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German Pages 196 Year 2017
Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Wolfgang Kersting, Kiel Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Pier Paolo Portinaro, Torino Tine Stein, Kiel Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau
Staatsverständnisse herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 96
Erik Jentges [Hrsg.]
Das Staatsverständnis von Norbert Elias
© Titelbild: Die Titelfotos von Norbert Elias wurden während seiner Gastprofessur 1982 an der University of Indiana, Bloomington, von Inge Castellini während des Interviews zu „Das Janusgesicht der Staaten“ aufgenommen. Die Fotos wurden im leider bereits vergriffenen Buch Sozialwissenschaften als Kunst abgedruckt, 1997 bei UVK von Peter Ludes herausgegeben; die Manuskriptseite zeigt den Beginn der Abschrift des hier veröffentlichten Interviews. Die Bildrechte liegen bei Peter Ludes. Der Beitrag „Norbert Elias im Interview mit Peter Ludes, Frank Adler und Paul Piccone“ (S. 19-32) ist eine von Erik Jentges angefertigte Übersetzung des auf Englisch geführten Interviews von 1982 (Quellenangabe FN 1, S. 19). © Norbert Elias Stichting, Amsterdam, Abdruck mit Genehmigung der Liepman AG, Zürich
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-3610-2 (Print) ISBN 978-3-8452-7914-5 (ePDF)
1. Auflage 2017 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Editorial
Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Veränderungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die „Entgrenzung der Staatenwelt“ jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien der Staatsdenker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben, einen Wandel, der nicht mit der Globalisierung begonnen hat und nicht mit ihr enden wird. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema „Wiederaneignung der Klassiker“ immer wieder zurück zu kommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsverständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den Weimarer Staatstheoretikern Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller und weiter zu den zeitgenössischen Theoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideologie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer von einander zu trennen sind. Auch die Verstrickungen Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusammenhang nicht verzichtet werden.
Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen, sondern vor allem auch an Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften. In den Beiträgen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräftiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. So wird auch der / die Studierende unmittelbar in die Problematik des Staatsdenkens eingeführt. Prof. Dr. Rüdiger Voigt
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Teil I:
9
Norbert Elias und das Janusgesicht der Staaten
Norbert Elias im Interview mit Peter Ludes, Frank Adler und Paul Piccone Das Janusgesicht der Staaten (1982)
19
Peter Ludes Das Interview von Norbert Elias für Telos: Kontexte
33
Teil II: Das Politik- und Staatsverständnis von Norbert Elias Erik Jentges Das Konzept der Staatsgesellschaft
39
Peter Imbusch Der Staat im Kontext der Zivilisationstheorie
61
Christophe Majastre / Florence Delmotte Der Staat als (einzige) Form politischer Integration?
87
Florence Delmotte / Christophe Majastre Das Politische und der Staat, oder warum Ersteres nicht auf Letzteres reduziert werden kann
103
Teil III: Figurationen von Staatlichkeit Gunnar Folke Schuppert Staatlichkeit als institutionalisiertes Interdependenzgefüge
125
Reinhard Blomert Das Verhältnis von politischer und ökonomischer Macht im Zivilisationsprozess
147
Peter Ludes Staatenumbildungen und Habitus-Umbrüche
177
Hans-Jürgen Burchardt Auf der Suche nach dem Staat im Globalen Süden – oder wie man postkoloniale Analysen systematisieren kann
197
Autorenverzeichnis
217
Einleitung
Norbert Elias (1897-1990) wird bereits zu den Klassikern der Soziologie gezählt und oft in einem Atemzug mit Karl Marx, Emile Durkheim und Max Weber genannt. Zugleich ist er, was durchaus erstaunt, wie auch Pierre Bourdieu einer der modernen Soziologen, dessen Werk weiterhin zunehmende internationale Resonanz findet. Der Staat und das Politische sind dabei für Elias in vielen seiner Schriften von zentraler Bedeutung. Dieser Sammelband unternimmt den Versuch, sowohl Einführung als auch Übersetzungshilfe für Lesende zu sein, die sich mit einem generellen Interesse oder auch einer spezifisch rechtswissenschaftlichen und staatsrechtlichen Perspektive das umfangreiche Elias’sche Werk erschließen möchten. In der Durchsicht der Arbeiten von Norbert Elias, die – für einen Soziologen einzigartig – vollständig auf Deutsch als Gesammelte Schriften in 19 Bänden und auf Englisch als Collected Works in 18 Bänden vorliegen, kann man hunderte Referenzen auf den Staat und die mit ihm verbundenen Institutionen finden. Die Autoren der Beiträge stellen sich mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und aus verschiedenen Disziplinen kommend dieser enormen Herausforderung, das Staatsverständnis von Norbert Elias aus dessen umfangreichen Werk herauszuarbeiten. Eine Hilfestellung liefert dabei Elias selbst, der in einem Interview aus dem Jahr 1982, das hier zum ersten Mal in Auszügen auf Deutsch erscheint, sein Staatsverständnis skizziert.1 Das Gespräch erhellt einige zentrale Elemente seiner umfangreichen Theorie des Staates und seines Konzepts der Staatsgesellschaft. Das Elias’sche Staatsverständnis hat eine erstaunliche Kohärenz, aber es ist nicht aus einem Guss. Elias arbeitete mehr sechs Jahrzehnte an der Frage, was den Staat ausmacht. Erfahrungen, die er als Zeitgenosse verschiedener staatlicher Regime, angefangen von der Kaiserzeit, der Weimarer Republik, dem Aufstieg Hitlers und der Naziherrschaft, dem britischen Parlamentarismus, dem verblassenden Charisma von Kwame Nkrumah in Ghana, den Studentenprotesten im Nachkriegsdeutschland und schließlich in den Niederlanden im zwischen den Supermächten der USA und der Sowjetunion sich vereinenden Europa machte, werden von ihm gründlich und kritisch mit einem soziologisch distanzierten Blick reflektiert. Diese Erfahrungen bereichern sein Staatsverständnis, aber es mag hilfreich sein, die durch seine biographischen Brüche anfangs fragmentierte Entstehung seiner Prozess- und Figurationssoziologie mit der später erfolgten enormen Theoriesynthese näher zu beleuchten.
1 Siehe das Elias-Interview in diesem Band; mit ausführlichen Anmerkungen zum Kontext von Prof. Peter Ludes.
Die Entwicklung des Elias’schen Staatsverständnisses lässt sich vorsichtig rekonstruieren, wenn man seine Hauptwerke, in denen er ein Staatsverständnis ausformuliert, in Bezug zu seiner biographischen Entwicklung setzt. Die wichtigsten Publikationen sind die frühen Werke Die Höfische Gesellschaft,2 Über den Prozeß der Zivilisation,3 die späteren Arbeiten zu The Established and the Outsiders4 und Was ist Soziologie?5 sowie mit Blick auf das internationale Staatensystem Humana conditio,6 Wandlungen der Wir-Ich-Balance in Gesellschaft der Individuen7 und schließlich Studien über die Deutschen.8 Insbesondere aus diesen Schriften lässt sich sein Staatsverständnis rekonstruieren, das durch weitere kurze Beiträge, Vorlesungen, neue Vorworte und ergänzende Fußnoten sowie Interviews ergänzt wird. Für das Verständnis ist es hilfreich, einen genaueren Blick auf die zeitlichen und räumlichen Entstehungskontexte zu werfen, um das mitunter enorme Auseinanderklaffen von Entstehungsphasen und Publikationsdaten einzuordnen. Eine erste formative Phase einer theoretischen Positionierung findet sich bei Elias in den 1930ern; er selbst gab darüber Auskunft.9 Seine Habilitationsschrift trug den Titel Der höfische Mensch. Ein Beitrag zur Soziologie des Hofes, der höfischen Gesellschaft und des absoluten Königtums (1933). Das Originalmanuskript ist verschollen und das Buch wurde erst mehr als dreißig Jahre später als Die höfische Gesellschaft (1969) im Luchterhand Verlag in einer intensiv überarbeiten Fassung veröffentlicht. Im Exil in England schreibt er Über den Prozeß der Zivilisation (1936-39). Der „basso continuo“10 seines Ansatzes klingt in allen nachfolgenden Arbeiten durch. Die zunächst geringe Resonanz ist vor allem den Wirren der Zeitgeschichte geschuldet. Die Naziherrschaft in Deutschland, die Umbrüche des Zweiten Weltkriegs und seine Emigration nach Frankreich und dann nach England erklären, warum eine breite Rezeption zunächst ausblieb. Diese ungewollte Verzögerung eröffnete jedoch auch Chancen für eine theoretische Weiterentwicklung. In den 1950er Jahren widmete Elias sich recht umfangreichen Untersuchungen zur Genese des Marineberufs, wohl auch um „seine Wahlheimat Großbritannien zu
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Elias 1933/1969/2002. Elias 1939/1969/1997a, Elias 1939/1969/1997b. Elias/Scotson 1965/1990. Elias 1970/2009. Elias 1985. Elias 2001. Der Band Die Gesellschaft der Individuen enthalt insgesamt drei Texte. Der erste Text „Die Gesellschaft der Individuen“ (S. 17-98) stammt bereits aus dem Jahr 1939 und war als Erläuterung und Exkurs zu Über den Prozeß der Zivilisation gedacht. Der zweite Text, „Probleme des Selbstbewußtseins und des Menschenbildes“ (S. 101-205), stammt aus den 40er und 50er Jahren. Auch der dritte Text nimmt zentrale Gedanken erneut auf und wurde dezidiert für die Erstausgabe von 1987 geschrieben (siehe dazu die editorischen Nachbemerkungen von Michael Schröter (S. 316) und den editorischen Bericht von Annette Treibel, S. 317-319). 8 Elias 1989. 9 Elias 1990. 10 Korte 2013, S. 58.
verstehen und sich in ihr zu orientieren.“11 Nach diversen kurzfristigen Dozententätigkeiten fand Elias schließlich an der Universität Leicester, wo er seit 1954 eine Festanstellung hatte, ein produktives akademisches Umfeld.12 In der damals aufstrebenden Disziplin Soziologie wurde empirisch geforscht. Elias begann 1958 mit seinem Studenten John L. Scotson eine soziologische Untersuchung der englischen Gemeinde South Wigston in der Nähe Leicesters. Die Datenerhebung war 1961 abgeschlossen und Scotson graduierte im Sommer 1962.13 Mit dem Doktoranden Eric Dunning arbeitete Elias an einer Fragestellung über Sport und Fußball im Zivilisationsprozess (Quest for Excitement), die den Bereich der Sportsoziologie mitbegründete.14 Parallel dazu setzte Elias das für damalige Verhältnisse umfangreiche Young Workers Project auf die Schienen, in dem auch der junge Anthony Giddens mitwirkte, das aber später, auch bedingt durch die Tatsache, dass Elias in Ghana war, an internen Querelen zerbrach und ohne Abschlussbericht endete.15 In Leicester fand Elias auch allmählich wieder mehr Zeit zu schreiben. Eine zweite formative Phase einer theoretischen Konsolidierung begann in den frühen 1960ern. Mit The Breakdown of Civilisation (1961-62) präsentierte Elias – während auch Hannah Arendts an ihrer später vielbeachteten Reportage „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen“ schrieb (zuerst als Artikelserie im New Yorker 1963 erschienen) – eine eigenständige und originelle Analyse der Naziherrschaft. Veröffentlicht wird diese jedoch erst 1989 in Studien über die Deutschen.16 Elias übernahm 1962, als er bereits 65 Jahre alt war, für zwei Jahre eine Professur in Ghana. Ein wahrer Produktivitätsschub prägte diese Zeit und es entstanden zahlreiche Manuskripte. In Westafrika beschäftigte sich Elias unter anderem intensiv mit Stammes- und Staatsbildungsprozessen und den Transformationsprozessen ghanaischer Gemeinden sowie mit Max Webers Theorie charismatischer Herrschaft.17 Neben Überarbeitungen älterer und neuer aber im Entwurfsstadium gebliebener Texte wurde auch das Manuskript für The Established and the Outsiders finalisiert.18 Das theoretische Argument präsentierte Elias auf dem Deutschen Soziologentag 1964 in Heidelberg in seinem Vortrag zu Gruppencharisma und Gruppenschande.19 Mit sei-
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Elias 2007/2015, S. 201. Goodwin/Hughes 2011. Elias/Scotson 1965/1990. Elias/Dunning 1986/2008. Goodwin/O’Connor 2006. Elias 1989. Jentges 2017. Elias/Scotson 1965/1990. Jentges 2014.
ner Rückkehr nach Leicester im August 1964 und zahlreicher sich anschließender Gastprofessuren rückte das Publizieren seiner Hauptwerke in den Vordergrund.20 Meine These ist, dass Elias’ theoretische Perspektive erst mit den Erfahrungen aus Ghana ein Entwicklungsniveau erreicht, das es ihm erlaubt, mit großer Sicherheit die Prämissen seiner Prozess- und Figurationssoziologie zu artikulieren und sich von anderen Theorien und Disziplinen abzugrenzen. Seine Perspektive auf die Entwicklungen politischer Ordnungen integrierte nun empirisch fundierte Wissensbestände aus mikrosoziologischen Gemeindestudien und makrosoziologischen Staatsbildungsprozessen in europäischen und außereuropäischen Kontexten und aus einfacheren und komplexeren Gesellschaften. Elias gelingt mit der Etablierung seiner Prozess- und Figurationssoziologie eine brillante Synthese dieser Wissensbestände. In den folgenden Jahren wurde, in Leicester und während einiger Gastprofessuren in Münster und anderen Städten, Die höfische Gesellschaft ausführlich überarbeitet. Nur wenige Kapitel wie jenes zu Wohnstrukturen als Anzeiger gesellschaftlicher Strukturen21 blieben nahezu unberührt in der Fassung von 1933. Das 1969 veröffentlichte Buch Die höfische Gesellschaft wurde schließlich im Luchterhand Verlag herausgegeben. Es ist ein Palimpsest.22 Abschnitte wurden präzisiert, Passagen eingefügt, neue Kapitel geschrieben, ergänzende Anhänge kamen hinzu und ein langes Vorwort positionierte die Soziologie nun in Opposition zur Geschichtswissenschaft. Rückblickend erwähnte Elias, er sei mit der Publikation sehr zufrieden gewesen, weil er alle Überarbeitungen und Ergänzungen tatsächlich in die Endfassung einfügen konnte. Ende der 1960er schreibt Elias auch ein langes Vorwort für die Neuauflage von Über den Prozeß der Zivilisation (datiert auf Juli 1968), welche 1969 im Verlag Francke in Bern erscheint. Endlich fertig ist 1970 auch der Einführungsband Was ist Soziologie? Er hatte dem Herausgeber der Reihe, Dieter Claessens, das Buch bereits 1965 versprochen.23 Zahlreiche Einführungskurse in die Soziologie hielt Elias schon in Leicester und Ghana. Hier bündelte er nun seine Erkenntnisse aus über vier Jahrzehnten Beschäftigung mit gesellschaftlichen Prozessen. Man findet in diesem relativ schmalen Buch eine Synthese seines Denkens und ein Exposé seiner Interdependenztheorie der Macht zur Analyse von Staatsgesellschaften. Die These, dass Elias erst in den späten 1960ern die theoretische Perspektive der Prozess- und Figurationssoziologie konsolidieren konnte, wird auch gestützt durch die Entwicklung seiner Begrifflichkeiten. Es entwickelte sich erst jetzt aus der configuration, wie er das Modell von Etablierten und Außenseitern noch 1965 nannte, 20 Siehe auch die detaillierte Rekonstruktion seiner Jahre in England anhand umfangreichen Archivmaterials, die zahlreichen Verlagskorrespondenzen und zum Beginn seiner Rezeption in Frankreich: Joly 2012. 21 Elias 1933/1969/2002, S. 75-114. 22 Opitz 2005. 23 Korte 2013, S. 52.
das Konzept der figuration. Man findet den Begriff der Figuration nun im neuen Vorwort von Über den Prozeß der Zivilisation (1968), in vielen Passagen in Die höfische Gesellschaft (1969) und ganz zentral in Was ist Soziologie (1970). Nachdem er Staats- und Stammesbildungsprozesse in Europa und in Westafrika eingehender analysiert hatte, erschien es ihm erst nun als soziologisch gesichertes Wissen, dass Gruppen zum Zweck ihrer gemeinsamen Verteidigung und der Sicherung ihres Überlebens ihre Verteidigungs- und Angriffspotentiale bündeln und dadurch sozial und politisch geordnete „Schutz- und Trutz-Einheiten“ oder „Überlebenseinheiten“ (survival units) bilden.24 Eine moderne Staatsgesellschaft repräsentiert dabei lediglich eine komplexere und stärker funktional ausdifferenzierte Variante mit gleicher Funktion, wobei auch diese immer in größere Verflechtungen eingebunden ist, denn es existieren immer auch andere Überlebenseinheiten im weiteren sozialen Feld, zu denen Beziehungen und Abhängigkeiten bestehen. Die politische Soziologie von Elias, die ihre Anlagen bereits in seinen beiden Hauptwerken aus den 1930ern zeigte, hatte bis 1970 klare Konturen gewonnen. Im Kern ist es eine Konflikttheorie, die sich an Macht- und Statusunterschieden in und zwischen Gruppen orientiert.25 Der Blick richtet sich auf miteinander verknüpfte Spannungsbalancen und Machtdifferentiale zwischen Monopoleliten verschiedener Schichten und Klassen. Darüber hinaus geht er auf Einflüsse außerhalb von Staatsgesellschaften ein, denn auch die vielfältigen grenzüberschreitenden Abhängigkeiten untereinander wirken aufeinander ein. Staatsgesellschaften beinhalten multipolare Spannungsbalancen und sind zugleich auf höheren Integrationsebenen in andere ungleiche Machtdifferentiale eingebunden. In vielen seiner Analysen findet sich ein Erklärungsmodell wieder, das mit der Figuration von Etablierten und Außenseitern bereits 1965 theoretisch gefasst wurde. Eine neue Einleitung, geschrieben 1976, präzisierte das theoretische Modell und schärfte es als Analyseinstrument. Noch 1990 folgte mit dem Maycomb-Modell eine weitere Ergänzung.26 Sein Ansatz, die Konflikte innerhalb einer Gesellschaft wie bei einem Mobile als das Auf und Ab verschiedener Monopoleliten zu analysieren, von miteinander um Macht ringende gesellschaftliche Gruppen wie Aristokratien, Mittel- und Arbeiterschichten, findet sich in zahlreichen seiner späteren Schriften und Aufsätze, die auch immer wieder wie in Humana conditio (1985), Wandlungen der Wir-Ich-Balance (1987) und Studien über die Deutschen (1989) neue Gedanken für ein präziseres Verständnis von Staat, Staatsgesellschaft und Staatlichkeit liefern. Erst im Rückblick wird auch deutlich, welche Inspiration Elias für den französischen Soziologen Pierre Bourdieu und dessen Staatsverständnis darstellte.27 Die 24 25 26 27
Elias 1970/2009, S. 152. Schlichte 2012. Elias/Scotson 1965/1990. Bourdieu 2014; Loyal 2016.
weiterhin intensive Beschäftigung mit der Prozess- und Figurationssoziologie in der Soziologie und in der Politikwissenschaft sowie weiteren Disziplinen wie Rechtswissenschaft, Medienwissenschaft und Philosophie, die zudem in verschiedenen Sprachräumen Resonanz finden, lassen hoffen, dass eine distanziertere und wirklichkeitskongruentere Perspektive auf den Staat – von Elias inspiriert – weiterhin als kritische Korrektur und Ergänzung in gegenwärtigen und zukünftigen Theoriedebatten über Staat und Staatlichkeit Anklang und Nachhall findet. Der vorliegende Band soll dazu einen Beitrag liefern. Er thematisiert das Staatsverständnis von Norbert Elias in drei Kapiteln. Im ersten Kapitel kommt Norbert Elias selbst zu Wort, in einem hier erstmalig auf Deutsch veröffentlichtem Interview, in dem er seine Grundgedanken über das Janusgesicht der Staaten erläutert. Peter Ludes bietet als einer der Gesprächspartner von 1982 mit seinen Erinnerungen zum Kontext des Interviews eine außerordentlich wertvolle Verständnishilfe an. Das Interview kann immer wieder als Referenz beim Lesen der weiteren Beiträge in diesem Band dienen. Im zweiten Kapitel nimmt Erik Jentges das Elias’sche Konzept der Staatsgesellschaft in den Blick und beleuchtet zentrale Dynamiken von Monopolbildungsprozessen. Peter Imbusch setzt den Staat in den Kontext der Zivilisationstheorie und nimmt Machtbalancen zum Ausgangspunkt zur Erforschung des Politischen. Systematisch diskutiert er auch die widersprüchliche Verarbeitung der Staatsproblematik und Limitierungen der Elias’schen Staatstheorie. In zwei aufeinander aufbauenden Beiträgen von Florence Delmotte und Christophe Majastre wird das Politische bei Elias sehr detailliert und kenntnisreich thematisiert. Dabei wird im ersten Teil die Frage aufgeworfen, ob der Staat die bestimmende oder zwangsläufig einzige Form politischer Integration darstellt. Majastre und Delmotte argumentieren, dass Elias’ Analyse teilweise einer “etatistischen” Vision des Politischen nahesteht und zur positiven Bewertung der historischen Rolle des Staates neigt. Dennoch unterscheidet sich sein Etatismus – wie die genaue Lektüre seines Werkes zeigt – von dem Carl Schmitts. Im zweiten Teil argumentieren Delmotte und Majastre, dass der historische Charakter von Elias’ Soziologie es weder erlaubt noch verhindert das Politische auf den Staat zu reduzieren. Der Staat wird dabei als Überlebenseinheit verstanden, der auf Frieden im Inneren und Krieg außerhalb basiert und europäischen Ursprungs ist. Insbesondere über die Lektüre von Elias’ späteren Schriften gelingt es ihnen für die Gegenwart, in der die letztendlich einzige Überlebenseinheit die Menschheit selbst geworden ist, Elias’ „kosmopolitische Intuitionen“ herauszuarbeiten und die Bedeutung von Demokratie, Menschenrechten und ausgedehnteren und distanzierteren Wir-Gefühlen hervorzuheben. Im dritten Kapitel wird das Elias’sche Staatsverständnis hinsichtlich seiner Potentiale zur Diskussion einiger Herausforderungen, die sich dem modernen Staat stellen, getestet. Gunnar Folke Schuppert erörtert Staatlichkeit als institutionalisiertes Interdependenzgefüge und demonstriert sehr belesen und materialreich den Gewinn
einer figurationssoziologischen Perspektive für die Staatstheorie. Reinhard Blomert erläutert das Verhältnis von politischer und ökonomischer Macht im Zivilisationsprozess und illustriert dieses ausführlich an den Beispielen der Zivilisierung des Industriekapitalismus in Deutschland und an der Zähmung der amerikanischen Finanzaristokratie. Peter Ludes wendet sich Staatenumbildungen und Habitus-Umbrüchen zu, wobei sein Erkenntnisinteresse einigen zentralen Phänomenen der Globalisierung gilt, die als Veränderungen etablierter staatlicher Herrschaftsmonopole und durch neue Kommunikationsweisen bedingte Umformungen von Verhaltensweisen zahlreiche Konsequenzen mit sich bringen. Hans-Jürgen Burchardt formuliert ein überzeugendes Argument, wie sich Elias’ Staatsverständnis auch im nicht-westlichen Kontext, im globalen Süden, für ertragreiche Analysen staatlicher Prozesse in Stellung bringen lässt und welche Potentiale das Konzept der Figuration für eine dezentrierte Staatsforschung sowie für postkoloniale Ansätze bereithält. In jeweils eigenständigen Herangehensweisen thematisieren die Autoren dieses Bandes die wichtigsten Gedanken von Elias’ Staatsverständnis und untersuchen dessen Potenziale für realitätskongruente Analysen moderner Staatlichkeit. Mein herzlicher Dank gilt Hendrik Claas Meyer, dessen Neugier und Elan dieses Projekt bereits 2013 auf die Schienen gesetzt und angestoßen haben. Ohne seine umfangreichen Vorarbeiten und seine mutige Entscheidung, mir die Herausgeberschaft in der vorletzten Kurve vor der Ziellinie anzuvertrauen, wäre dieser Band nicht möglich gewesen. Die Geduld der Autoren und das freundliche Nachhaken von Rüdiger Voigt waren bei der Weiterführung dieses Projekts sehr hilfreich. Die Übersetzungen des Elias-Interviews und der Beiträge von Florence Delmotte und Christophe Majastre aus dem Englischen wurden von Erik Jentges angefertigt. Eine wertvolle Unterstützung waren Adis Merdzanovic, Hermann Korte, Stefanie Ernst, Peter Ludes, die Norbert Elias Stichting sowie das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar, wo der Nachlass von Norbert Elias der Forschergemeinschaft für weiterführende Untersuchungen zur Verfügung steht. Ihnen allen gilt mein Dank.
Literatur Bourdieu, Pierre, 2014: Über den Staat – Vorlesungen am Collège de France 1989-1992, Frankfurt a.M. Elias, Norbert, 1933/1969/2002: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. Elias, Norbert, 1939/1969/1997a: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Mit einer neuen Einleitung, Frankfurt a.M.
Elias, Norbert, 1939/1969/1997b: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a.M. Elias, Norbert, 1970/2009: Was ist Soziologie? München. Elias, Norbert, 1985: Humana conditio: Beobachtungen zur Entwicklung der Menschheit am 40. Jahrestag eines Kriegsendes (8. Mai 1985), Frankfurt a.M. Elias, Norbert, 1989: Studien über die Deutschen Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. Elias, Norbert, 1990: Norbert Elias über sich selbst, Frankfurt a.M. Elias, Norbert, 2001: Die Gesellschaft der Individuen [Gesammelte Schriften, Bd. 10], Frankfurt a.M. Elias, Norbert, 2007/2015: Seeleute und Gentlemen. Herausgegeben von Hermann Korte, Wiesbaden. Elias, Norbert/Dunning, Eric, 1986/2007: Quest for Excitement. Sport and Leisure in the Civilising Process. Herausgegeben von Eric Dunning [Collected Works, Bd. 7], Dublin. Elias, Norbert, 2013: The Janus face of states (1982) – interview with Peter Ludes, Frank Adler and Paul Piccone. In: Norbert Elias, Interviews and Autobiographical Reflections. Herausgegeben von Edmund Jephcott, Stephen Mennell, Richard Kilminster und Katie Liston [Collected Works, Bd. 17], Dublin, S. 247-258. Elias, Norbert/Scotson, John L., 1965/1990: Etablierte und Außenseiter, Frankfurt a.M. Goodwin, John/Hughes, Jason, 2011: Ilya Neustadt, Norbert Elias, and the Development of Sociology in Britain: Formal and Informal Sources of Historical Data. In: British Journal of Sociology, 26 (4), S. 677-695. Goodwin, John/O’Connor, Henrietta, 2006: Norbert Elias and the Lost Young Worker Project. In: Journal of Youth Studies, 9 (2), S. 159-173. Jentges, Erik, 2014: Norbert Elias: Gruppencharisma und Gruppenschande. Herausgegeben von Erik Jentges mit einer biografischen Skizze von Hermann Korte. ADA Heft 7, Marbach a.N. Jentges, Erik, 2017: Die Bedeutung von Gruppencharisma und Gruppenschande für die Entwicklung der Figurationssoziologie bei Norbert Elias, In: Ernst, Stefanie / Korte, Hermann (Hrsg.), 2017: Gesellschaftsprozesse und individuelle Praxis. Münsteraner Vorlesungsreihe zur Erinnerung an Norbert Elias’ Gastprofessur vor 50 Jahren, Wiesbaden, S. 43-65 (im Erscheinen). Joly, Marc, 2012: Devenir Norbert Elias. Histoire croisée d’un processus de reconnaissance scientifique: la réception francçaise, Paris. Korte, Hermann, 2013: Biographische Skizzen zu Norbert Elias, Wiesbaden. Loyal, Steven, 2016: Bourdieu on the state: An Eliasian Critique. In: Human Figurations 5(2). Opitz, Claudia, 2005: Quellen für und Einflüsse auf die Höfische Gesellschaft. In: Opitz, Claudia (Hrsg.) Höfische Gesellschaft und Zivilisationsprozess. Norbert Elias’ Werk in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Köln, S. 39-58. Schlichte, Klaus, 2012: Der Streit der Legitimitäten. Der Konflikt als Grund einer historischen Soziologie des Politischen. In: Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung, 1 (1), S. 9-43.
Teil II: Das Politik- und Staatsverständnis von Norbert Elias
Erik Jentges Das Konzept der Staatsgesellschaft Zum Potenzial von Norbert Elias’ Staatsverständnis 1. Einleitung Mit der von Norbert Elias ausgearbeiteten prozess- und figurationssoziologischen Perspektive ist es möglich, alternative Zugänge zum klassischen Staatsverständnis zu finden. Seine soziologische Interdependenztheorie führt zu innovativen Fragen und neuen Antworten. Ab wann kann bei einer Rebellengruppe, die innerhalb eines bestehenden Staates ein autonomes Territorium kontrolliert, von einem Staat gesprochen werden? Ab wann ist eine religiöse Bewegung staatsähnlich, wenn diese eine eigene politische Ordnung generiert und erfolgreich nach außen verteidigt? Wann beginnt ein Wirtschaftsunternehmen durch eine umfassende Kontrolle über das Wohngebiet und die Privatsphäre von Menschen die Funktionen eines Staates zu übernehmen? Untersuchungen solcher Fragen sind oft Untersuchungen politischer, sozialer, ökonomischer und anderer Institutionen, von Ungleichheiten und Abhängigkeiten. Mit dem von Elias ausgearbeiteten Ansatz ist es möglich, aufschlussreiche Analysen der Machtdynamiken und Glaubenssysteme zwischen Etablierten (Gruppen, Institutionen, Organisationen etc.) und Außenseitern (politischen, sozialen, religiösen etc. Akteuren auf mindermächtigen Positionen) durchzuführen. Solche Analysen können zum Beispiel Staatsgesellschaften in den Blick nehmen, die sich selbst als Nationen verstehen, oder sich auf supra- oder subnationale Ordnungen richten, die auf den ersten Blick kaum Ähnlichkeiten mit Staaten aufweisen. Das Ziel dieses Beitrages ist es, Licht auf das Elias’sche Staatsverständnis zu werfen, um das Potenzial für Antworten auf obige Fragen genauer abzuschätzen. Das Fundament der politischen Soziologie von Norbert Elias ist bereits in seinen frühen Hauptwerken Über den Prozeß der Zivilisation1 und Die höfische Gesellschaft2 angelegt, aber die weitere Ausarbeitung erfolgte über einen langen Zeitraum mehrerer Jahrzehnte. Es gibt viele Manuskripte und Kapitel, in denen Elias über den Staat schreibt und ihn analysiert und dabei sein Staatsverständnis darlegt, aber es gibt nicht die eine Publikation. Eine vorsichtige und umsichtige Rekonstruktion ist notwendig. Bereits seine Habilitationsschrift von 1933 über den französischen Königshof unter Louis XIV. kann als Vorgänger und als Nachfolger sowie als illustrierende mikropolitische Fallstudie einer vormodernen Staatsgesellschaft in einem 1 Elias 1939/1969/1997a, Elias 1939/1969/1997b. 2 Elias 1933/1969/2002.
langfristigen makrosoziologischen Prozess gelesen werden. Aber erst in Was ist Soziologie? formuliert Elias jene Frage deutlich, an deren Beantwortung er fast sein Leben lang arbeitete: „Soziologische Aussagen über Gesellschaften beziehen sich heute gewöhnlich in erster Linie auf Gesellschaften, die als Staaten oder als Stämme organisiert sind. ... Was gibt solchen Integrationen wie Staaten und Stämmen die besondere Bedeutung, die es beinahe als selbstverständlich erscheinen läßt, daß man sich in Gedanken auf sie bezieht, wenn man vom gesellschaftlichen ‚Ganzen’ spricht?“3
Das Ergebnis seiner Suche nach einer Antwort ist eine eigenständige und innovative Perspektive auf Staatsgesellschaften und deren soziologischer Gemeinsamkeiten. Im Laufe seiner langen Schaffensphase vertieft sich Elias in historisches Material und bearbeitet verschiedene Kulturräume. Sein Perspektive entwickelt Elias seit den 1930er Jahren. Und obwohl er seine Prämissen recht früh findet, dauert es nahezu vierzig Jahre, bis er sie durch intensive Überarbeitungen seiner Werke stimmig ausformulieren kann. Zusammenfassen kann man sie wie folgt: Gruppen und Gesellschaften verfügen über inhärente Ordnungen, die immer auch politische Dimensionen haben, denn wo Menschen auf Dauer zusammenleben, dort sind sie aneinander gebunden und voneinander abhängig. In jedem Geflecht von Menschen finden sich daher Machtbeziehungen, die ungleich sind und sich wandeln können. Menschen können dabei Verflechtungsfiguren in sehr verschiedenen Konstellationen bilden. Der gesamte geschichtliche Wandel der Menschheit ist daher für Elias „Aus Plänen wachsend, aber ungeplant / Bewegt von Zwecken, aber ohne Zweck.“4 Zur Erläuterung verweist er beispielsweise auf das Spiel zweier Mannschaften, die in einem Wettkampf konkurrieren und dabei sowohl gegen- als auch miteinander agieren. Die Verflechtungsfigur von Menschen in einem Staat ist ungleich komplexer, aber ebenfalls durch Interdependenzen geprägt, die ihre eigene Dynamik generieren. Erst ab Ende der 1960er Jahre beschreibt er diese Verflechtungen als Figurationen. Von Staatsgesellschaften spricht Elias, wenn er Figurationen analysiert, in denen Menschen ein relativ klares Gruppenselbstbild, beispielsweise als Nation, miteinander teilen und sich dadurch von anderen ähnlichen Figurationen abgrenzen. Der moderne Staat ist für Elias dabei ein Resultat spezifischer gesellschaftlicher Prozesse. Menschen in Staatsgesellschaften sind durch vielfältige Beziehungen aufeinander angewiesen und durch Bindungen aller Art, auch emotionaler Bindungen, in höherem Maße zusammengehalten als durch viele andere Bindungen in Dörfern, Städten oder Regionen. Insbesondere die Idee der Nation ist dabei oft von Bedeutung, denn sie hat ihre zentrale Funktion im Zusammenschluss „von Menschen zur gemeinsamen Verteidigung ihres Lebens und des Überlebens ihrer Gruppe gegen Angriffe
3 Elias 1970/2009, S. 151. 4 Elias 2001, S. 95.
von anderen Gruppen oder auch zum gemeinsamen Angriff auf andere Gruppen.“5 Man schaut innerhalb eines Staates stärker aufeinander als auf Integrationen jenseits der eigenen Gruppenzugehörigkeit. Zudem zeugen die Entwicklungen moderner Staatsgesellschaften davon, dass die Strukturen und Institutionen, welche als Resultat spezifischer Machtdynamiken über Jahrhunderte entstanden, mit einem spezifischen Habitus jener Menschen korrespondieren, die innerhalb eines Staates organisiert sind. Elias nutzt folglich den Begriff der Staatsgesellschaften nicht nur für moderne Staaten, sondern auch für weniger differenzierte Gesellschaften vergangener Zeiten und anderer Kulturkreise. Die artifizielle Differenzierung von Staat als politische Struktur und Gesellschaft als in diesen Strukturen lebenden Menschen kritisiert Elias als Relikt disziplinärer Traditionen und abgesteckter Deutungshoheiten, insbesondere zwischen Politikwissenschaft und Soziologie. Eine Differenzierung in Staat und Gesellschaft sei wenig hilfreich und sogar irreführend. Er favorisiert daher den Begriff der Staatsgesellschaft als das soziologisch präzisere Konzept.6 Auf den ersten Blick haben damit gängige Leitbilder des Staates, beispielsweise als demokratischer Rechts- und Interventionsstaat (DRIS), nur eine geringe Passung mit einer prozess- und figurationssoziologischen Perspektive auf Staatsgesellschaften. Auch die Position von Elias’ Staatsverständnis bleibt in der politikwissenschaftlichen Theorielandschaft unbestimmt. Die Konsequenzen, die aus seiner eigenständigen Position für etablierte Staatstheorien erwachsen, sind somit schwer zu fassen. Es kann durchaus geschehen, dass man Elias für arg idiosynkratisch hält und mit Irritation beiseitelegt. Dieser Beitrag ist daher auch als Verständnishilfe konzipiert. Zuerst werden die grundlegenden Erklärungsmodelle in Über den Prozeß der Zivilisation dargelegt, bevor auf Ergänzungen und Erweiterungen aus Die höfische Gesellschaft eingegangen wird. Schließlich identifiziert Elias einige zentrale Monopolisierungsprozesse in Staatsgesellschaften, die als institutionalisierte Monopole und Koordinationsinstanzen für eine Differenzierung und Integrierung relevant sind. Die Schlussbemerkungen diskutieren die Bedeutung einer distanzierten Perspektive und das innovative Potenzial der politischen Soziologie von Norbert Elias.
2. Zentrale Prozesse bei der Herausbildung von Staatsgesellschaften Bemüht man sich einen Überblick auf die maßgeblichen Prozesse zu erhalten, die für Elias bei den Entwicklungen von Staatsgesellschaften von Bedeutung sind, können drei zentrale Prozesse identifiziert werden. Diese werden in den folgenden Abschnitten dargestellt. Hervorzuheben sind in seinen soziologisch-historischen Analy5 Elias 1970/2009, S. 151. 6 Siehe das Elias-Interview in diesem Band.
sen erstens der Mechanismus der Monopolbildung, über den sich ein zusammenhängendes Herrschaftsgebiet mit einigen Zentralmonopolen herausbildete, zweitens der Königsmechanismus, durch den sich eine Herrschaftsstruktur zentralisierte und konsolidierte, und die drittens damit einhergehende latente Demokratisierung der Monopoleliten, in denen die Funktionen für die Monopolinhaber als Privatpersonen zunehmend von Funktionen abgelöst wurden, welche sie unter größere öffentliche Kontrolle stellten.7 Um die Elias’sche Perspektive verständlich zu machen, werden die für Staatsgesellschaften charakteristischen Zentralmonopole ausführlicher diskutiert.
2.1 Der Mechanismus der Monopolbildung und die Wandlungen der Angriffslust In Über den Prozeß der Zivilisation befasst sich Elias sowohl mit der Soziogenese von Herrschaftsräumen, die über einen Mechanismus der Monopolbildung seit dem Mittelalter in immer größere Integrationseinheiten eingebunden werden, als auch mit der Psychogenese, jenen langfristigen Prozessen der Verregelung der Aggressionstriebe und der gesellschaftlichen Kultivierung eines gezähmten Habitus, die mit der Soziogenese korrespondieren. Die kulturelle Prägung eines Nationalcharakters ist ein Ergebnis dieser Prozesse und bildete das Fundament späterer Nationalstaaten. Sein Hauptaugenmerk gilt den Entwicklungen in Frankreich, es werden jedoch auch Exkurse zu anderen europäischen Ländern eingebaut. Elias wendet sich in dem über Jahrhunderte sich hinziehenden Prozess der Herausbildung großer Herrschaftsräume zu, die in Europa den Territorialstaat hervorgebracht haben. In seiner Untersuchung langfristiger Prozesse der Soziogenese zeigt Elias die Herausbildung von Herrschaftsmonopolen. Als eine Etappe in diesem Prozess entwickeln sich funktional differenzierte Staatsgesellschaften, in denen sich zugleich ein relativ spezifisches Selbstverständnis als Nation etabliert. Der Prozess der Monopolbildung spielt für die Eigentümlichkeit des modernen Staates westlicher Prägung eine zentrale Rolle: „Was sich erst bei einer sehr fortgeschrittenen Funktionsteilung der Gesellschaft herausbildet, ist eine beständige, spezialisierte Verwaltungsapparatur dieser Monopole. Erst mit der Herausbildung dieses differenzierten Herrschaftsapparats bekommt die Verfügung über Heer und Abgaben ihren vollen Monopolcharakter; erst mit ihr wird das Militärund Steuermonopol zu einer Dauererscheinung. Die sozialen Kämpfe gehen nun nicht mehr um die Beseitigung des Herrschaftsmonopols, sondern nur um die Frage, wer über die Monopolapparatur verfügen soll, woher sie sich rekrutieren und wie ihre Last und ihr Nutzen verteilt werden soll. Erst mit der Herausbildung dieses beständigen Monopols der
7 Mennell 1998, S. 61-79; Dépelteau/Landini 2013, S. 18-19.
Zentralgewalt und dieser spezialisierten Herrschaftsapparatur nehmen die Herrschaftseinheiten den Charakter von ‚Staaten’ an.“8
Neben diesen beiden Schlüsselmonopolen von Heer und Abgaben kristallisieren sich weitere Monopole heraus, aber Elias betont den zentralen Charakter dieser zwei Institutionen. Den zentralen Mechanismus, wie diese Monopole entstehen und erhalten bleiben, beschreibt er wie folgt: „Wenn in einer größeren, gesellschaftlichen Einheit [...] viele der kleineren, gesellschaftlichen Einheiten, die die größere durch ihre Interdependenz bilden, relativ gleiche, gesellschaftliche Stärke haben und dementsprechend frei – ungehindert durch schon vorhandene Monopole – miteinander um Chancen der gesellschaftlichen Stärke konkurrieren können, also vor allem um Subsistenz- und Produktionsmittel, dann besteht eine sehr große Wahrscheinlichkeit dafür, daß einige siegen, andere unterliegen und daß als Folge davon nach und nach immer weniger über immer mehr Chancen verfügen, daß immer mehr aus dem Konkurrenzkampf ausscheiden müssen und in direkte oder indirekte Abhängigkeit von einer immer kleineren Anzahl geraten. Das Menschengeflecht, das sich in dieser Bewegung befindet, nähert sich also, falls keine hemmenden Anordnungen getroffen werden können, einem Zustand, bei dem die faktische Verfügungsgewalt über die umkämpften Chancen in einer Hand liegt; es ist aus einem System mit offeneren Chancen zu einem System mit geschlosseneren Chancen geworden.“9
In zahlreichen Illustrationen geht er auf diesen Monopolmechanismus ein und erläutert ihn für die Herausbildung von Staatlichkeit in Frankreich, England und Deutschland. Die korrespondierende Formatierung eines Habitus erläutert er in seiner Analyse Über Wandlungen der Angriffslust.10 Im Vergleich zu früheren Generation, im Vergleich zu Menschen, die im Mittelalter lebten, als Krieg, Angst und Furcht zum Alltag gehörten, kann Elias zufolge bis heute eine starke Regulierung der Kampfund Angriffslust nachgezeichnet werden. An dieser Erklärung hängt eine zentrale Annahme über einen „Zusammenhang zwischen Gesellschaftsaufbau und Affektaufbau“.11 Die Verhaltensstandards und Triebhaushalte der Menschen in diesen Staatsgesellschaften ändern sich erst mit dem Aufkommen und der Durchsetzung einer Zentralgewalt, welche Menschen zur Zurückhaltung zwingt, sodass sie angehalten werden miteinander in Frieden zu leben. Denn gerade bei der Erklärung von Gewalt in und zwischen Staaten scheint die Zivilisationstheorie keine Erklärung anzubieten. Aber man kann genauer nachlesen: „es bedarf einer gewaltigen sozialen Unruhe und Not, es bedarf vor allem einer bewußt gelenkten Propaganda, um die aus dem zivilisierten Alltag zurückgedrängten, die gesellschaftlich verfemten Triebäußerungen, die Freude am Töten und am Zerstören bei größeren Menschenmassen gewissermaßen wieder aus ihrer Verdeckung zu wecken und sie zu 8 9 10 11
Elias 1939/1969/1997b, S. 151-152. Elias 1939/1969/1997b, S. 153. Elias 1939/1969/1997a, S. 356-376. Elias 1939/1969/1997a, S. 371.
legitimieren. ... Die Kampf- und Angriffslust findet z.B. einen gesellschaftlichen erlaubten Ausdruck im sportlichen Wettkampf. Und sie äußert sich vor allem im „Zusehen“, etwa im Zusehen bei Boxkämpfen, in der tagtraumartigen Identifizierung mit einigen Wenigen, denen ein gemäßigter und genau geregelter Spielraum zur Entladung solcher Affekte gegeben wird.“12
Die Pazifizierung der Gesellschaft verläuft nicht stetig und nicht als kausaler Prozess. Es gibt Möglichkeiten der Eruption von Gewalt. Elias präzisiert später, dass der Gebrauch physischer Gewalt in den Beziehungen untereinander stark reglementiert und zugleich der Gebrauch in Beziehung zu Nichtangehörigen vorbereitet und gar ermutigt wird.13 Jeder Zivilisationsprozess hat dabei komplexe und teils widersprüchliche Stränge, die sich in ihn einflechten. Er ist von Brüchen und gegenläufigen Prozessen durchsetzt. Obwohl er ungeplant ist, hat er doch eine Richtung. Die gesellschaftliche Wirklichkeit, die Elias im frühen 20. Jahrhundert erlebte, zeigt sich bei seiner Analyse der historischen Prozesse in diesen Passagen in und zwischen den Zeilen etwas deutlicher. Von ihrem Erklärungsgehalt haben sie kaum etwas eingebüßt. Die Geschichtlichkeit der Staatsgesellschaften, die sich herausbilden, haben ihre Fundamente in vorangegangen Entwicklungsstufen. Als soziale Entwicklungen bleiben sich jedoch von einzelnen Akteuren weitestgehend ungesteuerte und unkontrollierte Prozesse, die aus ihrer Eigendynamik heraus eine Richtung gewinnen und die in ihrer Tendenz zu stärkerer Integration oder Desintegration führen können. Die Herausbildung von Zentralmonopolen, die größere Kontrolle der Affekt- und Triebhaushalte und die Formierung eines entsprechenden Habitus der Menschen sind Resultate lang anhaltender integrativer Eigendynamiken von Menschenverflechtungen. In Phasen konsolidierter Herrschaft ermöglichen sie planbare Gestaltungen der Gesellschaft und die Umsetzung größerer politischer Projekte. Die in diesem Prozess entstanden Staatsgesellschaften sind weiterhin in beständigem Wandel, aber sie haben spezifische Charakteristika entwickelt, die als Merkmale des modernen Staates die gegenwärtig gängigen Definitionen prägen.
2.2 Der Königsmechanismus und die latente Demokratisierung von Monopoleliten Das Buch über Die höfische Gesellschaft ist gleichermaßen eine Soziologie des Absolutismus und der Aristokratie und eine detaillierte Fallstudie zu Über Prozeß der Zivilisation. Elias analysiert die Machtdynamiken am Hof von Louis XIV., dem Sonnenkönig, und entwickelt sein Modell der Figuration als Verflechtungszusammenhang von ungleichen Machtdifferenzialen zwischen aufeinander bezogenen und 12 Elias 1939/1969/1997a, S. 372-373. 13 Elias 1970/2009, S. 151.
voneinander abhängigen Menschen. Im Kern geht es darum, dass die Figuration der höfischen Gesellschaft letztlich nicht auf die Entscheidungen eines Königs und auch nicht auf die abstrakteren Strukturen einer absolutistischen Gesellschaft reduzierbar ist, sondern eine ganz spezifische Geschichtlichkeit hat. Elias machte darauf aufmerksam, dass auch die Architektur von Versailles, die Regeln des Lebens am Hofe und der Habitus der am Hofe beschäftigten und verkehrenden Personen in die Figuration der höfischen Gesellschaft eingebunden sind. Es ist ihm wichtig darauf hinzuweisen, dass der König keineswegs ein absoluter Machthaber, sondern durch vielfältige Zwänge gebunden war.14 Zugleich skizziert Elias mit der Analyse einer absolutistischen Monarchie eine relevante Vorstufe moderner Staatlichkeit in Europa. Insbesondere interessierte Elias diese Frage: Welche spezifische Figuration machte es möglich, dass Millionen Menschen die Herrschaft einer Person, des Königs, über sich akzeptierten und als legitim empfanden? Ihm gelingt es, in der Analyse des Königshofes von Louis XIV. eine Interdependenztheorie der Macht in Grundzügen herauszuarbeiten. Zwar sind viele Menschen von der Position des Königs abhängig, aber auch dieser arbeitet sein Leben lang daran potenzielle Rivalen zu schwächen, zu kontrollieren und gegeneinander auszuspielen. Er muss sowohl auf Individuen achtgeben, insbesondere Mitglieder seiner Familie, als auch auf andere Machtzentren im Staat, die von Adligen, den Oberhäuptern rivalisierender Familien, und größeren Körperschaften und deren Amtsinhabern kontrolliert werden. In unzähligen Machtproben muss er seinen Willen auch gegen Widerstand durchsetzen und seine Position gegen den Zugriff vieler Rivalen absichern. Louis XIV. konzentrierte sich darauf, sein Monopol über die legitimen Gewaltmittel des Staates und die Steuerhoheit zu festigen und seine Rivalen daran zu hindern, ihre Kräfte zu vereinen. Die Position des Königs war fest etabliert und vereinte mehrere Monopole am Hof, die sich erst später ausdifferenzieren würden. Die gesellschaftliche Struktur Frankreichs schien für kommende Generationen den Eindruck großer Stabilität zu haben. Aber jede Figuration verändert sich. Spieler werden ausgetauscht, neue Spieler und neue Generationen rücken nach. Die zunächst nicht sichtbaren Veränderungen der Figuration zeigten sich später darin, dass es in den kommenden Generationen dem Inhaber der Königsposition nicht immer und nicht länger möglich war, die Konkurrenz auszuspielen. Andere Monopole formten sich und veränderten die Machtbalancen, wobei vor allem eine Zentralisierung ökonomischer Potenziale durch nicht-adelige Unternehmer relevant wurde. Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft machten es für eine Zentralmacht immer schwieriger, das politische Mobile mit seinen zahlreichen Spannungsbalancen und Machtdifferenzialen zu steuern und die Ungleichheiten derart auszutarieren, dass die Position des Königs unan-
14 Vgl. auch Blomert und Imbusch in diesem Band.
getastet blieb. Mit der Revolution von 1789 endete schließlich die Figuration der höfischen Gesellschaft in Frankreich und die Zeit der Alleinherrschaft von Königsdynastien in Europa. Die Frage, wie es zum Wandel vom Absolutismus zur Französischen Revolution und schließlich zur Demokratie moderner Prägung in Frankreich kam, veranlasste Elias bei der Überarbeitung von Die höfische Gesellschaft ein neues Kapitel von knapp 13 Seiten Zur Soziogenese der Revolution zu verfassen. In diesem Kapitel zeigt er, wie die Verlagerung der Machtbalancen zwischen verschiedenen voneinander abhängigen gesellschaftlichen Gruppen in langfristigen Prozessen verlaufen kann. Es lässt sich oft als „eine Art von latenter Demokratisierung“15 beobachten. Die für ihn relevanten Prozesse sind zunehmende Modernisierung, Kommerzialisierung, fortschreitende Urbanisierung und Zentralisierung. Seine These ist, dass sich Revolutionen als „explosive Verlagerungen der gesellschaftlichen Machtverteilung“16 besser verstehen lassen „wenn man die langfristigen Verlagerungen der Machtgewichte in der betreffenden Gesellschaft beachtet.“17 Revolutionen haben oft das Ziel, bisher ausgeschlossene nichtelitäre Schichten an der Regierung zu beteiligen und ihnen Zugang zum Monopol der Gewaltausübung zu geben. Bei der Analyse dieser Veränderungen ist es hilfreich, zwischen sozialem Rang und sozialer Macht zu differenzieren, denn diese zwei Aspekte driften in der Anbahnung von Rebellionen und Revolutionen zunehmend auseinander. Zur Analyse nimmt Elias die Figuration des Königshofes in den Blick: „Was man vor sich sieht, wenn man den Hof betrachtet, ist ein Komplex interdependenter, gegenseitig miteinander rivalisierender, sich gegenseitig in Schach haltender Elitegruppen, dessen Spitze der König bildet und in dessen Struktur die labile Spannungsbalance zwischen Gruppen von Amtsinhabern bürgerlicher Herkunft und Schwertadelsgruppen eine zentrale Stellung einnimmt.“18
Während der Adel als herrschende Schicht in der Randordnung dominierte, so lässt sich bereits Jahrhunderte vor der Erstürmung der Bastille 1789 ein Ringen um die Vormachtstellung zwischen rivalisierenden Elitegruppen und ein Aufstieg und zunehmende Funktionsübernahme von aus diesen Elitegruppen ausgeschlossenen Gruppen, des so genannten tiers état, des dritten Standes, nachzeichnen. Aber, und hier zeigt sich die Perspektive einer relationalen Soziologie der Macht, wie sie Elias ausarbeitet, „man kann die Gewaltexplosion nicht recht verstehen, wenn man allein die Zwänge in Betracht zieht, die auf den unteren, den schließlich revoltierenden Schichten lasten; man
15 16 17 18
Elias 1933/1969/2002, S. 448. Elias 1933/1969/2002, S. 448. Elias 1933/1969/2002, S. 448. Elias 1933/1969/2002, S. 451-452.
kann sie nur verstehen, wenn man auch die Zwänge in Betracht zieht, denen die Eliten, die Oberschichten, unterworfen sind, gegen die sich der Gewaltausbruch richtet.“19
Elias möchte sich nicht von den Erzählungen der später siegreichen Revolutionsführer leiten lassen, welche die neue Machtverteilung durch ihre Interpretation der Geschichtsschreibung legitimieren. Es ist vielmehr das Spiel der Rivalitäten unter den Monopoleliten, welche grundlegende Reformen verschleppen. Eine Anpassung an die funktionalen Bedürfnisse einer zunehmend komplexer ausdifferenzierten und in höherem Maße interdependent werdender Gesellschaft bleibt ungenügend. Der Druck innerhalb der Gesellschaft wächst. Und die Einbindung der Staatsgesellschaft in ihr Umfeld, mit den in funktionaler Interdependenz stehenden Staatsgesellschaften in engerer Nachbarschaft sowie durch politische Bindungen, diplomatische Allianzen und Handelsbeziehungen mit weiter entfernten Staatsgesellschaften, verändert sich, oft zum Nachteil der sich in ihrer Anpassung blockierenden Staatsgesellschaft. In der Zeit von Ludwig XIV. (1638-1715) bis zu Ludwig XVI. (1754-1793) schien der Absolutismus das etablierte System der politischen und gesellschaftlichen Ordnung zu sein, aber das eingefrorene Spannungsgefüge der Monopoleliten veränderte sich doch merklich durch die schleichende Erosion der Machtstellung des Königs. „Die gleichmäßige Verteilung der Machtgewichte … steuert nun gewissermaßen sich selbst. Jede Seite wachte mit Argusaugen darüber, daß die eigenen Privilegien und Machtchancen sich nicht verringerten. Und da jede Reform des Regimes vorhandene Privilegien und Machtchancen der einen Elite im Verhältnis zur anderen bedrohte, war keine Reform möglich. Die privilegierten Monopoleliten waren in der durch Ludwig XIV. verfestigten Spannungsbalance eingefroren.“20
Die Rivalitäten am Hof binden die Spieler enger aneinander und isolieren diese in gewissem Sinne von den sie umgebenden Prozessen und Entwicklungen der französischen Gesellschaft. „Die Zwänge, die auf den Menschen lasten, sind, abgesehen von den umfassenderen Zwängen, die ihre gehobene Stellung und der Druck der unteren Schichten ihnen auferlegt, Zwänge, die sie aufeinander und auf sich selbst ausüben. Aber da niemand sie regulieren oder korrigieren kann, besitzen sie ein gespenstisches Eigenleben.“21
Sozialer Rang und soziale Macht stimmen immer weniger überein. Nur wenige Optionen bestehen, um den größer werdenden gesellschaftlichen Druck zu managen. Entweder es öffnen sich institutionell regulierte Zugangschancen für Vertreter der sozial stärker werdenden Gruppen, sodass diese als Partner der Monopoleliten akzeptiert werden. Oder diese Gruppen können mit Konzessionen zumeist wirtschaftlicher Art zufriedengestellt werden, ohne dass sie Zugang zu den Zentralmonopolen 19 Elias 1933/1969/2002, S. 453. 20 Elias 1933/1969/2002, S. 456. 21 Elias 1933/1969/2002, S. 457.
erhalten und somit auf untergeordneten Positionen bleiben. Revolutionen können entstehen, wenn die Monopoleliten die gesellschaftlichen Veränderungen ignorieren und durch ihr Unvermögen in eine Reformblockade rutschen. Die Unfähigkeit sich auf grundlegende Reformen einzulassen, hatte nicht nur auf den Untergang der Monopoleliten des ancien régime in Frankreich, sondern auch im vorindustriellen Russland und China großen Einfluss. Es mangelte, wie Elias es formulierte, seitens der Monopoleliten am Unvermögen sich die „völlige Entfunktionalisierung und Entwertung ihres gegenwärtigen Daseins“ vorstellen zu können. Man kann ihnen diese Resistenz gegenüber der neuen Ordnung, die sich im Werden befand, vielleicht noch nicht einmal übel nehmen. Und nicht nur mangelnde Fantasie ist hier im Spiel, sondern auch kollektive Angst. Was würde die neuen Vertreter vormals mindermächtiger Gruppen, die nun in den Kommandoposten der Gesellschaft an den Schalthebeln sitzen, davon abhalten, für begangenes Unrecht an den ehemaligen Monopoleliten, die nun in eine mindermächtige Position abgerutscht sind, Vergeltung zu üben? Im eingefrorenen Clinch der Monopoleliten werden die Eliten zu Gefangenen ihrer Institutionen. Die Chance einer gewaltsamen Transformation war in der Französischen Revolution sehr groß. Der weitestgehend gewaltlose Übergang in den Ländern der sowjetischen Einflusszone beim Machtverlust der sozialistischen Nomenklatura erstaunt daher noch immer. Elias illustriert die Dynamik der Monopolbildung des modernen Staates später auch am Beispiel der Industrialisierung in Deutschland. In den Städten formiert sich eine sozial mächtiger werdende Schicht, die sich politisch organisiert und als soziale Bewegung der Arbeiterklasse nach und nach durch Druck von unten den sozialen Rang der bestehenden Monopoleliten verändert. Die Kapitel in Studien über die Deutschen,22 die seit den 1960ern entstanden, thematisieren verschiedene Problematiken des modernen Staates. Während Elias in Über den Prozeß der Zivilisation noch eine Spirale zunehmender Kultivierung beschreibt, die man auch als teleologische Modernisierungstheorie avant la lettre missverstehen kann, bespricht er nun dezidiert gegenläufige Prozesse einer Desintegration und Dezivilisierung. Elias ist inzwischen klar, dass gesellschaftliche Prozesse immer Entwicklungen in beide Richtungen erlauben. Ihm ist es wichtig, wie er es im Untertitel der Studien formuliert, Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert als interdependente Prozesse zu betrachten. In gewisser Weise sind ein nationaler Habitus und das Selbstverständnis als Nation – und somit auch die Ideologie des Nationalismus – relevante Bedingungen dafür, dass ein Staat das Monopol auf die Ausübung physischer Gewalt beanspruchen kann und dieser Anspruch von der Bevölkerung und den Mitgliedern der Staatsgesellschaft als legitim wahrgenommen wird.
22 Elias 1989.
Elias zieht dabei häufig das Modell einer Etablierten-Außenseiter-Figuration als Erklärung heran. Von Bedeutung ist in diesem Fall des langsamen Machtzuwachses der Arbeiterschaft, dass die Idee der Nation in der Formierung des Staates noch nicht gefestigt ist. Erst allmählich wird sie zur Machtressource spezifischer Trägerschichten und legitimierende Ideologie: „Wenn sich in einer Etablierten-Außenseiter-Beziehung mit einem hohen Machtgefälle die Verteilung der Machtgewichte, ohne die Machtüberlegenheit des Establishments zu beseitigen, etwas zugunsten der Außenseitergruppen verlagert, dann verschärft sich mit großer Regelmäßigkeit die Spannung zwischen den zwei Lagern, und zwar oft recht beträchtlich. Die Tatsache, daß die ehemals Untergeordneten, also in diesem Falle die Vertreter der Arbeiterparteien, Zugang zu den entscheidenden Kommandopositionen des Staates gewannen und darüber hinaus zu vielen mittleren und unteren Positionen der Verwaltungshierarchie, wurde in vielen bürgerlich-adligen Kreisen des alten Establishments nicht als ein bedeutsamer Schritt zur Integration der Arbeiterschaft in die Nation wahrgenommen, sondern lediglich als eine Schmälerung der eigenen Führungsstellung, als eine Herabsetzung des eigenen Selbstwertes, als eine Zerstörung der eigenen Ideale.“23
Der Ausgang der Konflikte verschiedener Monopoleliten in den letzten Jahrhunderten hat in vielen modernen Staaten das gegenwärtige politische System geprägt. Es sind diese historischen Prägungen, die im Vergleich politischer Systeme jedoch oft nur als Fußnoten angeführt werden, die jedoch auch für die Analyse potenzieller zukünftiger Entwicklungen Relevanz haben.
2.3 Die Bedeutung von Zentralmonopolen in Staatsgesellschaften Dieser sich langsam entwickelnden Perspektive auf Machtbeziehungen nähert sich Elias mit einem Blick auf langfristige soziale Prozesse seiner Zivilisationstheorie, indem er immer wieder eine Batterie an Fragen an seinen Untersuchungsgegenstand heranträgt, mit denen sich Veränderungen hervorheben lassen. Man sieht, wer in Machtbeziehungen gewinnt, und wer verliert, wie Machtbeziehungen kontrollierter und konsolidierter oder aber auch erschüttert und überworfen werden. In vielen Bereichen lässt sich Elias von Weber, Marx und Freud inspirieren, aber er entwickelt eine kohärente und eigenständige Perspektive, die über diese drei Klassiker hinausgeht. Er relativiert Webers methodologischen Individualismus, er erweitert die von Marx auf eine ökonomische Dimension reduzierte Theorie sozialen Wandels, und er bettet die Psychoanalyse Freuds in soziale und historische Kontexte ein. Individuen können eine relative Autonomie in bestimmten Figurationen haben, aber niemand ist absolut autonom von Figurationen – Menschen sind immer in
23 Elias 1989, S. 241.
Machtbeziehungen mit anderen Menschen eingebunden.24 Und während gesellschaftliche Figurationen von einzelnen Menschen zumeist wenig beeinflusst werden, sind sie dennoch nicht gänzlich unbeeinflusst von Menschen. Einzelne Personen können sich im Denken oder im Handeln von spezifischen Figurationen distanzieren und somit eine relative Autonomie gewinnen, aber der Grad, in dem das möglich ist, variiert in Abhängigkeit vom jeweiligen Charakter dieser interdependenten Beziehungsverflechtungen. Fluktuierende Machtbalancen25 können sich schnell oder langsam ändern. Die nie endenden Machtspiele zwischen voneinander abhängigen Individuen in solchen Beziehungen laufen auf die spezifischen Machtbalancen heraus, die mehr der weniger ausgeglichen sind, und den aufeinander bezogenen Spielern größere oder geringere Machtpotenziale einräumt. Je weniger ungleich die Machtdifferenziale verschiedener Gruppen zueinander sind, desto eher können die Verhältnisse in Machtproben ausgetestet werden, was in der Politik erheblich zum Verständnis der Dynamiken von Rebellionen und Revolutionen beiträgt. Um Figurationen nicht nur ausschließlich an historischen Fällen zu besprechen, diskutiert Elias einige Spielmodelle, in denen charakteristische Machtdynamiken hervorgehoben sind. Er unterscheidet beispielsweise zwischen ein- und mehrstöckigen Spielmodellen, deren Machtbalancen sich mal zum unteren oder zum oberen Stockwerk hinneigen, sodass relativ schnell deutlich wird, welches Erklärungspotenzial diese Modelle für die Analyse von Staatsgesellschaften haben. Von größerer Bedeutung sind dabei für Elias einige Monopolmechanismen, die in verschiedenen Feldern einer Figuration entstehen können und welche die Spannungsbalancen erheblich modifizieren. Zugleich verändern sich nicht nur die Strukturen in einer Staatsgesellschaft, sondern die Gesellschaft selbst verändert sich. Sie wandelt sich beispielsweise von einer ständisch geprägten Gesellschaft mit Leibeigenschaft zu einer Nation mit gleichwertigen Mitgliedern. Möglicherweise verliert sich auch diese Form wieder, denn sie kann von einem anderen Kanon des Verhaltens, einer anderen Art der Gruppenkontrolle und einem anderen Gruppenselbstbild abgelöst werden, sodass andere Begriffe die spezifische Gestaltung der sozialen Integration präziser erfassen. In der Gegenwart sind Anforderungen an Staatsgesellschaften außerordentlich groß geworden. In modernen Staaten entwickelte sich eine zunehmende Funktionsteilung und Hierarchiebildung innerhalb ihres gesellschaftlichen Gefüges. Sie unterscheiden sich von Spannungen und Interdependenzen zwischen ähnlichen Figurationen von geringerer Komplexität, zwischen Zentralgewalten als Vorgängern von Staaten. Elementare Grundfunktionen von Staaten als Überlebenseinheiten zeigen sich Elias zufolge in der Monopolisierung der Gewaltmittel, was durch die Institutionen von Polizei und Armee aufrechterhalten wird, in der Monopolisierung der materiellen Reproduktion des Herrschaftsapparates, wozu Steuern und eine Wirt24 Elias 1970/2009, S. 91. 25 Elias 1970/2009, S. 142.
schaftsordnung notwendig sind, sowie in den Monopolisierungen in Bereichen zur Kontrolle der symbolischen Orientierungsmittel und der Institutionen der Sozialisierung. Elias weist darauf hin, dass sich der Staat in engem Zusammenhang mit der „Ausdehnung der Handels- und Industrieverflechtungen“ entwickelt, und dass die Entwicklung der „staatlich-politischen Organisation und die der beruflichen Positionen“, also Ausdifferenzierung in der ‚Sphäre’ der Wirtschaft, „nicht zu trennende Aspekte der Entwicklung von ein und demselben gesellschaftlichen Funktionszusammenhang“ sind.26 Als Teil dieser Differenzierung kam es auch zu einer Integrierung, sodass sich in den langfristigen Entwicklungsprozessen oft Bündelungen dieser Elementarfunktionen in zentralisierten Koordinationszirkeln ergaben, die nun unter direkter oder weniger direkter Kontrolle des Staates stehen. Einige Funktionen können und werden auch von Akteuren übernommen, die nur zu einem geringen Maße von der staatlichen Zentralverwaltung abhängig sind. Elias zufolge gehören zu den relevantesten Monopolisierungsprozessen, die in Staatsgesellschaften zur dauerhaften Integration und Koordination der politischen Ordnung benötigt werden: 1. 2. 3. 4. 5.
Monopolisierung der physischen Gewalt Monopolisierung von Abgaben und Steuern Monopolisierung der Produktionsmittel Monopolisierung der zwischenstaatlichen Verhandlungen Monopolisierung der Gruppenkoordination und Schlichtung auf höchster Ebene in internen Gruppenbeziehungen 6. Monopolisierung der Orientierungsmittel
Die jeweiligen institutionellen Ausgestaltungen dieser Monopolisierungsprozesse und die gegenseitigen Abhängigkeiten der mit ihnen korrespondierenden Institutionen haben in Staatsgesellschaften große Bedeutung für das Zusammenleben der Menschen. Sie sind durch Erziehung, politische Kommunikation und soziale Kontrolle in den Persönlichkeitsstrukturen der Menschen verankert. Sie formen den Habitus und dadurch die politische Kultur einer Staatsgesellschaft. Die Monopole sind nie letztendlich abgesichert und selten in dem starken Ausmaß wie in totalitären Staaten im Staatsapparat zentralisiert. Oft befinden sie sich unter Kontrolle verschiedener Gruppen von Monopoleliten, die sich mal miteinander arrangieren und mal gegeneinander ausspielen. Man kann sich die Monopole daher eher wie umkämpfte Kommandohöhen auf dem politischen Feld vorstellen, die verschiedene Gruppen unter ihre Kontrolle zu bringen versuchen. Welche institutionellen Ausprägungen haben diese Monopolisierungsprozesse in der Gegenwart? Der moderne Staat hat für Elias den Charakter „des obersten Koor-
26 Elias 1970/2009, S. 154.
dinations- und Regulationsorgans für das Gesamte der funktionsteiligen Prozesse“.27 Nicht alle Monopolfunktionen sind immer im Staatsapparat gebündelt oder unter Kontrolle staatlicher Institutionen – was allerdings nicht heißt, dass sie sich außerhalb des Staates befänden. Oft existiert eine etablierte Stellung nur bei den zwei Zentralmonopolen staatlicher Organisation, dem Gewaltmonopol (1) und dem Steuermonopol (2). Das Steuermonopol ermöglicht die Aufrechterhaltung des Gewaltmonopols, welches wiederum mit den zentralen Institutionen von Polizei und Militär das Abgabenmonopol sichert. Sie bedingen sich gegenseitig. Einst hatten sie eine Schutzfunktion für das Privateigentum der Könige, was in autoritären Staaten nach wie vor deutlich wird, wenn Diktatoren ihre Familienclans finanziell absichern, aber sie haben darüber hinaus weitere Funktionen, die sichtbarer werden, je mehr man zwischenstaatliche Beziehungen in den Blick nimmt. Und es ist das Gewaltmonopol, das dem Staat seinen janusköpfigen Charakter geben kann.28 Einerseits organisiert der Staat die Pazifizierung innerhalb seines Machtbereiches, andererseits kann er auch staatliche Gewalt gegen die eigenen Bürger richten, beispielsweise um politische Parteien oder Bewegungen zu verbieten oder die Fügsamkeit der Bevölkerung zu erzwingen. Das Monopol über die Produktionsmittel (3) ist ein zentrales Thema der Marx’schen Theorie. Die Beseitigung von Privateigentum über Produktionsmittel, wie sie im Kommunismus vorgesehen war, hatte in der Realität letztendlich zur Konsequenz, dass eine staatliche Planung der Ökonomie, die sich im Wettbewerb mit Staatsgesellschaften wiederfand, in denen sich eine autonomere ökonomische Sphäre entwickeln konnte, nicht konkurrenzfähig war. Aber auch in Staatsgesellschaften mit liberalen oder koordinierten Marktökonomien gab und gibt es keinen „freien“ Markt, sondern allenfalls unternehmerische Gruppen, die in den Machtbalancen mit den Institutionen der zwei staatlichen Zentralmonopole für sich größere Freiheitsgrade konsolidieren konnten. Im internationalen Vergleich finden sich Staaten, die auch heute einen hohen Grad der Kontrolle auf das Monopol der Produktionsmittel haben, beispielsweise durch staatseigene Betriebe, sowie Staaten, in denen sich ein Monopol nicht in diesem Sinne herausbildete oder hielt, sondern in denen stattdessen konkurrierende Monopoleliten mit ihren Wirtschaftsunternehmungen um Marktanteile im nationalen und internationalen Wettbewerb stehen. Die Verflechtungen mit den Kerninstitutionen des Staates sind aber auch dann gegeben, oft in der Form staatlicher Regulierung oder staatlicher Förderung. Und auch hier kann die Monopolstellung stärker privat und somit unter geringerer öffentlicher Kontrolle oder weniger privat und stärker öffentlich gebunden sein. Das Monopol zwischenstaatlicher Verhandlungen (4) ist oft in Händen der Regierung und wird insbesondere in Außenministerien und Botschaften von Diplomaten 27 Elias 1939/1969/1997b, S. 234. 28 Siehe Elias in diesem Band.
und Fachbeamten bewirtschaftet. Aber auch hier gab es verschiedene Entwicklungsschritte. Beispielsweise konnten Kolonial- und Besatzungsmächte das Monopol zwischenstaatlicher Verhandlungen besetzen. Die Vertreter jener sich zu größerer Unabhängigkeit hinbewegenden Staatsgesellschaften machten in der Phase der Dekolonialisierung zwischen 1960 und 1980 oft die Erfahrung, dass ihnen zunächst die Anerkennung durch andere Staaten fehlte. Ihre Repräsentanten, die als Führer politischer Organisationen im Namen des Staates zu sprechen beabsichtigen, hatten manchmal noch nicht die notwendige Kontrolle über innerstaatliche Konflikte oder die Akzeptanz der Vertreter anderer Staatsgesellschaften, um dieses Monopol alleine in ihren Händen zu sichern. Wieder andere, beispielsweise Kleinststaaten wie Monaco, lassen sich in zwischenstaatlichen Verhandlungen von ihren größeren Nachbarn vertreten. Auch die Ausbildung supranationaler Integrationseinheiten und damit neuer Stockwerke in den Figurationen führt dazu, dass das Monopol zwischenstaatlicher Verhandlungen zunehmend durch engere Kollaborationen in und zwischen Regierungen sowie in spezialisierten internationalen Organisationen ausgelagert und verankert wird. Die Konsequenz ist oft eine größere und immer schwieriger zu überbrückende Distanz zwischen jenen, die in multipolare Governance-Strukturen eingebunden sind und darin mitregieren, und jenen, die regiert werden. Eine solche Situation kann zu einem Legitimationsdefizit führen, was wiederum die Chancen zur Stärkung von (populistischen) Gegenbewegungen von Gruppen auf lokaler und regionaler Ebene erhöhen kann. Das Monopol der Gruppenkoordination und Schlichtung interner Gruppenkonflikte (5) kann ebenfalls unter geringerer oder stärkerer Kontrolle derjenigen stehen, die regiert werden. Es kann als korporatives Verbandswesen existieren, mit staatlich kontrollierten Gewerkschaften und Unternehmer- und Berufsvereinigungen, oder mit einem stärker zivilgesellschaftlich organisierten intermediären System. Zur Gruppenkoordination gehören auch ausgleichende Leistungen zwischen Generationen und wohlfahrtsstaatliche Leistungen, die eine transparente Grundlage haben. Wichtig ist natürlich auch ein etabliertes Justizwesen. Auch dieses kann mit größerer oder geringerer Autonomie entwickelt sein. Im modernen Rechtsstaat reguliert ein komplexes Vertrags- und Institutionengefüge die bestehenden Handlungsräume von Menschen und juristischen Personen in und zwischen Staaten. In anderen Staatsformen mit einer stärker patrimonial oder charismatisch legitimierten Herrschaft wird dieses Monopol mit mehr Willkür durchgesetzt. Es kann ebenfalls auf höheren Integrationsebenen eingebunden sein. Beispielsweise erachten viele, aber nicht alle Staaten, Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag als bindend. Auch hier sind Entwicklungen hin zu größerer Interdependenz weder abgeschlossen noch determiniert. Das Monopol über symbolische Orientierungsmittel (6) bezieht sich vor allem auf sinngebende Glaubensbekenntnisse. Es kann stark oder weniger stark zentralisiert
sein; eine totale Kontrolle ist in der Moderne bei der Vielfalt der Medienangebote und -kanäle nur noch schwer zu erhalten. Orientierungsmittel können einen höheren Grad an Realitätskongruenz haben, wie wissenschaftliche Beobachtungen und Theorien, oder einen höheren Fantasiegehalt aufweisen, wie religiöse oder politische Ideologien. Eine wichtige Rolle spielen nach wie vor religiöse Institutionen, die ein Monopol auf Wissensbestände und Praktiken beanspruchen, die ihnen Kontakt zu höheren Mächten und somit Anspruch auf eine relative Kontrolle unkontrollierter Prozesse erlauben sollen. In einigen Gesellschaften wurde der Einfluss organisierter Religionen durch Säkularisierungsprozesse partiell zurückgedrängt. Auch konnten sich andere Akteure in den Kreis dieser Monopoleliten für symbolische Orientierungsmittel hineinarbeiten, zu denen meist die Regierenden gehören, sowie zunehmend wissenschaftliche Experten, Unternehmer, Intellektuelle und Journalisten. Auch die Bildungssysteme stehen unter einer relativ starken nationalen Kontrolle; nicht-staatliche Bildungsanbieter, deren Programme keiner staatlichen Zertifizierung bedürfen, sind eher die Ausnahme als die Regel. Ebenfalls können Massenmedien als Organisationen, die um Deutungshoheit der Ereignisse, die für Staatsgesellschaften relevant sind, mehr oder weniger stark an staatliche Zentralinstanzen gebunden sein. Sie können als Netzwerk von Kommunikationsflüssen der Unterhaltung und der sozialen Kontrolle dienen, beispielsweise über Lobklatsch zur Konturierung eines erbaulichen Gruppenselbstbildes (Gruppencharisma) oder über Schimpfklatsch zur stigmatisierenden Abgrenzung von Außenseitern (Gruppenschande). Ein bedeutendes Merkmal demokratischer und pluralistischer Staaten ist eine ‚unabhängige’ Presse, wobei auch hier staatlich finanzierte Medienorganisationen eine mehr oder weniger bedeutende Rolle einnehmen. In ihrem Spielraum stärker reglementierte Medien sind für autoritärere Regierungsformen charakteristisch und finden sich in Staatsgesellschaften mit zentralisierterer Bündelung der elementaren Monopolfunktionen. Konflikte um die Ausgestaltungen dieser zahlreichen Monopole, Fluktuationen der Spannungsbalancen innerhalb und zwischen diesen Monopolisierungsprozessen, können offener oder geschlossener sein. Ihre Analyse wird dadurch erschwert, dass insbesondere Gruppen, die einen Machtverlust erfahren, die Darstellung ihrer eigenen Entwicklung und ihrer Position verzerren. Es zeigen sich beispielsweise immer wieder Tendenzen der Romantisierung vergangener Entwicklungsstufen. Monopolbildungen und funktionale Demokratisierungsprozesse haben dementsprechend vielfältige Auswirkungen: „der Aufstieg neuer Positionen mit neuen Funktionen oder die Funktionsanreicherung älterer Positionen auf der einen Seite und die Funktionsverarmung oder die völlige Entfunktionalisierung älterer Positionen [...] bedeuten, daß bestimmten Menschengruppen größere Machtchancen zufallen als zuvor; sie bedeuten, daß andere Menschengruppen in
Positionen, die sich im Zuge der Entwicklung teilweise oder völlig entfunktionalisieren, auch ihre Machtchancen zum Teil oder völlig einbüßen.“29
Auch grundlegende demografische Veränderungen wie Migration innerhalb und zwischen Staatsgesellschaften sowie natürlicher Bevölkerungswandel haben beständig Auswirkungen auf die Spannungsbalancen und damit auf die Kräfte und Zwänge, welche auf die Monopoleliten in den obersten Kommandopositionen und Koordinationsgremien wirken. Letztendlich ist es für Elias daher unsinnig Gesellschaft ohne interne Machtdynamiken und damit ohne politische Ordnung denken zu wollen. Wo Menschen miteinander leben, dort sind immer auch Machtdifferenziale vorzufinden, die gleich oder weniger gleich verteilt sind. Er beschreibt mit dem Mechanismus der Monopolbildung wie ungleiche Machtverteilungen den Weg zur Ausbildung privilegierter Machtmonopole ebnen können. In Was ist Soziologie? ergänzt er, dass Monopolbildungen seltener Resultate strategischer Überlegungen und kollektiver Bemühungen politischer Eliten sind, sondern plausibler als Phänomene funktionaler Ausdifferenzierung mit denen versucht wird ein Schlechterfunktionieren zu vermeiden erklärt werden können.30 Gesellschaftliche Entwicklungen sind Prozesse, die aus dem Verflechtungsmuster heraus entstehen und aus ihrer Eigendynamik heraus eine bestimmte, abgestimmte Richtung einnehmen. Nicht einzelne Akteure steuern dabei eine Entwicklung, sondern aus dem Zusammenspiel ihrer Aktionen entwickelt sich eine Dynamik. Funktionen müssen dabei als Beziehungsbegriffe, als relationale Konzepte verstanden werden. „Man kann die Funktion von A für B nicht verstehen, ohne die Funktion von B für A in Rechnung zu stellen.“31 Im Hintergrund steht ein relationaler Machtbegriff: Eine Funktion verweist auf eine Interdependenz, durch die Spieler einen Zwang aufeinander ausüben können.32 Das Monopol über die physische Gewalt geht einher mit der Verantwortung, diese zu einem bestimmten Zweck zu koordinieren und einzusetzen. Das Steuermonopol dient nicht nur der Akkumulation finanzieller Ressourcen für den Regierungs- und Verwaltungsapparat, sondern ist Mittel zum Zweck. An die Machtdifferenziale knüpfen sich soziale Beziehungen, beispielsweise die Erwartungen der Besteuerten, insbesondere in Wohlfahrtsstaaten, dass insbesondere solche politischen Projekte umgesetzt werden sollen, die einen positiven Einfluss auf ihre unmittelbare Lebensqualität haben. Werden diese Funktionen langfristig nicht bedient, droht den Monopoleliten ein Funktions- und Machtverlust und über kurz oder lang eine Verdrängung aus ihren etablierten Positionen.
29 30 31 32
Elias 1970/2009, S. 193. Elias 1970/2009, S. 88. Elias 1970/2009, S. 81. Elias 1970/2009, S. 80.
3. Schlussbemerkungen Die Figuration des Staates, die Elias als multipolare Spannungsbalance mit mehreren Stockwerken beschreibt, ähnelt einem Mobile, an dem verschiedene Figuren baumeln, und welches in Bewegung geratenen ist, sodass diese sich auf- und abwiegen. Im Hintergrund steht ein Modell, das als Figuration von Etablierten und Außenseitern mehrfach empirisch geprüft und theoretisch weiterentwickelt wurde. Es ist dabei anfangs schwierig zu verstehen, warum Elias kaum zwischen Staaten und Gesellschaften unterscheidet. Er hat seine Gründe. Die klassische Differenzierung, nach der sich Politikwissenschaft mit dem Staat und Soziologie mit der Gesellschaft beschäftigen sollten, ignoriert Elias bewusst. Er kritisiert die disziplinären Gepflogenheiten, dass sich Soziologien mit der Gegenwart und Historiker mit der Vergangenheit beschäftigen, dass Soziologen in ihre eigenen Gesellschaften forschen während Anthropologen in fremden Gesellschaften ins Feld gehen, und dass Psychologen den einzelnen Menschen in den Blick nehmen, während Soziologen sich auf Gemeinschaften und Gesellschaften beschränken. Diese Unterscheidungen korrespondieren oft mit den Hoheitsgebieten verschiedener Disziplinen und sind qua Sozialisation recht fest im Denken der Wissenschaftler verankert. Um die komplexen Prozesse, welche die modernen Staatsgesellschaften hervorgebracht haben, klarer und besser analysieren zu können, überschreitet Elias daher immer wieder disziplinäre Grenzen. Bereits Mitte der 1950er Jahre hatte Elias in Problems of Involvement and Detachment33 eine kritische Position zu Max Webers Postulat der Wertfreiheit in der Wissenschaft formuliert. Elias plädierte für eine distanzierte Position zu zeitgenössischen Theoriedebatten. Deutlich wurde dies beispielsweise an einer kurzen, aber sehr kritischen Passage in einer langen Fußnote, die er seinem neuen Vorwort zum Über den Prozeß der Zivilisation hinzufügte: „‚Democracy’, schreibt ein anderer amerikanischer Soziologe, Seymour Martin Lipset (Political Man, New York 1960, S. 403), ‚is not only or even primarily a means through which different groups can attain their ends or seek the good society; it is good society itself in operation’. Lipset hat diese später diese Äußerung etwas modifiziert. Aber diese und andere Äußerungen führender amerikanischer Soziologen sind Beispiele dafür, wie wenig selbst die intelligentesten Vertreter der amerikanischen Soziologie in der Lage sind, sich dem außerordentlich starken Druck zur gedanklichen Konformität in ihrer Gesellschaft zu entziehen, und wie sehr diese Situation ihren kritischen Sinn beeinträchtigt.“34
Die von Elias angesprochene Problematik, dass sozialwissenschaftliche Theorien nicht frei von ideologischen Verzerrungen sind und oft als natiozentrische Gedan33 Elias 1956; vgl. Rojek 1986. 34 Elias 1939/1969/1997a, S. 398, Fußnote 7.
kengebilde einen erbaulichen Charakter haben – und somit als normative Wunschbilder für gesellschaftliche Entwicklungsziele verwendet werden –, führt auch heute noch zu häufigen Selbsttäuschungen, die einer präzisen Analyse im Wege stehen können. Viele Beiträge, die zu einem Verständnis des Staats auf theoretischer Ebene beitragen möchten, können sich von einer ‚demokratistischen’ Perspektive nicht ganz freimachen. Einzig ein demokratischer Staat ist dann ein legitimer Staat, wodurch solche Beiträge damit eher einen Mythos vom Staat legitimieren und eine relevante Funktion als symbolische Orientierungsmittel haben, der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn aber gering bleibt. Die Analyse von Staatsgesellschaften und ihren Entwicklungsprozessen bleibt somit eine Herausforderung, die eine enorme kognitive und emotionale Distanzierung verlangt. Gerade im Westen dominiert in den Wissenschaften nach wie vor die Perspektive, Staaten und Staatsgesellschaften hinsichtlich ihrer Demokratiequalität zu untersuchen und alternative Fragestellungen über Machtbalancen, Habitusentwicklungen und die spezifischen Entwicklungen und Arrangements der Zentralmonopole nachrangig zu behandeln. In seiner Herangehensweise sieht Elias demnach auch ein Beispiel, wie ein Soziologe als „Mythenjäger“35 eine möglichst distanzierte Haltung finden kann. Er selbst bemühte sich um ideologiefreie Analysen von Staatsgesellschaften und nutzte für seine Synthesen seine umfangreichen Kenntnisse der europäischen Geschichte und eigener Lebenserfahrungen in verschiedenen Kulturen. Daraus resultiert schließlich das innovative Potenzial seiner Perspektive: Mit Elias ist es möglich, politische und soziale Aspekte gemeinsam zu erfassen und längerfristige gesellschaftliche Prozesse institutioneller Entwicklungen zu beobachten, die auch die korrespondierenden Formierungen eines Habitus berücksichtigen. Ein zentrales und facettenreiches theoretisches Modell, das Elias am empirischen Material prüft und erweitert, ist dabei die Figuration von Etablierten und Außenseitern.36 Mit diesem Modell gelingt es ihm sowohl Spannungen zwischen Großfigurationen als auch interne Spannungen, Konflikte zwischen Monopoleliten, Schichten und Klassen und innerhalb von Monopoleliten, Schichten und Klassen zu analysieren. Das Hauptaugenmerk der Untersuchungen richtet sich bewusst auf Spannungsbalancen innerhalb und zwischen den Eliten der zentralen Monopole sowie auf die Freiheitsgrade und die Zwänge, denen diese durch gegenseitigen Druck, durch Druck von unten und seitens höherer Integrationseinheiten in zwischenstaatlichen Figurationen, ausgesetzt sind. Die Entwicklungen von Staatsgesellschaften in verschiedenen Kulturräumen und zu verschiedenen Zeiten haben dann erstaunlich viele Gemeinsamkeiten. Man kommt den Antworten auf Fragen näher, ab wann solche Integrationen staatsähnliche Charakteristika aufweisen. Oft entwickelt sich erst eine Integration verschiede35 Elias 1970/2009, S. 51. 36 Elias/Scotson 1990.
ner regionaler Bevölkerungsgruppen, dann eine Integration verschiedener sozialer Schichten, und schließlich eine Integration verschiedener zugewanderter Gruppen in eine größere soziale Einheit. In Europa dauerte der Prozess der Monopolbildungen und Konsolidierung von territorialen Herrschaftsräumen mehrere Jahrhunderte. In Frankreich verlief der Prozess gradliniger als in Deutschland und anderswo. Auch in den USA verliefen die Staatsbildungsprozesse nicht so außergewöhnlich anders als in Europa.37 Mit der Industrialisierung entwickelte sich eine neue soziale Schichtung in staatlichen Herrschaftsräumen, in der die veränderten Machtbalancen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen neu ausgehandelt werden mussten. In Deutschland neigte sich die Machtbalance durch das Erstarken der Schwerindustrie und das Städtewachstum in Richtung der städtischen Unternehmer, der städtischen Bourgeoisie und der städtischen Arbeiterschaft und führte zu einem relativen Machtverlust des Adels und der ländlichen Großgrundbesitzer. Die Industrie und die Industriearbeiterschaft wurden stärker. Die Konfliktlinie zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gewann Bedeutung, je mehr sich die unteren Schichten als soziale Klasse organisierten und ihre Kollektivinteressen durch eigene Organisationen wie Gewerkschaften, Parteien und Wohlfahrtsverbände vertraten. Die einst etablierten Gruppen der Aristokratie verloren an Einfluss. Über das neue Selbstbild dieser Gesellschaft, über ihre „Kultur“, wurde in der Öffentlichkeit heftig gestritten, wobei bürgerliche Vertreter die Meinungshoheit gewannen und das deutsche Selbstverständnis als Kulturnation prägten. Quasi als Gegenbewegung kam es zu einer konzertierten Einflussnahme auf staatliche Stellen durch die Agrarindustrie. Gebrochen durch zwei Weltkriege, in denen die Machtbalancen in und zwischen verschiedenen Staatsgesellschaften und Gesellschaftsgruppen in höchstem Masse unklar wurden und krisenhafte Situationen den Raum für charismatische Bewegungen öffneten, konsolidierte sich erst danach, und erst mit der Wiedervereinigung 1990 vollständig, ein parlamentarisches System, das eine größere Resonanz zum gesellschaftlichen Selbstbild hatte. Elias denkt Staat und Staatsgesellschaft immer als Prozesse. Themen der internationalen Politik wendet sich Elias erst spät zu, in Humana conditio.38 Unter dem Eindruck des Kalten Krieges kontextualisierte er die europäische Erfahrung zweier Weltkriege und sprach über die Veränderungen der Machtbalancen auf dem europäischen Kontinent. Das Verflechtungsgefüge, welches in Europa entstand und aus dem die modernen Staatsgesellschaften hervorgingen, analysierte er als langfristigen Prozess. Der komplexe europäische Integrationsprozess, der sowohl Differenzierung als auch Integrierung beinhaltet, verändert seit dem Zweiten Weltkrieg in vielen kleinen Schritten die Staaten in Europa. Aus Staaten werden Mitgliedsstaaten. Zugleich lässt sich beobachten wie sich eine neue Großfiguration und Staatsgesellschaft, eine Überlebenseinheit sui generis, herausbildet. Auch in an37 Mennell 2004. 38 Elias 1985.
deren Regionen der Welt formieren sich inzwischen ähnliche supranationale politische Arrangements mit unterschiedlichen Institutionalisierungsgraden ihrer Zentralmonopole. Ein Ende dieser Differenzierungs- und Integrierungsprozesse ist nicht absehbar. Die Figurationen der sich im Werden befindenden überstaatlichen Arrangements und die Veränderungen, die diese für Staaten insgesamt bedeuten, beschäftigen heute zahlreiche Wissenschaftler, die bei Elias noch immer interessante Anregungen entdecken können. Eine besondere Bedeutung kommt dabei einer distanzierten theoretischen Perspektive zu. Nur eine über ihr Engagement reflektierte Position kann wissenschaftlichen Ansprüchen genügen und ihre zentrale Funktion erfüllen: möglichst ideologiefreie und realitätskongruente Wissensbestände zu erzeugen. Nur mit ihr können Forschende ein Verständnis über den Staat entwickeln, das nicht durch eigene Werte verzerrt ist und bestehende oder zukünftige Machtverhältnisse legitimiert. Nur dadurch können Staatsgesellschaften und die Prozesse, in die wir eingebunden und von denen wir abhängig sind, möglichst wirklichkeitsadäquat analysiert und verstanden werden. Eine kritische Diskussion der Perspektive, die Norbert Elias über seine Prozess- und Figurationstheorie auf den Staat und Staatsgesellschaften herausarbeitete, bleibt für gegenwärtige und kommende Generationen von Sozialwissenschaftlern eine lehrreiche Herausforderung.
4. Literatur Dépelteau, François/Landini, Tatiana Savoia (Hrsg.), 2013: Norbert Elias and Social Theory, New York. Elias, Norbert, 1956: Problems of Involvement and Detachment. In: British Journal of Sociology, 7 (3), S. 226-252. Elias, Norbert/Scotson, John L., 1990: Etablierte und Außenseiter, Frankfurt a.M. Elias, Norbert, 1985: Humana conditio: Beobachtungen zur Entwicklung der Menschheit am 40. Jahrestag eines Kriegsendes (8. Mai 1985), Frankfurt a.M. Elias, Norbert, 1989: Studien über die Deutschen Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. Elias, Norbert, 1933/1969/2002: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. Elias, Norbert, 1939/1969/1997a: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Mit einer neuen Einleitung, Frankfurt a.M. Elias, Norbert, 1939/1969/1997b: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a.M.
Elias, Norbert, 1970/2009: Was ist Soziologie? München. Elias, Norbert, 2001: Die Gesellschaft der Individuen [Gesammelte Schriften, Bd. 10], Frankfurt a.M. Mennell, Stephen, 1998: Norbert Elias: An Introduction, Dublin. Mennell, Stephen, 2004: Not so exceptional? State-formation processes in America. In: Loyal, Steven/Quilley, Stephen (Hrsg.), 2004: The Sociology of Norbert Elias, Cambridge, S. 154-174. Rojek, Chris, 1986: Problems of Involvement and Detachment in the Writings of Norbert Elias. In: British Journal of Sociology, 37 (4), S. 584-596.
Peter Imbusch Der Staat im Kontext der Zivilisationstheorie Macht- und konflikttheoretische Perspektiven zur Erforschung des Politischen bei Norbert Elias 1. Einleitung Will man sich mit ‚dem Staat’ oder ‚Staatsfragen’ bei Norbert Elias auseinandersetzen, dann ist man fast zur Gänze auf den Kontext seiner Zivilisationstheorie angewiesen, in welche die entsprechenden Äußerungen eingebettet sind. Die Zivilisationstheorie formt aber zugleich den Elias’schen Zugriff auf die Problematik Staat in einer besonderen Weise und fokussiert seine Auseinandersetzung v.a. auf Prozesse der Entstehung und Durchsetzung von moderner Staatlichkeit, ohne einen Blick auf die weitere Entwicklung des Staates zu werfen. Das ist einerseits für das Anliegen von Elias – nämlich sozio- und psychogenetische Untersuchungen zum Prozess der Zivilisation anzustellen – mehr als verständlich, folgt es doch einer impliziten und expliziten Logik; es führt jedoch andererseits auch zu spezifischen Beschränkungen der Analyse derart, dass innerhalb seines evolutionstheoretischen Rahmens und zivilisationstheoretischen Anspruchs die historische Weiterentwicklung von Staatlichkeit meist ausgeblendet bleibt und wesentlich die ‚positiven’ Seiten von Staatlichkeit im Mittelpunkt seines Interesses stehen. Damit nimmt Elias wesentlich die Etappe des absolutistischen Staates in den Blick, nicht mehr die nachfolgende Entwicklung von Rechts- und Nationalstaaten. Hinzu kommt, dass die dunkle Seite der Staatsmacht – ihr genuines Gewaltpotenzial – immer weiter verloren geht, da der Staat zunehmend selbst als zentraler Motor moderner Gesellschaftsentwicklung und Zivilisation betrachtet wird. Gleichwohl hat uns Norbert Elias ein komplexes Set von Begriffen, Variablen und Indikatoren hinterlassen, die für eine Analyse des Staates oder von Staatlichkeit genutzt werden können und über seine eigenen Arbeiten hinausweisen. Deshalb ist es das Ziel dieses Beitrags, die macht- und konflikttheoretischen Dimensionen in der Auseinandersetzung mit Staatlichkeit, wie sie Elias vorgenommen hat, zu rekonstruieren und nach den Perspektiven zu fragen, die sich daraus für eine Erforschung des Politischen ergeben. Dazu werde ich zunächst etwas über die Hintergründe und Perspektivierung seines Staatsverständnisses sagen (2), sodann die Besonderheiten des Elias’schen Staatsverständnisses im Kontext des Zivilisationsprozesses herausstellen (3), um mich anschließend den macht- und konflikttheoretischen Aspekten seiner Analyse zuzuwenden (4). In dem darauf folgenden Abschnitt werde ich mich den
Implikationen der empirischen Verarbeitung der Staatsproblematik bei Elias zuwenden (5). Am Ende des Beitrags wird ein kritisches Resümee stehen (6), welches die Stärken und Schwächen seiner Analyse zusammenfasst.
2. Hintergründe und Perspektivierung eines Staatsverständnisses Die Überlegungen von Norbert Elias zum Staat bzw. zur Staatlichkeit haben einen theoretischen wie empirischen Ausgangspunkt. Theoretisch ergibt sich deren Bedeutung aus einem Konzept der Menschenwissenschaften,1 in das unterschiedliche disziplinäre Stränge zur Erklärung großer historischer Prozesse einfließen (z.B. Geschichte, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Ökonomie, Ethnologie), da sie nur so angemessen erfasst werden können. Empirisch sind sie eingebettet in seine Untersuchungen zum Prozess der Zivilisation,2 die an entscheidender Stelle auf die Staatsbildungsmechanismen in der frühen Neuzeit zurückgreift und die entsprechenden soziogenetischen Aspekte den psychogenetischen Aspekten als komplementäres Erklärungsmoment zur Seite stellt. Theoretisches Design und empirische Analyse verschmelzen dabei zu einer Prozess- und Figurationssoziologie, die nicht nur einen innovativen Blick auf historische Prozesse erlaubt, sondern auch mit einer Reihe neuer Begrifflichkeiten zur Erfassung ebendieser Prozesse daherkommt. Im Mittelpunkt dieser Prozess- und Figurationssoziologie steht ein Gesellschaftsund Staatsverständnis, das wie folgt skizziert werden kann:3 Die Gesellschaft geht weder in Individuen noch in Strukturen auf, sondern wird als Ergebnis eines ‚Verflechtungszusammenhangs’ betrachtet, d.h. es geht um das Individuum in seinem je spezifischen sozialen Kontext. Die gesamte Gesellschaft besteht aus Interdependenzfigurationen auf unterschiedlichen Ebenen, die aufeinander aufbauen oder miteinander verschachtelt sind. Je komplexer die Figurationen, desto länger und vielfältiger – aber auch intransparenter – werden die Interdependenzketten der miteinander verflochtenen Individuen. Um unter solchen gesellschaftlichen Bedingungen bestehen zu können, sind die Individuen auf ein spezifisches Set an psychogenetischen Selbstkontrollmechanismen angewiesen, die im Laufe des Zivilisationsprozesses erworben werden. Die dahinterstehende Zivilisationsdynamik entfaltet sich in einem fortdauernden ungeplanten Prozess ohne geschichtliches Telos, aber gleichwohl in der Konsequenz strukturiert und gerichtet. Der Zivilisationsprozess selbst ist dabei durch ein ständiges Wechselspiel von Integration neuer Figurationen und funktionalen sozialen Differenzierungen charakterisiert. Mit dieser Ausdifferenzierung geht eine sukzessive Verschiebung individueller, gruppenspezifischer und gesellschaftlicher 1 Elias 1970, S. 51. 2 Elias 1976, S. 1983. 3 Vgl. zum Folgenden Kuhlmann 2000, S. 634f.
‚Machtbalancen‘ einher, die letztlich zu einer Verfriedlichung und Demokratisierung der Gesellschaft führen. Damit dies gelingen kann, bedarf es jedoch neben der individuellen Psychogenese noch einer Soziogenese in Form der Entwicklung von Staatlichkeit. Durch die Zentralisierung wichtiger Machtressourcen (wie z.B. Gewaltmonopol, Steuermonopol) – von Elias ‚Monopolmechanismus‘ genannt – bildet sich zunächst der absolutistische Staat, später der moderne Nationalstaat heraus. Dieser bildet eine Herrschaftsfiguration par excellence, weil mit sich vergrößernden Figurationen und verlängerten Interdependenzketten die Exploitation des Monopols den Einsatz immer differenzierterer Mittel (z.B. Verwaltungs- und Ordnungsfunktionen) erfordert. Den Kristallisationskern des entstehenden Staates im Absolutismus bilden die höfische Gesellschaft und der König. Durch den ‚Königsmechanismus‘ gelingt es dem Herrscher nicht nur, seine herausgehobene Machtposition zu stärken, sondern konkurrierende höfische/gesellschaftliche Gruppen in Schach zu halten. Je stärker die wechselseitigen Abhängigkeiten und je labiler die Machtbalancen werden, desto komplexer entwickeln sich die Staatsfunktionen und desto stärker wird das einstige Herrschaftsmonopol schließlich vergesellschaftet. Die Aufgabe von soziologischen Theorien der Gesellschaftsentwicklung und von Modellen spezifischer Entwicklungsprozesse sieht Elias in ihrer Funktion als Instrumente soziologischer Diagnose und Erklärung. Auf Staatlichkeit bezogen heißt das etwa: „Nationalstaaten sind zumeist aus dynastischen Staaten, dynastische Staaten aus weniger zentralisierten Feudal- oder Stammesorganisationen hervorgegangen. Manchmal gingen die ersteren aus den letzteren unter Überspringung der Zwischenstufen hervor. In allen diesen Fällen will man wissen, wie und warum das geschah … In allen diesen Fällen will man wissen, wie und warum die spätere aus der früheren Formation hervorging. Man sucht nach einer Erklärung für solche Abläufe. Das theoretische Modell eines solchen Ablaufs hat eine Erklärungsfunktion, es hat weiterhin die Funktion eines Messinstruments …, das dann der Antwort auf solche Fragen dient: Welche Stufe in einer spezifischen Entwicklungsserie repräsentiert diese oder jene Gesellschaft? Welchen Stand der Entwicklung hat sie erreicht? Das Entwicklungsmodell dient mit der Erklärung zugleich also auch der Prognose. Jede Erklärung macht Prognosen der einen oder anderen Art möglich.“4
Der Staatsbildung kommt in der Elias’schen Konzeption somit eine dreifache Funktion zu: Zunächst ist sie ein unerlässliches, die Psychogenese komplementierendes Element und eine grundlegende Seite des Zivilisationsprozesses. Sodann wirkt sie integrativ im Sinne der Zentralisierung von Herrschaftsbefugnissen und hinsichtlich der sozialen und funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft mit ihren vielfältigen Interdependenzen. Schließlich kommt ihr eine katalysatorische Funktion im Hinblick auf die weitere Entwicklung des Zivilisationsprozesses zu, weil weder die 4 Elias 1970, S. 176.
Metamorphosen staatlicher Figurationen noch die zivilisierende Dialektik von gesellschaftlicher Integration und Differenzierung abgeschlossen sind. Diese Aspekte möchte ich in den folgenden Abschnitten verdeutlichen.
3. Besonderheiten der Perspektive: Zivilisationsprozess und Staatlichkeit Eine Besonderheit des Elias’schen Werks über den ‚Prozess der Zivilisation‘ kann darin gesehen werden, dass es nicht nur die immer stärkere Modellierung individueller Verhaltenscodes minutiös untersucht, sondern explizit eine Beziehung zu dessen unerlässlichem Pendant – den Veränderungen im Aufbau der Gesellschaften und der Staaten – herstellt. Die Entstehung und Entwicklung des neuzeitlichen Territorialund Machtstaats spielt in der Vorstellung eines Zivilisationsprozesses eine besondere Rolle. Dem Absolutismus im Übergang von der ritterlich-höfischen zur bürgerlich-industriellen Welt kommt dabei für Elias eine Schlüsselstellung zu. Die ganze Zivilisation des Verhaltens mit ihrem Umbau des menschlichen Bewusstseins- und Triebhaushalts (Psychogenese) lässt sich nach Elias nämlich nur ungenügend verstehen, wenn man nicht den Prozess der Staatenbildung und die darin zum Ausdruck kommende Zentralisierung der Gesellschaft (Soziogenese), wie sie erstmals im Absolutismus in voller Ausprägung hervortritt, berücksichtigt.5 Elias Staatsverständnis selbst ist dabei figurationstheoretisch funktional und zivilisationstheoretisch historisch angelegt. Dies wird an dem Beispiel der französischen höfischen Gesellschaft im Absolutismus, das Elias paradigmatisch ausgewählt hat, mehr als deutlich. Zugleich beinhaltet seine Zivilisationstheorie auf der Basis allgemein evolutionstheoretischer Annahmen einen hohen Universalisierungsanspruch, wenn er schreibt: „Es ist vielleicht nicht unwichtig, sich daran zu erinnern, dass Staatsbildungsprozesse zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Teilen der Erde – soweit unsere heutige Kenntnis reicht – unabhängig voneinander vor sich gingen, also offenbar zum Teil jeweils einer immanenten und relativ autonomen Figurationsdynamik folgten.“6
Integration und Differenzierung scheinen also überall die maßgeblichen Begriffe im Hinblick auf die Evolution menschlicher Gesellschaften zu sein. Den Prozess der Staatsbildung im Ausgang der mittelalterlichen Feudalgesellschaften hin zur absolutistischen Herrschaftsform beschreibt Elias nun exemplarisch an Frankreich im zweiten Band seines Zivilisationswerkes genauer.7 Zur adäquaten Erfassung der vielfältigen Desintegrationsprozesse der alten Feudalgesellschaft und der Reintegrationsprozesse der höfisch-absolutistischen Gesellschaft verknüpft er 5 Elias 1976 II, S. 8; vgl. allgemein Breuer 1998, Schuppert 2010, Knöbl 1993. 6 Elias 1970, S. 183. 7 Vgl. Imbusch 2005, S. 266ff.
demographische, politische, ökonomische und soziale Faktorenbündel, die erst im Zusammenspiel den Übergang zu neuen ‚Zivilisationsstufen‘ plausibel machen: Die im Wesentlichen durch Naturalwirtschaft geprägte und durch eine gering entwickelte Geldwirtschaft gekennzeichnete mittelalterliche Feudalgesellschaft wies nur eine äußerst rudimentäre Arbeitsteilung und einen vergleichsweise geringen Grad an Handelsverflechtungen mit anderen ‚politischen Einheiten‘ auf. Diese vielen kleinen, wirtschaftlich weitgehend autarken Herrschaftsgebiete kämpften ständig um die Vorherrschaft. Durch das starke Bevölkerungswachstum (vom 9. bis 13. Jahrhundert) stieß schließlich die innere und äußere Expansion an ihre Grenzen, so dass sich der Konkurrenzkampf um das entscheidende Machtmittel – Grund und Boden – zusehends verschärfte. Die Dynamik der sozialen Prozesse in dieser Zeit führte nicht nur zur ‚Herausbildung einer Reservearmee arbeitender Unfreier‘, sondern auch zu einer ‚Reservearmee der Oberschicht‘, nämlich von Rittern ohne genügenden Besitz, die dann die ersten Expansionszüge des Abendlandes vornahmen. Die abgedrängten Unfreien bildeten die Grundlage für eine ‚Differenzierung der Arbeit‘ ohne Boden und das ‚Material‘ für die entstehenden Städte, in denen sich Handwerk und Handel rasch ausweiteten. Durch die Tauschgeschäfte entstanden immer größere Abhängigkeiten und die Geldwirtschaft nahm rasch zu, bis sie schließlich zur Grundlage des Handels wurde. Arbeitsteilung und Kommerzialisierung der Gesellschaft schritten voran. Durch eine Reihe von Ausscheidungskämpfen führte die Konkurrenz der zunächst ungefähr gleich starken Adelshäuser dazu, dass größere Feudalhöfe entstanden, die erst den Boden, dann auch das Steuer- und Gewaltmonopol in immer weniger Händen konzentrierten, bis schließlich ein einzelner Zentralherr übrigblieb.8 Die Bedeutung der Königskrone wandelte sich entsprechend sowohl für deren Inhaber als auch für die seiner Herrschaft Unterworfenen. War der Träger der Königskrone anfänglich nichts anderes als ein großer Feudalherr, dessen Machtmittel verglichen mit späteren Phasen noch so begrenzt waren, dass er zur Herrschaftsausübung auf viele kleinere Feudalherren angewiesen blieb, die ihm beizeiten selbst erfolgreich Widerstand leisten konnten, so hatte sich vier- bis fünfhundert Jahre später eine Königsfunktion herausgebildet, deren Inhaber der Monopolist großer militärischer und finanzieller Machtmittel aus dem gesamten Gebiet des Königreiches war.9 Die Monopolstellung des Königs erwuchs dabei aus der erfolgreichen Konzentrierung der beiden wesentlichen Machtmittel beim König selbst: „Die freie Verfügung über militärische Machtmittel ist dem Einzelnen genommen und einer Zentralgewalt vorbehalten, welche Gestalt immer sie haben mag, und ebenso ist die Erhebung der Steuerabgaben vom Besitz oder vom Einkommen der einzelnen Menschen in den Händen einer gesellschaftlichen Zentralgewalt konzentriert. Die finanziellen Mit8 Elias 1976 II, S. 14-122. 9 Elias 1976 II: 123ff.
tel, die so zur Verfügung dieser Zentralgewalt zusammenströmen, halten das Gewaltmonopol aufrecht, das Gewaltmonopol hält das Abgabenmonopol aufrecht. Keines von beiden hat in irgendeinem Sinn den Vorrang vor dem anderen, nicht das wirtschaftliche Monopol vor dem militärischen, nicht das militärische vor dem wirtschaftlichen. Es handelt sich um zwei Seiten der gleichen Monopolstellung.“10
Wenn die Mechanismen der Vormachtbildung auch immer die gleichen waren, so fielen doch die Kämpfe zur Erringung der Vormachtstellung in unterschiedlichen Territorien jeweils anders aus.11 Der Mechanismus der Monopolbildung und seine unterschiedlichen Phasen hatten schließlich nachhaltige Wirkungen für verschiedene gesellschaftliche Gruppen. Der Zentralherr brauchte zur effektiven Verwaltung der bei ihm konzentrierten Monopolchancen einen wachsenden Verwaltungsapparat, von dem er zunehmend abhängig wurde und der aus dem Steueraufkommen finanziert werden musste. War der Zentralherr in früheren Zeiten stark auf den Kriegeradel angewiesen, so kehrte sich dieses Verhältnis jetzt um, da die große Mehrheit des Kriegeradels in seine Abhängigkeit geriet. Durch die ständigen Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfe verlor der Adel an Prestige, Status und ökonomischen Ressourcen, während umgekehrt das aufsteigende Bürgertum zunächst aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung, sodann aber auch deshalb, weil der Verwaltungsapparat des Königs v.a. mit Bürgerlichen besetzt wurde, an Macht gewann und es zu einer langsamen Angleichung der Machtpotentiale dieser beiden Schichten kam. Dennoch blieben beide Gruppierungen zur Sicherung ihrer Position auf den König angewiesen, dem es in der Zeit der absolutistischen ‚Ein-Herrschaft‘ gelang, die widerstreitenden Interessen (zum eigenen Wohl) auszubalancieren. Für diese Art der gesellschaftlichen Machtverteilung samt der Rolle des Königs prägt Elias den Ausdruck ‚Königsmechanismus‘. Auch hier weist Elias – wie schon bei der Durchsetzung des Steuer- und Gewaltmonopols – darauf hin, dass dieser sich blind und ungeplant im Verlauf des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses vollzieht. Die Institutionen sind also ebenfalls das Produkt einer gesellschaftlichen Verflechtung, denn kein einzelner Mensch sei dazu in der Lage, etwa nach einem festgelegten Plan auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Elias betrachtet sie als das Ergebnis eines gesellschaftlichen Kräfteparallelogramms und als Resultante des Ringens verschiedener gesellschaftlicher Kräfte und Interessen, die schließlich zu einem gerichteten Ganzen zusammenspielen und dem Rückschauenden später als selbstverständlich und zweckmäßig erscheinen. Damit zeigt Elias auch, „wie aus der Verflechtung von unzähligen individuellen Interessen und Absichten – sei es von gleichgerichteten, sei es von verschieden gerichteten und feindlichen – schließlich etwas entsteht, das, so wie es ist, von keinem der Einzelnen geplant oder beabsichtigt worden ist, und das doch zugleich aus Absichten und Aktionen vieler Einzelner hervor10 Elias 1976 II, S. 142. 11 Vgl. Elias 1976 II, S. 128 ff., S. 160 ff.
ging. Und dies ist eigentlich das ganze Geheimnis der gesellschaftlichen Verflechtung, ihrer Zwangsläufigkeit, ihrer Aufbaugesetzlichkeit, ihrer Struktur, ihres Prozesscharakters und ihrer Entwicklung; dies ist das Geheimnis der Soziogenese und der Beziehungsdynamik.“12
Damit wird nun auch die zentrale Bedeutung der Durchsetzung des absolutistischen Staates mit dem Steuermonopol und dem Monopol der physischen Gewalt als seinem Rückgrat13 für Prozesse individueller und kollektiver Zivilisierung deutlich. Denn nur mittels dieser Institutionen wird eine Befriedung gesellschaftlicher Verhältnisse, die heute selbstverständlich erscheint und doch historisch keineswegs selbstverständlich ist, möglich; nur durch Zentralisierung und Monopolisierung werden zuvor durch kriegerische oder wirtschaftliche Gewalt erstrittene Chancen handhabbar und einer gewissen Planung unterworfen – denn der Kampf um die Monopole richtet sich nicht mehr auf ihre Zerstörung, sondern auf die Art der Verteilung. In dem Maße nämlich, wie sich diese beiden Monopolorganisationen mit nationaler Reichweite ausdehnen, wird das Schwert mehr und mehr zu einem entbehrlichen Mittel des Erwerbs von Produktionsmitteln und die Gewalt selbst ein entbehrliches Mittel der Produktion. Sie bilden gewissermaßen die Voraussetzung für die Herausbildung friedlicher Konkurrenzverhältnisse in der Wirtschaft, welche die sukzessive Entfaltung von nationalen Wirtschafts- und Gesellschaftsräumen, eine voranschreitende Arbeitsteilung und die Sicherheit des Marktverkehrs erst möglich macht und die friedliche Produktion gegenüber dem Einbruch körperlicher Gewalt schützt.14 „Erst wenn die Funktionsteilung sehr weit vorangetrieben ist, erst wenn sich als Resultat langer Kämpfe eine spezialisierte Monopolverwaltung herausgebildet hat, die die Herrschaftsfunktionen als gesellschaftliches Eigentum verwaltet, erst wenn ein zentralisiertes und öffentliches Gewaltmonopol über größere Gebiete hin besteht, erst dann können sich Konkurrenzkämpfe um Konsumtions- und Produktionsmittel unter weitgehender Ausschaltung von körperlicher Gewaltanwendung vollziehen, und dann erst existiert im reinen Sinne die Art der Wirtschaft, die wir ‚Wirtschaft‘ nennen, dann erst die Art des Konkurrenzkampfes, die wir ‚Konkurrenz‘ zu nennen gewohnt sind.“15
Auf diese Weise wird der Staat zum obersten Koordinations- und Regulationsorgan für den auf Funktionsteilung ausgelegten gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozess und zum Garant des (inneren) Friedens. Verfallen seine beiden ‚Schlüsselmonopole‘, dann verfallen auch alle anderen und schließlich ‚der Staat‘ selbst. Die Zivilisierungsleistung des Staates durch die Monopolisierung von Machtmitteln hat also nicht nur befriedende Wirkungen auf die Gesellschaft, sondern sie offenbart sich zugleich in einer Homologie von Staat und Kapitalismus, von Gewalt12 13 14 15
Elias 1976 II, S. 221; vgl. ebd., S. 219ff., S. 287. Elias 1976 II, S. 143, S. 307. Elias 1976 II, S. 307f., S. 277ff., S. 224f., S. 204ff., S. 158f., S. 153ff. Elias 1976 II: 206.
monopol und Marktwirtschaft,16 die jeweils zwingend aufeinander angewiesen sind. Zudem konstituieren sich die entstehenden Staaten erstmals auch als Nationalstaaten. Deren Entwicklung streift Elias zwar in seinen zivilisationstheoretischen Schriften nur am Rande, greift die damit einhergehende Problematik aber später wieder auf. In Fortschreibung des Zivilisationsprozesses ist dabei zunächst wichtig, dass aus den frühen ‚Staatsgesellschaften‘ schließlich ‚Nationalgesellschaften‘ werden, die eine doppelte Integrationsleistung vollbringen:17 Zum einen sorgen sie endgültig für die territoriale oder regionale Integration, zum anderen integrieren sie ganz unterschiedliche Bevölkerungsteile und soziale Schichten als Staatsbürger, welche die gleichen politischen Rechte besitzen, aber sozio-ökonomisch ungleich bleiben. Aus den damit einhergehenden sozialen Auseinandersetzungen resultiert schlussendlich eine ‚Vergesellschaftung‘ des Staates und eine Demokratisierung der Herrschaft. Elias hat sich in seinen zivilisationstheoretischen Schriften wesentlich auf die Entstehung und Durchsetzung von Macht- und Territorialstaaten beschränkt und die nachfolgende Entwicklung hin zu Rechts- und Nationalstaaten weitgehend ausgeklammert. Im Mittelpunkt steht bei ihm die Durchsetzung des absolutistischen Staates mit der Herausbildung des Gewalt- und Steuermonopols und der erstmaligen Ausdifferenzierung von ‚modernen‘ Verwaltungsfunktionen. Zudem hat er grosso modo einen recht linearen Verlauf des Zivilisationsprozesses – inklusive der entsprechenden Staatsfunktionen – mit einem zumindest impliziten normativen telos beschrieben.
4. Macht- und konflikttheoretische Aspekte einer Theorie des Staates bei Elias Angesichts des obigen Befundes könnte man geneigt sein, Elias eine gewisse Blindheit in Bezug auf macht- und konflikttheoretische Aspekte der Durchsetzung des Zivilisationsprozesses – insbesondere der Herausbildung von Staatlichkeit – zu unterstellen. Dies ist allerdings unangemessen:18 Nicht nur betont Elias immer wieder, dass die Entwicklung des Zivilisationsprozesses auf der individuellen Ebene von schmerzhaften Internalisierungs- und Pazifizierungskonflikten begleitet19 und auf der gesellschaftlichen Ebene von Macht- und Ausscheidungskämpfen sowie von Gewalterfahrungen durchzogen war, sondern er zeigt auch, dass die Ausgestaltung von Gesellschaftsstrukturen und Staatlichkeit selbst eine nicht still zu stellende Abfolge von Konflikten beinhaltete.20 Gleichwohl führt dies bei ihm nicht dazu, den Staat konsequent als eine Herrschaftsinstanz zu sehen, in dem sich politische Kräftever16 17 18 19 20
Elias 1970, S. 154ff.; vgl. Oesterdiekhoff 2003, S. 739ff.; Kuzmics 1987. Elias 1972/2008. Vgl. Imbusch 2012. Vgl. Spierenburg 2004. Vgl. König 1989.
hältnisse verdichten und das Politische artikuliert. Vielmehr betrachtet er den Staat selbst als einen großen Verflechtungszusammenhang, einzelne staatliche Instanzen als Figurationen in ständiger Konkurrenz um spezifische Machtressourcen. Sein Machtverständnis im Sinne einer Struktureigentümlichkeit von jedweden sozialen Beziehungen lässt ihn auch staatliche Figurationen quasi als labile Machtbalancen betrachten, die fragil bleiben und jederzeit ins Kippen geraten können.21 Mit dem Begriff der Machtbalance zielt Elias auf die dynamischen und sich rasch wandelnden Beziehungen zwischen Menschen(gruppen) ab; Machtbalancen ändern sich nämlich mit dem Grad der Monopolisierung der Machtmittel und dem Grad des Angewiesenseins verschiedener Menschengruppen aufeinander. Er benutzt den Begriff Machtbalance dabei nicht im Sinne eines Gleichgewichts bzw. einer Ausgeglichenheit von Machtverhältnissen. Worauf es Elias ankommt ist die Tatsache, dass Machtdifferentiale überall dort vorhanden sind, wo eine funktionale Interdependenz zwischen Menschen besteht. Das Konzept der Machtbalance soll gerade „die begriffliche Erfassung von Schattierungen und Abstufungen in der Verteilung der Machtgewichte zwischen menschlichen Gruppen“ ermöglichen.22 Der Begriff des Machtdifferentials ist hingegen eher auf die quantitative Verteilung der Machtgewichte in einer bestimmten Figuration bzw. einer Machtbalance abzuheben. Die Möglichkeiten, Macht zu entfalten, sind jedoch in der Gesellschaft durchaus unterschiedlich verteilt und wiederum abhängig von den eigenen Machtquellen und spezifischen Machtmitteln. Den Machtquellen schreibt Elias – nicht unähnlich wie Weber – einen „polymorphen Charakter“ zu.23 Auch die Machtmittel können vielgestaltig sein: Die Verfügung über Produktionsmittel – hier folgt er Marx – ist beispielsweise ein wichtiges Machtmittel, aber sie erschöpfen sich keineswegs darin. Daneben weist Elias in seinen Werken noch auf Orientierungsmittel (wie beispielsweise Formen des kulturellen Kapitals und Wissen), Organisationsmittel (wie beispielsweise soziale Kohäsion und das Recht) sowie Mittel der physischen Gewalt (etwa die Verfügung über Waffen) als wichtige Ressourcen hin. Staatliche Machtmittel sieht er etwa in den klassischen Gewalt- und Steuermonopolen angelegt. Im Grunde bezieht Elias die Machtquellen immer auf eine bestimmte Struktur der Gesellschaft. Und er verkennt die „gewaltige Differenz in der Verteilung der sozialen Machtinstrumente“ nicht.24 Machtentfaltung, Machtbalancen, Machtdifferenzen, Herrschaftsausübung und Herrschaftssicherung, Ausscheidungs- und Konkurrenzkämpfe sind in Elias’ Schriften allgegenwärtig, sie deuten auf eine konfliktive Vergesellschaftung und eine umkämpfte Staatlichkeit hin. 21 22 23 24
Vgl. Elias 1970, S. 77; Kuhlmann 2000, S. 635. Elias 1986, S. 427. Vgl. Elias 1970, S. 97. Elias 1991, S. 81.
Als Beleg für die konfliktiven Vergesellschaftungsmuster und die daraus resultierenden Kontrollnotwendigkeiten und Ordnungszwänge reicht an dieser Stelle etwa der Hinweis auf Elias Maßstab für den Entwicklungsstand einer Gesellschaft, insbesondere die von ihm als Universalien jeder Gesellschaft identifizierte „Triade der Grundkontrollen“ aus.25 Art und Umfang der Kontrolle eröffnen jeweils spezifische, aber höchst unterschiedliche Machtchancen für die Menschen. Dabei geht es erstens um „das Ausmaß der Kontrollchancen über außermenschliche Geschehenszusammenhänge“: Dieser Kontrolltyp bezieht sich v.a. auf die technologische Entwicklung und ist auf die Kontrolle von „Naturereignissen“ ausgerichtet. Zweitens geht es um „das Ausmaß ihrer Kontrollchancen über zwischenmenschliche Zusammenhänge“: Hier hat Elias v.a. den Entwicklungsstand von gesellschaftlichen Organisationen (beispielsweise auch den Staat) im Blick, der auf die Kontrolle gesellschaftlicher Zusammenhänge verweist. Drittens schließlich geht es um das „Ausmaß der Kontrolle jedes einzelnen ihrer Angehörigen über sich selbst als ein Individuum“, also um mehr oder weniger große Selbststeuerung. Für alle drei Prozesse gilt: „Keiner dieser Trends verläuft gradlinig, keiner ohne oft schwere Kämpfe. An Gesellschaftswandlungen in der entgegengesetzten Richtung fehlt es nicht.“26 Aber nicht nur die Gesellschaft ist von Machtdifferenzen und Konflikten durchzogen, sondern auch der Staat. Versteht man den Staat selbst als eine spezifische Machtfiguration und als Ausdruck eines Herrschaftsverhältnisses, dann finden sich bei Elias im Laufe seiner Zivilisationsgeschichte nicht nur vielgestaltige Kämpfe um Vorherrschaft und um die Zentralisierung und Monopolisierung von Herrschaftsmitteln, sondern auch vielfältige Hinweise zu Machtverlagerungen innerhalb und zwischen einzelnen Staaten. Diese sollen im Folgenden an drei Abschnitten seiner Zivilisationsgeschichte verdeutlicht werden: der absolutistischen Herrschaft und der höfischen Gesellschaft, mit der die berühmte ‚Ein-Herrschaft‘ auf der Grundlage einer komplexen Machtfiguration verbunden ist; der konsolidierten Staatlichkeit mit der nachfolgenden Transformation von Machtbefugnissen und Herrschaftsfunktionen; und der zumindest perspektivisch bei Elias angelegten ‚Globalisierung’ von Staatlichkeit mit dem Ausblick auf einen Weltstaat. Elias lässt in all diesen Fällen keinen Zweifel daran, dass die Verlagerung der Machtgewichte und die Verschiebung von Machtbalancen alles andere als ein freiwilliger, harmonischer oder konfliktfreier Prozess ist. Ganz im Gegenteil weist er an einer Vielzahl von Stellen in seinem Werk auf die Spannungen und Konflikte hin, die solche Machtverlagerungen heraufbeschwören bzw. mit sich bringen. Diese entladen sich entlang ‚innerstaatlicher’ und ‚zwischenstaatlicher Spannungsachsen’ häufig gewaltsam, was darauf zurückzuführen ist, dass sich der Auf- und Abstieg von bestimmten Machtfigurationen nicht als ein unpersönlicher Vorgang abspielt, 25 Elias 1970, S. 173f. 26 Elias 1970, S. 172.
sondern es sich dabei immer um den Auf- und Abstieg von Menschen bzw. Menschengruppen handelt. Bestimmten Menschengruppen fallen in diesem Prozess größere Machtchancen zu als zuvor, andere Menschengruppen ‚entfunktionalisieren‘ sich und büßen ihre Machtchancen ganz oder teilweise ein. Problematisch wird dies insbesondere dann, wenn mit dem Machtverlust auch Sinn- und Wertverluste verbunden sind. Für Elias steht jedenfalls fest, dass „herrschende Gruppierungen jeder Art, ob Stämme, Eliten, Stände, Klassen oder Nationen, deren Macht im Schwinden begriffen ist, selten kampflos das Feld räumen, auch wenn die Chancen einer Aufrechterhaltung ihrer Macht und Herrschaft gleich Null sein mögen. Je schwächer sie sind, je unsicherer und bedrohter ihr Vorrang de facto ist, desto krasser, rücksichtsloser und unrealistischer fallen in der Regel die Maßnahmen aus, mit denen sie ihre Position zu behaupten versuchen.“27
An der französischen höfischen Gesellschaft28 mit ihrer langsamen Durchsetzung absolutistischer Staatlichkeit zeigt Elias die gelingende Ausdifferenzierung von Herrschaftsfunktionen, die dann sukzessive in Staatsfunktionen überführt werden. Sie ist zugleich ein Musterbeispiel dafür, wie sich Herrschaftsordnungen im Übergang von der feudalen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verändern. Elias29 beschreibt die durch die Dynamik der mittelalterlichen Gesellschaften hervorgerufene Differenzierung der feudalen Klassenstrukturen und der gesellschaftlichen Funktionen, die Ausweitung und Durchsetzung des Geldwesens (Kommerzialisierung) und die Veränderungen in der Kriegstechnik als diejenigen Veränderungsprozesse, die auf eine zunehmende Zentralisierung und Monopolisierung der Machtmittel drängen und schließlich zu der Etablierung des absolutistischen Staatsgebildes führen. Der über Ausscheidungskämpfe stattfindende Kampf um die Vormacht wird dabei von Elias wesentlich als ein Kampf um die Zentralisierung wichtiger Machtmittel und die Durchsetzung einer zentralen Gebietsherrschaft gedeutet. Die Monopolisierung der legitimen physischen Gewaltsamkeit und das Abgabenmonopol waren dabei von herausragender Bedeutung für die Konsolidierung einer staatlichen Zentralgewalt. Dem lag die einmalige Konstellation eines quasi Machtgleichgewichts zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zugrunde, durch die der König die Macht am Hofe zentralisieren und das in vielerlei Hinsicht grundlegende Gewaltund Steuermonopol unter seine Kontrolle bringen konnte. Dies geschah dadurch, dass im Zuge der Auflösung der traditionellen Feudalordnung unterschiedliche Machtgruppen – Adel, Kirche, Fürsten auf der einen Seite, das aufstrebende Bürgertum auf der anderen Seite – zwar zu permanenten Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfen gezwungen waren, aber sich zugleich in einer Machtpattsituation befanden, 27 Elias 1992, S. 462. 28 Elias 1983. 29 Elias 1976 II.
die zu einer zunehmenden Zentralisierung und Potenzierung der Macht führte und schließlich in jene Art ‚diktatorischer Einherrschaft‘ einmündete, die eben typisch für die absolute Herrschaft des Königs im Absolutismus geworden ist. Auf der einen Seite befand sich das aufstrebende Bürgertum, das zwar schon reich, mächtig und selbstbewusst genug geworden war, um den Macht- und Herrschaftsansprüchen des Adels entgegentreten zu können, aber noch nicht stark genug war, die Herrschaft selbst auszuüben. Auf der anderen Seite stand der Adel, der zwar den aufstrebenden bürgerlichen Schichten noch trotzen konnte, aber bereits ökonomisch zu schwach war, um gegenüber diesem Bürgertum seine Herrschaft aufrechtzuerhalten. „So bedurfte der Adel mit seiner schwindenden finanziellen Basis der Könige, um sich gegenüber dem Druck der bürgerlichen Schichten und ihres steigenden Reichtums als Adel zu erhalten, und die bürgerlichen Korporationen bedurften der Könige als Schützer und Protektoren gegenüber den Bedrohungen, Anmaßungen, und auch gegenüber der allzu einseitigen Privilegierung des noch halb ritterlichen Adels … (Der König) herrschte, weil und solange sich in … (seinem Herrschaftsgebiet) die großen sozialen Gruppen des Bürgertums und des Adels bei scharfer Rivalität in Bezug auf ihre Machtchancen die Waage hielten.“30
Der König – als ‚Monopolist von Chancen‘31 – stand gleich distanziert von allen sozialen Gruppen des Landes scheinbar ‚neutral‘ über der Gesellschaft; seine Herrschaft beruhte jedoch auf einer höchst fragilen Spannungs- und Machtbalance32 zwischen Gruppen, die sich gegenseitig in Schach hielten. Der absolute Herrscher musste aus Gründen des eigenen Machterhalts fortan die Interessen der unterschiedlichen Gruppen ausbalancieren, was wiederum seine Macht stärkte und beschränkte. Die Abhängigkeit war wechselseitig – zumindest, bis das etablierte Machtgefüge in der Französischen Revolution zusammenbrach und sich die Machtbalancen dramatisch verschoben. Die Untersuchung zur höfischen Gesellschaft und des Absolutismus enthält damit sowohl mikro- wie auch makrosoziologische Perspektiven auf die Macht und stellt eine bis heute gängige Interpretation der Herausbildung staatlicher Herrschaft im Absolutismus dar. Ein zweites Themenfeld, an dem die macht- und konflikttheoretischen Perspektiven von Elias auf die Staatsproblematik verdeutlicht werden können, liegt in der schließlich eingetretenen konsolidierten Staatlichkeit und der nachfolgenden Transformation der Machtbefugnisse und Herrschaftsfunktionen. Hier geht es also nicht mehr um die Durchsetzung und Konsolidierung von Staatlichkeit, sondern um die Frage, wie sich der Staat als Zentralmacht in der Folgezeit weiterentwickelt. Pierre Bourdieu hat dies in seinen Vorlesungen ‚Über den Staat‘33 mit Bezug auf Elias wie 30 31 32 33
Elias 1983, S. 252f. Elias 1983, S. 209. Vgl. Elias 1983, S. 306ff. Bourdieu 2014.
folgt auf den Punkt gebracht: Die sozialen Kämpfe gehen nun nicht mehr um die Beseitigung des Herrschaftsmonopols, sondern nur noch um die Frage, wer über die etablierte Monopolapparatur verfügen soll, woher sich diese Kräfte rekrutieren und wie dessen Lasten und Nutzen verteilt werden sollen.34 Das Entscheidende an der Analyse von Elias ist dabei der Übergang von einem relativ privaten Monopol hin zu einem öffentlichen Monopol. Es geht damit letztlich um die ‚Vergesellschaftung des Staates‘ und ihre Mechanismen. Elias betrachtet den weiteren Verlauf der Entwicklung von Staaten als einen Übergang von absolutistischen Machtstaaten hin zu Territorial- und Nationalstaaten. Die Interdependenzen und Abhängigkeitsketten zwischen den Menschen und ihren Institutionen, die man nun auch als Legitimitätsketten beschreiben könnte, werden größer bzw. länger, Macht- und Herrschaftsfunktionen werden in gewisser Weise ‚vergesellschaftet‘, die im Staat verkörperte Herrschaftsordnung verliert ihren bedrohlichen Charakter. „Man könnte das, was Elias sagt, als eine Art Auflösung der Macht verstehen: ‚alle gleich‘.“35 Elias fasst die weitere Entwicklung der verschiedenen Staatsgesellschaften beispielhaft in drei Aspekten zusammen, die er als ‚Verringerung der Machtdifferentiale‘, als ‚funktionale Demokratisierung‘ und als ‚Entwicklung hin zu einer weniger ungleichmäßigen Verteilung der Machtgewichte‘ analysiert.36 Alle drei Prozesse resultieren für ihn aus der zunehmenden Differenzierung von Gesellschaften und der Spezialisierung gesellschaftlicher Tätigkeiten – und der damit verbundenen zunehmenden Abhängigkeit der Menschen voneinander. „Die zunehmende Undurchschaubarkeit, die wachsende Komplexität der Verflechtungen, die offensichtlich verringerte Möglichkeit irgendeines einzelnen, selbst des nominell mächtigsten Menschen, für sich allein und unabhängig von anderen Entscheidungen zu treffen, das ständige Hervorgehen von Entscheidungen im Zuge von mehr oder weniger regulierten Machtproben und Machtkämpfen vieler Menschen und Gruppen, alle diese Erfahrungen bringen den Menschen stärker zum Bewusstsein, dass es anderer, unpersönlicherer Denkmittel bedarf, um diese wenig transparenten gesellschaftlichen Zusammenhänge zu begreifen oder gar zu kontrollieren.“37 Ein erster Mechanismus der ‚Vergesellschaftung des Staates‘ kann in der Verringerung der Machtdifferentiale zwischen Regierenden und Regierten gesehen werden. Der institutionelle Ausdruck dieser Verringerung der Machtdifferentiale ist für Elias die sukzessive Ausweitung des Wahlrechts zunächst auf die bürgerlichen Schichten, dann auf alle erwachsenen Männer, schließlich auf alle Erwachsenen. Während in früheren Jahrhunderten der Zugang zur Macht und zu den zentralen 34 35 36 37
Bourdieu 2014, S. 238; vgl. Elias 1976 II, S. 152. Bourdieu 2014, S. 237. Vgl. Elias 1970, S. 70ff. Elias 1970, S. 74.
Staatsmonopolen eng begrenzt war, gewannen im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zunehmend breitere Schichten der Bevölkerung Zugangsmöglichkeiten zu Macht- und Herrschaftspositionen. Obwohl die Machtunterschiede groß bleiben, gehen mit dieser Machtverlagerung doch neue Chancen der Regierten einher, die Regierungen und ihre Aktivitäten stärker zu kontrollieren. Im Laufe der Zeit müssen sich die Aspiranten von Machtpositionen gegenüber den Regierten nun zudem legitimieren und ihre Qualifikationen, Prinzipien und Ideale ausweisen. Dies alles hat historisch zu einer relativen Verlagerung der Machtgewichte weg von den Regierenden hin zu den Regierten – und damit zu einer größeren Reziprozität der Abhängigkeiten – geführt. Ein zweiter Mechanismus, der für Elias in diese Richtung wirkt, kann in der Verringerung der Machtdifferentiale zwischen verschiedenen Schichten gesehen werden. Hierin sieht er einen weiteren wichtigen Entwicklungstrend von Gesellschaften während der letzten 200 bis 300 Jahre. Elias stellt z.B. adlige Landbesitzer und Bauern, Offiziere und bezahlte Söldner den Abhängigkeitsbeziehungen zwischen industriellen Unternehmern und Arbeitern oder den Offizieren und den wehrpflichtigen Staatsbürgern gegenüber. In allen Fällen hätten sich die Machtbalancen deutlich zugunsten der ehemals machtloseren Gruppen verschoben. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sich irgendwann auch die weniger mächtigen Gruppen einer Gesellschaft nachdrücklich Gehör verschaffen können (z.B. über Organisationen, Streiks, Demonstrationen) und auch zunehmend Gehör finden. „Diese Vergrößerung der relativen Machtpotentiale der ehemals weit ohnmächtigeren Masse der Bevölkerung im Zuge dieser Gesellschaftsentwicklung mag fühlbar werden in diffusen Manifestationen von Unzufriedenheit und Apathie, in drohendem Aufruhr und in Gewalttaten, wenn die institutionalisierten Herrschaftsbalancen den tatsächlichen Machtpotentialen der breiteren Schichten nicht entsprechen.“38
Die dominanten institutionellen Regulationen – die beispielsweise als staatliche Herrschaft erscheinen – seien immer wieder ‚Machtproben‘ ausgesetzt, welche die beteiligten Akteure zu einer Anpassung an veränderte Machtverhältnisse zwingt. Faktoren, die diese Entwicklung beschleunigen, sieht Elias in der zunehmenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung und Modernisierung von Gesellschaften, insgesamt betrachtet er diesen Prozess als ‚funktionale Demokratisierung‘. Ein dritter Mechanismus wird schließlich von Elias in der weitreichenden Transformation der gesellschaftlichen Beziehungen in Richtung auf höhere reziproke und multipolare Abhängigkeiten und Kontrollen gesehen, die eine einseitige Machtausübung oder staatliche Herrschaftsanmaßung zunehmend weniger wahrscheinlich macht. Die zuvor genannten Prozesse und ihre Hintergründe führen schlussendlich in pluralistisch-demokratischen Gesellschaften zu einem institutionellen Arrange38 Elias 1970, S. 72.
ment, welches durch ein hohes Maß an gegenseitigen Abhängigkeiten und wechselseitigen Kontrollen geprägt ist. Elias spricht davon, dass „diese größere institutionelle Multipolarität und Reziprozität der Kontrolle verschiedener gesellschaftlicher Gruppen … wiederum nur der institutionelle Ausdruck einer Verringerung der Machtdifferentiale zwischen allen Gruppen und allen einzelnen Individuen im Zuge dieser gesellschaftlichen Transformation [ist].“39 Die Interdependenzketten differenzieren sich jedenfalls zusehends und werden länger, die Machtkonfigurationen komplexer, was wiederum Anzeichen für eine gesichertere gesamtgesellschaftliche Integration sind. An anderer Stelle hat Elias dazu resümierend geschrieben: „States assumed the characteristics of nation states, in other words, in connection with specific changes in the distribution of power within a state society. It was, on the one hand, a change in the distribution of power between social strata as well as in the nature of stratification itself. It was, on the other hand, a change in the distribution of power between governments and governed. The change in the nature of stratification is usually conceptualized as a change from stratification in terms of different estates each with legally entrenched privileges and disabilities to a stratification in the form of social classes whose members were equals before the law and unequal only socially and economically. This transition … was far more gradual than is usually seen. … The power equation changed during the 19th century slowly…”40
Elias hat keinen Zweifel daran gelassen, dass auch der Prozess der Entwicklung von Nationalstaaten und der zunehmenden gesellschaftlichen Integration von vielfältigen Spannungen und Konflikten, Machtkämpfen und gewaltsamen Widersprüchen begleitet gewesen ist.41 In den darin zum Ausdruck kommenden „Antinomien der Zentralmacht“ hat Pierre Bourdieu42 den originellsten Punkt in der Elias’schen Analyse gesehen. Auch Dieter Senghaas und Axel Honneth haben den westeuropäischen Prozess der Staats- und Nationenbildung und der damit verbundenen gesellschaftlichen Integration als Resultat eines konfliktiven Prozesses widersprüchlicher gesellschaftlicher Entwicklungen gedeutet, indem sie beispielsweise von einer ‚Zivilisierung wider Willen‘43 gesprochen haben oder die entsprechende Entwicklung als einen ‚Kampf um Anerkennung‘44 interpretiert haben. Das dritte Themenfeld, an dem macht- und konflikttheoretische Perspektiven paradigmatisch ausbuchstabiert werden könnten, betrifft die zumindest andeutungsweise bei Elias angelegte ‚Globalisierung‘ von Staatlichkeit und seinen Ausblick auf eine mögliche ‚Weltregierung‘. Gleichwohl bleibt Elias hier – gewissermaßen not39 40 41 42 43 44
Elias 1970, S. 73. Elias 1972/2008, S. 278. Vgl. Elias 1992, S. 462. Bourdieu 2014, S. 234. Senghaas 1998. Honneth 1992.
gedrungen – viel unbestimmter als bei den beiden zuvor genannten Beispielen, allerdings nicht ohne die Entwicklung hin zu einer solchen ‚Weltregierung‘, mit der ja auch so etwas wie ein ‚Weltstaat‘ als Herrschaftsinstanz verbunden sein müsste, konsistent in sein zivilisationstheoretisches Paradigma eingebettet zu haben. Elias sieht in dem Staatensystem seiner Zeit ähnliche Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfe angelegt wie einst in der Durchsetzung des Absolutismus. Die nun als Staaten organisierten rivalisierenden Herrschaftsverbände werden unter dem Druck von Spannungen und dem Zwang von Konkurrenzmechanismen in einer kampf- und krisenreichen Bewegung immer wieder gegeneinander getrieben, bis es zur Bildung größerer Herrschaftseinheiten mit erweiterten Gewaltmonopolen kommt. Die zwischenstaatlichen ‚Konkurrenzspannungen‘ können für ihn erst zur Ruhe kommen, nachdem in einer langen Reihe blutiger und unblutiger Machtproben sich Gewaltmonopole und Zentralorganisationen für größere Herrschaftseinheiten stabilisiert haben. Elias interpretiert zunächst einmal die lange Geschichte der Kriege als eine Geschichte der Hegemonialkämpfe, in der schließlich immer mehr Widersacher geschlagen werden und auf der Strecke bleiben, so dass sich im Gefolge der Siege neue Hegemonialordnungen herausbilden, die zugleich veränderte Machtbalancen mit sich bringen, bis schließlich nur noch ganz wenige Hegemonialmächte übrigbleiben.45 Ausschlaggebender Punkt in diesen Ausscheidungskämpfen ist seit jeher das Machtpotential von Staaten, welches Elias aus einer Kombination von Grundfaktoren (etwa Bevölkerung, soziales Kapital, Rohstoffe, strategische Lage, Militärtechnik, Produktivitätsniveau, Bildung) gewichtet und ihm in seiner Gesamtheit als Gradmesser für das Gewicht eines Staates dient. Eine Schlüsselrolle für die Rangordnung von Staaten kommt aber ganz ohne Zweifel ihrem Gewaltpotential zu: Die Fähigkeit eines Staates zur Anwendung physischer Gewalt gegenüber anderen Staaten konstituiert seine spezifische Überlegenheit und sorgt für die Aufrechterhaltung oder Verbesserung seiner Position in der Hierarchie der Staaten.46 Schiere Gewaltpotentiale geben also in den Beziehungen der Staaten untereinander den Ausschlag. Schließlich soll am Ende einer Reihe von kriegerischen Konflikten nur noch ein einziger ‚Weltstaat‘ übrigbleiben, was dann zu einem inneren Frieden führt – und zwar diesmal nicht innerhalb einer nationalstaatlich geprägten Gesellschaft, sondern quasi global im Rahmen einer Weltgesellschaft. Bis dahin sieht Elias in der wiederkehrenden Kriegsgefahr noch eine gewisse Zwangsläufigkeit. Mit der wachsenden wirtschaftlichen Verflechtung und Funktionsteilung und der damit verbundenen größeren wechselseitigen Abhängigkeit der Rivalen voneinander steigt jedoch auch die Neigung zur friedlichen Konfliktregelung im internationalen System an.47 45 Vgl. Elias 1985, S. 26-52; Elias 1987, S. 146. 46 Elias 1987, S. 121f. 47 Vgl. Elias 1976 II, S. 434ff., S. 451f.
Elias macht deutlich, dass sich die Beziehungen zwischen den Staaten bis dato kaum verändert haben und den Menschen nur geringe Kontrollmöglichkeiten bieten. Da auf internationaler Ebene weder ein Gewaltmonopol noch eine überlegene Instanz existiert, die auch die stärksten und mächtigsten Staaten dazu zwingen kann, Frieden zu halten, ist sie zugleich die Sphäre mit dem archaischsten Charakter. Die Gefahren, die Menschen auf dieser Ebene füreinander bilden, sind noch hoch, durch die technischen Potentiale vielleicht sogar höher als sie es auf den einfacheren Entwicklungsstufen der Menschheit gewesen sind. Machtkämpfe in Form von Kriegen und Revolutionen sowie andere gewaltsame Konflikte sind allgegenwärtig, so dass Elias schlussfolgert: „Alle diese und viele andere Eigentümlichkeiten zwischenstaatlicher Beziehungen zeigen eine strukturelle Affinität zu den mehr gefühlsgeladenen, engagierten Formen des Denkens und Verhaltens in Gesellschaften einer früheren Stufe, die überdies dort häufig durch formalisierte Rituale des Umgangs in Schach gehalten werden.“48
Staaten erscheinen auf dieser Ebene also keineswegs als unproblematische Institutionen, weil sie unterschiedlichen Logiken folgen: Nach innen besteht die primäre Funktion des Staates darin, dem Einzelnen Schutz vor der physischen Verletzung bzw. Vernichtung durch andere zu gewähren. Der Staat ist damit ein Zusammenschluss von Menschen zur gemeinsamen Verteidigung ihres Lebens und des Überlebens als Gruppe gegenüber Angriffen anderer Gruppen oder von außen. Aber Staaten können auch zum Angriff auf andere Staaten und Gruppen genutzt werden, sie können der physischen Vernichtung anderer dienen. Elias schreibt dazu: „Die primäre Funktion des Zusammenschlusses ist also der Schutz vor der physischen Vernichtung durch andere oder die physische Vernichtung von anderen. Verteidigungsund Angriffspotenziale solcher Einheiten sind unabtrennbar. Nennen wir sie also ‚Schutz- und Trutz-Einheiten‘ oder ‚Überlebenseinheiten‘. Auf der gegenwärtigen Stufe der Gesellschaftsentwicklung bilden die Nationalstaaten ihre Repräsentanten. Morgen werden es vielleicht die Integrationen mehrerer ehemaliger Nationalstaaten sein. Früher waren es Stadtstaaten oder die Bewohner einer Burg. Die Größe und Struktur wechselt. Die Funktion bleibt die gleiche. Auf jeder Stufe hebt die Bindung und Integration von Menschen zu Verteidigungs- und Angriffseinheiten diesen Verband aus allen anderen heraus. Diese Überlebensfunktion oder der Gebrauch physischer Gewalt gegen andere schafft unter Menschen Interdependenzen spezifischer Art.“49
Mit oder ohne Krieg sieht Elias jedenfalls die Notwendigkeit, weltstaatliche Institutionen zu entwickeln, als deren frühe Vorformen er etwa den Völkerbund und die UNO betrachtet. Um eine Befriedung der Menschheit zu erreichen, müsste wahrscheinlich ein einzelner Staat die militärisch-ökonomische Hegemonie ausüben, ohne dass Elias sagen könnte, ob dies wünschenswert wäre. 48 Elias 1987, S. 173. 49 Elias 1970, S. 151f.
„Immerhin könnte man erwägen, ob die Vorherrschaft eines Staates, der mächtiger ist als alle anderen, ein zu hoher Preis für die Befriedung der Menschheit, also für die Abschaffung der Kriege als einer stehenden Einrichtung im zwischenstaatlichen Verkehr wäre. Man könnte ja sagen, wenn ein einzelner Staat ein solches militärisches Übergewicht über alle anderen Staaten gewänne, dass er auf globaler Ebene de facto ein Monopol der physischen Gewalt besäße, dass sein Heer als eine Art Weltpolizei jeden weiteren Staat daran hindern könnte, seine eigene militärische Organisation bei Konflikten mit anderen einzusetzen, wenn dieser Staat also so stark würde, dass er in der Tat die Pazifizierung der Menschheit, ihre Befreiung von Kriegen, zustande brächte, dann lohnte es sich, dafür den Preis der Unterordnung unter einen Hegemonialstaat und des Ertragens der in solchen Fällen immer wieder auftretenden Hoffart des Hegemonialvolkes wenigstens eine Zeitlang zu bezahlen.“50
Elias’ Vision blieb letztlich eine weltweit befriedete Konföderation von Staaten, die auf einem freiwilligen Zusammenschluss beruht und die effektive Organe der zwischenstaatlichen Konfliktlösung und der Bestrafung von Friedensbrechern besitzt.51 In dieser nach wie vor utopischen Vorstellung sah Elias nicht nur die Verwirklichung eines Menschenrechts auf Freiheit gegenüber physischer Gewalt,52 sondern mit der sich daraus ergebenden Reduktion bzw. Überwindung von inner- und zwischenstaatlichen Spannungen dann auch wohl eine sehr weit fortgeschrittene Form der menschlichen Zivilisation.53
5. Die widersprüchliche Verarbeitung der Staatsproblematik Norbert Elias hat in seinen Schriften zum Prozess der Zivilisation dem Staat eine prominente Rolle eingeräumt und die Bedeutung des Staates an einer Reihe von Beispielen deutlich gemacht. Sein Staatsbegriff ist dabei wesentlich figurations- und zivilisationstheoretisch funktional angelegt und nicht emphatisch gemeint, der Staat und staatliche Instanzen werden als Figurationen betrachtet, die von labilen Machtbalancen durchzogen sind. In der zuvor vorgenommenen macht- und konflikttheoretischen Rekonstruktion unterschiedlicher Aspekte der Staatsproblematik von Elias wurde das Potential verdeutlicht, welches in einer zivilisations- und prozessorientierten Herangehensweise an das Thema Staat steckt. Die Frage, die in diesem Abschnitt behandelt werden soll, lautet deshalb, ob dieser interpretatorische Rahmen ausreicht, um die Entwicklung von Staaten und deren Spezifika oder einzelne Ausprägungen angemessen zu erfassen. Die Frage könnte auch lauten: Wie weit trägt der Elias’sche Ansatz einer staatstheoretischen und zugleich evolutionären Analyse 50 51 52 53
Elias 1985, S. 101f.; vgl. S. 92f. Vgl. Elias 1985, S. 112. Elias 1991, S. 309. Vgl. Elias 1987, S. 123ff.; Elias 1976 II, S. 453.
der Ausdifferenzierung und Relativierung von Staatlichkeit in modernen Gesellschaften? Der allgemeine Hintergrund für diese Fragen ist nicht zuletzt die beträchtliche Kritik, die der zivilisationstheoretische Ansatz von unterschiedlicher Seite erfahren hat, die auch die damit einhergehende Verarbeitung der Rolle des Staates betrifft.54 Einerseits erscheint die Elias’sche Verarbeitung der Staatsproblematik im Kontext der Zivilisationstheorie zwar durchaus logisch konsistent und in seinen einzelnen Aspekten folgerichtig. Das Staatsverständnis ist so wie präsentiert weitgehend schlüssig und lässt sich vielfach auch mit empirischen Fakten belegen. Gleichwohl bleibt es an den interpretatorischen Rahmen der Zivilisationstheorie gebunden, woraus zugleich eine zentrale Schwäche resultiert. Denn andererseits erscheint es angesichts etlicher realhistorischer Ereignisse unzureichend, da zu vage und letztlich zu wenig konkret, oder sogar überdeterminiert, da der Idee widerstreitende Aspekte nicht berücksichtigt oder so interpretiert werden, dass sie dem Zivilisationsmodell nicht gefährlich werden können. Denn Elias stellt – wie einleitend bemerkt – in seiner Auseinandersetzung mit dem Staat wesentlich die ‚positiven‘ Seiten von Staatlichkeit in den Mittelpunkt seines Interesses und blendet die ‚dunklen‘ Seiten staatlicher Machtentfaltung und Herrschaftsausübung weitgehend aus. Dies möchte ich an drei zentralen Punkten verdeutlichen: zum einen an der zu geringen Tiefenschärfe der historischen Analyse von Elias, zum anderen an der Legitimitätsproblematik von Staaten, und schließlich an der Verarbeitung von Diktaturen und autoritären Regimes. Der erste Punkt ergibt sich quasi aus der generischen Betrachtung eines fortschreitenden Zivilisationsprozesses und der Interpretation der dazugehörigen Faktoren. Dass Elias in vielerlei Hinsicht ein Kind seiner Zeit war und daraus spezifische Beschränkungen seiner Analyse resultieren, muss hier nicht eigens erwähnt werden, zumal es auf andere Autoren ebenso zutrifft. Wichtiger als eine solche Historisierung von Elias wäre jedoch das Faktum, dass der frühen Durchsetzung des staatlichen Gewalt- und Steuermonopols und die nachfolgende Staats- und Nationenbildung einem Muster des Zivilisationsprozesses folgt, welches seiner Meinung nach historisch fortschrittlich ist, die einzelnen Rückschläge im Verlauf dieses Prozesses und die widersprüchliche Ausgestaltung dieses Prozesses meistens ein wenig unterbelichtet bleiben. Elias interpretiert sie als Kämpfe um etwas, als Monopolisierungsund Schließungsprozesse, als manifeste Konflikte, aber die dazugehörigen historischen Strukturen und konkreten Akteure bleiben eigentümlich blass und ohne scharfe Konturen. In evolutionärer Perspektive ist die Ausdifferenzierung und Rationalisierung von Staatlichkeit (mit je eigenen Staatsfunktionen, Herrschaftsbereichen und spezifischen Gestaltungsansprüchen) sicher eine Leistung sui generis gewesen,55 aber die Frage, ob die Staaten den damit verbundenen Ansprüchen und Erwartungen 54 Siehe u.a. Duerr 1995; Haselbach 1996; Kilminster 1988; Marx 1996; van Krieken 1991. 55 Vgl. Bogner 1989.
gerecht geworden sind, stellt sich für Elias an keiner Stelle. Zwar ist der moderne Nationalstaat, was seine Ausbreitung angeht, ein historisches Erfolgsmodell geworden, er funktioniert aber keineswegs überall oder auch nur mehrheitlich als jener rationale Anstalts- und Verwaltungsstaat, den sich Max Weber vorgestellt hatte, oder als jene zivilisatorische Instanz, die Elias im Blick hatte. Er war und ist vielfach eine von mächtigen Interessen beherrschte Institution, die weniger Ordnungs- als Herrschaftsfunktionen wahrnimmt. Die von Elias beschriebenen Prozesse treffen historisch betrachtet auf nur wenige exemplarische Fälle zu – und selbst diese sind in sich noch überaus heterogen. Die mit dem Zivilisationsprozess einhergehende Ausbreitungstendenz dürfte deshalb in Bezug auf den Staat bzw. staatliche Institutionen und Funktionen einer argen Überdehnung seines zentralen Arguments nahekommen. Von einer katalysatorischen Funktion für den Zivilisationsprozess kann deshalb außerhalb Westeuropas kaum gesprochen werden, von der widersprüchlichen Entwicklung innerhalb Westeuropas wird noch zu reden sein. Der zweite Punkt betrifft die Legitimationsproblematik von Staaten, auf die Elias kaum einen Gedanken verschwendet. Die Legitimität scheint sich für ihn mit der Konstitution von Staaten quasi automatisch einzustellen, deren pure Existenz ist ein stückweit bereits Ausweis einer solchen Legitimität. Elias folgt hier in gewisser Weise Max Weber, der moderne Staatlichkeit an Territorialität, rationale bürokratische Verwaltung und v.a. das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit geknüpft hatte56 – und reproduziert damit zugleich die Schwächen seiner Analyse.57 Weber hatte nämlich die Legitimität eines Staates durch die Folgebereitschaft der seiner Herrschaft unterworfenen Bürger generiert: Die Legitimität wird durch die Akzeptanz der Herrschenden durch die Beherrschten und deren spezifischen ‚Legitimitätsglauben‘ sichergestellt. Im Gedanken an die Legitimität liegt bei Weber also bereits die Idee der Anerkennung bzw. der Anerkennungswürdigkeit eines Staates und seiner Ordnung. Doch Weber hat diese Seite nicht sehr weit entwickelt, bei Elias ist dieser Aspekt beinahe gänzlich verschwunden. Die damit gegebenenfalls zusammenhängenden Interessen seitens einzelner mächtiger gesellschaftlicher Gruppen und die damit verbundenen legitimatorischen Diskurse sowie die aus beiden resultierenden machtvollen Hegemonialordnungen werden weder von Weber noch von Elias in den Blick genommen. Bourdieu58 wendet gegen eine solche Sichtweise ein, dass das Wort Legitimität bereits eine Form ‚symbolischer Gewalt‘ darstelle: „Elias lässt in der Tat die symbolische Dimension der staatlichen Macht fallen und hält im Wesentlichen die Herausbildung eines doppelten Monopols fest: das der physischen Gewalt und das der Besteuerung.“59 Elias will in seinen zivilisationstheoretischen 56 57 58 59
Weber 1972. Vgl. Beetham 1991. Vgl. allgemein Hasselbusch 2014. Bourdieu 2014, S. 231.
Schriften im Grunde zeigen, wie sich der Staat im Weberschen Sinne mit dem Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit in einem bestimmten Raum konstituiert hat. Er hinterfragt dieses Monopol (und seine Legitimität) an keiner Stelle, ist es doch für ihn ein zentraler Garant der zivilisatorischen Entwicklung. Das bedeutet aber zugleich, dass Elias kein richtiges Instrumentarium zur Analyse illegitimer Herrschaft besitzt, dass er Kriege zum rechtmäßigen Instrumentarium staatlichen Handelns rechnet (und daraus keinerlei retardierende Tendenzen für seinen Zivilisationsprozess resultieren), und er kein Sensorium zur Erfassung der höchst unterschiedlichen Legitimität von einzelnen Staaten besitzt. Der dritte Punkt ist vielleicht der bedeutendste, aber auch heikelste Aspekt im Kontext der Elias’schen Analysen, der an den zuvor genannten anknüpft: sein Umgang mit den ‚dunklen’ Seiten der staatlichen Machtentfaltung und Herrschaftsausübung. In seinen frühen zivilisationstheoretischen Schriften hatte er ja um die Diktaturen, autoritären Regimes und Gewaltherrschaften seiner Zeit quasi herum geschrieben, um den Gang seiner Argumentation nicht zu gefährden. Zwar lagen der Nationalsozialismus und seine Gewalt bei der Fertigstellung seines Buches zum Prozess der Zivilisation noch in der Zukunft, aber es gab bereits deutliche Hinweise auf dessen zukünftige exzessive Gewaltsamkeit. Auch jenseits der nationalsozialistischen Terrorherrschaft gab es eine Fülle von Gewaltphänomenen seitens einzelner Nationalstaaten, die eindeutig nicht dem Bild entsprachen, was Elias im Kontext seines Zivilisationsprozesses gezeichnet hatte: Kolonialismus, Nationalismus, Antisemitismus, Kriegsexzesse und Genozide sind hier vielleicht die wichtigsten Stichwörter und alles Phänomene, in denen Staaten eine zentrale Rolle zukommt. Elias hat, anstatt sich mit diesen dem fortschreitenden Zivilisationsprozess doch deutlich widerstreitenden Phänomenen als staatlichen Machtfigurationen detailliert auseinanderzusetzen, erst spät mit dem Gewaltregime des Nationalsozialismus beschäftigt60 und die Erklärung für dessen Aufstieg und Gewalt in sein zivilisationstheoretisches Korsett gepresst:61 Er spricht etwa von Durchbrechungen des staatlichen Gewaltmonopols; betrachtet die Gewaltereignisse als lediglich kurze rückläufige Bewegungen, die dem großen Gang des Zivilisationsprozesses eigentlich nichts anhaben können; erklärt sie u.a. durch die verspätete Nationenbildung der Deutschen und die dadurch entstandene besondere historische Konstellation in Europa; und erläutert das Abgleiten in die Barbarei v.a. in Umkehrung von Prinzipien des Zivilisationsprozesses als Entzivilisierungsprozesse.62 Obwohl die Gewalt in vielen seiner Schriften einen zentralen Bezugspunkt bildet, versäumt er es doch, diesen staatlichen Gewaltphänomenen einmal figurationstheoretisch auf den Grund zu gehen. An keiner Stelle findet sich in seinen späteren Schriften eine Analyse des nationalsozialistischen Staates, 60 Elias 1992. 61 Vgl. Imbusch 2005. 62 Fletcher 1997.
seiner Funktionsprinzipien und Herrschaftsorganisation, sondern lediglich die Beschreibung des Verlaufs eines historischen Verhängnisses.63 Hier bleibt Elias (und sein Ansatz) deutlich defizitär,64 hat man doch den Eindruck, dass er für derartige Phänomene im Grunde keine geeignete Begrifflichkeit besitzt.
6. Resümee Will man die Bedeutung und den Stellenwert des staatstheoretischen Denkens in den Schriften von Norbert Elias resümieren, dann ergibt sich ein ambivalentes Bild: Elias ist in seinen Studien zum Prozess der Zivilisation davon ausgegangen, dass im Laufe der europäischen Geschichte die Menschen in wachsendem Maße soziale Kontrollen internalisiert haben, selbstdisziplinierter geworden sind und ihre Emotionen in zunehmend stabilerer Weise reguliert haben. Der entscheidende Schritt in seiner Analyse ist dabei die Verbindung dieser Entwicklungen mit der allmählichen Herausbildung von Nationalstaaten aus der fragmentierten politischen Landschaft des Mittelalters. Dabei stehen der Prozess der Monopolisierung von Gewalt und die Zentralisierung von Autorität im Mittelpunkt. Für Elias ist es gerade die Verbindung von längeren Ketten sozialer Interdependenz auf der individuellen Ebene mit dem Prozess der Staatsbildung auf der strukturellen Ebene, die für diesen Prozess verantwortlich sein sollen. Dieser grandiose Entwurf mit seinem Hinweis auf die Bedeutung der Durchsetzung einer geordneten Staatlichkeit muss zunächst einmal gewürdigt werden, gehört er doch zu Recht zu den ‚großen Erzählungen‘ der Moderne, die deren Selbstverständnis wie nur ganz wenige andere widerspiegeln. Schaut man sich diese Entwicklungen allerdings genauer an, dann entdeckt man eine Fülle von historischen Ungenauigkeiten, ungeklärten Beziehungen zwischen einer Reihe von Variablen und von zumindest unterschwelligen normativen Orientierungen. Zudem hat Elias wesentlich die Etappe des absolutistischen Staates ins Visier genommen, die nachfolgenden staatlichen Entwicklungen in Europa dagegen nicht mehr systematisch untersucht. Insbesondere angesichts der Potenzierung staatlicher Gewalt im 20. Jahrhundert mit den beiden Weltkriegen, zahlreichen Genoziden und Kriegsgräueln dürfte es schwierig sein, den Staat noch als eine Zivilisierungsinstanz zu betrachten, welche den Zivilisationsprozess weitertreibt. Dass gerade die am höchsten entwickelten Länder – man könnte mit Elias auch sagen: die ‚fortgeschrittensten Zivilisationen‘ – zu einer besonderen Entfesselung und Entgrenzung von Gewalt in der Lage waren, muss im Kontext der Zivilisationstheorie rätselhaft bleiben. Kritisch ließe sich auf die Verallgemeinerungstendenzen bei Elias hinweisen, der sich in seiner empirischen Studie ja zunächst einmal auf die Entwick63 Vgl. Elias 1992. 64 Vgl. Zwaan 2001; Imbusch 2014.
lung im frühneuzeitlichen Frankreich, aber sodann darüber hinaus mittels von Vergleichen auch auf Westeuropa bezieht, um schließlich eine universalhistorische Reichweite zu beanspruchen. Hier wären wohl insgesamt sehr viel detailliertere Untersuchungen vonnöten als Elias sie seinerzeit anstellen konnte und wollte. Dies müsste zugleich zu sehr viel stärkeren Differenzierungen im Hinblick auf Staatsentstehung, Staatsstrukturen und Staatsfunktionen führen als Elias dies mit seinem fokussierten Blick auf den Zivilisationsprozess getan hat. In einer macht- und konflikttheoretischen Perspektive hat Elias mit seinen Schriften allerdings wichtige Anregungen für die weitere Untersuchung von Staaten geliefert, die es aufzunehmen und weiterzuführen gilt. Mit den von Elias bereit gestellten Denkfiguren und Variablen könnte die Erforschung und Entschlüsselung von politischen Prozessen – oder schlicht des Politischen – durchaus einen großen Schritt vorankommen.
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Christophe Majastre / Florence Delmotte Der Staat als (einzige) Form politischer Integration? Über Elias’ „Etatismus“ (Teil 1 / 2) 1. Einleitung Norbert Elias ist weder als großer Denker des Politischen in Erinnerung geblieben noch widmete er den politischen Formen als solchen größere Aufmerksamkeit. Man findet beispielsweise keine Spuren einer konzeptuellen Unterscheidung von Staat, Stadt und Imperium als verschiedene politische Formen in seinen Schriften. Nichtsdestotrotz ist der Staat ohne Zweifel das zentrale Untersuchungsobjekt im zweiten Band von Über den Prozeß der Zivilisation. Mit dem ausgemachten Ziel, die Frage nach den historischen Dynamiken zu beantworten, welche zur Formierung von „‚staatlichen’ Monopolorganisationen“ führten, begründete Elias seine Wahl Frankreichs zum Hauptfeld seiner Untersuchung, da es die „modellgebende Vormacht Europas“ war.1 Lediglich in der Rückschau gab Elias zu, dass die Wahl seines empirischen Materials, die Manierenbücher, auch eine politische Dimension hatte.2 In dieser Interpretation war die Ausbreitung der politischen Gewalt, die Elias in Deutschland während der Weimarer Republik erlebte, eine wichtige, jedoch nicht artikulierte Sorge, welche Elias in Gedanken beschäftigte, als er sich entschied die Entwicklung der Zivilität zu untersuchen. Nach Haroche liefert die retrospektive Interpretation von Elias den Schlüssel zum Verständnis wie die anscheinend „kühle“ Beobachtung der historischen Monopolisierungsprozesse in der Hand des Staates, auf einer tieferen Ebene, zur politischen Problematisierung seines Werkes in Beziehung steht. Genauer gesagt stellt das Hinterfragen jener Entwicklungsgeschichte, welche letztlich die dauerhafte Befriedung des politischen Raumes durch die Internalisierung bestimmter Verhaltensstandards und Normen der Selbstkontrolle gewährleistete, nach diesem Verständnis den Kern der Elias’schen Problematik dar. Ein solches Verständnis ist auf mehrere Weisen legitim. Es wurde von Elias selbst vertreten, aber es verstärkt auch das Gefühl der Einheit der zwei „Objekte“ von Über den Prozeß der Zivilisation, welche sonst als voneinander unabhängig betrachtet werden könnten: einerseits die Analyse ziviler Verhaltensstandards und andererseits die Monopolisierungsprozesse.3 Es wirft auch ein Licht auf einen problematischen normativen Aspekt in Elias’ Auffassung von der Verbindung zwischen 1 Elias 1997, S. 168. 2 Haroche 1993, S. 50. 3 Dies war in der Tat der Eindruck, der die Entscheidungen der französischen Herausgeber prägte.
dem Staat und dem Politischen, oder besser gesagt, der politischen Dimension im Zivilisationsprozess. Indem Elias den langfristigen Trend hin zur relativen Exklusion legitimer physischer Gewalt in sozialen Beziehungen hervorhob, wird durch seine Thesen zugleich der moderne Staat wenigstens in seinen erfolgreichen Formen (Frankreich, Großbritannien) zum Modell politischer Integration. Dadurch wäre der Staat mehr als ein historischer – und dadurch vergänglicher – Akteur im Zivilisationsprozess: er wird zur einzig plausiblen Form politischer Integration in weitreichend differenzierten Gesellschaften. Diese provokative Interpretation hat Vergleiche der Werke von Elias mit jenen Denkern des Politischen wie Thomas Hobbes4 und, vielleicht noch kontroverser, mit Carl Schmitt angeregt.5 In diesem Kapitel gehen wir davon aus, dass diese Lesart heuristisch ist. Elias’ Werke unter dieses Licht zu stellen offenbart einige der widersprüchlichsten Aspekte seiner Auffassung des Politischen, die man, um ihre Originalität zu erfassen, untersuchen muss. Die Frage, die ein „etatistisches“ Lesen der Werke von Elias aufwirft, ist, ob die Zentralität des Staates insbesondere in seiner Soziologie des Politischen, oder sogar in seiner Soziologie insgesamt, eine positive Bewertung des Staates als politische Form enthält. Deskriptiv-analytische und normative Elemente sind im Denken von Elias nur schwer voneinander zu trennen.6 Deshalb muss eine Lesart bevorzugt werden, die diese beiden Dimensionen als sich ständig gegenseitig informierend und miteinander interagierend zu betrachten versucht. Dies ist einer der Gründe, weshalb Vergleiche zwischen Elias’ Schriften und Staatsrechtlern oder Vertretern der politischen Theorie – Vergleiche, die solch eine etatistische Lesart antreiben – berechtigt sind, da sie zu belegen erlauben wie diese zwei Dimensionen in Elias’ Perspektive auf das Politische zueinander in Beziehung stehen. Wir beschäftigen uns zuerst mit einer scheinbar zentralen Dichotomie in Elias’ Werk, zwischen Krieg als Ausgangssituation in einem freien Wettkampf zwischen ähnlich großen Überlebenseinheiten und „monopolistische gebundene Konkurrenzkämpfe“ – also dem Übergang von freier, ungezügelter Konkurrenz hin zu einer befriedeten Form des Wettstreits zwischen interdependenten Gruppen. Wir zeigen, dass diese Dichotomie zu einer rückblickenden Aufwertung des Staates als politischer Form führt – und Vorrang über moralische Bedenken einnimmt, die man vor allem hinsichtlich ihrer von Natur aus gewalttätigen Herkunft haben könnte.7 Statt diese Schlussfolgerung als essenziell normativ zu verwerfen, muss sie, einschließ-
4 Siehe auch Linklater 2004, der gegenüber einer solchen Interpretation auch eine an Kant orientierte Lesart für gleichfalls möglich hält. 5 Haroche 1993. 6 Delmotte 2007. 7 Diese Aufwertung des Staates ist verschlungen mit der historischen Perspektive, die Elias zufolge jeder Soziologe aufgreifen muss. Aus demselben Grund argumentieren wir im nachfolgenden Kapitel, dass die markante Betonung der historischen und vergänglichen Natur des Staates eine deutliche Absage gegenüber einer einseitig etatistischen Interpretation seiner Soziologie ist.
lich ihrer Ambiguitäten, als integraler Teil von Elias’ ausgeprägt soziologischer und daher auch historischen Perspektive berücksichtigt werden.
2. Über Krieg, Monopolisierung und Pazifizierung: die „ideale“ Entwicklung des europäischen Staates Auf den ersten Blick mag Elias’ Auffassung des Politischen durchaus reduktionistisch anmuten. Sie wird im Wesentlichen in Über den Prozeß der Zivilisation als eine zentrale Dichotomie artikuliert, die von einem freien Konkurrenzkampf privater Machthaber, der oft unreguliert und mit Waffengewalt ausgetragen wird, zu einer Situation führt, in der innere Konflikte sowohl ohne Waffen als auch in ihren Zielen limitierter als gebundener Konkurrenzkampf erkennbar werden. Die langfristige Transformation einer Form in eine andere deutet für Elias auf eine generelle Richtung in der Dynamik des europäischen Staates hin. Der gegenwärtige politische Entwicklungsstand kann am besten durch die (relative) Abwesenheit von Gewalt charakterisiert werden. Im Kontrast mit der vorherigen Situation lässt sie sich definieren: „die Verfügung über das Monopol, die Besetzung seiner Schlüsselpositionen selbst entscheidet sich nicht durch einen einmaligen monopol-‚freien‘ Konkurrenzkampf, sondern durch regelmäßig wiederkehrende Ausscheidungskämpfe ohne Waffengewalt, die von dem Monopolapparat geregelt werden, durch monopolistisch ‚gebundene‘ Konkurrenzkämpfe. Es bildet sich mit anderen Worten das, was wir ein ‚demokratisches Regime‘ zu nennen pflegen“.8 Selbst wenn der letzte Teil dieses Zitats für Elias’ eigene Ansprüche eine übertriebene Vereinfachung darstellt und vielleicht ein provokativer Versuch war seinen Punkt zu verdeutlichen, unterstreicht es nichtsdestotrotz die Zentralität der internen Pazifizierung in seiner Problematisierung. Argumentiert man weiter, könnten wir sagen, dass diese belesenen historischen Beobachtungen, welche sein Hauptwerk prägen, im Grunde dem Zweck dienen die generellen Bedingungen zu prüfen, die in diesem Prozess der Befriedung eine Rolle spielen. Der Weg Frankreichs, wie er von Elias dargestellt wurde, liefert dafür die empirische Basis der „Soziogenese des Staates“, da er einem – nicht eindeutigen – Pfad folgt, welcher durch verschiedene Phasen zwischen diesen gegenüberliegenden Polen verläuft – von einer Situation freier, unregulierter Konkurrenz bis hin zu einer stabilisierten, befriedeten Konkurrenz. Diese allgemeinen Bedingungen sind dabei
8 Elias 1997, S. 151.
zweierlei: erstens ein bestimmtes Maß an Interdependenz und Arbeitsteilung;9 zweitens das Vorhandensein eines fiskalischen und eines militärischen Monopols, welche unter ihren jeweiligen Gesetzmäßigkeiten „zwei Seiten der gleichen Monopolstellung“ formen.10 Eine der Hauptschlussfolgerungen, die aus diesem Modell der historischen Analyse gezogen werden kann, zu der wir später zurückkehren werden, ist, dass – je nachdem wie sich dieser Prozess der Monopolisierung entfaltet – er determinieren würde welche Gestalt die moderne Form der Konkurrenz annimmt und zu welchem Ausmaß sie befriedet ist. Aber er spiegelt sich auch im Normativen, da die Konzentration der physischen und ökonomischen Gewaltmittel – ein Monopolisierungsprozess – eine Vorbedingung der Pazifizierung belegt. Diese Beschreibung fasst dadurch die Komplexität und den mehrdeutigen Charakter des Prozesses zusammen – eine Mehrdeutigkeit, die in vielen Stellen in Elias’ Werk gefunden werden kann: Entwicklungen in der fortschreitenden Zivilisierung sozialer Beziehungen haben ihr Gegenstück in der Konzentration von Gewalt und Kriegführung als ihrer Hauptantriebskraft. Wir müssen hier betonen, dass sich Elias sehr wohl dieses anscheinenden Widerspruchs bewusst war, und insbesondere des moralischen Widerstrebens, das ein rückschauender Beobachter bei dieser Beschreibung empfinden kann. Dementsprechend weist er sie geradeheraus zurück: „durch diese subjektivistische oder parteiische Betrachtung der Vergangenheit verdeckt man sich meist den Zugang zu den elementaren Bildungsgesetzlichkeiten und Mechanismen.“11 Stattdessen müssen distanzierte Betrachtungen den Beobachter zu folgender Erkenntnis führen: „Ohne gewaltsame Aktionen, ohne die Antriebe der freien Konkurrenz gäbe es kein Gewaltmonopol und dementsprechend auch keine Befriedigung, keine Zurückdrängung und Regelung der Gewaltausübung über größere Bezirke hin.“12 Aber ist diese Unterscheidung so klar und eindeutig zwischen distanzierter und „parteiischer“ Beobachtung der Geschichte? Selbst wenn diese Linie gezogen ist, kann argumentiert werden, dass Elias Beschreibung der Rolle des Krieges für die Staatsbildung zumindest zweischneidig erscheint. Auf der analytischen Ebene kann seine Analyse der gegenseitigen Beziehung zwischen militärischen und fiskalischen Monopolen tatsächlich realistisch und zynisch erscheinen, wobei der Staat in gewissem Maße seinen ihn legitimierenden Mantel einbüßt und seine fundamental auf Gewalt gegründete Herkunft offenbart, sehr im Sinne von Elias’ Selbststilisierung des
9
Zu diesem „funktionalen“ Determinismus siehe auch „Die Gesellschaft der Individuen“ (1939): „Abstimmungen und Wahlen, unblutige Machtproben zwischen verschiedenen Funktionsgruppen, wurden und sind als feste Institutionen der Gesellschaftssteuerung überhaupt nur bei einem ganz bestimmten Aufbau des Funktionszusammenhanges einer Gesellschaft möglich.“ Elias 2001, S. 32-33 [eigene Hervorhebung]. Siehe auch Elias 1970, S. 70f. 10 Elias 1997, S. 151. 11 Elias 1997, S. 228. 12 Elias 1997, S. 228.
„Soziologen als Mythenjäger“.13 Auf der normativen Ebene ist die Bewertung der Geschichte für Elias ein Ausbalancieren, in der die „Zurückdrängung und Regelung der Gewaltausübung“ das letztendlich Erstrebenswerte darstellt. Sie liefern den Maßstab, an dem historische Fakten gemessen werden müssen. Auch hier ist es unmöglich Elias’ Perspektive auf das Politische zu bewerten ohne die zwei mitunter konfligierenden Aspekte einer „objektiven“ historischen Darstellung und eine Bewertung der Pazifizierung als Horizont – oder zumindest als einer der möglichen Horizonte – eines Zivilisationsprozesses in Beziehung zu setzen. Diese Spannung lässt sich besser darstellen, wenn wir unseren Blick auf die Beschreibung der tatsächlichen Entstehungsgeschichte der fiskalischen und militärischen Monopole richten. Dem generalisierten Modell des Monopolmechanismus bei Elias liegt das Postulat einer Abfolge von Ausscheidungskämpfen zugrunde, welche notwendigerweise zu einer größeren Machtkonzentration führen.14 Kurzum, Krieg führt in einer Situation freier Konkurrenz bereits zu einem größeren Maß an Monopolisierung durch das Ausscheiden von Rivalen. Dennoch beinhaltet dieser Mechanismus selbst kein stabiles Monopol, da solche Monopole immer fragil und von Zerfall bedroht sind. Die Stabilisierung des Monopols kann sich nach Elias „erst in dem Maße, in dem mit der zunehmenden Funktionsteilung in einer Gesellschaft statt der Verfügungsgewalt über Böden die Verfügung über Geldmittel zur dominanten Besitzform wird“15 ergeben. Demzufolge ist ein fiskalisches Monopol, das mit der Monetarisierung wirtschaftlicher Beziehungen verbunden ist, notwendig dafür, dass das Monopol zum Zentralorgan der Gesellschaft als solche wird – also zum Staat.16 An dieser späteren Etappe, bereits jenseits der Situation freier Konkurrenz, wird die Rolle der Kriegsführung und ihrer Beziehung zur fiskalischen Monopolisierung deutlich. In seiner Analyse der Soziogenese des fiskalischen Monopols beschreibt Elias die langsame Institutionalisierung der normalen Besteuerung in Frankreich von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis zu Mitte des 16. Jahrhunderts. Diese Periode wird von zwei Phänomenen begleitet, die sich gegenseitig verstärken: „Nun wird der Krieg zu einer Dauererscheinung, und mit ihm werden es die Geldabgaben, die der Zentralherr zu seiner Führung braucht.“17 Elias betont insbesondere, dass diese Institutionalisierung nicht ohne Widerstand geschieht, denn Besteuerung hatte damals „ein ähnliches Ansehen, wie Raub und Erpressung.“18 In diesem Kontext ist das militärische Monopol in der Hand des Königs daher von entscheidender Bedeutung, um die widerstrebend Steuerzahlenden zur Abgabe zu zwingen, als auch um Feinde 13 14 15 16 17 18
Elias 1970, S. 51f. (Kapitel 2). Elias 1997, S. 153. Elias 1997, S. 233. Elias 1997, S. 233. Elias 1997, S. 294. Elias 1997, S. 290.
jenseits der Grenzen zu konfrontieren. Elias ist besonders daran interessiert zu zeigen, wie sich diese zwei Formen des Monopols gegenseitig verstärken: „Immer wieder ist es die in der Hand der Zentrale konzentrierte Kriegsmacht, die die Verfügungsgewalt der Zentralfunktion über die Abgaben sichert und steigert, und es ist die konzentrierte Verfügung über die Steuern, die eine immer stärkere Monopolisierung der physischen Gewaltausübung, der Kriegsmacht, ermöglicht.“19 Die Betonung dieser sich gegenseitig bestärkenden Eigenheiten des fiskalischen und militärischen Monopoles durch Krieg kann leicht zu dem Eindruck führen, dass es Elias im Kern darum ging die Herkunft als Zwangsgewalt des Staatsmonopols darzulegen. In der Tat wurde Elias gemeinsam mit Charles Tilly vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu als Verfechter einer „Gangster-Analogie“ beschrieben.20 Nach diesem Schema können Tilly zufolge zentrale Machthaber in Analogie zu heutigen Gangstern gesehen werden, da sie beide eine Bedrohung durch Krieg erzeugen und den Schutz gegen diese Bedrohung verkaufen.21 Dies kann als kritische und sogar zynische Darstellung erscheinen, denn „die regelmäßigen Geldabgaben, die Steuern, zahlt niemand, der sich nicht mittelbar oder unmittelbar dazu gezwungen fühlt.“22 Krieg stellt eine Bedrohung dar, welche die verschiedenen sozialen Gruppen dazu zwingt, das fiskalische Monopol als in ihrem besten Interesse zu identifizieren und anzuerkennen. Über die Beziehung der französischen Bourgeoisie zu königlicher Besteuerung schreibt Elias: „sie sind viel zu unmittelbar an einer erfolgreichen Abwehr der Engländer interessiert, um dem König Abgaben zur Kriegsführung verweigern zu können.“23 Selbst wenn Elias anerkennt, dass die Zeitgenossen jener Phase der gegenseitigen Konsolidierung des militärischen und fiskalischen Monopols die Besteuerung berechtigterweise als „Raub und Erpressung“ wahrnahmen, bleibt unserer Ansicht nach die „Gangster-Analogie“ auf ein analytisches Niveau beschränkt und hat keine Konsequenz für die normative Wertschätzung der Rolle, die Kriegführung im Zivilisationsprozess spielt. Einer der Hauptgründe ist kurzgesagt, dass Elias’ Perspektive nicht die eines damaligen Zeitgenossen ist. Im Gegenteil, objektives Wertschätzen ist ein Ausbalancieren und kann nur mit einer retrospektiven Perspektive beginnen. Kriegführung erscheint dann eindeutig positiv, wenn es gegen das letztendliche Re-
19 Elias 1997, S. 306-7. 20 Bourdieu 2012, S. 207. 21 „To the extent that the threats against which a given government protects its citizens are imaginary or are consequences of its own activities, the government has organized a protection racket. Since governments themselves commonly simulate, stimulate, or even fabricate threats of external war and since the repressive and extractive activities of governments often constitute the largest current threats to the livelihoods of their own citizens, many governments operate in essentially the same ways as racketeers“ (Tilly 1985, S. 171). 22 Elias 1997, S. 291. 23 Elias 1997, S. 297.
sultat des Prozesses abgewogen wird – die Einhegung von Gewalt und ihre drastische Zurückdrängung in private interpersonale Beziehungen. Neben dem eigentlichen Punkt, dass „ohne gewaltsame Aktionen, […] keine Zurückdrängung und Regelung der Gewaltausübung über größere Bezirke hin“ erfolgen kann, ist Kriegsführung im Elias’schen Denken auch konzeptualisiert als Offenlegung der zugrunde liegenden Einheit der Gesellschaft selbst und die Rolle des Staates als ihr regulierendes und koordinierendes Zentralorgan. In dieser Hinsicht erscheint die Dimension der Zwangsgewalt sekundär und in die integrierende Dimension eingebettet. Die integrierende Funktion der Kriegsführung war bereits in früheren Gesellschaften offensichtlich: „Wenn ein starker Feind von außen drohte, also zur Kriegsführung, war auch jemand nötig, […] der ihre Tätigkeit koordinierte, und der die letzten Entscheidungen traf. In dieser Situation trat die Interdependenz der vielen, zerstreut lebenden Herren wieder deutlicher zutage.“24 Nichtsdestotrotz wird Kriegsführung nur in Bezug auf eine bestimmte Phase der funktionalen Differenzierung zu einem zentralen Element im Monopolisierungsprozess, nämlich als das Monopol zunehmend den „ Charakter des obersten Koordinations- und Regulationsorgans für das Gesamte der funktionsteiligen Prozesse”25 gewann. In dieser Phase, so insistiert Elias, ziehen Zentralherrscher – und hier besonders der König Frankreichs – ihre Fähigkeit Macht zu akkumulieren und zu zentralisieren sowohl aus dem spezifischen Gleichgewicht zwischen widerstreitenden Gruppen innerhalb ihres Reiches als auch “in der Auseinandersetzung mit anderen Herrschaftseinheiten.”26 Wiederum illustriert hier das Beispiel Frankreichs die dialektische Beziehung zwischen internen gesellschaftlichen Schichten und Kriegsführung zur Stabilisierung der Herrschaft eines „obersten Koordinators“: „Die Angewiesenheit der Gruppen und Schichten dieser Gesellschaft auf einem obersten Koordinator, der den Austausch und die Zusammenarbeit der verschiedenen, gesellschaftlichen Funktionen in Gang hält, wächst erst mit ihrer Interdependenz, und sie wächst erst recht unter dem Druck einer Kriegsgefahr. Und so liefern sie dem, der die gemeinsamen Interessen, vor allem im Kampf mit äußeren Feinden, vertritt, dem König und seinen Vertretern, freiwillig oder unfreiwillig, auch hier sehr bald die Mittel, die zur Kriegführung notwendig sind; aber sie liefern damit zugleich auch dem Königtum die Mittel zu ihrer eigenen Beherrschung.“27
Ohne Zweifel besteht eine integrative Dimension in dieser Konzeption von Kriegführung. Bis zu einem gewissen Punkt macht Krieg abstrakte Dinge wie „Interdependenz“ oder „gemeinsames Interesse“ in den Augen der Gesellschaftsmitglieder 24 25 26 27
Elias 1997, S. 234. Elias 1997, S. 234. Elias 1997, S. 244. Elias 1997, S. 301.
greifbarer und bildet dadurch ein größeres und akkurateres Bewusstsein unter den Individuen bezüglich ihrer sozialen Interdependenz und ihrer Zusammengehörigkeit zu einem Ganzen. Selbst wenn diese integrative Dimension nicht überbewertet werden darf (interne Pazifizierung basiert letztlich darauf, dass antagonistische soziale Gruppen die Mittel zur Beherrschung ihrer selbst an den Staat übergeben und dieser jene monopolisiert), besteht die grundlegende Beziehung wie folgt: In einer differenzierten Gesellschaft gibt Kriegführung den Zentralmonopolen einen notwendigen Impuls zur Stärkung ihrer Koordinationsfunktion, die verfeindete soziale Gruppen mehr oder weniger anzuerkennen gezwungen sind. Nur die Zentralisierung dieser Koordinations- und Regulierungsfunktionen ermöglicht die Austragung von Konflikten zwischen antagonistischen sozialen Gruppen im Rahmen eines befriedeten Raumes. Diese besondere Stufe stellt kein Endpunkt oder ein festes Gleichgewicht in der politischen Integration dar, da dieser Prozess langfristig fortschreitet und immer größere Teile der Gesellschaft einbindet. Dennoch zeigt sie bereits, dass für Elias politische Integrationsprozesse auf eine übergeordnete Zentralmacht angewiesen zu sein scheinen.28 Aus diesen Argumenten folgt, dass von einer historischen Perspektive aus Kriegführung in seiner integrativen Dimension als notwendig bewertet werden muss. Wie Elias es formuliert: „Die Bildung von besonders stabilen und spezialisierten Zentralorganen für größere Gebiete ist eine der hervorstechendsten Erscheinungen der abendländischen Geschichte.“29
3. Der Staat als „Über-Ich“-Verstärker; Zivilisation und ihr Gegenstück Bis hierher wurde dargelegt wie der Zivilisationsprozess und Monopolisierungsprozesse ähnlich einem linearen Prozess durch verschiedene Stadien geht. In der Tat könnte man sagen, dass das Überschreiten von einer Form der Konkurrenz in eine andere nur in eine Richtung möglich sei. Wenn in einfacheren Gesellschaften Monopolisierungsprozesse schließlich zu einer Auflösung des Monopols führen, scheinen komplexere Gesellschaften, sobald diese Zentralorgane entwickelt haben, von ihrer 28 Siehe beispielsweise auch „Die Fischer im Mahlstrom“, während des Kalten Krieges geschrieben, wo Elias die internationalen Beziehungen thematisiert und dabei das Fehlen einer solchen Autorität auf höchster Ebene sehr genau illustriert: „Man mag fragen, warum ein stärkerer Staat den Wunsch haben sollte, einen schwächeren anzugreifen. Aber diese Frage trifft nicht den Punkt. Entscheidend ist, daß auf der zwischenstaatlichen Ebene die stärkere Machteinheit schwächere Gruppen angreifen kann. Da es niemanden gibt, der einen solchen Angriff verhindern kann, leben Menschengruppen, die ohne ein zentrales Gewaltmonopol aneinander gebunden sind, unweigerlich in einem Dauerzustand der Unsicherheit“ (Elias 1983, S. 129). Allerdings ist ein globaler oder Weltstaat nicht notwendigerweise die Lösung (siehe Delmotte / Majastre in diesem Band, 5. Jenseits des Nationalstaats). 29 Elias 1997, S. 235.
Dauerhaftigkeit charakterisiert zu werden. Wenn wir diesem linearen Modell nachgehen, dann kann in modernen Gesellschaften das Eindringen von Gewalt nur als Versagen erklärt werden eine dieser Stadien gänzlich abgeschlossen zu haben. Aus diesem Grund wenden wir uns nun dem „Negativ“ des Zivilisationsprozesses zu, d. h. Elias’ Versuch dieses Versagen zu konzeptualisieren – erneut mit einer Perspektive, die gemeinsam das Deskriptiv-Analytische als auch das Normative berücksichtigt. Wie zuvor dargelegt, mag Elias’ intellektuelles Unterfangen als er Über den Prozeß der Zivilisation zu schreiben begann auch der politischen Situation geschuldet gewesen sein, die er während der zweiten Hälfte der Weimarer Republik in Deutschland miterlebte. Erst sehr viel später würde er jedoch die Frage der Rückkehr der politischen und sozialen Gewalt in dieser Periode und deren Konsequenzen im Holocaust dezidiert ansprechen. Diese Studien über die Deutschen30 sind wahrscheinlich nicht die beste Geschichtsinterpretation der Entwicklung der deutschen Gesellschaft. Aber als ein Versuch das Versagen der regulativen Strukturen zu erklären, welche die Eindämmung von Gewalt außerhalb des politischen und sozialen Raumes sicherstellen, liefern die Studien in gewissem Sinne eine deutliche Stellungnahme. In den Studien vertritt Elias die These, dass der Staat als Zentralorgan der Regulierung eine absolut notwendige – wenn auch keine hinreichende – Bedingung ist, damit ein erfolgreicher Zivilisationsprozess stattfinden kann. Dieser Aspekt wird in der These am deutlichsten, in der Elias versucht, eine kausale Beziehung zwischen Deutschlands lang anhaltender Fragmentierung (oder, anders gesagt, der verspäteten Vereinigung unter einer zentralen Militärmacht) mit der Wiederkehr von Gewalt in der Politik herzustellen. Als weitere Variation der These vom deutschen Sonderweg postuliert Elias’ These, dass die einzigartige historische Entwicklung Deutschlands als eine politische Einheit auf das Versagen von Prozessen zurückzuführen ist, die anderswo „erfolgreicher“ waren – vor allem im Vereinten Königreich und Frankreich. Elias zufolge manifestiert sich dieses Versagen hauptsächlich in einer unzureichenden Integration der Mechanismen der Selbstregulierung im psychologischen Gleichgewicht von Individuen. Nur mit der effektiven langfristigen Zentralisierung politischer Autorität kann dieser wichtige Teil des Zivilisationsprozesses, das Modellieren eines korrespondierenden psychologischen Gleichgewichts, erfolgreich stattfinden.31 Die Pazifizierung sozialer Beziehungen impliziert in dieser Hinsicht eine Korrespondenz zwischen zwei Strukturen: jene des psychologischen Gleichgewichts des 30 Elias 1989. 31 Allerdings finden sich in Elias 1989 auch andere Interpretationen, zum Beispiel weist er auf die Bedeutung liberaler und demokratischer politischer Helden in der Nationalgeschichte hin, die in der deutschen Geschichte fehlen (S. 414). Siehe auch Mennell 1998, S. 227-250 bezüglich der Kontroversen zu Zivilisierungs-/Dezivilisierungsprozessen. Wir verfolgen hier bewusst eine Deutung, welche die erste zivilisierende Rolle dem monopolisierten Staat zuweist.
Individuums und jene der politischen Herrschaft. Diese zwei Strukturen können wiederum nur durch einen langfristigen „Lernprozess“ aufeinander abgestimmt werden. Die Form der Konfliktregulation, die „wir demokratisches Regime zu nennen pflegen,“ benötigt einen solchen Lernprozess: Elias weist bereits darauf hin, dass „der Parlamentarismus […] im wesentlichen eine Form der Regelung von Konflikten ohne Gewaltgebrauch [ist], und das hatten die Deutschen nie gelernt. Er verlangt eine enorme Selbstbeherrschung.“32 Elias beharrt darauf, dass autoritäre Regime einen externen Zwang ausüben und daher im Verlauf des Zivilisationsprozesses an einem bestimmten Abschnitt notwendig sein können um Selbstregulierung einzuleiten. Im Falle Deutschlands hat die geschichtliche Schwäche der Zentralmacht diesen Lernprozess verzögert, sodass eine autoritäre politische Struktur notwendig war, um die Regulierung sozialer Konflikte sicherzustellen. Nach 1918 und dem Wandel hin zu einem demokratischen Regime fehlte den Deutschen dieses externe Element, ohne dass sie ein adäquates Maß an Selbstbeherrschung erreicht hatten.33 Zumindest erscheint die Zentralisierung von Macht und Herrschaft eine notwendige Etappe im Zivilisationsprozess zu sein. An einer Stelle urteilt Elias sehr direkt über politische Regime und ihre Tauglichkeit hinsichtlich der psychologischen Entwicklungsstufe der jeweiligen Gesellschaftsmitglieder: Hätte Deutschland ein autokratisches Regime nach 1918 behalten und wäre das Bedürfnis der Deutschen nach Autorität erfüllt worden, wären Hitlers Machtergreifung und die nachfolgende Regression der Zivilisation sehr unwahrscheinlich gewesen.34 Diese These über das Versagen des Pazifizierungsprozesses in Deutschland betont nochmals die Zentralität des Staates als zivilisierende Kraft. In der Tat erscheint die Figur der Zentralmacht noch unausweichlicher, da die Angemessenheit zwischen psychologischen und politischen Strukturen nur auftreten kann, wenn ein „externer“ (sozialer und dadurch auch politischer) Zwang für eine hinreichende Dauer seine Rolle gespielt hat.35
32 Elias 1990, S. 78. 33 Siehe auch Stephen Mennells The American Civilising Process für eine weitere nuancierte Erkundung dieser Perspektive (Mennell 2007, S. 122-157). 34 In einem Interview (Elias 1990, S. 79): Interviewer: „Dann wäre es vielleicht für Deutschland besser gewesen, wenn der Kaiser an der Macht geblieben wäre“. Elias: „Das meine ich auch, ja. Wahrscheinleich wäre dann Hitler nicht gekommen – obwohl man dessen nicht sicher sein kann: in Italien hat der König Mussolini geholt.“. 35 Erneut verdeutlich der „Amerikanische Zivilisationsprozess“, dass manche Prozesse notwendigerweise ausreichend Zeit benötigen, um erfolgreich zu wirken. Um das gegenwärtig außerordentlich hohe Ausmaß an Gewalt und Aggressivität in den Vereinigten Staaten (vor allem im Süden) zu erklären, argumentiert Spierenburg, dass im Vergleich mit Europa (z. B. Frankreich) die USA „keine Zentralisierungsphase durchlief, bevor die Demokratisierung begann“. Um es sehr kurz zu machen: Er ist der Ansicht, dass „die Demokratie zu früh nach Amerika kam“, als „die Einwohner noch nicht ausreichend Zeit hatten sich daran zu gewöhnen unbewaffnet zu sein (Spierenburg 2006, S. 109-110, zitiert in Mennell 2007, S. 144).
Die Verbindung zwischen einer Persönlichkeitsstruktur und einer politischen Struktur impliziert eine erweiterte Kapazität des Individuums zu größerer Selbstkontrolle und Autonomie, welche auch eine normative Bewertung des Staats beinhalten kann.36 Tatsächlich führt die Monopolisierung physischer Gewalt nicht nur zur Niederlegung der Gewaltmittel aus privater Hand. Für Elias findet mit deren Übergabe an die Zentralmacht auch ein Lernprozess statt, in dem Individuen nach und nach lernen wie man sich selbst in einer zunehmend „zivilisierteren“ Art und Weise beherrscht. Die zentrale Rolle des Koordinators und Regulierers ist nicht nur für Zähmung und Zwang notwendig, sondern auch um eine Weiterentwicklung individueller Selbstkontrollen zu prägen. Daher, als die französische Bourgeoisie „dem Königtum die Mittel zu ihrer eigenen Beherrschung“ (siehe oben) lieferte, gaben sie auch – und wichtiger – sich selbst die Möglichkeit sich zu beherrschen, ähnlich wie den Deutschen nach 1918 „nach dem starken Mann zu rufen begannen – dem starken Mann, der ihnen wieder die Möglichkeit geben würde, sich selbst zu beherrschen.“37 In diesem Sinne liefert der Staat auch die notwendige Bedingung für eine stabile politische Integration.
4. Eine Bewunderung des Staates à la Schmitt? Eine Schlussfolgerung, die wir von diesen Entwicklungen ziehen können, ist, dass Elias’ Vision des Politischen stark geprägt wurde von seinem Eindruck der erstaunlichen Langlebigkeit und Anpassungsfähigkeit von Staatsstrukturen – soll heißen, Monopolen –, welche er für „eine der hervorstechendsten Erscheinungen der abendländischen Geschichte“ hielt. Wie sein Zeitgenosse Carl Schmitt betonte auch Elias die interne Pazifizierung als definierendes Element der europäischen Geschichte. Das ist einer der Gründe, weshalb Elias’ Überlegungen in dem Vorwort, das Schmitt für Der Begriff des Politischen 1963 schrieb, eine gewisse Resonanz fanden: „Es gab wirklich einmal eine Zeit, in der es sinnvoll war, die Begriffe Staatlich und Politisch zu identifizieren. Denn dem klassischen Staat war etwas ganz Unwahrscheinliches gelungen: in seinem Innern Frieden zu schaffen und die Feindschaft als Rechtsbegriff auszuschließen. Es war ihm gelungen, die Fehde, ein Institut des mittelalterlichen Rechts, zu beseitigen, den konfessionellen Bürgerkriegen des 16. und 17. Jahrhunderts, die auf beiden Seiten als besonders gerechte Kriege geführt wurden, ein Ende zu machen und innerhalb seines Gebietes Ruhe, Sicherheit und Ordnung herzustellen.“38 36 Philippe Raynaud argumentiert, dass Elias bewusst von den gleichen Fragen wie Hume, Rousseau oder Kant bewegt wurde über die ethische und gesetzliche Bedeutung der Entwicklung von Zivilität (parallel zur westlichen Staatsbildung) und die politischen Unterschiede der europäischen Nationen hinsichtlich der Wahrnehmung von Zivilität und Zivilisation im jeweiligen Fall (Raynaud 2013, S. 246). 37 Elias 1990, S. 77. 38 Schmitt 2009, S. 11.
Um diese Parallele weiterzuführen, hebt Haroche hervor,39 dass Elias und Schmitt einen gemeinsamen Maßstab historischen Fortschritts miteinander teilen, wobei die Einhegung physischer Gewalt als wünschenswertes Ziel dargestellt wird: „Die Hegung und klare Begrenzung des Krieges enthält eine Relativierung der Feindschaft. Jede solche Relativierung ist ein großer Fortschritt im Sinne der Humanität.“40
Die zwei Teile dieses Zitats scheinen in einer eindeutigen Weise zusammenzufassen, was letzten Endes logische Konsequenzen von Elias’ Problematik sein könnten. In dieser Hinsicht stellen sie einen nützlichen Vergleichsmoment dar, wenn man versucht, Elias’ Gedanken über das Politische zu bewerten. Gestehen wir uns ein, dass sowohl Schmitts als auch Elias’ Denken über das Politische die Pazifizierung und Stabilisierung des befriedeten politischen Raums als Hauptanliegen miteinander teilen, dann stellt sich die Frage, ob dieses Anliegen logischerweise dahin führt erstens das Politische mit dem Staat gleichzusetzen und, zweitens ein schlussendlich positives Urteil über die historische Rolle des Staates zu fällen. Diese Interpretation ist umso verlockender, da man in der Tat argumentieren kann, dass Elias’ und Schmitts Arbeiten beide in der gleichen Epoche reiften und die Ausbreitung politischer Feindschaft innerhalb der deutschen Gesellschaft in der letzten Periode der Weimarer Republik thematisierten. Vorsicht ist dennoch angebracht, wenn solch ein „kontextuelles“ Argument erhoben wird. Bei Schmitt hatte der explizite Bezug zu diesem Kontext – zum Beispiel die grundlegend polemische Intention von Der Begriff des Politischen gegen den Versailler Vertrag – die Tendenz, im Laufe mehrere Überarbeitungen, oder genauer: durch das Verfassen neuer Vorworte, zu verblassen. Müller,41 neben anderen, hebt hervor wie Carl Schmitt nach 1945 versuchte, seine vorherigen intellektuellen Schriften von ihren zahlreichen Bezügen zur Weimarer- und Kriegszeit zu reinigen. Das ist der Grund, weshalb Schmitts hier zitierte Formulierung, welche für die Ausgabe von 1963 geschrieben wurde, als Produkt einer retrospektiven Selbstinterpretation gesehen werden sollte und nicht als Wiedergabe seiner ursprünglichen Anliegen von 1932. Daher dient es nur heuristischen Zwecken, dass wir hier vorschlagen möchten, im Zuge eines Kurzvergleiches diese Konvergenzen genauer zu betrachten – und die externen, kontextuellen Argumente beiseitezulassen. Die erste Angelegenheit bezieht sich auf die Gleichsetzung des Politischen mit dem Staat. Diese konzeptuelle Gleichsetzung vertritt Schmitt geradeheraus – wenn auch nur in einem „klassischen“ Kontext. Für ihn ist es historisch abhängig von einem definierten Maß interner Pazifizierung: Nur in einem Kontext wo der Staat keine internen Feinde mehr bekämpfen muss, sondern lediglich noch zu entscheiden hat, ob ein externer „Anderer“ als 39 Haroche 1993, S. 47. 40 Schmitt 2009, S. 11. 41 Müller 2003, S. 7-8.
Freund oder Feind einzustufen ist, ist diese Gleichsetzung „sinnvoll“.42 Wie bereits in unserem vorherigen Punkt dargelegt, argumentiert Elias ganz ähnlich mit besagter Kombination von Kriegführung gegen externe Feinde und Monopolisierung der militärischen Mittel in den Händen eines „obersten Koordinators“, des Staates, die eine eingegrenzte (politische) Gemeinschaft hervorbringt, in der interne Konflikte ohne einen Rückfall in Gewalt gelöst werden können. Das Beispiel Frankreichs zeigt, dass unter externen Bedrohungen die Feindschaft zwischen sozialen Gruppen in eine befriedete Form der Konkurrenz überführt werden kann – in der das Gefühl gemeinsamer Verbundenheit ein relevantes Element wird. Deshalb erscheint eine Schmittianische Deutung von Elias bis zu einem gewissen Grad legitim, denn sie offenbart eine (normative) Gleichsetzung des Politischen mit dem Staat. Der Staat wird nicht nur als historische Etappe in einer kontinuierlichen Transformation sozialer Beziehungen betrachtet, sondern auch als die einzige Form der Organisation, die in einem bestimmten Kontext dazu in der Lage ist, interne Konflikte zu zähmen und durch ein Gefühl der Verbundenheit zu unterbinden, während zugleich das Gefühl der Feindschaft nach außen abgeleitet wird.43 Der zweite Punkt, der angesprochen werden muss, bezieht sich auf das retrospektive Urteil, das über die historische Rolle des Staates gefällt wurde. Hier wiederholt Schmitts Bewunderung der pazifizierenden Rolle des Staats als „ein großer Fortschritt im Sinne der Humanität“ die Überlegungen von Elias über die (Fehl-)Wahrnehmung der historischen Rolle des Staates. Eine objektive Beurteilung der historischen Rolle des Staates muss Elias zufolge die mit Monopolisierungsprozessen einhergehende Gewalt und den allgemeinen Rückgang des Gewaltgebrauchs abwägen. In gewissem Sinne kann diese historische Beurteilung als unkontrovers betrachtet werden. Es zeigt uns nichtsdestotrotz, dass die starke Bindung zwischen dem Politischen und dem Staat keineswegs nur auf einer analytischen Ebene untersucht werden kann, sondern dass die Verflechtung dieser deskriptiven Ebene mit einer normativen Bewertung der Rolle des Staates in den Schriften von Elias zumindest Berücksichtigung verdient.
5. Schlussfolgerung Zwei starke Einwände gegen einen solch vorschnellen Parallelismus müssen in dieser Schlussfolgerung vorgebracht werden. Der erste Einwand bezieht Schmitts und Elias’ jeweilige Verbindungen zu jener historischen Bewegung, die sie analysieren 42 Schmitt 2009, S. 43-44. 43 Wir möchten hier nicht die Diskussion eröffnen, ob die Kriterien des Politischen von Carl Schmitt besser als normative oder phänomenologische Kriterien (miss)verstanden werden sollten. Eine klärende Diskussion findet sich bei Böckenförde 1991, insb. S. 345-347.
wollen und die sie zugleich als Zeitzeugen miterleben. Als wir vorschlugen, Elias’ Position als „etatistisch“ zu beschreiben, entschieden wir uns, eine starke Parallele mit Carl Schmitt als Vertreter einer solchen Position zu verteidigen – demzufolge präsentieren beide eine positive Bewertung des Staats als ein historischer Akteur und eine Gleichsetzung des Politischen mit dem Staat. Aber beide Denker können auch als „post-etatistisch“ angesehen werden, da sie beide den Staat als eine historisch eingebettete und zum Teil überkommene Figuration betrachten. In dieser Hinsicht ist eine logische Konsequenz von Schmitts Identifikation des Politischen mit dem Staat in Der Begriff des Politischen eine Beschreibung des Zeitalters nach dem Staat als ein post-politisches Zeitalter, wo selbst die archetypische „politische“ Beziehung – die Beziehung zwischen Staaten – zu lediglich einem „Spiel“44 abgewertet wird. Demgegenüber stellt Elias’ Position einen eigenständigen Versuch dar, das objektive Ende des Staates-als-Überlebenseinheit (aber nicht als ein zerstörerischer), der weder das Ende von Gemeinschaftsgefühlen noch von politischer Integration markiert, zu denken.45 Der zweite Einwand ist eher methodologischer Natur: wenn es darum geht eine Theorie des Staates zu schreiben, gibt es auch eine fundamentale Differenz zwischen den Schmitt’schen und Elias’schen historiographischen Ansätzen – eine Differenz, die auch Konsequenzen auf ihre jeweiligen normativen Standpunkte hat. Während Schmitt die Substanz des Staates zu umreißen versucht, indem er ihm einen Anfang und ein Ende gibt,46 gehört Elias zu jenen Theoretikern, die die Entwicklung des Staates als Prozess, der durch verschiedene Etappen geht, analysieren, und die sich daher weigern, ihm eine substanzielle Existenz zuzuschreiben. Diese Differenz zwischen Schmitt und Elias – einerseits ob das post-staatliche auch als post-politisches Zeitalter betrachtet werden sollte und andererseits methodologisch – ist nicht reduzierbar auf eine Opposition zwischen Optimismus und Pessimismus oder Katastrophismus. Viel eher werfen sie ein Licht auf die Unverwechselbarkeit (Originalität) von Elias’ soziologischem epistemischen Projekt.
6. Literatur Böckenförde, Ernst-Wolfgang, 1991: Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts. In: Ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a.M., S. 344-366. Bourdieu, Pierre, 2012: Sur l’État, Cours au collège de France 1989-1992, Paris.
44 Schmitt 2009, S. 111. 45 Siehe Delmotte / Majastre in diesem Band. 46 Möllers betrachtet dies als instrumentell, um „eine Art juristischer Gründungsmythos des Staats“ entstehen zu lassen (Möllers 2011, S. 224).
Delmotte, Florence, 2007: Norbert Elias: la civilisation et l’Etat. Enjeux épistémologiques et politiques d’une sociologie historique, Bruxelles. Elias, Norbert, 1970: Was ist Soziologie? Weinheim. Elias, Norbert, 1983: Die Fischer im Mahlstrom. In: Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I. Herausgegeben von Michael Schröter, Frankfurt a.M., S. 73-183. Elias, Norbert, 1989: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Michael Schröter, Frankfurt a.M. Elias, Norbert, 1990: Norbert Elias über sich selbst, Frankfurt a.M. Elias, Norbert, 1997 (erste Ausgabe 1939): Über den Prozeß der Zivilisation, Bd.2, Frankfurt a.M. Elias, Norbert, 2001: „Die Gesellschaft der Individuen“ (1939). In: Die Gesellschaft der Individuen. Herausgegeben von Michael Schröter, Gesammelte Schriften, Bd. 10, Frankfurt a.M., S. 15-98. Elias, Norbert, 2007: The Fishermen in the Maelstrom (1981). In: Involvement and Detachment. Collected Works Bd. 8. Herausgegeben von Stephen Quilley, Dublin, S. 105-178. Haroche, Claudine, 1993: Retenue dans les moeurs et maîtrise de la violence politique. La thèse de Norbert Elias. In: Philippe Braud (Hrsg.), La violence politique dans les démocraties politiques occidentales, Cultures et conflits, 1993/9-10, S. 45-59. Linklater, Andrew, 2004: Norbert Elias, the ‚Civilizing Process’ and the Sociology of International Relations. In: International Politics, 2004/41, S. 3-35. Mennell, Stephen, 1998: Norbert Elias: An Introduction, Dublin. Mennell, Stephen, 2007: The American Civilizing Process, Cambridge. Möllers, Christoph, 2001: Staat als Argument, Tübingen. Müller, Jan-Werner, 2003: A Dangerous Mind. Carl Schmitt in Post-War European Thought, New Haven und London. Raynaud, Philippe, 2013: La politesse des Lumières. Les lois, les mœurs, les manières, Paris. Schmitt, Carl, 2009 (Neusatz auf Basis der Ausgabe von 1963, erste Ausgabe 1932): Der Begriff des Politischen, Berlin. Spierenburg, Pieter, 2006: Democracy Came Too Early: A Tentative Explanation for the Problem of American Homicide. In: American Historical Review, 111/1, S. 104-114. Tilly, Charles, 1985: War Making and State Making as Organized Crime. In: Evans, Peter, Rueschmeyer, Dietrich und Skocpol, Theda (Hrsg.), Bringing the State Back In, Cambridge, S. 169-191.
Florence Delmotte / Christophe Majastre Das Politische und der Staat, oder warum Ersteres nicht auf Letzteres reduziert werden kann Über Elias’ „Etatismus“ (Teil 2 / 2) 1. Einleitung Im Einklang mit seinem umfassenden Ansatz und der Ablehnung jeglicher Art von „Pseudo-Spezialisierung“1 betrachtet die Soziologie von Norbert Elias das Politische kaum als eigenständigen Bereich oder autonomes Untersuchungsfeld. Natürlich gibt es eine generelle Anerkennung, dass sich einige Schriften seines Werkes expliziter politischen Fragen widmen: Diese sind Über den Prozeß der Zivilisation,2 Studien über die Deutschen,3 zusammen mit einigen späteren Essays wie „Die Fischer im Mahlstrom“,4 die sich mit den internationalen Beziehungen im Kontext des Kalten Krieges beschäftigen. Oft zitiert wurde auch aus Die Gesellschaft der Individuen das Kapitel „Wandlungen der Wir-Ich-Balance“5, welches nach wie vor von aktuellem Interesse ist und die postnationale Integration und gegenwärtige damit im Zusammenhang stehende Themen wie die Europäische Union und Effekte des Hinterherhinkens des nationalen Habitus behandelt.6 In dem Maße, in dem sie historische Modelle vorschlagen, die zur Charakterisierung realer sozialer Situationen dienen, verweisen allerdings selbst die abstraktesten Teile seines Werks – wie die Spielmodelle – auf die verflochtene Entwicklung politischer Strukturen und Institutionen mit anderen Aspekten des menschlichen Lebens. Solche Modelle sind keine fiktionsähnlichen Abstraktionen, deren Zweck es ist vor- oder apolitische Situationen mit politischen Situationen zu kontrastieren – wie wir das beispielsweise bei Denkern wie Locke und Hobbes bis zu Carl Schmitt finden. Deshalb denken wir, dass Elias’ Soziologie, sofern sie geschichtliche Phänomene – empirisch und „realitätskongruent“ – untersucht, tatsächlich für sich eine politische Soziologie konstituiert. Nimmt man den historischen Charakter von Elias’ Soziologie ernst, kann die etatistische Lesart seines Werks hinterfragt werden, wodurch sich Parallelen mit Denkern ergeben, die einen ontologischen Ansatz auf das Politische (wie Schmitt)7 vor1 2 3 4 5 6 7
Beispielsweise deutlich zurückgewiesen in Elias 1983. Elias 1939/1969/1997. Elias 1996. Elias 1983. Elias 2001. Siehe auch Delmotte 2012. Siehe auch Majastre / Delmotte in diesem Band.
schlagen. Während solch eine Interpretation legitim ist und die überragende Bedeutung des Staates als historische Figur in Elias’ Werk würdigt, zeigt eine umfassendere Sichtung, dass seine Soziologie es nicht erlaubt, das Politische auf den Staat als ein in Europa entstandenes Beispiel einer Überlebenseinheit, die auf Frieden diesseits und Krieg jenseits der Grenzen basiert, zu reduzieren. Sie erlaubt auch Einwände, dass Elias letzten Endes den Staat als den einzigen Akteur im Zivilisationsprozess bewunderte, zu widerlegen. Tatsächlich argumentieren wir, dass Elias es nicht nur ablehnt, den Staat als die einzig mögliche Form politischer Integration zu betrachten, sondern dass er auch auf soziologische Art und Weise jene Prozesse zu erklären versucht, die nicht auf die Monopolisierungsprozesse, welche für die Herausbildung des Staates zentral waren, reduzierbar sind und ihnen letztendlich entgehen. Diese Versuche der Berücksichtigung von Prozessen – wie beispielsweise Individualisierung und Demokratisierung –, die nicht vollständig durch den Staat noch im Staat erklärbar sind, obwohl sie zugleich offensichtlich viel mit den Staatsprozessen zu tun haben, sind eine der Hauptoriginalitäten von Elias’ Soziologie. Die späteren Schriften (und bereits die Schlussfolgerung von Über den Prozeß der Zivilisation) behandeln beispielsweise das radikale Überholen des modernen Staats in seiner nationalen Gestalt und seines Versagens im deutschen Umfeld im 20. Jahrhundert. Außerdem setzen sie sich mit der Bedeutung der Demokratie auseinander, insbesondere der institutionellen Demokratie, die in manch anderen Teilen seines Werkes oft ignoriert oder zumindest unterschätzt wird. Hier verleitet der Anstoß einer soziologischen Herangehensweise an diese historischen Phänomene auch Elias dazu, sich mit spekulativeren und philosophischeren Fragen zu befassen und sich der Möglichkeit zu öffnen die politische – und nicht historische – Notwendigkeit einer postnationalen Integration auf der Ebene der Menschheit zu berücksichtigen. Auch wenn diese „kosmopolitischen Intuitionen“ von Habermas und Kant beeinflusste Akzente8 durchklingen lassen, verlassen sie keinesfalls jene Art von ‚Realismus‘, den Elias als Basis der soziologischen Untersuchung voraussetzt.
8 Die harsche Kritik, die sich gegen die Kantische Philosophie wandte (und ihre transzendentale Dimension, anscheinend nach Elias Definition auch ahistorisch), ist eine Konstante in Elias’ Denken. Es zieht sich durch die Gesammelten Schriften und richtet sich dadurch auch gegen Kants zeitgenössische Unterstützer wie Jürgen Habermas, obwohl Elias und Habermas in einigen Kernpunkten wie dem Fokus auf Sprache und Sprachgemeinschaften eine offensichtliche Nähe haben (Mennell 1998, S. 277, der Richard Kilminster und dessen Einleitung zu Elias’ The Symbol Theory zitiert (London, 1991, S. vii-xxv).
2. Eine kurze Betrachtung der Theorie der Spielmodelle Die Theorie der Spielmodelle in Was ist Soziologie?9 erscheint auf den ersten Blick als Elias’ ahistorischster Beitrag. Sie entstammt keinem Text, der bereits auf den ersten Blick als Teil einer eigenständigen „historisch-politischen“ Arbeit betrachtet werden könnte wie beispielsweise der zweite Band von Über den Prozeß der Zivilisation oder Studien über die Deutschen. Aber die Theorie der Spielmodelle scheint (ebenfalls) die lediglich partielle Gültigkeit einer etatistischen – und in der Tat statischen – Interpretation von Elias’ Ansatz über das Politische zu bestätigen. Diese Theorie verdeutlicht einerseits: „Macht ist nicht ein Amulett, das der eine besitzt und der andere nicht; sie ist eine Struktureigentümlichkeit menschlicher Beziehungen – aller menschlichen Beziehungen.”10 Sie offenbart zudem auch die Zentralität von Wettkampf oder Konflikt und die Notwendigkeit ihrer Regulierung im sozialen Leben als Voraussetzung des Überlebens. In diesem Ausmaß erscheint es auf den ersten Blick tatsächlich so, dass der „unvermeidliche“ Charakter des Staates bestätigt wird (in einer eher an Hobbes oder gar Locke als an Schmitt angelehnten Interpretation). Wenn der moralische Standpunkt in Elias’ „unnormierter Verflechtung“ nicht deutlich ist, kann man die Tatsache betonen, dass es einerseits eine tödliche Konkurrenz ist, die zugleich auch die Einsetzung einer zivilen Regierung zur Garantie der eigenen Erhaltung, Existenzsicherheit und Schutzes in Hobbes Leviathan legitimiert (1651, Kapitel XVII: Of the causes, generation, and definition of a commonwealth). Andererseits konkurrieren bei Elias die zwei Stammesgruppen in der Wildnis bei der Jagd nach Nahrung (nicht nach Ehre und Würde), ähnlich wie bei John Locke das Individuum im Naturzustand nach Nahrung sucht (Second Treatise of Civil Government, 1689, Kapitel V: Of Property). Darüber hinaus schreibt Elias, wiederum in gewissem Sinne Locke folgend, dass die zwei Gruppen hungrig sind. Aber wenn Arbeit und Eigentum, wie auch Leben, Tod und Hunger per Definition dem Politischen in Lockes Philosophie vorausgehen, ist eine solche Einschränkung in Elias’ Soziologie nicht relevant. Demzufolge macht, selbst wenn eine Analogie zwischen Lockes und diesem Modell der unnormierten Verflechtung gezogen werden kann, eine Unterscheidung zwischen vorpolitischen und politischen Situationen für den Elias’schen Ansatz wenig Sinn. Es gibt in der Geschichte keinen vorpolitischen Naturzustand, während es allerdings selbstverständlich eine umfassende vorstaatliche Ära gibt, wie es sicherlich aus dem gleichen Grund auch eine post-staatliche Ära geben sollte. Dies ist demnach ein verständlicher, erster logischer, sogar trivialer, Grund warum das Politische als solches nicht auf den Staat reduziert werden sollte, welcher (nur) eine der geschichtlichen Formen ist; jene, die sich „notwendigerweise“ der modernen westeuropäischen Gesellschaft aufdrängte. Letztlich ist die 9 Elias 1970/2009, S. 75-109. 10 Elias 1970/2009, S. 77, unsere Hervorhebung.
Idee einer Progression, die aus der eigentlichen Präsentation der Spielmodelle resultierte, sogar sehr eloquent. Spielmodelle sind zunehmend „komplex“ und zunehmend ungleich hinsichtlich ihrer Verteilung von Chancen, wodurch sie eine Parallele mit einigen Aspekten des westlichen Zivilisationsprozesses, der in seinem Hauptwerk dargelegt wurde, nachdrücklich suggerieren. An diesem Punkt bedeutet die ernsthafte Berücksichtigung des historischen Charakters des Staates, dass vor- oder nichtstaatliche politische Situationen ebenfalls ihre Regeln haben. Diese Vorstellung wird in Was ist Soziologie? noch deutlicher unterstellt als in Über den Prozeß der Zivilisation. Zugleich muss man sich eingestehen, dass der Staat nichts Unveränderliches ist: Er ist beispielsweise nicht auf seine Monopole reduzierbar. Politische Demokratisierung, welche Elias bemerkenswerterweise im letzten Spielmodell ansprach,11 kann lange nach der Soziogenese eines Staates auftreten, wenn man sich beispielsweise die französische Staatswerdung vor Augen führt. Nichtsdestotrotz gilt es die Wurzeln der Demokratisierungsprozesse in den frühen Wandlungstendenzen von privaten zu öffentlichen Staatsmonopolen zu suchen, die genau vorherbestimmen und zu einem gewissen Grad die Ausdehnung der Anteile an der Machtausübung begünstigen.12 Anders gesagt, Demokratisierung und Individualisierung, die im 20. Jahrhundert eine bedeutende Rolle zu spielen begannen, sind selbst Konsequenzen langfristiger ungeplanter Prozesse; sie unterscheiden sich von der Staatsbildung, aber sie entstammen den gleichen sozialen Prozessen, die in manchen Fällen erst die absolutistischen Staaten hervorbrachten. Jeder dieser Prozesse entsteht aus Interdependenz, ein zentrales Konzept, das als Art Lokomotive der Geschichte zugleich zunehmende Integration und zunehmende Konkurrenz beinhaltet (und unter bestimmten Bedingungen und vom Standpunkt des Einzelnen auch eine gewisse Selbstdistanzierung sowie größere und nuanciertere Selbstzwänge umfasst). Daher gibt es geschichtlich keinen Grund, weshalb solche zunehmenden Integrations- und Konkurrenzdynamiken auf die Grenzen des Staates oder der Staaten beschränkt sein sollten. Im nachfolgenden versuchen wir zu zeigen, dass der Elias’schen Soziologie entsprechend das Politische nicht auf den Staat in seiner ersten Bedeutung als Überlebenseinheit reduziert werden kann, und zwar hauptsächlich aufgrund seines historischen und sich entwickelnden Charakters. Dieser evolutionäre oder prozessuale Charakter des Staates hob gar den Widerspruch zu seiner ursprünglich definierenden Funktion auf: der einer Überlebenseinheit. Elias zufolge gab der Staat im 20. Jahrhundert diese Funktion an andere supranationale Einheiten ab – letztlich an die Menschheit – und/aber behielt andere, symbolische und integrative, vermutlich wichtige, Funktionen.13 Um die Position, die im Folgenden entwickelt wird, knapp 11 Elias 1970/2009, S. 70ff. 12 Elias 2012, S. 307; 310. 13 Elias 2001.
zusammenzufassen: Es wurde in den letzten Jahrzehnten offensichtlicher als jemals zuvor, dass das Politische weder auf den Staat-als-Überlebenseinheit reduziert werden konnte noch auf den Staat schlechthin (oder in einer umfassenderen und sich entwickelnden Bedeutung). Eine Reihe von Phänomenen, die oft unter dem Begriff „Globalisierung“ erfasst werden, enthalten oder offenbaren tatsächlich ein offensichtliches „Abspalten“ (oder definitive Spaltung) der politischen Funktionen des Staates in den Feldern Sicherheit, Wirtschaft, Kultur, Demokratie oder sozialer Integration.
3. Der Staat als historische und umkämpfte Form einer Überlebenseinheit Wie bereits gesagt entstand der Staat zuerst als eine Überlebenseinheit besonderer Art. Was ist eine Überlebenseinheit? In Elias’ Begriffen wird diese zuerst durch ihre „Funktion“ definiert und ihr spezifisch menschlicher Charakter liegt in der relationalen Dimension: „Seine Funktion ist offensichtlich, es handelt sich hierbei um Zusammenschlüsse von Menschen zur gemeinsamen Verteidigung ihres Lebens und des Überlebens ihrer Gruppe gegen Angriffe von anderen Gruppen oder auch zum gemeinsamen Angriff auf andere Gruppen aus Gründen mannigfacher Art. Die primäre Funktion des Zusammenschlusses ist also der Schutz vor der physischen Vernichtung durch andere oder die physische Vernichtung von anderen. Verteidigungs- und Angriffspotentiale solcher Einheiten sind unabtrennbar. Nennen wir sie also „Schutz- und Trutz-Einheiten“ oder „Überlebenseinheiten“. Auf der gegenwärtigen Stufe der Gesellschaftsentwicklung bilden die Nationalstaaten ihre Repräsentanten. Morgen werden es vielleicht die Integrationen mehrerer ehemaliger Nationalstaaten sein. Die Größe und Struktur wechselt. Die Funktion bleibt die gleiche. Auf jeder Stufe hebt die Bindung und Integration von Menschen zu Verteidigungsund Angriffseinheiten diesen Verband aus allen anderen heraus. Diese Überlebensfunktion oder der Gebrauch physischer Gewalt gegen andere schafft unter Menschen Interdependenzen spezifischer Art.“14
Zweitens unterstreicht diese Passage sehr deutlich, dass der Staat „nur“ mit einer historischen Form korrespondiert, welche, in einer partikularen Phase, die Funktionen 14 Elias 1970/2009, S. 151-152. Lars Bo Kaspersen hebt ebenfalls die doppelt (innere und äußere) relationale Dimension menschlicher Überlebenseinheiten hervor. Er schreibt: „A survival unit is a political and social order constituted in relations to other survival units. It can take different forms such as bands, tribes, city-leagues, city states and nation-states. Another way to characterize a survival unit is to see it as a process of constantly organizing and reorganizing in order to survive and consequently, with an ability to provide security and material reproduction. Nevertheless, on that point, nothing indicates a difference between human beings and other animals: all mammals (at least) also struggle for food, shelter and protection. What would be therefore distinctly human is the relational definition of survival units. What defines a (human) survival unit as such is the confrontation with another one, or with other ones” (Kaspersen 2014, S. 3).
einer Überlebenseinheit erfüllt. Zuvor, in Über den Prozeß der Zivilisation, in der wichtigen (und strittigen) Passage Über den Monopolmechanismus, weist Elias darauf hin, dass „[d]ie Gesellschaft, die wir die Gesellschaft der neueren Zeit nennen, ist, vor allem im Abendland, durch einen ganz bestimmten Stand der Monopolbildung charakterisiert.“15 In anderen Worten, der Staat ist die Überlebenseinheit, die dieser Gesellschaft „passte“ oder sie sogar „charakterisierte“, zusammen mit der sehr fortgeschrittenen Teilung ihrer sozialen Funktionen. Darüber hinaus, ist es genau ein fortgeschrittenes Niveau sozialer Differenzierung, welche anscheinend nach der Entwicklung von Staatsmonopolen in der Elias’schen Perspektive „gerufen“ hat.16 Allerdings sind die kompetitiven und interdependenten Trends, welche beide in der Vergangenheit Differenzierung und Staatsbildung beinhalteten, die gleichen, welche zur letztendlichen Überholung des Staates im 20. Jahrhundert führen werden. Diese Intuition ist bereits sehr explizit vorhanden in der Zusammenfassung von Über den Prozeß der Zivilisation in den späten 1930ern, im Kontext der „steten Kriegsgefahr“. Darüber schreibt Elias: „Kriege sind ... nicht nur das Gegenteil des Friedens. Mit einer Zwangsläufigkeit, deren Gründe deutlich wurden, gehören Kriege kleinerer Verbände im bisherigen Verlauf der Geschichte zu den unvermeidlichen Stufen und Instrumenten der Pazifizierung von größeren. Sicherlich wird die Empfindlichkeit des Gesellschaftsbaues und so auch das Risiko und die Erschütterung für alle Beteiligen, die kriegerische Entladungen mit sich bringen, um so größer, je weiter die Funktionsteilung gedeiht, je größer die wechselseitige Abhängigkeit der Rivalen wird. Daher spürt man in unserer eigenen Zeit eine wachsende Neigung, die weiteren zwischenstaatlichen Ausscheidungskämpfe durch andere, weniger riskante und gefährliche Gewaltmittel auszutragen. Aber die Tatsache, daß in unseren Tagen, genau, wie früher, die Verflechtungszwänge zu solchen Auseinandersetzungen, zur Bildung von Gewaltmonopolen über größere Teile der Erde und damit, durch alle Schrecken und Kämpfe, zu deren Pazifizierung weiterdrängen, ist deutlich genug. Und man sieht, wie gesagt, hinter den Spannungen der Erdteile, und zum Teil in sie verwoben, bereits die Spannungen der nächsten Stufe auftauchen. Man sieht die ersten Umrisse eines erdumfassenden Spannungssystems von Staatenbünden, von überstaatlichen Einheiten verschiedener Art, Vorspiele von Ausscheidungs- und Vormachtkämpfen über die ganze Erde hin, Voraussetzung für die Bildung eines irdischen Gewaltmonopols, eines politischen Zentralinstituts der Erde und damit auch für deren Pazifizierung.“17
Elias gestand, dass eine solche Lösung (ein weltweites Gewaltmonopol) nur für ein mögliches, und wirklich äußerst unwahrscheinliches Ergebnis gilt, wie wir gleich sehen werden. Dennoch bekräftige er dreißig Jahre später in „Wandlungen der Wir-Ich Balance“:
15 Elias 1939/1969/1997, S. 151. 16 Siehe Majastre / Delmotte in diesem Band (2. Über Krieg, Monopolisierung und Pazifizierung). 17 Elias 1939/1969/1997, S. 462-463.
„[Es] verlagert sich gegenwärtig die Funktion der effektiven Überlebenseinheit ganz sichtbar mehr und mehr von der Ebene der Nationalstaaten auf die post-nationaler Staatenverbände und darüber hinaus auf die der Menschheit. Die Katastrophe von Tschernobyl, das große Fischsterben und die Verschmutzung des Rheins nach dem planlosen Versuch, ein Feuer in einer Schweizer chemischen Fabrik zu bekämpfen, können als zunächst noch begrenzte Lehrstücke dafür dienen, daß nationalstaatliche Einheiten ihre Funktion als Garanten der physischen Sicherheit ihrer Staatsangehörigen und so als Überlebenseinheiten realiter bereits an überstaatliche Einheiten abgegeben haben.“18
In diesem Text, wie auch in „Die Fischer im Mahlstrom“,19 bezieht sich Elias explizit auf den Gebrauch von Nuklearwaffen und der damit zusammenhängenden Gefahr globaler Vernichtung, welche sich nicht auf einen Feind beschränken würde, auf eine einzelne Gruppe, sondern auch Freunde bedrohen würde und sogar die eigene Bevölkerung und die gesamte Menschheit.20 Dadurch wird endgültig offensichtlich, dass die Menschheit die wirkliche, effektive Überlebenseinheit geworden ist, die einzige, welche als „permanent“ und „unausweichlich“21 angesehen werden kann, in Elias’ Worten in „Wandlungen der Wir-Ich-Balance“ von 1987. Andererseits betont Elias in demselben Text mit Nachdruck die „Diskrepanzen“22 oder den allgemeineren „Nachhinkeffekt“23 zwischen dem letztendlichen Auftauchen dieser „umfassendsten“ Überlebenseinheit und der Entwicklung eines Zusammengehörigkeitsgefühls oder eines „Verantwortungsgefühls“, welches sich im Bewusstsein der Menschen verankert und tatsächlich „hinterherhinkt“: „Das Verantwortungsgefühl für die bedrohte Menschheit ist minimal. So eminent realistisch es auch ist, der auf die eigene Nation abgestimmte Habitus läßt es als unrealistisch, wenn nicht als naiv erscheinen.“24 Elias zufolge liegt ein Teil der Erklärung „in einer einzigartigen Eigentümlichkeit der Menschheit, als soziale Einheit betrachtet“25: „Auf allen anderen Stufen der Integration entwickelt sich das Wir-Gefühl im Zusammenhang mit der Erfahrung der Bedrohung der eigenen Gruppe durch andere Gruppen. Die Menschheit dagegen ist nicht durch andere, außermenschliche Gruppen bedroht, sondern nur durch Teilgruppen ihrer selbst.“26
18 19 20 21 22 23
Elias 2001, S. 290. Elias 1983, S. 73-183. Elias 2001, S. 306. Elias 2001, S. 301. Elias 2001, S. 304. Elias bezeichnet den „Nachhinkeffekt“ explizit als ein „Habitusproblem eigentümlicher Art“ (Elias 2001, S. 281), der jene Konstellation beschreibt, „wo die Dynamik ungeplanter sozialer Prozesse über eine bestimmte Stufe hinaus in der Richtung auf eine andere, ob eine nächsthöhere oder niedrigere, Stufe vorstößt, während die von dieser Veränderung betroffenen Menschen in ihrer Persönlichkeitsstruktur, in ihrem sozialen Habitus auf einer früheren Stufe beharren.“ Er präzisiert: „Es gibt viele Beispiele für solche Nachhinkprozesse“ (Elias 2001, S. 281). 24 Elias 2001, S. 303. 25 Elias 2001, S. 305. 26 Elias 2001, S. 305.
Auf diesem Niveau kommt die Gefahr von „innen“ und erscheint weniger integrativ. In diesem Sinne behindert das Fehlen eines „äußeren“, fremden, nicht-menschlichen Feindes, außer in einigen populären (und oft sehr national-patriotischen!) amerikanischen Filmen, die Entwicklung eines solchen universellen Bewusstseins. Aber ein ähnlicher „Nachhinkeffekt“ kann auch in dem niedrigeren, mittleren Niveau der postnationalen Identität gefunden werden, die auf die Europäische Integration bezogen ist: „wenn man nach Beispielen für die Realitätskongruenz des Habitusbegriffs sucht, dann kann man kaum ein anschaulicheres Beispiel finden als die Nachhaltigkeit, mit der die Verschiedenheiten des nationalen Habitus der europäischen Nationalstaaten als Hemmschuh für deren engeren politischen Zusammenschluß wirken.“27 Das Phänomen ist in der Tat nicht so einzigartig, wie es erscheint: „Es gibt viele Beispiele für solche Nachhinkprozesse“ in der Geschichte, sie scheinen sogar den sozialen Habitus als solchen zu charakterisieren, so als ob „die Persönlichkeitsstruktur“ der Menschen immer der „Dynamik des ungeplanten Gesellschaftsprozesses“ hinterherzuhinken tendierte, welcher „über eine bestimmte Stufe hinaus in der Richtung auf eine andere [...] vorstößt.“28
4. Der Nationalstaat als eine belastbare integrative Einheit: Über Kriege und Demokratisierung Das 20. Jahrhundert markiert, oder weist anscheinend darauf hin, das Ende des Staates als Überlebenseinheit und demzufolge den vergänglichen, historischen, kontingenten Charakter des Staates als solcher. Nichtsdestotrotz signalisiert es nicht notwendigerweise das Ende des Staates schlechthin, oder besser gesagt der monopolistischen modernen Gestalt des Politischen. Ein erster Grund ist, dass die „globalstaatliche Lösung“, welche wir später untersuchen werden, in dem ein Weltstaat (oder zumindest weltweites Gewaltmonopol) die Nationalstaaten ersetzen würde, in einer unbestimmten Zukunft weiterhin auf dem Spiel stehen könnte. Ein Weltstaat wird vielleicht (für einige unter Garantie) niemals Realität werden. Zweitens, und das ist vielleicht bedeutsamer, bedeutet das Ende des Staates als eine „reale“, objektive und vorherrschende Form einer Überlebenseinheit noch nicht das Ende des Staates an sich, selbst in seiner nationalen Figuration. Der Nationalstaat ist offensichtlich nicht reduzierbar auf seinen rein „objektiven“, wirklichen oder tatsächlichen Charakter als Überlebenseinheit; das heißt, er ist nicht reduzierbar auf den Staat in seiner ersten Hobbesianischen Rechtfertigung. Der Staat mag seinen konkreten Charakter verloren haben und in einer anderen Art und Weise, Funktion oder Bedeutung weiterexistieren. Er mag sogar als solcher weiterexistieren, sei es auch nur als Überlebensein27 Elias 2001, S. 280-281. 28 Elias 2001, S. 281.
heit in den Köpfen der Menschen oder einiger Menschen und nicht länger in der Wirklichkeit. Woran wir uns hier erinnern müssen: „Diese Überlebensfunktion oder der Gebrauch physischer Gewalt gegen andere schafft unter Menschen Interdependenzen spezifischer Art.“29 Was wir betonen möchten ist, dass sich diese politische Interdependenz in eine spezifische innere integrative Funktion gewandelt hat, welche, in gewisser Weise, die erste Überlebensfunktion des Staates überlebt hat. Diese integrative Funktion hält den Staat am Leben, selbst wenn er seine erste Überlebensfunktion nicht länger in der Sache, sondern nur noch im Bewusstsein wahrnehmen kann. Mit anderen Worten, die Funktion der Überlebenseinheit wurde in der Vergangenheit von anderen Einheiten wie Sippen und Stämmen übernommen. Auch gegenwärtig wird diese Funktion von anderen Einheiten, selbst in den am weitesten „entwickelten“ Ländern, wahrgenommen: In dieser Hinsicht bezieht sich Elias beispielsweise auf die Mafia, welche im Rahmen des Staates in Europa und in den USA gerade deshalb überlebt, weil es der Großverband der „Familie“ und nicht der Staat ist, welche die Überlebensfunktion für ihre Mitglieder garantiert.30 Der Punkt ist weder, dass einige post- oder nicht-nationalstaatliche Einheiten, supranationale öffentliche oder private Organisationen, in der Zukunft dieselbe Überlebensfunktion wahrnehmen könnten, und es, sogar unbemerkt, bereits tun. Der Punkt ist vielmehr, dass der Staat tatsächlich aufgehört hat, diese objektiv zu erfüllen, und dennoch diese Funktion „beibehält“, wenn auch „nur für das Bewußtsein der meisten zugehörigen Menschen.“31 Eine mögliche Interpretation dieses Paradoxes ist unserer Ansicht nach besonders interessant: Es ist das Überholen, das Veralten des Staates als (reale, objektive) Überlebenseinheit im 20. Jahrhundert, welche offenbart wie wichtig es geworden war, dank der Entwicklung eines nationalen Habitus, dass Menschen (subjektiv, oder präziser inter-subjektiv) denken und glauben, dass der Staat diese Rolle spielt. Im 20. Jahrhundert war eine Mehrheit der Menschen so eingestellt, bis zu dem Punkt wo es das Überleben oder sogar der Triumph des Staates als „die“ politische Wir-Einheit ermöglicht – oder dazu beiträgt –, obgleich zunehmend ernsterer sozialer, ökonomischer, geopolitischer, militärischer und ökologischer Unzulänglichkeiten. Der (National)Staat würde demnach weiterhin als Überlebenseinheit (nur oder überwiegend) im Bewusstsein seiner Mitglieder existieren, gerade wegen der ihm verbliebenen sozial integrativen Funktion. Zudem beklagt Elias das Fehlen eines Zusammengehörigkeitsgefühls postnationaler politischer Einheiten auf europäischer oder globaler Ebene; gerade Letztere wäre sicherlich seiner Ansicht nach für eine eindeutig interdependente Welt angebracht. Wie erklären wir jetzt jene Widerstands29 Elias 1970/2009, S. 152. 30 Elias 2001, S. 287. 31 Elias 2001, S. 277 (Hervorhebung im Original).
fähigkeit ohne auf den strukturellen Charakter irgendeines Habitus, welcher stetig den Interdependenzdynamiken hinterherhinkt, zu verweisen? Ist auch das, wieder einmal, eine Angelegenheit von Konflikt und „Othering“? Wir haben gesehen, dass es Elias zufolge teilweise so ist. Man mag sagen, dass die Menschheit nur innere Feinde hat. Das wäre der Grund, weshalb es so schwierig ist, die objektive Überlebenseinheit, welche es verfasst, in eine subjektive zu überführen, die sich ihrer selbst bewusst ist und von jenen Menschen als „Wir-Einheit“ gefühlt und empfunden wird, welche tatsächlich zu ihr gehören. Nationalstaaten, so schreibt Elias, entstehen „in Kriegen und für Kriege“, also durch Konflikte gegen andere. „Hier also findet man die Erklärung dafür, warum unter den verschiedenen Schichten der Wir-Identität heute der staatlichen Integrationsebene ein besonderes Gewicht und vor allem ein besonderes Gefühlsgewicht zukommt“32 und nicht der Menschheit. An dieser Stelle möchten wir zwei Anmerkungen zu diesen Fragen einfügen. Als erste Anmerkung muss man unterscheiden zwischen einerseits den vorstaatlichen Konflikten, die aus Staaten Überlebenseinheiten machten, und andererseits jenen Kriegen, die aus Nationalstaaten Wir-Einheiten machten oder dazu beitrugen. Erstere beziehen sich auf Konflikte, die vor mehr als fünfhundert Jahren ausgetragen wurden, zum Beispiel in Frankreich und ausführlich in Über den Prozeß der Zivilisation dargelegt. Letztere sind in der Tat sehr viel neueren Datums. Sofern es europäische Staaten betrifft, folgt Elias teilweise Georg Simmels Überlegungen über die Rolle externer Konflikte33 und bestätigt, dass die zwei Weltkriege tatsächlich entscheidend für die Erzeugung, Prägung oder Bestätigung der nationalstaatlichen Zugehörigkeit waren.34 Allerdings, und diese ist die zweite Beobachtung, liegt darin weder etwas wirklich Originelles noch sonderlich Typisches für den Staat, sich in diesem Prozess der Konsolidierung von Wir-Gefühlen oder in der sich entwickelnden Wahrnehmung nationaler Zugehörigkeit über die Gegnerschaft mit einem Feind zu profilieren. Die Beziehung mit oder die Referenz auf „einen Anderen“, welche oft zugleich eine Gegenüberstellung ist, ist Bestandteil der Definition jeglicher Gemeinschaft, beispielsweise nach Max Weber.35 In gewisser Weise war es sogar bedeutender in den vergangenen Fällen von Klans, Stämmen oder Festungen als es im Fall von Staaten ist. Etwas wirklich Unverwechselbares, oder zumindest Neues, sollte auf nationalstaatlicher Stufe eher in der Rolle gesucht werden, die Demokratie, demokratische Repräsentation und Partizipation spielen. Zu dieser Thematik schreibt Elias überraschen32 Elias 2001, S. 277. 33 Simmel 1999, S. 328-339. 34 Zugleich waren es nach Elias Ansicht ebendiese „Weltkriege“, die paradoxerweise und wortwörtlich in ihrer Begrifflichkeit („Weltkriege“), die sich real konstituierenden neuen supranationalen Überlebenseinheiten „Europa“, „Westen“ und „Osten“, „gefährdete Menschheit“, was auch immer hier, herbeiführten. 35 Weber 1971, S. 78-82.
derweise – überraschend aufgrund seiner starken Vorbehalte gegenüber dem Wort „Demokratie“ und seines funktionalen Verständnisses von Demokratisierung: „Die vollere Integration aller Staatsbürger in den Staat fand in den europäischen Mehrparteienstaaten eigentlich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts statt. Erst in Verbindung mit der parlamentarischen Vertretung aller Schichten begannen sämtliche Zugehörigen den Staat mehr als eine Wir-Einheit und weniger als eine Sie-Gruppe wahrzunehmen.“36
Das wäre letztendlich der Grund warum „[e]rst im Zuge der zwei großen Kriege dieses Jahrhunderts [...] die Bevölkerungen der höher entwickelten Industriestaaten den Charakter von Nationen im neueren Sinne des Wortes und die betreffenden Staaten den von Nationalstaaten [erwarben].“37 An diesem Punkt wird die Kluft deutlicher, die Elias vom Freund-Feind Interpretationsrahmen als auch von vielen Autoren des „modernistischen“ Paradigmas trennt. Unter der Annahme, dass Staatsbildung der Nationsbildung weit vorangehen könne und darin eine große Rolle spielt, hat Elias eine größere Nähe zu einigen Autoren dieser Strömung.38 Dennoch vertreten die meisten von ihnen, dass die Nation zumindest der Demokratie voranging und sogar bedingte, obwohl einige Autoren auch darauf hinweisen, dass letztere später erstere konsolidierte, insbesondere durch die Wohlfahrt.39 War Demokratie ohne den Nationalstaat unmöglich? Der ziemlich originelle Vorschlag von Elias behauptet tatsächlich das Gegenteil. Ihm zufolge wäre die moderne Nation (oder der Nationalstaat) ohne universelles Wahlrecht und demokratische Partizipation, welche sich als Teil der Reduzierung der Machtdifferentiale zwischen höheren und niedrigeren Schichten in der Industriegesellschaft zur Wende des 20. Jahrhunderts ergaben, unmöglich gewesen.40 Deshalb bedeutet die Entwicklung mächtigerer und weitreichender gemeinsam geteilter nationaler Wir-Gefühle keineswegs, dass Nationen auf Gefühlen von Liebe und Gemeinschaft begründet sind. Es bedeutet auch nicht, dass innere Konflikte (zum Beispiel Klassenkämpfe) verschwanden oder durch nationale Integration definitiv abgeschwächt werden.41 Stattdessen wurden diese Oppositionen mehr oder we-
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Elias 2001, S. 277. Elias 2001, S. 277. Anderson 1991; Gellner 1983; Habermas 1996. Habermas 1996; Marshall 1992. Elias 2006, S. 61-63. Für Elias und im Gegensatz zu manchen modernistischen Ansätzen (zum Beispiel Gellner), bezeichnet Nationenbildung nicht nur oder primär einen kulturellen Homogenisierungsprozess, der vom Staat durchgesetzt wird – auch wenn ein solcher Prozess in vielen Fall stattfand. Die Nation ist nicht reduzierbar auf eine angeblich objektive kulturelle Homogenität (der Abstammung, Sprache, Religion oder Traditionen), gleich ob diese als sozialpolitische Artefakte vererbt oder erzeugt wurden. In einer durchaus Weberianischen Perspektive interessiert es Elias
niger friedlich im monopolistischen Rahmen des Staates durch das Wirken politischer Regeln ausbalanciert, die anders und sozial inklusiver als früher sind. Über allem, als Hintergrund, kann die Bedeutung und spezifische Dauerhaftigkeit nationaler Wir-Gefühle – inklusive ihrer von Elias beständig beklagten mythischen und fantasielastigen Bestandteile42 – nicht verschleiern, dass das Zeitalter der Nationalstaaten durch Rechts- und Freiheitsansprüche seit dem 18. Jahrhundert zu einem entscheidenden Individualisierungsschub (und einem Rationalisierungsprozess, obwohl Elias diesen Begriff nicht mochte) beigetragen hat. Wieder einmal gibt es keinen Grund, dass diese Bewegung auf der staatlichen Ebene zum Stillstand kommt. Man mag sogar denken, dass gerade weil paradoxerweise „der einzelne Mensch als solcher, als Mitglied der Menschheit, auf Rechte Anspruch hat, die die Verfügungsgewalt des Staates gegenüber dem Individuum begrenzen, gleichgültig was die Staatsgesetze sind[,]“43 das politische, demokratische, Erbe des Zeitalters der Nationalstaaten am klarsten erscheint – also durch das Veralten und die Infragestellung des Nationalstaats.
5. Jenseits des Nationalstaats: Ein Dilemma zwischen einer „realistischen“ und einer kosmopolitischen Option? Zum Abschluss der Ausführung und mit Blick auf die Zukunft des Staates in Elias’ Denken verlässt unsere Analyse den von ihm vorgeschlagenen Boden soziohistorischer Erklärungen und widmet sich einem eher spekulativen Nachdenken über die ethische oder moralische Bedeutung seines politischen Werkes. Elias ist offensichtlich ein antinationalistischer Autor. Wenn der Soziologe ein „Mythenjäger“44 ist, dann müssen nationale Mythen als die gefährlichsten unserer Zeit abgelehnt werden, gerade weil sie nicht nur aber doch wohl auf einer Definition des Selbst angewiesen sind, das sich auf eine unzweifelhaft irrationale und unrealistische Definition des politisch Anderen als ein Feind bezieht.45 Das ist, was die Nazi-Mythologie in ihrer
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eher warum eine Gruppe von Menschen dazu kam „Wir“ zu sagen um sich zu benennen und wie sich eine solche „Gemeinschaft“ in ihren Beziehungen zu anderen Gruppen auf einige identifizierende Elemente fokussiert und andere ausschließt. In seiner Untersuchung Die Etablierten und die Außenseiter, die sich mit Gruppenbeziehungen in einer kleinen Industriestadt mit dem Alias „Winston Parva“ Ende der 1950er befasste, beschreibt Elias einen Kontext, in dem „objektive Differenzen“ hinsichtlich sozialer Klasse, ethnischer Herkunft oder Religionszugehörigkeit nicht existierten. Spezifische Merkmale existieren anfangs nur im Bewusstsein der Gemeindemitglieder aufgrund der Entwicklung der Beziehungen zwischen siedlungsgeschichtlich älteren „etablierten“ Gruppen und später zugezogenen „Außenseitern“ (Elias 2008). Elias 1990. Elias 2001, S. 309. Elias 1970/2009, S. 51f. (Kapitel 2). Elias 1983.
ganzen Grausamkeit enthüllt, eine paroxysmale Figur von dem, was im Grunde jeden Nationalismus ausmacht.46 Folglich unterläuft Elias nie eine Verwechslung zwischen Nation oder Nationalismus einerseits und Demokratie andererseits, obwohl beide historisch miteinander verbunden sind, und zwar ungeachtet seines moderaten Vertrauens in die Versprechen der politischen Demokratie. Elias ist eindeutig ein antinationalistischer und ein postnationalistischer Autor. Trotz seines hartnäckigen Misstrauens gegenüber jeglichem (neo-)kantianischen Denken47 stand Elias bei dieser politischen Thematikbeispielsweise Habermas sehr viel näher, als er es sich eingestehen wollte. Könnten wir ihn jedoch auch als post-etatistischen Autor betrachten? In aller Kürze: Der Autor scheint zwischen zwei möglichen Visionen der weltweiten politischen Zukunft hin- und hergerissen zu sein. Genauer gesagt erlaubt das Lesen seiner Schriften verschiedene Interpretationen, irreduzibel auf eine Opposition zwischen Pessimismus und Optimismus hinauslaufend, und sogar auf eine Opposition (oder Kompromiss) zwischen einer Hobbesschen und einer Kantischen Vision, obwohl diese offensichtlich etwas damit zu tun hat.48 Einer dieser Interpretationen folgend, scheint er einen globalen Weltstaat für überlebensnotwendig zu halten. Unter dieser Prämisse wäre ein globaler Weltstaat das einzige Mittel zur Durchsetzung internationalen Rechts mit einem wirklichen Zwangsmonopol. Es wäre das einzige Mittel, einer Anarchie (sic) oder einem wahrhaft „archaischen“ System ein Ende zu bereiten. Es erscheint Elias wirklich nahezu unglaublich, dass hochgradig irrationale Regeln die internationalen Beziehungen selbst dann noch charakterisieren, wenn Nuklearwaffen die Bedrohung globaler Vernichtung beinhalten. Schaut man beispielsweise diese symptomatische Passage an, die in den späten 1970er Jahren oder 46 Siehe über sozialen Glauben in Studien über die Deutschen: „Die betreffende Glaubensdoktrin mag [...] extrem ‚unrealistisch’ und ‚irrational’ sein; sie mag, mit anderen Worten, einen hohen Phantasiegehalt haben, so daß die Erfüllung der durch sie geforderten Ziele der handelnden Gruppe ein hohes Maß an unmittelbarere Gefühlsbefriedigung verspricht. Dabei kommt es vor, daß eine solche Erfüllung – im Sinne der sozialen Realität und längerfristig – der Trägergruppe keine anderen Vorteile bringt als eben die Verwirklichung des Glaubens, oder daß sie ihr sogar schadet. Der Versuch der Nationalsozialisten, die Juden auszurotten, gehört zu dieser Kategorie. Er war eines der schlagendsten Beispiele für die Macht, die ein Glaube – hier ein sozialer oder, spezifischer, ein nationaler Glaube – über Menschen gewinnen kann“ (Elias 1989, S. 407). Darunter: „Das nationalsozialistische Glaubenssystem mit seinem pseudo-wissenschaftlichen Firnis über einem primitiven, barbarischen Nationalmythos war eines der extremeren Symptome für das moralische und intellektuelle Zwielicht, in dem sie lebten. Daß es vor dem Urteil höher gebildeter Menschen nicht standhielt und mit wenigen Ausnahmen keine Anziehungskraft für sie hatte, war wohl einer der Gründe, warum diese die Ernsthaftigkeit des Glaubens selbst und die Echtheit der an ihn gehefteten Gefühle verkannten. Wenige der sozialen und besonders der nationalen Mythen unserer Zeit sind frei von ähnlichen Falschheiten und Barbarismen. Die nationalsozialistische Doktrin zeigt, wie in einem Zerrspiegel, einige ihrer gemeinsamen Aspekte in krasser Form“ (Elias 1989, S. 410). 47 Siehe Mennell 1998, S. 277; Kilminster 1991. 48 Linklater 2004.
zu Beginn der 80er geschrieben wurde und tief geprägt vom Kalten Krieg ist, aber noch immer einem gegenwärtigen Kontext entstammen könnte: „In einer Reihe von Staaten, vor allem den älteren unter ihnen, hat die Wirksamkeit der Monopolisierung physischer Gewalt und somit der Gewaltkontrolle im Laufe der letzten 300 oder 400 Jahre stetig zugenommen. Die Pazifizierung menschlicher Beziehungen ist dort – mit häufigen Rückschlägen – fortgeschritten, und entsprechend hat sich das Niveau individueller Abscheu vor dem Gebrauch physischer Gewalt erhöht. Die Beziehungen zwischen Staaten jedoch haben sich kaum verändert. Im Grunde haben sie ihren archaischen Charakter behalten. Jeder Staat ist frei, in seinen Beziehungen zu anderen Staaten Gewalt zu gebrauchen, es sei denn, seine Führer und Bürger werden durch einen anderen, gleich starken oder stärkeren Staat davon abgeschreckt. Auf dieser Ebene existiert kein Monopol physischer Gewalt, keine überlegene Instanz, die auch die stärksten und mächtigsten Staaten dazu zwingen kann, Frieden zu halten und von der Androhung oder dem Gebrauch physischer Gewalt in ihrem Umgang mit anderen Staaten beizustehen. Es gibt auch auf der zwischenstaatlichen Ebene Rechtseinrichtungen. Da jedoch ihre Entscheidungen keinen Rückhalt in militärischen oder Polizeikräften haben, die stärker sind als die aller möglichen Rechtsbrecher, ist ihr Einfluss auf zwischenstaatliche Beziehungen gegenwärtig noch ziemlich gering.“49
Daran anschließend: „Man mag fragen, warum ein stärkerer Staat den Wunsch haben sollte, einen schwächeren anzugreifen. Aber diese Frage trifft nicht den Punkt. Entscheidend ist, daß auf der zwischenstaatlichen Ebene die stärkere Machteinheit schwächere Gruppen angreifen kann. Da es niemanden gibt, der einen solchen Angriff verhindern kann, leben Menschengruppen, die ohne ein zentrales Gewaltmonopol aneinander gebunden sind, unweigerlich in einem Dauerzustand der Unsicherheit.“50
Diese Passagen mit stark an Hobbes erinnernden Akzenten, realistisch oder neo-realistisch in der Sprache der Theorien Internationaler Beziehungen, implizieren, dass unsere unmittelbare Zukunft im Atomzeitalter, unser Überleben, von der erfolgreichen Reproduktion einer Sequenz bedingt wird, die schon in der Vergangenheit auf der niedrigeren Ebene des Staates beobachtet werden konnte. Selbst jenseits der Begrifflichkeiten eines Weltstaates sollten weltweite Interdependenzen ihre politische Anerkennung und ihre Institutionalisierung auf einer höheren Ebene herbeiführen. In „Wandlungen der Wir-Ich-Balance“ von 1987 finden sich nuancierte Einsichten zu den Erfolgschancen eines solchen Prozesses, vor allem, wenn Elias schreibt: „Die wachsende Integration der Menschheit nicht nur als der umfassendsten, sondern auch als einer höchst wirkungsreichen Integrationsebene zeigt sich im Guten wie im Bösen. Die globale Verflechtung aller Staaten äußert sich deutlich genug in globalen Zentralinstitutionen auf einer sehr frühen Stufe ihrer Entwicklung. Die Vereinten Nationen sind schwach und in vieler Hinsicht ineffektiv. Aber jedermann, der sich mit dem Wachs49 Elias 1983, S. 127. 50 Elias 1983, S. 129.
tum von Zentralinstitutionen beschäftigt hat, weiß, dass Integrationsprozesse, die in der Einrichtung von Zentralinstitutionen auf einer neuen Ebene ihren Niederschlag finden, oft eine Anlaufzeit von mehreren Jahrhunderten brauchen, ehe sie einigermaßen effektiv werden; und dabei kann niemand vorhersehen, ob Zentralinstitute, die sich im Zuge eines machtvollen Integrationsschubes bilden, nicht im Verlauf eines ebenso machtvollen Desintegrationsschubes wieder zerstört werden.“51
Wenn das Problem vorrangig die Drohung der Vernichtung des globalen Systems durch zentrifugale Kräfte, terroristische Gruppierungen oder „innere Feinde“ ist, scheint sich Elias auch den Gefahren des Despotismus bewusst zu sein, welche die Übermacht des zukünftigen hypothetischen Monopolisten selbst beinhaltet, wie es sich Kant in Zum ewigen Frieden (1795) bereits vorstellte. Auch Hannah Arendt beschwor die gleichen Gefahren in Begriffen, die direkter die Zurückhaltung von Elias über die (Abwesenheit der) Effizienz von Recht und Demokratie per se, oder als reine Ideale, vertieften, um Menschenrechte auf höchster Ebene zu fördern.52 Folgt man Elias bleibt das wichtigste (soziologische) Problem jedoch, dass wenn wir am staatshistorischen Modell festhalten, würde die globale Einheit selbst im Fall einer erfolgreichen weltweiten institutionellen Integration nach der Konsolidierung eines Identifikationsprinzips verlangen. Derzeit kann dieses Identifikationsprinzip auf der globalen Ebene, dieses noch nicht vorhandene oder sehr schwach ausgeprägt globale „Wir“, per Definition nicht durch das Modell des Nationalstaates erbracht werden, welches nicht nur aber auch die Opposition von äußeren Anderen benötigt. Aus diesem Grund ist eine alternative Interpretation, entgegen ihrer Erscheinung, nicht notwendigerweise weniger „wirklichkeitskongruent“, wie es in der Elias’schen Soziologie heißen würde. Gegen die vorgeschlagene „Lösung“ der Anhebung des nationalstaatlichen Modells auf eine supranationale oder noch weniger realistisch auf eine weltgesellschaftliche Ebene, betont Elias die wachsende Bedeutung individueller Menschenrechte, welche ihren Anspruch und Nutzen gegen die traditionellen öffentlichen Machtvorrechte des Staates selbst beinhalten. Und an einem Punkt skizziert er eine post-staatliche Ära: „Immerhin gibt es bereits unzweideutige Anzeichen dafür, daß die Identifizierung der Menschen über Staatsgrenzen hinaus, ihrer Wirgruppen-Identität auf der menschheitli-
51 Elias 2001, S. 301-302. 52 “A world government is indeed within the realm of possibility, but one may suspect that in reality it might differ considerably from the version promoted by idealistic-minded organizations. […] Hitler’s motto that ‘Right is what is good for the German people’ is only the vulgarized form of a conception of law which can be found everywhere and which in practice will remain ineffectual only so long as older traditions that are still effective in constitutions prevent this. […] And this predicament is by no means solved if the unit to which the ‘good for’ applies is as large as mankind itself. For it is quite conceivable, and even within the realm of practical political possibilities, that one fine day a highly organized and mechanized humanity will conclude democratically – namely by majority decision – that for humanity as a whole it would be better to liquidate certain parts thereof” (Arendt 1958, S. 298-299).
chen Ebene im Kommen ist. Zu ihnen gehört unter anderem die Bedeutung, die der Begriff der Menschenrechte allmählich gewinnt. Es lohnt sich, am Ende ein wenig genauer zu betrachten, was die Forderung der Menschenrechte meint. […] In ihrer gegenwärtigen Form schließt sie die Vorstellung ein, daß der Allmacht des Staates in seiner Behandlung von einzelnen Staatsangehörigen, von Individuen, Schranken gesetzt sind, wie auch bei dem früheren Übergang von einer niedrigeren zu einer höheren Integrationsebene, durch den Bezug auf die letztere, eine Beschränkung der Macht stattfand, die von Angehörigen der niedrigeren Ebene über andere Mitglieder ihres Verbandes ausgeübt wurde. […] Vielleicht hat man noch nicht deutlich genug ausgesprochen, daß zu den Menschenrechten das Recht auf Freiheit gegenüber dem Gebrauch von physischer Gewalt oder auch der bloßen Bedrohung mit Mitteln der physischen Gewalt gehört und das Recht, sich der Forderung zu entziehen, im Dienste eines anderen Gewalt zu gebrauchen oder anzudrohen. Das Recht auf Freiheit der eigenen Person oder der eigenen Familie gegenüber dem Gebrauch von Gewaltmitteln oder der Bedrohung durch sie veranschaulicht von neuem, daß der Übergang zu einer neuen, höheren Integrationsstufe zugleich auch den Übergang zu einer neuen Stellung des Individuums in seiner Gesellschaft mit sich bringt. Man sah bereits, daß die Entwicklung von Sippe und Stamm zum Staat als der gewichtigsten Überlebenseinheit zu einem Heraustreten des einzelnen Menschen aus seinen lebenslänglichen vorstaatlichen Verbänden führte. Der Übergang zum Primat des Staates im Verhältnis zu Sippe und Stamm bedeutete einen Individualisierungsschub. Wie man sieht, bedeutet der Aufstieg der Menschheit zur dominanten Überlebenseinheit ebenfalls einen Individualisierungsschub. Als Mensch hat ein Individuum Rechte, die ihm auch der Staat nicht verweigern kann. Wir sind erst in einer frühen Phase dieses Übergangs zu der umfassendsten Stufe der Integration, und die Ausarbeitung dessen, was man unter Menschenrechten versteht, steckt noch in den Anfängen. Aber Freiheit von Gewaltgebrauch und Gewaltandrohung hat bisher vielleicht noch zu wenig Aufmerksamkeit gefunden als eines der Rechte, denen man im Laufe der Zeit – auch gegen widerstrebende Tendenzen der Staaten – im Namen der Menschheit Geltung für das einzelne Individuum zu verschaffen haben wird.“53
Im Rahmen dieser alternativen Interpretation wollen wir den Aufstieg der Menschenrechte nicht überschätzen. Auch wollen wir nicht suggerieren, dass er den ersten oder den einzigen Zivilisierungstrend, welcher die Entwicklung des Staates begünstigte oder tolerierte, markiert (wobei hier das Wort „Zivilisierung“ in seiner normativen Bedeutung verstanden wird). Elias zufolge zeigt sich ein weiterer Zivilisierungstrend, welcher teilweise mit dem Aufstieg der Menschenrechte einhergeht, aber in gewissem Sinne grundlegender ist, durch die sich erweiternden Identifikationsmöglichkeiten mit anderen Menschen in ihrer zunehmenden Abscheu gegenüber ihrem Tod und Leiden. „Wir sehen uns Fußballspiele, nicht Gladiatorenkämpfe an[,]“ fasst es Elias in Die Einsamkeit der Sterbenden54 zusammen. Interessant ist ebenfalls, dass dieser Fortschritt eines solchen dezentralen Bewusstseins über Jahr-
53 Elias 2001, S. 309-310. 54 Elias 1982, S. 10.
hunderte hinweg durch die Versuche ihrer eigenen Negation in Kriegen und Genoziden sichtbar geworden ist, insbesondere im 20. Jahrhundert. In dieser Hinsicht stimmt es, dass Zivilisationsprozesse, die mit Staatsbildung verbunden sind, eine ständig wachsende Dualität der normativen Codes55 zwischen einerseits dem, was innerhalb von Staaten zugelassen und vorgeschrieben, und andererseits dem, was zwischen Staaten zugelassen und vorgeschrieben ist, beinhalten. In gewisser Weise stellt jeder Krieg eine Regression dar. Allerdings muss man zugeben, dass Kriege diesmal auch „zivilisierend“ im nicht-normativen Sinne des Wortes wirkten. Sie waren so nicht nur als eine Voraussetzung für einen erfolgreichen Monopolisierungsprozess, der ein staatsabhängiger Aspekt ist. Kriege wirkten auch in einer dramatisch ambivalenten Weise unmittelbar „zivilisierend“, da sie zugleich sowohl zunehmend mörderischer als auch durch rechtliche und moralische Erwägungen reglementiert wurden, die mit der Anerkennung des Feindes – dem Mitglied eines befeindeten Staates – als Mensch einherging. Genau solche Regeln bestanden nicht länger in der Art und Weise wie die Juden von den Nazis behandelt wurden. Einige „Regressionen“ sind tiefgreifender als andere. Elias zufolge zeigten insbesondere der Nazismus und der Völkermord die Bedeutung und die Zerbrechlichkeit „zivilisierender“ Regeln und Gefühle und zugleich, neben ihrem radikal historischen und „erlernten“ Charakter, ihre Verflechtung mit und ihre relative Unabhängigkeit vom Staat.56 In gleicher Weise legt Elias nahe, dass selbst im Kleinen ein hochgradig entscheidendes Verantwortungsgefühl für die gefährdete Menschheit wachsen und der Institutionalisierung weltweiter menschheitlicher Interdependenzbeziehungen, also einer politischen Rahmung, vorangehen könne. Dies ist die „kosmopolitische“ Option, die nicht notwendigerweise als weniger realistisch als die staatliche angesehen werden muss. Die Kooperation ergibt sich hier aus dem Bewusstsein der gegenseitigen Abhängigkeit, die „ich“ und „uns“ mit „allen anderen“ verbindet, denn „die Zusammenarbeit der Menschen, die die Grundlage für die Existenz jedes Einzelnen bildet[,]“57 ist heute mehr denn je von Bedeutung. Am Ende des Weges erscheint die Versöhnung der Menschheit durch eine Kooperation auf der Grundlage der realitätskongruenten Anerkennung weltweiter Verflochtenheit, die Elias bereits in der Zusammenfassung von Über den Prozeß der Zivilisation anklingen ließ, als ein möglicher Horizont für das Politische, sowohl im sozio-historischen Sinne wie auch als regulatorisches Ideal. „Erst wenn sich diese zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Spannungen ausgetragen haben und überwunden sind, werden wir mit besserem Recht von uns sagen können, daß wir zivilisiert sind.“ 58 Dieser Horizont, oder eher 55 56 57 58
Linklater 2011. Elias 1996, S. 308-310. Siehe auch Mennell 1998, S. 248 ff; De Swaan 2005. Elias 1939/1969/1997, S. 464. Elias 1939/1969/1997, S. 463-464 [Hervorhebung im Original].
realistische Utopie, wird also durch Elias weit jenseits der Grenzen des modernen Staates verortet, obwohl derselbe Staat die Entstehung einer solchen kosmopolitischen Möglichkeit „erlaubte“ oder begleitete.
6. Zusammenfassung Wie sollte ein letztinstanzliches Urteil über das Denken von Norbert Elias über das Politische aussehen? Eine solche Beurteilung muss notwendigerweise sorgfältig abgewogen und nuanciert sein sowie auf vielfältigen Betrachtungen basieren, die die politischen, moralischen und auch epistemologischen Aspekte von Elias’ intellektuellen Gedankengängen miteinbeziehen. Eine Möglichkeit, diesen eher ausschweifenden Spaziergang durch Elias’ Werke zusammenzufassen, könnte darin liegen danach zu fragen, was letztlich seine Perspektive auf das Politische originell oder eher trivial macht, wenn man sie mit anderen Versuchen die Verbindung zwischen dem Staat und dem Politischen zu denken vergleicht. Eine soziologische Perspektive aus dem 20. Jahrhundert, wie die von Elias, kann in gewissem Sinne nur eine etatistische sein. Nicht nur sein Fokus auf die Geschichte des modernen Westens macht den Staat zu einem beträchtlichen – und unausweichlichen – Untersuchungsobjekt, sondern die Kernkonzepte und Themen von Elias’ Schriften, wie Pazifizierung oder Individualisierung, basieren auf den Monopolisierungsprozessen, die den Staat definieren. In gewissem Sinne könnten wir sagen, dass sich in dieser Hinsicht Elias nicht sonderlich von anderen Soziologen, angefangen von den Gründungsvätern bis hin zu neueren Klassikern wie Pierre Bourdieu unterscheidet.59 Allerdings möchten wir in unserer Schlussfolgerung hervorheben, dass es gerade Elias’ radikal historischer Ansatz auf das Politische ist, der es ihm erlaubt, die Thematik der postnationalen Integration ernsthaft zu bedenken, und sich teilweise davon zu befreien, etatistische Rahmungen darauf anzuwenden. Beispielsweise haben Gegensätze zwischen Staaten, von Schmitt60 als eine grundlegende Dimension des Politischen betrachtet, in einer zunehmend interdependenten Welt begonnen, Mythen zu konstituieren, die die Menschen davon abhalten, die objektive Natur der Beziehungen, welche sie miteinander verbinden, wahrhaftig zu schätzen. Aus diesem Grund beinhaltet die Verantwortung der Soziologen für Elias das Anprangern der Spaltung zwischen den objektiven Überlebenseinheiten und der Widerstandsfähigkeit des Staates mit seinen integrativen Funktionen. Im Einklang mit dieser Ambition scheut Elias nicht davor zurück, sich mit dieser (weitgehend spekulativen) Frage zu befassen, was die nächsten Schritte des fortschreitenden Zi-
59 Siehe Bourdieu 2012. 60 Siehe Majastre / Delmotte in diesem Band.
vilisationsprozesses – und eines hypothetischen supranationalen Integrationsprozesses – sein würden. Dass sich das Politische sowohl zeitlich vor als auch jenseits des Staates erstreckt, ist oder sollte die logische Implikation eines langfristigen historischen Ansatzes sein. Aber ob unsere unmittelbare Zukunft das Verschwinden der staatlichen Form der Integration mit sich bringen wird oder mit sich bringen sollte, ist nicht entschieden und sollte auch nicht durch ein soziologisches Programm vorgegeben werden. Und dennoch scheint die Verurteilung des unrealistischen Charakters der nationalen Gestalt des Staates, welche Elias’ politische Soziologie aufzeigt, eine recht offenkundige Präferenz der kosmopolitischen Option anzudeuten.
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Elias, Norbert, 2012: On the Process of Civilisation. Sociogenetic and Psychogenetic Investigations (zuvor publiziert als The Civilizing Process), Übersetzt von Edmund Jephcott, Herausgegeben von Stephen Mennell, Eric Dunning, Johan Goudsblom und Richard Kilminster, [Collected Works Bd. 3], Dublin. Gellner, Ernest, 1983: Nations and Nationalism, Oxford. Habermas, Jürgen, 1996: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a.M. Kaspersen, Lars Bo, 2014: Sociology of War, [Working Paper], Kopenhagen. Kilminster, Richard, 1991: Introduction. In: Elias, Norbert, The Symbol Theory, London, S. 3-31. Linklater, Andrew, 2004: Norbert Elias, the “Civilizing Process” and the Sociology of International Relations. In: International Politics, 41, S. 3-35. Linklater, Andrew, 2011: Process sociology and international relations. In: The Sociological Review, 59, S. 48-64. Marshall, Thomas Humphrey, 1992: Citizenship and Social Class (1950), Chicago. Mennell, Stephen, 1998: Norbert Elias: An Introduction, Dublin. Simmel, Georg, 1999: Sociologie. Etudes sur les formes de la socialisation (Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin, Duncker und Humblot, 1908). Übersetzt aus dem Deutschen von Liliane Deroche-Gurcel, Paris. Weber, Max, 1971: Économie et société. Volume 1: Les catégories de la sociologie (Wirtschaft und Gesellschaft, 1921). Übersetzt aus dem Deutschen von Julien Freund et al, Paris.
Teil III: Figurationen von Staatlichkeit
Gunnar Folke Schuppert Staatlichkeit als institutionalisiertes Interdependenzgefüge Elias’ Figurationssoziologie revisited 1. Das Programm: von Figurationen (Elias) und Kreisen (Simmel) zu Konturen einer zeitgenössischen Staatssoziologie Figurationen1 und Kreise2 sind fest etablierte Bestandteile der soziologischen Theoriebildung: In der hilfreichen und präzisen Darstellung der soziologischen Theorien durch Hartmut Rosa/David Strecker und Andrea Kottmann3 werden beide daher zu Recht ausführlich behandelt. Die Simmelschen Kreise ermöglichen es, Individuen und Gesellschaft nicht als etwas Gegensätzliches, sich abgeschlossen Gegenüberstehendes zu sehen, sondern ihre Beziehungen als solche der Interaktion und Individualität als Resultat der Schnittpunktverortung zu begreifen; insofern fungieren Kreuzungen sozialer Kreise als Basis sozialer Kohäsion.4 In ganz ähnlicher Weise – aber die Stoßrichtung noch zuspitzend – dient die Vorstellung von „Figurationen“ Norbert Elias dazu, die Verflochtenheit von Individuum und Gesellschaft in plastischer Weise zu veranschaulichen: „Zu den Aufgaben der Soziologie gehört es also nicht nur, die spezifischen Zwangsläufigkeiten zu untersuchen und zu erklären, denen sich Menschen in bestimmten empirisch beobachtbaren Gesellschaften und Gruppen oder in Gesellschaften überhaupt ausgesetzt finde, sondern auch, das Denken und Sprechen über solche Zwangsläufigkeiten von seiner Bindung an heteronome Vorbilder zu lösen und statt der Wort- und Begriffsbildungen, deren Gepräge auf magisch-mythische oder auf naturwissenschaftliche Vorstellungen zurückgeht, allmählich andere zu entwickeln, die der Eigenart der von Individuen gebildeten gesellschaftlichen Figurationen besser gerecht werden.“5
Rosa et al. ordnen diesen Aufgabenaufriss wie folgt ein: „Elias zufolge sollten Individuen zwar als Individuen wahrgenommen werden, doch für die soziologische Analyse besitzt ihre Einbindung in soziale Verflechtungszusammenhänge sehr viel größere Bedeutung. Gesellschaftliche Ordnungen ergeben sich dann nicht … aus den Handlungen der Individuen oder sind … als Strukturen einfach schon vorhanden;
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Elias 1986. Simmel 1902, 1992. Rosa et al. 2013. Vgl. Nollert 2010. Elias 2004, S. 15, vgl. S. 28-29, 141-142.
vielmehr bildet die Art und Weise, in der Menschen miteinander verbunden sind, die soziale Ordnung, die der soziologischen Analyse bedarf.“6
Elias selbst stellt zur Illustration dieser Gedanken ein „Grundschema des egozentrischen Gesellschaftsbildes“ gegen seinen Vorschlag der „Figuration interdependenter Individuen („Familie“, „Gruppe“, „Gesellschaft“ usw.)“7:
Elias führt zu der zweiten Grafik aus: „Die Figur dient dazu, dem Leser zu helfen, in Gedanken die harte Fassade der verdinglichenden Begriffe zu durchbrechen, die den Menschen gegenwärtig den Zugang zum klaren Verständnis ihres eigenen gesellschaftlichen Lebens weitgehend verstellen und die immer von neuem dem Eindruck Vorschub leisten, daß die „Gesellschaft“ aus Gebilden 6 Rosa et al. 2013, S. 207. 7 Elias 2004, S. 10-11.
außerhalb des „Ich“, des einzelnen Individuums bestehe und daß das einzelne Individuum zugleich von der „Gesellschaft“ umgeben und von ihr durch eine unsichtbare Wand getrennt sei.“8
Die sozialen – und hier sei schon hinzugefügt verflochtenen – Arrangements der Figurationen, die Elias gegen diese simplifizierende Auffassung von Gesellschaft stellt, umfassen, wie er wiederholt betont hat, eine große Spannbreite von Kollektiven und können auf soziale Gebilde verschiedenster Größe angewendet werden: Eine Gruppe von Kartenspielern, ein Dorf, den modernen Staat. Weil sich dies so verhält, beginnen wir mit einem Ausflug in ein „global village“, um sodann das uns interessierende Governancekollektiv „STAAT“ durch die Brille der Figurationssoziologie etwas genauer zu betrachten.
2. Soziale Figurationen in einem Weltdorf: Heidelberg zur Zeit Max Webers Als Max Weber 1896 Professor in Heidelberg wurde, lebten dort rund 30.000 Einwohner. Eine Kleinstadt also, in der die Universität den absolut dominanten Mikrokosmos darstellte, den Jürgen Kaube in seiner kürzlich erschienenen Weber-Biografie unter der Überschrift „Das Weltdorf und sein geselliges Geistesleben“ wie folgt charakterisiert hat: „…verwirklicht genau denjenigen Zug einer Stadt, der kompensiert, dass ihre Bewohner füreinander zunächst Unbekannte sind: die Entwicklung von Subkulturen in einer ausreichend großen Zahl, um es jeder Art von Individuum zu erlauben, wie es Robert Ezra Park formuliert hat, ‚dem Kriminellen und Bettler wie dem Mann von Genie, ebenbürtige Gesellschaft zu finden‘ (Park 1929, 1971). Die prominenteste Subkultur Heidelbergs ist die Universität, denn nicht nur durch die studentischen Verbindungen, auch durch das Standesbewusstsein der Professoren ist die Vorstellung lebendig, hier würde die Elite der Nation erzogen.“9
Typisch für diese universitäre Subkultur waren zwei soziale Figurationen – Schulen und Kreise – über die Kaube Interessantes zu berichten weiß; was zunächst die Schulen angeht, so heißt es dazu bei ihm wie folgt: „Im neunzehnten Jahrhundert waren wissenschaftliche Schulen die prägende Form (des geisteswissenschaftlichen Erkenntnisgewinns, G.F.S.). Ja nach Studienfach und –ort wurde der wissenschaftliche Nachwuchs Mitglied einer ‚Göttinger religionsgeschichtlichen Schule‘, ‚Leipziger Schule der Indogermanistik‘, ‚Marburger Schule des Neukantianismus‘ oder ‚Tübinger Schule der Theologie‘. Die Schulen hatten ein oder mehrere Oberhäupter, sie machten mit bestimmten Theorien und Methoden vertraut, die im Gegensatz zu denen anderer Schulen oder des gewöhnlichen akademischen Unterrichts entwickelt 8 Elias 2004, S. 11-12. 9 Kaube 2013, S. 229.
worden waren, und von ihnen aus wurde universitäre Stellenpolitik betrieben. Diese Form der Schulbildung war zwar kein exklusives Merkmal, aber typisch für die deutsche Geisteswissenschaft im neunzehnten Jahrhundert.“10
Was die Kreise betrifft, so schildert er ihre Funktion wie folgt: „Zwischen den Schulen und den Theoriefeldern (gemeint sind z. B. Marxismus, Strukturalismus, Funktionalismus, G.F.S.) aber existiert eine dritte Vergesellschaftungsform der Wissenschaft, die im Übergang vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert eine große Rolle spielte: der Kreis. Die Gelehrten gruppieren sich um Zeitschriften wie das ‚Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik‘, das ‚Archiv für Religionswissenschaften‘ oder ‚Logos‘, ein kulturphilosophisches Organ ‚südwestdeutscher‘ Prägung, sie gründen Vereine wie 1910 die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, die keine existierende Disziplin oder Schule vertreten, sondern offene Diskussionen fördern sollen. Und die Gelehrten tauschen sich am Universitätsort über Disziplinengrenzen hinweg mündlich aus und kombinieren Geselligkeit mit gegenseitiger Information über die von ihnen gerade bearbeiteten Fragen.“11
Nach diesem Besuch im Weltdorf Heidelberg, scheint es uns an der Zeit, Kurs auf den Staat zu nehmen, denn die Figuration Staat ist es eigentlich, die Elias besonders interessiert. Dies wird schnell klar, verlässt man für einen Moment den Fokus „Figurationen als Verflechtungsphänomene“ und wendet sich stattdessen ihrem dynamischen Charakter zu; dazu ist es hilfreich, einen Blick in Elias‘ Artikel „Prozesse, soziale“ zu werfen, die er wie folgt beschreibt: „Der Begriff des sozialen P.s bezieht sich auf kontinuierliche, langfristige … Wandlungen der von Menschen gebildeten Figurationen oder ihrer Aspekte in einer von zwei entgegengesetzten Richtungen. Eine von ihnen hat gewöhnlich den Charakter eines Aufstiegs, die andere den eines Abstiegs.“12 Wenn man diese Sätze liest, kommt man gar nicht umhin, an das Monumentalgemälde Martin van Crevelds mit dem einschlägigen Titel „Aufstieg und Untergang des Staates“13 zu denken; und mit dieser Assoziation läge man genau richtig: Liest man nämlich den „Prozessartikel“ von Norbert Elias weiter, dann geht es in ihm vor allem um genau das, nämlich um Staatsbildungsprozesse und Prozesse des Staatsverfalls, von ihm erläutert am Beispiel des Zerfalls des antiken römischen Reiches. In nur einem einzigen Satz bringt Elias das Kunststück fertig, nicht nur Staatsbildung und Staatszerfall als Paradebeispiele sozialer Prozesse vorzustellen, sondern zugleich das Fenster zu Prozessen transnationalstaatlicher Integration aufzustoßen: „P. der Staatsbildung oder des Staatszerfalls, der staatlichen und überstaatlichen Integration und Desintegration können als Beispiele für soziale P. dienen, deren Struktur und Verlauf zwar die der einzelstaatlichen P. aufs stärkste beeinflußt,
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Kaube 2013, S. 230-231. Kaube 2013, S. 231-232. Elias 1986b, S. 234. van Creveld 1999.
sich aber nicht mehr bei der Beschränkung des Blickfeldes auf sie diagnostisch bestimmen und erklären läßt.“14
3. Eine kleine Zwischenbilanz Figurationen bezeichnen – dies war als Erstes zu lernen – Verflechtungsphänomene, vor allem solche zwischen Individuen und Gesellschaft. Figurationen sind – das ist die zweite, gleichzeitige Erkenntnis – keine statischen Gebilde, sondern soziale Prozesse von hoher Dynamik, wie sich am Beispiel von Staatsbildung und Staatszerfall veranschaulichen lasse. Wenn wir nunmehr den für Elias offenbar wichtigsten Fall dynamischer Figurationsentwicklung – die Karriere des Staates – mit dem Verflechtungsgedanken in Verbindung bringen, dann führt dies auf direktem Wege zum Phänomen verflochtener Staatlichkeit, ein Phänomen, mit dem wir uns gerade intensiv beschäftigt haben;15 wir fühlen uns aber durch die Überlegungen von Elias auch aufgerufen, einen näheren Blick auf die Prozesse von „state building“ und Staatszerfall zu werfen, beides Themen von geradezu unüberbietbarer Aktualität. Aber Elias verwendet die Metaphern von Aufstieg und Abstieg nicht nur für den Aufstieg und Untergang des Staates, sondern auch für sozio-ökonomische Prozesse, was er am Beispiel der Industrialisierung wie folgt erläutert: „Längere soziale P. lassen oft besonders deutlich den Durchbruch von einer Prozeßstufe zu einer anderen mit einer entschiedenen Machtverlagerung erkennen. So ging etwa der erste Industrialisierungsschub – Aufstieg zur Stufe der industriellen Maschinenproduktion und der Industriearbeiterschaft – Hand in Hand mit dem Abstieg der handwerklichen Produktion und des Handwerks als sozialer Gruppe; der zweite Industrialisierungsschub – Aufstieg zur Stufe der automatisch durch Computer, Roboter usw. gesteuerten Produktion und der dazugehörigen Berufsgruppen – mit dem Abstieg der vorangehenden Fabrikproduktion und Dienstleistungsformen und mit dem der entsprechenden Berufsgruppen.“16
Diesen Bemerkungen unseres Referenzautors entnehmen wir einen dritten Arbeitsauftrag, nämlich darüber nachzudenken, ob solche sozialen Auf- und Abstiegsprozesse eigentlich einfach so „passieren“, oder ob nicht – und wenn ja – rechtliche Strukturierungsleistungen hierbei zu berücksichtigen sind; mit dieser Frage wollen wir beginnen.
14 Elias 1986b, S. 238. 15 Siehe Schuppert 2014a. 16 Elias 1986b, S. 235.
4. Die Industrielle Revolution als Produkt der Rechtsordnung Die Anregung, uns mit dem von Elias angesprochenen Prozess der Industrialisierung aus der Perspektive des Rechts als Produktivkraft wenigsten kurz zu beschäftigen, verdanken wir dem interessanten Beitrag von Mathias Schmoeckel über „Die Industrielle Revolution als Produkt einer neuen Rechtsordnung“.17 Die zentrale These dieses Beitrages ist, dass die sogenannte Industrielle Revolution – sich widerspiegelnd in Veränderungen der Produkte, der Produktionsweise, der Gütertransporte, der Kommunikationsmittel und der Corporate Governance – nicht als ungezügelte Barrikaden-Revolution verstanden werden darf, sondern als eine rechtlich begleitete und gerahmte Revolution; von den zahlreichen Beispielen, die Schmoeckel zum Beleg seiner These anführt, greifen wir zwei uns besonders einleuchtende heraus: •
Entwicklung des Patentwesens und des „geistigen Eigentums“ Ökonomischer Fortschritt lebt – so kann man es wohl vereinfachend sagen – von Innovationen; damit diese fungibel und wirtschaftlich verwertbar sind, bedürfen sie eines rechtlichen Schutzes,18 ein Befund, zu dem es beim Schmoeckel wie folgt heißt: „Man kann zwar auch rechtlich nicht weiter gefasste Ideen wirtschaftlich verwerten, erst die Rechtsform gibt dem Erfinder jedoch den Schutz vor ungenehmigter Inanspruchnahme. Ohne Patente und Rechtsschutz sind diese Erfindungen gemeinfrei. … Patent-, Urheber-, Warenzeichen-, Geschmacksmustergesetzt etc. schaffen damit die Voraussetzungen, um die Erfindungen auf dem Markt sicher verwerten zu können. Die Entwicklung des „geistigen Eigentums“ bzw. der Immaterialgüterrechte für Künstler und Erfinder schafft somit die Grundlagen, durch die Schöpfungen als Güter auf dem Markt mit staatlichem Schutz übertragen werden können. Erst die Entwicklung dieser neuen Rechtsmaterien von der Mitte zum Ende des 19. Jahrhunderts hin ermöglicht also die Fungibilität dieser Schöpfungen als Handelsware. Die Materie ist damit sowohl Frucht der Industrialisierung als auch Vorbedingung.“19
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Bereitstellung von Infrastruktur und passender Unternehmensverfassung Die Industrielle Revolution war eine auf Netze angewiesene Revolution, seien dieses Transportnetze wie die Eisenbahn, seien es Kommunikationsnetze für den Telegrafen- und Telefonverkehr.20 Auch insoweit war ein Flankenschutz durch staatliches Rahmenrecht unverzichtbar: „Daneben (gemeint sind die Gemeinden und ihr „municipal socialism“, G.F.S.) trat zunächst der Staat, der die Konzessionen erteilte und die Überwachung vornahm. Noch zunächst unsicher und tastend, mit unterschiedlichen Ministerien und Strategien näherte
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Schmoeckel 2013. Zur Rolle des Patentwesens siehe nunmehr grundlegend Seckelmann 2012. Schmoeckel 2013, S. 5). Zur Globalisierung als Kommunikationsgeschichte siehe Schuppert 2014b.
sich dabei der preußische Staat der neuen Planungsaufgabe, um über die verschiedenen privaten Eisenbahnnetze schließlich eine durchgehende Strecke von Aachen nach Berlin zu begründen. Hiermit wurde die hoheitliche Verwaltung in einer neuen Funktion aktiv. Gerade für die Eisenbahn mussten Unternehmen gegründet werden, die groß genug waren, um Netze zu entwickeln, zu unterhalten und zu betreiben. Für die Telephonie agierten dann Unternehmen wie Siemens. Gerade in Deutschland unterstützte dies die Bildung von großen Kapitalgesellschaften und half, die Rechtsform der Aktiengesellschaft zu etablieren: Nach den preußischen Eisenbahnkonzessionsbedingungen von 1836 folgte das Eisenbahngesetz von 1838 sowie 1843 das erste preußische Aktiengesetz. Dabei entscheidet die gesetzliche Fassung auch über die Attraktivität des Produkts und der weiteren Investitionen in diesen Bereich.“21
Was hieraus gelernt werden kann, ist zweierlei: Einmal ist zu lernen, dass die von Norbert Elias gemachte Unterscheidung von geplanten und ungeplanten sozialen Prozessen22 etwas zu holzschnittartig sein dürfte, weil – wie das Beispiel der Industrialisierung sehr schön zeigt – Elemente des Geplanten wie des Ungeplanten häufig miteinander verwoben sind und gerade ihre Interaktion die Dynamik dieser Prozesse ausmacht. Zum anderen ist – und dies ist uns wichtiger – zu lernen, dass viele, wenn nicht die meisten Figurationen bei näherem Hinsehen rechtlich verfasste Figurationen sind: Dies gilt für territoriale Governancekollektive wie den Staat und die Gemeinden als öffentlich-rechtliche Körperschaften, dies gilt für die Kirchen, die in Gestalt des Kirchenrechts über eine eigene Rechtsordnung verfügen, dies gilt ferner für Berufsverbände und auch – last but not least – für die Strukturen von Großunternehmen, die heute unter dem Begriff „Corporate Governance“ subsummiert werden. Nach diesem kleinen Ausflug in die Welt der Industriellen Revolution wollen wir uns – die figurationssoziologische Brille benutzend – einigen uns wichtig erscheinenden Facetten von Staatlichkeit zuwenden.
5. Verflochtene Staatlichkeit Wir beginnen diesen Gliederungspunkt mit einem nochmaligen Blick auf den Begriff der Figuration, den Elias unter anderem mit einem Karten- oder Fußballspiel illustriert: „Der Begriff der „Figuration“ dient dazu, ein einfaches begriffliches Werkzeug zu schaffen, mit dessen Hilfe man den gesellschaftlichen Zwang, so zu sprechen und zu denken, als ob „Individuum“ und „Gesellschaft“ zwei verschiedene und überdies auch noch antagonistische Figuren seien, zu lockern.
21 Schmoeckel 2013, S. 8. 22 Elias 1986b.
Die geschilderten Verflechtungsmodelle haben bereits bis zu einem gewissen Grade verdeutlicht, in welchem Sinne der Begriff „Figuration“ hier gebraucht wird. Wenn vier Menschen um den Tisch herumsitzen und miteinander Karten spielen, bilden sie eine Figuration. Ihre Handlungen sind interdependent. … der Spielverlauf [geht, G.F.S.] aus der Verflechtung der Handlungen einer Gruppe interdependenter Individuen [hervor, G.F.S.] … Das „Spiel“ ist ebensowenig eine Abstraktion wie die „Spieler“. Das gleiche gilt von der Figuration, die die vier Spieler, die da um den Tisch herumsitzen, miteinander bilden. Wenn der Begriff „konkret“ überhaupt einen Sinn hat, kann man sagen, daß die Figuration, die die Spieler miteinander bilden, ebenso konkret ist, wie es die Spieler sind. Was man dabei unter Figuration versteht, ist das sich wandelnde Muster, das die Spieler als Ganzes miteinander bilden …. Wie man sieht, bildet diese Figuration ein Spannungsgefüge.“23
Hier und auch in der Darstellung von Hartmut Rosa, David Strecker und Andrea Kottmann24 fällt auf, dass die Begriffe Verflechtung und Verflechtungsstrukturen als Schlüsselbegriffe in Beziehung zum Begriff der Figuration verwandt werden: „Soziale Prozesse ergeben sich nicht als Summe der Effekte der Handlungen von Individuen, sondern aus den Verflechtungen zwischen ihnen. An diesen Verflechtungen setzt Elias an. Das zentrale begriffliche Werkzeug hierzu ist der schon genannte Begriff der Figuration. Dieser ermöglicht, das gesellschaftliche Eingebundensein der Individuen bzw. ihre Gesellschaftlichkeit zu erklären, weil er darzustellen erlaubt, dass Individuen in Gesellschaften entstehen und nur in Abhängigkeit von ihrer spezifischen historischen Situation und ihrer Position gegenüber anderen Menschen verstanden werden können. … Erst das Zusammenleben in Figurationen macht Menschen eigentlich zu Menschen. … Entsprechend können Individuen nur in ihrer gesellschaftlichen Verflechtung angemessen wahrgenommen und Gesellschaften nur aus den strukturierten Verflechtungszusammenhängen zwischen den Individuen analysiert werden.“25
Auch wir selbst verwenden zur Beschreibung des Wandels von Staatlichkeit unter den Bedingungen der Globalisierung die Begriffe Verflechtung und Verflechtungsstrukturen als Schlüsselbegriffe;26 angewandt auf die soziale Figuration „STAAT“ haben wir daher vorgeschlagen, von „verflochtener Staatlichkeit“ zu sprechen,27 da nach unseren Beobachtungen der Staat niemals als alleiniger monopolistischer Governanceakteur aufgetreten ist, sondern in aller Regel in lockerer oder engerer Kooperation mit andere Akteuren – wie etwa mit Kolonialunternehmen, christlichen Missionsgesellschaften, Banken oder Großunternehmen; graphisch lässt sich die Grundidee verflochtener Staatlichkeit in etwa wie folgt darstellen:28 23 24 25 26 27 28
Elias 2004, S. 141-142. Rosa et al. 2013. Rosa et al. 2013, S. 208-209. Zzur Funktion von Schlüsselbegriffen Voßkuhle 2002. Schuppert 2014a. Schuppert 2014a, S. 31.
Organisierte Kriminalität
Kommerz/Business
Lokale Machhaber
Staat
Zivilgesellschaft
Religion
Aus der Governance-Perspektive ist der eigentliche Zentralbegriff der der Verflechtungsstrukturen, von denen wir als besonders beispielhaft die folgenden vier Typen identifiziert haben: •
•
Verflechtungsstrukturen zwischen Staat und Kommerz An Beispielen hierfür ist weiß Gott kein Mangel. Sie reichen von der Thurn und Taxischen Post über Private Security Companies bis zu der Zusammenarbeit mit den Rothschilds als einer „imperial institution“ und den großen, sogenannten systemrelevanten Banken bei der Bewältigung der Euro-Krise. Verflechtungsstrukturen zwischen Staat und Religion (Religionsgemeinschaften) Wollte man – was durchaus naheläge – die Geschichte von Staatlichkeit als Verflechtungsgeschichte schreiben, so wäre dieses Verflechtungsfeld von besonderem Interesse, kann an ihm doch gezeigt werden, wie zwei Typen von sozialen Figurationen – Staat und Religionsgemeinschaften – miteinander interagieren – von strikter Trennung zwischen Staat und Kirche bis zum Modell der Staatskirche;29 statt dies hier näher auszuführen, möchten wir an dieser Stelle den „Entwurf eines typologischen Schemas zum Verhältnis von Macht und Religion“ des
29 Brugger 2007.
Soziologen Peter Waldmann präsentieren, das einem Lehrbuch der Figurationssoziologie entnommen sein könnte.30
•
Explikation
Unterwerfung, Unterdrückung, Entrechtlichung einer Religionsgemeinschaft durch weltliche Herrscher
Religionsgemeinschaft stellt Minderheit gegenüber herrschender Mehrheit dar, befindet sich in der Opposition im Widerstand, ohne dass ihr Existenzrecht prinzipiell in Frage gestellt wird
Formen informeller und indirekter politischer Einflussnahme mittels spezifischer religiöser Fähigkeiten und Funktionen
Formalisierte, d.h. offiziell sanktionierte Form der Partizipation an der Macht durch Parteien oder anerkannte Führer religiöser Minderheiten
Theokratie; die herrschenden Geistlichen dulden keine von ihren religiösen Prämissen abweichende politische Konkurrenz
Beispiele
Jüdisches Volk im babylonischen Exil
Die kath. Kirche in Polen unter dem kommunistischen Regime
Beichtväter in der Frühen Neuzeit
Ultraorthodoxe jüdische Parteien in Israel
Die islamische Republik Iran
Das Christentum in seinen Anfängen im Römischen Reich
Die chilenische katholische Kirche unter dem Militärregime Pinochets
Der baptistische Massenprediger und Präsidentenberater Bill Graham in den USA
Die Maroniten im Libanon
Calvins sittenstrenges Regime in Genf nach seiner Rückberufung 1541
Die russischorthodoxe Kirche unter Stalin
Die prot. und die kath. Kirche in der DDR
Fatwas im Islam ·
Die Bischöfe im späten Römischen Reich
Cromwells puritanisches Regime als »Lord Protector« im England des 17. Jahrhunderts
Katharer und Albigenser im Mittelalter
Die Katholiken in Nordirland (bis vor Kurzem)
Ursprüngliche Legitimierung der Apartheit durch die prot. Kirche in Südafrika
Die katholische Zentrumspartei in der Weimarer Republik
Verflechtungsstrukturen jenseits der Nationalstaatlichkeit Auch insoweit können wir nahtlos an Überlegungen von Norbert Elias anknüpfen, der in seinem Beitrag über soziale Prozesse31 dazu Folgendes notiert hat: „Die zunehmende Integration der Menschheit weist immer unzweideutiger auf die Interdependenz innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Prozesse hin. Dem entspricht es, daß sich der Soz. nicht auf innerstaatliche P., also etwa auf die Dynamik von Industrialisierungsprozessen … beschränken lässt … . Als Beispiel kann der mächtige Prozeß der In-
30 Waldmann 2012, S. 254f. 31 Elias 1986b.
tegration dienen, der gegenwärtig alle einzelnen Gesellschaften der Menschheit in immer engere Abhängigkeit voneinander bringt. Er verdient die Aufmerksamkeit der Soziologen.“32 Dies gilt nicht nur für die Soziologie, sondern auch für Politik- und Verwaltungswissenschaft, zwei Disziplinen, die sich seit geraumer Zeit für einen besonders multifunktionalen Typ von Figuration interessieren, der sich in besonderem Maße dazu eignet, zwischenstaatliche Interaktionsprozesse zu bewerkstelligen. Gemeint sind die an dieser Stelle an sich fast überfälligen Netzwerke,33 von denen hier nur zwei immer wieder behandelte Netzwerktypen kurz vorgestellt werden sollen: Das erste Beispiel ist die transnationale Netzwerkkooperation, die in der Literatur – etwa von Anne-Marie Slaughter34 – gerne als „blueprint for the international architecture for the 21st century“ bezeichnet wird. Neben Slaughter ist es vor allem Kal Raustiala, der in einem grundlegenden Beitrag35 das Zeitalter der Netzwerkkooperation ausgerufen hat. Während der von ihm sogenannte „liberal institutionalism“ als hauptsächliches Koordinationsmittel vor allem den klassischen völkerrechtlichen Vertrag und die auf solcher vertraglichen Grundlage beruhenden internationalen Organisationen benutzte, sei das Instrument heutiger internationaler Kooperation das Netzwerkmodell. Für den immer noch anhaltenden Erfolg dieses Netzwerkmodells macht Raustiala vor allem drei „Erfolgshelfer“ verantwortlich, nämlich erstens die technologische Entwicklung, vor allem auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologie, zweitens den Aufstieg des sogenannten Regulierungsstaats und drittens die ökonomische Globalisierung, die als Prozess zunehmender Verflechtung verstanden wird: „Globalization, a hallmark of the current era, can be understood […] as an extension of intensification of economic interdependence. Globalization remains an amourphous concept, but it captures important aspects of contemporary life: the world is growing smaller and more connected, and older forms of demarcation – such as territorial boundaries – appear to have diminished in importance. […] Transgovernmental regulatory cooperation is one reaction to this evolution. The discovery of novel shared problems, such as money laundering, has further expanded the gains from such cooperation.”36 Das zweite Beispiel handelt von Netzwerken als institutionalisierten Bausteinen des Europäischen Verwaltungsverbundes:37 Ohne solche transnationalen Verwaltungsnetzwerke würde der sogenannte Europäische Verwaltungsverbund38 nicht funktionieren. Informationen müssen ausgetauscht, Amtshilfevorgänge organisiert, Entscheidungen in abgestimmten Verfahren getroffen werden. Da der Europäische Verwaltungsverbund vor allem ein kommunikationsintensiver Verbund ist, spielen die sogenannten Informationsnetzwerke in ihm eine absolut zentrale Rolle: „Alle Verwaltung des Gemeinschaftsraumes ist zuallererst Informationsverwaltung. Die Zahl der Vorschriften, in denen das sekundäre EG-Recht den Mitgliedstaaten gegenüber 32 Elias 1986b, S. 237-238. 33 Zur Verwandtschaft von Figurationen und Kreisen mit Netzwerken siehe Nollert 2010, Willems 2010. 34 Slaughter 2000. 35 Raustiala 2002. 36 Raustiala 2002, S. 13. 37 Näher dazu Schuppert 2013. 38 Näher dazu Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold 2005.
der Kommission Unterrichtungs- und Mitteilungspflichten auferlegt, die gegenseitige Unterrichtung zwischen Mitgliedstaaten vorsieht oder EG-Instanzen zur Information der Mitgliedstaaten anhält, ist kaum zu überschauen. … In ihr drückt sich der Grundtatbestand europäischen Verwaltens aus, dass nämlich Einheit erst geschaffen werden muss. Einheit ist zunächst einmal Informationseinheit. Der Grundgedanke des europäischen Verwaltungsinformationsrechts ist die gegenseitige Angewiesenheit aller beteiligten Verwaltungsstellen auf gemeinschaftsweit verfügbare Informationen. Sein Grundkonzept basiert folglich auf dem Prinzip der Reziprozität. Angesichts der Bedeutung des Informationswesens wundert es nicht, dass sich auf diesem Felde die spontanen und punktuellen Formen des Informationsaustausches mehr und mehr institutionell verfestigen. Dabei lassen sich zwei Formen, die hochintegrierten Informationsagenturen und die horizontal angelegten Informationsverbünde, unterscheiden.“39
•
Imperiale Verflechtungsstrukturen „Imperien sind polyethnisch, multikulturell und politisch zentrifugal“ – so der ebenso bündige wie zutreffende Befund bei Jürgen Osterhammel.40 Daher haben alle Imperien ein Integrationsproblem, innerhalb dessen – darin ist sich die Imperiumsforschung einig – Formen der horizontalen und der vertikalen Integration zu unterscheiden sind. Während es bei der horizontalen Integration um das für Imperien klassische Zentrum-Peripherie-Problem geht, dessen Lösung in aller Regel durch eine gezielte Zentralisierungspolitik zu erreichen versucht wird, geht es bei der vertikalen Integration um Modi des Regierens von oben nach unten, und zwar – weil sonst die Kontroll- und Sanktionskosten viel zu hoch wären – um Prozesse und Strukturen des Sich-Arrangierens und der Kooperation mit regionalen und lokalen Eliten und Machthabern: „Die Loyalität imperialer Untertanen muss daher auch lokal gesucht werden. … Unerlässlich ist die konzentrierte Machtdelegation durch Zusammenarbeit mit alteingesessenen Notabeln und mit privilegierten ›Kollaborationseliten‹ der verschiedensten Art. Je größer die wahrgenommenen oder ›konstruierten‹ kulturellen und rassischen Unterschiede sind, desto deutlicher macht sich eine Dialektik zwischen politischer Inklusionsnotwendigkeit und soziokultureller Exklusionsneigung bemerkbar.“41 Besonders gut lässt sich diese Dialektik von politisch notwendiger Inklusion und gleichzeitig praktizierter soziokultureller Exklusion an den wohl dominantesten Imperiumstypen – den Kolonialreichen – studieren; die meisten Kolonialreiche – insbesondere das uns immer vor Augen stehende „British Empire“ – haben Herrschaftsstrategien entwickelt, die diese Gleichzeitigkeit von Inklusion und Exklusion zu verwirklichen suchen und die wir als Erscheinungsformen von „Verflechtung at arms length“ bezeichnen wol-
39 Schmidt-Aßmann 2005, S. 15. 40 Osterhammel 2009, S. 619. 41 Osterhammel 2009, S. 614f.
len; drei solche, das Verhältnis von Nähe und Distanz ausbalancierende Verflechtungsmodi lassen sich in der Kolonialismus-Literatur identifizieren:
• • •
Informal empire Indirect rule Kollaboration. Nach diesem Streifzug durch die Welt verflochtener Staatlichkeit wollen wir uns den Elias besonders am Herzen liegenden Prozessen des Staatszerfalls zuwenden.
6. Eine Figuration in Auflösung: failing and collapsing states Das Thema „Fragile Staatlichkeit“ steht schon seit geraumer Zeit auf der Agenda der Politikwissenschaft ganz weit oben und es fehlt daher nicht an Analysen schwacher und versagender Staatlichkeit.42 Insbesondere die Governance-Forschung hat sich dieses Themas unter der Überschrift „Staatsverfall und Governance“ angenommen43 und der Sonderforschungsbereich 700 beschäftigt sich seit nunmehr neun Jahren mit „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ und analysiert, wie man sich ein „Regieren ohne Staat“ vorzustellen hat.44 Darüber hinaus finden sich Untersuchungen darüber, „why states fail“45 und wie man strauchelnden Staaten zu mehr Stabilität und Effektivität verhelfen könnte.46 Dies alles sind spannende Fragestellungen, aber uns interessiert aus der Perspektive der Figurationssoziologie etwas anderes, nämlich was eigentlich passiert, wenn die ja im Mittelpunkt des Interesses von Norbert Elias stehende Figuration „STAAT“ erodiert, zerfällt, sich auflöst oder was auch immer. Diese Fragestellung müsste – so würde es wohl auch Elias sehen – nicht nur die (Staats-)Soziologie brennend interessieren, sie ist auch von kaum zu überbietender politischer Aktualität. Fast wöchentlich berichten Zeitungen und Nachrichtenmagazine über den Zerfall von Staatsgebilden; nur drei aktuelle Beispiele seien hier zum Beleg genannt: In ihrer Ausgabe vom 1. April 2014 berichtet die Süddeutsche Zeitung über die Zustände in Kenia mit der folgenden Überschrift: „In Kenias Hauptstadt lebt jeder in ständiger Angst vor jedem. Weil der Staat aufgehört hat, zu funktionieren – und die Menschen keinen Grund haben, an ein Morgen zu glauben“; 47 in ihrem Bericht über den Südsudan titelt die SZ am 14./15. Juni 2014: „Zerfallen vor dem Aufbau – Die
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Vgl. dazu die Fallanalysen bei Schmeckener 2006. Siehe dazu die Beiträge in Beisheim/Schuppert 2007. Vgl. dazu die Beiträge in Risse/Lehmkuhl 2007. Rotberg 2004. Schneckener 2007. Süddeutsche Zeitung 2014, Nr. 76, S. 3.
Geschichte eines Scheiterns“.48 Ob der Irak – wie es zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Beitrages scheint (Anfang Juli 2014) – in drei Teile zerbrechen wird – einen sunnitischen, einen schiitischen und einen kurdischen – wird sich erweisen. Andere Beispiele wie etwa Mali und Nigeria ließen sich hinzufügen. Uns interessieren nun nicht diese Zerfallsgeschichten als solche, sondern die Frage, welche Figurationen zum Vorschein kommen, wenn die recht abstrakte „Klammer-Figuration“ STAAT aufhört zu funktionieren, beziehungsweise – in the worst case – zu existieren. Drei Kandidaten stehen dafür bereit: •
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48 49 50 51
Ganz offensichtlich treten ethnische Governancekollektive besonders häufig an die Stelle des erodierenden Staates und sind es ethnische Rivalitäten, die den Zerfall des Staates herbeiführen. Kurz und bündig lautet der entsprechende Befund des SPIEGEL für den Südsudan wie folgt: „Hinter dieser Tragödie steht das Zerwürfnis zweier Politiker, die einst gemeinsam für die Unabhängigkeit gekämpft haben: Präsident Salva Kiir und Vizepräsident Riek Machar. Sie repräsentieren jeweils die größten Volksgruppen im Land, die Dinka und die Nuer, ihr Machtkampf war von Anfang an durch ethnische Rivalität geprägt. Es geht um den Zugriff auf die wertvollste Ressource des Landes: Erdöl.“49 Der zweite bereitstehende Kandidat sind religiöse Governancekollektive, bei denen nicht die Stammeszugehörigkeit die Quelle der kollektiven Identität darstellt, sondern gemeinsame religiösen Überzeugungen: Die gegenwärtig zu beobachtenden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind dafür ein beredtes Beispiel. Ein anderes, besonders interessantes Beispiel ist die Rolle der ägyptischen Muslimbruderschaft, die als Governanceakteur das nach dem Ende der Herrschaft Husni Mubaraks entstehende Machtvakuum für sich zu nutzen verstand. Solche Bruderschaften sind figurationssoziologisch bemerkenswerte Gebilde. Die 1928 in Ismailia gegründete ägyptische Muslimbruderschaft50 war zu ihrem Beginn eine religiöse Bewegung mit einer starken sozialen Komponente, die sich gegen die britische Kolonialherrschaft wandte und dem ägyptischen Volk eine einheitsstiftende muslimische Identität vermitteln wollte. Die Bruderschaft betrieb Krankenhäuser, unterhielt Schulen und sorgte für ein breites Sportangebot, eine Strategie, die auch von anderen religiösen Organisationen verfolgt wurde und wird. Weiter kann ihre Geschichte hier nicht nachgezeichnet werden; wir begnügen uns hier mit der figurationssoziologisch interessanten Charakterisierung der Frühzeit der Muslimbruderschaft durch Muhammed Sameer Murtaza, die wie folgt lautet: „Von der islamischen Sozialbewegung zum Staat im Staate“.51 Süddeutsche Zeitung 2014, Nr. 135, S. 9. SPIEGEL 2014, Nr. 27, S. 86ff: „In Freiheit gescheitert“. Materialreich: Murtaza 2011. Murtaza 2011, S. 37ff.
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Der dritte Kandidat ist die organisierte Kriminalität oder – um einen etwas altmodischen, aber figurationssoziologisch ganz treffenden Ausdruck zu verwenden – Räuberbanden. Ihnen geht es um den Staat als Beute,52 wofür jedes Mittel – auch das der Verkleidung – recht ist. Die Religion ist aufgesetzt: Etliche islamische Gruppen seien vor allem Verbrecherbanden – so lautet eine der zentralen Thesen des gerade erschienenen Buches „Heiliger Krieg, heiliger Profit“ von Marc Engelhardt.53
Was bedeutet dies alles nun aus der Perspektive der Figurationssoziologie? Es bedeutet einmal, dass nicht nur eine Figuration aus mehreren Unter-Figurationen bestehen kann, sondern dass – vergleichbar mit der berühmten russischen Puppe – immer wieder neue Figurationen zum Vorschein kommen, wenn die oberste Puppe fortgenommen wird. Elias spricht in diesem Zusammenhang vom „Vorauseilen der Differenzierungsprozesse“.54 Er beobachtet „lange und immer längere Interdependenzketten“,55 welche die „Stockwerke, der Integrationsebenen, die sich bei Strukturanalysen von Gesellschaften beobachten lassen“ weiter verflechten.56 Dies bedeutet zweitens, dass dann die Frage auftaucht, welches das entscheidende Governancekollektiv ist, dem von den Mitgliedern – besonders im Krisenfall – Loyalität entgegengebracht wird. Nach allem, was man beobachten kann, ist die Abstraktion STAAT als Figuration in vielen Gegenden der Welt ohne identitätsstiftende und Loyalitätsbindungen begründende Kraft.
7. The Cosmopolitan State Einen zumindest kurzen Blick auf den „Cosmopolitan State“ zu werfen, scheint uns aus figurationssoziologischer Perspektive aus drei Gründen vielversprechend zu sein: •
Einmal wendet sich das Interesse der Politikwissenschaft – nach intensiver Beschäftigung dieser Disziplin mit Europäisierung und Transnationalisierung – mehr und mehr der Frage zu, wie man sich eigentlich eine zukünftige globale Ordnung vorstellen könnte; Michael Zürn hat „in kosmopolitischer Absicht“ vier Modelle einer solchen globalen Ordnung präsentiert;57 wir stellen sie hier deshalb vor, weil man diese Übersicht auch als einen Versuch lesen kann, sich zukünftige Figurationen von Staatlichkeit vorzustellen, wobei das Spektrum von
52 53 54 55 56 57
Zum Staat als Beute: Schuppert 2010. Engelhardt 2014. Elias 2004, S. 155. Elias 2004, S. 159. Elias 2004, S. 158. Zürn 2011.
dem eher konventionellen Modell einer intergouvernementalen Ordnung bis zur Entstehung eines rudimentären Weltstaates reicht. Wir lernen daraus, dass es offenbar gar nicht so einfach ist, zukünftige Ordnungsmodelle ohne die Basis-Figuration STAAT zu imaginieren.58 Vier Modelle einer globalen Ordnung (von Michael Zürn)
•
Intergouvernementales Modell globaler Ordnung
Kosmopolitischer Pluralismus
Kosmopolitischer Föderalismus
Kosmopolitische Demokratie
Vertreterinnen und Vertreter (Beispiel)
Dahl; Maus; Moravcsik; Scharpf
Dryzek; Forst; Krisch; Kumm
Habermas; Höffe; Schmalz-Bruns
Archibugi; Brunkhorst; Caney; Held; Pogge; Marchetti
Grundnormen
Staatliche Souveränität; Gewaltverbot; Nichtinterventionsgebot; Kooperationsgebot; demokratische Organisation der Staaten
Menschenrechte; rule of law; due process; practical reasoning; diskursive Demokratie
Menschenrechte; demokratische Legitimation des Gewaltmonopols; diskursive Begründung von Regelungen
demokratische Legitimation aller Regelungen; Gerechtigkeit; Grundrechte
Staatlichkeit
Territorialstaaten bündeln alle Funktionen der Staatlichkeit
Staatlichkeit zerfasert sich in unterschiedliche Rechtsordnungen; Gewaltmonopol bleibt auf der nationalstaatlichen Ebene; Souveränität ist an Grundnormen gebunden
Legitimes Monopol zur Friedens- und Grundrechtssicherung wandert auf die globale Ebene; demokratische Staaten bleiben bestehen und in vielen Fragen dominant
Entstehung eines rudimentären Weltstaates; Nationalstaaten
Wenn man über kosmopolitische Staatlichkeit nachdenkt, so drängt sich unter anderem die Frage auf, ob es so etwas wie Vorläufer des kosmopolitischen Staatstyps gegeben hat. Dieser Auffassung ist etwa Patrick Glenn, der in seinem breit angelegten Werk über den „Cosmopolitan State“59 vier Vorläufer-Institutionen ausgemacht hat, nämlich „The Church as State“, die „Diversity of Empires“, „Collaborative Cities“ und „Affirmative Crowns“. Die in diesem Ensemble von Governancekollektiven wichtigste Institution ist für Glenn die mittelalterliche Kirche, die nicht nur quasi-staatlichen Charakter aufweise, sondern – avant la lettre – selbst als Staat charakterisiert werden müsse: „There is therefore widespread historical opinion that the Christian church is not simply a significant antecedent to the contemporary state but is itself its first manifestation. Figgis concluded textually that ‘the Church was not a State, it was
58 Zum Staat in unseren Köpfen siehe auch Schuppert 2013b. 59 Glenn 2013.
the State’ and that it had no recognizable civil counterpart. Others concur but differ in the timing. … The medieval Christian church would therefore confirm the thesis that the institution of the state could exist before the name, and before its theoretical articulation.“60 Die Institution „Kirche” ist für die Argumentationskette Glenns natürlich eine Perle von besonderem Glanz, zeichnete sie sich doch nicht nur von Anfang an durch ein ausgesprochenes „Globalisierungsgen“ aus, sondern gilt sie der zeitgenössischen Religionssoziologie geradezu als der Prototyp eines deterritorialen religiösen Governanceregimes von globaler Reichweite.61 Auch das Beispiel der Imperien wird man nicht nur gelten lassen müssen, sondern ist aus zwei Gründen gut gewählt: Einmal kann man Imperien – ebenso übrigens wie Netzwerke – als Erscheinungsformen von globalisiertem „institution building“ verstehen, zum anderen sind sie – was Kosmopolitismus im Kern ausmacht – Governanceregime, die notwendigerweise Techniken und Strategien entwickeln mussten, um mit ihrer inneren Diversität umzugehen. Auch Städte passen – auch ohne Absolvierung eines DNA-Tests – problemlos in die Ahnengalerie des „cosmopolitan state“. Nicht nur haben sie als ein Flechtwerk von Handelsbeziehungen – man denke nur an den Städtebund der Hanse als Erscheinungsform virtueller Staatlichkeit – schon früh einen ausgesprochen „cosmopolitan spirit“ ausgestrahlt, auch heute sind die sogenannten MEGA-Cities Governanceakteure kosmopolitischen Charakters.62 Nach Meinung von Experten leben wir in einem Zeitalter, das von ihnen als URBAN AGE bezeichnet wird und durch eine weiterhin explosionsartige Zunahme des in großen Städten lebenden Bevölkerungsanteils gekennzeichnet ist, Städten, die sich zunehmend – z. B. in Sachen des Klimaschutzes – auch netzwerkartig organisieren. Schließlich gehört auch die zählebige Institution der Monarchie zu den Vorläufern des modernen kosmopolitischen Staates, ein Befund, der aus Platzgründen hier nicht weiter belegt werden soll. Das Besondere an diesen vier hier skizzierten Governancekollektiven ist, dass sie alle in einer Form von „cosmopolitan coexistence“ miteinander leben und miteinander auskommen müssen; dies sei der eigentliche Ausweis – so Glenn – ihres Kosmopolitismus: „There have thus been antecedents to the contemporary state, all exemplifications of a broadly conceived state tradition and all irresistibly cosmopolitan in character. They were irresistibly cosmopolitan because there were no effective instruments of closure that could be put to use. Church, empire, city, and kingdom could not be separated from one another; they necessarily lived together. To
60 Glenn 2013, S. 21. 61 Casanova 2009. 62 Sassen 2001.
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the extent that we see historical struggle amongst them today, this too is evidence of their cosmopolitanism.“63 Wenn wir uns diese Argumentation unter Zuhilfenahme der figurationssoziologischen Brille noch einmal genauer ansehen, so lernen wir einen neuen Figurationstyp kennen, nämlich ein kosmopolitisches Ensemble in Gestalt einer Koexistenz verschiedenartiger Gouvernancekollektive von unterschiedlicher Struktur, unterschiedlicher Handlungslogik und unterschiedlicher Legitimationsbasis. Aber auch aus einem dritten Grund ist das Glennsche Buch von figurationssoziologischem Interesse. Glenn spricht immer wieder „degrees of stateness“, „degrees of statehood“, unterschiedlichen Intensitäten von „étatisation“ sowie von „varieties of statehood“; ganz offensichtlich denkt er – wie auch wir das tun – in graduellen Abstufungen statt in containerhaften Schubladen sowie in Übergängen, die – und dies ist eine große Herausforderung – sprachfähig gemacht werden müssen. Auch wir predigen seit langem – gefühlt: seit Jahrzehnten –, dass der realen Welt von Staatlichkeit nicht mit Denken in Dichotomien – Staat oder Nicht-Staat, Recht oder Nicht-Recht oder wie auch immer – beizukommen ist. Wie gerade auch die von Glenn mehrfach angesprochene Diskussion über strong, weak, failing und collapsed states zeigt, gibt es unterschiedliche Grade von funktionierender oder eben nicht funktionierender Staatlichkeit, gibt es ferner unterschiedliche Typen von Staaten – etwa „godly“ states wie den Iran, halb „godly“ states wie etwa Ägypten und so weiter und so fort. Wir sprechen daher einmal – im Anschluss an Überlegungen von Christoph Zürcher64 – von einer „variety of statehood“, zum anderen halten wir es für unzutreffend, sich auf einen bestimmten Staatstyp zu fokussieren, um sodann – wie Wolfgang Reinhard dies getan hat65 – dessen Untergang zu konstatieren; angemessen erscheint uns daher nur eine prozesshafte Perspektive – Staat als Prozess66 –, um der historisch bedingten Vielfalt von Staatlichkeit gerecht werden zu können. In seinem letzten Kapitel nun liefert Glenn unter dem Titel „Cosmopolitan Thought“ für dieses Denken in Abstufungen statt in Dichotomien eine anspruchsvolle Begründung, in der er der klassischen binären Logik eine kosmopolitische „neue Logik“ gegenüberstellt. Die Funktionslogik des „alten“ binären Denkens ist denkbar einfach: „There is no middle ground between contradictory positions… You either have $ 3.75 to buy a latte or you do not.“67 Repräsentativ für diese Denkweise seien “notorious dichotomiser” wie etwa Jean Bodin, Thomas Hobbes oder auch Hans Kelsen. Glenn 2013, S. 36. Zürcher 2007. Reinhard 2007. Schuppert 2010. Glenn 2013, S. 262.
Für jemanden, dem es wie Glenn und uns gerade um die Erkundung des „middle ground“ geht, also um Abstufungen, Übergänge und Hybridisierungen, ist ein Denken in Dichotomien unbehilflich; wessen es also bedarf, ist nicht nur eine differenzierende Sprache, sondern – so Glenns Schlussfolgerung – auch eine andere Logik, um die Komplexität der Phänomene angemessen erfassen zu können. Diese Logik kann nur eine abstufungsorientierte sein: „The essential characteristic of multivalent logic is that it is ‘degree-theoretic’ in replacing a binary option with one that tolerates degrees, usually expressed as degrees of truth (as in the statement ‘there is some truth in that’). Where different and contradictory laws are seen in conflict under classical logic, a multivalent logic would admit assessment of relative degrees of applicability and more nuanced means of choice, … .”68 Auch wir sind der Auffassung, dass allein ein solcher „sliding scale approach” der Unübersichtlichkeit der Welt gerecht zu werden vermag und – dies ist unsere Schlusspointe – der Dynamik des figurationssoziologischen Ansatzes entspricht.
8. Einige staatssoziologische Abschlussbemerkungen Helmuth Schulze-Fielitz hat in seinem Beitrag über „Konturen einer zeitgenössischen Staatssoziologie“69 lapidar festgestellt, der Begriff einer Staatssoziologie sei „unüblich“70 und nach Erklärungen für diesen Sachverhalt gesucht – ist es doch im Gegensatz dazu durchaus gebräuchlich, von einer Soziologie der öffentlichen Verwaltung zu sprechen.71 Diese Unüblichkeit des Begriffs Staatssoziologie scheint uns aber nichts an der Tatsache zu ändern, dass man der Sache nach Staatssoziologie betreibt, wenn man über die Figuration STAAT nachdenkt, seine verschiedenen Aggregatzustände analysiert – verflochtene Staatlichkeit auf der einen Seite, erodierende Staatlichkeit auf der anderen – oder die Entwicklungsdynamik dieser Figuration untersucht oder gar zu prognostizieren sucht → Stichwort: Wandel von Staatlichkeit.72 Wir sprechen uns daher dafür aus, den Begriff der Staatssoziologie zu bitten, aus seinem unfreiwilligen Exil zurückzukehren und als ein Brückenbegriff für diejenigen zu fungieren, die sich für den soziologischen Gegenstand STAAT interessieren, möge ihr Beweggrund dafür staatswissenschaftlicher, staatstheoretischer oder – wie bei Norbert Elias und Max Weber – genuin soziologischer Natur sein. Der Beschäftigung mit dem Staat als zentralem Gegenstand der Figurationssoziologie wird
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Glenn 2013, S. 267. Schulze-Fielitz 2013. Schulze-Fielitz, S. 18. Grundlegend: Mayntz 1978; vgl. auch Schuppert 2000). Sorensen 2004; Schlichte 2005; Leibfried/Zürn 2005; vgl. auch Schuppert 2008.
man jedenfalls – ebenso wie diesem Beitrag – den Untertitel „Ein Beitrag zur Staatssoziologie“ kaum absprechen können.
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Reinhard Blomert Das Verhältnis von politischer und ökonomischer Macht im Zivilisationsprozess
1. Staatsbegriff Der Staatsbegriff enthält den Begriff der politischen Macht, also der Macht zu bestimmten Entscheidungen für das Ganze, die, wenn sie nicht usurpiert wurde, auf Anerkennung durch konstitutionelle Wahlverfahren beruht (Ratsversammlung, Ständeversammlung, Parlamente), und in vielen Fällen auch auf entsprechenden religiösen Verfahren (Salbung, Krönung durch den Papst). Die politischen Entscheidungen werden durchgeführt mithilfe eines Verwaltungsapparats, der in einem Rechtsstaat auch kontrollierbar ist durch die Justiz. Zur Macht verhelfen in den Staaten unterschiedliche Faktoren – in der französischen Monarchie war es die Tradition der Königsdynastie (Valois, Bourbon) die als charismatisches Element zum Erhalt und zur Stärkung der königlichen Macht beitrug, aber im materiellen Sinne auch die Verbreiterung der finanziellen Mittel, auf die sich der König stützen konnte durch ein gezieltes Bündnis mit den Städten, die ihm die Möglichkeit gab, seine Herrschaft auch durch Gewährung von Rechten und materiellen Gaben zu legitimieren und zu festigen. Im Heiligen römischen Reich deutscher Nation war es die Fähigkeit eines Kandidaten, die Mitglieder des Wahlgremiums (die sieben Kurfürsten) mit bestimmten Versprechen oder mit Geldgeschenken auf ihre Seite zu bekommen, wozu sich die Kandidaten in der Regel auch bei der Hochfinanz verschulden mussten. In heutigen parlamentarischen Demokratien sind es verschiedene Elemente, die je nach Staat zur Regierungsmacht verhelfen – innerparteiliche Selektion in Parteiendemokratien, die Spiegelung der Vertretung gesellschaftlicher Interessen im jeweiligen Parteiprogramm, und die Geldmittel, über die ein Kandidat verfügt, oder die er als Zuflüsse von den verschiedenen gesellschaftlichen Interessengruppen für Wahlkämpfe verwenden kann. Hier haben sich in den Demokratien neue Arten von Interdependenzen ergeben, die Elias einmal so beschrieben hat: „Die Tatsache, daß sich … die Regierenden nun durch relativ unpersönliche Prinzipien und Ideale, die sich auf die Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse bezogen, vor den Regierten als qualifiziert ausweisen mußten, daß sie sich selbst solcher Idealprogramme für die Organisierung der Gesellschaft als Mittel für das Gewinnen von Anhängern und von Glaubensgenossen bedienen mußten, daß sie die Masse der Regierten durch Vorschläge für die Verbesserung in deren Lebensbedingungen für sich zu gewinnen suchten,
alles das sind charakteristische Symptome für die relative Verlagerung der Machtgewichte im Verhältnis von Regierungen und Regierten.“1
Staaten haben zunächst normative Funktion durch Gesetzgebung, die sich auf alle vergesellschafteten Bereiche bezieht, also Strafgesetze, Zivilgesetzgebung und Wirtschaftsrecht umfassen. Im Wirtschaftsleben, das sich nach dem Untergang des römischen Reiches zunächst als reine Subsistenzwirtschaft, also in Form von familiären und oikos-Wirtschaftskreisläufen fortsetzte, finden wir im kontinentalen Europa vom elften Jahrhundert an auch eine städtische Bevölkerung von Händlern und Kaufleuten, die von städtischen und staatlichen Instanzen mit Marktprivilegien ausgestattet sind. Hansekaufleute, die zwischen mehrere Staaten Handel betrieben, verfügten daher über die entsprechenden Privilegien und Konsulate der jeweiligen Monarchen. Der Staat ist also eine politische Instanz, die in alle vergesellschafteten Lebensbereiche zwingend eingreifen kann. Die Möglichkeit zur Ausübung von Macht hängt ab von der jeweiligen Konstellation der Kräfte innerhalb des politischen Machtbereichs (Elias nennt es treffend die „Machtbalance-Figuration“2), den seit Beginn der Neuzeit in Europa der Nationalstaat darstellt. Der Nationalstaat selbst wiederum befindet sich in einer interdependenten Staatenkonfiguration, in deren Rahmen er Macht ausüben kann je nach seiner Lage, Größe, der Art und Zahl seiner Bevölkerung, die wiederum Basis für sein Potential an militärischen und ökonomischen Machtquellen darstellen.3 Der Staatsbegriff von Elias bezieht sich zunächst auf die Entfaltung und Art der militärischen Machtmittel, und begreift die Rolle des Staates als „Überlebenseinheit“ im Rahmen der Konkurrenz der Staaten in Kriegen, sowie auch als Formungsinstanz für die Oberschichten: Der Staat wird zur zivilisierenden Kraft. Zwar wird die Entstehung des Steuermonopols dargestellt,4 aber die ökonomischen Aspekte der Macht fallen letztlich aus seiner Betrachtung heraus, wodurch ein Desiderat entstanden ist, das es zu füllen gilt. Bevor jedoch eine Näherung an dieses Desiderat versucht wird, sollte noch einmal geklärt werden, wie und unter welchen Umständen der Elias’sche Staatsbegriff 1 Elias 1970/2004, S. 71. 2 In dem luziden Band „Macht und Herrschaft“, den Peter Imbusch 1998 bei Leske & Budrich herausgeben hat, wird auf das Machtverständnis bei Elias nur einmal eingegangen: In der Einleitung stellt Imbusch bedauernd fest, dass auf einen Text zum Machtverständnis bei Elias „schmerzlich“ verzichtet werden musste (Imbusch 1998, S. 23). 3 Elias hat, wie schon Max Weber, den „polymorphen Charakter der Machtquellen“ betont (Elias 1970/2004, S. 118), und zwei Machtquellen direkt benannt, die ökonomischen und die militärischen: Es sei eine allzu große Vereinfachung, eine einzelne davon als „die Machtquelle“ hinzustellen (ebd.). Daher wird im Folgenden die Verschränkung beider Machtquellen in Anschlag genommen. 4 Siehe Morgan/Prasad 2009 für einen ausgezeichneten finanzsoziologischen Beitrag zur Entwicklung der Steuern in Frankreich (im Vergleich mit den USA). Die Autorinnen zeigen im Rahmen einer longue durée-Betrachtung die jeweilige Formierung von Kräftekonstellation, die zu bestimmten Steuermodellen geführt hat.
sich herausbildete. Denn Elias war „ein Soziologe, der sehen will“,5 dem Erfahrungen stets die Basis für theoretische Erörterungen bildeten. Das bedeutet freilich nicht, dass alle Themen, die er behandelt hat, als gespiegelte und direkt reflektierte Erfahrung betrachtet werden dürfen, aber bei genauerem Hinsehen wird man stets einen Erfahrungskern finden. Was wäre hier der Kern der Erfahrung? Warum hat sich Elias so sehr auf die Betrachtung der Gewaltfunktionen, der militärischen, bzw. militaristischen Entwicklung des Staates verlegt? Warum hat er die ökonomische Dimension eher vernachlässigt? Aus Elias Biographie lässt sich ein wichtiges Element seines Staatsverständnisses herausarbeiten, das sich nicht am üblichen Schema, das die „Moderne“ als Fortschritt6 von der Monarchie zur Demokratie orientiert: In der Zivilisationstheorie von Norbert Elias öffnete nicht die Französische Revolution das Tor zu einer höheren Stufe der menschlichen Gesellschaft, sondern es war eine spezielle Figuration der Kräfte, im Rahmen welcher es den französischen Königen gelang, die Eliten zu zivilisieren. Der Staat, in dieser Theorie verstanden als Waghalter in einer bestimmten Konstellation von gesellschaftlichen Interessengruppen („der „Machtbalance-Figuration“), wird mit der französischen Monarchie zur Zivilisationsanstalt, die das zentrale Element des humanistischen Fortschritts wurde: Dieser Staat vollendete nicht nur die Pazifizierung des Raums, sondern es gelang ihm auch, eine Verhaltensänderung seiner Eliten zu bewirken. Das macht in der Zivilisationstheorie den entscheidenden Wendepunkt für die abendländischen Gesellschaften aus. Die Zivilisationstheorie entstammt somit einer besonderen Wahrnehmung der Staatsfunktion, die eine von den gängigen völlig verschiedene historische Erzählung begründete. Die Lebensformen des ancien régime sind bei Elias nicht mehr monströse Äußerungen nutzloser verschwenderischer Schichten, die den bürgerlichen Steuerzahlern zur Last fielen, sondern erste Schritte auf dem Wege zu einem zivilen Zusammenleben auf dem eng bemessenen Raum des Versailler Schlosses. Es gibt noch ein zweites, eher verstecktes Element, das für Elias Staatsverständnis eine wichtige Bedeutung hat: Die industrielle, kapitalistische Entfaltung der deutschen Wirtschaft in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hatte eine Vereinnahmung sämtlicher Lebensäußerungen zur Folge, die als Gegenbewegung eine selten starke und nachhaltige Jugendbewegung provozierte, die gegen die neue Arbeitswelt und die Industriebürokratie, die „Verapparatung“ (Alfred Weber) der Menschen in den Etagen der Fabrikgebäude revoltierte. Die wilhelminische Gesell5 Vgl. Blomert 1995. 6 Soziologische „Theorien der Moderne“ haben seit den sechziger Jahren einen Aufschwung erlebt, die die klassischen Fragen der Soziologie nach der „Kultur des Kapitalismus“ abgelöst hat. In ihnen werden einzelne Elemente im Rahmen eines Katalogs der Modernisierungen dargestellt, nach denen Länder beschrieben werden. Die Europäische Union benutzt genau diese Art der Bewertung von Gesellschaften, indem sie etwa die „Fortschritte“ in den neuen Beitrittsländern oder in Beitrittskandidatenländern bestimmt, um ihre Zulassungs-„Reife“ zu messen.
schaft war unfähig, die Veränderungen durch ein allgemeines Verhaltensideal aufzufangen, es fehlte der „deutschen Gesellschaft die Bindung durch einen für alle Kreise gültigen Maßstab: ein Vorbild der Haltung, Bildung und Lebensführung, das für Menschen aller Schichten Ziel gewesen wäre. Dem Romanen ist solches Vorbild der Kavalier; der Engländer aller Kreise setzt sein höchstes Streben darein, ein Gentleman zu werden; und das Bestreben jedes Amerikaners, in einem Klub aufgenommen zu werden, ist schließlich nichts anderes, als solcher Wunsch nach allgemein geltender soziale Anerkennung.“7
Die Verkehrsformen und Rituale der Corpsstudenten und Reserveleutnants, die Elias in seinen Studien über die Deutschen später als dominante Züge des nationalen deutschen Habitus ausmachte, waren als „Kastenkonvention“ keine verallgemeinerbaren gesellschaftlichen Ideale8. Schon Max Weber hatte das Fehlen einer Geschmackskultur beklagt, wie es Frankreich „aus seiner aristokratischen Vergangenheit herübergerettet und (...) in ... der ästhetischen Durchgeformtheit des französischen Menschentypus weitergepflegt hat.“9 Elias war bereits vor dem Ersten Weltkrieg Mitglied des jüdischen Wanderbundes Blau-Weiß, einer jugendbewegten Gruppe, die den zionistischen Siedlungsgedanken verfolgte. Diese jüdische Jugend wollte dem Zwang zur Assimilation durch die Bildung eines eigenen jüdischen Staates entgehen, empfanden sie doch die „Zweitrangigkeit“ der deutsch-jüdischen Gesellschaft als letztlich unüberwindbar. Diese „Zweitrangigkeit“ beschrieb er als eine latent vorhandene Bewertung, die jederzeit abrufbar ist: „Einmal sind da die nicht zu leugnenden inneren und äußeren Unterschiede zwischen der Mehrzahl der deutschen Juden und der Mehrzahl der deutschen Christen, mag man sie nun mehr aus der Abstammung oder mehr aus der Erziehung oder aus beiden, aus dem Gesamten ihres geschichtlichen, ihres sozialen Schicksals zu erklären suchen, Unterschiede, die zwar an sich ganz gewiß nicht die ‚Zweitrangigkeit‘ begründen, wohl aber bei einer Kampfstellung zu einer solchen Einschätzung führen können. Und diese Andersartigkeit wird in der Tat als Realität und als Argument im sozialen Kampf für das christliche Bürgertum erst in ganz bestimmten Konstellationen aktuell und relevant.“10
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Lütkens 1925, S. 41f. Vgl. Elias 1989. Vgl. Weber 1988, S. 282. Stefan Breuer hat in seiner Kritik an der Zivilisationstheorie moniert, dass nur die Aristokratie zivilisiert worden sei, aber weder die Verhaltensweisen des Bürgertums noch die Usancen der modernen Massendemokratie als Fortsetzung dieses Prozesses gesehen werden könnten, vgl. Breuer 1994. Dabei übersah Breuer offenbar nicht nur diese Passage bei Max Weber, sondern auch die großen Differenzen, die Elias – wenn auch nicht immer explizit – bei der Betrachtung des Zivilisationsprozesses zwischen den einzelnen Nationalgesellschaften trifft, insofern er den Nationalstaatsgesellschaften grundsätzlich eigene Entwicklungen zuschreibt. 10 Elias, 2002, S. 122.
Der Zionismus wurde verstanden als Bildungs- und Aufbauprogramm des jüdischen Staates und sollte zu einer „gewaltigen Erneuerung des jüdischen Volkes“ führen.11 Das also waren die besonderen Elemente, die in den Staatsbegriff bei Elias eingeflossen sind: Koordination und Kontrolle der Gewalt durch Integration – Stilbildung und Verhaltenserziehung gehören zu den genuinen Aufgaben des Staates, der als Erziehungsstaat und als Garantie für einen zivilen Umgang verstanden wird.12 Damit geht Elias über die reine Abwehrfunktion des Staates hinaus, die bei Thomas Hobbes (Überwindung des Bürgerkriegs durch Gehorsam),13 John Locke (Sicherung des Privateigentums) oder Carl Schmitt (Handlungsfähigkeit im Ernstfall)14 die zentrale Rolle spielen: Der Staat entsteht aus dem Prozess der Monopolisierung der Gewalt, aber er übernimmt in der Folge weitere Funktionen, als Kulturstaat, Maßhalter und Erzieher, wobei Elias keineswegs normativ-idealistisch, sondern realistisch-historisch argumentiert und die Dialektik der Kräfte beschreibt, die in ihrer Gesamtkonstellation den zivilisatorischen Prozess befördern: Ludwig XIV. ist nicht von persönlichen Motiven zur Zivilisierung der französischen Aristokratie getragen, sondern handelt aus existentieller Notwendigkeit heraus. Nach Vorstudien über die Renaissance in Breslau und Heidelberg, die in BlauWeiß als Vorgabe für Staatsbildungen bei der Siedlung in Palästina betrachtet und diskutiert wurde15, und nach der Entdeckung der Psychoanalyse in Frankfurt16, be-
11 Der jüdische Staat war geplant „als der Schmelztiegel, in dem die verdruckten, geknechteten, … und ghettohaften Qualitäten umgegossen werden sollen damit der Typus eines neuen, freien, stolzen, tätigen und selbstbewussten Juden möglich wird“ (Hackeschmidt 1997, S. 180). Die zionistische Idee ermöglichte ein neues Selbstbewusstsein, das nicht nur gegen die assimilatorische Haltung der Eltern rebellierte, sondern auch einen eigenen Platz für das jüdische Volk in der Welt definierte. 12 Im Unterschied zu Michel Foucault, der die Macht stets gewissermaßen von unten betrachtet (so in „Überwachen und Strafen“), also ähnlich wie bei Kafka, amorph und bedrohlich, sieht Elias die Macht von unten und von oben: Furcht und Angst soll sie erregen, um das Über-Ich zu bilden und zu stabilisieren. Kontrolle hat einen Zweck, einen Sinn, den sie erreichen oder verfehlen kann. 13 Zum Verhältnis Elias-Hobbes siehe der erhellende Aufsatz von Wickham/Evers 2012. Elias ging im Übrigen nicht von der „Wolfsnatur“ des Menschen aus, wie Hobbes und wie Freud – der hier Hobbes folgte –, sondern von der Prägungsbereitschaft des Menschen, die aus dem beständigen „Triebgespräch“ mit der Mutter, bzw. den Sozialisationsinstanzen entsteht, vgl. Elias 2001, S. 46. Das Kind, so heißt es da, bedarf der Prägung durch andere, es bedarf der Gesellschaft, damit aus ihm ein psychisch Erwachsener wird“ (ebd.). 14 Lars Bo Kaspersen und Norman Gabriel haben vorsichtige Schritte unternommen, um die „Überlebenseinheit“ mit Carl Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung in Verbindung zu bringen. Vgl. Kaspersen/Gabriel 2008. 15 Vgl. Blomert 2014. 16 Die Psychoanalyse war in Heidelberg durch Frieda (Fromm-)Reichmann vertreten (das „Thorapeutikum“), die seit mit Erich Fromm verheiratet war. Fromm aber gehörte zu der von der Breslauer Blau-Weiß-Gruppe bekämpften Frankfurter Blau-Weiß-Fraktion, zu der auch Leo Löwenthal und Ernst Simon gehörte. Der Elias-Freund Martin Bandmann, ebenfalls Mitglied
fasste er sich in seinem Londoner Exil mit dem Zusammenhang zwischen dem Prozess der Staatsbildung und der Herausbildung von intrapsychischen Schranken des Handelns in der abendländischen Oberschicht, welche er mit Freud als die Voraussetzung für Kultur betrachtet. Die Gewaltbereitschaft dieser herrschaftlichen Schicht verschwindet im Zuge ihrer Verhöflichung. Im höfischen Verkehr sind die Schamschwellen in Bezug auf den Gebrauch von Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung unüberwindbar, denn aggressives Handeln oder Sprechen wird als peinlich empfunden und mit Missachtung oder gar Ausschluss bestraft. Elias zeigt am Beispiel der Wandlung der Manieren, dass dieser zivilisatorische Prozess nicht nur einen einzelnen Bereich der Persönlichkeiten erfasst, sondern eine umfassende Veränderung der gesamten Persönlichkeit bedeutet. Die Zivilisierung geht also über die Unterdrückung von aggressiven Trieben durch eine intrapsychische Instanz (das „Über-Ich“) weit hinaus und umfasst die Zivilisierung des Verhaltens in tendenziell allen Bereichen, des „Verhältnisses zwischen Mann und Frau“, des Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern (über das er in den achtziger Jahren geschrieben hat), und weitere Dimensionen der Persönlichkeitsveränderung, denn „…im Zuge dieser Pazifizierung ändert sich zugleich auch die Sensibilität der Menschen für ihr Verhalten im Verkehr miteinander. Nun verstärken sich proportional zur Abnahme der äußeren die inneren Ängste, die Angst des einen Sektors im Menschen vor dem anderen. Auf Grund dieser inneren Spannungen beginnen die Menschen sich gegenseitig beim Umgang miteinander in einer Weise differenziert zu erleben, die dort, wo die Menschen beständig starke und unabwendbare Bedrohungen von außen zu erwarten haben, notwendigerweise fehlt. Nun wird ein ganzer Teil der Spannungen, die ehemals unmittelbar im Kampf zwischen Mensch und Mensch zum Austrag kamen, als innere Spannung im Kampf des Einzelnen mit sich selbst bewältigt.“17
1.1 Die Wandlungen im Seelenhaushalt Eine neue Instanz entsteht in diesem Prozess im psychischen Haushalt der Menschen, „die psychische Außensteuerungsfunktion des Menschen differenziert sich in ‚Ich’ und ‚Über-Ich’: Je weiter diese Differenzierung der psychischen Selbststeuerung gedeiht, desto ausgesprochener fällt jenem Sektor der psychischen Steuerungsfunktionen, den man im weiteren Sinne als ‚Ich’, im engeren als ‚Über-Ich’ bezeichnet, eine doppelte
des Breslauer Führungszirkels von Blau-Weiß, machte sich über sie lustig, „als er von Franz Meyer (einem weiteren Freund aus der Breslauer Blau-Weißgruppe, RB) hörte, daß ‚die Heidelberger jetzt psychoanalytisch’ seien“ (vgl. Hackeschmidt 1997, S. 152). Man muss annehmen, dass Elias deshalb in Heidelberg noch keinen Zugang zur Psychoanalyse gesucht hat. 17 Elias 1997, S. 417.
Funktion zu: Dieser Sektor bildet auf der einen Seite das Zentrum, von dem aus sich ein Mensch in seinen Beziehungen zu anderen Dingen und Wesen steuert, und er bildet auf der anderen Seite das Zentrum, von dem aus ein Mensch teils bewusst, teils auch ganz automatisch und unbewußt sein ‚Inneres’, seine eigenen Triebregungen steuert und reguliert. Die Schicht der psychischen Funktionen, die sich im Zuge der geschilderten, gesellschaftlichen Wandlungen allmählich stärker von den Triebregungen abhebt, die Ich- oder Über-Ichfunktionen, haben mit anderen Worten innerhalb des Seelenhaushalts eine doppelte Aufgabe: Sie treiben zugleich eine Innenpolitik und eine Außenpolitik, die allerdings nicht immer im Einklang, die oft genug im Widerspruch zueinander stehen.“18
Elias hat mit diesen Forschungen zur Veränderung des psychischen Haushalts der Menschen im Zusammenhang mit dem Prozess der Staatsbildung nicht nur die anthropologische Grundannahme einer stets gleichbleibenden Grundstruktur der menschlichen Psyche falsifiziert (vgl. dagegen Hans-Peter Dürr, der an vielen illustren Beispielen versucht hat, diese anthropologische Grundannahme zu retten), sondern zugleich eine historische Achsenzeit festgelegt, in der der große Umschwung in der Zurückdrängung der Aggressionsbereitschaft der Menschen sich vollzieht: Beginnend mit dem 12. Jahrhundert zeigt sich vor dem Hintergrund eines soziogenetischen Panoramas der Staatsbildung zugleich eine grundlegende psychogenetische Wandlung, die einen veränderten, eben zivilisierteren Umgang zwischen den Menschen ausmacht. Die Historisierung erweist sich somit im Vergleich zur Psychoanalyse Freuds als die methodische Besonderheit in Elias Arbeiten: Elias beschreibt zwar diesen Verhöflichungsprozess als modellhaft, aber das Modell bleibt zugleich eingebettet in den gesamten historischen Prozess, der seiner Intention nach als gesamtgesellschaftlicher Zivilisationsprozess ausgerichtet ist. Das scheinbar teleologische dieser geschichtlichen Richtung zeigt sich bei näherem Zusehen einfach als innere Logik, denn die Zivilisierung der Krieger ist nicht isoliert betrachtet, sondern wird in einen Zusammenhang gebracht mit der Monetisierung, die die Zentralisierung der Macht ermöglicht, der Bevölkerungsentwicklung, der Verstädterung und der Verdichtung der Handlungsketten, zu der die Pazifizierung eine notwendige Voraussetzung ist. Das hier die historischen Subjekte zum einen die Nationalgesellschaften sind, zum anderen aber die diversen gesellschaftlichen Gruppen und Gruppierungen innerhalb dieser Nationalgesellschaften, in denen sich „Wir-Gefühle“ entwickeln, das hat er – nicht zuletzt auf der Grundlage der von ihm mitentwickelten Gruppenanalyse19 – in seinen späteren Arbeiten weiter ausgearbeitet.
18 Elias 1997, S. 400. 19 Vgl. dazu Blomert 1989.
1.2 Zwischenbemerkung zur Methode Die Elias’sche Methode ist in gewisser Weise intuitionistisch.20 Angesichts seiner ersten Ausbildungsphase an der Universität Breslau könnte man diese Methode die medizinische nennen, denn er geht vor wie ein Mediziner bei der Diagnose. Seine Frage ist: Was sind für diesen oder jenen Strang im historischen Prozess die wichtigsten Elemente? Bestimmte Prozesse im Entwicklungsstrang werden sodann isoliert, und auf ursächliche Zusammenhänge hin anhand anschaulicher konkreter Fakten untersucht, ohne die gesamte Matrix von gesellschaftlichen Faktoren in Augenschein zu nehmen. Vergeblich wird man bei Elias nach juristischen Institutionen suchen, man findet auch keine direkten Vergleiche zwischen den Entwicklungen in verschiedenen Ländern, seine Beweisführung ist intrinsisch, eben „soziogenetisch“. Ansatzweise kann man in späten, von seinem Assistenten veröffentlichten Arbeiten Hinweise auf die englische Entwicklung und die deutsche Entwicklung finden, aber sie werden wiederum nicht direkt verglichen, bleiben von ihren eigenen Gesetzen aus erklärt.21 Elias hat sich bei der Definition des Staates auf Max Weber bezogen, auf die Definition durch das Gewaltmonopol, während er auf die bei Weber zum „rationalen Staat des Abendlandes“ gehörigen Elemente – Fachbeamtentum, rationales Recht – nicht eingeht. Sein Staatsbegriff beansprucht gar nicht, vollständig zu sein, setzt die Kenntnis der Weberschen Definitionen aber voraus. Er versucht nicht eine exakte juristische Definition im Sinne Webers, sondern begründet eine historisch-soziologische Beschreibung der Staatswerdung im Abendland, die sich von den aus den angelsächsischen Tradition bekannten metaphorischkonstruktivistischen Gesellschaftsvertragsdarstellungen ebenso abhebt, wie von der mythologischen Überlagerungstheorie Franz Oppenheimers: Nicht ein fiktiver Gesellschaftsvertrag bildet die Basis des Staates, auch war es nicht ein Herrenvolk, das ein anderes Volk einst unterworfen hatte und nun die Staatselite bildete,22 oder der symbolische Leviathan, der die Bürgerkriegsparteien entwaffnete und mit seiner absoluten Herrschaft den Frieden wieder herstellt,23 sondern ein Kräfteparallelogramm, gebildet aus einer bestimmten Konfiguration von gesellschaftlichen Gruppen, die sich auf Machtquellen unterschiedlicher Art stützen, darunter hauptsächlich die finanziellen und militärischen Kapazitäten.
20 So bezeichnete sie der Grazer Soziologe Helmut Kuzmics einmal nicht ganz unzutreffend. 21 Im Marbacher Nachlaß fand René Moelker das Konzept eines solchen Vergleichsprojekts, von dem Elias sagte, dass es „jedenfalls in meiner Lebenszeit nicht mehr zustande kommen wird“, da er „sehr langsam“ veröffentliche, vgl. Elias 2015, S. 211. 22 Wie es Rüstow 1950 beschrieben hat. 23 Hierzu Münkler 2014.
2. Das Bürgertum im Zivilisationsprozess Die ökonomischen Verhältnisse, wie sie von Weber beschrieben werden, hat Elias nicht näher untersucht (von der „Genese des Steuermonopols“ abgesehen), insbesondere fehlt es an einer näheren Beschreibung des Bürgertums, das in sich eine äußerst heterogene Schicht ist.24 Die ökonomische Machtquelle als Element des historischen Zivilisationsprozesses wird bei Elias nirgends ausgedeutet, wenn man von allgemeinen Aussagen wie etwa über den für den Adel nachteilig wirkenden Monetisierungsprozess absieht. Das Bürgertum setzt sich bei Henri Pirenne, einer von ihm mehrfach zitierten Quelle, aus den Entwurzelten und Überflüssigen der Agrargesellschaft, aus Vagabunden und Abenteurern zusammen, die außerhalb der Burgen eigene „faubourgs“, also eine Art Vorstädte gründen und sich im elften und zwölften Jahrhundert zu Bürgerschaften zusammenschließen. Sie „verschwören“ sich, wie es auch Max Weber beschrieb (conjurationes), in Gilden und Hansen, bilden als städtische Gemeinschaft ein eigenes Kollektiv, weit entfernt also von einem „unternehmerischen Individualismus“, denn jedes Mitglied haftet für das Kollektiv.25 Sie bewahren in ihren „Vorstädten“ den Stadtfrieden, bekommen vom König eigene Stadtrechte zugesprochen, weil ihre Handels- und Gewerberegeln nur schwer mit dem alten germanischen Formelrecht zu vermitteln waren.26 Diese neuen „Bürger“ waren nicht willkommen, sie mussten sich das Recht auf Verkäuflichkeit des Bodens ebenso erkämpfen wie das Recht auf eigene Gerichtsbarkeit, das Recht auf innerstädtische Abgaben zur Erhaltung der Infrastruktur ebenso wie das Recht zur Einrichtung einer Polizei zum Schutz des Eigentums. Diese Stadtrechte waren allerdings noch gänzlich unsystematisch und punktuell auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnitten. Schon seit Beginn aber, so beschreibt es Pirenne, gab es den Interessengegensatz zwischen Arbeit und Kapital: „L’opposition du capital et du travail s’y revèle comme aussi ancienne que la bourgeoisie.“27 24 Das städtische Bürgertum, wie es Pirenne und Max Weber schildern, setzt sich zunächst aus Händlern, Geschäftsleuten und Handwerkern zusammen, die sich infolge der zunehmenden Arbeitsteilung in immer spezialisiertere Berufe differenzieren. Das „Bildungsbürgertum“ ist ebenfalls ein städtisches Bürgertum, also Berufe wie Apotheker oder Ärzte und Lehrer, später auch Notare, Anwälte oder Architekten und städtische Beamte, aber zugleich als Beamtentum, noblesse de robe im nationalen Rahmen, sei es als Professoren oder als Verwaltungsbeamte. Die Bankiers als eigene Gruppe treten erst im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert im nationalen Rahmen auf mit der beginnenden Geldwirtschaft. Ihrer Herkunft nach ist die Hochfinanz nicht bürgerlich, sondern kurial, so jedenfalls Landmann 1933, S. 9-26. 25 Pirenne unterscheidet kategorial zwischen dem Seehandel und dem Handel zu Lande: Der Seehandel hat eine alte Tradition, dessen Niedergang, nach Pirenne, mit der Schließung des Mittelmeers im achten und neunten Jahrhundert durch die Mohemmedaner besiegelt wurde (Pirenne 1971, S. 24). Erst mit den Kreuzzügen im zehnten Jahrhundert kam er wieder in Gang und in der Folge begann sich nun ein neuer Typus von Kaufmann in den Städten zu organisieren (vgl. Pirenne 1971, S. 84). 26 Pirenne 1971, S. 146, vgl. auch Berman 1991. 27 Pirenne 1971, S. 115.
Elias’ Forschungsinteresse im Zusammenhang mit dem Staatsbildungsprozess bezog sich nicht auf die Beziehungen im Arbeitsprozess, also auf Gewaltverhältnisse in den Gutshöfen und Ländereien der Aristokratie, oder in den Betrieben auf die Herrschaft von Unternehmern über abhängig Beschäftigte, sondern vorrangig auf die Frage der Zivilisierung der Aristokratie und, insbesondere in seinen späteren „Studien über die Deutschen“ auf die Frage, warum das über den Adel schließlich obsiegende Bürgertum in Deutschland an der Übernahme der Staatsverantwortung versagte. Welche Rolle spielt nun die Wirtschaft tatsächlich im Zivilisationsprozess? Max Weber spricht von der Wirtschaft als der „friedlichen Ausübung von Verfügungsgewalt, die primär wirtschaftlich orientiert ist“. Damit kommt dem Begriff der Gewalt eine neue Bedeutung zu: Ökonomische Gewalt, nämlich Verfügungsgewalt „ist die Verfügung über Arbeitskraft“, – sei es des mit der Peitsche angetriebenen Sklaven oder des Arbeiters in der Fabrik, der dort nur als ‚technisches Arbeitsmittel’ fungiert,“28 ein gesellschaftlich legitimiertes Zwangsverhältnis, juristisch abgesichert durch Verträge und die daraus erwachsende Möglichkeit der Durchsetzung der Vertragsverpflichtungen mit staatlichen Gewaltmitteln. So finden wir auch in friedlichen Gesellschaften in den kleinen Einheiten, welche die Wirtschaftsunternehmen bilden, Formen von Gewaltsamkeit, die auf Zwangsanwendung beruht. Es erhellt aus dem zuvor Gesagten, dass auch die Herrschaftsausübung in Unternehmen und Betrieb einem Zivilisationsprozess unterliegen muss. Doch welches sind die Mechanismen der Transformation, die Elemente der Zivilisierung?
2.1 Die Weiterentwicklung des Rationalitätsbegriffs Elias, der sich in Heidelberg bei Alfred Weber habilitieren wollte, war nicht nur mit den Thesen Max Webers zur Entwicklung der Rationalität im Abendland vertraut, sondern setzte sie auch bei seinen Leserinnen und Leser als bekannt voraus. Er entwickelt, ähnlich wie sein Kommilitone Karl Mannheim, den Weberschen Rationalitätsbegriff fort mit der Betonung der wachsenden Sozialität des Verhaltens, die er als eine andere Art von Rationalität beschreibt: Was hier dargestellt wurde, „ist ein recht bezeichnendes Stück jener höfischen Rationalität, die, meistens verkannt, für die Entwicklung dessen, was wir ‚Aufklärung’ nennen, keine geringere und zunächst sogar eine größere Bedeutung hatte, als etwa die städtisch-kaufmännische Rationalität, als die Langsicht, an die Funktionen im Handelsgeflecht selbst den Menschen gewöhnen; aber ganz gewiß entwickeln sich diese beiden Formen der Langsicht, die Rationalisierung und Psychologisierung der höfischen Spitzengruppe des Adels und die der mittelständischen Spitzengruppen, verschieden wie sie ihrem Schema nach sind, in engstem 28 Siehe Weber 1924, S. 1.
Zusammenhang miteinander; sie weisen hinter sich auf eine immer stärkere Verflechtung von Adel und Bürgertum; sie gehen zurück auf eine Umgestaltung der menschlichen Beziehungen über die ganze Gesellschaft hin: sie hängen aufs engste mit jener Wandlung zusammen, in deren Verlauf aus der relativ locker verbundenen ständischen Gruppen der mittelalterlichen Gesellschaft allmählich Teilformationen einer stärker zentralisierten Gesellschaft, eines absolutistischen Staates, werden.“29
Diese umfassende Wandlung im Rahmen der wachsenden innergesellschaftlichen Verflechtung ist also impliziert in der Elias’schen Zivilisationstheorie. Dabei ging er von einer stabilen und nachhaltigen Veränderung des Seelenhaushalts auch bei den bürgerlichen Schichten aus, wobei er sich, zumindest was die französische Entwicklung betrifft, auf Max Weber gestützt haben mag, der, wie oben erwähnt, von der „ästhetischen Durchgeformtheit des französischen Menschentypus“ spricht, der auch nach der Revolution „weitergepflegt“ worden sei. Er unterstellte, dass generell alle extremen Formen der Machtausübung verschwinden: „Die Kontraste des Verhaltens zwischen den jeweils oberen und den jeweils unteren Gruppen verringern sich mit der Ausbreitung der Zivilisation; die Spielarten oder Schattierungen des zivilisierten Verhaltens werden größer“, so im Schlusskapitel “Verringerung der Kontraste, Vergrößerung der Spielarten“ im „Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation“.30 Er unterstellte eine Verhaltensbindung der oberen Schichten aufgrund ihrer Oberschichtfunktion, die Langsicht und Triebregulierung erfordert, und den Auftrieb von mittleren und unteren Schichten, der sich in der Arbeitsteilungsgesellschaft mit wachsendem gesellschaftlichen Reichtum im pazifizierten Raum des Staates vollzieht und zur Zivilisierung der unteren Schichten führt: „Die Verwandlung der gesellschaftlichen Fremdzwänge in Selbstzwänge, in eine automatische, zur selbstverständlichen Gewohnheit gewordene Triebregulierung und Affektzurückhaltung – möglich nur bei Menschen, die normalerweise vor der äußersten körperlichen Bedrohung durch Schwert oder Hungertod geschützt sind – vollzieht sich innerhalb des Abendlandes mehr und mehr auch bei den breiten Massenschichten.“31
Trotz dieser Wandlung des Triebhaushalts auch bei den Mittelklassen entsteht bei ihrem Aufstieg in Positionen von Herrschaftseliten ein Problem: Sie müssen sich an „Pflichten und Verantwortung anpassen, (werden) Erfahrungen und einer Art des Lebens ausgesetzt, die zuvor für Menschen ihrer Kreise und Traditionen nicht, oder nicht direkt, zugänglich gewesen waren – es sei denn im Falle eines individuellen Aufstiegs, wo dann die Aufsteiger und ihre Familien früher oder später in eine fremde ‚Kultur‘ (überwechseln).“32 Diese Übernahme von Regierungsgewalt ist also mit
29 30 31 32
Elias 1997, S. 395. Elias 1997, S. 353ff., 359. Elias 1997, S. 354. Elias 2005, S. 207.
einem Lernprozess verbunden, der historisch auch mißlingen kann, wie er am Beispiel der Weimarer Republik zeigte.
2.2 Wirtschaftsbürgertum und soziale Kontrolle Adam Smith, bei dem wir bereits 1776 die intrapsychische Instanz finden, die das Handeln des gentleman auf das gesellschaftlich akzeptierte Handeln beschränkt – er nennt sie den „inneren Richter“, oder auch den „unparteiischen Zuschauer“, – ging zwar nicht davon aus, dass die Menschen von Natur aus unterschiedlich sind, aber er war überzeugt, dass nicht jede Schicht am Zivilisationsprozess teilnimmt, denn er spricht davon, dass es in jedem entwickelten Land, in dem sich Standesunterschiede herausgebildet haben, auch zwei Moralsysteme gibt, ein „nüchternes und strenges“ und ein „freies und lockeres“: „Ein Mann von Rang und Vermögen ist aufgrund seiner Stellung ein angesehenes Mitglied in einem großen Gemeinwesen, das wiederum auf seinen ganzen Lebenswandel schaut und ihn so zwingt, selbst dabei auf jede Einzelheit achtzugeben. Sein Ansehen und sein Verhalten hängen sehr stark von der Achtung ab, welche die Gesellschaft ihm entgegenbringt. Er wagt nicht, irgend etwas zu tun, was ihn bei ihr in Ungnade oder Mißkredit bringen könnte, so daß er einfach gezwungen ist, die Grundsätze einer freien und strengen Moral, welche das Gemeinwesen einmütig von Personen seines Ranges und Vermögens verlangt, strikt zu beachten.“ „Ein Mann von niederem Stand ist indes weit davon entfernt, in irgendeinem großen Gemeinwesen ein angesehenes Mitglied zu sein. Solange er in einem Dorf lebt, wird man auch seinen Lebenswandel beobachten und ihn auf solche Weise zwingen, selbst darauf zu achten. In dieser Lage, und nur in dieser, kann er das, was man einen Charakter nennt, zu verlieren haben. Sobald er aber in eine große Stadt zieht, taucht er in Anonymität und Verborgenheit unter. Niemand achtet auf ihn und schaut auf seine Lebensführung, so daß er versucht sein wird, sich gehen zu lassen, ja, sich an jede Art Liederlichkeit und Laster zu verlieren.“
Die enge Verbindung zu der Gemeinschaft seiner Stadt oder seines Landes und die daraus sich ergebende soziale Kontrolle sieht Smith also als Grundlage für eine soziale moralische Einstellung an, weshalb er auch die Aristokratie für die geeignete Führungsschicht hält, deren Verhalten ja unter besonderer öffentlicher Beobachtung steht, während ihm aber die Kaufleute und Fabrikanten nicht patriotisch genug sind, „ein Kaufmann ist nämlich, wie man sehr zutreffend erkannt hat, nicht zwangsläufig Bürger eines bestimmten Landes. Für ihn ist es höchst gleichgültig, von welchem Ort aus er seinen Handel betreibt. Schon kleine Ärgernisse können ihn veranlassen, sein Kapital und damit auch das von ihm finanzierte Gewerbe in ein anderes Land zu verlagern.“33
33 Smith 2003.
Das Element der sozialen Kontrolle spielt auch im Prozess der Zivilisation die entscheidende Rolle: Verdichtung der Handlungsketten, wachsende Abhängigkeit zwischen den arbeitsteiligen Gliedern der Gesellschaft bedeuten bei Elias zugleich wachsende soziale Kontrolle durch zunehmende Interdependenzen. Allerdings sucht die bürgerliche Oberschicht ihre Abhängigkeit von den Unterschichten permanent zu verringern, indem sie durch Rationalisierungen die Abhängigkeit von den Arbeitern verringert oder durch Drohungen mit Verlagerung in andere Regionen oder Staaten die „Machtrate der Erwerbstätigen“ reduziert, wie Wolfgang Engler es beschrieben hat.34 Die abhängig Beschäftigten sind in diesem Prozess der Machtzunahme der bürgerlichen Oberschichten die Verlierer, aber auch die Städte und Regionen, die Lohnsteuereinnahmen verlieren, wenn Löhne gesenkt werden oder Firmen Standorte wechseln. Aus Gründen, die Elias in den dreißiger Jahren noch nicht erkennen konnte, hängt heute „die Zivilisierung der Eliten (...) in weit geringerem Maße an ihren Respekt vor den Massen, als Elias seinerzeit annahm.“35 Dazu tragen mehrere Faktoren bei, darunter auch ein Prozess, der die äußeren Abhängigkeiten betrifft und auf den Engler zu Recht hingewiesen hat: Seit 1989 besteht die bis dahin wirksame Alternative des realsozialistischen Lagers nicht mehr, die einen Fremdzwang zur Aufrechterhaltung des Sozialstaats bedeutete. Allerdings unterscheidet Engler nicht zwischen den höchst verschiedenen Teilen des Bürgertums, die sich im Rahmen der Arbeitsteilung herausgebildet haben: dem städtischen oder dem Bürgertum der nationalstaatlichen Verwaltung, den Berufen, und der „noblesse de robe“, dem Handwerkertum und den Fabrikanten, also der weit zu fassenden Unternehmerschaft, und der wiederum höchst differenzierten Finanzbourgeoisie, aus Banken und Börsen. Diese einzelnen Elemente werden unglücklicherweise als Einheit, als „Bürgertum“ oder „Bourgeoisie“ gefasst, was die Sicht auf ihre sehr differenzierten Funktionen und ihre oftmals konkurrierenden Interessen erschwert. So sinken etwa die Machtchancen der Produktionsunternehmer durch Prozesse der Deregulierung gegenüber denjenigen der Finanzbranche, wodurch für die Gesamtgesellschaft unhaltbare Zustände entstehen können, die das gesamte Überleben der Figuration bedrohen, wie im Folgenden am Beispiel der USA gezeigt wird. Aber die Frage, wie sich das konkret für alle an diesem Prozess Beteiligten auswirkt, die Elias für die aristokratischen Oberschichten untersucht hat, müsste ebenso für die „Mittelklasse“ untersucht werden.
34 Engler 1997, S. 220. 35 Engler 1997, S. 220.
3. Die Zivilisierung des Industriekapitalismus in Deutschland36 Adam Smith hatte eine klare Vorstellung von den Machtverhältnissen im Bereich der Fabrikproduktion, die in seiner Zeit die zunftgemäß organisierte Herstellung von Gütern insbesondere im Bereich der Exportproduktion ablöste: „Der ursprüngliche Zustand, in welchem der Arbeiter den ganzen Ertrag seiner Arbeit erhielt, konnte nur solange andauern, wie der Boden frei und Kapital noch nicht angesammelt war. Er war bereits zu Ende, lange bevor die produktiven Kräfte der Arbeit nachhaltig verbessert worden waren, und es wäre darum zwecklos, wollte man weiter untersuchen, wie sich dieser Anfangszustand wohl auf die Vergütung oder den Lohn der Arbeit ausgewirkt haben könnte.“37 Wovon hängt der Preis der Arbeit nach Adam Smith ab? „Was üblicherweise Arbeitslohn ist, hängt überall von dem Vertrag ab, den beide Parteien gewöhnlich miteinander vereinbaren, wobei die Interessen der beiden keineswegs die gleichen sind. Der Arbeiter möchte soviel wie möglich bekommen, der Unternehmer so wenig wie möglich geben. Die Arbeiter neigen dazu, sich zusammenzuschließen, um einen höheren Lohn durchzusetzen, die Unternehmer, ihn zu drücken. Es lässt sich indes leicht vorhersehen, welche der beiden Parteien unter normalen Umständen einen Vorteil in dem Konflikt haben muß und die andere zur Einwilligung in ihre Bedingungen zwingen wird. Der Unternehmer, der Zahl nach weniger, können sich viel leichter zusammenschließen. Außerdem billigt das Gesetz ihre Vereinigungen, zumindest verbietet es sie nicht wie die der Arbeiter. Wir haben keine Parlamentsbeschlüsse gegen Vereinigungen, die das Ziel verfolgen, den Lohn zu senken, wohl aber zahlreiche gegen Zusammenschlüsse, die ihn erhöhen wollen.“38
Die offensichtliche Machtasymmetrie suchte Smith nicht zu kaschieren, etwa durch ideologisch verbrämte Beschreibungen von „höheren Leistungen“, sondern macht ohne Umschweife deutlich, dass der Besitz und die Eigentumsordnung die Reichen in die Lage versetzt, sich ihrer Habgier entsprechend den größten Teil der Früchte der gesellschaftlichen Arbeit anzueignen. Die berühmte „unsichtbare Hand“, die als Marktsymbol gilt, reicht gerade dazu, dass der Arme sich von den Resten vom Tisch der Reichen ernähren kann. Diese Schicht hat in den Augen von Smith keine Führungsqualität, weil ihnen die Verbindung mit den übrigen Teilen der Gesellschaft fehlt – ihr Verhältnis zur Gesellschaft ist von Habgier geprägt, und ein Gefühl für Gerechtigkeit, das von Adam Smith als wichtigste Tugend von führenden Schichten bezeichnet wird, spricht er ihnen vollständig ab. Es ist also der Mangel eines Wir-Gefühls in Bezug auf die eigene Gesellschaft, die diese Schicht auszeichnet, und die fehlende soziale Kontrolle, aufgrund derer sie nur über ein sehr „lockeres“ Moralsystem verfügen – erst wenn 36 Vgl. zum Folgenden auch Blomert 2010. 37 Smith 2003, S. 57 (I. Buch, VIII. Kapitel „Der Lohn der Arbeit“). 38 Smith 2003, S. 58.
der Geschäftsmann zum Grundbesitzer wird, so findet Smith, könne man ihm trauen: „Keinen Teil seines Kapitals kann man dem Besitz eines Landes zurechnen, ehe es nicht in Gebäuden oder zu dauerhaften Verbesserungen des Bodens investiert und so über das Land verteilt ist.“
Bei Smith finden wir also ein tiefes Misstrauen gegen das Bürgertum, aber entsprechend dem Stand der Arbeitsteilung seiner Zeit unterscheidet auch Smith nicht sehr klar zwischen den einzelnen Funktionen, die von dieser Schicht ausgeübt werden: Klar sind die Gegensätze zwischen Arbeit und Kapital, aber Geschäftsleute und Unternehmer und Kapitalinvestoren werden nicht sehr genau auseinandergehalten, da sie zu seiner Zeit auch von einer Person gleichzeitig oder diachronisch eingenommen werde können. In einem späten Werk hat Elias dies Thema in seiner Kritik an Marx aufgegriffen. In „Was ist Soziologie?“ analysiert er die „Verteilung der Machtgleichgewichte zwischen Unternehmertum und Arbeitern“ in Anlehnung an Marx und richtet sich gegen die Ausschließlichkeit, mit der Marx seine Aufmerksamkeit bei der Analyse der Beziehungen von Unternehmern und Arbeitern auf die Verteilung der ökonomischen Chancen richtete. Elias weist dagegen darauf hin, dass in der weiteren Entwicklung die Kämpfe von der ökonomischen auf die politische Ebene gehoben wurden, die gewaltförmigen Auseinandersetzungen zwischen den Klassen auf die politisch-parlamentarische Ebene gehoben wurden: „Schon zu Marx’ Zeit war die Machtbalance von Unternehmer- und Arbeitergruppen in der Fabrik durchaus nicht unabhängig davon, ob und wieweit die jeweiligen Vertreter der staatlichen Machtmonopole ihre Gewichte zugunsten der einen oder der anderen Seite in die Waagschale legten. Wie man weiß, lief die ganze Entwicklung in eine Richtung, in deren Verlauf die Auseinandersetzungen, die Scharmützel, die Kompromisse und Vertragsabschlüsse zwischen den beiden Klassen, die sich auf der Fabrikebene selbst abspielten, relativ an Bedeutung verloren gegenüber denen, die sich auf höheren Integrationsebenen der Staatsgesellschaften und vor allem der höchsten, auf der Ebene der Zentralinstitutionen des Staates abspielten, also etwa auf der Parlaments- und Regierungsebene.“39
Hier zeigt sich erneut, wie der Staat das Gewaltmonopol an sich zieht und aus einer Frontstellung innerhalb der Figuration der Betriebe in der Industriegesellschaft eine pazifizierte Auseinandersetzung um die Wahrung von Interessen im Parlament wurde. Die Kämpfe um gesellschaftliche Macht und Anerkennung spielen sich mit der Zunahme der Macht des Bürgertums nicht mehr im höfischen Milieu zwischen Adel und Bürgertum um die Gunst des Königs ab, sondern im Parlament, oder, genauer
39 Elias 1970/2004, S. 190-191.
betrachtet, in den neuen Vorzimmern der Macht, in den Fraktionsräumen und den Lobbies40 der Parteien. In der entstehenden Industriegesellschaft entstanden langfristig stabile und zugleich dynamische Konfigurationen, die auf den Beziehungsgeflechten der Beteiligten beruhten: Produktion, Finanzierung, Zulieferung von Teilen und Rohstoffen, Handel- und Transportinfrastruktur, aber vor allem auch Fachpersonal und Bildungsinstitutionen und -karrieren, waren notwendige Elemente eines solchen Transformationsprozesses ebenso wie die Unterstützung und Anerkennung durch die kommunale Bürgerschaft, die Investoren, die Gewährleistung der Versorgung und die kulturelle Verarbeitung bis hin zu Qualitätszeitungen. Für die Industriellen wurden die fachlichen Kompetenzen ihrer Mitarbeiter immer wichtiger für die Produktion von qualitativ hochwertigen Exportartikeln, und für die Arbeiter wurde es immer wichtiger, dass sie sich auf die wohlfahrtsstaatlichen Funktionen stützen konnten. Der Staat übernahm somit eine zentrale Funktion bei dieser Industrialisierung, förderte nicht nur Schulen, Wissenschaftliche Einrichtungen und Transportwege wie die Eisenbahn, sondern auch die Einrichtung der Sozialversicherung. Als die Monarchie entfiel und in der Weimarer Republik die Autorität des Staates keine allgemeine Anerkennung mehr fand, wurden erneut Erscheinungen der Dezivilisierung sichtbar, die zum Bürgerkrieg und zur Abschaffung der Gewerkschaften unter der Diktatur führten, bevor in der Bundesrepublik das Zivilisationsniveau wiederhergestellt, und in der Mitbestimmungsregel sogar noch höher geschraubt werden konnte. Das Verhältnis der Industrieklassen zueinander, das sich in den Aktivitäten ihrer Verbände und Organe nachvollziehen lässt, blieb vom Bewusstsein der gegenseitigen Abhängigkeit, von einer Balance zwischen Konkurrenz und Kooperativität dominiert, das „Wir-Gefühl“ entfaltete sich nicht in Richtung eines proletarischen Internationalismus, sondern eines nationalen Konsens, der sich nun nicht mehr auf militärische Optionen stützte, sondern auf das Selbstbewusstsein, Teil einer starken Exportnation zu sein, bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich die Finanzbranche vom nationalen Konsens löste.
40 Der Begriff Lobby geht auf die Foyers der Hotels in Washington zurück, wo die Interessengruppen die Gunst der politisch einflussreichen Parlamentarier zu gewinnen suchten.
4. Die Zivilisierung des Geldadels41 4.1 Das englische Original Während Max Weber glaubte, die Börse als notwendige Funktion einer „modernen Volkswirtschaft“ verteidigen zu müssen, übersah er, dass in England das Finanzkapital eine ganz eigene Rolle spielte, die nur wenig mit der Industrialisierung in Verbindung stand. Die englische Plutokratie war seit dem 16. Jahrhundert eng mit dem Königshaus verbunden, da die Königinnen und Könige sich mit ihrem Domanialgewinnen (das nach heutigen Begriffen als Privatvermögen gilt) an den Kolonialgesellschaften und an Finanzinvestitionen der Londoner City beteiligten. Die Prioritäten dieser Oberschicht lagen auf Kapitalinvestitionen und Investitionsschutz, sie sah die Aufgabe des Staates und des Rechtssystems daher im Schutz des Privateigentums vor Eingriffen, der Eigentumsbegriff und der Vertragsbegriff wurden in einer verabsolutierten Form verteidigt. Während also die Vorstellung, dass die Fabrikation von Gütern auch eine gesellschaftliche Versorgungsaufgabe habe, in England nie sehr tief verankert war, war die Oberschicht auf dem Kontinent dagegen in stärkerem Maße abhängig von der Wirtschaft der eigenen Gesellschaft, was ein Grundverständnis von der sozialen Funktion der Wirtschaft notwendig machte. Die englischen Kapitalisten, so schrieb der englische Wirtschaftshistoriker Richard Tawney einmal, betrachteten die Führung eines Industrieunternehmens als eine Tätigkeit, die im Wesentlichen ihrer eigenen Zufriedenheit und ihrem eigenen Fortkommen dienen soll.42 Diese Einstellung zeigt die sehr viel stärkere Machtasymmetrie zwischen den englischen Fabrikanten und ihren Arbeitern – Streiks oder Arbeitsniederlegungen trafen die englischen Fabrikanten weniger, als die deutschen, weil die englischen Fabrikanten meist reicher waren und ihr Kapital gestreut hatten und damit ihre Abhängigkeit von einzelnen Betrieben und Werkstätten geringer war. Auch waren in England die Arbeitskämpfe aufgrund dieser Machtasymmetrie in der Regel viel härter, weiteten sich aus zu Unruhen oder gar lokalen Aufständen, weil die Neigung zur Nachgiebigkeit auf seiten der Unternehmer geringer war, und die Unterstützung der Unternehmer durch die Regierung sicherer war43 – Korrekturen durch parlamentarische Einflüsse erfolgten in England erst in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, als ein Wahlrecht auch für Nichtbesitzende und für Frauen durchgesetzt wurde. Auf dem Kontinent dagegen war nicht nur die Unterstützung der Fabrikanten durch die Regierung unsicher, sondern auch ihre Abhängigkeit von der laufenden Produktion größer, die Verluste, die aus Produktionsniederlegungen drohten, im 41 Das Folgende stellt einen Versuch dar, das Elias’sche Zivilisationskonzept fortzuführen und auf jüngere historische Gesellschaftsfigurationen anzuwenden. 42 Vgl. Tawney 1920, S. 26. 43 In England galt stets ein starkes Eigentums- und Vertragsrecht, unabhängig davon, wie ungleich die Verträge entstanden waren.
Verhältnis zum Einsatz also sehr viel höher. Und das galt umso mehr, je besser die Arbeiter ausgebildet waren und je höher die Werte der hergestellten Waren. Im Übrigen gab es im Deutschen Reich weder eine Geldadelsschicht, die in den vergangenen Jahrhunderten durch Kolonialgeschäfte reich geworden war – mit wenigen Ausnahmen, etwa im Bergbau, wurden die Kapitalien alle erst in dieser Zeit langsam aufgebaut –, noch eine entsprechende Seemacht mit einem Kolonialbesitz, also ein Imperium, an deren Zentralbörse man die jeweils lukrativsten Geldanlagen aussuchen konnte. Das deutsche Universalbankensystem entfaltete sich nach den ersten Anfängen und dem Gründerkrach der achtziger Jahre zu einem Hausbankensystem, das auch die Identifikation zwischen Bankensektor und Produktionsbetrieben durch Direktanteile der Banken und Aufsichtsratsbeteiligungen sicherstellte. Das deutsche Wirtschaftsbürgertum, Bankiers und Unternehmer, suchte seinen Weg zur Selbstbehauptung und nutzte die von dem Ökonomen und Politiker Friedrich List vorgeschlagenen protektionistischen Maßnahmen in der deutschen Zollunion gegen englische Kapitalinvestitionen. Dadurch aber verstärkte sich auch im deutschen Wirtschaftsbürgertum das nationale „Wir-Gefühl“, das seinen Ehrgeiz auf eine eigenständige nationale Entwicklung legte, im Vordergrund standen das Produktionssystem und der Warenexport durch ein expansives Handelssystem. Dieses nationale „Wir-Gefühl“ ist trotz der verheerenden Wirkungen, die seine Übersteigerung in militärische Lösungen in den Weltkriegen erhielt, nicht verschwunden, sondern hat seine Form gewechselt und wurde auf die ökonomische Ebene beschränkt: Das vorherrschende deutsche Wir-Gefühl ist auf die ökonomische Konkurrenz eingestellt, ein europäisches Wir-Gefühl hat sich, nicht zuletzt auch aufgrund des Vorrangs eines internen Wettbewerbs in der EU, nicht eingestellt. Max Weber hatte in seinen Vorlesungen zur Wirtschaftsgeschichte stets betont, dass es als große Gefahr zu betrachten sei, wenn „betriebsfremde, persönliche Vermögensinteressen, vo(r) allem Renteninteressen, also (gemessen an dem sachlichen Erwerbsinteresse) Interessen irrationaler Art, auf die Betriebsführung einwirken.“44
Während in den meisten Ländern weit mehr als die Hälfte der Spargelder in die lokale oder nationale Wirtschaft fließt, stand in England seit jeher der größte Teil des Kapitals für den internationalen Verkehr zur Verfügung – stets auf der Suche nach Geschäftsmodellen, die Wachstumschancen versprachen. Dementsprechend war der britische Kapitalmarkt vornehmlich auf hohe Erträge und starke Kontrollmöglichkeiten der eingesetzten Kapitalien aus, nicht aber auf langfristige Anlagen oder gar
44 Weber 1924, S. 17 [Hervorhebung im Original].
darauf, ein Unternehmen so lange zu begleiten, bis es auf eigenen Füßen stehen könnte.45 Spekulation um der Spekulation willen, galt in den Kreisen der englischen Finanzaristokratie nicht als ehrenrühriges Verhalten, da die Abhängigkeit von der Klasse der Unternehmer und der Arbeiter relativ niedriger war als in Deutschland und die Börsianer zu den Betrieben, deren Werte sie handelten, kein persönliches Verhältnis entwickelten und entwickeln wollten: Im Gegensatz zu den Verhältnissen in Deutschland entwickelte sich dort kein „Wir-Gefühl“ zwischen Investoren und Produktionsbetrieb, sondern ein „Wir-Gefühl“ unter den Börsianern der Londoner City.46 In England, das vom Kontinent als Mutterland der Industrialisierung betrachtet wurde, war die Industrie in Wirklichkeit nur eine, und niemals die wichtigste Anlageform des Kapitals.47 Die Londoner Börse hatte sich lange vor der Industrialisierung aus dem Seehandel entwickelt und war durch die Expansion des britischen Kolonialreichs zu einem internationalen Kapitalanlage- und Umschlagplatz geworden. Damit hatte sie sich schon seit dem 16. Jahrhundert als Zentrum der britischen Weltmacht etabliert. Tatsächlich ist also der englische, und der von ihm direkt abgeleitete spätere amerikanische Finanzkapitalismus48 von ganz anderer Art als der kontinentale.49 Seine Stärke ist die Finanzseite, seine Kontinuität liegt in der City of London, nicht in den Kohlenrevieren Birminghams. In London hatte sich über Generationen 45 Vgl. Feis 1930, IX: „British capital favoured an economic development that would produce the revenue for debt service or dividends rather than loans to government guaranties, to supply constructive talent and management, to stay with the enterprise and to make it ‚earn its own keep’. Other types of investment of course there were – missions of loans of foreign governments, of the bonds of American and Argentine railways, and so on – but relatively the British investment emphasis was on control and management.“ 46 Für dessen New Yorker Erscheinungsform der amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe in seinem Roman „Vanity Fair“ (Jahrmarkt der Eitelkeiten, Rowohlt 1988), den Ausdruck „masters of the universe“ prägte. 47 Max Weber macht einen Unterschied zwischen einem „irrationalen Kapitalismus“, der an „fiskalischen und kolonialen Chancen und Staatsmonopolen“ und einem „rationalen Kapitalismus“, der „an Marktchancen“ orientiert war, „die automatisch, von innen heraus, Kraft eigener kaufmännischer Leistungen aufgesucht wurden“, um seiner These von der engen englischen Liaison zwischen puritanischer Ethik und Industrie eine Basis zu verleihen. Damit engt er sein Modell des Kapitalismus von vornherein auf den Industriekapitalismus ein, denn er betont ausdrücklich, dass der Kapitalismus nicht aus der Küstenkultur der Antike, noch aus der Seefahrt des Entdeckungszeitalters entstanden sei, sondern in den binnenländischen Gewerbestädten: „Was letzten Endes den Kapitalismus geschaffen hat, ist die rationale Dauerunternehmung, rationale Buchführung, rationale Technik, das rationale Recht, aber auch nicht sie allein; es müsste ergänzend hinzutreten die rationale Gesinnung, die Rationalisierung der Lebensführung, das rationale Wirtschaftsethos“ (Weber 1923/1991, S. 299f.). Das entspricht der oben erwähnten kategorialen Unterscheidung Pirennes zwischen Seehandel und Landhandel. 48 Die Siedlergesellschaften, die sich in den amerikanischen Kolonien ansiedelten, beruhten zu einem großen Teil auf venture capital, waren also schuldenbeladen und die Siedler mussten jahrzehntelang unter meist demütigenden Bedingungen harter Arbeit den Einsatz zurückzahlen („indentured servitude“). 49 Vgl. hier auch meine Kritik an Windolf in Blomert 2009, S. 48.
hinweg eine Kompetenz für internationale Finanzierung herausgebildet, die kein anderer Markt erreichte. Für England stimmt zwar das Bild Max Webers vom idealtypischen von den Banken unabhängigen Industrieunternehmers, denn die englische Industrie benötigte die Börse ursprünglich nicht zur Aufbringung ihres Kapitals. Doch weder Marx noch Weber haben erkannt, dass die wichtigere Seite des englischen Kapitalismus stets die Finanz war. Felix Somary stutzte diese Sicht 1931 zurecht, als er in dem Sammelband Kapital und Kapitalismus, das noch heute als Standardwerk für das Wissen der Zeit gelten kann, an die über die 200-jährige Erfahrung der englischen Börsen erinnerte: „Als wesentliche Stütze des englischen internationalen Marktes galt bis zum Kriege das Moment, daß man in England jederzeit unbeschränkt Gold bekommen konnte und daß Guthaben, die man in England hielt, darum goldgleich gewertet wurden. Vor dem Kriege konnte die Rate der Bank von England Geld aus allen Teilen der Erde heranziehen, weil neben dem englischen Kapital auch Kapital der ganzen übrigen Erde in London arbeitete. Große Privatvermögen, alle europäischen Notenbanken, die englischen Dominions und Kolonien, und viele auswärtige Staaten unterhalten in London Guthaben: ‚Diese Staaten, die so zur Verstärkung des internationalen Marktes beitrugen sind nicht etwa reicher als England sondern ärmer.’ Sie halten dort Konten, ‚um die Möglichkeit zu haben, [...] ihre Währung verteidigen zu können, wenn sie auf dem internationalen Markt angegriffen würde.’“50
Das war die Funktion der Londoner City bis zum Zweiten Weltkrieg. Die private englische Notenbank, die Stäbe der Börsenakteure und die Familiendynastien der Privatbanken mit ihren weltweit operierenden Netzwerken arbeiteten in England alle im selben Milieu. Sie bildeten Teile einer Finanzaristokratie, die sich als hierarchische Spitze des britischen Weltreiches definierte, und pflegten eine Weltanschauung, der die Ideale der Französischen Revolution von der Gleichheit der Menschen fremd blieb. Anders als in den USA, wo die „robber barons“ im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts die plutokratische Elite darstellte,51 spielten die Industriellen in der englischen High Society dagegen stets nur eine marginale Rolle – politischer Adel und Finanz blieben meist unter sich, und im Zentrum ihrer Interessen stand das Empire. Das prägte die Rolle des englischen Staates, der sich aus der Regulierung der Finanzmärkte heraushielt: Wenn irgendwo Kapital abgezogen wurde, wenn Betriebe schlossen, was den Verlust von Arbeitsplätzen, Steuern und Warenproduktion nach sich zog, so trafen diese Folgen einer bestimmten Laune der Kapitalmärkte zwar die Bewohner des Staates, in dem das englische, oder das über den englischen Markt vermittelte Kapital investiert war. Die englischen Investoren dagegen nahmen
50 Somary 1931, S. 468. 51 Der Aufstieg der Wall Street begann erst mit dem Sherman-Act zur Begrenzung der Monopole, als die Banken eine neue Rolle bei der Übertragung der Vermögen erhielten.
solche Folgen nur als Kursstürze oder Kursgewinne wahr. Der englische Staat hatte mit seiner Finanzdiplomatie und seiner Marine nur dafür zu sorgen, dass englisches Kapital stets freie Märkte fand, aus denen es auch jederzeit wieder abgezogen werden konnte.52 Eine direkte Auseinandersetzung mit den Folgen des eigenen Handelns entfiel, und so konnte sich hier allenfalls außerhalb der ethischen Standards der finanzaristokratischen Wir-Gruppe ein nur schwaches Über-Ich entwickeln, das zur Beachtung zivilisatorischer Standards bei der Anlage von Vermögen nicht ausreichte.
4.2 Entwicklungspfade Wie beschrieben, sind es zwei völlig verschiedene Gesellschaftsformen, die zwar beide als Kapitalismus bezeichnet werden, jedoch vollkommen unterschiedlich funktionieren. Auf dem Kontinent dominierte das Bewusstsein von der gegenseitigen Abhängigkeit, Konkurrenz und Kooperativität waren eingebettet in das nationale Wir-Gefühl eines Wohlfahrtsstaats mit seinen öffentlichen Ausbildungsstätten und Fürsorgesystemen und seinen kulturellen Emanationen, die dem kapitalistischen Bürgertum seine Legitimation gaben. In England blieb die Finanzaristokratie herrschend, schloss sich gegen aufstrebende Schichten nach unten hin ab. Eine Klassenkooperation ergab sich dort nur in Kriegs- und Nachkriegszeiten. Insbesondere als der Erste Weltkrieg länger als geplant dauerte, stieg die Abhängigkeit der englischen Oberschicht von der eigenen Industrie, was Demokratisierung und politische Rücksichtnahme förderte. Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich dann auch in England ein keynesianisches System der Vollbeschäftigung. Doch es blieb nicht von Dauer, die neokonservative Revolution Margret Thatchers lockerte die politische Kontrolle der City wieder. In den USA finden wir ebenfalls das Grundmuster der angelsächsischen Doktrin des Vorrangs des Privateigentums vor dem für das Gemeinwohl sorgenden und steuernden Staat. Gerade hier wurde jedoch in den 1930er Jahren auch die Zivilisierung der Finanzaristokratie durch den Staat am konsequentesten durchgesetzt.
4.3 Der amerikanische Casinokapitalismus der zwanziger Jahre Die USA hatte vor dem Ersten Weltkrieg weniger Einwohner als Deutschland und Österreich zusammen. Mit dem Eisenbahnbau entwickelten sich Ende des neunzehn52 Das Empire erreichte um 1900 seine größte Ausdehnung, danach traten der deutsche und der US-amerikanische Konkurrent mit einer neuen Strategie der Marktöffnung in den Konkurrenzkampf ein.
ten Jahrhunderts in kurzer Zeit große Industrieunternehmen, die durch die Strategie der „visible hand“53 bald zu marktbeherrschenden Konzernen wurden.54 Bei der Finanzierung spielten private Investoren die Hauptrolle – Kapital wurde aus Familienvermögen, kommerziellen Krediten oder interner Akkumulation auf einem expandierenden Markt gewonnen. Die Wall Street hatte durch die Finanzierung des Bürgerkriegs eine gewisse Bedeutung erlangt, war gestärkt durch die Schaffung einer nationalen Währung und eines nationalen Bankensystems, handelte jedoch noch bis in die 1880er Jahre mehr Staatspapiere und europäische Wertpapiere als amerikanische Industrieanleihen oder Aktien. Erst als in den 1890er Jahren eine Bewegung gegen die zunehmende Marktmacht einer Reihe von Industriemagnaten („robber barons“) zum Verbot von Kartellen und Preisabsprachen führte, wurde die Wall Street verstärkt in die amerikanische Industrie involviert. Die Industriemagnaten, die nach Wegen suchten, um ihren Einfluss zu erhalten, verbündeten sich mit Investmentbanken wie J. P. Morgan und anderen und kauften Aktien von Rivalen auf, um auf diesem Weg ihre Marktführung zurück zu erlangen.55 Seit je Kapitalimportland, wurden die USA als größter Lieferant von Lebensmitteln und Rüstungsgütern im Ersten Weltkrieg zur Gläubigernation und verfügten bald über das Gold der Alliierten und konnten durch die Kreditrückflüsse hohe Kapitalbestände aufbauen. Die Fabriken konnten mit billigem Kapital ihre Produktion erweitern, Ford brachte Autos als ein Massenkonsumgut auf den Markt, und Radiosets zählten bald zum gehobenen Lebensstandard. Doch dem Überangebot an Kapital stand trotzdem kein wirklich ausreichendes Angebot an Anlagemöglichkeiten gegenüber. Die Preise für Kapitalanlagen stiegen, die Börsenintermediäre heizten die Stimmung an und vermittelten auch riskantere und windigere Anlagen. Der erstaunliche Aufschwung, der die Wall Street beflügelte und bereicherte, war nur ein Spiegel des aus vielen Erwartungen gespeisten Drucks auf die Aktienpreise, der zur Inflation („asset inflation“) führte. Der unbegrenzt scheinende Aufschwung riss ab, als im Herbst 1929 die New Yorker Börse zusammenbrach, die Kurse verfielen, und eine allgemeine Schrumpfung einsetzte. Die Kaufkraft schwand, die Konsumkurve sank und die Aussichten für die Geschäftsleute brachen ein, die Wall Street hielt Investitionen zurück. Auf Entlassungen und Lohnsenkungen folgte eine Deflation, Lebensmittelpreise und Warenpreise fielen dramatisch und zogen den Rückgang der Preise anderer Teile der Wirtschaft nach sich. Eine Flut von Insolvenzen erfasste die Geschäftswelt, die Banken und Hypothekenbanken und traf die Bauern und die gerade zu etwas Geld ge53 Chandler 1977. 54 Chandlers These von der Ersetzung der invisible hand des Adam Smith durch die systematische Koordination von Produktion und Vertrieb der Waren in geordneten horizontalen Konzernstrukturen vertrug sich auch gut mit der Bildung von Kartellen, Pools und Trusts als einer durchaus rationalen Antwort auf den irrationalen Konkurrenzkampf (vgl. Roy 1997, S. 177). 55 Vgl. Means 1966.
kommene Mittelschicht hart. Die Politik war hilflos, denn es gab in den USA keine Tradition staatlicher Kompetenzen in der Ökonomie. Präsident Hoover hatte anfangs versichert, die Depression existiere nur in der Phantasie, und es sei eine patriotische Pflicht, sie zu ignorieren. Aus Angst vor dem Bruch des Sakrilegs der Nichteinmischung des Staates in die Privatwirtschaft und aus Angst davor, den Bundeshaushalt übermäßig zu belasten unternahm Hoover nur wenig, um der Krise Herr zu werden.
4.4 Die Zähmung der Finanzaristokratie und die Entstehung des starken amerikanischen Staates Roosevelt wurde gewählt, weil er eine Wende versprach. Als er im März 1933 die Regierungsgeschäfte aufnahm, hatte die Krise bereits gut die Hälfte der US-Banken und entsprechend große Teile der dort deponierten Spargelder hinweggerafft. Mit ihm wurde der „Old Deal“ der Republikaner durch den „New Deal“ abgelöst, der sich auf eine neue Koalition von Wählerschichten und Interessengruppen stützte. Hatten sich die Republikaner für die Interessen der Geschäftsleute eingesetzt, sie mit Subventionen gefördert und für hohe Importzölle und für niedrige Steuern auf hohe Einkommen gesorgt, so beruhte der New Deal auf einer neuen, gänzlich ungewöhnlichen Koalition: Roosevelt sah sich als Mitglied der progressiven Strömung der Demokratischen Partei nicht denselben Interessen der Finanzbranche verpflichtet, wie sein Vorgänger, sondern stützte sich auf eine ungewöhnliche Koalition von Wählergruppen, den „New Deal“ zwischen dem „forgotten man“, also den Arbeitern, kleinen Geschäftsleuten, aber auch den Bauern und den Banken, nicht aber der Wall Street.56 Wenn er vom „forgotten man“ sprach, wurde Roosevelt zum Fürsprecher all derjenigen Amerikaner, die sich ausgeschlossen und an den Rand gedrängt fühlten, der Bauern des Westens, der Arbeiter der Ostküste, der Arbeitslosen und der Südstaatler.57 Dabei gelang es ihm, die Großindustrie, zu der Roosevelt nicht zuletzt durch seine Funktion als Präsident eines Industrieverbandes in den zwanziger Jahren enge Beziehungen hatte, aber auch die kleinen Geschäftsleute in der ersten Phase des New Deal einzuschließen. Alle diese Gruppen versprachen sich von den Republikanern keine Lösung mehr und setzten auf Roosevelt. Enge Verbindungen gab es auch zu Beginn zwischen der Roosevelt-Regierung und Vertretern der Bankenwelt, von Warburg bis zu Russell Leffingwell (vom Bankhaus Morgan), aber die Wall Street gehörte nicht zu den Interessengruppen, um die sich die Roosevelt-Regierung besonders bemühte. 56 Vgl. Blomert 2012. 57 Roosevelt gewann die Wahlen auf dem Lande – er war der erste, dem nach dem amerikanischen Bürgerkrieg wieder ein Bündnis von Weizen und Baumwolle, von Südstaaten und Mittelwesten gelang, vgl. Tugwell 1948, S. 373f.
Roosevelt gelang es also, nicht unähnlich Bismarck, in einem günstigen historischen Moment, eine neue Machtbalancen-Figuration zu schaffen, durch die es möglich wurde, die Macht des Geldadels zu schwächen, die amerikanische Plutokratie zu zähmen und dem amerikanischen Staat mehr Einfluss auf die Beziehungen zwischen den am Wirtschaftsprozess Beteiligten zu erhalten. Unter dem neu gewählten Präsidenten wurden die Finanzinstitute zunächst geschlossen und einer Bonitätsprüfung durch die Bundesbank unterzogen, bevor sie wieder öffnen durften. Von März bis Juni 1933 wurden eine Reihe gesetzlicher Maßnahmen zur Regulierung der Märkte erlassen, darunter die Einrichtung der Börsenaufsicht SEC (Securities and Exchange Commission), das Verbot von Börsentermingeschäften und die Einführung des Trennbankensystems (Glass-Steagall-Act), mit dem Investmentbanken von Geschäftsbanken getrennt wurden. Im Jahre 1935 wurden auch die Holdings zerschlagen, die zu einem intransparenten System der Preismanipulationen auf dem Energiemarkt geführt hatten. Diese neuen Reglungen waren mit der Herausbildung einer neuen Beamtenschaft verbunden, die die Beherrschung der ökonomischen Prozesse sicherte. Dabei handelte es sich im Grunde um eine merkwürdige Art der Europäisierung der USA, denn viele dieser neuen Staatsbeamten kamen als Flüchtlinge aus Deutschland und später auch aus den von deutschen Heeren besetzten Gebieten Europas, und brachten von dort eine hohe Ausbildungsqualität und eine hohe Motivation mit. Für die Demontage des Einflusses der Finanzaristokratie sorgte nicht zuletzt auch die öffentliche Kompromittierung der Wall Street-Prominenz durch das Banking and Currency Committee: Im Januar 1933 begann dieser Ausschuss seine Arbeit unter dem früheren New Yorker Bezirksstaatsanwalt Ferdinand Pecora, dem Sohn eines aus Sizilien eingewanderten Schusters. Pecora konnte den Bankern vor den Augen des Publikums „mit unendlicher Geduld und großer Sachkenntnis“ falsche Versprechungen, Manipulationen und sogar Steuerbetrug nachweisen. Die öffentliche Konfrontation zwischen dem Immigrantensohn und den Wall Street Bankern, die lange als Spitzen einer gesellschaftlich hoch angesehenen Machtinstanz fungiert hatten, trug entscheidend zum Gelingen des Kurswechsels bei;58 denn dadurch wurde jene soziale Kontrolle durch die Öffentlichkeit wieder hergestellt, die angesichts der Verlängerung der Zeitdauer zwischen Handeln und Handlungsfolgen aufgrund des Anwachsens der Interdependenzketten verloren gegangen war. Es war ein Wechsel von der libertär-darwinistischen Zeit des Casinokapitalismus der zwanziger Jahre zur
58 Die Wut der Wall Street Banker war so groß, dass sie sogar an einen Staatsstreich dachten. Vor einem Senatsausschuss berichtete General Smedley Butler 1934, dass er von Mitarbeitern der Wall Street Banken zu einem „Marsch auf Washington“ aufgefordert worden war.
progressiven Ära einer korporativen Form des Industriekapitalismus.59 Der Beruf des Bankers wurde, so schrieb der Ökonomie-Nobelpreisträger Paul Krugmann, zum „langweiligsten Beruf der Welt“. Der Great Depression folgte die Great Compression, die die Einkommensunterschiede einebnete. Niemals in der Geschichte der Vereinigten Staaten wurde eine größere Gleichheit der Einkommen erreicht, starke Gewerkschaften konnten ihre Ansprüche auf einen gerechten Anteil am Volkseinkommen durchsetzen und Unternehmen machten gute Geschäfte mit einer immer stärkeren zahlungskräftigen Mittelschicht. Durch den steigenden Lebensstandard schienen sich die Unterschiede zu verringern und man sprach vom Ende der Klassengesellschaft und dem Heraufziehen einer Mittelschichtgesellschaft.
5. Fazit Die Entmachtung der einen Schicht und das Aufsteigen einer anderen Schicht zur relativ stärksten Schicht bedeutet nicht nur eine Verschiebung in der MachtbalanceKonfiguration der politischen Sphäre, sondern ist stets begleitet und Teil von Veränderungen in der Gesamtgesellschaft, die zu Instabilitäten führen, wenn die Integration von Verliererschichten nicht gelingt. Zugleich damit ändert sich die Machtfiguration der Staaten insgesamt, wenn es der neu an die Regierung gekommenen Schicht nicht gelingt, die wichtigen Spieler im Konzert der Nationalstaaten zur Anerkennung ihrer neuen Spielweise zu gewinnen und sich mit einer neuen Rolle zu integrieren. Interdependenzen können einseitig aufgekündigt werden, wenn neue Zwänge auftreten, die stärker sind, als die bis dahin geltenden Handlungsmotive, lange und weit verzweigte Handlungsketten zwischen den Agenten des wirtschaftlichen Prozesses können an der einen oder anderen Stelle des Kettengliedes brechen und ihren Zusammenhang verlieren, die soziale Kontrolle durch den funktionalen Prozess muss also keineswegs stabil sein und kann den Zwang zur Langsicht und Selbstdisziplin auflockern: Derjenige, der Kapital in einer Sammelstelle anlegt, sei es in einer Aktiengesellschaft oder einem Fonds, weiß nicht, wo und wie sein Geld angelegt wird: Langsicht ist begrenzt auf Quartalsberichte, seine Kontrolle beschränkt auf Vergleichszahlen. Die Disziplin des antizipatorischen Verhaltens ist nicht mehr notwendig, und die Machtbalance mündet in einer Asymmetrie, die nur durch politische Maßnahmen gebremst werden kann. Die USA waren vom Schuldner- zum Gläubigerstatus aufgestiegen, was zu einem Zuwachs an Macht auch im militärischen Bereich führte. Dies bedeutete eine neue 59 Fachhistoriker sehen daher hierin auch einen Wechsel der Kapitaldynastien – vom Haus Morgan zum Haus Rockefeller, denn tatsächlich verlor der Wall Street Banker John Pierpont Morgan seinen maßgeblichen Einfluss auf die Politik der USA mit dem Amtsantritt Roosevelts, während der Ölindustrielle John Rockefeller an Einfluss gewann – eine Machtverlagerung von der Finanzaristokratie auf die Industriearistokratie.
Position, durch die sie in die Lage versetzt wurde, maßgeblich an der Weltfinanzarchitektur der Nachkriegszeit mitzuwirken. Als bedeutendster Inhaber der zwei wichtigsten Machtquellen, der militärischen und der ökonomischen Macht, wurden die USA zum zentralen Spieler in der Machtfiguration der Nachkriegszeit. Und als sich in den neunziger Jahren innerhalb der US-Wirtschaftsunternehmen die Machtpotentiale in Richtung auf das Finanzpotential verschoben, erlangte das Finanzzentrum der USA eine ausschlaggebende Funktion auch in den mit den USA stark interdependenten Ländern der Welt. Doch der „wohlwollende Hegemon“ verlor seine finanzielle Schlagkraft, wurde in den siebziger Jahren erneut zum Schuldnerland, ohne gleichzeitig seine Position als Weltmacht einzubüßen: Hier erwies sich das von Elias gegen alle ökonomistischen Governance-Theorien60 aufrecht erhaltene Monitum als treffend, dass militärische Stärke ausschlaggebend ist für die Stärke eines Nationalstaates. Das Verhältnis zwischen den Machtquellen und die Wirkung auf die Machtbalancen im Innern wie im Außenfeld der Nationalgesellschaften wäre historisch-empirisch noch genauer zu untersuchen. Die Krise, in welche das Weltfinanzsystem im Jahre 2007 geriet, war zunächst geprägt von einem Wandel im öffentlichen Ansehen der Finanzbranche, deren Höhenflüge jahrelang mit Euphorie verfolgt worden waren und die nun öffentlicher Kritik unterfielen. Trotz dieses sinkenden Ansehens der Banken in der Öffentlichkeit ließen die Regierungen die Banken nicht fallen – die Marktideologie, die zur Legitimation der Entlastung der Staatsbudgets von kulturellen und wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben gedient hatte, verschwand plötzlich und die Hilfen der Staaten für die Finanzbranche sprudelten, da ein Zusammenbruch der „Nerven der Gesellschaft“, nämlich der Geldströme, wie Jean Bodin sie genannt hatte, mehr gefürchtet wurde, als die Glaubwürdigkeit und Rückfragen zur Gerechtigkeit: Hier musste in der Tat um des Überlebens der Gesamtgesellschaft willen staatlich eingegriffen werden. Im europäischen Zusammenhang brach die Krise aus, als die Kapitalexportmitgliedsländer vergeblich auf Erträge aus den Kapitalimportmitgliedsländern warteten und den beteiligten Banken Abschreibungen und große Verluste drohten. Einem Beschluss der G7-Staaten zufolge mussten die Staaten die Schulden der Banken übernehmen, um den Euro, und damit das Gefüge des Weltwährungssystems nicht zu gefährden. Daraus aber ergab sich eine unerwartete Gegenüberstellung zwischen Gläubiger- und Schuldnerstaaten, die zu einer Unionsgefährdenden Konfrontation führte.61 Der Finanzbranche gelang es dadurch zwar, denjenigen Staaten der Europä60 Die Governance-Theorien betonen, dass indirekte Steuerung im globalisierten Zeitalter die staatliche Lenkung ersetze, etwa im Zusammenwirken von staatlicher und privater Seite oder in der Förderung von Rahmenbedingungen der Selbststeuerung. Dass sich der Staat nicht wirklich „zurückzieht“, wie es in diesen Theorien anklingt, haben die Forschungen des Sonderforschungsbereichs 597 „Staatlichkeit im Wandel“ der Universität Bremen gezeigt. http://www.sf b597.uni-bremen.de/ . 61 Vgl. Blomert 2012.
ischen Union, die unter der Last der Übernahme der Privatbankschulden fast zusammenbrachen, und die deshalb mangels einer adäquaten Regelung des EZB-Systems auf einen politisch geschaffenen Geldfonds zurückgreifen mussten, als Schuldige darzustellen und so das Aggressionsziel zu verschieben, und der Kritik am Fehlverhalten der Finanzbranche wurde in den Gläubigerstaaten auf diese Weise die Spitze genommen, da man die Krise zu einer Krise der Staatsfinanzen umdeutete. Aber die Bemühungen zur Europäisierung waren damit wieder ein Stück zurückgefallen: Die Regierungen betrachteten sich gegenseitig als nationale Regierungen, und nicht als Teile einer europäischen Einheit. Freilich wurde bislang die Gelegenheit verpasst, außer der Erhöhung der Eigenanteile der Banken weitere Steuerungselemente für den Markt einzuführen: Die Schattenfinanzwirtschaft ist weder ausgetrocknet worden, noch in ungefährliche Bereiche abgedriftet. Es wird also zu beobachten sein, wie die Regierungen sich in diesem Dilemma verhalten, nämlich in dem Widerstreit zwischen den Einflüssen aus der Finanzbranche, die von ihnen eine Behandlung erwartet, die ihre Gewinne weiterhin sprudeln lässt, und der Notwendigkeit der Verhinderung weiterer Schäden durch ungeregelte Finanzspekulationen. Die Funktion des Staates für die Nationalgesellschaften besteht in der Sicherung des Überlebens, davon geht Elias aus – eine neue Einheit auf einer höheren Ebene existiert nicht. Die Kämpfe um nationale Hoheit in der EU und die Polemik gegen den „Nationalismus“ von Seiten der politischen Spitzen in der Brüsseler EU-Zentrale deuten auf einen unvollendeten Integrationsprozess hin: Zwar handelt es sich bei der Europäischen Union um einen politisch schwach eingerahmten gemeinsamen Markt, aber die den Kapitalismus kompensierenden distributiven Funktionen von Nationalstaaten, also die Wohlfahrtsstaatsfunktion übernehmen nach wie vor die einzelnen Mitgliedsstaaten, zumal sie die Steuerhoheit besitzen, die sie wiederum der Europäischen Union nicht abzugeben bereit sind. Hier haben wir auf einer überstaatlichen Ebene eine Machtkonstellation, die auf den widerstreitenden Kräften beruht, die sich über die Einzelstaaten hinweg zu formieren in der Lage sind: Große Unternehmen, Konzerne mit transnationalen Märkten, sowie das Finanzgewerbe sind in der Lage, sich auf dieser Ebene Einfluss, Macht und Geltung zu verschaffen, während die übrige Gesellschaft in ihrer Zerstreutheit nur über die Parteien Einfluss erreichen kann. Die Parteien, die in ihrer demokratischen Repräsentativität freilich nicht alle Gesellschaftsgruppen proportional abbilden und dementsprechend auch deren Anliegen nicht im gleichen Maße vertreten, wie sie die Interessen der mächtigen Gruppen berücksichtigen müssen, haben direkten Einfluss über die Benennung von Mitgliedern der Kommission und über das Europäische Parlament, das jedoch keine Gesetzesinitiative hat, sondern lediglich für viele Kommissions- oder Ratsmaßnahmen nicht mehr als Zustimmungs- oder beschränkte Ablehnungsfunktion
hat. Hier ist eine Asymmetrie entstanden, die dazu führt, dass die Chance der sogenannten „Überwindung des Nationalstaates“ nur eine Option für diejenigen darstellt, deren Interessen auf dieser höheren Ebene Berücksichtigung finden: Solange die EU sich für den Abbau der nationalstaatlichen Fürsorgefunktionen (über den Druck auf Privatisierungen öffentlicher Einrichtungen) einsetzt und damit die Wohlfahrtsstaatsfunktionen der Mitgliedsstaaten zunehmend vernichtet, wird diese Forderung nach „Überwindung des Nationalstaates“ ins Leere gehen – die Wahlen von Parteien, die für eine Stärkung des Nationalstaates eintreten, wird zunehmen. Solange andererseits die EU selbst über keine ausreichenden Steuermittel verfügt, wird sie die wohlfahrtsstaatliche Funktion für die schwachen Marktteilnehmer nicht übernehmen können. Damit erweist sich die Entwicklungsmöglichkeit zu einer überstaatlichen Einheit, die insbesondere von Deutschland gewünscht wird, als blockiert. Wie ließe sich diese Blockade auflösen?
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Peter Ludes Staatenumbildungen und Habitus-Umbrüche
1. Einleitung Die Monopolisierung physischer Gewalt und der Steuereintreibung gelang in keinem Land der Erde vollständig und für mehrere Generationen. Immer gab es Bevölkerungsgruppierungen, die sich der Steuer gemäß den jeweiligen Gesetzen entziehen konnten; in vielen Staatsgesellschaften organisieren sich auch kleinere oder größere Gruppierungen mit eigenen Waffenlagern und Spezialausbildungen für gewalttätige Kämpfe bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen. Die enorme Effizienzsteigerung von Waffen und Massenvernichtungsmitteln und ihre Miniaturisierung ermöglichen es Anfang des 21. Jahrhunderts immer kleineren und vernetzten (terroristischen) Vereinigungen, die jeweils erreichte staatliche Konzentration physischer Gewalt und der Steuererhebung neuartig zu gefährden oder einzuschränken. Zudem gibt es in mehreren Ländern, v.a. den USA, zunehmend private Sicherheitsorganisationen bis hin zu Privatarmeen und privaten Gefängnissen. In diesem Sinne ist nicht von einer weiteren Staatenbildung oder -verfestigung gemäß den traditionellen territorialen Herrschaftsverständnissen auszugehen. Es geht hier auch nicht um einen Staatsverfall wie er in einigen Regionen Afrikas für relativ frühe Staatenbildungen zu beobachten ist, sondern um Staatenumbildungen. Mein Essay wird deshalb in Abschnitt 2 vier besonders wichtige Umbildungen zusammenfassen: (1) Steuerflucht, (2) private Armeen und Gefängnissysteme, (3) gleichzeitiger Anstieg an staatlich kontrollierter Schulausbildung und eine noch größere lebenslange Nutzung von Massenmedien für Information, Bildung, Unterhaltung, Werbung, Kommunikation und Selbstdarstellungen, (4) hierdurch entstehende neue Formen der Fremd- und Selbstkontrollen. Abschnitt 3 wird ausgehen von Elias’ Theorie langfristiger Orientierungsmittel und seiner utopischen Erzählung des großen Kampfes der Intellektuellen. Denn dieser Kampf verlagert die zentralstaatliche Entscheidung über den Einsatz militärischer Gewalt zu pazifizierender Überzeugungsarbeit von Experten. Durch dieses „Gedankenexperiment“ wird eine kurze Zusammenschau der Entwicklung wirklichkeitsgerechterer Orientierungsmittel durch UNO- und UNESCO-Aktivitäten und von massenmedial verbreiteten Schlüsselerzählungen vorbereitet. Abschnitt 4 konzentriert sich auf sechs Beispiele für Habitus-Umbrüche, die durch in Echtzeit vernetzte Kommunikationen über Internet und Intranet gefördert
und gefordert werden. Diese neuen Infrastrukturen der Kommunikation und Koordination tragen auch zur Enträumlichung bisher dominierender staatlicher Zentralinstanzen bei. Der Schluss zieht Folgerungen für Weiterentwicklungen von Elias’ Staatsverständnis.
2. Staatenumbildungen Anfang des 21. Jahrhunderts leben alle Menschen in Staatsgesellschaften, haben Pässe, gingen oder gehen in Schulen, nutzen öffentliche Infrastrukturen oder gehorchen Anordnungen durch verschiedene Behörden, von Einwohnermeldeämtern bis zur Polizei und zu Gerichten. Für internationale Gefahren organisieren fast alle Länder ihr eigenes Militär, das ebenso wie die anderen staatlichen Leistungen durch Steuern und Gebühren finanziert wird. In vielen Gesellschaften werden staatliche Regelungen durch mehr oder weniger große Gruppierungen gebrochen. Internationale Unternehmen entziehen sich nationalstaatlicher Kontrolle oft legal und professionell oder illegal und für nationalstaatliche Instanzen kaum erfassbar oder zuverlässig zu sanktionieren. In diesem Sinne sind zwar auch die weltweit größten Wirtschaftsunternehmen Alphabet, Facebook oder Microsoft auf die Funktionsfähigkeit von Rechtsstaaten angewiesen. Für die speziellen Staatsaufgaben der Steuergesetzgebung und -eintreibung, der Festlegung von Arbeitsschutzgesetzen oder Umweltschutzregelungen bieten Lobbyisten in den westlichen Staaten und die Verlagerung von Firmensitzen und Produktionsstätten in Steueroasen oder in weniger stark geregelte Staatsgesellschaften lukrative Ausweichmöglichkeiten. Es ist deshalb keineswegs von einer zunehmenden Monopolisierung der Steuererhebung auszugehen. (1) Die Wirtschaftssoziologin Silke Ötsch1 zog 2016 im „American Behavioral Scientist“ Schlussfolgerungen aus ihren Untersuchungen. So hatte sie 2015 auf ihrem Blog veröffentlicht: "Summen in dreistelliger Milliardenhöhe bis zu einer Bio. Euro werden jährlich in der EU hinterzogen. Vom weltweiten Privatvermögen in Höhe von rund 160 Bio. US-Dollar sind zwischen 21-32 Bio. US-Dollar undeklariert über Steueroasen angelegt. Berechnungen ergaben allein für Deutschland eine Unternehmen zugerechnete Steuerlücke von 90 Mrd. Euro, was 3,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht. … Mit der Ausweitung des Informationsaustauschs müssen SteuervermeiderInnen derzeit mehr Expertise aufwenden. Banken oder Anwaltsbüros verlangen für diesen Aufwand Gebühren und/oder Mindestanlagesummen. Die Gebühren sollen ab 500.000 Euro ansetzen; der Aufwand lohnt sich je nach Steuerfluchtmodell bei Anlagen in Höhe von 5 bis 10 Mio. Euro.“ Dies
1 Ötsch 2016, S. 323-326 und Ötsch 2015.
impliziert einen Verlust an staatlicher Kontrolle und demokratischer Entscheidungsfindung. So können zum Beispiel Arbeitsregeln oder Umweltschutzmaßnahmen umgangen werden. Im Wettbewerb nationalstaatlicher Institutionen um international oder gar weltweit agierende Unternehmen als Arbeitgeber und Steuerzahler können diese Unternehmen staatlichen Kontrollen entgehen. Dementsprechend entstehen neue Formen nicht-staatlicher Regulierungen in sogenannten Steueroasen.2 Die enge Verbindung solcher Steuerhinterziehung und entsprechend gesteigerter Ressourcen mit Lobbyismus und Infrastrukturen der Verschleierung resümiert Ötsch3 folgendermaßen: Die Verlagerung von Firmensitzen in solche illegalen Steueroasen geht einher mit verzerrter Meinungsmache – kurzfristig orientierter Einflussnahme auf Steuergesetzgebung, -eintreibung und die politische Meinung insgesamt. Die zunehmend ungleiche Verteilung finanzieller Mittel erlaubt den Nutznießern der Steuerhinterziehung, Aufträge für interessegeleitete Expertisen zu vergeben. Über Lobbyisten, PR-Firmen, sogenannte Denkfabriken, bezahlte Experten, Journalisten oder Wissenschaftler werden von diesen erarbeitete und veröffentlichte Daten und „Informationen“ korrumpiert. Diese Umbildung von Entscheidungsprozessen fördert Politiker, die mit den genannten Gruppierungen Koalitionen eingehen. Kritik hieran wird bereits in ersten Ansätzen durch die Verbreitung irreführender Narrative unterdrückt. Damit entstehen neue Legalisierungen zuvor nicht tolerierbarer Praktiken, die wiederum durch die Akzeptanz solcher Schlüsselerzählungen durch Teile der Öffentlichkeit und Wählerschaft gefördert werden. Das bedeutet nicht, dass es keine Chancen für wirklichkeitsgerechtere Gegen-Narrative, kritisches Wissen und Gegen-Expertisen gebe. Aber aufgrund der extrem ungleichen finanziellen Ausstattung bleiben diese Gegenbewegungen strukturell im Nachteil. 2015 gab es (dementsprechend?) eine früher unbekannte Konzentration persönlichen Reichtums, der zudem in den meisten Massenmedien vollkommen unhinterfragt blieb. 62 Multi-Milliardäre besitzen mehr persönlichen Reichtum als die gesamte ärmere Hälfte der Menschheit. Das reichste Prozent der Menschheit besitzt mehr als alle anderen Menschen zusammen.4 Zudem leben mehr als sechs Milliarden Menschen in Ländern, die nach einem differenzierten Index5 hohe Korruptionsraten im öffentlichen Sektor aufweisen. In vielen Staatsgesellschaften gehen Abgaben an nicht-staatliche (illegale) Organisationen.
2 Piketty (2013) hat längerfristige Trends der Kapitalentwicklung für viele Staatsgesellschaften mit sehr reichem Datenmaterial rekonstruiert. Siehe auch Veröffentlichungen des Bremer Sonderforschungsbereichs „Staatlichkeit im Wandel“, so bereits Genschel/Schwarz 2012. Siehe weiterhin Welzer 2016, hier besonders S. 181. Weiterführend: Wilterdink 2016. 3 Ötsch 2016, S. 333. 4 Oxfam 2016. 5 Transparency International 2016.
(2) Auch im Bereich der staatlichen Konzentration der Mittel und professionellen Experten für die Ausübung physischer Gewalt sind oft radikale Umbildungen zu beobachten. Es wird geschätzt, dass jedes Jahr mehr als 200 Milliarden US-Dollar für private Sicherheitsfirmen ausgegeben werden, die etwa 15 Millionen Menschen weltweit beschäftigen. Immer mehr private Sicherheitsfirmen wurden in den letzten Jahren gegründet. Kommerzielle Armeen und Gefängnissysteme, Werkschutzorganisationen und globale Kommunikationsüberwachungen nicht nur durch staatliche Geheimdienste, sondern auch private Weltunternehmen haben zuvor staatliche Monopolisierungsinstanzen teilweise zurückgedrängt.6 (3) Weltweit setzte sich in den letzten Jahrhunderten durch, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene immer mehr Jahre in Schulen verbringen müssen. Staatlich eingesetzte und überwachte Gremien legen fest, was wann wie lange und in welcher Form von wem wo unterrichtet wird. Diese Auswahl, Anleitung und Kontrolle führte zu der staatlichen Monopolisierung schulischer Ausbildung, die oft durchgreifender funktioniert als Steuereintreibung. In mehr als einhundert Ländern betrug laut dem „Human Development Report“ von 2015 die durchschnittliche Schuldauer zwischen sieben und 14 Jahren. Aber obwohl die Schuldauer und Professionalisierung dieser allgemein verbindlichen und staatlich kontrollierten Ausbildungsinstitutionen in den letzten Jahrzehnten oft kontinuierlich stieg, verloren primäre und sekundäre Schulausbildung an Bedeutung für lebenslanges Lernen. Denn weltweit stieg zugleich der Anteil der Nutzung von Massenmedien an den Tagesund Lebenszeitbudgets weit über schulische Ausbildungszeiten, Arbeitszeiten und in einigen Gesellschaften auch durchschnittliche Schlafzeiten hinaus, nämlich über 8 Stunden am Tag. „Im Jahr 2010 nutzten weltweit Menschen Medien 461,8 Minuten am Tag. 2014 waren es 485,3 und 2015 schon 492 Minuten am Tag. Eine Steigerung von 2014 auf 2015 von 1,4 Prozent. Zwischen 2010 und 2014 hat sich die Zeit, die Menschen im Internet verbringen fast verdoppelt. Waren es 2010 noch 59,6 Minuten sind es 2014 schon 109,5 Minuten. Dabei sank die Zeit der Nutzung von traditionellen Medien um 26,4 Minuten.“7 In diesem Sinne fand eine Balanceverschiebung staatlich kontrollierter und allgemein verbreiteter Kenntnisse und Verhaltensstandards hin zu Massen- und Netzmedien statt. Sie ging einher mit einer Lockerung, Differenzierung und Unterhaltungsdominanz. Diese Verschiebung förderte den Einfluss privater Unternehmen auf die Allgemeinbildung und auf allgemeiner verbreitete Verhaltensweisen. Historisch neuartig ist auch die Konzentration besonders weit verbreiteter Orientierungs- und Kommunikationsmittel. Google hatte im August 2016 einen wiederum gestiegenen globalen Marktanteil an Suchmaschinen von mehr als 70 Prozent. Facebook ver6 Phillips et al. 2015, S. 263-269; vgl. Mason 2013; CoESS 2011; Privacy International 2016; Bellamy/Williams 2005 und Mandel 2013. 7 Knows magazin 2015.
zeichnete im August 2016 mehr als 1,7 Milliarden monatlich aktive Nutzer. Und obwohl diese multinationalen Unternehmen ihren Ursprung und ihren Hauptfirmensitz in den USA haben, sind sie in ihrer Zusammensetzung der Beschäftigten, der Herkunft der Rohstoffe und Patente neuartig international. Rechtsexperten, Lobbyisten und Steuerberater helfen ihnen, nationale Gesetzgebung und Sanktionen wiederholt auszuhebeln. „Billionaires, multi-millionaires, and the corporate business community now spend more on lobbying and campaign donations to advance their own interests than ever before.“8 (4) Ökonomische Abhängigkeiten, politische Regelungen, Gesetze und Verträge weisen weit über alle Nationalstaaten hinaus. Selbst sogenannte Weltmächte wie die USA und China sind auf Handels- und Kooperationspartner angewiesen. Seit vielen Jahrhunderten organisierten sich religiöse Gemeinschaften lokal, regional, ethnisch oder national. Einige behaupteten universelle Zugehörigkeiten. Nationale Wissenschaften entwickelten zunehmend internationale Vernetzungen, so dass wesentliche Fortschritte in den Natur- und Ingenieur-, Sozial- und Geisteswissenschaften nicht mehr in nationalen Kontexten erwirkt werden können. Identitäten, Fremd- und Selbst-Kontrollen, Ich- und Wir-Ideale bilden sich weiter in und mit diesen transnationalen Verflechtungen und weisen zugleich in einigen Dimensionen über nationalstaatliche Identifikationen hinaus. Nationalstaatliche Personalausweise und Reisepässe, Schulausbildung und Nachbarschaften, Schulzeugnisse, Berufsabschlüsse, Arbeitsbedingungen und öffentliche Infrastruktur inklusive Sicherheit dominieren aber oft weiterhin individuelle Lebenschancen, gruppenspezifische Identifikationen und Handlungshorizonte.
3. Orientierungsmittel, Schlüsselerzählungen und Wissensgesellschaften Staatenumbildungen dauern bereits mehrere Jahrzehnte – aber nicht immer drei Generationen, die Elias9 als Voraussetzung für „den wahrscheinlichen Ablauf von Persönlichkeitsveränderungen“ nannte, „wenn sich das Machtgefälle zwischen zwei voneinander abhängigen Gruppen erheblich verringert“. Allerdings betonten die Autoren der Studie, zu der Elias das in seinem Vorwort geschrieben hatte, zu Beginn10: „Die Art, wie Männer und Frauen in Ehen und festen Beziehungen voneinander abhängig sind, hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten gründlich verändert“. Wohlfahrts- und Schutzinstitutionen des Staates ermöglichten Habitus-Umbrüche: „Diese Gemütsruhe des Wohlfahrtsstaats scheint jetzt genauso verbreitet und selbstverständlich zu sein wie in einer wenig zurückliegenden Vergangenheit die Angst vor Ar8 Gans 2014, S. 2484. 9 Elias 1987b, S. 15. 10 van Stolk/Wouters 1987, S. 19.
mut. Man kann die Eindämmung des Gefühls materieller Unsicherheit, die so weit geht, daß die Gefahr der Mittellosigkeit offenbar kaum noch im Bewußtsein auftaucht, als einen Wandel des Affekthaushalts und damit der Persönlichkeitsstruktur bezeichnen.“11
Allerdings wurden viele Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates inzwischen abgeschwächt. Die Beschleunigung sozialer Prozesse12 hat vor allem für Medienumbrüche von Druck- zu Rundfunk-, zu (mobilen) Netzmedien zugenommen. In vielen Schriften13 untersuchte Elias Machtverhältnisse und ihre Vernetzungen mit verschiedenen Orientierungsmitteln. In seiner utopischen Erzählung „Der große Kampf der Intellektuellen“ konzentrierte er sich auf wechselseitige Abhängigkeiten und Ergänzungen, aber auch Spannungen und Konflikte von Wissen und Macht: „Eine der zentralen Institutionen des Staates waren öffentliche Debatten über grundsätzliche Themen zwischen mindestens zwei Repräsentanten der Traditionalisten und Erneuerer. … Diese Debatten dienten der Klärung grundsätzlicher Fragen, und zwischen sechzig bis neunzig Prozent der Landesbevölkerung verfolgten sie auf ihren Bildschirmen.“14
Elias ordnet diese Debatten also staatlichen Institutionen zu – und nicht Zivilgesellschaften, wie Frank Adler das in unserem, in diesem Buch erstmals in Deutsch veröffentlichten Interviewauszug getan hätte. Inzwischen haben sich soziale Netzwerke etabliert, die technische Voraussetzungen für solche Debatten weit über nationalstaatliche Grenzen hinaus bieten. Im Unterschied zu Chat Rooms und Facebook – aber in Vorahnung von Ted-Vorträgen und den Mitwirkungs- und Kommentarfunktionen für nicht-kommerzielle Netzwerke wie Wikipedia – geht Elias von Teilnehmerraten aus, die in der Tat utopisch sind. Zudem spezifizierte er zwei grundlegende Voraussetzungen: erheblich höhere Schulausbildung und kognitive und affektive Kompetenzen jenseits heutiger Allgemeinbildung und Verhaltensstandards. Die UNO und die UNESCO fördern seit Jahrzehnten die Entwicklung von Wissensgesellschaften, die einige von Elias’ utopischen langfristigen Zielen konkretisieren: Welche Arten von Wissen sind zu unterscheiden? Wie können sie an immer mehr Menschen vermittelt werden? Wie konfligieren Ausbildungsinstitutionen und besser ausgebildete Menschen mit den Gruppierungen, die (wie in Abschnitt 1 oben skizziert) ihre Privilegien auch mit Hilfe professionellen Lobbyismus’ und mit verschleiernden Public Relations verteidigen und ausbauen? Mansell und Trembley15 plädieren in ihrem UNESCO-Report für einen universellen Zugang zu Information und Wissen, hochwertiger Bildung für alle sowie Respekt für sprachliche und kulturelle Vielfalt. Alle Formen von Wissen sollten zu friedvollen Gesellschaften beitra11 12 13 14 15
van Stolk/Wouters 1987, S. 84. Vgl. Rosa 2005 und 2012. Vgl. Mennell/Goudsblom 1998. Elias 1984, in GS 17: 2005, S. 327-344, hier S. 328. Mansell/Trembley 2013, S: ii, 1 und 6. Die Vorstellung, Wissensfortschritte dienten immer der Aufklärung, verkennt Konflikte und Transformationen unterschiedlicher Erkenntnisziele. Siehe z.B. McCowan 2016.
gen. Ähnlich wie bei Elias verweist Wissen hierbei auf bedeutungsreiche Beobachtungen, Analysen und Interpretationen, die über längere Zeiträume hinweg entwickelt und von jeder neuen Generation diskutiert und kritisiert werden. In Industriegesellschaften und nachindustriellen Gesellschaften wird ein Großteil dieses Wissens durch Forschungseinrichtungen erarbeitet. Das United Nations Department of Economic and Social Affairs argumentierte bereits 2005 für eine „Smart Knowledge Society“.16 In ihr sollten soziale Institutionen und Organisationen die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzen, sich frei zu entfalten. Hierdurch sollten Chancen für alle Wissensarten eröffnet werden, die somit zu Massengütern würden. Wahrscheinlicher sei aber eine „Warped Knowledge Society“, korrumpiert dadurch, dass institutionelle Umbildungen aufhören, bevor sie dominierende Machtverhältnisse gefährden. Damit werden sie auf ein enges und für die Mächtigeren harmloses Spektrum weit verbreiteter Wissensarten begrenzt.17 Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Fernsehen zu dem weltweit immer noch dominierenden Massenmedium. Seine wichtigsten Erzählungen verbreiten im Kontext der bisher genannten Ausbildungsinstitutionen, Arbeits- und allgemeinen, je historisch, sozial und oft nationalstaatlich verschiedenen Lebensverhältnisse Orientierungen und Mittel für Koordinations-, (Selbst-) Steuerungs- und Kontrollfunktionen. Meister-Narrative bieten Schlüssel, Ereignisse und Handlungen als sinnvolle Reihenfolgen zu verstehen. Die Leichtigkeit und Geschwindigkeit, mit der dies geschieht, zeigt, dass und wie diese Schlüssel-Erzählungen unbewusst in individuelle Erfahrungen integriert werden. Jede Kultur stellt derartige Narrative zur Verfügung, sie verkörpern ihre Selbstverständlichkeiten. Je häufiger die Kulturangehörigen diese Muster wahrnehmen und verinnerlichen, desto häufiger dienen sie dazu, Ereignisabfolgen oder Handlungen als alltäglich und wie natürlich als offensichtlich sinnvoll zu verstehen.18 So ließen sich Schlüsselerzählungen für Brasilien, China, Deutschland und die USA aufgrund der Analyse und Synopse von Fernseh-Jahrhundert- und Jahresrückblicken erfassen.19 In den USA dominierte zum Beispiel gegenüber den anderen Narrativen die moralische, politische, technische und militärische Überlegenheit der USA in zwei Weltkriegen und vielen kriegerischen Auseinandersetzungen danach. „God’s Own Country“ setzte sich bisher immer durch, im (vermeintlich universellen) Interesse von Frieden und Freiheit. In Deutschland war öfter die Rede von Kriegen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts „ausbrachen“. Für die zweite Hälf16 17 18 19
UNDESA 2005, S. 46. UNDESA 2005, S. 58. Hill 2013, S. 326f. Ludes 2016.
te des 20. Jahrhunderts dominierten z.B. große Demonstrationen gegen Panzer – vom 17. Juni 1953 in Ost-Berlin bis zum Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking am 3. und 4. Juni 1989. In China dominierte die Darstellung einer stetigen Verbesserung der Lebensverhältnisse unter Führung der Kommunistischen Partei seit Gründung der Volksrepublik China. Selbst neuartige Gefährdungen wie sie die japanische Regierung bei der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2013 überraschten, seien in China nicht zu erwarten. Und Brasilien präsentierte sich für das 20. Jahrhundert als Land an der Peripherie der großen militärischen, politischen, kulturellen Entwicklungen in Europa und den USA. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts dominiert allerdings das Narrativ eines sich erhebenden Giganten, der erst kürzlich wieder in ökonomische und politische Schwierigkeiten zurückgefallen sei. Diese nationalen Mythen und großen Erzählungen werden im Rahmen von Nationalstaaten propagiert, in China auch von einem staatlich kontrollierten Rundfunksystem. Die eigene Nation als Hauptakteur dominiert in den Medienkulturen aller größeren Staaten. Staatliche Repräsentanten erscheinen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oft als militärische Oberbefehlshaber und in der zweiten Hälfte auch als Partner von Wirtschaftsführern.20 Global grundsätzlicher als derartige nationale Perspektiven argumentiert Therborn:21 Soziale Ungleichheiten verursachen Millionen vermeidbarer Toten. Sie führen zu vorzeitigen Todesfällen und verletzen Menschenleben und –rechte über Generationen hinweg. Dadurch werden Menschen gedemütigt, Milliarden verharren in Unfreiheit, sind zu Unsicherheit und fortwährender Überlebensangst verdammt. Eine „smarte und globale Wissensgesellschaft”, die solche Verletzungen von Menschenrechten überwinden könnte, erfordert zunächst die Verbindung von drei Hauptwissensarten: instrumentellem Wissen, wertrationalem Wissen, das menschliche Überzeugungen kodifiziert und eine neue Form des Wissens darüber, wie Menschen friedlich miteinander umgehen können.22 Die eben skizzierten audio-visuellen Schlüsselerzählungen bieten kaum Erklärungen für längerfristige Entwicklungen an. Staatliche Akteure werden wesentlich häufiger gezeigt als Vertreter großer Unternehmen, von militärischen oder kulturellen Verbänden. Innerarity argumentiert für neuartige Wissenspräsentationen und ihr Verhältnis zu Machtumbildungen: Wissen wird vielschichtiger, es wird weniger zentral, zerbrechlicher und fragwürdig. Diese neuen Wissenskonditionen und Expertenfigurationen schwächen traditionelle Machthierarchien.23 Ein solcher Autoritätsverlust für nationales Schulwissen oder nationale Medienkulturen wird durch neuartige Orientierungs- und Kommunikationsmittel vorangetrieben. Google und Facebook 20 21 22 23
Ludes 2011a. Therborn 2013, S. 167. UNDESA 2005, S. 91-97, 105-107 und 112-114. Innerarity 2012, S. 8.
erreichten globale Konzentrationsgrade, die weit über bisherige Monopolisierungen staatlicher Kontrollen hinausweisen. Diese Unternehmen und Netze bleiben aber auch weiterhin auf funktionierende staatliche Rahmenbedingungen angewiesen.
4. Habitus-Umbrüche Umbrüche der Habitualisierung von (Selbst-) Wahrnehmungen und der Verhaltenskoordination entstehen weiterhin im Kontext von Staatsgesellschaften. Aber immer mehr Menschen verbringen mehr Zeit damit, mithilfe technisch-ökonomisch-sozialer Netzwerke und Foren über nationalstaatliche Grenzen und Kontrollen hinaus zu kommunizieren. Diese neuen Kommunikationsweisen bedingen und rahmen Umbrüche traditioneller Verhaltensstandards, -weisen und Persönlichkeitsstrukturen. Damit einhergehende Habitualisierungen verlaufen schneller als die zu Beginn vorgestellten Staatenumbildungen, deshalb bezeichne ich sie als Habitus-Umbrüche. Paulle, van Heerikhuizen und Emirbayer24 resümieren für Elias’ und Bourdieus Habitus-Konzepte: Die Vorstellungen einer „zweiten Natur“ betonen, dass Wahrnehmungen, Denkstile und Verhaltensmuster als selbstverständlich, ja natürlich empfunden werden. Innere Dispositionen funktionierten unterhalb diskursiv zugänglichen Bewusstseins. Es gebe eine Vertrautheit mit den Figurationen oder Feldern zu denen man gehöre, die nicht in Worte zu fassen sei. Solche eingefleischten Dispositionen würden durch Netzwerke von Anreizen und Sanktionen, vor allem Machtbeziehungen verkörpert. Bourdieus Habitus-Konzept ist hierbei etwas kurzfristiger fokussiert als Elias’ Begriff und betont eher eine gewisse Flexibilität gruppenspezifischer Dispositionen.25 Zuverlässige Interaktionen und Abstimmungen von Ereignisketten erfordern immer die Koordinationen von Zeit, Raum, Erlebnishintergründen und Erwartungen. Insbesondere die Synchronisation von Erwartungen und Handlungsabläufen wurde langfristig durch staatliche Taktgeber für Kalender, Wochentage, Tageszeiten, Arbeitszeiten, Feiertage oder Ruhezeiten festgelegt. Massenmediale Programme koordinierten auch Anfang, Ende und Routinen von Mediennutzungszeiten als alltäglichen Taktgebern. Diese zeitlich stabilen Muster wurden inzwischen durch internationale Netzmedien flexibilisiert. Tele-Kommunikation wird durch neue Übertragungs- und Speichertechniken individualisiert und in Formaten und Inhalten trans-
24 Paulle/van Heerikhuizen/Emirbayer 2012, S. 71 und 80. 25 Vgl. Edgarton/Roberts 2014; Hasselbusch 2014. Büser/Beck/Schubert (2016) differenzieren, u.a. im Rückgriff auf Pierre Bourdieu, Dispositiv, Format und Narrativ für das Feld der Medien, mediales Kapital und mediale Habitualisierungen für unterschiedliche Medien. Ihre für die letzten Jahre empirisch belegte Schlussfolgerung ist, dass es keine einheitlichen „Mediengenerationen“ gebe.
formiert. In diesem Sinne werden alte Zwänge der Pünktlichkeit ergänzt durch immerwährende Erreichbarkeit. Die neue zeitliche Flexibilisierung wird aber weiterhin begrenzt zum Beispiel durch strikte Ausbildungs- und Arbeits-, Bus-, Bahn-, Flugpläne oder Ampelzeiten. Entsprechend flexibilisierte und genauer differenzierte Habitus-Umbrüche erfordern und fördern eine Lockerung und Intensivierung von Zwängen und Selbstkontrollen. Sie bilden aber auch traditionell zuverlässige Orientierungsmuster um im Hinblick auf immer wieder zu hinterfragende Regelwerke und Spielarten. Allerdings birgt diese Flexibilisierung und persönliche Unberechenbarkeit auch Risiken der Zuordnung und Erwartbarkeit. Zudem enthebt uns der rasche Wandel von Informationsund Kommunikationstechnologien nur teilweise der Unzulänglichkeiten überlieferter Denk- und Sprachmittel. „Die Lebenden kommunizieren miteinander in einer Sprache, die über weite Bereiche von den Toten geprägt wurde. … Als Determinanten des Verhaltens wirken Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen. Erlebte Situationen sind sozusagen dreidimensional.“26 Eine allmähliche Kontrolle sozialer Prozesse erfordert eine kommunikative Abstimmung von Erkenntnissen über unausweichliche Verhaltenszwänge und realistische Alternativen.27 Steven Pinker erläuterte den wesentlichen Beitrag traditioneller Druck-Medien für eine Erweiterung intellektueller und moralischer Horizonte. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erwirkten Fernsehen, Computer, Satelliten, Telekommunikationsnetze, erhöhte räumliche und soziale Mobilität gemeinsam mit einem allgemeinen Bildungs- und Wissensfortschritt Chancen für eine Ausweitung von WirIdentitäten.28 Orientierungs- und Kommunikationsmittel dienten eben nicht nur der Koordination und Kontrolle, sondern auch der Verständigung und Einfühlsamkeit, einem Umbruch menschlicher Sinneswahrnehmungen und Empfindlichkeiten. Aber nur wenn sich diese Umbrüche fast allgemein durchsetzen, konstituieren sie gemeinsame Verhaltens- und Empfindensstandards für je bestimmte Gruppierungen, Generationen und staatlich organisierte und sanktionierende Gesellschaften. Damit tragen sie dann auch zu Staatenumbildungen bei. Die zunehmende Inanspruchnahme historisch neuartig weit verbreiteter Informations- und Kommunikationsnetze wie Google oder Facebook bedeutet aber nicht einfach eine Zunahme von Information oder empathischer Verständigung. So trägt die Vervielfachung und Beschleunigung von Selbstdarstellungen und Kommunikationsangeboten in interaktiven Netzen nicht unbedingt zu transparenten und begründeten Verhaltenserklärungen oder Koordinationen bei. In sozialen Netzen dominie-
26 Elias 2004, S. 439 und 520. 27 Elias 1987a, aus verschiedenen Perspektiven S. 75, 94, 167, 178f, 222f und 243. Vgl. Elias’ Hinweis im Interview in diesem Band, Elias 1984 und Ludes 1989. 28 Pinker 2011, S. 292.
ren kurzfristige Optionen wie „like“ oder „dislike“, „weiterleiten“ oder nicht – sie erscheinen weitaus häufiger als undurchschaubar bleibende ökonomische Zwänge. Wir-Gefühle können hierdurch neu formiert und formatiert werden, ebenso wie das, was als selbstverständlich erscheint. Insofern dies über Jahre hinweg fast Tag für Tag erfolgt, in technisch vernetzten Ausbildungs-, Arbeits-, Politik- und Freizeitbereichen, entstehen neue Habitualisierungen, die sich zumindest zeitlich vorrangig mehr an solchen positiven und negativen Sanktionen, Kommunikationsbindungen und Exkommunikationen orientieren als an jeglicher Schulausbildung, Polizeikontrolle oder Steuergesetzgebung. Da diese Verhaltensbeobachtungen ungleich schneller, detaillierter und weiter verbreitet erfolgen als in früheren Druckmedien, entwickeln sich entsprechende Verhaltensstandardisierungen auch differenzierter und schneller als in früheren, Generationen übergreifenden Entwicklungen. Sechs neuere Beispiele sollen diese Habitus-Umbrüche verdeutlichen. (1) Globale Netzwerke der Kommunikation werden vorrangig durch private Unternehmen entwickelt und „verwaltet“, selbst wenn wir so unterschiedliche Staatsgesellschaften wie die USA und China berücksichtigen: Denn ihre wirtschaftlichen Machtinteressen können sich nur im Rahmen und durch Ausweitung transnationaler Im- und Exporte etablieren, wozu Informations- und Kommunikationstechnologien und durch sie verbreitete Formate und Botschaften in besonders entscheidender Weise gehören.29 Annähernd ähnlich wie bisherige Monopolisierungen der Steuererhebung, der Instanzen und Ausübung physischer Gewalt, ermöglicht die Konzentration weit verbreiteter Orientierungs- und Kommunikationsmittel Standardisierungen weit verbreiteter Verhaltensweisen. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts haben globale Netzwerke viele Dimensionen von Machtausübung, Staatenumbildung und HabitusUmbrüchen für mehr Menschen geformt als Zentralinstitutionen einer Staatsgesellschaft.30 Staatliche Sanktionen, insbesondere polizeiliche und militärische Gewalt könnten zwar prinzipiell zu hohen Kosten in Weltunternehmen eingreifen. Solche Interventionen bleiben aber relativ zu bisherigen Kontrollen nationaler ökonomischer Aktivitäten sehr selten und begrenzt. (2) Googles selbst ernannte Mission ist „to organize the world’s information and make it universally accessible and useful“. Tatsächlich setzte Google seine Kontrolle über besonders wichtige Mittel kulturellen Konsums und der Bedeutungszuweisung durch – zum Beispiel durch Rangordnungen. Hierdurch werden historisch neuartig hohe Profite erwirtschaftet.31 Die globalen Netze der Orientierung, Kommunikation, Teilnahme, der Selbst-Darstellung, Überwachung und Kontrolle entwickeln sich primär nach Prämissen privatwirtschaftlicher Profitmaximierung. Hierbei spielen die mehr oder weniger legalen Ausweichmanöver vor nationalstaatlichen Steuern eine 29 Yeo 2016, S. 600. 30 Castells 1996-98 und 2013. 31 Nixon 2016, S. 228f.
beachtliche Rolle. Diese Verlagerung von Machtgefällen ist für die implizite Förderung neuer Verhaltenskanons in Rechnung zu stellen. (3) Soziale Netzwerke ermöglichen zunehmend multimodale Selbstdarstellungen und Rückmeldungen, die immer auch Anerkennungs- oder Missachtenssanktionen implizieren. Die vielfältig differenzierbaren Kommunikationsnetze regeln diese Erwartungen unterschiedlich und mit raschen Veränderungsraten. Immer aber müssen die Teilnehmenden hierauf Rücksicht nehmen. Algorithmisierte Rangordnungen und Weiterleitungen, oft archiviert und abrufbar für Jahre, erlauben Analogien zu früher kleingruppenspezifischen Überwachungen. Sowohl anerkennenswerte Selbstdarstellungen als auch ihre Bewertungen werden aber zunehmend standardisiert und technisch erleichtert.32 Es entstanden aber auch „anti-soziale Netzwerke“, wie Wood33 argumentiert: Die sogenannten sozialen Medien verbreiten auch bisher als anti-sozial verstandene Verhaltensstandards. Die historisch neuartige Zurschaustellung realer oder fiktionaler Grausamkeiten und ihre Kommentierung in Echtzeit (durch ähnlich interessierte und gesinnte Nutzer) kann zu Desensibilisierungen gegenüber vielen Formen der (Zurschaustellung von) Gewalt führen. Die Algorithmen von Facebook programmieren neue mediatisierte Erfahrungen und soziale Beziehungen. Das gilt auch für anti-soziale, ja kriminelle Verhaltensmodelle und -weisen, die kriminologisch untersucht werden müssen. Es wurde offenbar in den letzten Jahren für viele Menschen immer leichter, Darstellungen oder Übertragungen brutaler Gewalttaten zuhause zu konsumieren. Audio-visuelle Präsentationen, zunehmend interaktiv und in Echtzeit, habitualisieren hierbei selbstverständlicher als die meisten expliziten Diskurse. (4) Alle Formen von Machtressourcen, -relationen, -ausübungen und das Erleiden dieser Machtverhältnisse wurden durch vernetzte Kommunikationsinfrastrukturen umgebrochen. Die Kontrolle über persönliche Daten und ihre profitable Nutzung veränderten soziale Beziehungen. Für immer mehr Menschen in immer mehr Gesellschaften und transnationalen Netzen wird es unausweichlich, persönliche Daten undurchschaubaren „Servern“ auszuliefern. Die Macht über und mittels großer Datenbestände formiert sich in Konzentrationen, die denen staatlicher Zentralinstanzen gleichen.34 Die „Macht der Algorithmen“35 bricht überlieferte Formen der Machtausübung und Staatenbildung auf. Hiermit entstehen neue Selbstverständlichkeiten und kaum hinterfragbare Verhaltensdispositionen. (5) „In zehn Jahren wird es schätzungsweise 150 Milliarden vernetzte Messsensoren geben, 20-mal mehr als heute Menschen auf der Erde. Dann wird sich die Datenmenge alle zwölf Stunden verdoppeln. Viele Unternehmen versuchen jetzt, diese 32 33 34 35
Vgl. Uski/Lampinen 2016, S. 462f. Wood 2016, S. 13. Ulbricht/von Grafenstein 2016. Ludes 2011a.
‚Big Data‘ in Big Money zu verwandeln. … Das nun in China umgesetzte Konzept eines Citizen Scores gibt uns eine Vorstellung davon: Durch Vermessung der Bürger auf einer eindimensionalen Rankingskala ist nicht nur eine umfassende Überwachung geplant. Da die Punktezahl einerseits von den Clicks im Internet und politischem Wohlverhalten abhängt, andererseits aber die Kreditkonditionen, mögliche Jobs und Reisevisa bestimmt, geht es auch um die Bevormundung der Bevölkerung und ihre soziale Kontrolle. Weiterhin beeinflusst das Verhalten der Freunde und Bekannten die Punktezahl, womit das Prinzip der Sippenhaft zum Einsatz kommt: Jeder wird zum Tugendwächter und zu einer Art Blockwart; Querdenker werden isoliert. Sollten sich ähnliche Prinzipien in demokratischen Staaten verbreiten, wäre es letztlich unerheblich, ob der Staat die Regeln dafür festlegt oder einflussreiche Unternehmen.“36 (6) Informationen aus Agenturen, Unternehmen, Verbänden, von Regierungen und Parteien, aus PR und SM erregen bereits durch ihre Identifikation, Klassifikation und Zugänglichkeit Aufmerksamkeit. Bei Abfragen steuert die Rangordnung auch die Berücksichtigung und damit Berichterstattung in schwer durchschaubarer Weise: Ein Artikel von Epstein und Robertson37 berichtet, wie dramatisch der Einfluss der Rangordnungen von Suchergebnissen auf Konsumentscheidungen und allgemeine Verhaltensweisen sei. US-amerikanische und kanadische Unternehmen gäben mehr als 20 Milliarden US-Dollar jährlich aus, um ihre Produkte an die Spitze der Rankings von Suchmaschinen zu bringen.
5. Vorläufige Schlussfolgerungen Die langfristigen Ziele von UNO und UNESCO gelten nachhaltig globalen Wissensgesellschaften, in denen dominierende Machtgefälle durch besser ausgebildete und vernetzte Menschen verringert werden. Zwar sind diese Diagnosen und Strategien konkreter und weniger utopisch als Elias’ Gedankenexperiment – aber auch sie bleiben weitgehend unrealistisch in Bezug auf tatsächliche Entwicklungen. Vielmehr setzen sich globale Unternehmen für Informations- und Kommunikationstechnologien durch, die weitgehend jenseits staatlicher (auch internationaler überstaatlicher) Kontrolle bleiben. Ja, es fehlen sogar die Spezialisten, die entsprechende Kontrollen systematisch durchführen und die Instanzen, die entsprechende Sanktionen durchsetzen könnten.
36 Digital-Manifest 2015, meine Hervorhebung. 37 Epstein/Robertson 2015.
Massenmediale Schlüsselerzählungen betonen aber weiterhin staatliche Zentralinstanzen, insbesondere für den Einsatz militärischer und seltener polizeilicher Gewalt. Sie rahmen fast alle Geschichten national.38 Langfristig fundamentale Habitus-Umbrüche erfolgen aufgrund und einher mit beschleunigten mediatisierten Kommunikationsumbrüchen. Diese werden vorangetrieben durch globale Unternehmen, denen im Verhältnis zu traditionellen, stärker national agierenden Unternehmen immer mehr finanzielle Mittel und damit Fachkräfte, Lobbyisten, Anwaltskanzleien zur Verfügung stehen: Ihre Flucht vor staatlicher Steuereintreibung und die Durchsetzung für sie positiver massenmedialer Narrative fördern wiederum positive öffentlichkeits- und politikwirksame Images. Damit einher entwickeln sich vernetzte Algorithmen ihrer besonderen Macht: der Informations- und Verhaltenskontrolle, der Überwachung und Sanktionierung, oft jenseits staatlicher Kontrolle. Big Data und Massensensoren beschleunigen Verhaltensbeobachtungen und Standardisierungen intensiver und umfassender als Etikette-Bücher, ja auch als Schulunterricht und staatliche Anweisungen es in vielen Lebensbereichen bisher konnten. Die Formen und Relationen zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmungen verschieben sich hin zu stärker differenzierten, sich schneller verändernden und zugleich umfassenderen Orientierungen, Wir-Gefühlen und WirIdealen. Diese Umbrüche unterminieren überlieferte Sozialisationsinstanzen. Diese Diagnose, die sich auf Staatenumbildungen und Habitus-Umbrüche konzentriert, sollte ergänzt werden durch Schlussfolgerungen von Sassen zu noch radikaleren Umbrüchen bisher vorrangig nationalstaatlich organisierter Gesellschaften: „die Ausgrenzung von Menschen, Teilen der Wirtschaft, Lebensbereichen. Unsere Unterteilung in Staaten und Wirtschaftssektoren ist nach wie vor für die Erklärung vieler Prozesse nützlich, sie hilft uns aber nicht, uns mit den größeren, neu entstehenden Zuständen unseres Planeten zu befassen.“39 Diese Ausgrenzungen betreffen so fundamentale Rechte wie Staatsbürgerschaften, Schutz vor innerstaatlicher oder zwischenstaatlicher Gewalt oder Schulausbildung. Castells entwickelte hierfür bereits 1998 seine Theorie einer „Vierten Welt“.40 Die Umbildungen der Staaten, die bereits relativ erfolgreich Zentralinstanzen etablierten und allgemein verbindliche Schulausbildung durchsetzten, entwickeln sich zunehmend in globalen Zusammenhängen mit sich erst etablierenden Staaten, die in ersten Phasen zu erfolgreichen Zentralinstanzen sind und mit zerfallenden Staaten. Die von Castells41 herausgearbeitete Machtabschwächung nationaler Staaten in neuen Vernetzungen erhellt die Ambivalenzen und Labilitäten dieser verschiedenen Transformationen von Staatlichkeit: 38 39 40 41
Ludes 2011b. Sassen 2014, S. 259f. S. auch Arora 2016. Castells 1998, Kap. 2. Castells 1997, Kap. 5.
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Die staatliche Kontrolle über zeitliche und räumliche Transaktionen wird immer mehr durch globale Ströme von Kapital, Gütern, Dienstleistungen, Technologien, Kommunikation und Information unterlaufen.42 Deshalb verlieren nationale Staaten an Gestaltungs- und Durchsetzungsmacht in ihrer Finanzpolitik, der Regulierung von Wirtschaftsunternehmen und Handel, der Steuergesetzgebung und Steuereintreibung. Auch die partielle Aufsicht über Information und Unterhaltung – und hierdurch Meinungen und Vorstellungen – die oft ein Vorrecht staatlich organisierter Institutionen war, entgleitet zunehmend nationalstaatlicher Regulierung.43 Organisierte internationale Kriminalität unterminiert weiterhin nationalstaatliche Souveränität.44
Auch die in Abschnitt 4 skizzierten Habitus-Umbrüche erfolgen in mehrdimensionalen Zusammenhängen: Langfristige, mehrere Generationen umfassende Verhaltensmuster wie Sprachen, nonverbale Kommunikation, Über- und Unterordnungsbereitschaften wirken fort. Diese relativ stabilen Ketten traditioneller Orientierungs-, Kommunikations- und Kontrollmittel werden durch Staatenumbildungen (noch mehr Staatenverfallsprozesse) zerbrechlich. Historisch neuartig sich beschleunigende Informations- und Kommunikationsnetze verbinden immer mehr Menschen für mehr Zeit. Offenbar setzen sich Habitus-Umbrüche aber nicht für alle lebenden Generationen gleichzeitig und gleich stark durch. Weltweit hat 2016 etwas weniger als die Hälfte der Menschheit kontinuierlich Zugang zum Internet. Auch die zuvor referierten Verbreitungszahlen von Suchmaschinen und Social Media bleiben weit unter der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger der meisten Gesellschaften. Einfach anzunehmen, diese heutigen ungleichen Kommunikationsverhältnisse würden sich in den nächsten Jahrzehnten allgemein und fast homogen durchsetzen und nicht selbst durch neuere Vernetzungen wiederum oft radikal umgebrochen, wäre nicht plausibel. Denn die Konzentration neuartiger Kommunikationsnetze in der Verfügungs-/ Gestaltungs-/Entwicklungsgewalt multinationaler Konzerne mit sehr wenigen Eigentümern wird sich fortsetzen. Dadurch werden neue und wiederum differenzierte Orientierungsmittel verbreitet, die entsprechende kommunikative Figurationen fördern. Diese ermöglichen neue Beteiligungschancen, aber auch Exkommunikation, Überwachung und Kontrolle. Insgesamt werden hierdurch aber wechselseitige Erwartungen immer wieder neu formatiert: durch das Update von Soft- und Hardware, Übertragungsnetzen und sozialen Teilhabezwängen. 42 Castells 1997, S. 243. 43 Castells 1997, S. 254. 44 Castells 1997, S. 259; vgl. die neueren Quellen und Daten, bes. zu den USA und Südafrika, in Comaroff/Comaroff 2016.
Die steigende Macht dieser Algorithmisierung von Verhaltensbeobachtungen und -standardisierungen unterminiert traditionelle Machtbasen in allen Bereichen, nicht zuletzt die national-territorialer Staaten. Die sich hiermit verstärkenden Habitus-Umbrüche erlauben im Vergleich zu anderen Unternehmen historisch neuartige Profite für Unternehmen die zunächst vor Jahren Suchmaschinen oder Plattformen vermarkteten. Die exorbitanten Gewinne in diesem Bereich haben bereits zu Investitionen zum Beispiel in neue Mobilitäts- oder Gesundheitssysteme geführt, die traditionelle Geschäftsmodelle vom Markt verdrängen. Diese Ausweitung von Informations- und Kommunikationstechnologien dient gleichzeitig der Datengenerierung, -archivierung, -klassifizierung und -auswertung, der sozialen Überwachung, Koordination und Kontrolle. Sie beschleunigt Verhaltensbeobachtungen und Identitätsbildungen. Hierdurch entstehen differenzierte Verhaltens- und Persönlichkeitsstandardisierungen weit über ursprüngliche Kommunikationsnetze hinaus, bis hin zu neuartigen Sensorsystemen und automatisierten Rangordnungen. Die gerade skizzierten Entwicklungsmuster werden sich aber nie gleichzeitig und gleich stark innerhalb von Staatsgesellschaften durchsetzen – noch weniger weltweit. Vielmehr sind in zukünftigen Forschungsprojekten die hier skizzierten Staatenumbildungen und Habitus-Umbrüche durch je spezifische Entwicklungsmuster zu beschreiben: „drags and drives“, Beschleunigungs- und Hemmkräfte, sich wechselseitig fördernde Umbildungen und Umbrüche, Gegenbewegungen und Ausgrenzungen sind immer wieder neu zu konkretisieren und erklären.
Dank Frau Prof. Stefanie Ernst lud mich ein, einen Eröffnungsvortrag zu dem internationalen Kongress „Changing Power Relations and the Drag Effects of Habitus: Theoretical and Empirical Approaches in the Twenty-First Century” am 8. Sept. 2016 in Münster zu halten, der auf diesem Buchbeitrag gründete. Unter den Beiträgen zu diesem Kongress bieten besonders die von Nico Wilterdink und Behrouz Alikhani wichtige Ergänzungen zu den hier vorgestellten Überlegungen. Sie werden im Tagungsband veröffentlicht werden. Die empirischen Daten, die in Abschnitt 2 referiert wurden, sind Ergebnisse des von der DFG geförderten Projektes 50243 DFGLU-13 zu Key-Visual Kandidaten, gemeinsam mit dem Informatiker Otthein Herzog. Erik Jentges schenkte mir mehrere kritische Hinweise zu früheren Fassungen dieses Aufsatzes: Herzlichen Dank.
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Hans-Jürgen Burchardt Auf der Suche nach dem Staat im Globalen Süden – oder wie man postkoloniale Analysen systematisieren kann
1. Einleitung Bis heute zeichnet sich die Beschäftigung mit den Staaten des ‚globalen Südens‘1 durch eine Konstante aus: Ein ungebrochen starker Eurozentrismus, der die methodischen und theoretisch-normativen Annahmen der meisten Analysen prägt und den westlichen Staat als Referenz voraussetzt. Dieser Eurozentrismus besteht aus zwei Dimensionen: Die erste Ebene ist ein Verständnis von Entwicklung als evolutionärer Prozess, welcher am Erreichen eines abstrakten, in die Zukunft projizierten und an europäischen Erfahrungen und -standards gemessenen Telos ausgerichtet ist und immer nur als ein striktes Nacheinander (wie Fort- oder Rückschritt) und nicht auch als ein simultanes Nebeneinander gedacht wird. Die zweite Dimension ist ein meist durch die liberale Theorie aufgeladener, individualtheoretischer Subjektbegriff, bei dem das männliche Individuum als rational agierender Eigennutzen-, beziehungsweise Freiheitsmaximierer gedacht wird, der sowohl den Staat als auch die gesellschaftliche Entwicklung prägt. Entsprechend dieser Vorzeichen interpretieren die gängigen Analysen bis heute Staaten jenseits der OECD meist als Ausdruck verschiedentlich eingeschränkter westlicher Staatlichkeit. Insbesondere durch Beiträge der postcolonial studies wurde die erste Dimension – der universelle Evolutionismus – bereits erfolgreich dekonstruiert.2 Mit Bezug auf den Subjektbegriff hingegen liegen Ansätze, die methodisch auch ein nicht-westliches, nicht-individualtheoretisches Verständnis der Subjektkonstituierung in Be-
1 Im Folgenden wird der Begriff ‚globaler Süden‘ verwendet, weil er im Unterschied etwa zu ‚Dritte Welt‘, ‚Nicht-OECD-Raum‘, ‚Entwicklungsländer‘ etc. die Länder primär nicht über ihre Abweichung gegenüber dem westlichen Entwicklungsmodell charakterisiert, sondern stärker auf Asymmetrien im internationalen System verweist. Der Begriff ist also als analytische, nicht als geografische Kategorie zu verstehen. Gemeinsam ist den Ländern des globalen Südens, die in ihrer Mehrheit in Afrika, Asien und Lateinamerika liegen, dass sie trotz aller Unterschiede international über weit weniger wirtschaftlichen und politischen Einfluss verfügen als z.B. die OECD-Länder, dass ihre politische, sozialstrukturelle und wirtschaftliche Geschichte und Gegenwart durch den ehemaligen Kolonialstatus geprägt wurden bzw. werden und dass sie spezifische, nicht-westliche Binnenpartikularitäten aufweisen. 2 Coronil 1997; Escobar 2005; Said 1978; Spivak 1990.
tracht ziehen, in der Staatsforschung kaum vor.3 Hier dominieren weiter die Kerngedanken Max Webers vom staatlichen Anstaltsbegriff und der rationalen Herrschaft des Westens, die auf dem rationalen Verhalten der Individuen basiert. Insgesamt ist es darum noch nicht gelungen, ein methodisches Gerüst zu entwickeln, welches offen genug ist, um relevante (Subjekt-) Partikularitäten aus den Staaten des Globalen Südens vorbehaltlos zu erfassen, aber gleichzeitig hinreichende Konsistenz aufweist, um eine dezentrierte Forschung zu begründen, die jenseits der westlichen Welt generelle Aussagen und systematische Vergleiche erlaubt. Im Folgenden wird darum nach einer kurzen Darstellung der Staatsentwicklungen und -forschung zu den Ländern des Globalen Südens ein auf Norbert Elias basierender Versuch vorgestellt, das westliche Subjektverständnis neu zu bestimmen, um abschließend analytisch und an einem Fallbeispiel zu diskutieren, welche Potenziale (und Grenzen) Elias’ „Werkzeugkasten“ der Figuration für eine dezentrierte Staatsforschung sowie für postkoloniale Ansätze methodisch bietet.
2. Globaler Süden – kein Staat zu machen? Nach seiner „Entdeckung“ als Gegenstand der Entwicklungstheorie in den 1950er Jahren wurde der Staat lange Zeit als ideelle Entwicklungsagentur betrachtet. So waren sich die meisten Ansätze – trotz fundamentaler Unterschiede bezüglich ihrer Diagnosen von Entwicklungshindernissen und deren Bewältigung sowie der politischen und wirtschaftlichen Systemfrage – weitgehend einig, dass dem Staat eine zentrale Rolle im Entwicklungsprozess zukommt und dieser sich an den Erfahrungen der westlichen Moderne zu orientieren hatte. Die bisherige Beziehung von Staat und Entwicklung im Globalen Süden lässt sich heute grob in drei Phasen unterteilen: klassischer Entwicklungsstaat, neoliberaler Staat, Renaissance des Entwicklungsstaates.4 Der klassische Entwicklungsstaat versuchte in den postkolonialen Gesellschaften den Staat zu festigen sowie wirtschaftliche und soziale Entwicklung anzustoßen. Er wurde zum zentralen Akteur der Entwicklung, welche damals vor allem als Wirtschaftswachstum, Einkommenssteigerungen, soziale Aufwärtsmobilität und Indus3 Postkoloniale Ansätze zeichnen sich in diesem Feld vor allem durch Hinweise auf die (politische bzw. staatliche) Nicht-Repräsentierbarkeit bzw. fehlende Möglichkeit der analytischen Darstellung subalterner Subjekte in den Ländern des globalen Südens aus (Spivak 1988). Zusätzlich hat man auf die Rolle des nicht verorteten, aber in der Regel westlichen Betrachters aufmerksam gemacht, der alles scheinbar objektiv analysiert und hierbei den Gegenüber oft als Anders bzw. fremd deklassiert (othering) (Reuter/Villa 2010). Auch die ausgeprägte Normsetzung auf westliche Männerbilder innerhalb von Entwicklungsansätzen wurde thematisiert (Lewis/ Mills 2003). Leider münden diese Dekonstruktionen meist nicht in Anregungen, wie der Subjektbegriff neu kontextualisiert werden kann, ohne ganz auf Systematisierungen zu verzichten. 4 Überblick: Burchardt/Peters 2015.
trialisierung verstanden wurde.5 Viele Entwicklungsstaaten zielten auf die staatliche Regulierung privater Investitionen und bauten oft eine elitäre und zentralistisch organisierte Bürokratie auf, die über Subventionen und Schutzzölle die Ökonomien modernisieren bzw. international wettbewerbsfähig machen sollte. Oft zeichnete sich der Entwicklungsstaat durch autoritäre Tendenzen aus; international wurde ein temporärer bzw. „wohl dosierter“ Autoritarismus teilweise sogar als Bedingung zur Erzielung von Entwicklungserfolgen gerechtfertigt. Gelangen einigen – insbesondere ostasiatischen – Staaten über diese Strategie durchaus Entwicklungserfolge, war die Performanz vieler Staaten langfristig aber ernüchternd; oft endeten entwicklungsstaatliche Projekte in ökonomischer und administrativer Ineffizienz, Stagnation und Überschuldung. Der Leviathan verwandelte sich nicht selten in einen Behemoth, also einen Unstaat, der wie in den südamerikanischen Diktaturen nicht nur massive Menschenrechtsverbrechen verübte, sondern auch wenig zur ökonomischen Stabilisierung oder sozialen Entwicklung beitrug.6 Zur Entzauberung des Entwicklungsstaates kam es zu Beginn der 1980er Jahre, als wichtige Staaten wie Mexiko und Brasilien zahlungsunfähig wurden und eine internationale Finanzkrise auslösten. Als Krisenantwort setzten besonders die internationalen Finanzinstitutionen zunehmende Deregulierungen, Liberalisierungen und Privatisierungen der Ökonomie durch und forcierten die Einbindung des Globalen Südens in die internationalen Waren- und Kapitalmärkte. Mit diesem als „Washington Consensus“ betitelten Entwicklungsverständnis wurde den Staaten im Globalen Süden über Austeritätsrezepte eine rigide Schlankheitskur verordnet; sie verloren ihre zentrale Rolle im Entwicklungsprozess. Mit dem neuen neoliberalen Staat neigte sich die entwicklungspolitische Waage vom Staat zum Markt. Doch diese Reformen führten zu einer verheerenden sozialen Bilanz. Statt der versprochenen ökonomischen Stabilisierung wuchsen in vielen Ländern vor allem Armut und soziale Ungleichheiten: Zwischen 1980 und 1999 betrug das durchschnittliche Pro-Kopf Wirtschaftswachstum im Globalen Süden null Prozent im Vergleich zu 2,5 Prozent in den vorangegangenen zwanzig Jahren des Entwicklungsstaates.7 Gleichzeitig mündeten die Deregulierung des Staates und die Expansion des Privaten oft in eine systematische Desorganisation, die zu einer Zerstörung von Institutionen und der Reduzierung sozialer Sicherungssysteme führte. Der Staat verlor immer mehr die Kapazität zur Wahrnehmung von Kernaufgaben. In den 1990er Jahren erfuhr der Staat darum eine erneute, bescheidene Aufwertung. Statt seines Rückbaus standen unter dem Paradigma der Good Governance nun dessen Umbau und Optimierung im Fokus; dieses Leitbild beinhaltete allerdings eine ungebrochene Fortsetzung der neoliberalen Entwicklungspolitik. 5 Überblick: Müller et al. 2014. 6 Kailitz 2013. 7 Easterly 2001.
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich eine Renaissance des Entwicklungsstaates beobachten, die mit einem Aufstieg des Globalen Südens einhergeht und für manche bereits den Beginn einer polyzentrischen Weltordnung einzuleiten scheint.8 Ermöglicht wurden diese Erfolge durch heterodoxe Politiken, die sich dem neoliberalen Dogma des schlanken Staates verweigerten und stattdessen auf die erneute Ausweitung der Staatstätigkeit setzten.9 Fast zwei Dekaden konnten damit in zahlreichen Ländern ein – oft durch hohe Rohstoffpreise begünstigtes – robustes Wirtschaftswachstum, expandierende Sozial- und Arbeitspolitiken sowie soziale Aufwärtsmobilitäten erzielt werden, so dass auch internationale Organisationen dem Staat wieder mehr Bedeutung zusprachen.10 In jüngerer Zeit haben sich aber in verschiedenen dieser Entwicklungsstaaten die politischen Krisen und autoritären Züge wieder verstärkt und es gibt erste Hinweise auf eine nächste Pendelbewegung staatlicher Dynamiken. Versucht man die Muster herauszuarbeiten, die den Staat im Globalen Süden in allen seinen Dynamiken prägen, wird immer wieder auf die fehlende Homogenität im territorialen und funktionalen Bezugsfeld des Staates hingewiesen.11 Das Gewaltmonopol ist bisweilen nur partiell durchgesetzt, ein Steuermonopol besteht kaum, als eine Folge davon ist der öffentliche Sektor ressourcenschwach und Wohlfahrtsfunktionen existieren nur fragmentiert oder selektiv. Nicht selten ist auch eine problematische Gewaltenteilung zu beobachten. Dabei regiert manchmal eine hochgradig personalisierte Exekutive, die vielleicht noch durch demokratische Wahlen legitimiert wurde, sich aber nur partiell an rechtstaatliche Regeln, Kontrollen oder Rechenschaftspflichten gebunden fühlt und stattdessen umfassende Vollmachten beansprucht. Verfassung, Verfassungswirklichkeit sowie gültigen Rechtsnormen und Praktiken differieren erheblich und eine ineffiziente, politisch abhängige und korrupte Justiz sowie eine geringe Rechtssicherheit sind oft die Regel. Verwaltungen scheinen dann ineffizient und durchsetzungsschwach sowie von nepotistischen, klientelistischen und korrupten Netzwerken vereinnahmt. Damit zusammenhängend zeichnen sich viele dieser Staaten statt durch eine klare Trennung zwischen Öffentlich und Privat, durch die übergreifende Koexistenz und wechselseitige Durchdringung von heterogenen, formellen wie informellen Regelsystemen aus, die die Homogenität und Integrität des Staates verringern oder sogar zum Staat inkonsistente bis antagonistische Regelsysteme konstituieren. Gleichzeitig gibt es in vielen Staaten des Südens nur eine gering organisierte Vertretung von prekären Gruppen und schwachen Interessen, die sich wiederum durch starkes rent-seeking auszeichnen, bei der nicht-staatliche Arrangements die formalen Institutionen 8 9 10 11
Rehbein 2013. Fourcade 2013. UNDP 2013. Schlichte 2005.
des Staates überlagern, penetrieren oder gar ersetzen. Die im Westen inhärente Heraustrennung staatlicher Herrschaft aus der ökonomischen Sphäre und ihre Herstellung in Form einer „subjektlosen Gewalt“12 findet im Globalen Süden also nur partiell oder gar nicht statt. Statt subjektloser Gewalt herrscht nicht selten weiter eine Gewalt der Subjekte vor. Dadurch haben die zentralen Dimensionen westlicher Staatlichkeit, das Gewaltund Steuermonopol, Rechts- und Wohlfahrtsstaatlichkeit sowie die demokratische Legitimation eine ganz andere Gültigkeit. Doch es handelt sich hier eben nicht einfach um Defizite des Staates. Vielmehr verfügen die den Staat diachron durchlaufenden – oft informellen und nicht selten exklusiven – Grauzonen über eine gesellschaftliche Legitimation und zeichnen sich durch eigene Vergesellschaftungsmodi und Funktionslogiken aus. Diese zu erkennen, ist ohne kontextualisierte Subjektbestimmungen nicht möglich.
3. Dezentrierung durch neue Subjektbestimmung Entsprechend der eurozentristischen Idee, dem Individuum universell Freiheit und Selbstverantwortlichkeit zuzusprechen, – auch Locke baute seine politische Theorie auf diesem Fundament auf – wurde der Mensch historisch, sozial, genderspezifisch, kulturell und lokal systematisch entkontextualisiert. Bis heute hinterfragen (neo-) strukturalistische, funktionalistische oder steuerungszentrierte Staatsanalysen dieses liberale Handlungsverständnis ebenso wenig wie die meisten entwicklungstheoretischen Ansätze. Oft setzen sie zumindest implizit ein interessensbestimmtes und vernünftiges Handeln voraus. Ein dezentrierter Subjektbegriff hingegen geht davon aus, dass es sich beim Konzept des Individuums um einen Kulturbegriff des säkularisierten Westens handelt, dem immer auch persönliche und kollektive Identitätsformen gegenüberstehen. Das heißt, der Einzelne handelt nicht – wie im Westen idealtypisch angenommen und partiell empirisch darstellbar – primär aufgrund eines rational angeleiteten Individualismus, sondern neigt gleichzeitig dazu, sich über Kollektive (oft (Groß-) Familie, Stamm, Geschlecht, Klasse, Ethnie, Religion, Nation) zu identifizieren, sich in diesen zu organisieren, sein Handeln an ihnen zu orientieren und sich hierbei auch von Affekten leiten zu lassen.13 12 Gerstenberger 1990. 13 Zur staatsphilosophischen Herleitung des europäischen Verständnisses des rationalen Subjekts vergleiche das bemerkenswerte Traktat ‚The Passions and the Interests’ von Albert Otto Hirschman (1977), nach dem die einstige Kategorie der Leidenschaften als handlungsbestimmendes Moment der Staatsbildung langsam durch die neuzeitliche Kategorie der Interessen zurückgedrängt wurde. Zügellose Leidenschaften verwandelten sich hierbei in eingehegte Interessen, die Handeln zunehmend strategisch abwägen und gleichzeitig abwägbar machten. Hirschman sieht in diesem Sinneswandel die ideengeschichtliche Genese des Kapitalismus und des bürgerlichen Staates.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Die folgenden Überlegungen zielen nicht auf eine Fundamentalkritik des Individualismus ab, sondern verstehen sich ausschließlich als Bemühung, in die Analyse stärker subjektive Kollektivbeziehungen und Affekte zu integrieren. Denn innerhalb von Handlungen lassen sich weder Emotionen vollständig vom kognitiven Erkennen trennen, noch führen Menschen kollektive Rituale wie staatliche Zeremonien völlig unreflektiert oder unbewusst aus. Es geht ebenfalls nicht darum, den Subjekten aus den Ländern des Globalen Südens in ihren Handlungen prinzipiell eine stärkere Gruppen- und Affektprägung zuzusprechen. Vielmehr wird angenommen, dass verschiedene Wege der Staatswerdung – wie z.B. der des Westens – zu einer unterschiedlichen Ausbalancierung zwischen Ratio und Affekt sowie zwischen Einzelnem und Kollektiv geführt haben. Über eine Betrachtung der jeweiligen Bezüge und Verflechtungen zwischen Affekthandeln und (Staats-) Kollektiv würde dann eine dezentrierte und kontextspezifische Staatsanalyse möglich, ohne sämtliche Subjekte auf die spezifische westliche Ratio-Affekt-Balance festlegen zu müssen.14 Nicht das Individuum oder der Affekt selbst müssten also im Zentrum der Betrachtung sehen, sondern ihre jeweiligen Verflechtungen. Prinzipiell wird hier also dafür votiert, in einer veränderten Subjektperspektive die rationalen und affektgeleiteten Wechselbeziehungen zwischen den Menschen, ihrem sozialen Umfeld und dem Staat, also die stattfindenden und sichtbaren gegenseitigen Artikulationsformen komplementär in den Fokus zu nehmen. Aus einer solchen Sichtweise wird der Staat nicht mehr nur in seinen politisch-institutionellen und ökonomischen Dimensionen betrachtet und Staatlichkeit nicht nur als ein abgegrenztes Sachgebiet des Politischen verstanden, sondern als eine dynamische Verflechtungsform, in der Menschen in historischen Kontexten ihre sozialen Beziehungen ordnen. Staat wird somit zum Kristallisationspunkt und Ort, in dem eine Vielzahl von einzelnen wie kollektiven Akteuren die Alltagspraxen, Formen, Funktionen und Mechanismen von Macht und Herrschaft definieren, (re-)produzieren und/oder verändern. Doch eine Re-Integration von Affekten in die Staatsanalyse sieht sich mit einer klaren Unwegsamkeit konfrontiert: Wie soll das Unberechenbare berechenbar gemacht werden? Denn Leidenschaften lassen sich zwar fühlen, genießen oder erleiden; lassen sie sich aber auch vermessen und wiegen, ohne die Erhebung auf die 14 Nichts Anderes meint im Grunde auch Max Weber: Für ihn war die Entwicklung von der protestantischen Ethik zum Kapitalismus nicht – wie heute oft dargestellt – ein kausaler noch linearer Prozess; vielmehr hat das intentionale Verhalten vieler Einzelner (religiöse Heilsbringung) zu einer nicht-intendierten Gesamtveränderung (rationale Moderne) geführt. Diese „Paradoxie der Rationalisierung“ (Schluchter 1976), bei der religiöse sinn- und identitätsstiftende Normen und Praktiken als Entzauberung im Westen zur rational-effizienten, aber sinnentleerten Herrschaft mutierten, ist für Weber durchaus singulär. Seine Theorie der Entwicklung der Weltbilder hat zwar einen universalhistorischen Anspruch, ist aber im Gegensatz zu Positionen vieler seiner späteren Apologeten nicht universalistisch.
Person oder die Kleingruppe wie wir es von postkolonialen, sozialpsychologischen und ethnologischen Methoden kennen, zu begrenzen? Wie ist es möglich, Vernunft und Leidenschaft nicht als Antipoden zu denken, bei denen eine Seite die andere aufhebt, sondern als komplementäre Beziehung zu begreifen, bei der erst die Berücksichtigung beider Seiten zum Verständnis sozialen Handels und staatlicher Entwicklung beiträgt? Jemand, der diese Problematik besonders prominent behandelt hat, ist sicherlich Norbert Elias mit seinem Figurationsmodell, welches er in seinem Lebenswerk „Über den Prozeß der Zivilisation“15 anwendet. Elias begreift Vernunft und Affekt nicht als Antipoden. Stattdessen versucht er die Wechselbeziehungen zwischen Struktur und Handlung am empirischen Beispiel zu illustrieren. Denn prinzipiell ist er überzeugt, dass es den homo clausus, also das auf einen eigenen Kern reduzierbare und außerhalb der Gesellschaft liegende Individuum nicht gibt.16 Vielmehr können Menschen nur im Plural gedacht werden, da sie in generationsübergreifende Interdependenzen eingebunden sind, die sie ebenso prägen wie sie in ihren Affekten, Gedanken und Handeln von ihnen geprägt werden.17 Elias löst das Verständnis der gesellschaftlichen Entwicklung darum in Figurationen auf, in denen eine Vielzahl von Individuen – die aber keine Einzelwesen sind –, über verschiedene labile Machtbalancen in zahlreichen Verflechtungen auf unterschiedliche Weise aneinander gebunden sind. Dies lässt sich leicht illustrieren, z.B. über einen Gruppentanz wie dem Tango: Musik, Paarbildung und Tanzschritte sind als Struktur vorgegeben. Die Tanzfiguration ist insofern relativ unabhängig vom Einzelnen, aber ohne die aufeinander bezogenen Personen gibt es keinen Tanz. Ist der Einzelne also nicht entscheidend, kann der Tanz doch nicht ohne ihn stattfinden. Die Handlungen aller Tänzer sind interdependent und bewegen sich in einem machtdurchsetzten Spannungsgefüge. So gibt es z.B. klare geschlechtsspezifische Zuschreibungen, wer im Tanz führt, welche Bewe-
15 Elias 1939[1997]. 16 Damit geht Elias weit über die Analyse von Max Weber hinaus. Beide Klassiker eint der Anspruch, in der Analyse Struktur und Handlung zu verbinden. In seinem Selbstverständnis entspricht Weber auch keineswegs der heute gerne propagierten universellen Idee von Entwicklung als an der westlichen Moderne orientierter evolutionärer Prozess, sondern hat durchaus ein Gespür für lokale Kontextualisierungen. Aber mit seinem auf Sinnhaftigkeit bzw. Zweckrationalismus fokussiertem, simplifiziertem Subjektbegriff gehört Weber zweifelsohne zu einem der Begründer der zweiten Dimension des Eurozentrismus. Dieser Kerngedanke, der in der Verkoppelung des staatlichen Anstaltsbegriffs mit dem der rationalen Herrschaft, welche wiederum auf dem rationalen Verhalten der Individuen basiert, kulminiert, weist Weber für eine dezentrierte Forschung als ungeeignet aus. Dies trifft auch auf die an ihn anknüpfenden Versuche zu, die Kategorien Webers für Analysen der globalen Veränderungen von Staat und Gesellschaft aufzubereiten. Zu nennen sind hier z.B. die Konzepte des Kosmopolitismus (Beck 2006), der Weltgesellschaft (Meyer 2005) oder neo-institutionalistische Studien (z.B. Acemoglu/Robinson 2012). 17 Elias 2006, S. 156.
gungen erlaubt sind, etc. Aber diese Beziehungen kann der Einzelne ebenso verändern wie dieser durch die Figuration beeinflusst wird. Mit seinem Figurationskonzept gelingt Elias eine doppelte Perspektivverschiebung: Zum einen unterstreicht er, dass Struktur und Handlung nicht über statische Zustandsbeschreibungen, sondern primär in sozialer Praxis und in Prozessen analysiert werden müssen. Für ihn befindet sich der Mensch nicht nur in Prozessen, er ist der Prozess; das einzig Unwandelbare an ihm ist seine dem evolutionären Wandel entsprungene Wandelbarkeit.18 Elias regt also an, dass die Forschung zukünftig weniger auf quantitative Analysen setzt und statt einer streng statisch und/oder (feld-) isolierten stärker eine relationale Perspektive einnehmen sollte. Zum anderen basiert der Figurationsansatz auf einer Theorie der Machtbeziehungen, die Macht zwar als Kontrolle über Ressourcen, Machtausübung aber nicht als unipolare Mechanik versteht, sondern als fluktuierende Machtwandelungen. Das soziale Kraftfeld der Macht liegt nicht bei einzelnen Menschen (und nicht nur im Politischen), sondern bei dem, was zwischen den Menschen geschieht und sich wandelt. Macht ist der dynamische Kern zwischenmenschlicher Beziehungen. Zur Macht gehört auch immer ihre Anerkennung und Legitimation und somit die Möglichkeit der Ermächtigung derjenigen, über die Macht ausgeübt wird, die dann zur Gegenmacht wird. Und Macht hat auch immer eine affektive Seite: Wer Politik nur vernunftbezogen begründet und Affekte wie Unlust (z.B. Angst) oder Lust (z.B. kollektive Empathie) vernachlässigt sowie Partizipation über elitäre Zugangsschwellen einschränkt, läuft Gefahr, staatliche Macht zu verlieren. Macht ist für Elias darum das zentrale Beziehungsattribut zwischen Menschen und Motor staatlicher Entwicklung.19 Welchen erkenntnistheoretischen Mehrwert bietet eine solche Perspektivverschiebung? Elias integriert jenseits einer Mikroperspektive die Affektdimension in die Staatsanalyse. Da Gefühle bzw. Leidenschaften besonders ausgeprägt von sozio-kulturellen Konstellationen abhängen, schafft er so einen starken Bezug der Forschung zu Geschichte, Kultur und Lokalem. Um dieser Kontextualisierung hinreichend ge18 Elias 2006, S. 155. 19 Dieses relationale Machtverständnis birgt einen doppelten Vorteil für die Staatsforschung: Zum einen vermeidet es den machtblinden Reduktionismus, der heute oft noch mit einem steuerungsorientierten bzw. technizistischen Bias praktiziert wird. Zum anderen begrenzt es die Machtdefinition nicht auf das von Max Weber geprägte und bis heute breit wirksame mechanische Verständnis von Macht als einseitige Durchsetzung des Willens in einer sozialen Beziehung, also als Einflussnahme auf andere (power over). Diese eindimensionale Interpretation, die die Analyse komplexer Machtbeziehungen unzulässig vereinfacht, ist oft mit einem formalistischen und institutionalistischen Blickwinkel gepaart, der bei Betrachtungen zu Staat im Globalen Südens kaum valide Kenntnisse erwarten lässt. Gerade die jüngeren Überlegungen zu Macht, die über die Konzepte power over und power to sowohl den repressiven als auch den produktiven Charakter von Macht thematisieren und sich um ein integrales Machtkonzept bemühen (Überblick: Clegg/Haugaard 2009), könnten über den Figurationsansatz inspirierende Anregungen erhalten. Es ist darum bemerkenswert, dass in den aktuellen soziologischen und politikwissenschaftlichen Debatten um Macht die Positionen von Norbert Elias wenig Beachtung finden.
recht zu werden, pocht Elias gleichzeitig darauf, jede Analyse empirisch zu erden und Theorie immer intensiv mit empirischen Erhebungsergebnissen rückzukoppeln. Er votiert also dafür, dass sich Staatsanalyse bzw. Entwicklungsforschung nicht mehr wie bisher üblich an westlichen Leitbildern bzw. Typenbildung (z.B. bei Institutionen- oder Demokratiestudien) orientieren soll, sondern als erstes die wirklichen Umstände möglichst vorbehaltlos erfassen muss. Konsequent wehrt er sich gegen Zustandsanalysen, kritisiert deren Methode der isolierten Faktoren- oder Variablengenerierung und schlägt vor, sich dem zu untersuchenden Gegenstand von seinen Beziehungs- sowie Machtdynamiken her anzunähern. Somit stellt er soziale Praxis in den Mittelpunkt seiner Betrachtung, da für ihn besonders innerhalb sozialer Prozesse der Einzelne und der Staat in ihrer Gesamtheit erkennbar und beschreibbar werden. Er ist mithin ein Verfechter qualitativer Sozialforschung und kontextsensibler Fallanalysen, ohne quantitativen Erhebungen die Relevanz abzusprechen. Mit diesem Vorgehen wird sowohl die erste als auch die zweite Dimension des Eurozentrismus dezentriert: Entwicklung ist nicht mehr nur linear und Subjekte werden in ihrer Gesamtheit und ihrem konkreten Umfeld erfasst und erfahren. Um die komplexen Figurationen operationalisierbar zu machen, so dass sie über empirische Erhebungen systematisch greifbar bzw. vergleichbar werden, entwickelt Elias drei Kategorien: die Differenzierung, die das Kontrollmaß außermenschlicher Geschehenszusammenhänge (Natur) darstellt. Die Integrierung, die die Kontrolle zwischenmenschlicher Zusammenhänge beschreibt; und die affektiven Valenzen, die sich für ihn vor allem durch (wachsende) Selbstkontrolle ausdrücken. Er systematisiert diese drei Kategorien zu einer Triade der Grundkontrollen, mit der er glaubt, Gesellschaften beschreibbar und vergleichbar zu machen.20 Die Kategorie der affektiven Valenzen – also ein auch affektgeprägtes Beziehungsgeflecht zwischen Menschen – bezeichnet genau die Dimension, mit der versucht wird, Gefühle in die Gesellschaftsanalyse einzubeziehen. Ist für Elias die menschliche Befriedigung primär immer auf andere Menschen ausgerichtet,21 heften sich Gefühlsbindungen bei größeren Einheiten wie dem Staat für ihn aber nicht nur an Personen, sondern auch an einigende Symbole, „…an Wappen, an Fahnen und an gefühlsgeladene Begriffe“.22 Anhand dieses Hinweises lässt sich gut zeigen, wie Elias mit seinem Fokus auf Affekt Kulturrelativismus vermeidet: Haben Kultur oder auch Staat meistens die Nation oder einen anderen Ursprungsmythos als zentralen Referenzpunkt, beziehen sich Affekte bei Elias immer auch auf soziale Positionierungen: Traditionen sind z.B. nicht nur lokal oder ethnisch verwurzelt, sondern direkt mit sozialem und staatlichem Wandel verkoppelt.23 Der Wandel selbst gerät in 20 21 22 23
Elias 2006, S. 210. Elias 2006, S. 177ff; vgl. auch Blomert 1991. Elias 2006, S. 182. Hobsbawm/Ranger 1983.
den Blick der Betrachtung, nicht nur der Staat als Ursprung und Ort mit seiner jeweiligen Prägekraft. Über die Kategorien Integrierung und Differenzierung will Elias die Qualität und Quantität der sozialen Interdependenzen zwischen den Menschen und innerhalb einer Gesellschaft messbar machen.24 Integrierung ist als erstes eine physische Gewalt mindernde Überlebensfunktion einer Gruppe, die in soziale Strukturen, gesellschaftliche Organisation und schließlich staatliche Monopole mündet. Differenzierung und insbesondere Arbeitsteilung (wobei mit dem Kapitalismus eine neue Qualität erreicht wurde) vertieft und verbreitert die Interdependenzen. Beide Prozesse sind unabdingbar verbunden: das heißt z.B., dass die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft nicht von der Genese des Kapitalismus getrennt werden kann. Aber eben nicht nur ökonomische Strukturzwänge oder politische Regimekonfigurationen stehen für Elias im Zentrum der Analyse, sondern auch die Machtdifferenziale und -balancen, die diese Interdependenzketten zusammenhalten und sich in Figurationen manifestieren. Mit diesem Zugang über eine Kombination von psycho- und soziogenetischen Studien hat Elias eingrenzbare und empirisch nutzbare Kategorien entwickelt, die eine dezentrierte, empirische Analyse erlauben. Sie bieten für die Erhebung von Entwicklungsmustern ein ergebnisoffenes, sensibles, aber doch konsistentes Methodengerüst an, mit denen kontextsensibel den jeweiligen Partikularitäten der Staaten des globalen Südens gut nachgespürt werden kann. Denn erstens nimmt das Figurationsmodell Affekte in seinen Fokus und betrachtet diese explizit auch in ihrem kollektiven Ausdruck über staatliche Symbole etc. Zweitens basiert es weder in seinem Subjekt- noch in seinem Strukturbild auf einem essentialistischen Verständnis, sondern verfolgt eine Verknüpfung sozialer und politischer mit ökonomischen und anderen Determinanten, deren empirisch zu bestimmende Interdependenzen zu unterschiedlichen (Ver-)Gesellschaftsmodi und -mustern des Staates führen können. Das heißt, das Figurationsmodell ist weder staatsnoch marktzentriert und arbeitet ohne normative Vorannahmen – dies kommt einer vorbehaltslosen Annäherung an die Staaten der Länder des globalen Südens sehr nahe. Drittens kann das Modell mit seiner Kategorie Integrierung auch perpetuierten bzw. naturalisierten sozialen und politischen Ausschluss als Gleichzeitigkeit von Drinnen und Draußen auf den Grund gehen – eine wichtige Komponente in Ländern des Südens,25 die z.B. von Max Weber oder Pierre Bourdieu kaum behandelt wird und bis heute in der Ungleichheitsforschung zu wenig Aufmerksamkeit findet.26 Über den Begriff der fluktuierenden Machtbalancen nimmt Elias hingegen sowohl die Dynamiken von Räumen sozialer Ordnung als auch deren Legitimationsformen 24 Elias 2006, S. 183ff. 25 Souza 2007. 26 Siehe auch Elias/Scotson 2002 und Rehbein/Souza 2014.
in den Blick. Dabei stellt er viertens Macht und soziale Positionierung ins Zentrum seiner Betrachtung. 27 Ohne also Affekt und Kontext zu vernachlässigen, gelingt Elias eine Analyseform, die nicht in Kulturrelativismus oder Ethnologisierung abrutscht. Und fünftens bietet das Konzept mit seinem Raum-Zeit-Begriff nicht nur die Option auf eine starke Kontextualisierung des Staates, sondern ebenfalls eine methodisch-analytische Perspektive, wie soziale Prozesse im Staat als interdependente – auch transnationale – Mehr-Ebenen-Verläufe nachgezeichnet und erklärt werden können.
4. Figuration im Praxistest Am besten lässt sich das Figurationsmodell an einem konkreten Beispiel darstellen. Wählen wir dazu einen Staat des Globalen Südens, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts das gleiche Pro-Kopf-Einkommen wie Deutschland hatte und dem vom Ökonom Colin Clark noch 1940 bescheinigt wurde, dass er in spätestens 30 Jahren zu den vier Nationen mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt zählen würde:28 Argentinien. Bald nach dieser Prognose wurde Argentinien durch starke soziale und politische Verwerfungen sowie wirtschaftlichen Abstieg geprägt – Instabilität, Korruption und tiefe Ungleichheiten sind seither zentrale Charakteristika der Gesellschaft. In den gängigen Analysen werden dafür strukturelle (wie eine verschleppte Agrarreform) oder institutionelle (wie Hyperpräsidentialismus oder schwacher Rechtsstaat) Verzerrungen verantwortlich gemacht.29 Die Anwendung des Figurationsansatzes könnte diese Erklärungen durch folgende Überlegungen erweitern: Die Entstehung der Nation Argentinien basierte zum einen auf einen massiven externen Ressourcenzufluss, der als Belle Époque bis zum 1. Weltkrieg einen knapp 40-jährigen Wirtschaftsboom begründete und dem Land zu kultureller Blüte verhalf. Die führenden Agrareliten lernten, ihre Böden optimal zu nutzen und setzen auf einen schwach diversifizierten Exportwarenkorb (Wolle, Getreide, Fleisch), der Dinge des täglichen Bedarfs abdeckte und auch bei internationalen Absatzkrisen eine relativ stabile Nachfrage garantierte.30 Zum anderen führten liberale Migrationsgesetze, die wenige Konzessionen gegenüber der neuen Heimat verlangten, zu einer bemerkenswert hohen Einwanderung; zur Jahrhundertwende betrug der Migrationsanteil ein Drittel der Bevölkerung. Der Wirtschaftsboom garantierte eine kollektive Aufwärtsmobilität, die für die Region relativ früh eine 27 Genauso argumentiert später Gayatri Spivak – die ‚Grande Dame’ des Postkolonialismus –, die darauf hinweist, dass jeder Kampf um kulturelle Diskriminierung gerade auch ein Kampf um sozialen Aufstieg ist (Spivak 2003). 28 Clark 1940. 29 Birle et al. 2010. 30 Waldmann 2010.
breite Mittelschicht entstehen ließ und eine generelle Integration erleichterte, die Entstehung identitätsstiftender Kollektive aber erschwerte – und das stark selbstreferenzielle Handeln der (von Freiheitsgewinn motivierten) Subjekte verstärkte. Wichtige Bezugspunkte der Eliten und späterer Migranten blieben von den europäischen Herkunftsländern geprägte (Familien-) Zusammenhänge. Argentinien sah sich eher als Außenposten Europas denn als lateinamerikanische Nation. Solche kollektiven Erfahrungen bei der Staatsbildung begünstigten generell Lösungsoptionen, die sich nach außen orientierten, wodurch die Versuche nationaler Identitätspolitiken, die Entfaltung politischer Institutionen sowie die Konsolidierung ihrer Konfliktlösungsmechanismen gehemmt wurden.31 Aufgrund des massiven Ressourcenzuflusses und mit Blick auf den Migrationshintergrund breiter Schichten hat es in Argentinien also keine vertiefte soziale Integrierung und Differenzierung gegeben. Die Eliten mussten nie um ein zentrales Monopol ringen, da der Mittelzufluss anfangs allen relevanten Gruppen ausreichend Ressourcen (und Macht) garantierte. Die Ausbildung eines starken Zentralstaates schien nicht erforderlich; Institutionen wie eine eigene Währung, Gesetze, staatliche Bürokratien oder sogar die Einrichtung einer Hauptstadt wurden oft erst nach der Staatsgründung geschaffen und die bis heute ausgeprägte Verweigerung (nicht nur) der Eliten, Steuern zu bezahlen, beweist, wie wenig Legitimation und Durchsetzungskraft der Staat hat(te). Eigene Interessen ließen sich am besten durch die Ausbildung gesellschaftlicher Konfliktpotenziale (und Gewalt) umsetzen, nicht aber durch ein aktives Mitwirken im Staat. Eine zunehmende Affektkontrolle, als erstes über die Durchsetzung eines zentralen Gewaltmonopols gesichert, fand nicht statt, schien nicht erforderlich und oft auch nicht förderlich. Die ökonomische Konzentration auf den Export – die auch in Phasen der Binnenorientierung über eine Neuverteilung der Exporteinnahmen nie in ihrer letzten Logik aufgegeben wurde – verringerte zusätzlich den Zwang zur gesellschaftlichen Differenzierung. Die wachsende Interdependenz, der Elias mit Blick auf Europa erst eine Konsolidierung und dann eine langsame Horizontalisierung und Entpersonifizierung der staatlichen Macht zuspricht, hat somit nie stattgefunden. Damit lässt sich erklären, warum Populismus und Gewalt in Argentinien bis heute wichtige politische Mittel sind. Allein dieses kursorische Beispiel gibt uns Anregungen, welche neuen entwicklungsanalytischen Fragestellungen mit einem figurationsmethodischen Instrumentarium gestellt und bearbeitet werden könnten: Das in vielen Ländern kaum durchgesetzte staatliche Steuermonopol könnte nicht als vormodernes Systemdefizit oder technokratisches Implementationsversagen, sondern als aktueller Ausdruck einer historisch gewachsenen – oft regimeneutralen – Machtdominanz ökonomischer und
31 Waldmann 2010, S. 175ff.
politische Eliten verstanden werden. So könnte z.B. untersucht werden, ob bei Steuervermeidung überhaupt funktionale Erwägungen (Macht- bzw. Ressourcenerhalt) oder nicht vielmehr affektive Leitmuster (wie traditionelle Außenorientierung der ökonomischen Eliten) eine wichtige Rolle spielen. Sollte letzteres der Fall sein, hätten Eliten selbst dann kein ausgeprägtes Interesse an wirtschaftlicher Binnen- oder Produktivitätsentwicklung, starken Institutionen oder sozialer Kohäsion, wenn ihnen dies ökonomische oder andere Vorteile verspricht. Zusätzlich erlaubt die Figurationsanalyse eine Annäherung an die Frage, inwieweit der oft vorausgesetzte kapitalistische Vergesellschaftungsmodus für den Globalen Süden universell gültig ist. Berücksichtigt man, dass sich die Mehrheit der ökonomisch potentesten Staaten des Globalen Südens durch eine überproportional hohe Abhängigkeit von Rohstoffexporten auszeichnet, ist zu klären, welche Bedeutung dies für die Binnenverfasstheit solche Länder hat. Oft wird hier nicht Profit, sondern Rente – also ein leistungsunabhängiges Einkommen – generiert, welche ganz eigenständige soziale und politische Figurationen entstehen lässt. Staat und Politik haben dann primär nicht die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft oder sozialen Ausgleich zum Ziel, sondern die Verteilung der Renteneinkommen und einen dadurch garantierten Machterhalt – politische Legitimation durch Demokratie ist nicht erforderlich. Zusätzlich lassen sich in Rentengesellschaften staatliche, kollektive, aber auch individuelle Verhaltensweisen beobachten, die analog zu den von globalen Rohstoffpreisen abhängigen zyklischen Wirtschaftskreisläufen der Rentenökonomien auf kurzfristige persönliche Dividenden ausgerichtet sind. Selbst wider besseren Wissens und Wollens wird dadurch die langfristige Planung oder gar Umsetzung von nachhaltigen politischen Projekten gehemmt oder verhindert.32 Solche Überlegungen haben konkrete Konsequenzen für die gängige Staatsforschung und Entwicklungspolitik: Klassische Vorschläge und Instrumente wie Institutionenaufbau, Good Governance-Politiken, Anreizstrukturen für Binneninvestitionen, sozial-, arbeits- oder umweltpolitische Regulierungen usw. würden – unabhängig von ihrer konkreten Ausrichtung und Umsetzung – ob ihrer mangelnden Berücksichtigung von Kontextspezifika und ihres inhärenten westlichen Universalismus weitgehend ins Leere greifen. Dort, wo Korruption nicht auf Vorteilsnahme oder Habgier beruht, sondern ein Gebot der Anerkennung ist, können Korruptionsbekämpfungspolitiken nur scheitern. Und da, wo staatliche Bürokratien ganz natürlich und von allen als wirtschaftliche Pfründe verstanden werden, hat institution building kaum Effekte zugunsten besserer Verwaltungen. Entwicklung und Staat müssen darum neu gedacht werden!
32 Peters 2015.
5. Mit Elias über Elias hinaus Trotz dieser Inspirationen, die Elias bereithält, hat die entwicklungstheoretische Debatte und mit ihr die Analyse von Staaten des Globalen Südens ein angespanntes Verhältnis zu seinem Ansatz. Weckt sein Werk „Über den Prozess der Zivilisation“ doch schon im Titel Assoziationen auf ein normatives und teleologisches Entwicklungsverständnis, welches sich auch noch explizit auf die europäischen Gesellschaftsverläufe bezieht. Es hat damit zahlreiche Dispute sowie Vorwürfe eines ausgeprägten Eurozentrismus oder sogar Rassismus provoziert.33 Diese Reaktionen als auch die bis heute weitgehend anhaltende Ignoranz, den Ansatz von Elias für eine (insbesondere postkoloniale) Forschungspraxis fruchtbar zu machen, liegt in dem wohl tragischen Umstand begründet, dass Elias nicht nur zu den meistzitierten, sondern auch zu den mit am meisten fehlinterpretierten Klassikern der Sozialwissenschaften gehört. Elias’ Zivilisationstheorie ist nicht nur in ihren historischen Darstellungen und Interpretationen, sondern auch in ihren theoretischen Prämissen vielfach kritisiert worden.34 So stilisiert Elias Konkurrenz zur primären Quelle gesellschaftlicher Dynamik und beschäftigt sich meines Erachtens – ebenso wie Weber und Bourdieu – zu wenig mit Kooperation. Als Triebkräfte solcher Konkurrenzkonstellationen vermutet Elias eine archaische Angst des Einzelnen gegenüber dem Anderen (Natur, Mensch), die primär durch Dominanz in Sicherheit verwandelt werden kann – eine Interpretation, die sich im Grunde an dem Hobbesschen Naturrecht sowie dem Menschenbild von Sigmund Freud anlehnt.35 Und wehrt sich Elias auch vehement gegen den Vorwurf des Evolutionismus, erlaubt eine konsequente Anwendung seiner Kategorien im Prinzip doch nur eine unilineare Verlaufsform gesellschaftlicher bzw. staatlicher Entwicklung – allerdings nicht teleologisch, sondern als progressive, stagnierende oder regressive Tendenz.36 Auch die Anschauung, dass der Entwicklungsprozess der westlichen Staaten am besten als ein Prozess zunehmender Affektkontrolle beschrieben werden kann, ist zweifelsohne hinterfragbar. Denn die destruktiven Tendenzen und Gewaltexzesse moderner europäischer Staaten im 20. Jahrhundert sind wohl nicht nur als temporäre Regression zu verstehen37 – vielleicht wurden sie sogar erst durch die „Zivilisation“ möglich.38 Nicht zuletzt sind die beiden Elias’schen Kategorien zur Messung sozialer Prozesse (Integrierung/Differenzierung) weder modernisierungstheoretischen
33 34 35 36 37 38
Hinz 2000. Kuzmics 2000. Wickham/Evers 2012. Anders 2000. Imbusch 2005. Baumann 1992.
Vorstellungen völlig fremd noch die von ihm angegebenen Gründe für soziale Differenzierung von dem von ihm kritisierten Strukturfunktionalismus weit entfernt. Diese vielfältigen und auch berechtigten Kritiken haben allerdings weitgehend verschüttet, dass mit dem Modell der Figuration ein Raster vorliegt, welches die komplementäre Integration von Affekten in Staatsanalysen vortrefflich erfüllt und mit seinem gleichzeitig relationalen Verständnis vom Einzelnen und Kollektiv der Forschung neue methodische Zugänge zum Staat erlaubt. Dies wäre durchaus im Sinne von Elias, der nach eigener Aussage mit dem Begriff der Figuration ein begriffliches Werkzeug bereitstellen möchte, mit dem die falsche Dualität Gesellschaft und Individuum gelockert werden kann.39 Für eine Erforschung der Staaten des Globalen Südens durch das Figurationsmodell empfehlen sich verschiedene Erweiterungen: Bei der Kategorie der affektiven Valenzen ist als erstes positiv anzumerken, dass hier eine historische Retrospektive impliziert wird, die prinzipiell eine dezentrierte Analyse – Elias arbeitet mit einer drei Generationen-Betrachtung – verspricht. Nichtsdestoweniger ist zu überlegen, ob ein solches Vorgehen nicht forschungsökonomisch optimiert werden kann, um den Erhebungsaufwand praktikabel zu halten. Ebenfalls vorteilhaft ist, dass sowohl mit einer historischen Perspektive als auch mit der Integration von Affekten zentrale Kriterien vorliegen, die eine systematische Kontextualisierung staatlicher Prozesse erlauben, ohne sich auf lokale Partikularitäten begrenzen zu müssen. Zusätzlich aber sollte Elias’ besonderes Interesse an fortschreitender Affekt- und damit Selbstkontrolle stärker ausgeweitet werden auf andere Handlungsmotive, um mehr relevante Aspekte staatlichen Wandels zu erfassen. Denn die Kohäsion eines Staates verlangt nicht nur inneren Gewaltverzicht, sondern auch Empathie und Solidarität. Hier bietet sich z.B. eine Synthese mit der Affektkatalogisierung Baruch Spinozas an, die mit den Grundaffekten Lust und Unlust sowie deren Bewusstwerdung als Begierde beginnt und dann in sekundäre Affekte überleitet – von denen Hass und Liebe fundamental sind – und somit einen weiter ausgelegten Forschungsfokus erlaubt.40 In Bezug auf die Frage der Integrierung ist die Annahme, dass die Diffusion von Affekten primär als staatliche top-down-Tendenz stattfindet, zu korrigieren – diese Vermutung wurde von neueren historischen Analysen bereits weitgehend relativiert.41 Und seine Kategorie der Differenzierung grenzt Elias zwar explizit von funktionsstrukturalistischen Annahmen ab, verwendet diese aber implizit in der eigenen Analyse. Hier wäre unter anderem zu prüfen, ob über eine leidenschaftslosere Beschäftigung mit von Elias bekämpften Theorieansätzen nicht neue Synthesen möglich werden, die Indikatorenentwicklung und Operationalisierungen erlauben, ohne 39 Elias 2006, S. 170ff. 40 Bodei 1995. 41 Schorn-Schütte 2006.
den Forschungsfokus auf soziale Praxis bzw. Prozesse des Staates vernachlässigen zu müssen. Präzisiert werden müsste zusätzlich, über welchen Integrierungsgrad und über welche Differenzierungsdichte staatliche Interdependenzketten verfügen müssen, damit ihre Verknüpfungen wirkungsmächtig bleiben und nicht reißen. Dies ist vor allem von Bedeutung, wenn die für die Analyse relevanten – und auch von Elias schließlich mitgedachten – transnationalen Dimensionen von auch staatlicher Verflechtung in ihren Wirkungsgraden analysiert werden sollen.42 Von kardinaler Bedeutung sind zusätzlich zwei Aufgaben: Zum einen die Bemühung, bei einer Weiterentwicklung des Figurationsmodell in allen Bereichen die Kritik des Androzentrismus ernst zu nehmen43 und in das Figurationsraster einzubauen.44 Zum anderen sollte das dem Elias’schen Modell zugrunde liegende Verständnis vom staatlichen Wandel und des Subjekt-Struktur-Verhältnisses intensiv mit den Positionen und Wissen nicht-europäischer Lehren und Weltbilder sowie stärker mit dem Kenntnisstand des Postkolonialismus abgeglichen werden, um zu klären, ob und welche Analogien hier vorhanden sind und wo Synthesen möglich werden, die einen noch angepassteren Einsatz des Figurationsmodell auf Staaten des Globalen Südens erlauben. Nicht zuletzt wäre zu prüfen, wie Norbert Elias in Ländern des globalen Südens verstanden und rezipiert wird45 und ob sich daraus weitere Anknüpfungspunkte für ein von auf dem Figurationsansatz basierendes Forschungsprogramm ergeben.46 Dies sind zweifelsohne nur erste Hinweise, in welche Richtung das Figurationsmodell als methodischer Werkzeugkasten einer dezentrierten Staatsanalyse weiterentwickelt werden könnte. Das grundlegende Ziel wäre es, seine Kategorien zu schärfen, sie dem neuesten Kenntnisstand sowie den entsprechenden Gegebenheiten der Staaten des Globalen Südens anzupassen und darüber neue Indikatoren für empirische Erhebungen zu erarbeiten. Insbesondere die Debatten um Postkolonialismus und Post-Development könnten dadurch konstruktive Anregungen erhalten, da das Figurationsmodell gegenüber den zentralen Kritiken an diesen Ansätzen sowohl methodische als auch analytische Antworten bereithält: Erstens berücksichtigen die Kategorien Integrierung und Differenzierung hinreichend die „materiellen Verhältnisse“ von Staat und Entwicklung – die 42 Mann 1986. 43 Walby 2009. 44 Hier besteht z.B. die Möglichkeit, bei der Kategorie affektive Valenzen Erhebungen gendersensibel vorzunehmen, bei der Kategorie der Integrierung den sozialen und staatlichen Positionen und Rechten von Frauen analytisch besondere Beachtung zu schenken oder bei der Kategorie der Differenzierung den Wandel von Frauen- und Männerberufen zu untersuchen, um deren gesellschaftliche Zuschreibung als spezifischen Modus der Geschlechterkonstruktion zu erfassen. 45 z.B. Pérez Rivera 2010. 46 Zum internationalen Einfluss von Norbert Elias auf die sozialwissenschaftliche Forschung vgl. auch Gabriel/Mennell 2011.
dem Postkolonialismus teilweise abgesprochen werden47 –, ohne in einen westlichen Ökonomismus zurückzufallen. Die Kategorie der affektiven Valenzen garantiert gleichzeitig die Subjektsensibilität, die dem Postkolonialismus berechtigterweise so wichtig ist. Zweitens schlägt das Figurationsmodell ein methodisches Design vor, welches erlaubt, Struktur und Subjekt in der Analyse kontextspezifisch zu verknüpfen, ohne auf Systematisierungen und Vergleiche verzichten zu müssen. Sollte es einem so ausgerichteten Forschungsprogramm in der Praxis gelingen, über empirische Kenntnisse die Länder des Globalen Südens besser zu verstehen, würde der Postkolonialismus besonders profitieren – und mit ihm die Wissenschaft als Ganzes.
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47 Am Postkolonialismus wird kritisiert, dass er mit seinen Dekonstruktionsversuchen über das Ziel hinausschießt und ökonomische sowie politische Strukturen, also die faktischen materiellen Verhältnisse von Entwicklung zu stark vernachlässigt oder ganz ignoriert (Dirlik 1994). Sylvester 1999, S. 703 hat das prägnant auf den Punkt gebracht: “Development studies does not tend to listen to subalterns and postcolonial studies does not tend to concern itself with whether the subaltern is eating.”.
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Autorenverzeichnis
Dr. habil. Reinhard Blomert arbeitet am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Prof. Dr. Hans-Jürgen Burchardt ist Professor für Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen an der Universität Kassel und Direktor des CALAS, Maria Sibylla Merian Center for Advanced Latin American Studies. Prof. Dr. Florence Delmotte ist F.R.S.-FNRS Research Associate (Fonds de la recherche scientifique de Belgique), Professorin für Politikwissenschaft und Direktorin des CReSPo (Centre de recherche en science politique) an der Université SaintLouis–Bruxelles. Prof. Dr. Peter Imbusch ist Professor für Politische Soziologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Dr. Erik Jentges arbeitet am Department für Management, Technologie und Ökonomie der ETH Zürich. Prof. Dr. Peter Ludes, 1994 apl. Professur für Kultur- und Medienwissenschaft, Universität Siegen; 2002–2015 Professur für Massenkommunikation an der internationalen Jacobs University Bremen. Christophe Majastre ist F.R.S.-FNRS Research Fellow (Doktorand, Fonds de la recherche scientifique de Belgique) und arbeitet am CReSPo (Centre de recherche en science politique) an der Université Saint-Louis–Bruxelles. Prof. em. Gunnar Folke Schuppert ist Professor emeritus des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung und Fellow des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt.