstehn und Sich-verantworten-kçnnen“ zu ermutigen,25 das „souveraine“, das „autonome bersittliche Individuum“, „den Menschen des eignen unabhngigen langen Willens“ ber seine Gesellschaftlichkeit hinauszufhren, um ihm umgekehrt „das ausserordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit“ zur Gestaltung einer neuen Gesellschaft zu berantworten.26 Bescheidener will er lediglich die Spielrume aufzeigen, in denen das Individuum nolens volens die Gesellschaft mitgestaltet. Er ist darin sichtlich nher an unserer Gegenwart als Nietzsche. Er setzt sich auch in seinem Werk zur Symboltheorie nicht mit ihm auseinander, so wenig wie etwa mit Peirce, Cassirer und Wittgenstein. Und dennoch bleibt er sehr nahe an Nietzsches These: „Bewußtsein“ ist nur ein anderes Wort fr den Zustand, in dem gespeicherte Lautsymbole, oder, anders gesagt, Wissen als Mittel der Orientierung, auf dem normalen Wege willentlich mobilisiert werden kçnnen. (S. 185)27
Als Zustand ist es kein Sein, sondern bloße Bewusstheit. „Bewusstsein“ ist, so Elias, ein „verdinglichendes Substantiv“(S. 110), eine „Konzeption, nach der ein Mensch eine Art Gefß ist, das etwas Inneres von der Außenwelt abschirmt“, „eine Art großer Raum, der mit Wissen gefllt werden kann wie ein Weinkeller mit Flaschen“ (S. 185). Wie Nietzsche greift auch er die Trennung von „Sprache, Vernunft und Wissen“ in der philosophischen Tradition an (S. 104 ff.), den Ansatz von „Vernunft“ oder „Geist“ als „nicht faktisches Faktum“ oder „substanzlose Substanz“ (S. 110), der die evolutionsbiologischen und soziologischen Fragestellungen verzerrt und blockiert habe. Ins Zentrum stellt er, was er die „Symbolemanzipation der Menschheit“ nennt (S. 86). Der Mensch sei Mensch eben durch seine Symbolemanzi24 Zur bersicht ber Elias’ Symboltheorie, ihre Einordnung in sein Gesamtwerk und in die soziologischen Symboltheorien des 20. Jahrhunderts vgl. Dirk Hlst, Symbol und soziologische Symboltheorie. Untersuchungen zum Symbolbegriff in der Geschichte, Sprachphilosophie, Psychologie und Soziologie, Opladen 1999, S. 195 – 227. 25 Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, § 210, KSA 5, S. 143. Vgl. Nachlaß 1882 – 1884, KSA 10, 4[230], S. 176: „Ruf zum Alleinstehen und Sich-lossagen!“ und Nachlaß 1884 – 1885, KSA 11, 35[25], S. 520: „Alleinstehn und Auf-eigene-Faust-leben“. 26 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II § 2, KSA 5, S. 293 f. 27 Seitenzahlen beziehen sich im Folgenden, wenn nichts anderes angegeben ist, auf die deutsche bersetzung von Elias’ Symboltheorie.
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pation – und zugleich gesellschaftliches Wesen geworden. Durch den Gebrauch standardisierter Symbole habe er sich die Wirklichkeit berlegen erschließen und sich dennoch Spielrume individueller Kommunikation und Orientierung erhalten kçnnen. Symbole seien zugleich individuell und gesellschaftlich (S. 24), „auf kollektive Erfahrungen einer ganzen Gruppe im Verlauf vieler Generationen“ hin ausgebildete und nun individuell einsetzbare Orientierungsmittel (S. 19). Elias sttzt seine Symboltheorie auf sechs Leitbegriffe: neben (1) Symbol sind das (2) Distanzierung, (3) Reprsentation, (4) Kommunikation, (5) Orientierung und (6) Wirklichkeitskongruenz. Ich umreiße sie knapp in dieser Reihenfolge. (1) Elias bezieht seinen Begriff des Symbols nur auf Wçrter, schließt, ohne ihn jedoch scharf zu bestimmen, Zeichen und Bilder nicht in ihn ein. Maßgeblich ist fr ihn der evolutionre Schub, den der Gebrauch von verbalen Symbolen ermçglichte. Elias unterscheidet darum „biologische Evolution“ und „gesellschaftliche Entwicklung“ (S. 34): die Evolution habe Entwicklung ermçglicht (S. 40), die „biologische Anlage zum Erlernen einer Sprache“ eine beschleunigte Entwicklung des Menschen freigesetzt, in der Symbole von Generation zu Generation gelernt und weitergegeben und dabei laufend differenziert werden. Sprachen kçnnten sich verndern und potentiell verbessern, ohne dass die Gen-Struktur sich ndert (S. 41 f.). Wie es zur Symbolemanzipation der Menschheit kam, sei biologisch kaum auszumachen, da naturgemß alle Zwischenstufen rasch ausgestorben sind (S. 45); so sei vorerst nicht zu erklren, wie aus ,natrlichen‘ Lautußerungen (Stçhnen, Seufzen, Schmerzensschreien) Sprache geworden sei. Nichtsdestoweniger sei die „Emanzipation des menschlichen Handelns von der Fesselung an den Hier-und-jetzt-Reiz“ durch den Gebrauch von Symbolen (S. 129) Teil des Zivilisierungsprozesses der Menschheit (der immer auch Dezivilisierung zulsst) (S. 130); der Symbolgebrauch als „Mittel der Kommunikation und der Identifizierung“ sei zu einer „fnften Dimension“ der menschlichen Orientierung neben der Raum-Zeit geworden (S. 77).28 (2) Die Leistung der Symbole liegt in der „Distanzierung“ von der Wirklichkeit. Werden Gegenstnde durch Symbole erfasst, bleiben sie auch in Abwesenheit „sowohl von den Objekten der Kommunikation wie von ihren Subjekten“ verfgbar (S. 147). Auf diese Weise kann eine „beinahe unbegrenzte Mannigfaltigkeit von Situationen“ erschlossen werden 28 Elias’ Ansatz schließt wie der Nietzsches von Anfang an ein, dass „Sprache im Fluß“ (S. 98) bleibt, das „Gewebe von Symbolen einer bestimmten Sprache“ ist ein „Kontinuum in einem unaufhçrlichen Bewegungszustand“ (S. 116).
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(S. 154), weit genauer und flexbiler als in der non-verbalen Kommunikation. So ermçglichen Symbole „Differenzierungsfortschritte“, die berlebensvorteile bedeuten (S. 146 f.). (3) Elias gebraucht, vielleicht nicht glcklich, weiterhin den Begriff der Reprsentation, jedoch nicht im Sinn von Wiedergabe: „Lautmuster einer Sprache reprsentieren Gegebenheiten, aber sie hneln ihnen nicht.“ (S. 66) Symbole haben auch fr ihn keine nachahmende oder abbildende Funktion (S. 150), sondern sind „vçllig arbitrr“ (S. 66). Bei der Muttersprache jedoch haben wir das starke Gefhl einer natrlichen Verknpfung, das Gefhl einer Art Notwendigkeit, mit der gesellschaftliche Lautmuster, gesellschaftliche Symbolfunktionen und symbolisch reprsentierte Gegenstnde der Kommunikation zusammenhngen. In Wirklichkeit existiert keine derartige Notwendigkeit. (S. 99)
In der Moderne wuchs denn auch der Zweifel am reprsentativen Charakter des Wissens (S. 27): er war „der Wurm im Apfel der Moderne“ (S. 28). Elias stellt seine Symboltheorie ausdrcklich gegen „traditionelle Reprsentationen wie etwa der Abstraktion oder der Generalisierung“ (S. 121). Symbole synthetisieren stattdessen, krzen ab (S. 121). Sie werden von Individuen ins Spiel gebracht und, sofern sie sich durchsetzen, als allgemeiner Sprachgebrauch standardisiert: dann ben sie „Macht ber ihre individuellen Sprecher aus“ (S. 99). Der Hauptzweck der „Standardisierung“ des Symbolgebrauchs und der „Standardisierungstechniken“ ist es auch fr Elias, „Missverstndnisse zu vermeiden“ (S. 15, S. 79). Im Gebrauch von Symbolen fr Symbole werden aber auch hçhere „Syntheseebenen“mçglich (S. 95), die fr Elias „Integrationsebenen“ der Gesellschaft (S. 214 f.) sind: die umfassendste ist die „Menschheitsebene“ (S. 115). Hinter diesen hierarchischen Ebenen tritt bei Elias die Fhigkeit der Zeichen zur Selbstbezglichkeit zurck. (4) Symbole der Sprache sind „Mittel der Kommunikation und der Orientierung“ (S. 107 u. ç.). Elias differenziert zwischen beiden und fgt als dritte Funktion das Denken hinzu: Symbole oder „standardisierte Lautmuster […] dienen Menschen in der einen Form als Kommunikationsmittel, in einer anderen als Orientierungsmittel und, in Form des Denkens, als Mçglichkeit zum stillen Experimentieren mit mçglichen Lçsungen, um unter ihnen die einfachste und beste zu finden.“ (S. 173; vgl. S. 112 f.) Als Mittel der Kommunikation, argumentiert Elias, kann Sprache keine aus individuellen Handlungen zusammengesetzte Einheit sein. Der Ansatz beim Denken des Einzelnen verdanke sich einer bereits hochindividuali-
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sierten Gesellschaft, sei eine „Horrorphantasie hoch individualisierter Menschen“ (129 f.). Er lasse, weil es sich um eine innere Instanz handeln solle, nicht denken, wie sie mit Umwelt kongruieren kçnne (S. 129). Tatschlich sei die Sprache „das prototypische Modell einer sozialen Tatsache“ (S. 37). Der Symbolgebrauch lasse Spielrume und werde zugleich „gesellschaftlich mittels einer sozialen Standardisierung und Vereinheitlichung innerhalb spezifischer Grenzen gehalten“ (S. 78, vgl. S. 100).29 Der „Wissensfundus“ muss begrenzt bleiben, um von einem Individuum in begrenzter Zeit erlernbar zu sein (S. 78), und er wird „noch weiter begrenzt durch die Struktur einer gegebenen Gesellschaft und insbesondere durch ihre Machtbeziehungen“ (S. 79). Dennoch hat die gesellschaftliche Entwicklung eine Vielheit der Sprachen zugelassen, die ebenso desintegrieren wie integrieren: die „biologische Anlage lßt Raum fr eine so breite Vielfalt sowohl der Lautmuster selber wie auch dessen, was sie jeweils symbolisch reprsentieren, daß die Sprache der einen Menschengruppe fr die andere vçllig unverstndlich sein kann.“ (S. 62) Durch ihre Sprachen gehçren Menschen einerseits einer „einheitlichen Gattung“, andererseits „unterschiedlichen Gesellschaften“ an (S. 32), und so ist nach Elias die soziologische Symboltheorie, was selten geschieht, auch an der Vielheit der Sprachen zu orientieren. Er selbst ist dazu jedoch nicht mehr gekommen. (5) Den Begriff Orientierung gebraucht Elias laufend und in vielen Zusammensetzungen (wie Orientierungsmittel, Orientierungstechnik oder Orientierungsfunktion). Er hinterfragt ihn selbst nicht und gebraucht ihn in einem sehr engen Spektrum. Er setzt ihn in Gegensatz zu Kommunikation mit anderen. Orientierung ist fr ihn Orientierung in der nicht-menschlichen Welt: Menschen kçnnen sich nicht nur von Natur aus mit Hilfe sprachlicher Symbole in der Welt orientieren, sie brauchen auch Symbole; sie mssen die Symbole einer Gruppe erwerben, ganz gleich, welches sinnliche Muster diese Symbole haben mçgen. Sie kçnnen ihr Verhalten nicht regulieren, kurz, sie kçnnen nicht menschlich werden, ohne eine Sprache zu erlernen. (S. 92)
Orientierung ist danach ein sprachlich geprgtes Wissen, „Orientierung mit Hilfe von Wissen“ vs. „mit Hilfe von Instinkten“ (S. 116 f.). Aus dieser Sicht hat Wissen eine „berlebensfunktion“, das „Bedrfnis nach Wissen [ist] ein Aspekt der genetischen Verfassung von Menschen“ (S. 118). Denken ist dann Umgang mit diesem Wissen und seinerseits ein „Orientierungsmittel“ (S. 111). Elias bestimmt es pragmatisch als die „menschliche Fhigkeit zur 29 Vgl. dazu auch Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 79 f.
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Erprobung von Symbolen, die eine Abfolge mçglicher knftiger Handlungen vorwegnehmen, ohne faktisch irgendwelche Handlungen zu vollziehen“ (S. 110, variiert S. 123). Danach ist Denken eine „Abkrzung“ des Handelns (S. 121): „Durch Gedankenexperiment werden Zwischenstationen im Ansturm der Gedanken bersprungen, und der ganz verdichtete Denkprozeß lßt sich dann nur mit Mhe in einzelnen Schritten rekonstruieren, wie es fr die sprachliche Mitteilung unerlßlich ist.“ (S. 111) Denn es bleiben dabei enge „Verbindungen mit dem komplexen Untergrund vorsprachlicher Triebe und Phantasien“ (S. 111). Dies alles findet sich so oder hnlich auch bei Nietzsche.30 Elias kommt so zu drei unterschiedlichen Funktionen von Wissen, Sprache und Denken: „Wissen bezieht sich hauptschlich auf die Funktion von Symbolen als Orientierungsmitteln, Sprache hauptschlich auf ihre Funktion als Kommunikationsmittel und Denken hauptschlich auf ihre Funktion als Mittel der Untersuchung, in der Regel auf einer hohen Syntheseebene und ohne Handlungen auf einer niedrigeren Ebene.“ (S. 112 f.) (6) Alle drei sind Manipulationen von „Erinnerungsbildern“ (S. 113). Das macht, so Elias, ihre „Wirklichkeitskongruenz“ (reality-congruence) problematisch – doch man kann mit Nietzsche eben diesen Begriff als problematisch betrachten. Elias scheint mit ihm hnlich wie Popper eine wachsende Annherung der Symbole an die ,Wirklichkeit‘ zu unterstellen. Die Wirklichkeitskongruenz soll jedoch keinen ontologischen oder forschungslogischen, sondern wiederum evolutionren Sinn haben. Das Argument ist: durch Reprsentation seiner Welt in Symbolen, die durch Kommunikation von Generation zu Generation bermittelt wurden und ihm eine immer differenziertere Orientierung ermçglichten, verbesserte der Mensch seine berlebenschancen und ließ ihn zum Herrn der Erde werden. Im Wettbewerb um „Wissensvorsprnge“ (S. 25) mssen sie „realistisch“ sein: „Der Erfolg der Menschheit in einem sehr langwierigen berlebenskampf lßt [..] vermuten, daß Menschen von Natur aus mit außerordentlich effizienten Organen versehen sind, um sich in ihrer Welt realistisch zu orientieren.“ (S. 130, vgl. S. 175, S. 197 f. u. ç.) Elias redet also nicht einer metaphysischen „Wahrheit“ als bereinstimmung von Symbolen mit Gegenstnden das Wort, sondern der „Kongruenz“ eines beweglichen „Netzes von Symbolen“mit beweglichen Prozessen der Wirklichkeit (S. 178 f.). Dies schließt auch fr ihn „Phantasiewissen“ ein, das Lcken des „wirklich30 Vgl. Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, KSA 11, 34[249], S. 505 und ebd., 38[1][2], S. 595 – 597, und dazu Stegmaier, Nietzsches Zeichen, in: Nietzsche-Studien 29 (2000), S. 41 – 69.
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keitskongruenten Wissens“ausflle, wo immer sie sich auftun (S. 115): „Der Weg zur Entdeckung von etwas Wirklichkeitskongruentem kann durch eine ganze Reihe imaginrer Annahmen mit berwiegendem Phantasiecharakter fhren.“ (S. 119 f.) Doch erweist dann im Lauf der Zeit eine „Realittsprfung von Phantasien […], ob man auf einem ergiebigem Weg ist oder nicht.“ (S. 120) Hier setzt Elias die Funktion der Wissenschaft an, die Phantasien nach und nach auflçse; er bewies auch im hohen Alter noch ein unerschttertes Vertrauen in die Wissenschaft und ihre „Wirklichkeitskongruenz“.31
3. Nietzsches Mitteilungszeichen und Elias’ Symboltheorie in den Spielrumen der Orientierung Elias trennt Orientierung und Kommunikation. Doch auch in der Kommunikation orientieren wir uns – an anderen und ihrer Orientierung. Orientierung schließt Kommunikation ein, im Ausgang von der Orientierung wird auch die Kommunikation in den Bedingungen ihrer Mçglichkeit verstndlich.32 Orientierung, einschließlich Kommunikation, ist aber nicht dem Menschen vorbehalten. Auch Tiere orientieren sich und sind uns in manchen ihrer Orientierungsfhigkeiten berlegen. Alle Orientierungsfhigkeiten aber unterliegen der Evolution. Orientierung bergreift so auch biologische Evolution und gesellschaftliche Entwicklung. So umfasst ihr Begriff das ganze von Nietzsches Kommunikationsphilosophie und Elias’ Symboltheorie umrissene Feld. Er ist in der Philosophie vergleichsweise jung. Mendelssohn und Kant haben ihn am Ende des 18. Jahrhunderts in die Philosophie gebracht, und seither machte er, auch im alltglichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch, eine erstaunliche Karriere. Seither ist er so selbstverstndlich geworden, dass sein philosophisch-soziologisches Potential gar nicht mehr auffllt. Man definiert andere Begriffe durch ihn, ohne ihn selbst zu definieren,33 und auch Elias benutzte ihn, ohne ihn kritisch zu
31 So habe sich der physikalische und astronomische Begriff der Sonne – Elias’ beliebtestes Beispiel – mit der Zeit als der wirklichkeitskongruente herausgestellt. 32 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 361 – 644. 33 Vgl. Stegmaier, Art. Orientierung, in: Hans Jçrg Sandkhler (Hrsg.), Enzyklopdie Philosophie, Hamburg 1999, Bd. 2, S. 987 – 989; Art. Weltorientierung, Orientierung, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel/ Darmstadt 2005, Sp. 498 – 507, und Philosophie der Orientierung, Berlin/ New York 2008.
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erschließen. Nietzsche kannte ihn, mied ihn aber, wohl weil sein Antipode Eugen Dhring von ihm ausfhrlich Gebrauch machte.34 Wenn es Nietzsche und Elias um die Spielrume zwischen Individuum und Gesellschaft, Denken und Sprache, Bewusstsein und Kommunikation ging, so ist fr die Orientierung eben der Spielraum charakteristisch: man erkennt Gegebenheiten, befolgt Regeln, aber orientiert sich an Gegebenheiten und Regeln – legt sich, wenn man sich orientiert, nicht schon auf etwas fest, sondern hlt sich Spielrume offen. ,Spielraum‘ ist eine Metapher, die schwer durch Begriffe zu ersetzen ist, und also, wie auch ,Orientierung‘ selbst, eine absolute Metapher in Blumenbergs Sinn.35 Spielraum war zunchst der Raum, den ein Geschoss im Geschtzrohr haben muss, damit es seinen freien Flug antreten kann. Inzwischen lassen auch Eltern ihren Kindern, Vorgesetzte ihren Mitarbeitern, Regierende den Regierten und eben auch Gesellschaften ihren Individuen Spielrume gegen ihre Vorgaben und mssen sie lassen, wenn sie mit ihnen zurechtkommen wollen. Am ehesten kann man Spielrume als geregelte Grenzen ungeregelten Verhaltens fassen,36 soziologisch dann als gesellschaftliche Grenzen individuellen Verhaltens. Regelfreies Verhalten ist in Gesellschaften immer nur in Grenzen mçglich, wenn sich ihre Ordnungen nicht ganz auflçsen sollen.37 Spielrume sind darum wohl zu erweitern und zu verschieben, aber wieder nur in Spielrumen. Und das gilt dann auch fr gemeinverstndliche, gesellschaftliche Zeichen und Symbole, die nach Nietzsche und Elias Spielrume in evolutionren Nçten schaffen und ihrerseits wieder in Spielrumen gebraucht werden. Der evolutionre Sinn der Orientierung berhaupt aber ist, in jeder neuen Situation, in der sich ein Lebewesen zu orientieren hat, Schaden von ihm abzuwenden und seinen Nutzen zu mehren. Sie ist die Leistung, die Spielrume einer Situation zu nutzen, sich in ihr zurechtzufinden, um erfolgversprechende Handlungsmçglichkeiten in ihr auszumachen, durch die sie sich bewltigen lsst.38 34 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 113. 35 Vgl. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), Frankfurt am Main 1998. 36 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 221 – 225. 37 Hans Prutz, Preußische Geschichte, 4 Bde., Stuttgart 1900 – 1902, Bd. 4, S. 63, zit. nach Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wçrterbuch in 16 Bdn., Leipzig 1854 – 1954, Stichwort ,Spielraum‘ und Quellenverzeichnis: „bei aller strenge in den prinzipien ging doch ein hauch der freiheit durch das heerwesen, da innerhalb des unverrckbar festen rahmens der individualitt spielraum gewhrt wurde zu selbstndiger … bethtigung“. 38 Ebd., S. 2.
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Orientierung ist gerade kein Wissen. Sie geht, mit Nietzsche, stets von einer Not aus, der Not aller Nçte, immer neue Situationen bewltigen und dabei zumeist unter Zeitdruck und unter Ungewissheit und das heißt: ohne gesichertes Wissen handeln zu mssen. Sie beruht ebenso auf leiblich-natrlichen wie geistig-vernnftigen Prozessen, ohne dass diese scharf unterschieden werden kçnnten und mssten, also mit Nietzsche als ,grosse‘ und ,kleine Vernunft‘ gefasst werden kçnnen. Dennoch braucht den Orientierungen keine gemeinsame Vernunft im Sinn der philosophischen Tradition unterstellt zu werden. Sofern jede Orientierung von ihrem Standpunkt ausgeht und in ihren Horizonten ihren Perspektiven folgt, bleiben sie individuell. Was als Vereinzelung der Bewusstseine begriffen wurde, ist die ursprngliche und unaufhebbare Eigenheit der Orientierungen, und eben sie ist es, die eine Kommunikation in Zeichen bzw. Symbolen als Orientierung an anderer Orientierung notwendig macht. Zeichen bzw. Symbole entlasten einerseits von der doppelten Kontingenz und verschrfen sie andererseits: sie entlasten von ihr dadurch, dass man sich berhaupt verstndigen kann, sie verschrfen sie dadurch, dass man einander in Zeichen und Symbolen um so mehr missverstehen und mit ihnen darber hinaus bewusst tuschen kann. Sprachen schaffen gesellschaftliche Ordnungen – Moral, Recht, Politik, Religion, Wissenschaft, Kunst usw., die auf die Individuen eine mehr oder weniger subtile ,Gewalt‘ ausben kçnnen; aber man kann sich auch wieder, mehr oder weniger, fr sie oder gegen sie entscheiden (an Religion, Wissenschaft und Kunst etwa kann man teilnehmen oder auch nicht), und so schaffen sie auch wieder neue Spielrume. Alles Gesellschaftliche wirkt in der Orientierung nur so weit als Gewalt, wie der Einzelne im Sinne Nietzsches nicht souvern genug ist, sich fr oder gegen es aus eigener Verantwortung zu entscheiden. Bei Elias, der als Soziologie nicht mehr wie Nietzsche gegen die ,Gewalt‘ der gesellschaftlichen Sprache und Moral ankmpft, sondern ihr gerecht zu werden sucht, treten die Spielrume der Orientierung noch deutlicher hervor, vor allem der Spielraum, den die biologische Evolution der gesellschaftlichen, auf den Gebrauch von Symbolen gesttzten Entwicklung lsst. Aber auch den bergang zum Gebrauch von Symbolen, die Symbolemanzipation, die fr Elias noch rtselhaft bleibt, kann die Philosophie der Orientierung verstndlich machen, nicht biologisch, sondern zeichenphilosophisch: Die Orientierung hlt sich, wie man im Deutschen mit einem sehr sprechenden Ausdruck sagt, an ,Anhaltspunkte‘der jeweiligen Situation, sie krzt deren Gegebenheiten zu ,Punkten‘ ab und hlt sie nur vorlufig fest, um von ihnen aus weitere zu erschließen und dann, wenn sich passende gefunden, mit ihnen ein Muster gebildet haben, auf sie hin zu handeln. Solche Anhaltspunkte kçnnen einsame Eichen
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in weiten Ebenen, aber auch ein gramvoller Zug in einem Gesicht oder die Atmosphre eines Gesprchs oder eine Stelle in einem Buch sein. Man kann sich an sie halten oder nicht, und auch wenn man sich lange an bestimmte Anhaltspunkte, etwa die anhaltende Freundlichkeit eines Gesprchspartners, gehalten hat, kçnnen sie sich wieder als haltlos, als „Fiktionen“ in Nietzsches oder „Phantasiewissen“ in Elias’ Sinn erweisen. Anhaltspunkte lassen immer Spielrume, sich fr oder gegen sie zu entscheiden, man kann sich ihrer nie gewiss sein und hlt sich darum immer nur mit Vorbehalt und darum vorlufig, auf Zeit, an sie. Will man sie aber festhalten, um wieder auf sie zurckzukommen, kann man sie markieren, besonders auffllig machen, etwa ihre Konturen nachzeichnen, und solche Markierungen dann schließlich von ihnen lçsen und als Zeichen auch in ihrer Abwesenheit gebrauchen. So ,emanzipiert‘ der bergang von in Situationen gegebenen Anhaltspunkten ber ihre Markierung zu selbststndigen Zeichen oder Symbolen und deren Standardisierung in Sprachen von der Abhngigkeit von Situationen, schafft schrittweise eine von Situationen gelçste und in diesem Sinn distanzierte Orientierung. So kçnnte auch der evolutionre bergang zu denken sein. Wie die Orientierung in Zeichen oder Symbolen abgekrzt wird, bestimmen dabei weder die Gegebenheiten noch eine allgemeine Vernunft, sondern die jeweiligen Bedrfnisse der Orientierung; unterschiedliche Orientierungen kçnnen mit ihren unterschiedlichen Standpunkten, Horizonten und Perspektiven die gleichen Situationen unterschiedlich abkrzen, ihre Abkrzungen in Zeichen oder Symbolen unterschiedlich ausrichten oder wiederum: orientieren. Orientierungsbedrfnisse schließen wohl an Anhaltspunkte der Situation an, nutzen aber so weit wie mçglich deren Spielrume. Darum sind sie auch kaum nach fiktiv oder nicht-fiktiv zu unterscheiden, sondern nur nach brauchbar oder nichtbrauchbar fr die jeweilige Orientierung. Kriterium ist allein die erfolgreiche Bewltigung von Situationen, ohne dass die Orientierung damit einer Wahrheit der Wirklichkeit nher kme: auch die sprachliche und nichtsprachliche Orientierung kçnnen wiederum nur Anhaltspunkte freinander sein. Auf die Begriffe der Reprsentation und der Wirklichkeitskongruenz wird man darum besser verzichten. Unter evolutionren Gesichtspunkten reicht es aus, von Passungen, von Anhaltspunkten in der Orientierung zu sprechen, die hinreichend zum Handeln ermutigen und im brigen fr Neues offen bleiben. Das gilt nicht nur fr die biologische Evolution, sondern auch fr die gesellschaftliche Entwicklung.
Anstelle eines Schlusswortes
Nietzsche and Elias as educators. Their role in the writing of Nihilism and Culture Johan Goudsblom 1. A personal memoir The combination of the names of Friedrich Nietzsche and Norbert Elias raises pleasant memories for me. It brings me back to my student days in the mid-nineteen-fifties, and even more so to the years 1958 – 60 when I wrote my dissertation Nihilism and Culture. 1 As a student, I became an avid reader of Nietzsche. The Schlechta edition of his collected works was just being published;2 I bought all three volumes and read them from cover to cover. For a while I adopted Nietzsche as my mentor in philosophy. I also discovered most of Elias’s then available work: ber den Prozeß der Zivilisation 3 and the article on “Kitschstil und Kitschzeitalter”.4 I was deeply impressed and continue to be so up to the present day. I dare say I have read everything Elias has published, and moreover I have had the privilege of knowing him personally for more than thirty years. I consider him to have been my primary (and self-chosen) mentor in sociology. My official field of study was neither philosophy nor sociology, but social psychology—a very interesting discipline with wide and promising ramifications, but disappointingly little substantive content. The textbooks I had to study mainly contained reports of experiments conducted with students at American universities. The results of those experiments all pointed toward one irrefutable conclusion: human beings are social beings, their emotions and opinions, their whole personalities, are shaped by and in the social situations in which they found and find themselves. 1 2 3 4
Johan Goudsblom, Nihilisme en cultuur, Amsterdam 1960. English translation: Nihilism and Culture, Oxford 1980. Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bnden, edited by Karl Schlechta, Mnchen 1954 – 56. Norbert Elias, ber den Prozeß der Zivilisation, Basel 1939. Elias, Kitschstil und Kitschzeitalter, in: Die Sammlung 2 (1935), pp. 252 – 263.
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This was an important lesson that became deeply engrained in my own thinking. I learned it at an impressionable age in a social setting that prepared me for readily accepting this message, which I still regard as a basic and valid insight. To say that ideas are acquired in a social context, and learned from others, is not to discredit those ideas. On the contrary. I was attracted to The Civilizing Process not only because it was completely in line with the image of human beings that I picked up from social psychology, but it also added at least three other significant levels of understanding: history, macrosociology, and individual psychology (mainly in the form of psychoanalysis but with touches of behaviourism and Gestalt psychology as well, a rather unusual combination). Throughout the book these four dimensions were omnipresent, subtly interwoven. The historical dimension was always there, as well as the other three. And there was always a vestige of philosophy looming on the horizon. The article on Kitsch had a special appeal to me since I saw a parallel between what Elias wrote about Kitsch and my own intuitions about nihilism. Both words, Kitsch and nihilism, had first been used in a derogatory sense, as terms of defamation. Elias proposed in his essay that Kitsch could now also be used as a neutral term to denote a general condition of art and artistic judgement in our age, indicating the loss of one generally accepted authoritative standard. From my readings of Nietzsche I had gathered a notion of nihilism with a similar tenor: that concept too pointed to a condition in which a standard of quality was lacking—not primarily in matters of artistic and aesthetic judgement but with regard to moral or ethical questions. My first idea was to approach ,nihilism‘ in a similar way as Elias had dealt with Kitsch. Nihilism had never been made the subject of sociological inquiry. Sociologists sometimes speak of anomie, a kindred concept introduced into the discipline by Emile Durkheim.5 Nihilism as such, however, had never been explicitly treated as a theme for either empirical research or theoretical reflection in sociology. To me this constituted a challenge. I recognized nihilism as a personal problem. My training in social psychology had prepared me for the insight that it was more than just personal; there was a social and a cultural dimension to it. I therefore decided to make it into the subject of my PhD thesis. In the opening paragraph of the foreword I wrote: 5
Two classical sociological texts on anomie are Emile Durkheim, Le suicide. Etude de sociologie, Paris 1897, and Robert K. Merton, Social Theory and Social Strcuture, second edition, New York 1957.
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The reason for writing this book was—how could it be otherwise?—a personal one. I knew certain motives at work in me which often made it difficult for me to determine which opinions were true or not true, which courses of action would be good or not good. I seemed to lack a satisfactory criterion for making such decisions. It was an awkward problem; but, as I often noticed, I was not the only one to be bothered by it. In my reading and in conversations with friends I found that many others were familiar with the same basic uncertainty. They too had to cope with nihilist motives; it was as if these motives were part of culture.6
2. The ,invention‘ of nihilism The words quoted above were my point of departure for an inquiry into “the nature and origin of nihilist motives in European culture”. My major guides in this quest were Friedrich Nietzsche and Norbert Elias, the philosopher and the sociologist. In the index of the original Dutch edition (1960) most page references are to Nietzsche; the second most mentioned person is Socrates, the third is Elias, and the fourth is, surprisingly perhaps for those who know more about his work, the sociologist Talcott Parsons.7 A further look at the index shows a mixture of persons known as philosophers, sociologists, psychologists, historians, or just ,writers‘. This expresses the perspective from which the book was written: an attempt to deal in a clear and personal manner with a problem that had philosophical implications but could also be approached with methods developed in the social sciences. Although I did not use the word synthesis, this was my programme and ambition. While the major guides in my inquiry were both Nietzsche and Elias, the design of the book and the argument lean most heavily on Nietzsche. Nietzsche is the central figure. In a rather bold statement I called him the “inventor” of nihilism, on a par with James Watt as the inventor of the
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Goudsblom, Nihilisme en cultuur, p. XI. Comparing the careers and ideas of Parsons and Elias would also deserve a serious study, from the point of view of the history of sociology as well as intellectual history in general. See also Goudsblom, Responses to Norbert Elias’s Work in England, Germany, the Netherlands and France, in: Human Figurations. Essays for/Aufstze fr Norbert Elias, edited by Peter R. Gleichmann, Johan Goudsblom and Hermann Korte, Amsterdam 1977, pp. 37 – 98: p. 86.
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steam engine, and George Stephenson as the inventor of the steam locomotive.8 The underlying idea is that there were precursors to Nietzsche, as there were precursors to Watt and Stephenson. But just as there was no fully-fledged steam engine or locomotive prior to Watt and Stephenson, there was no fully-fledged notion of nihilism available in European culture prior to Nietzsche. In each of these cases, I argued, three “genetic” streams of influence converged: In the first place, most obviously, there was the personal, the psychological stream: a particularly gifted individual, devoted to his task, who made a discovery or an invention. Secondly, equally obvious, there was the sociological stream: social conditions under which this individual could unfold and exploit his gifts (the social structure had to provide a niche). And then as a third set of conditions, I postulated a culturological stream: the stream of knowledge, ideas, information that the person could acquire by learning from other people, who would have taught and encouraged him to proceed along the lines that led him to his great innovations.
3. Culturology This culturological aspect was the most problematic; but it formed an indispensable part of my argument. For what Nietzsche had written about nihilism was not just the expression of a psychological disposition, such as a tendency toward melancholy or despair or, in his own case perhaps, megalomania. While all of these psychological features may have played a part in the genesis of his work, they are clearly not enough to fully explain its contents. Nor do the social conditions under which Nietzsche lived offer a sufficient explanation. Of course his appointment to a professorship at the age of twentyfour, his marginal position in the German speaking academic world, the unification of the German state after 1870 and many other social factors all contributed to the formation of his ideas; but they were no more 8
Nietzsche himself would probably have objected strongly to the idea that he ,invented‘ nihilism. He would have claimed that nihilism was already there. All he did was discovering its existence and reveal its implications.
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than supporting or auxiliary conditions; even if we regard them as necessary, we cannot possibly claim that they were sufficient conditions. Perhaps it is futile in any case to seek the sufficient conditions for the emergence of great innovations in a cultural field. (It is the same problem we encounter in evolutionary biology: how to account for the origin of a new species. Our mode of thinking is better equipped for explaining why certain already existing species have survived or become extinct.) But at the time when I wrote Nihilism and Culture, I was convinced that it was worth trying to find out what brought Nietzsche to his discovery; and that in doing so I would be well advised to distinguish carefully between these three distinct approaches: psychological, sociological and culturological. Culturology was not a word I coined myself. It had been around for a while, but it never gained general acceptance. Nevertheless, the kind of approach I had in mind when I adopted the term had been practised widely by sociologists—only without explicitly naming the approach as such. The most famous example, known even beyond the circles of sociologists, is Max Weber’s study of the Protestant ethic and the spirit of capitalism. Both terms, “ethic” and “spirit”, refer to states of mind that govern people’s actions—states of minds originally cultivated by some people in specific circumstances and then transmitted from generation to generation in subtly changing guises. The manifestations of the original mentality were transformed but, according to Weber, some inner core remained—an element of culture that originally had strong religious overtones could still be recognized in the strongly secular economic activities of modern capitalists. It is likely that in constructing this famous argument, Weber was influenced by Nietzsche. The ideas underlying the culturological approach would certainly have been congenial to Nietzsche. His work is steeped in a perspective that we may now call ,history of mentalities‘ or ,history of ideas‘. In Nihilism and Culture, I had no difficulty in tracing the culturological dimension to Nietzsche’s views on nihilism. I only had to follow his lead.
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4. The truth imperative In a letter from Basel, dated May 4, 1873, to Carl von Gersdorff, Nietzsche remarked: “The road from Thales to Socrates is something terrible”.9 What, I asked almost a hundred years later, could there have been in a philosophical development of twenty-five centuries ago that was still so terrible in the year 1873? The answer, I argued, is to be found in many passages in Nietzsche’s work. It was the formation of the truth imperative, which, since Socrates, had become part of European culture. The truth imperative played a key role in my argument. The concept referred to the supposed need to find a standard for determining the truth of statements about human being and human well-being. If one finds oneself lost in a labyrinth of diverging opinions, the only way out is to employ a universally valid compass—the compass of truth. In questions concerning morality, that compass should point not just to the truth of ,being‘, the knowledge of how things are, but the truth of ,well-being‘, of knowing what is good for us. The challenge posed by Socrates, not to settle for compromises with conventional wisdom in moral matters but to be content only with ,the truth‘, has been infused into European culture. Ever since Plato and other, less illustrious disciples propagated Socrates’ teachings, those teachings were there to be encountered by anybody who was conversant with classical Greek literature. In Nihilism and Culture I gave a brief historical overview of how various celebrated thinkers, from Aristotle to Hume and from Pyrrho to Schopenhauer, responded to the Socratic call. Under such headings as “The way to truth” and “Away with truth” or “Faith versus reason” and “Reason versus faith”, I followed the vicissitudes of the truth imperative, and the spiral of increasingly sophisticated intellectual strategies that it evoked—a spiral that found its climax in Nietzsche. I gave ample quotes from Nietzsche’s writings, showing the various perspectives from which he viewed the problem of nihilism—sometimes as a personal problem that only he, Nietzsche, had yet fathomed, sometimes as a general infliction that had already come over Europe and the Christian world a long time ago. In his prophetic mood, Nietzsche was appropriately vague; but he was quite accurate in spelling out the ineluctable dilemma posed by the truth imperative: One has to know the truth in order to know how to act, but an honest and truthful inspection of all 9
Nietzsche, Werke, edited by Karl Schlechta, Vol. 3, p. 1088.
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available evidence is bound to reveal that the truth is unknown and unknowable. The only escape from this dilemma appeared to be a radical break with the whole idea and ideal of truth, and this was the route which Nietzsche increasingly came to prefer. More and more, he tended to reject the entire notion of truth and to expose it as part of the cunning priestly deceit that had brought weakness and decadence over Christian Europe. In Nihilism and Culture I did not further discuss the remedies Nietzsche proposed for the problem of nihilism in his later work. I did not comment on his nostalgia for the alleged virtues of warrior aristocrats in military-agrarian societies.10 I was content with presenting my interpretation of the diagnosis of the problem of nihilism and its origins in the truth imperative. I then proceeded to look for a sociological explanation for the history of the truth imperative, and this is where Elias’s theory of the civilizing process came in. The argument I developed is too elaborate to summarize it in a few words, but the gist of it is this: processes of rationalization, such as Elias observed in early modern Europe, occurred also in ancient Greece, where the lengthening of chains of social interdependence compelled people to observe greater restraint in their behaviour and stimulated discussions about, and critical examination of, manners and morals— other people’s manners and morals in the first place, but eventually those of one’s own group as well. In this social climate, ancient anthropologists such as Herodotus and natural philosophers such as Democritus prepared the ground for the reception of Socrates’ invention, the truth imperative. One of the points I emphasized was that it was difficult to explain the appeal of the truth imperative in the terms of sociological functionalism la Parsons. In its actual consequences, the truth imperative went against the grain of a smoothly functioning social order. As a cultural command, its direct effect was to undermine rather than sustain the social order. Yet there is ample evidence from ancient Athens that the Socratic call then exerted an irresistible attraction especially upon young men who apparently were caught by what I chose to call a particular “cultural sensitivity”.
10 On the dynamics of military-agrarian societies, see Goudsblom, Fire and Civilization, London 1992, pp. 54 – 71 and Johan Goudsblom/ Eric Jones/ Stephen Mennell (ed.), The Course of Human History. Economic Growth, Social Process, and Civilization, Armonk/ NY 1996, pp. 49 – 62.
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Such cultural sensitivity could be encouraged or discouraged by specific social experiences. Of some individuals we know that they became so strongly seized by particular cultural ideals that they, as we put it, devoted their lives to those ideals. Among those individuals were both Socrates and Nietzsche. Many others, who have not gained the fame of Socrates and Nietzsche, also responded to the Socratic call and found refuge in appropriate cultural niches or havens within the wider social structures. The existence of such niches explains the relative autonomy of cultural development.11
5. Omissions Rereading Nihilism and Culture recently, I was struck by the absence of any reference at all to two nineteenth century authors with whom Nietzsche was familiar and whose work I would now consider highly relevant to my topic. The first one is Charles Darwin. Nietzsche himself did not think very highly of him, and found his reputation grossly overrated. From the current early-twenty-first century perspective, however, Darwin can be seen as having played a significant part in the emergence and diffusion of the problem of nihilism in European culture. As he himself knew all too well, by presenting biological evolution as a blind, unplanned process, whose driving forces affected every species, including humankind, Darwin contributed probably more than any other European writer to undermining the beliefs and practices of the Christian churches. Moreover, in many more narrowly defined fields of intellectual inquiry, from human history to astronomy, his theory of biological evolution came to serve as the backdrop to newer theories of blind long-term processes. Thus, although the name of Darwin is also absent from ber den Prozeß der Zivilisation, the kind of reasoning in that book is not dissimilar, and by no means hostile, to that in The Origin of Species. In describing and explaining the rise and spread of manners in early modern Eu11 Elias has elaborated on the concept of relative autonomy in several publications, especially in Was ist Soziologie?, Mnchen 1970 (english translation: What Is Sociology?, London 1978). Important contributions to the theory of the relative autonomy of culture have been made more recently by the sociologists Pierre Bourdieu and Randall Collins. See especially by Collins, The Sociology of Philosophies. A global Theory of intellectual Change, Cambridge/ MA 1998.
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rope, Elias can be seen as having anticipated, in a far more sophisticated manner, Richard Dawkins’ speculations about memes.12 The second striking omission in Nihilism and Culture is Auguste Comte—again someone toward whom Nietzsche expressed mixed feelings, although he was far less harsh on Comte than on his British counterpart, Herbert Spencer, whom Nietzsche detested for his humanitarian ideas. Comte was far more judicious and less opinionated than Nietzsche in his model of human history, including the rise and decline of religious regimes—a model that was still appreciated and used by Norbert Elias.13 In the more sociological part of Nihilism and Culture I have tried to sketch the history of the truth imperative in European culture as an integral aspect of the European civilizing process. I think the arguments I made there still stand. Yet I did not sufficiently emphasize one particular feature of the European, or for that matter any other, intergenerational civilizing process: it was unplanned, in the Darwinian sense, but it was essentially different from biological evolution since it was driven by human plans. In the words with which Elias ended his first essay on The Society of Individuals, written in 1939: From plans arising, yet unplanned By purpose moved, yet purposeless.14
The contradiction sketched in these two lines gives a new twist to the problem of intellectual and moral nihilism. Both the Socratic imperative and the Nietzschean problematic resulted from conscious discussions and deliberations; in that sense they were “from plans arising”. At the same time they constituted “unplanned consequences”, in the form of puzzles and dilemmas about purposes and purposelessness that seemed forever insolvable. In his later writings, Elias applied the legacy of Comte to supplement the Darwinian approach, creating a perspective that is consistently relational (rather than absolutist), processual (rather than static) and sociological (rather than individualistic in the tradition of European philosophy.) While Nietzsche celebrated the value of a fictitious autonomous individual, “superman”, Elias emphasized the thoroughly social nature of all human achievements, including knowledge and science. Unfortunately, 12 Richard Dawkins, The Selfish Gene, Oxford 1976, pp. 203 – 16. 13 See Elias, Symbol Theory, London 1991, especially pp. 128 – 47, and Goudsblom, Jones and Mennell, The Course of Human History, pp. 31 – 48. 14 Elias, The Society of Individuals, Oxford 1991, p. 64.
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the fact that he took a very critical stance against philosophers as a professional group has severely impaired the reception of his work in the canon of philosophy.15 Elias never wrote about intellectual nihilism. If he would have done so, he would probably have attributed it to the homo clausus feelings and thoughts developed in the course of the European civilizing process.16 I now see that my own discussion of cultural sensitivity and cultural enclaves or niches in Nihilism and Culture meshed very well with Elias’ ideas about homo clausus. I ended Nihilism and Culture with a long quotation from one of Nietzsche’s earlier books, Human, All Too Human: If all those who thought so highly of their conviction, who made all manner of sacrifice for it and did not spare honour, body and life in their service of it, had only devoted just half of their energies to studying the right they had to cling to this or that conviction, to the way in which they had arrived at it, how peaceable the history of humanity would be! We would have been spared all those cruel scenes of the persecution of heretics of all types for two reasons: on the one hand, because the inquisitors would have interrogated themselves first and foremost and would have ceased to assume that they were defending the absolute truth; secondly, because the heretics themselves would have abandoned their concern with such ill-founded propositions as are the propositions of all religious sectarians and “true believers” after examining them.17
In this quotation, Nietzsche speaks of humanity at large and people in the plural, not of man in the singular (an error in the original English translation). His appeal to thoroughly examine every creed before embracing it as the truth is in full agreement with one of Elias’ favourite mottos: “One should investigate”.
15 See also Richard Kilminster, Norbert Elias. Post-philosophical Sociology, London 2007. 16 See Elias, The Civilizing Process. Sociogenetic and Psychogenetic Investigations, revised edition, Oxford 2000, pp. 472 – 81. 17 Quotation from Nietzsche, Human, All Too Human, section 630, in: Goudsblom, Nihilism and Culture, p. 202.
Autorinnen und Autoren Christian J. Emden (*1972) ist Associate Professor of German Studies an der Rice University, USA. Verçffentlichungen u. a.: Walter Benjamins Archologie der Moderne. Historische Kulturwissenschaft um 1930, Mnchen 2006; Friedrich Nietzsche and the Politics of History, Cambridge 2008. Johan Goudsblom (*1932) ist emeritierter Professor fr Soziologie an der Universitt Amsterdam, wo er seit 1968 lehrte und eng mit Norbert Elias zusammenarbeitete. Verçffentlichungen u. a.: Nihilisme en cultuur, Amsterdam 1960 (engl. Nihilism and Culture, Oxford 1980); Sociology in the Balance, Oxford 1977 (dt.: Soziologie auf der Waagschale, Frankfurt a. M. 1979); Norbert Elias on Civilisation, Power and Knowledge (hrsg. mit Stephen Mennell), Chicago 1998; The Norbert Elias Reader (hrsg. mit Stephen Mennell), Oxford 1998; Fire and Civilization, London 1992 (dt.: Feuer und Zivilisation, Frankfurt a. M. 2001); Mappae Mundi. Humans and their Habitats in a Long-Term Socio-Ecological Perspective. Myths, Maps and Models (hrsg. mit Bert de Vries), Amsterdam 2002. Friederike Felicitas Gnther (*1972) ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut fr deutsche Phililogie der Julius-Maximilians-Universitt Wrzburg. Verçffentlichungen: Rhythmus beim frhen Nietzsche, Berlin/ New York 2008. Annette Hilt (*1975) ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universitt Mainz. Verçffentlichungen u. a.: Ousia – Psyche – Nous. Aristoteles’ Philosophie des Lebendigen, Freiburg/ Mnchen 2005; Bildung im technischen Zeitalter. Sein, Mensch und Welt nach Eugen Fink (hrsg. mit Cathrin Nielsen), Freiburg/ Mnchen 2005. Angela Holzer (*1978) studierte Komparatistik, Amerikanistik, Italianistik und Germanistik in Berlin, Venedig, Bloomington und Princeton. Sie verçffentlichte Aufstze vor allem zur deutschen Kultur des 18. Jahrhunderts und zu Nietzsche und promoviert an der Princeton University ber die Rezeption der rçmischen Antike um 1800.
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Autorinnen und Autoren
Stephen Mennell (*1944) war Professor fr Soziologie am Department of Anthropology and Sociology der Monash University, Australia und hatte von 1993 – 2009 eine Professur fr Soziologie am University College Dublin inne. Er ist General Editor der englischsprachigen Norbert Elias-Gesamtausgabe. Verçffentlichungen u. a.: All Manners of Food: Eating and Taste in England and France from the Middle Ages to the Present, Oxford 1985 (dt. Die Kultivierung des Appetits, Frankfurt a. M. 1988); Norbert Elias: An Introduction, Cambridge 1992; The American Civilizing Process, Cambridge 2007. Enrico Mller (*1973) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut fr Philosophie der Universitt Greifswald und Inhaber einer DFG-Projektstelle (Platons Phaidros und die philosophische Kunst des Dialogs). Verçffentlichungen: Die Griechen im Denken Nietzsches, Berlin/ New York 2005. Chiara Piazzesi (*1977) forscht und lehrt mit Untersttzung des DAAD und der Fritz-Thyssen-Stiftung an der Ernst-Moritz-Arndt-Universitt Greifswald. Sie ist Koordinatorin des GIRN (Groupe International de Recherches sur Nietzsche). Verçffentlichungen u. a.: Nietzsche: fisiologia dell’arte e dcadece, Lecce 2003; La verit come trasformazione di s. Terapie filosofiche in Pascal, Kierkegaard e Wittgenstein, Pisa 2009. Renate Reschke (*1944) ist Kulturwissenschaftlerin und war von 1993 – 2009 Professorin fr die Geschichte des sthetischen Denkens an der Humboldt-Universitt zu Berlin. Sie ist Grndungsmitglied der NietzscheGesellschaft (Vorsitzende 1998 – 2002), stellv. Direktorin der NietzscheStiftung und Herausgeberin des Jahrbuches Nietzscheforschung (zus. mit Volker Gerhardt).Verçffentlichungen u. a.: Denkumbrche mit Nietzsche. Zur anspornenden Verachtung der Zeit, Berlin 2000; sthetik. Ephemeres und Historisches, Hamburg 2002; Nietzsche. Radikalaufklrer oder radikaler Gegenaufklrer?, Berlin 2004; sthetik. Aufgabe(n) einer Wissenschaftsdisziplin (hrsg. mit Karin Hirdina), Freiburg 2004. Leander Scholz (*1969) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kolleg fr Kulturtechnikforschung und Medienphilosohie der Bauhaus-Universitt Weimar und Redakteur der Zeitschrift fr Medien und Kulturforschung (ZMK). Verçffentlichungen u. a.: Das Archiv der Klugheit: Strategien des Wissens um 1700, Tbingen 2002; Das Gesicht ist eine starke Organisation. Gilles Deleuze und die Politik der Wahrnehmung (hrsg. mit Petra Lçffler),
Autorinnen und Autoren
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Mnchen 2004; sthetische Regime um 1800 (hrsg. mit Friedrich Balke und Harun Maye), Mnchen 2009. Andreas Urs Sommer (*1972) ist Privatdozent an der Universitt Freiburg und seit 2008 Wissenschaftlicher Kommentator der Werke Nietzsches an der Forschungsstelle „Nietzsche-Kommentar“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Er ist Direktor der Friedrich-Nietzsche-Stiftung. Verçffentlichungen u. a.: Friedrich Nietzsche: ,Der Antichrist‘. Ein philosophisch-historischer Kommentar, Basel 2000; Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, Basel 2006. David Wachter (*1979) studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie in Bonn, Cincinnati und Berlin. Er arbeitet zur Zeit an einer Dissertation ber Essayismus und Kontingenz in der Klassischen Moderne (Musil, Kracauer, Benn).
Personenregister Adorno, Gretel 40 Adorno, Theodor W. 31f., 35, 108 Agamben, Giorgio 202 Albert, Claudia 72 Albertz, Jçrg 175 Alewyn, Richard 76 Alt, Peter Andr 175, 178 Andreski, Stanislav 103 Aquinas, Thomas 36, 126 Arendt, Hannah 224 Aris, Philippe 160 Aristoteles 36, 143, 257f., 286f., 310 Assmann, Aleida 234 Assmann, Jan 233 Augustinus 126 Bacon, Francis 183, 257 Balke, Friedrich 282 Baller, Robert D. 101 Barkhoff, Jrgen 113 Bartels, Peter 14 Bateson, Gregory 200 Bauman, Zygmunt 108, 147 Baumgart, Ralf 67, 72 Beck, Rainer 174 Beck, Ulrich 276 Bergson, Henri 39, 179f. Bernstein, Richard J. 127 Bishop, Paul 122 Bloch, Ernst 31 Blomert, Reinhard 40, 57, 116, 137, 160 Blumenberg, Hans 175, 177, 300 Bçhme, Hartmut 113 Bolz, Norbert 279 Bonaparte, Napoleon 30, 79, 126 Borgia, Cesare 126 Boscovich, Ruggero Giuseppe 177, 185f.
Bourdieu, Pierre 145, 173, 207, 211, 213, 261, 312 Bowden, Brett 111 Bowman, Shearer Davis 94, 96 Brandes, Georg 126 Bredekamp, Horst 143 Breuer, Stefan 116, 145 Breuninger, Helga 109, 147 Brochier, Jean-Jacques 11 Brock, Bazon 279 Brçckling, Ulrich 273 Brown, Richard Maxwell 101 Brusotti, Marco 150f. Buch, Hans Christoph 107 Burckhardt, Jacob 10, 244–249, 252, 261–263 Burkert, Walter 174 Burkitt, Ian 147 Burr, Aaron 99 Bush, George 103f. Caesar, Gaius Julius 126 Caillois, Roger 141 Camiller, Patrick 107 Campe, Joachim 27 Carroll, John B. 13 Cassirer, Ernst 294 Chesnut, Mary 96–98 Christ, Karl 244 Cicero 187 Clark, Maudemarie 123 Colli, Giorgio 30 Collins, Randall 312 Comte, Auguste 255, 257–259, 313 Conant, James 126 Condorcet, Marquis de 51 Copleston, Frederick Charles 21, 36–49, 57–59 Curley, Edwin 109
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Personenregister
Darwin, Charles 51, 60, 253–260, 312f. Davis, Jefferson 97 Dawkins, Richard 313 Deleuze, Gilles 35 Demm, Eberhard 33 Demokrit 311 Descartes, Ren 197, 207, 257, 297 De Swaan, Abram 117, 147 Detwiler, Bruce 126 Dieckmann, Bernhard 109 Diemer, Alwin 287 Dienst, Karl 175, 186, 188 Dietz, Simone 234 Dinges, Martin 147 Djuric´, Mihailo 287 Dombowsky, Don 126 Dostojewski, Fjodor 290 Duerr, Hans Peter 111, 147 Dhring, Eugen 300 Dlmen, Richard van 130 Dunning, Eric 136f., 141–143 Durkheim, Emile 306 Drr, Emil 10, 245 Eberwein, Wolf-Dieter 145 Eichener, Volker 67, 72 Eisenhower, Dwight D. 103 Emden, Christian J. 16, 113, 122f., 131 Engels, Friedrich 26 Epiktet 165 Epikur 16, 126 Faber, Richard 160 Flaig, Egon 247 Fletcher, Jonathan 145 Fornari, Maria Cristina 259 Fçrster-Nietzsche, Elisabeth 40 Foucault, Michel 8, 11, 108, 208, 212, 214, 234, 260f., 279 Freud, Sigmund 73, 91, 139 Fuchs, Carl 182 Fulbrook, Mary 147 Galtung, Johan 145 Gebhardt, Hans 175 Gehlen, Arnold 271, 273
Gerber, Gustav 288 Gerhardt, Volker 154, 175, 234, 262 Gersdorff, Carl von 168, 244, 310 Gerson Jean 159 Geuss, Raymond 129 Giddens, Anthony 117 Giesen, Bernhard 253, 255 Gleichmann, Peter 116, 139, 307 Gombrich, Ernst 233 Goudsblom, Johan 14, 18, 116, 139, 305, 307, 311, 313f. Graf, Friedrich Wilhelm 174 Grant, Ulysses S. 99 Greiner, Ulrich 2 Greshoff, Rainer 275 Grimm, Jacob 130, 288, 300 Grimm, Wilhelm 288, 300 Grnder, Karlfried 175 Gnther, Friederike Felicitas 16, 176, 182 Habermas, Jrgen 72, 115, 268, 271 Hackeschmidt, Jçrg 92 Hadot, Pierre 166 Hamilton, Alexander 99 Hammer, Heike 116, 160 Han, Byung-Chul 264 Hardt, Michael 273 Hartmann, Nikolai 65 Haselbach, Dieter 116 Hay, John 103 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 36, 114, 127, 253f., 257, 270f., 273, 276f., 280, 283 Heidegger, Martin 11, 39, 166, 173, 250 Heilbron, Johan 116 Heine, Heinrich 48 Heinemann, F.H. 36 Heitmeyer, Wilhelm 107, 11, 117 Hellmann, Kai Uwe 272 Heraklit 242, 287 Herodot 311 Hilt, Annette 17 Hinz, Michael 147 Hirsch, Alfred 7 Hitler, Adolf 59
Personenregister
Hobbes, Thomas 109, 11f., 123, 126, 160, 162, 269 Hobhouse, Leonard Trelawny 259 Hçffe, Otfried 150, 154 Hofmannsthal, Hugo von 183, 188 Holbach, Baron d’ 51 Holzer, Angela 15, 121 Homer 244 Hçnigswald, Richard 2, 250–252 Honneth, Axel 211, 283 Horkheimer, Max 32, 108 Hubbard Judd, Charles 113 Hbscher, Arthur 288 Hlst, Dirk 294 Humboldt, Wilhelm von 288 Hume, David 310 Husserl, Edmund 2, 250, 287 Httermann, Jçrg 111 Imbusch, Peter 109, 145, 147 Jackson, Stonewall 97 Jaspers, Karl 2, 40, 250 Jefferson, Thomas 95, 97 Jhering, Rudolf von 127f. Johnson, Chalmers 103 Jones, Eric 311, 313 Kant, Immanuel 3, 9, 36, 109–111, 114, 121, 126f., 130, 177f., 252, 258, 287–290, 299 Kauffmann, Walter 92 Kerger, Henry 150 Kiesel, Helmut 175 Kilminster, Richard 285, 314 Kluwe, Sandra 175, 177f., 185 Kneer, Georg 275 Konersmann, Ralf 113 Kçnig, Hartmut 145 Kçnig, Helmut 145 Kopernikus, Nikolaus 175, 177f., 185–188 Korte, Hermann 116, 139, 145, 307 Koschik, Gerlinde 279 Kramme, Rdiger 272 Lane, Roger 99, 101 Lanwerd, Susanne 160
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Laugstien, Thomas 267 Leibniz, Gottfried Wilhelm 36, 287f. Lindenberger, Thomas 109 Locke, John 102 Loraux, Nicole 279 Ludovici, Anthony M. 40 Ldtge, Alf 109 Ludwig XIV. 66f., 70, 72f., 75f., 78, 80, 82, 181f. Ludwig XV. 66, 75 Luhmann, Niklas 2, 17, 261, 264, 267–270, 272–277, 280f., 285, 289 Lukcs, Georg 31 Lutz, Bernd 72 Lyell, Charles 98 Machiavelli, Niccol 109, 126 MacLeod, William 116 Mader, Gerald 145 Maikuma, Yoshihiko 246 Mandelbaum, Michael 104 Mann, Thomas 32, 57 Mannheim, Karl 4, 116f., 119 Marcuse, Ludwig 32 Marquard, Odo 118 Marshall, Thomas Humphrey 96 Marti, Urs 124 Martineau, Harriet 94f., 98f. Marx, Karl 24, 26, 31f., 255, 259, 268, 279 Matthes, Joachim 24 Mazower, Mark 117 Meier, Heinrich 174 Mendelssohn, Moses 299 Mennell, Stephen 15f., 43, 94, 102f., 141, 143–145, 311, 313 Menzel, Ulrich 277 Merle, Jean-Christophe 150 Merton, Robert K. 306 Merz-Benz, Peter-Ulrich 252 Messner, Steven 101 Michel, Karl Markus 270 Mill, John Stuart 259 Miller, Max 147 Moelker, Ren 43 Moldenhauer, Eva 114, 270 Molire 289
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Personenregister
Mommsen, Wolfgang J. 122 Montaigne, Michel Eyquem de 70 Montinari, Mazzino 30, 35 Moore, Gregory 132 Mouffe, Chantal 276, 279 Mller, Enrico 17, 257 Mller-Lauter, Wolfgang 35, 198 Mnkler, Herfried 107, 110, 120 Neckel, Sighard 109 Nedelmann, Brigitta 110f. Negri, Antonio 273 Nevins, Allan 99 Newton, Isaac 253 Oeri, Albert 10, 245 Oppenheimer, Franz 116 Ottmann, Henning 124 Overbeck, Franz 246 Parmenides 242 Parsons, Talcott 179, 256, 307, 311 Pascal, Blaise 303 Peirce, Charles Sanders 294 Perikles 126 Petzold, Gertrud von 59 Pfrtner, Stephan H. 269 Piazzesi, Chiara 17 Platon 161, 170 Plessner, Helmut 271f. Popitz, Heinrich 109–111 Popper, Karl 298 Post, Albert Hermann 128–130 Prutz, Hans 300 Ptz, Peter 58 Pyrrhon 310 Rammstedt, Otthein 113 Rancire, Jacques 279 Rath, Norbert 13f., 35 Rehberg, Karl-Siegbert 116, 250 Reibnitz, Barbara von 122 Reijen, Willem van 31 Reschke, Renate 15 Ribeiro, Darcy 95 Richardson, John 131 Richter, Karl 175 Rickert, Heinrich 251
Riou, Jeanne 113 Ritter, Ellen 183 Ritter, Joachim 175, 240f. Roosevelt, Theodore 103 Rousseau, Jean-Jacques 268, 270 Roux, Wilhelm 198f., 201 Ruehl, Martin A. 122 Russell, Bertrand 178 Rutschky, Katharina 28 Rutschky, Michael 272 Saar, Martin 8, 206, 214, 266 Saint Pierre, Abb de 121 Saint-Simon, Louis de 81f., 88 Sandkhler, Hans Jçrg 299 Sassen, Saskia 115 Schacht, Richard 126 Schlapp, Wilhelm 233 Schild, Wolfgang 130 Schimank, Uwe 275 Schirmer, Andreas 31 Schlechta, Karl 29, 305, 310 Schlimgen, Erwin 289 Schmid Noerr, Gunzelin 31, 108 Schmidt, Alfred 108 Schmidt, Erich 28 Schmidt, Rdiger 31 Schmitt, Carl 272, 279 Scholz, Leander 17 Schopenhauer, Arthur 36, 48, 65, 174, 262, 288, 290f., 310 Schrçter, Michael 24f., 27, 34f., 136, 241, 274, 290 Schwab-Trapp, Michael 109 Sedgwick, Peter 150 Seitter, Walter 8, 108 Seneca 174 Seubold, Gnter 144 Shakespeare, William 187 Sieferle, Rolf-Peter 109, 147 Simmel, Georg 113 Simon, Josef 287, 290 Simonis, Linda 249 Sloterdijk, Peter 281 Slotkin, Richard 100 Soeffner, Hans-Georg 108, 11, 117, 147 Sofsky, Wolfgang 111, 120
Personenregister
Sokrates 46, 160, 307, 310–312 Solms-Laubach, Franz 4 Sommer, Andreas Urs 16, 160, 189, 240, 246 Sorel, Georges 34 Spencer, Herbert 255–259, 313 Stearns, Peter N. 101 Stegmaier, Werner 18, 151, 154, 226, 230, 257, 291, 299f. Stenlund, Sçren 235 Stephenson, George 308 Stevens, William Oliver 99 Steward, Dick 100 Stichweh, Rudolf 277 Stingelin, Martin 129, 249 Striker, Gisela 126 Strong, Tracy B. 200 Taggart, John 118 Thales 310 Thatcher, David S. 130 Thomas, Hugh 103 Tilly, Charles 117 Tocqueville, Alexis de 94 Treibel, Annette 116 Treiber, Hubert 257 Treitschke, Heinrich von 30 Trollope, Anthony 96f. Trotha, Trutz von 110f., 120 Tugendhat, Ernst 174 Tully, James 115 Visser, Saskia 35 Vogl, Joseph 279
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Vogt, Wolfgang R. 145 Voltaire 23, 92 Wachter, David 16 Wagner, Cosima 48, 176 Wagner, Richard 48, 100 Warburg, Aby 233 Watt, James 307f. Wawro, Geoffrey 124 Weber, Alfred 4, 32–34, 40, 116 Weber, Marianne 116 Weber, Max 2, 10, 68, 103, 107, 113f., 116f., 121, 124, 255, 263, 309 Weischedel, Wilhelm 114 Whitehead, Alfred North 36 Whorf, Benjamin Lee 13 Williams, Bernard 123, 129 Wilterdink, Nico 116 Wimmer, Michael 109 Winckelmann, Johannes 107, 114 Windelband, Wilhelm 250f. Wister, Owen 100 Wittgenstein, Ludwig 214, 294 Wolff, Kurt H. 119 Wotling, Patrick 199 Wulf, Christoph 109 Wyatt-Brown, Bertram 99 Zavatta, Benedetta 288 Zevenbergen, Matthew P. 101 Zimmerman, Warren 103 Zimring, Franklin E. 101 Zinneman, Fred 100