Zur Anschauung von "Leben" bei Hildegard von Bingen: Ein Schnittpunkt von Poesie und Theologie 9783110432633, 9783110439557

Using careful textual analysis, this study reveals how Hildegard von Bingen presents the conceptual structure of a theol

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German Pages 409 [410] Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Prolog: „Leben“ – ein Schlüsselbegriff der Theologie für Hildegard von Bingen und heute
1. Entwicklung und Begründung eines Methodenmanuals
1.1 Methodologische Befunde
1.1.1 Begriffsunterscheidungen für die Metatheorien zur Untersuchung des Opus Hildegardianum
1.1.2 Zum Forschungsstand hinsichtlich des Formalobjektes
1.1.3 Hermeneutische Prämissen
1.2 Methodische Entscheidungen für die Textanalysen
1.2.1 Verbund der Methoden, die für diese Untersuchung ausgewählt wurden
1.2.2 Stilistische Analyse nach den Kategorien der klassischen Rhetorik
1.2.3 Corpustext-Analyse
1.2.4 Strukturalismus und Narratologie
1.2.5 Zielsetzungen dieser Arbeit und daraus resultierende methodische Grundentscheide
I. Analysen
2. Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin
2.1 Die Zielsetzung dieses Untersuchungsganges
2.2 Darstellungsstrategien in der Schilderung der visionären Herkunft der Texte Hildegards
2.2.1 Kategorien in der Konstanz und Variation typischer Darstellungswege
2.2.2 Originalität im Rahmen der Autorenkunst des 12. Jahrhunderts: Autobiographische Verortung des Berichtes von einer ekklesial relevanten Sendung
2.2.2.1 Topos von der Kindheit als heiligem Ursprung
2.2.2.2 Formalobjekte und Medialität der behaupteten göttlichen Mitteilungen
2.2.2.2.1 Gott selbst bleibt hinter dem Rufen seiner Stimme verborgen
2.2.2.2.2 Verbund von Audition und Vision
2.2.2.2.3 Literarische Strategien, um die Visionen als echte Gottesrede auszuweisen
2.2.2.2.4 Verschattungen und Verzögerungen der Schau
2.2.2.3 Die Subjektivität der Autorin zwischen aktiver Rezeption und „prophetischer Passiologie“
2.2.2.3.1 Ebenen der aktiven Rezeption der Vision
2.2.2.3.2 Innenraum der Seele: Abgrenzungen gegen körperliche und exstatische Schau
2.2.2.3.3 „Feilen“ (limare) an der Wiedergabe von Gottesrede in Menschenworten
2.2.2.3.4 Diminuitive und Bescheidenheitstopoi zur Relativierung des geschilderten Seherichs
2.2.2.3.5 Prophetische Passiologie
2.2.2.4 Intellectus als Offenbarung: Die Tiefendimension der Inhaltlichkeit im geschilderten Zusammenwirken von Gott und Autorin
2.2.3 Philosophie und Prophetie als dialektische Gegenspieler in den Metareflexionen des Spätwerkes
2.3 Vermengung der Erzählung der Entstehungszusammenhänge und der theologischen Inhaltlichkeit im Motiv des Lebens
2.4 Hermeneutische Schlussfolgerungen für eine heutige wissenschaftliche Interpretation
3. Visiones aus dem Liber Scivias
3.1 Der Geist erhebt den Geist: Durchblick zum Leben in der Visio SV III,10
3.1.1 Überblick über den Textabschnitt
3.1.1.1 Formale Analyse der ganzen Visio
3.1.1.2 Kriterien für die Auswahl der untersuchten Redeformen und Bilder
3.1.2 Untersuchung einzelner Bildmotive für Leben
3.1.2.1 In agro cordis: Der innere Acker des Herzens
3.1.2.2 Sicut cervus desiderat: Sprung und Lauf zum Lebensquell
3.1.2.3 Duae fenestellae: Die zwei Spiegelfenster des Glaubens
3.1.2.4 Ad interiora spiritus: Dynamiken zur Entgrenzung des inneren, äußeren und heilsgeschichtlichen Raumes
3.1.3 Ad vitam vivere: Theologische Aspekte des Lebensbegriffes in der Visio III, 10
3.1.3.1 Dignissimo compositionis effectu coadunatur: Das verschlungene Verhältnis von Gnade und Werk
3.1.3.2 Spiritus elevat spiritum: Leben als Erhebung zur Gemeinschaft im himmlischen Jerusalem
3.2 Wenn ihr meine Rede mit der Freude eures Herzens erfüllt!: Der Rückweg zum Leben in rectitudo und honestas in der Visio SV I,2
3.2.1 Formale Analyse der sprachlichen Strukturelemente
3.2.1.1 Zur Komposition der Visio
3.2.1.2 Ähnlichkeit mit Strukturen der Visio SV III, 10
3.2.1.3 Weitere stilistische und inhaltliche Merkmale
3.2.2 Bildsprache
3.2.2.1 Die Metaphorik des Gartens als Weide des Lebens
3.2.2.2 Cibus Vitae im Tabernaculum Cordis
3.2.3 Theologie des Lebens anhand einer Renarratisierung theologischer Formeln
3.2.3.1 Honor und rectitudo: Soteriologische Kernworte aus der anselmischen Theologie
3.2.3.2 Applikation soteriologischer Theologumena auf lebenspraktische Appelle in der Ehekonzeption der Visio SV I,2
3.2.3.3 Beata vita als Ausgangpunkt und Ziel
3.3 Im Leben erschien die Gnade, die das Leben gibt: Ein originelles Kompendium der Gnadenlehre in der Visio SV III,8
3.3.1 Formale Beobachtungen
3.3.1.1 Der Aufbau der Visio
3.3.1.1 Wiederholung sprachlicher und inhaltlicher Strukturelemente aus anderen Visiones
3.3.1.1 O humilitas: Textstrukturen durch gestaltete Lautlichkeit
3.3.2 Columna umbrosa und locus vacuus: Bildfiguren zwischen Konturiertheit und Erkenntnisentzug
3.3.3 Gnade und Leben
3.3.3.1 Diskussionsfelder der Gnadenlehre zur Zeit Hildegards
3.3.3.2 Anwesende Gnade: Hildegardianische Beschreibungsebenen der Gnade in Partizipien
3.3.3.3 Gratia Christi: Personale Gnade des Sohnes
3.3.3.4 Sum ei initium: Gnade und Bekehrung
3.3.3.5 Beistand und Entzug: Erfahrungen der Gnade
3.3.3.6 Reaedificando ad vitam: Die Finalität der Gnade
3.4 Die Fülle, die keinen Anfang hat, der gesehen werden kann: Trinität als Quell des Lebens in der Visio II,2 des Liber Scivias
3.4.1 Textstruktur als fundamentaltheologische Aussage: Trinität und Offenbarung in der Heilsgeschichte
3.4.1.1 Blicke in den textlichen „Grundwasserspiegel“ des Liber Scivias: Fons vitae als Bildsignal für eine soteriologische Christozentrik
3.4.1.2 Sprachmuster für Trinitätstheologie
3.4.1.3 Regalis prophetia: Erkenntnistheoretische Grundannahmen zur Trinitätslehre
3.4.2 Palpabilis comprehensio: Der Stein als Bild für Leben und Wohnstatt in Christus
3.4.3 Trinitarische Lebensfülle und trinitarische Spiritualität
4. Visiones aus dem Liber Divinorum Operum
4.1 Ich bin das ganz heile Leben: Theologische Wortfelder von Leben, Schönheit und Verheißung in der Visio LDO I,1
4.1.1 Konstante hildegardianische Theologumena in einer neuen textlichen Atmosphäre
4.1.1.1 Formale Analyse des Exordiums des Liber Divinorum Operum
4.1.1.2 Fortführung des semantischen „Baukastens“ aus dem Liber Scivias
4.1.1.3 Größere Dichte von philosophischen und theologischen Termini
4.1.2 Speculum und significatio: Ästhetik der Spiegelung als Prinzip von Schöpfung, Textproduktion und Argumentation
4.1.2.1 praesignare und designare: Literarische Deutungsfiguren als Nachzeichnung der praescientia
4.1.2.2 Makrokosmos/Mikrokosmos als zentrale Bildfigur
4.1.3 Semantische Felder um den Begriff des Lebens
4.1.3.1 Analyse von Kernstellen
4.1.3.2 Skizze einer semantischen Landschaft für den Begriff des Lebens
4.2 „Leben in Gott ohne Nichtung“: Lehre vom Leben aus der Exegese des Johannesprologs in der Visio LDO I,4
4.2.1 Ein „Buch im Buch“ als Spiegel des Stufenaufbaues des Lebens
4.2.2 Licht und Leere: Zwei Grundmetaphern für den Gegensatz von Leben und Nicht-Sein
4.2.2.1 Licht, Sonne, Tag
4.2.2.2 Das Nicht-Bild der Leere
4.2.3 Die Lehre vom „Leben des Lebens“ entlang einer Exegese des Johannesprologs
4.3 Ein lebendiges Land ist die Kirche: Die ekklesiologische Auslegung von Gen 1 als einer prophetischen und apostolischen Lehre vom Leben in der Visio LDO II,1
4.3.1 In vera visione fidei: Spezifische Merkmale in Struktur und Bildwelt
4.3.1.1 Formale Sonderstellung
4.3.1.2 Elemente eines visionsübergreifenden Reservoirs an Symbolen und Theologuma
4.3.1.3 Prophetia prophetarum
4.3.2 Symbolischer Antagonismus von Leere und unterscheidender Befestigung
4.3.2.1 Ontologische und theologische Präzisierungen des Bildsinnes der Leere
4.3.2.2 Firmamentum als Bild für Ordnung und Unterscheidung
4.3.3 Eine ekklesiale und spirituelle Theologie des Lebens
4.3.3.1 Gott als Leben und Licht
4.3.3.2 Das Partizip vivens als häufiges Attribut für Lebendig-Sein
4.3.3.3 „Ströme des Heiligen Geistes“ für das „Land der Lebenden“: Kirche und Leben
4.3.3.4 „Recta genitura spiritalis vitae“: Lehre vom geistlichen Leben
4.4 „Im Lebensbuch des Lammes“: Die irdische Kirche zwischen Schmerz und prophetischer Verheißung über die Heilung des Lebens in der Visio LDO III,5
4.4.1 Formale und inhaltliche Strukturen
4.4.1.1 Kirche in Leid und Verheißung durch das Buch des Lebens
4.4.1.2 Bekannte Strukturelemente
4.4.1.3 Erkenntnis durch Prophetie und Lehre
4.4.2 Bildsprache
4.4.2.1 Kirche in Verfallsepochen einer „weibischen Schwäche“ (muliebris debilitatis)
4.4.2.2 Zur Kleidsymbolik
4.4.3 Geheiltes Leben in dauerhafter, freudiger Zugehörigkeit zu Gott
4.4.3.1 Der Begriff des Lebens in der abschließende Visio der Visionstrilogie
4.4.3.2 Die Metaphorik vom Buch des Lebens
II. Auswertungen
5. Linguistische Fazit: Hildegard und ihre Sprache der Theologie
5.1 Sprache und Theologie bei Augustinus und Alanus von Lille
5.2 Sprachtheologie bei Hildegard
5.2.1 Die unbekannte Sprache Gottes und die Musik des Himmels
5.2.2 Christus, das innere Wort
5.3 Hildegards Sprache für eine Theologie des Lebens
5.3.1 Sprache als Lebenssprache
5.3.2 Grammatikalische Strukturen im Umfeld des Lebensbegriffes
5.3.3 Sprachbilder strukturieren die Anschauung von der Fülle des Lebens
5.3.4 Fazit: Originelle Sprachpoesie aus einem lebenstheologischen Impetus heraus
6. Anmerkungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Opus Hildegardianum aufgrund der vorausgegangenen Textanalysen
6.1 Zu Reichweite und Zielsetzung dieses Abschnittes der Auswertung
6.2 Heutige Einordnungen nach Gattungen religiöser Literatur im 12. Jahrhundert
6.2.1 Visionsliteratur
6.2.2 Prophetie und Apokalyptik
6.2.3 Wortschatz der Mystik
6.3 Einordnung nach heutigen Stilkategorien des Theologisierens
6.3.1 Symboltheologie
6.3.2 Populartheologie
6.3.3 Literarische Darstellungskunst für eine Lebenstheologie
7. Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard
7.1 „Trinkt den Frohsinn“: Aspekte der Ideengeschichte
7.1.1 Die Funktion dieser begriffsgeschichtlichen Untersuchung für die Auswertung der Textbefunde bei Hildegard
7.1.2 Philosophische Grundlagen des Lebensbegriffes
7.1.2.1 Erkenntnistheoretische Anfragen
7.1.2.2 Der philosophische Ternar esse, vivere, intelligere
7.1.2.3 Participatio als Schlüsselgedanke in der ontologischen Betrachtung des Lebens
7.1.2.4 Die philosophischen Anleitung (Diatribe) für das gute Leben
7.2 Theologische Impulse für die Weiterentwicklung des Lebensbegriffes
7.2.1 Gott, das Leben selbst
7.2.2 Der theologische Ternar von Weg, Wahrheit und Leben (Joh 14,6)
7.2.3 Die Intensivierung der Lebensqualität im Verlauf der Heilsgeschichte
7.2.4 Überfließendes Leben: Das Sprachbild von der Quelle des Lebens
7.3 Synopse der Anschauungen Hildegards zu einer Theologie des Lebens
8. Anregungen aus den Ergebnissen der Dissertation für die weitere Forschung
8.1 Studia Hildegardiana
8.2 Interdisziplinäre Mediävistik
8.3 Heutige Lebenstheologie
Epilog: Hildegards Preisung der vita laeta als Kronzeugin eines christlichen Optimismus
Literaturverzeichnis
1. Quellentexte von Hildegard
2. Weitere Primärquellen
3. Sekundärliteratur
Index Rerum
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Zur Anschauung von "Leben" bei Hildegard von Bingen: Ein Schnittpunkt von Poesie und Theologie
 9783110432633, 9783110439557

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Rebecca Milena Fuchs Zur Anschauung von »Leben« bei Hildegard von Bingen

Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie Münchener Universitätsschriften Katholisch-Theologische Fakultät Begründet von Michael Schmaus †, Werner Dettloff und Richard Heinzmann Fortgeführt unter Mitwirkung von Ulrich Horst Herausgegeben von Richard Heinzmann und Martin Thurner (federführender Herausgeber)

Band 60

Rebecca Milena Fuchs

Zur Anschauung von »Leben« bei Hildegard von Bingen Ein Schnittpunkt von Poesie und Theologie

ISBN 978-3-11-043955-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-043263-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043283-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2014/15 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwigs-Maximilians-Universität München unter dem Titel Vita laeta. Zur Anschauung von ,Leben‘ bei Hildegard von Bingen (1089 – 1179) im Schnittpunkt von Poesie und Theologie als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet. Nachdem das Manuskript der Untersuchung im Wesentlichen bereits zu Ostern 2013 abgeschossen war, wurde weiterhin Forschungsliteratur, die bis zum Juli 2015 erschien, berücksichtigt. Herzlich danke ich Herrn Professor Dr. Bertram Stubenrauch (Lehrstuhl für Dogmatik und Ökumenische Theologie, LMU München) für seine verständnisvolle und inspirierende Betreuung der Arbeit. Darüber hinaus danke ich ihm für die Bereicherung, dass ich aushilfsweise vom Sommersemester 2011 bis 2012 an seinem Lehrstuhl als wissenschaftliche Mitarbeiterin für das Zentrum für Ökumenische Forschung an der LMU München tätig sein konnte. Dass Professor Dr. Marc-Aeilko Aris (Professur für Lateinische Philologie des Mittelalters an der LMU München und Direktor des Albertus Magnus Institutes Bonn) das Zweitgutachten übernahm, ist mir eine Ehre, für die ich sehr danke. Ebenso danke ich Herrn Professor Dr. Martin Thurner und den weiteren Herausgebern für die Aufnahme meiner Dissertation in die Reihe „Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie“. Dies ist mir eine besondere Freude, da ich bereits während meines Theologiestudiums durchgängig als studentische Hilfskraft am Martin-Grabmann-Institut für mittelalterliche Theologie und Philosophie beschäftigt war. Den Mitarbeitern des De Gruyter Verlages danke ich für ihre umsichtige Vorbereitung der Veröffentlichung, insbesondere Herrn Stefan Selbmann und Herrn Florian Ruppenstein. Seitens des Erzbistums München und Freising ist mir ein Druckkostenzuschuss zugesagt, wofür ich Dank sage. Mein Bruder Victor Maximilian Rene Fuchs hatte mich im August 2015 dankenswerterweise fachmännisch bei der Erstellung der pdf- Vorlagen für den Verlag unterstützt. Gewidmet sei die Arbeit meiner Mutter, die sich bereits im Hildegard-Jubiläumsjahr 1979 die kindlichen Überlegungen der damals zehnjährigen Tochter über Lichtspiegelungen und Lichtbrechungen im Werk der Hildegard von Bingen und deren literarische Darstellungsmöglichkeiten geduldig angehört hatte: habent sua fata libelli… München-Harlaching, am Hochfest der Epiphanie 2016

Inhalt Vorwort

V

Prolog: „Leben“ – ein Schlüsselbegriff der Theologie für Hildegard von Bingen und heute 1  . .. .. .. . .. .. .. .. ..

I 

Entwicklung und Begründung eines Methodenmanuals 6 Methodologische Befunde 6 Begriffsunterscheidungen für die Metatheorien zur Untersuchung des Opus Hildegardianum 6 7 Zum Forschungsstand hinsichtlich des Formalobjektes Hermeneutische Prämissen 15 Methodische Entscheidungen für die Textanalysen 20 Verbund der Methoden, die für diese Untersuchung ausgewählt wurden 20 Stilistische Analyse nach den Kategorien der klassischen 21 Rhetorik Corpustext-Analyse 22 24 Strukturalismus und Narratologie Zielsetzungen dieser Arbeit und daraus resultierende methodische Grundentscheide 25

Analysen

Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin 33 . Die Zielsetzung dieses Untersuchungsganges 33 . Darstellungsstrategien in der Schilderung der visionären Herkunft der 43 Texte Hildegards .. Kategorien in der Konstanz und Variation typischer Darstellungswege 43 Originalität im Rahmen der Autorenkunst des 12. Jahrhunderts: Auto.. biographische Verortung des Berichtes von einer ekklesial relevanten Sendung 45 ... Topos von der Kindheit als heiligem Ursprung 45 ... Formalobjekte und Medialität der behaupteten göttlichen 46 Mitteilungen .... Gott selbst bleibt hinter dem Rufen seiner Stimme verborgen 46 .... Verbund von Audition und Vision 47

VIII

Inhalt

.... .... ... .... .... .... .... .... ... .. . .

 . .. ... ... .. ... ... ... ... .. ... ...

Literarische Strategien, um die Visionen als echte Gottesrede auszuweisen 49 51 Verschattungen und Verzögerungen der Schau Die Subjektivität der Autorin zwischen aktiver Rezeption und „prophetischer Passiologie“ 54 Ebenen der aktiven Rezeption der Vision 54 Innenraum der Seele: Abgrenzungen gegen körperliche und exstatische Schau 56 „Feilen“ (limare) an der Wiedergabe von Gottesrede in 58 Menschenworten Diminuitive und Bescheidenheitstopoi zur Relativierung des ge61 schilderten Seherichs Prophetische Passiologie 63 Intellectus als Offenbarung: Die Tiefendimension der Inhaltlichkeit im 64 geschilderten Zusammenwirken von Gott und Autorin Philosophie und Prophetie als dialektische Gegenspieler in den Meta66 reflexionen des Spätwerkes Vermengung der Erzählung der Entstehungszusammenhänge und der 69 theologischen Inhaltlichkeit im Motiv des Lebens Hermeneutische Schlussfolgerungen für eine heutige wissenschaftliche Interpretation 73

Visiones aus dem Liber Scivias 75 Der Geist erhebt den Geist: Durchblick zum Leben in der Visio SV 75 III,10 Überblick über den Textabschnitt 75 Formale Analyse der ganzen Visio 75 Kriterien für die Auswahl der untersuchten Redeformen und Bilder 78 79 Untersuchung einzelner Bildmotive für Leben In agro cordis: Der innere Acker des Herzens 79 Sicut cervus desiderat: Sprung und Lauf zum Lebensquell 82 Duae fenestellae: Die zwei Spiegelfenster des Glaubens 86 Ad interiora spiritus: Dynamiken zur Entgrenzung des inneren, äußeren und heilsgeschichtlichen Raumes 89 Ad vitam vivere: Theologische Aspekte des Lebensbegriffes in der Visio III, 10 92 Dignissimo compositionis effectu coadunatur: Das verschlungene Ver92 hältnis von Gnade und Werk Spiritus elevat spiritum: Leben als Erhebung zur Gemeinschaft im 95 himmlischen Jerusalem

Inhalt

. .. ... ... ... .. ... ... .. ... ... ... . .. ... ... ... .. .. ... ... ... ... ... ... . .. ... ... ...

IX

Wenn ihr meine Rede mit der Freude eures Herzens erfüllt!: Der Rückweg zum Leben in rectitudo und honestas in der Visio SV I,2 98 Formale Analyse der sprachlichen Strukturelemente 98 Zur Komposition der Visio 98 Ähnlichkeit mit Strukturen der Visio SV III, 10 100 Weitere stilistische und inhaltliche Merkmale 101 Bildsprache 102 Die Metaphorik des Gartens als Weide des Lebens 102 Cibus Vitae im Tabernaculum Cordis 105 Theologie des Lebens anhand einer Renarratisierung theologischer Formeln 113 Honor und rectitudo: Soteriologische Kernworte aus der anselmischen Theologie 113 Applikation soteriologischer Theologumena auf lebenspraktische Ap114 pelle in der Ehekonzeption der Visio SV I,2 Beata vita als Ausgangpunkt und Ziel 119 Im Leben erschien die Gnade, die das Leben gibt: Ein originelles Kompendium der Gnadenlehre in der Visio SV III,8 120 120 Formale Beobachtungen Der Aufbau der Visio 120 Wiederholung sprachlicher und inhaltlicher Strukturelemente aus an122 deren Visiones O humilitas: Textstrukturen durch gestaltete Lautlichkeit 123 Columna umbrosa und locus vacuus: Bildfiguren zwischen Kon125 turiertheit und Erkenntnisentzug Gnade und Leben 130 130 Diskussionsfelder der Gnadenlehre zur Zeit Hildegards Anwesende Gnade: Hildegardianische Beschreibungsebenen der Gnade in Partizipien 133 135 Gratia Christi: Personale Gnade des Sohnes Sum ei initium: Gnade und Bekehrung 138 Beistand und Entzug: Erfahrungen der Gnade 141 Reaedificando ad vitam: Die Finalität der Gnade 143 Die Fülle, die keinen Anfang hat, der gesehen werden kann: Trinität als Quell des Lebens in der Visio II,2 des Liber Scivias 145 Textstruktur als fundamentaltheologische Aussage: Trinität und Offenbarung in der Heilsgeschichte 145 Blicke in den textlichen „Grundwasserspiegel“ des Liber Scivias: Fons 145 vitae als Bildsignal für eine soteriologische Christozentrik 151 Sprachmuster für Trinitätstheologie Regalis prophetia: Erkenntnistheoretische Grundannahmen zur Trinitätslehre 154

X

.. ..  . .. ... ... ... .. ... ... .. ... ... . .. .. ... ... .. .

.. ... ... ...

Inhalt

Palpabilis comprehensio: Der Stein als Bild für Leben und Wohnstatt in Christus 157 160 Trinitarische Lebensfülle und trinitarische Spiritualität Visiones aus dem Liber Divinorum Operum 166 Ich bin das ganz heile Leben: Theologische Wortfelder von Leben, Schönheit und Verheißung in der Visio LDO I,1 166 Konstante hildegardianische Theologumena in einer neuen textlichen 166 Atmosphäre Formale Analyse des Exordiums des Liber Divinorum Operum 166 Fortführung des semantischen „Baukastens“ aus dem Liber 171 Scivias Größere Dichte von philosophischen und theologischen 172 Termini Speculum und significatio: Ästhetik der Spiegelung als Prinzip von Schöpfung, Textproduktion und Argumentation 174 praesignare und designare: Literarische Deutungsfiguren als Nachzeichnung der praescientia 174 176 Makrokosmos/Mikrokosmos als zentrale Bildfigur Semantische Felder um den Begriff des Lebens 178 Analyse von Kernstellen 178 Skizze einer semantischen Landschaft für den Begriff des Lebens 184 „Leben in Gott ohne Nichtung“: Lehre vom Leben aus der Exegese des 185 Johannesprologs in der Visio LDO I,4 Ein „Buch im Buch“ als Spiegel des Stufenaufbaues des 185 Lebens Licht und Leere: Zwei Grundmetaphern für den Gegensatz von Leben und Nicht-Sein 197 197 Licht, Sonne, Tag Das Nicht-Bild der Leere 202 Die Lehre vom „Leben des Lebens“ entlang einer Exegese des 205 Johannesprologs Ein lebendiges Land ist die Kirche: Die ekklesiologische Auslegung von Gen 1 als einer prophetischen und apostolischen Lehre vom Leben in der Visio LDO II,1 213 In vera visione fidei: Spezifische Merkmale in Struktur und 213 Bildwelt Formale Sonderstellung 213 Elemente eines visionsübergreifenden Reservoirs an Symbolen und 218 Theologuma Prophetia prophetarum 220

Inhalt

.. ... ... .. ... ... ... ... .

.. ... ... ... .. ... ... .. ... ...

II  . . .. .. . .. .. .. ..

XI

Symbolischer Antagonismus von Leere und unterscheidender Befestigung 223 Ontologische und theologische Präzisierungen des Bildsinnes der Leere 223 Firmamentum als Bild für Ordnung und Unterscheidung 224 Eine ekklesiale und spirituelle Theologie des Lebens 225 225 Gott als Leben und Licht Das Partizip vivens als häufiges Attribut für Lebendig-Sein 227 „Ströme des Heiligen Geistes“ für das „Land der Lebenden“: Kirche 228 und Leben 236 „Recta genitura spiritalis vitae“: Lehre vom geistlichen Leben „Im Lebensbuch des Lammes“: Die irdische Kirche zwischen Schmerz und prophetischer Verheißung über die Heilung des Lebens in der 238 Visio LDO III,5 238 Formale und inhaltliche Strukturen Kirche in Leid und Verheißung durch das Buch des Lebens 238 Bekannte Strukturelemente 242 Erkenntnis durch Prophetie und Lehre 244 249 Bildsprache Kirche in Verfallsepochen einer „weibischen Schwäche“ (muliebris debilitatis) 250 251 Zur Kleidsymbolik Geheiltes Leben in dauerhafter, freudiger Zugehörigkeit zu 252 Gott Der Begriff des Lebens in der abschließende Visio der Visionstrilogie 252 Die Metaphorik vom Buch des Lebens 253

Auswertungen 259 Linguistische Fazit: Hildegard und ihre Sprache der Theologie Sprache und Theologie bei Augustinus und Alanus von Lille 259 Sprachtheologie bei Hildegard 264 264 Die unbekannte Sprache Gottes und die Musik des Himmels Christus, das innere Wort 268 271 Hildegards Sprache für eine Theologie des Lebens 271 Sprache als Lebenssprache Grammatikalische Strukturen im Umfeld des Lebensbegriffes 272 Sprachbilder strukturieren die Anschauung von der Fülle des 276 Lebens Fazit: Originelle Sprachpoesie aus einem lebenstheologischen Impetus heraus 280

XII

 . . .. .. .. . .. .. ..  . .. .. ... ... ... ... . .. .. .. .. .

 . . .

Inhalt

Anmerkungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Opus Hildegardianum aufgrund der vorausgegangenen Textanalysen 282 Zu Reichweite und Zielsetzung dieses Abschnittes der Auswertung 282 Heutige Einordnungen nach Gattungen religiöser Literatur im 12. Jahrhundert 288 288 Visionsliteratur Prophetie und Apokalyptik 291 Wortschatz der Mystik 293 Einordnung nach heutigen Stilkategorien des Theologisierens 295 295 Symboltheologie 301 Populartheologie Literarische Darstellungskunst für eine Lebenstheologie 304 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard 308 „Trinkt den Frohsinn“: Aspekte der Ideengeschichte 308 Die Funktion dieser begriffsgeschichtlichen Untersuchung für die Aus308 wertung der Textbefunde bei Hildegard Philosophische Grundlagen des Lebensbegriffes 309 Erkenntnistheoretische Anfragen 309 317 Der philosophische Ternar esse, vivere, intelligere Participatio als Schlüsselgedanke in der ontologischen Betrachtung 321 des Lebens 334 Die philosophischen Anleitung (Diatribe) für das gute Leben Theologische Impulse für die Weiterentwicklung des 337 Lebensbegriffes Gott, das Leben selbst 337 Der theologische Ternar von Weg, Wahrheit und Leben (Joh 345 14,6) Die Intensivierung der Lebensqualität im Verlauf der Heilsgeschichte 348 Überfließendes Leben: Das Sprachbild von der Quelle des Lebens 352 Synopse der Anschauungen Hildegards zu einer Theologie des Lebens 356 Anregungen aus den Ergebnissen der Dissertation für die weitere 361 Forschung 361 Studia Hildegardiana Interdisziplinäre Mediävistik 362 Heutige Lebenstheologie 363

Inhalt

Epilog: Hildegards Preisung der vita laeta als Kronzeugin eines christlichen Optimismus 364 Literaturverzeichnis 370  Quellentexte von Hildegard 370  Weitere Primärquellen 370  373 Sekundärliteratur Index Rerum

395

XIII

Prolog: „Leben“ – ein Schlüsselbegriff der Theologie für Hildegard von Bingen und heute Vocas itaque nos ad intellegendum „verbum, deum apud te deum“, quod sempiterne dicitur et eo sempiterne dicuntur omnia. (Augustinus, Confessiones XI, VII, 9)

Das johanneische Wort von Christus als Leben (Joh 14,6) gehört zu seiner, Jesu Christi Selbstauslegung.¹ Jenem „Grundwort“ und „Schlüsselwort“² Leben (vita) geht die vorliegende Abhandlung über die Anschauung von „Leben“ bei Hildegard von Bingen (1098 – 1179) im Schnittpunkt von Poesie und Theologie nach. Anlässlich der intensiven wiederholten Lektüre des Gesamtwerkes Hildegards stellte sich durch die dichte Okkurrenz der Stichworte vita, vivere, vivus, vitalis die Forschungsfrage nach den Konturen einer Lebenstheologie bei dieser Autorin. Das Forschungsvorhaben ging also von einer textimmanenten Zugangsweise aus, die methodisch verfeinert und hermeneutisch begründet wurde. Dabei zeigte sich schnell, dass es sich beim Lebensbegriff um ein semantisches Feld handelt, das einen tragenden Pfeiler des Gedankenkosmos Hildegards darstellt. Der Begriff des Lebens eignet sich dazu, einen Gesamtüberblick über tragende Denkstrukturen ihres Werkes vorzustellen. Abgesehen von einer ausführlichen Auflistung von Fundstellen durch Bartho Weiß ³ und einigen Bemerkungen von Heinrich Schipperges ⁴ ist dies die erste Monographie, die die Theologie des Lebens bei Hildegard erforscht.⁵ Die einzige umfassende Abhandlung zum Begriff von Leben (zoe) im Johannesevangelium ist immer noch die von Franz Mußner (1952), der damals die erste Arbeit

 Eugen Biser, Theologische Sprachtheorie und Hermeneutik (München: Kösel, ), .  Eugen Biser, Theologische Sprachlehre und Hermeneutik, .  Bardo Weiß, Die deutschen Mystikerinnen und ihr Gottesbild. Das Gottesbild der deutschen Mystikerinnen auf dem Hintergrund der Mönchstheologie. Bd.  (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ),  – .  Heinrich Schipperges, „Erläuterung“ zu: Hildegard von Bingen, Heilkunde. Das Buch von dem Grund und Wesen der Heilung der Krankheiten, nach den Quellen übersetzt und erläutert von Heinrich Schipperges, (Salzburg: Otto Müller, ):  f.  Forschungsliteratur bis  ist mit rund  Titeln verzeichnet in folgender wissenschaftlicher Bibliographie: Marc-Aeilko Aris and Werner Lauter, et alii, Hg. Hildegard von Bingen. Internationale Wissenschaftliche Bibliographie, unter Verwendung der Hildegard-Bibliographie von Werner Lauter, Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte  (Mainz: Selbstverlag der Gesellschaft für mittelrheinische Kirchengeschichte, ).

2

Prolog: „Leben“ – ein Schlüsselbegriff der Theologie für Hildegard von Bingen und heute

von katholischer Seite hierzu vorlegte.⁶ Grundlinien daraus werden im Kapitel 7.1 vorgestellt werden. Ohne von sich aus einen Aktualitätsbezug theologiegeschichtlicher Einzelforschung anzustreben, steht das Thema dieser Arbeit im Kreuzungspunkt einer doppelten Aktualität: Zum einen wurde während der Fertigstellung dieser Dissertation Hildegard formal als Heilige kanonisiert und zur Kirchenlehrerin erhoben. Dadurch begründet sich der Bedarf an weiteren Studia Hildgardiana, allerdings unter der Gefahr einer panegyrischen Verzweckung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Opus Hildegardianum. Jene sollte hingegen weiterhin für eine sachliche und sachdienliche theologische Dekonstruktion des Theologisierens Hildegards offen gehalten werden. Zum anderen erfährt die Lebenstheologie von verschiedenen Seiten aus ein gesteigertes Interesse. Als Beispiele für aktuelle Diskussionslagen seien einige Phänomene herausgegriffen: In der interdisziplinären Anthropologie werden Zugänge der Lebensphilosophie revitalisiert. Anlässlich der Diskussion um das „Homo-Sacer-Projekt“ von Giorgio Agamben kommt es zu einer Relecture der Konzepte Walter Benjamins um das „bloße Leben“ und die „Heiligkeit des Lebens“, da sich Agamben auf sie bezieht, möglicherweise in Verkürzungen.⁷ Zugleich rückt Benjamin selbst als einer der Denker, der sich dem Missbrauch des Lebensbegriffes in den 30iger Jahren entgegenstellten, neu in den Focus der Forschung.⁸ Vor jenem Missbrauch waren auch katholische Theologen wie Karl Adam ⁹ nicht gefeit. So können heutige Suchbewegungen nach einer Lebenstheologie, auf die im Dritten Kapitel III.A. dieser Arbeit eingegangen werden wird, zu einer Revision von Sackgassen der Begriffsgeschichte beitragen. Sowohl Karl Rahner als auch Paul Tillich analysierten den Begriff des Lebens unter seiner systematisch-theologischen und lebenspraktischen Relevanz.

 Franz Mußner, ΖΩΗ. Die Anschauung vom „Leben“ im vierten Evangelium unter Berücksichtigung der Johannesbriefe. Ein Beitrag zur biblischen Theologie, Münchner Theologische Studien I.. (München: Karl Zink, ), V.  Vgl. Andreas Greiert, „‚Der Mensch fällt um keinen Preis zusammen mit dem bloßen Leben des Menschen.‘ Zur Konstellation Benjamin-Agamben,“ AZP  ():  f.  Vgl. über Walter Benjamin als Opponenten des Regimes: Yvonne Sherratt, Hitlers Philosophers (New Haven/London: Yale University Press, ), .  Hans Kreidler, Autor der Monographie Eine Theologie des Lebens. Grundzüge im theologischen Denken Karl Adams, Tübinger Theologische Studien  (Mainz: Matthias-Grünewald, ), urteilt zwar klar: „Es muß kritisch festgestellt werden, daß Adams Äußerungen das Maß dessen überschritten, was zu dieser Zeit an Zustimmung dem neuen Staat gegenüber für geboten erachtet werden konnte.“ (a.a.O., ). Er sucht jedoch keine Gründe für diese Fehlhaltung in der Theologie Karl Adams (ibd.). Jene könnte er anhand seiner eigenen Analyse des Lebensbegriffes bei Karl Adam erkennen: Denn Adam verwendet ähnlich wie Thomas Mann die damals durchaus missverständliche Wendung vom Leben als einem „von blutvollen Wirklichkeiten überströmenden Wort“ (a.a.O., ).

Prolog: „Leben“ – ein Schlüsselbegriff der Theologie für Hildegard von Bingen und heute

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Paul Tillich grundiert den Lebensbegriff ontologisch: Leben ist die Aktualität des Seins.¹⁰ Daher eignet ihm eine dynamische Bewegung in drei Richtungen:¹¹ Erstens nach innen, als steigende Integration des Subjektes auf sein Zentrum hin. Zweitens als Expansion auf der horizontalen Ebene, insofern jenes sich immer mehr in seinen relativen Gegensätzlichkeiten entfaltet. Drittens nach oben in die Selbsttranszendenz. Ohne dass Tillich es benennt, könnte man hier eine Analogie zu den augustinischen Bewegungen von foris, intus, supra sehen. Jene werden von Hildegard aufgenommen und mit literarischen Mitteln in der fiktiven Räumlichkeit der Visionsbilder repräsentiert. Daher ergibt sich selbst dort, wo sie nicht explizit von vita spricht, ein Bezug zum Lebensbegriff auf der impliziten symbolischen Ebene. Karl Rahner verortet den Lebensbegriff organisch im Gesamtduktus seiner theologischen Denkbewegung vom Vorgriff des Menschen auf das ihn Umfangende im Vollzug seiner Freiheitsgeschichte.¹² So wie der Mensch sich ontologisch zuerst seiner Transzendentalität bewusst wird, so denkt Rahner den Lebensbegriff strikt theologisch, in klarer Vorordnung zum Lebensbegriff der Biowissenschaften.¹³ Durch diesen Standpunkt kann er nicht nur die Leiblichkeit in die theologische Auffassung von Leben integrieren.¹⁴ Sondern er bringt seinen spekulativen tranzendentaltheologischen Ansatz mühelos mit der johanneischen Lebenstheologie und ihrer heilsgeschichtlich-kategorialen Ausfaltung in Einklang.¹⁵ Von dort aus kehrt er in einer hegelianischen Zirkelbewegung wieder auf einer höheren Warte zur Anthropologie zurück: Der christliche Zentralbegriff der Person lässt sich nun als Radikalisierung und Selbstüberbietung des im Geist zu sich selber kommenden Lebens deuten.¹⁶ In doppelter Hinsicht wird der Lebensbegriff in der ökumenischen Forschung berücksichtigt: Im Blick auf die konziliaren Prozesse lässt sich die Gesundheitsdefinition der WHO, dass Gesundheit nicht nur die Abwesenheit von Krankheit sei, sondern ein Zustand des psychischen, geistigen und sozialen „well-being“ vice versa auch als gesamtmenschliche, ökumenische Zielvorstellung eines Lebens in Fülle verstehen.¹⁷ Wegen dieser inhaltlichen Präzisierung des Lebensbegriffes als ange-

 Vgl. Carl J. Armbruster, La Vision de Paul Tillich, Théologie  (Paris: Aubier Editions Montaigne, ), .  Vgl. Carl J. Armbruster, La Vision de Paul Tillich, .  Karl Rahner, „Vom Geheimnis des Lebens,“ in Sämtliche Werke :Verantwortung der Theologie. Im Dialog mit Naturwissenschaften und Gesellschaftstheorie (Freiburg im Breisgau: Herder ): .  Karl Rahner, „Vom Geheimnis des Lebens,“: .  Karl Rahner, „Vom Geheimnis des Lebens,“: . Gegen diese Argumentationsfigur wendet HansPeter Grosshans im Sinne der protestantischen dialektischen Theologie ein, dass nur von der Offenbarung her die Schöpfung und Körperlichkeit darauf hin durchsichtig würden, dass das Geheimnis des Lebens in Gott gründet. (Hans-Peter Grosshans, „Geheimnis des Glaubens. Zum Thema der Theologie,“ ZThK  (): .  Karl Rahner, „Vom Geheimnis des Lebens,“: .  Karl Rahner, „Vom Geheimnis des Lebens,“: .  Vgl. Peter-Ben Smit, „The Meaning of ’Life’: The Giving of Life as a criterion for Ecumenical Hermeneutics,“ Journal of Ecumenical Studies , (): .

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Prolog: „Leben“ – ein Schlüsselbegriff der Theologie für Hildegard von Bingen und heute

strebte Lebensqualität für Menschen auf der ganzen Welt kann er zu einer übergeordneten hermeneutischen Prämisse in ökumenischen Reinterpretationen des Großtextes des Christentums in seiner Geschichte und in seinem konfessionsübergreifenden Textuniversum verwendet werden.¹⁸ Die Beurteilung, was der Förderung des konkreten menschlichen Lebens und Zusammenlebens dient, wird zum theologischen Gütesiegel. Jenes Prädikat der Lebensdienlichkeit wird ökumenischen Meilensteinen wie der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre zugesprochen.¹⁹ Unter solch universalen Perspektiven empfiehlt sich erst recht die kleinschrittige Mikroanalyse von Äußerungen über Leben (vita) seitens einer Autorin, die seit dem 7.10. 2012 als Kirchenlehrerin gilt.²⁰ Dabei stellt sich die Schwierigkeit, dass ihr Werk bis hinein in akademische Kontexte eher zitiert als genau gelesen wird. Die computertechnischen Möglichkeiten der Nutzung des Thesaurus Hildegardis ²¹ verleiten dazu, lediglich Stichwortcollagen zur Grundlage einer Werkdeutung zu machen. Denn die Ganzschriftlektüre ihrer Visionswerke verlangt vom Leser einiges ab. Selbst einem Großmeister der theologiegeschichtlichen Forschung wie Yves Congar erschien das Opus Hildegardianum „verworren“.²² Hildegard selbst gibt explizite und implizite Hinweise darauf, dass sie eine bedächtige, zwischen Ganzem und Detail wechselnde Lektüre erwartet. Durch langatmige Exkurse und Wiederholungen darf man sich nicht von der Aufmerksamkeit auf dichte Referenzen innerhalb der umfangreichen Visionsschriften abhalten lassen. Dabei steht die wissenschaftliche Würdigung ihrer komplexen, durchstilisierten Sprachwelt noch am Anfang.²³ Bevor das Panorama einer behutsam durch den Interpreten systematisierten Theologie des Lebens bei Hildegard entsteht, gilt es also, sorgfältige Einzelanalysen ihrer Visiones vorzunehmen. Daher setzt diese Dissertation mit der Entwicklung eines Methodenmanuals für eine textimmanente Untersuchung des Opus Hildegardianum ein. Danach widmet sie sich der Analyse der Konstruktivität des literarischen Selbstverständnisses Hildegards. In deren Licht können dann ausgewählte Visiones untersucht werden. Die hierfür

 Vgl. Peter-Ben Smit, „The Meaning of ’Life’: The Giving of Life as a criterion for Ecumenical Hermeneutics,“ Journal of Ecumenical Studies , (): .  Ibd.  Vgl. Rainer Berndt and Maura Zátonyi, Glaubensheil. Wegweisung ins Christentum gemäss der Lehre Hildegards von Bingen, Erudiri Sapientia X (Münster: Aschendorff, ), : „Denn dieser feierliche Akt bedeutet, daß die theologischen Bemühungen und Reflexionen dieser Glaubenszeugen zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte der Kirche als grundlegende Weisung für die konkrete Situation aktualisiert werden.“  Thesaurus Hildegardis Bingensis „visionis munus“: Scivias, Liber vitae meritorum, Liber divinorum operum, Corpus Christianoum. Thesaurus, curante CETEDOC, Universitas Catholica Lovanensis, Lovanii Novi, (Turnhout: Brepols, ).  Yves Congar, Die Lehre von der Kirche. Von Augustinus bis zum Abendländischen Schisma, Handbuch der Dogmengeschichte Band III,c (Freiburg: Herder, ), .  Einige Hinweise hierzu bei: Rebecca Milena Fuchs, „Rezension zu: Hildegard von Bingen: Wisse die Wege, Neuübersetzung,“ in: Archa Verbi. Yearbook for the Study of Medieval Theology  (): .

Prolog: „Leben“ – ein Schlüsselbegriff der Theologie für Hildegard von Bingen und heute

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ausgewählten Textcorpora aus dem Liber Scivias und aus dem Liber Divinorum Operum decken rund ein Viertel der Textmasse aus den beiden Visionswerken ab. Erst auf dieser Basis werden Folgerungen für die theologische Einordnung des Konzeptes von Leben bei Hildegard vorgenommen. Durch dieses zunächst textnahe Vorgehen können schließlich neue Ergebnisse sowohl für das theologische Gesamtbild des Opus Hildegardianum als auch für systematische Bezüge einer Theologie des Lebens gewonnen werden. Von ihnen berichtet das siebte Kapitel dieser Arbeit. Zur ersten Information können jene Ergebnisse der Auswertung gegebenenfalls vor den Textanalysen des ersten Teiles gelesen werden.

1 Entwicklung und Begründung eines Methodenmanuals 1.1 Methodologische Befunde 1.1.1 Begriffsunterscheidungen für die Metatheorien zur Untersuchung des Opus Hildegardianum Seit den Frühstadien seiner Rezeption gilt das Werk Hildegards als schwer zu lesen. So warnt der Kompilator Gebeno von Eberbach um das Jahr 1220 zu Beginn seines Pentachronon: Die meisten verschmähen es und sie schrecken davor zurück, die Bücher der heiligen Hildegard zu lesen, deswegen, weil sie dunkel (obscure) und in einem ungewohnten Stil spricht.¹

In der neueren Hildegardforschung machte das Schlagwort von Peter Dronke über die „Problemata Hildegardiana“² Karriere. So nennt Fabio Chávez Avarez Hildegard einen Problemfall der Mediävistik.³ Neben früh entstandenen und hartnäckig in der akademischen Welt kolportierten Missverständnissen in der Hildegard-Rezeption, auf die in dieser Arbeit immer wieder eingegangen werden wird, liegt dies an einer bislang eher marginalen Berücksichtigung von Methodenfragen in der Forschungsgeschichte. Was sind Annäherungswege, um auf intellektuell redliche Weise Hildegard zu interpretieren? Es ist durchaus möglich ist, stabile Kernaussagen aus ihrem mit Sprachbildern und dichterischen Stilmitteln komponierten Werk zu eruieren. Man könnte die Stichhaltigkeit und Aussagekraft von theologischen Grundoptionen Hildegards mit der Metapher eines nach alter Weise verlegten, schwingenden Parkettbodens vergleichen, dessen Schwingung zwar gewisse Amplituden verzeichnet, der aber doch grundsätzlich an bestimmten Eckpunkten fest gehalten ist. Darum seien hier Möglichkeiten aufgezeigt, einen wissenschaftlich tragfähigen Zugriff auf theologische Kernthemen und Aussageweisen Hildegards im Zusammenhang mit ihrer Anschauung von einer Theologie des Lebens zu gewinnen.

 Gebeno von Eberbach, Pentachronon ,  (La obra de Gebenón de Eberbach, Edición crítica de José Carlos Santos Paz (Firenze: Sismel. Editioni del Galluzo, ), ). Übersetzung von mir.  Dies ist der Titel des programmatischen Aufsatzes von Peter Dronke, „Problemata Hildegardiana,“ Mittellateinisches Jahrbuch  ():  – ; ähnlich Christel Meier, „Eriugena Im Nonnenkloster? Überlegungen zum Verhältnis von Prophetentum und Werkgestalt in den figmenta prophetica Hildegards von Bingen,“ Frühmittelalterliche Studien  (): : „Gibt es eine Lösung des HildegardProblems?“.  Fabio Chávez Alvarez, „Die brennende Vernunft“. Studien zur Semantik der „rationalitas“ bei Hildegard von Bingen, Mystik in Geschichte und Gegenwart I,  (Stuttgart: Frommann-Holzboog, ), .

1.1 Methodologische Befunde

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Sowohl in der literaturwissenschaftlichen als auch in der theologischen Hermeneutik geht es um grundlegendere Fragen des menschlichen Erkenntnisvermögens und Daseinsverständnisses. Daraus können nicht einlinig Methodenrezepte für die Geisteswissenschaften abgeleitet werden, wie Gadamer in seinem Grundlagenwerk „Wahrheit und Methode“ anmahnt: Das hermeneutische Phänomen ist überhaupt kein Methodenproblem.⁴

Auch seitens der Literaturwissenschaft wird die mangelnde Trennung zwischen Theorien und Methoden beklagt,⁵ die unscharfe Definition für „Theorien, Ansätze, Verfahren, Arbeitstechniken“.⁶ Ein ähnliches Bild bietet sich in den Methodenkapiteln neuerer Monographien der Hildegardforschung, wobei zudem öfters eine Überlappung mit vorweggenommenen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen zu beobachten ist.

1.1.2 Zum Forschungsstand hinsichtlich des Formalobjektes Unterschiedliche Disziplinen beschäftigen sich mit Hildegard von Bingen. Jenseits der kodikologischen und textkritischen Arbeiten ist aber noch kein Methodenmanual entwickelt worden, das im Konsens bisheriger Forschungen als Grundlage für weitere Studien dienen könnte. So legitim unterschiedliche Zugangsweisen zur Erforschung der hildegardianischen Schriften sind, so schade ist es, wenn sie nicht miteinander ins Gespräch kommen. Darum soll im Folgenden knapp der aktuelle Forschungsstand hinsichtlich des Formalobjektes umrissen werden. Hierzu sollen exemplarisch einige markante Hildegard-Monographien der letzten 25 Jahre berücksichtigt werden. Der Dissertation von Michael Zöller, „Gott weist seinem Volk die Wege. Die theologische Konzeption des Liber Scivias der Hildegard von Bingen (1098 – 1179)“ liegt die zentrale Frage zugrunde, wie der Aufbau des Werkes seinen Titel „Scivias“, „Wisse die Wege“ als theologisches Leitmotiv wieder spiegelt. In der Nachzeichnung tragender Gedankengänge, die er Visio für Visio vornimmt, strebt Zöller eine „Gesamtschau“⁷ der  Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Bd., Gesammelte Werke. Hermeneutik I (Tübingen: Mohr Siebeck, ), .  Vera Nünning and Ansgar Nünning, „Wege zum Ziel: Methoden als planvoll und systematisch eingesetzte Problemlösungsstrategien,“ in Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse, Ansätze – Grundlagen – Modellanalysen, Hg. Vera Nünning and Ansgar Nünning, unter Mitarbeit von Irina Bauder-Begerow (Stuttgart: J.B. Metzler, ): .  Vera Nünning and Ansgar Nünning, „Wege zum Ziel: Methoden als planvoll und systematisch eingesetzte Problemlösungsstrategien“: .  Michael Zöller, Gott weist seinem Volk seine Wege. Die theologische Konzeption des „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen ( – ), Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie  (Tübingen: Francke ), .

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1 Entwicklung und Begründung eines Methodenmanuals

Systematik an. Jene soll aus der wiedergegebenen „…Makro- und Mikrostruktur…“⁸ des Textes erkennbar sein. In einem weiteren Schritt stellt er jene zitierten oder nacherzählten Grundgedanken Hildegards in einen theologiegeschichtlichen Kontext. Daher eignet sich seine Arbeit gut als Nachschlagewerk für Quellenbelege. Allerdings gibt Zöller keine Kriterien an, nach welchen Gesichtspunkt er die Visionen inhaltlich zusammenfasst. Es ist verdienstvoll, den hildegardianischen Textanspruch, eine Wegweisung Gottes aufzuzeichnen, als durchgängiges Strukturprinzip des ersten Visionswerkes Hildegards herauszuarbeiten. Dabei bleibt Zöller in seiner Wiedergabe dem Werkaufbau des Liber Scivias treu. Er nimmt ihn ernst, ohne vorschnell theologische Muster der Systematisierung von heute aus einzutragen. Aber es ist zu bemängeln, dass er den Textanspruch des Liber Scivias nicht auf einer zweiten Deutungsebene hinterfragt. Auch Hildegard Gosebrink nimmt in ihrer Doktorarbeit „Maria in der Theologie Hildegards von Bingen“ theologische „Leitmotive“ in den Werken Hildegards wahr. Denn ihr ist es ein Anliegen, nach „…textimmanenter Plausibilität…“⁹ zu suchen. Dabei ergibt sich, dass marianische Fragestellungen gleichsam „überall und nirgends“¹⁰ thematisiert werden und daher nur schwer systematisiert werden können. Offen spricht sie Anforderungen an inskünftige Studia Hildegardiana an: Die Fremdheit der Untersuchungstexte darf nicht herunter gespielt werden.¹¹ Damit sie überhaupt als lohnende Untersuchungsobjekte der wissenschaftlichen Theologie anerkannt werden, bedarf es einer weiteren „Versachlichung des gegenwärtigen Hildegard-Bildes“.¹² Leider jedoch erwähnt die Autorin über jene Grundthese des schwerpunktmäßig textimmanenten Vorgehens hinaus keine weiteren Details ihrer Arbeitsweise. Sie verschweigt, wie sie von disparaten Textbefunden zu einer strukturierten dogmatischen Darstellung gelangt. In ihrer moraltheologischen Habilitationsschrift „Hildegard von Bingen. Die theologische Grundlegung ihrer Ethik“ deutet Gabriele Lautenschläger methodische Schwächen¹³ in der Hildegardforschung an, die zu großen Bandbreiten im wissenschaftlichen Bild über Hildegard geführt haben. Daher möchte auch sie möglichst textnah vorgehen.¹⁴ So will sie eine „…immanent–systematische Interpretation im Begründungszusammenhang des Gesamtwerkes…“¹⁵ erzielen. Daher verzichtet sie  Michael Zöller, Gott weist seinem Volk seine Wege, .  Hildegard Gosebrink, Maria in der Theologie Hildegards von Bingen, Studien zur systematischen und spirituellen Theologie  (Würzburg: Echter, ), .  Hildegard Gosebrink, Maria in der Theologie Hildegards von Bingen, .  Hildegard Gosebrink, Maria in der Theologie Hildegards von Bingen, .  Hildegard Gosebrink, Maria in der Theologie Hildegards von Bingen, .  Gabriele Lautenschläger, Hildegard von Bingen. Die theologische Grundlegung ihrer Ethik und Spiritualität (Stuttgart: Frommann-Holzboog, ), .  Gabriele Lautenschläger, Hildegard von Bingen. Die theologische Grundlegung ihrer Ethik und Spiritualität, .  Gabriele Lautenschläger, Hildegard von Bingen, .

1.1 Methodologische Befunde

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darauf, aus dem Œuvre verschiedene Werkstadien und theologische Weiterentwicklungen heraus zu präparieren.¹⁶ Den Charakter der Fremdheit¹⁷ der hildegardianischen Schriften für die heutige Zeit sieht sie als hermeneutischen Vorteil, um daraus deren Bedeutung angesichts „aktueller Probleme“ zu eruieren.¹⁸ So dient ihre Untersuchung als empfehlenswert sachliches Referenzwerk zur Tugendlehre Hildegards, insbesondere im Liber Vitae Meritorum. Durch eine Kapitelunterschrift weist Lautenschläger auf die korrelative Grundstruktur hin von einer Lehre, die auf das Leben bezogen ist, von einer doctrina, quae ad vitam respicit. ¹⁹ Jedoch macht sie keine näheren Angaben, welche Einzelmethoden textimmanenter Deutung sie genutzt hat. Vor verengenden Vorverständnissen bei begriffsgeschichtlichen Untersuchungen mahnt Fabio Chávez Alvarez in „‘Die brennende Vernunft.‘ Studien zur Semantik der ‘rationalitas‘ bei Hildegard von Bingen“.²⁰ Daher ist es ihm ein Anliegen, die Sprache Hildegards genauer zu untersuchen²¹ und ein methodisches Augenmerk auf die für sie typische Verknüpfung von Bildsprache und Begriffssprache zu wahren. So macht er auf ein abstraktives Grundwort (rationalitas) im Wortschatz Hildegards aufmerksam, das exemplarisch für eine gewisse Zentralität philosophischer und theologischer Abstrakta bei ihr steht.²² Die Kontextualisierung der Begriffsverwendung von rationalitas durch Hildegard wird durch eine ausführliche begriffsgeschichtliche Einbettung vorgenommen.²³ Gleichwohl lässt er in sein Eingangskapitel inhaltliche Vorannahmen mit einfließen. Zuweilen bringt sein Bemühen der Textnähe eine mangelnde Textdistanz mit sich, wenn zum Beispiel das literarische Selbstverständnis Hildegards ohne Hinterfragung als Ausgangspunkt genommen wird. Ebenso entgeht Vicki Ranff in ihrer Studie „Wege zu Wissen und Weisheit. Eine verborgene Philosophie bei Hildegard von Bingen“ einer vorschnellen Gesamtdeutung durch eine exemplarische Präsentation von Textinterpretationen, die die Bedeu-

 Gabriele Lautenschläger, Hildegard von Bingen, .  Gabriele Lautenschläger, Hildegard von Bingen, .  Gabriele Lautenschläger, Hildegard von Bingen, .  Gabriele Lautenschläger, Hildegard von Bingen, .  Fabio Chávez Alvarez, „Die brennende Vernunft“. Studien zur Semantik der „rationalitas“ bei Hildegard von Bingen, Mystik in Geschichte und Gegenwart I,  (Stuttgart: Frommann-Holzboog, ), .  Fabio Chávez Alvarez, „Die brennende Vernunft“. Studien zur Semantik der „rationalitas“ bei Hildegard von Bingen„, .  Fabio Chávez Alvarez, „Die brennende Vernunft“. Studien zur Semantik der „rationalitas“ bei Hildegard von Bingen„, .  Fabio Chávez Alvarez, „Die brennende Vernunft“. Studien zur Semantik der „rationalitas“ bei Hildegard von Bingen„,  – .

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1 Entwicklung und Begründung eines Methodenmanuals

tungsfülle der Leitbegriffe scientia und sapientia auffächern.²⁴ Aber auch sie äußert sich nicht genauer zum „Wie“ jener Vorgehensweise. Ihr Vorhaben, einen Sammelband mit den textnahen, aber leider nur verstreut publizierten Studien der Hildegardkennerin Margot Schmid zum Opus Hildegardianum zu veröffentlichen, will die Forschungsbasis für textimmanente Zugangsweisen verstärken.²⁵ Unter der Fragestellung der „Schrifthermeneutik in der Visionstrilogie Hildegards von Bingen“²⁶ erarbeitete jüngst Maura Zátonyi eine ebenso textimmanente wie geistesgeschichtlich verortete Analyse des Reflexionshorizontes und des konkreten Vorgehens Hildegards in der Deutung und literarischen „Verfremdung“²⁷ von Passagen aus der Bibel. Dabei geht sie nicht nur von einem umsichtig differenzierten Begriff von Hermeneutik aus heutiger Sicht aus.²⁸ Sondern sie macht auf die Relevanz hermeneutikgeschichtlicher Forschungen aufmerksam, die die vielfältigen Perspektiven des Mittelalters nicht übersehen.²⁹ Diesem Ziel dient ihre Dissertation. Hierzu bietet sie bündige, weiterführende Einblicke in die Schrifthermeneutik der Benediktiner einerseits³⁰ und des augustinischen Erbes andererseits.³¹ Von dieser Rahmung aus analysiert sie „Schrifthermeneutische Konzepte in der Visionstrilogie“³² in allen drei Visionswerken. Entscheidend ist ihr Fazit, dass Hildegards Auffassung von Hermeneutik „…eine formale, inhaltliche Entsprechung in ihrem eigenen Werk“³³ findet. Dieses Merkmal des synthetischen Denkens Hildegards wird sich auch in meiner Untersuchung bestätigen. Nach einer Kontrastierung mit den schrifthermeneutischen Auffassungen und Verfahrensweisen bei den Zeitgenossen Abaelard, Bernhard von Clairvaux, Hugo von St. Victor und Rupert von Deutz beleuchtet Zátonyi die textliche Darstellung von visio als intellectus durch Hildegard. Dafür nimmt sie Bezug auf Metapherntheorien bei Paul  Vicki Ranff, Wege zu Wissen und Weisheit. Eine verborgene Philosophie bei Hildegard von Bingen, Mystik in Geschichte und Gegenwart Abteilung I: Christliche Mystik (Stuttgart: Frommann-Holzboog, ), .  Mündliche Mitteilungen von Vicki Ranff im Februar und April , für die ich zu Dank verbunden bin.  Maura Zátonyi, Vidi et intellexi. Die Schrifthermeneutik in der Visionstrilogie Hildegards von Bingen, Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters NF  (Münster: Aschendorff, ).  Maura Zátonyi, Vidi et intellexi, . Solche Verfremdungen sollen die Uneinholbarkeit des Aussagesinnes der Bibel betonen, die nicht nur auf ihrem die Offenbarung verhüllenden Charakter beruht, sondern darauf, dass ihr Inhalt das menschliche Erkenntnisvermögen per se übersteigt.  Maura Zátonyi, Vidi et intellexi. Die Schrifthermeneutik in der Visionstrilogie Hildegards von Bingen, .  Maura Zátonyi, Vidi et intellexi, .  Maura Zátonyi, Vidi et intellexi, .  Maura Zátonyi, Vidi et intellexi, .  Maura Zátonyi, Vidi et intellexi,  – .  Maura Zátonyi, Vidi et intellexi, .

1.1 Methodologische Befunde

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Ricœur. Dadurch sind Sprachbilder, Symbole, Metaphern im Opus Hildegardianum nicht als uneigentliche, übertragene Redeweise abgewertet. Sondern sie werden mit Ricœur als lebendige Sinnstiftung geadelt, die mit anderen sprachlichen Mitteln nicht zu erreichen wäre.³⁴ Mein eigener Untersuchungsgang wird weitaus einfacher einsetzen, bei einer stilistischen und narratologischen Analyse des Textflusses repräsentativ ausgewählter Visiones. Doch in der Bereitschaft zu Mikroanalysen, die neue Sichtachsen auf die ausgefeilten literarischen Kompositionstechniken Hildegards freigeben,³⁵ berührt sich mein Forschungsanliegen mit dem Zátonyis. Allerdings bewegen sich die Angaben von Maura Zátony zu ihrer Methodik mehr auf der inhaltlichen Ebene. Sie erläutert nicht näher, wie sie zu der von ihr angezielten „Rekonstruktion“³⁶ des Textsinnes bei Hildegard gelangt. Möglicherweise handelt es sich bei ihrem Ausgangspunkt, die Visionstrilogie unter dem Aspekt eines Bibelkommentares zu deuten,³⁷ um eine hermeneutische Vorannahme. Dies ist meines Erachtens ein zu einseitiges Formalobjekt, da sich die Visionsschriften ebenso als „Kommentar“ zu Defizienzen und Entwicklungsmöglichkeiten der christlichen Lebensführung³⁸ oder zu kirchenrechtlichen und dogmatischen Diskussionen ihrer Zeit deuten ließen. Außerdem könnte die Gefahr drohen, bei einer grundsätzlichen Benennung eines Lebenswerkes als „Kommentar“ dessen Originalität herunter zu spielen. Dies würde eher einer Tendenz moderner Hermeneutiken entsprechen, die mitunter unter den „Kommentaren zu Kommentaren zu Kommentaren“ den Basistext vergessen.³⁹ Hildegard selbst will ja ihr Lebenswerk als Gottesrede verstanden wissen, in der die himmlische vox nicht nur als sekundärer Exeget auftritt. Daher umgeht Zátonyi leider die Schwierigkeiten, die jener hohe Werkanspruch Hildegards aufwirft.⁴⁰ Jenen Fragen bin ich hingegen in meiner Dissertation ausführlicher, wiederum beginnend bei einer schlichten Textanalyse, nachgegangen. Entsprechend des Themas ihrer Arbeit bewegt sich jene also auf einem erfreulich hohen Niveau des methodischen Vorgehens. Wenn auch hermeneutische Reflexionen noch nicht per se einen Gewinn für das Methodenbewusstsein und seine konkreten, handlungsleitenden Umsetzung versprechen, so ist doch die Forschungsleistung von

 Maura Zátonyi, Vidi et intellexi, .  Maura Zátonyi, Vidi et intellexi,  – .  Maura Zátonyi, Vidi et intellexi , .  Maura Zátonyi, Vidi et intellexi, : „Die vorliegende Studie fasst Hildegards Visionswerk konsequent als Bibelkommentar auf.“  Die Reflexion über die christliche Lebensführung bedarf eines Überblickes über das Ganze der christlichen Glaubenshoffnung, so Thomas Schumacher, Christliche Existenz, Wortmeldungen  (München: Pneuma, ),  – .  Joseph Ratzinger, Die Krise der Katechese und ihre Überwindung. Rede in Frankreich, Kriterien , (Einsiedeln: Johannes, ), .  Sie streift jenes Thema nur knapp, ohne den Anspruch Hildegards zu hinterfragen. Vgl. die kurzen Hinweise bei Maura Zátonyi, Vidi et intellexi,  – .

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1 Entwicklung und Begründung eines Methodenmanuals

Maura Zátonyi ein Beleg dafür, dass sie jene fördern können. So empfiehlt sich dieses Sekundärwerk nicht nur für eine Auskunft über Hildegards literarischen Umgang mit der Schrift, sondern auch als Modell für eine methodisch elaborierte Forschungsarbeit,⁴¹ wie sie auch zu anderen Themen bei Hildegard erstellt werden könnte. Rainer Berndt und Maura Zátonyi haben ihren Beitrag zur positio für die Heiligsprechung Hildegards von Bingen jüngst in einem eigenen Band veröffentlicht. Sein Titel „Glaubensheil. Wegweisung ins Christentum gemäss der Lehre Hildegards von Bingen“⁴² weist auf die Zielrichtung dieser Darstellung hin: Hildegards Werk, Lehre und Person sollen, gestützt auf entsprechende Textpassagen aus dem Opus Hildegardianum, so dargestellt werden, dass ihre Theologie als eine allgemeingültige Zusammenfassung der christlichen Glaubenslehre erscheint. Die ursprüngliche positio enthält weitere Beiträge anderer Hildegardforscher, so zur Biographie durch Michael Embach und zu den mittelalterlichen Kanonisationsprozessen durch Monika KlaesHachmöller. ⁴³ Im Rahmen dieses Kapitels sei nur unter methodologischen Aspekten auf diese Veröffentlichung eingegangen. Berndt und Zátonyi intendieren, den inneren „Zusammenhang“ und die „Originalität“⁴⁴ der Werke Hildegards aufzuzeigen, um so von heute aus „…eine Annäherung an Hildegard…“⁴⁵ zu ermöglichen. Entsprechend des werbenden Charakters einer positio wird dabei mit einigen thetisch aufgestellten Grundannahmen gearbeitet: Die Schriften Hildegards seien „…einer der instruktiven Belege dafür, daß Apostolizität und Kanonizität die Schaffenskraft eines Theologen bzw. einer Theologin befördern und anregen…“.⁴⁶ Hier wird nach der Weise eines Zirkelschlusses argumentiert: Man geht bereits von einem kanonischen, ekklesiologisch relevanten Rang der Theologie Hildegards aus, um daraus ihre Originalität gegenüber ihren Mitstreitern aus dem 12. Jahrhundert zu begründen. Zugleich wird dieser Zirkelschluss in die Veröffentlichungsstrategien von Hildegard selbst zurück projiziert: „Ihre prophetische Berufung wollte sie genauso kirchlich bestätigt wissen, wie die Kirche ihre Heiligen Schriften kanonisiert hat.“⁴⁷ Im Analyseteil dieser Arbeit werden wir darauf eingehen, dass bislang kein Quellenzeugnis für eine kirchenamtliche päpstliche Bestätigung des Schaffens Hildegards zu ihrer Lebenszeit im 12. Jahrhundert vorliegt. Methodische

 Diese Leistung ist umso größer, da die Autorin der Abtei St. Hildgard/Eibingen angehört. So führt sie die Forschungen namhafter Konventualinnen wie Adelgundis Führkötter, Marianna Schrader, Bertha Widmer und Angela Carlevaris weiter, ohne die für eine objektive Forschung nötige Distanz zum Forschungsthema zu verlieren.  Rainer Berndt and Maura Zátonyi, Glaubensheil. Wegweisung ins Christentum gemäss der Lehre Hildegards von Bingen, Erudiri Sapientia X (Münster: Aschendorff, ).  Vgl. Rainer Berndt and Maura Zátonyi, Glaubensheil,  f.  Beide Stichworte in Rainer Berndt and Maura Zátonyi, Glaubensheil, .  Rainer Berndt and Maura Zátonyi, Glaubensheil, .  Rainer Berndt and Maura Zátonyi, Glaubensheil, .  Rainer Berndt and Maura Zátonyi, Glaubensheil, , unter Berufung auf die Protestificatio im Liber Scivias.

1.1 Methodologische Befunde

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reflektierende Herangehensweisen zur Interpretation des Opus Hildegardianum werden im Epilog der positio kurz als „…erster Lektüreschlüssel…“⁴⁸ angedeutet. Zwar erwähnen die Autoren hierzu ein mögliches Zusammenspiel von diachroner und synchroner Analyse. Doch kippt diese Anregung an die seriöse Forschung bereits im anschließenden Satz in ein vorwegnehmendes Heiligenlob: Schließlich wird vor allem die Kirchengeschichte ihre edelsten Saiten anschlagen, damit die intellektuell-spirituelle Harmonie von Person und Intention exemplarisch an der Kirchenlehrerin Hildegard einsichtig wird.⁴⁹

Gemäß ihrer Zielsetzung bieten die Autoren daher bei der Darstellung der Lehre Hildegards keine literarische und theologische Analyse von Einzelheiten, die ihre Originalität erhärten würden. Sondern sie heben Textausschnitte hervor, die den Kern der „…Gottesgabe…“⁵⁰ des Glaubens an die Rückbindung der Welt an Gott betonen. Allerdings wird so nicht ersichtlich, was sie hierin von anderen theologischen Autoren abhebt. Es wird nicht schlüssig, durch welche methodischen Schritte die Interpreten Berndt und Zátonyi zu folgender Schlussfolgerung gelangen: Mit diesem von Gottes Liebesheil aus geprägten Blick auf Welt und Mensch ragt Hildegard von Bingen im Mittelalter weithin hervor. Eine vergleichbare Sichtweise findet sich dann jedoch in den Exerzitien des heiligen Ignatius von Loyola (…).⁵¹

Das Autorenteam Berndt/Zátonyi widerspricht sich selbst, wenn es zugleich ohne einen in der positio durchgeführten Vergleich von Textpassagen von Hildegard und Hugo von St. Victor konstatiert, dass es sich „…von selbst [verstehe], daß Hildegard Hugos Werke mit geistiger Aufgeschlossenheit verarbeitet hat.“ Zwar ist der Beitrag zur positio durch Berndt und Zátonyi nicht primär als Beitrag zur Forschungsdiskussion bestimmt gewesen. Er wurde jedoch innerhalb einer wissenschaftlichen Reihe (Erudiri Sapientia X) veröffentlicht. So sehr er einer Erstbegegnung mit Originalstellen dient, so bietet er über eine vage Hermeneutik von Hildegard als Glaubenslehrerin für heute keine exakteren methodologischen Anregungen. In verschiedenen Monographien der letzten 25 Jahre zeichnet sich also das gemeinsame Anliegen aus, dem Textbefund gerecht zu werden. Dabei müsse, so die übereinstimmende Meinung, jene Textfülle in einer zweiten Stufe behutsam in einen Gesamtzusammenhang gestellt werden. Erst von dieser Grundlage können intertextuelle Vergleiche vorgenommen werden und aktuelle Bezüge über den Hiat zwischen dem 12. und dem 20./21. Jahrhundert hinweg angedeutet werden. Dies ist eine erstaunliche Gemeinsamkeit der exemplarisch ausgewählten Monographien.

   

Rainer Berndt and Maura Zátonyi, Glaubensheil, . Rainer Berndt and Maura Zátonyi, Glaubensheil, . Rainer Berndt and Maura Zátonyi, Glaubensheil, . Rainer Berndt and Maura Zátonyi, Glaubensheil,  f.

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1 Entwicklung und Begründung eines Methodenmanuals

Doch folgt aus diesem Überblick, dass noch kein differenziertes methodisches Instrumentarium zur Hildegardinterpretation vorliegt. Einen Neuansatz zur Hildegardforschung legt Michael Embach in seiner Habilitationsschrift „Die Schriften Hildegards von Bingen. Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit“ vor: Er unternimmt es, die Texte Hildegards „…in statt jenseits ihrer Überlieferung…“⁵² zu betrachten. Durch diese Verlagerung des Blickwinkels gelangt er zu neuen Ergebnissen hinsichtlich der Textbasis für kritische Editionen: Das bislang gängige Verfahren, jeweils die ältesten Textzeugen als Leithandschrift zu verwenden,⁵³ marginalisierte die Bedeutung der Autorvarianten noch zu Lebzeiten Hildegards. So wurde ein geglättetes Bild von der Werkentwicklung konstruiert, das der Dynamik der literarischen und theologischen Entwicklung der Autorin nicht entspricht. Daher habe ich mich in meiner Untersuchung dafür entschieden,Visiones aus dem ersten Visionswerk Liber Scivias und dem letzten, dem Liber Divinorum Operum kontrastiv gegenüber zu stellen. Selbst bei der heutigen Editionslage⁵⁴ können so stilistische und inhaltliche Verschiebungen zwischen diesen zwei Hauptwerken in einem Entstehungszeitraum von über dreißig Jahren festgestellt werden. Embach betont die Anschlussfähigheit seiner Vorgehensweise an neuere Methoden der Literaturwissenschaft: Zum Einen spricht er von der „materiellen Individualität“⁵⁵ der Textzeugen im Sinn der New philology. Die Gestalt des Textes mit Anmerkungen, Interpolationen, und die Wahl der Materialien für dessen Aufzeichnung sind für die geistesgeschichtliche Interpretation wichtig⁵⁶. Auf diese Weise liefert die Mediävistik in objektiven Forschungen einen impliziten Metakommentar zur steigenden Immaterialität der Neuen Medien im 21. Jahrhundert wie etwa des E-Book. Möglicherweise entfalten die Werke Hildegards heutzutage deshalb eine Anziehungskraft als einer Gegenkultur.⁵⁷ Dies  Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen. Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Erudiri Sapientia IV (Berlin: Akademie, ), ; Hervorhebung im zitierten Originaltext.  Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen. Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, .  Embach lobt die breiten textkritischen Vorstudien für die Editionen im Corpus Christianorum, bemängelt aber, dass „…noch manches philologische Detailproblem einer endgültigen Lösung harrt.“ (Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen, ).  Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen, .  Unkompliziert kann das Digitalisat zum Wiesbadener Riesencodex, einer Art Gesamtausgabe letzter Hand ohne das medizinische Werk, im Internet eingesehen werden (www.hlb-wiesbaden.de). Das Original des illuminierten Scivias-Codex verschwand in den Wirren des Kriegsendes . Auf der Basis einer vorher angefertigten Schwarz-Weiß-Fotographie wurde dann in Eibingen ein Faksimile erstellt. Bei aller Werktreue ist davon auszugehen, dass die Farbgestaltung der Faksimile-Illustrationen nicht ganz dem Original gleicht. Dies liegt auch an der modernen Farbherstellung.  Ein Beispiel sind Laptoptaschen für den IMac, die mittelalterlichen Buchumschlägen nachempfunden wird. Moderne Technik wird genutzt, um die Materialität mittelalterlicher Medien nachzuahmen.

1.1 Methodologische Befunde

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belegt sich aus der oft ästhetisch hochwertigen Gestaltung populärer Hildegard-Literatur. Zum anderen lässt sich ein weiteres Anliegen Embachs dem Ansatz einer literatursoziologischen Feldtheorie nach Pierre Bourdieu zuordnen: Jene untersucht das „Produktionsfeld“⁵⁸, in dem ein Text entsteht. Durch seinen detaillierten Überblick über das „korporative und intentionale Wirkungsfeld“,⁵⁹ das in den späten Werkphasen Hildegards um eine Gesamtausgabe und Vermarktung im kirchlichen und theologischen Diskurs in der Vorscholastik bemüht war, gelangt er zu einer Dynamisierung des Autorenbegriffs. Mittels seines überlieferungsgeschichtlichen Ansatzes kann er auf die bisherige, zu Unrecht unterlaufene Vernachlässigung sowohl der deutschsprachigen Rezeptionsgeschichte als auch der deutschsprachigen Textproduktion Hildegards hinweisen.⁶⁰ Restspuren von jener finden sich zum Beispiel in deutschsprachigen Glossen am Rand lateinischer Handschriften. Kürzlich veröffentlichte Michael Embach mit Martina Wallner einen „Conspectus“,⁶¹ eine Zusammenstellung von bislang ermittelten Hildegard-Handschriften, die einen konkreten Einblick in die Breite der mittelalterlichen Überlieferungsgeschichte und Rezeptionsgeschichte ermöglicht. Embach schließt seine umfangreiche Untersuchung mit der offenen Frage, „… inwieweit Hildegards Werk über das Kopieren, Zitieren und das emphatische Bekenntnis hinaus eine tatsächliche Prägung im Denken und Schaffen der jeweiligen Rezipienten entfalten konnte.“⁶² Dazu muss analysiert werden, worin die Eigenart der theologischen Sichtweise Hildegards besteht, durch die sie hätte prägend sein können. Dem will diese Dissertation im Hinblick auf den Begriff des Lebens dienen.

1.1.3 Hermeneutische Prämissen Der Begriff der „Hermeneutik“ wird oft unspezifisch gebraucht,⁶³ so dass dadurch Missverständnisse entstehen können. Damit es nicht zu einer Verwechslung seiner unterschiedlichen Begriffsradien kommt, schlage ich das folgende von mir entwickelte Klassifizierungsraster für hermeneutische Grundmodelle vor:

 Ulrich Schmid, „Einleitung,“ in Literaturtheorien des . Jahrhunderts, Hg. Ulrich Schmid (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ): .  Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen, .  Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen, .  Michael Embach and Martina Wallner, Conspectus der Handschriften Hildegards von Bingen (Münster: Aschendorff, ).  Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen, .  Peter Rusterholz, „Grundfragen der Textanalyse. I. Hermeneutische Modelle,“ in Grundzüge der Literaturwissenschaft, Hg. Heinz Ludwig Arnold and Heinrich Detering (München : dtv, ): .

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1.

2.

3. 4.

1 Entwicklung und Begründung eines Methodenmanuals

Hermeneutik als Setzung von Vorannahmen Vorverständnis, Skopos auf das erkenntnisleitende Interesse, methodische Vorentscheidungen Hermeneutik als dekonstruktivistische Entlarvung von Vorannahmen Diskursstörungen, blind spots und textimmanente Widersprüche sollen aufgedeckt werden, die Interpretierbarkeit von Texten wird grundsätzlich angefragt Hermeneutik als Auslegungskunst vor allem von Texten, die als normativ gelten (heilige Schriften, Gesetzescorpora) Hermeneutik als Aufdeckung von Relationen und wechselseitigen Beeinflussungen von Autorsubjekt, Text, Kontext, Intertextualität und Lesersubjekt, Gesellschaft, Geschichte

Die von mir in dieser Untersuchung gewählten Methoden decken das Hermeneutikverständnis in allen vier obigen Schattierungen ab. Weil sich die Hermeneutik als eine übergeordnete Geisteswissenschaft (hermeneutica generalis) versteht, bezieht sie sich, zuweilen dialogisch, zuweilen kontrastiv auf verschiedene Felder der Erkenntnis sowie der Artikulation und Vergegenständlichung von Erkenntnissen:⁶⁴ – Hermeneutik und Rede – Hermeneutik und Dialog – Hermeneutik und Sprache – Hermeneutik und Text – Hermeneutik und Zeichen – Hermeneutik und Bild – Hermeneutik und Metaphorik – Hermeneutik und Erkenntnistheorie – Hermeneutik und Struktur – Hermeneutik und Dasein/Leben/Existenz – Hermeneutik und Sein – Hermeneutik und Transzendenz Das Bedürfnis nach Verstehen durch Auslegen ist ein universales menschliches Phänomen. Davon grenzt sich die Hermeneutik als eine ausgefeilte Kunstlehre der Bedingungen und Wege des Verstehens menschlicher Zeichensetzungen und auf den Menschen zukommender Daseinsbedingungen ab. In einer Dissertation über das Opus Hildegardianum ist es adäquat, über hermeneutische und methodische Prämissen nachzudenken, da Hildegard selbst auf verschiedenen Ebenen der literarischen Darstellung ihre erkenntnistheoretischen Interessen durchspielt. Darauf werden wir im gesamten Untersuchungsgang immer wieder hinweisen.

 Auch die folgende Tabelle wurde von mir entworfen.

1.1 Methodologische Befunde

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Für eine heutige Hermeneutik zu den Schriften Hildegards dürfen nicht die Signale aus dem Texten selbst übersehen werden: In den regelmäßigen Rezeptionsklauseln, die die einzelnen Visiones jeweils beenden, beansprucht die Autorin, dass ihre Ausführungen nur auf dem Niveau einer hermeneutica sacra ⁶⁵ adäquat wahrgenommen werden können: Wer mit wachenden Augen sieht und wer mit klingenden Ohren hört, der gewähre diesen meinen mystischen Worten (mysticis verbis meis) den Kuss der Umarmung (osculum amplexionis), den Worten, die von mir als Lebenden entströmen (de me vivente emanant).⁶⁶

Sie fordert vom Rezipienten eine Wahrhaftigkeit des Hörens auf die von ihr geschilderte Stimme ein.⁶⁷ Der Wahrheitsanspruch ihrer Darstellung beansprucht also den Wahrheitswillen des Rezipienten. Ihr Wille, die Rezeptionsvorgänge zu steuern, lässt über die vordergründige Appellstruktur ihrer Texte hinaus ein Bewusstsein für die Bedeutung einer Rezeptionsästhetik erahnen. Daher erwartet sie eine aufmerksame Lektüre mit einem „wandernden Blickpunkt“ im „…Rückgriff auf bereits Bekanntes und im Vorgriff auf Erwartetes“.⁶⁸ Derartige Rezeptionsmechanismen beschreibt Wolfgang Iser ⁶⁹ als Vertreter der Konstanzer Schule⁷⁰ der Rezeptionsästhetik. Bei manchen heutigen Hermeneutiken und literaturwissenschaftlichen Theorien besteht die Gefahr, sich in eine faszinierende Abstraktivität zu steigern, die nicht mehr der Analyse konkreter Texte dienlich ist. Während wir eingangs auf die nötige Trennschärfe zwischen Hermeneutik, Methodologie als Metareflexion über Methoden und einem Methodenarsenal hingewiesen haben, sollen hier hermeneutische Grundaussagen nur mit dem Skopos referiert werden, inwiefern sie einer objektiv redlichen Textanalyse der hildegardianischen Schriften dienen.

 Zum Begriff der hermeneutica sacra: Ilja Karenovics, „Hermeneutik,“ in Literaturtheorien des . Jahrhunderts, Hg. Ulrich Schmid, (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ):; Matthias Jung, Hermeneutik zur Einführung (Hamburg: Junius, ), ; Emilio Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften (Tübingen: J.C.B. Mohr, ), .  Hildegardis Bingensis Liber Scivias, CCM , Pars Secunda, Visio Septima, Cap. , edidit Adelgundis Führkötter, collaborante Angela Carlevaris (Turnhout: Brepols, ), , Z.  ff (=gleichlautend mit den Schlussklauseln aller Visiones der Pars Secunda).  Hildegardis Bingensis Liber Scivias, CCM , Pars Secunda,Visio Sexta, Cap. , , Z  f: ut veraci auditione vocem de supernis secretis resonantem percepisti.  Ulrich Schmid, „Einleitung,“ in Literaturtheorien des . Jahrhunderts, Hg. Ulrich Schmid (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ): ; Ingo Berensmeyer, „Methoden hermeneutischer und neohermeneutischer Ansätze,“ in Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse, Ansätze – Grundlagen – Modellanalysen, Hg.Vera Nünning and Ansgar Nünning, unter Mitarbeit von Irina BauderBegerow (Stuttgart: J.B. Metzler, ): .  Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (München: Wilhelm Fink,),  f.  Ingo Berensmeyer, „Methoden hermeneutischer und neohermeneutischer Ansätze,“ in Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse, Ansätze – Grundlagen – Modellanalysen, .

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1 Entwicklung und Begründung eines Methodenmanuals

Diese Arbeit baut sich spiralförmig vom „Unten“ einer dichten Textnähe zum „Oben“ von generalisierenden Zusammenfassungen und geistesgeschichtlichen Einordnungen auf. So sollen die Mankos eines hermeneutischen Zirkels⁷¹ vermieden werden, der ja immer schon im „Vorgriff“⁷² der Deutung des Einzelnen im Hinblick auf das Ganze arbeiten würde. Bereits Philo von Alexandrien stellt Überlegungen an, wie die „Zirkelstruktur zwischen dem Verstehen der Teile und dem Verstehen des Ganzen“ aufgebrochen werden kann, damit man im Text nicht nur das entdeckt, was man von Anfang an sehen wollte.⁷³ Seine Lösung, dass nur ein kleiner Kreis von Eingeweihten den Zugang zur Tiefendeutung eines Textes findet, wurde von Origines zu einer Koppelung der verschiedenen Schriftsinne an die hierarchische Verfasstheit der Kirche je nach der geistlichen Vollkommenheit ihrer Mitglieder umgebaut.⁷⁴ Diesem Ausweg aus den Deutungsverengungen des hermeneutischen Zirkels widerspricht Hildegard implizit,⁷⁵ insofern ihre Visiones als Schriftauslegung⁷⁶ gezielt einem möglichst großen Kreis von Adressaten zugänglich gemacht werden sollen. Als weitere Vorsichtsmaßnahme werden in diesem methodologischen Einführungskapitel Vorannahmen aufgedeckt, die anfänglich das Arbeitsvorhaben dieser Dissertation steuerten, gemäß des Anliegens Gadamers: Es gilt, der eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit sich der Text selbst in seiner Andersheit darstellt und damit in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen.⁷⁷

Darum sei hier tabellarisch und vorwegnehmend die Veränderung von meinen Vorentwürfen zur Interpretation des Konzeptes von vita in den Visionswerken Hildegards aufgeschlüsselt. Die Argumente für jene Veränderungen werden jeweils in meiner Arbeit detailliert entfaltet. Die Veränderung mancher Vorverständnisses verschärfte

 Vgl. Werner G. Jeanrond, Theological Hermeneutics. Development and Significance (London: Macmillian, and New York: Crossroad, ), .  Ulrich Schmid, „Einleitung,“ in Literaturtheorien des . Jahrhunderts, Hg. Ulrich Schmid (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ): .  Vgl. Matthias Jung, Hermeneutik zur Einführung (Hamburg: Junius, ), .  Matthias Jung, Hermeneutik zur Einführung, .  Daher ist dem Deutungsansatz zu widersprechen von einer „christlichen Esoterik“ bei Hildegard seitens Eugen Biser, „Gibt es eine christliche Esoterik? Eröffnung einer aktuellen Perspektive im Blick auf Paulus und Hildegard von Bingen,“ in Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten. Zum . Geburtstag, Hg. Edeltraud Forster (Freiburg im Breisgau: Herder, ): . Zutreffend beschreibt er jedoch die Strukturelemente der Betonung der „Innensicht“ (a.a.O., ) des Glaubens unter der Berücksichtigung seiner Dunkelzone (a.a.O., )  Hildegardis Bingensis Liber Scivias, CCM , Protestificatio, , Z  – : intellectum expositionis librorum, videlicet psalterii, evangelii et aliorum catholicorum tam veteris quam novi Testamenti voluminum sapiebam.  Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Bd. Gesammelte Werke. Hermeneutik I (Tübingen: Mohr Siebeck, ), .

1.1 Methodologische Befunde

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sich, als nach der Fertigstellung der Analysegänge im Ersten Teil Hildegard zur Kirchenlehrerin erhoben wurde. Nun stellten sich neue Fragen hinsichtlich der Qualifikation einer doctrina eminens und fides orthodoxa: Vorverständnis der Dissertantin

Erkenntnisstand nach der Textanalyse

Der Werkanspruch Hildegards, authentische Visionen aufzuzeichnen, muss ernst genommen werden.

Dieser Werkanspruch wirft aufgrund seiner literarischen Stilisierung Fragen auf. Daher darf seine Tragfähigkeit für eine heutige innerkirchliche Kanonisierung der Autorin diskutiert werden. Der Begriff des Lebens ist im Opus Hildegardia- Aus seiner häufigen Okkurrenz kann eine hildenum zentral. gardianische Lebenstheologie entworfen werden. Jener kann das Prädikat einer doctrina eminens zuerkannt werden. Hildegard kann für eine heutige, bildgesättigte Manche Formulierungen in Schöpfungslehre, TriPopulartheologie und Neuevangelisierung nitätstheologie und Christologie können heterodienstbar gemacht werden. dox missverstanden werden. Daher ist zu prüfen, inwieweit hier die Zielvorstellung einer fides orthodoxa gewahrt ist und eine Popularisierung der hildegardianischen Theologie empfohlen werden kann. Hildegard schreibt als reflektierte Sprachkünstle- Dies bestätigt sich durch die Analysen. rin. Es lässt sich nicht von einer denkerischen EntDie theologischen Interessen verschieben sich in wicklung im Lebenswerk sprechen. ihren letzten Lebensjahrzehnten: Statt Umkehrpredigten stehen eher Fragen der Erkenntnistheorie und Kosmologie im Vordergrund. In ihren letzten Lebensjahren distanziert sie sich sachte von konservativer Kirchlichkeit und intensiviert sie ein spiritualisiertes Kirchenbild. Ein dualistisches und ein ganzheitliches VerLeiblichkeit wird eher dualistisch negativ bewerständnis von Leben und Mensch halten sich die tet. Sie wird dem vorläufigem, irdischem Leben Waage. zugeordnet. Das eigentliche Leben ist das ewige Leben.

Aus dieser Gegenüberstellung, die einige Ergebnisse der Dissertation vorweg nimmt, wird deutlich, wie gravierend sich die Vorverständnisse in den Studia Hildegardiana verändern können, wenn man die Texte selbst sprechen lässt. Es wäre jedoch eine weitere einschränkende Vorannahme, wie wir sie oben bei einigen Interpreten beobachtet haben, so zu tun, als ob das Verfahren einer textnahen Deutung ein „Selbstläufer“ wäre, über dessen Einzelheiten keine weiteren Angaben mehr gemacht werden müssten. Daher soll im folgenden Bescheid über das Methodensetting für eine vorrangig textimmanente Untersuchung gegeben werden.

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1 Entwicklung und Begründung eines Methodenmanuals

1.2 Methodische Entscheidungen für die Textanalysen 1.2.1 Verbund der Methoden, die für diese Untersuchung ausgewählt wurden Dass nur ein ineinander greifender Verbund verschiedener textimmanenter und kontextualisierender Methoden zum Ziel führen kann, ergibt sich bereits aus der Fragestellung dieser Arbeit: Mit welchen sprachlichen Mitteln gestaltet Hildegard eine Theologie des Lebens?⁷⁸ Denn nicht nur Sprache und Denken hängen zusammen, sondern auch Sprache und Leben. Die theoretische Durchdringung dieses Dreiecksverhältnisses von Sprache, Denken und Leben entfalteten vor allem Schleiermacher ⁷⁹ und Dilthey. ⁸⁰ Letzterer verknüpft gleichzeitig den Begriff des Lebens mit seinem Konzept von Hermeneutik.⁸¹ Gadamer prägte für diese Verknüpfungen die bekannte Formel: Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.⁸²

So bildet sich ein Konnex zwischen dem Untersuchungsgegenstand einer Theologiesprache für die Anschauung von Leben und dem hermeneutischen Zugang, der seinerseits in einen Lebenskontext eingebettet ist. Deswegen empfiehlt sich eine Verbindung von linguistischen und literaturwissenschaftlichen sowie theologie- und philosophiegeschichtlichen und systematischtheologischen Methoden. Derartige interdisziplinäre Analysen wünscht der Hildegardkenner Peter Dronke. ⁸³ Sie eröffnen in ihrem Zusammenspiel einen Zielkorridor für legitime Interpretationsergebnisse:

 Dass Hildegard eine solche nicht nur aufzeichnen, sondern auch selbst leben und existentiell verwirklichen wollte, darauf weist hin: Magna Ungrund, Die Metaphysische Anthropologie der Heiligen Hildegard von Bingen, Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinerordens  (Münster in Westfalen: Aschendorff, ), .  Peter Rusterholz, „Grundfragen der Textanalyse. I. Hermeneutische Modelle,“ in Grundzüge der Literaturwissenschaft, Hg. Heinz Ludwig Arnold and Heinrich Detering, (München: dtv, ): ; Jürgen Fohrmann, „Hermeneutik des Lebens,“ in Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen, Historia Hermeneutica, Series Studia , Hg. Friedrich Vollhardt and Jörg Schönert (Berlin: Walter de Gruyter, ): .  Peter Rusterholz, „Grundfragen der Textanalyse. I. Hermeneutische Modelle,“: ; sowie: Ilja Karenovics, „Hermeneutik,“ in Literaturtheorien des . Jahrhunderts, Hg. Ulrich Schmid (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ): .  Vgl. Emilio Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften (Tübingen: J.C.B. Mohr, ), .  Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode , ; Ulrich Schmid, „Einleitung,“ in Literaturtheorien des . Jahrhunderts, Hg. Ulrich Schmid (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ): .  Peter Dronke, Women Writers of the Middle Ages. A Critical Study of Texts from Perpetua († ) to Marguerite († ) (Cambridge: Cambridge University Press, ), ix.

1.2 Methodische Entscheidungen für die Textanalysen

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Ein Text ist also keine feste Bedeutungssubstanz, allerdings auch keine unendliche Variable, sondern eine Identität des Sinns in wandelbarer Form, Ergebnis einer Interpretation.⁸⁴

Ein solcher, die Objektivität der Deutung anstrebender Zusammenklang wird erreicht, in dem die Operationalisierung einzelner „Problemlösungsschritte“⁸⁵ gemäß der jeweiligen Einzelmethoden reflektiert wird, die wir im Folgenden vorstellen.

1.2.2 Stilistische Analyse nach den Kategorien der klassischen Rhetorik Das im 20. Jahrhundert neu erwachte Interesse an Analyseverfahren aus der klassischen Rhetorik wurde unter anderem durch die mediävistischen Forschungen belebt.⁸⁶ Denn schon früh wurde „…das Lehrgebäude der Rhetorik nicht nur als ein Produktionsschema begriffen und genutzt […], sondern als ein literarisches Analysemodell“.⁸⁷ Trotzdem sollte nicht einfach unkritisch ein theoretisches Modell der Rhetorik, das während der Entstehungszeit des Untersuchungstextes maßgeblich war, als Interpretationsrahmen dienen.⁸⁸ Der Begriff „Stil“ wird verstanden im Sinne einer Einheit von Gedanke, Vers, Syntax und Bildlichkeit.⁸⁹

So kann nach Emil Staiger ⁹⁰ eine Interpretation ihre Wissenschaftlichkeit dadurch zeigen, dass sie für einen literarischen Text die „Übereinstimmung von Teil und Ganzem“⁹¹ erweist. Dies wird im sechsten Kapitel dieser Arbeit anhand eines Schaubildes dargestellt werden. Dabei macht es die Sprachkunst und theologische Kunstfertigkeit Hildegards aus, dass sich jene Übereinstimmung auch für die Verknüpfung von Sprache und Theologie zeigen lässt. Das Erkenntnisinteresse in historischer sowie in heutiger theologischer Hinsicht kann nur dann sachlich zum Ziel kommen, wenn man direkt vom Text ausgeht (close  Peter Rusterholz, „Grundfragen der Textanalyse. I. Hermeneutische Modelle,“: .  Vera Nünning and Ansgar Nünning, „Wege zum Ziel: Methoden als planvoll und systematisch eingesetzte Problemlösungsstrategien,“ in Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse, Ansätze – Grundlagen – Modellanalysen, Hg. Vera Nünning and Ansgar Nünning, unter Mitarbeit von Irina Bauder-Begerow (Stuttgart: J.B. Metzler, ): .  Heinrich F. Plett, Einführung in die rhetorische Textanalyse (Hamburg : Helmut Buske, ),  f.  Uwe Neumann, „Rhetorik,“ in Grundzüge der Literaturwissenschaft, Hg. Heinz Ludwig Arnold and Heinrich Detering (München : dtv, ): .  Uwe Neumann, „Rhetorik,“: .  Peter Rusterholz, „Formen ‚textimmanenter Analyse‘, „, in Grundzüge der Literaturwissenschaft, Hg. Heinz Ludwig Arnold and Heinrich Detering (München : dtv, ): .  Zur werkimmanenten Interpretation nach Emil Staiger vgl.: Ilja Karenovics, „Hermeneutik,“ in Literaturtheorien des . Jahrhunderts, Hg. Ulrich Schmid (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ): .  Peter Rusterholz, „Formen ‚textimmanenter Analyse,“: .

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1 Entwicklung und Begründung eines Methodenmanuals

reading). Denn es gilt zunächst, dem Reichtum an sprachlichen und inhaltlichen Daten aus dem Text gerecht zu werden, „…to do justice to the richness of the data“.⁹² So bemängelt Peter Dronke das Manko an Untersuchungen zu Sprache und Stil Hildegards.⁹³ Hierzu wäre die Kunst eines verweilenden Lesens wichtig.⁹⁴

1.2.3 Corpustext-Analyse Schon seit der Antike übte man die Parallelstellen- und Konkordanzmethode, um den Aussagesinn einer Einzelstelle durch Vergleiche zu erhellen.⁹⁵ Mittlerweile wird Computertechnik genutzt, um die entsprechenden Datensätze schneller zu gewinnen und abzurufen. Begleitend wurde die frühere „Zettelkastenmethode“ zum Konzept der Corpuslinguistik ausgeweitet, wobei auch heute noch manuelle Formen der Datenerhebung mit berücksichtigt werden. Das moderne Konzept pendelt zwischen Datenerfassung und Datenauswertung innerhalb bestimmter Theorierahmen, zwischen einem „…to-ing and fro-ing between corpus and theory.“⁹⁶ Aus interpretatorischer Sicht hofft man, dass das aus der Corpustext-Analyse erhobene Material neue Sichtweisen auf den Inhalt eröffnet.⁹⁷ Jedoch besteht innerhalb der Diskussion über das Methodensetting der Corpustext-Analyse noch keine Einigkeit darüber, auf welche Weise man von den Daten zu einer validen Interpretation gelangt.⁹⁸ Es droht die Gefahr, dass zwar in einem ersten Arbeitsschritt eine Fülle von Daten gewonnen worden ist, jene jedoch im zweiten Schritt nur in zufälligen Teilausschnitten berücksichtigt und ausgewertet werden.⁹⁹ In dieser Dissertation geht es nicht nur um eine sprachliche, sondern auch um eine theologische Deutung. Daher sind die Untersuchungswege von der Datenerhebung, Präsentation von Textbefunden, behutsamer theologischer Systematisierung und geistesgeschichtlichen Einordnung in bewusster Verlangsamung in einem spiralför-

 Gaëtanelle Gilquin, Corpus, Cognition and Causative Constructions (Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins Publishing Company, ), .  Peter Dronke, Women Writers of the Middle Ages. A Critical Study of Texts from Perpetua († ) to Marguerite († ) (Cambridge: Cambridge University Press, ), ix.  Peter Dronke, Women Writers of the Middle Ages, viii.  Fotis Jannidis, „Methoden der computergestützten Textanalyse,“ in Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Ansätze – Grundlagen – Modellanalysen, Hg. Vera Nünning and Ansgar Nünning, unter Mitarbeit von Irina Bauder-Begerow (Stuttgart: J.B. Metzler, ): ; Matthias Jung, Hermeneutik zur Einführung (Hamburg: Junius, ), .  Gaëtanelle Gilquin, Corpus, Cognition and Causative Constructions, .  Gaëtanelle Gilquin, Corpus, Cognition and Causative Constructions, .  Gaëtanelle Gilquin, Corpus, Cognition and Causative Constructions, .  Gaëtanelle Gilquin, Corpus, Cognition and Causative Constructions, .

1.2 Methodische Entscheidungen für die Textanalysen

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migen¹⁰⁰ Aufbau angelegt. Die Analysen einzelner Textcorpora, zumeist einzelner Visiones von Hildegard, sind miteinander vernetzt. Erst in einem Folgekapitel werden sie endgültig zusammengefasst und bewertet. Dieser Aufbau korrespondiert dem literarischen Verfahren innerhalb des Opus Hildegardianum, stetig zwischen verschiedenen literarischen Rahmungen und systematischen Ebenen zu wechseln und immer wieder eine Rückkoppelung zu erkenntnistheoretischen Fragestellungen vorzunehmen. Daher versucht der ebenso vernetzte wie spiralförmig voranschreitende Gedankengang dieser Untersuchung, jene hildegardianische Arbeitsweise impliziter poetologischer und gnoseologischer Metakommentare behutsam aus der Textfülle heraus zu präparieren. Der Gesamtentwurf ihres theologischen Konzeptes von Leben kann dadurch in seinen zahlreichen Knotenpunkten zu dogmatischen und mystagogischen Teilfragen nachgezeichnet werden. Gerade die kognitive Linguistik kommt dem Anliegen einer Suche nach geeigneten Methoden der Textanalyse für eine systematische Theologie entgegen. Denn sie geht davon aus, dass Sprachfähigkeit nicht nur von einem gesonderten Sprachzentrum des Gehirns ermöglicht wird, sondern mit dem gesamten menschlichen Erkenntnisvermögen zusammenarbeitet. So ist der Schritt von der Analyse der Sprache eines Textes zu seinen Gedanken nicht mehr weit. Diese Wechselbeziehung von Sprache und Denken bestätigt sich auch aus der Sicht der Semantik: Viele Denkprozesse (insbesondere die abstrakter Natur) sind sprachlich motiviert. ¹⁰¹

Das zeigt sich an den sprachlichen Feldern, die von der Corpuslinguistik bislang besonders intensiv bearbeitet wurden: Die Konzeptualisierung von Metaphern und die semantische Rahmung (frame semantics) von Begriffen in ihrem jeweiligen Kontext.¹⁰² In der Zusammenarbeit von kognitiver Linguistik und Corpuslinguistik entstand der Kunstbegriff der „collustraction“,¹⁰³ gebildet aus „collocation“ und „construction“. Er soll darauf aufmerksam machen, dass die Begriffsfärbungen eines Wortes mit der jeweiligen Verwendung in bestimmten grammatikalischen Konstruktionen zusammen hängen. Darauf legt der Ansatz des Kontextualismus ein besonderes Augenmerk.¹⁰⁴ In seiner „Anschlussfähigkeit für interdisziplinäre Fragestellungen“¹⁰⁵ bestätigt er sich in der Anwendung auf das Textmaterial der Visionswerke Hildegards zum Begriff „vita“.  Eine spiralförmige Interpretationsbewegung favorisierte Friedrich Schleiermacher. Siehe hierzu: Ilja Karenovics, „Hermeneutik,“ in Literaturtheorien des . Jahrhunderts, Hg. Ulrich Schmid (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ): .  Monika Schwarz and Jeanette Chur, Semantik. Ein Arbeitsbuch (Tübingen: Narr, ), .  Gaëtanelle Gilquin, Corpus, Cognition and Causative Constructions, .  Gaëtanelle Gilquin, Corpus, Cognition and Causative Constructions, .  Vgl. zum Ansatz des Kontextualismus: Stefan Altmeyer, Fremdsprache Religion? Sprachempirische Studien im Kontext religiöser Bildung, Praktische Theologie heute  (Stuttgart: W. Kohlhammer, ), .  Stefan Altmeyer, Fremdsprache Religion? Sprachempirische Studien im Kontext religiöser Bildung, .

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1 Entwicklung und Begründung eines Methodenmanuals

Listen hierzu, zum Beispiel zu Präpositionalausdrücken, die konstant bestimmte heilsgeschichtliche Grundaussagen widerspiegeln, bietet das fünfte Kapitel dieser Arbeit zu Hildegards Sprache der Theologie. Allerdings darf über jenen Suchmethoden im Sinne einer corpusbasierten Vorgehensweise nicht der „Verlust des ästhetischen Objekts“¹⁰⁶ riskiert werden, der Blick auf die Texte Hildegards als Kunstwerk. Jener wird sich gerade durch die Detailanalyse ausgewählter Visiones bewähren.

1.2.4 Strukturalismus und Narratologie Ebenso wie die Hermeneutik will auch die literaturtheoretische Bewegung des Strukturalismus verdeutlichen, wie die Textkunst „…eine der Formen der Erkenntnis des Lebens sei“.¹⁰⁷ Hierzu wird Sprache hinsichtlich der Grammatik und der Semantik in ihre kleinsten Einheiten zerlegt, um ihre Formgesetze rekonstruieren zu können.¹⁰⁸ Jenen elementaren Strukturen gilt es dann „…ihre Assoziations- und Kompositionsregeln abzulauschen.“¹⁰⁹ Auf diese Weise versucht man, unter der Oberflächenstruktur eine Tiefenstruktur, auch Makrostruktur genannt, freizulegen.¹¹⁰ Manfred Frank sieht Schleiermacher nicht nur als Gewährsmann der hermeneutischen Tradition, sondern auch als Denker, der Grundprinzipien des Strukturalismus vorweg nimmt.¹¹¹ Die Narratologie, die sich, unter anderem anhand der Märchenforschung, aus dem Strukturalismus heraus entwickelte, beachtet besonders die Erzählstrategien: ¹¹² Wie verlaufen Handlungsstränge? Wie wird die Figurenkonstellation geschildert? Wie verhalten sich fiktionale Raumrelationen zueinander? Welche Erzählordnung und Erzählsituation wird gewählt?

 Peter Rusterholz, „Formen ‚textimmanenter Analyse‘, „ in Grundzüge der Literaturwissenschaft, Hg. Heinz Ludwig Arnold and Heinrich Detering (München : dtv, ): .  Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, Übers. Rolf-Dietrich Keil (München:Wilhelm Fink, ), .  Ulrich Schmid, „Einleitung,“ in Literaturtheorien des . Jahrhunderts, Hg. Ulrich Schmid (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ): .  Günther Schiwy, „Strukturalismus und Theologie,“ ThPh  (): .  Roy Sommer, „Methoden strukturalistischer und narratologischer Ansätze,“ in Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Ansätze – Grundlagen – Modellanalysen, Hg. Vera Nünning and Ansgar Nünning, unter Mitarbeit von Irina Bauder-Begerow (Stuttgart: J.B. Metzler, ): .  Oliver Simons, Literaturtheorien zur Einführung (Hamburg: Junius, ), .  Die hier aufgezählten Begriffe sind der Liste entnommen bei: Roy Sommer, „Methoden strukturalistischer und narratologischer Ansätze,“ in Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Ansätze – Grundlagen – Modellanalysen, Hg. Vera Nünning and Ansgar Nünning, unter Mitarbeit von Irina Bauder-Begerow (Stuttgart: J.B. Metzler, ):  f. Die dortige Liste ist empfehlenswert.

1.2 Methodische Entscheidungen für die Textanalysen

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Diese wenigen Beispiele zeigen bereits, wie ergiebig die Suchkategorien der Narratologie für eine Analyse der Dramaturgie in den Visionsschilderungen Hildegards sein können. Eine Missachtung solcher Baugesetze kann schnell zu theologischen Fehlinterpretationen führen, weil verschiedene literarische Ebenen verwechselt werden könnten. Es macht zum Beispiel einen Unterschied, ob eine Tugendfigur von einer weiteren betrachtet wird oder ob sie direkt aus dem Text zum Leser spricht.Wenn etwa die Gestaltungsmittel für die Tiefenperspektivik des fiktionalen Raumes von Hildegard eingesetzt werden, um das augustinische Anliegen einer Verinnerlichung zu illustrieren, bedeutet dies eine implizite theologische Metaaussage.

1.2.5 Zielsetzungen dieser Arbeit und daraus resultierende methodische Grundentscheide Das vorrangige Ziel dieser Arbeit ist es, auf der Basis einer textimmanenten Analyse von ausgewählten Visiones aus den Werken Liber Scivias und Liber Divinorum Operum die sprachlichen Mittel zu ergründen, mit denen Hildegard eine Theologie des Lebens in multiperspektivischen systematischen Facetten entfaltet. In bewusster Entgegensetzung zur Textfülle des Opus Hildegardianum geht diese Studie auf mehreren Ebenen gezielt paradigmatisch vor: Hinsichtlich des Quellenmaterials,¹¹³ der Methoden, der Sekundärliteratur,¹¹⁴ der hildegardianischen Referenzautoren aus Antike und der theologischen Diskurssituationen¹¹⁵ während der Abfassung ihrer Hauptwerke erfolgt eine exemplarische Aus-

 Zu den linguistischen Arbeitsmöglichkeiten mit dem Thesaurus Hildegardis Bingensis „visionis munus“: Scivias, Liber vitae meritorum, Liber divinorum operum, Corpus Christianorum. Thesaurus, curante CETEDOC, Universitas Catholica Lovanensis, Lovanii Novi (Turnhout: Brepols, ) siehe die Hinweise durch dessen Bearbeiter: Paul Tombeur and Claire Pluygers, „Der ‚Thesaurus Hildegardis Bingensis‘,“ in „Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst“. Hildegard von Bingen ( – ), Erudiri Sapientia II, Hg. Rainer Berndt (Berlin: Akademie, ):  f. Eine ausführliche, nach theologischen Themen gegliederte Zusammenstellung von Belegstellen zu vita im Opus Hildegardianum bietet Bardo Weiß, Die deutschen Mystikerinnen und ihr Gottesbild. Das Gottesbild der deutschen Mystikerinnen auf dem Hintergrund der Mönchstheologie, Bd. . (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ),  – .  Dieser Vorentscheid bestätigt sich in den Mahnungen von Valentin Groebner, Wissenschaftssprache. Eine Gebrauchsanweisung (Konstanz: Konstanz University Press, ),  – . Einen Überblick über die Forschungsliteratur bis  bieten: Marc-Aeilko Aris and Werner Lauter, et alii, Hg. Hildegard von Bingen. Internationale Wissenschaftliche Bibliographie, unter Verwendung der HildegardBibliographie von Werner Lauter, Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte  (Mainz: Selbstverlag der Gesellschaft für mittelrheinische Kirchengeschichte, .).  Zur Diskursanalyse vgl. Harald Neumeyer, „Methoden diskursanalytischer Ansätze,“ in Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Ansätze – Grundlagen – Modellanalysen, Hg. Vera Nünning and Ansgar Nünning, unter Mitarbeit von Irina Bauder-Begerow (Stuttgart: J.B. Metzler, ): .

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1 Entwicklung und Begründung eines Methodenmanuals

wahl. Für all jene Ebenen wird nicht der Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, jedoch der einer Fokussierung auf repräsentative Phänomene. Deswegen wurden die Belege im Sinne einer Corpustextanalyse manuell erhoben, als Ergebnis einer mehrfachen Lektüre des Gesamtwerkes Hildegards. Daher konnten die Einzelcorpora in ihrem Verhältnis zu dem jeweiligen Textganzen wahrgenommen werden. Es werden Visionen vorgestellt, die hinsichtlich einer Auswertung für den Begriff des Lebens besonders ertragreich sind. Insofern lohnte sich deren strukturelle Analyse. So wurde für die einzelnen Visiones als von der Autorin selbst abgegrenzte Textcorpora der hermeneutische Grundsatz berücksichtigt, das Einzelne vom Ganzen her und das Ganze in Bezug auf seine Einzelheiten zu deuten. Wie schon angedeutet, entwickelt sich der Aufbau der Dissertation spiralförmig: Diese Deutungsbewegung kombiniert sich zum Einen aus dem Bestreben, von „unten“, von der Textanalyse, nach „oben“, zu der Einordnung der Befunde auf sprachlicher, literaturgeschichtlicher und theologiegeschichtlicher Ebene vorzuschreiten. Zum Anderen bedingt die Vorgehensweise, acht einzelnen Visiones je für sich zu betrachten, ein Wachstum der Interpretation „in konzentrischen Kreisen“:¹¹⁶ Grundtendenzen, die sich bereits in dem ersten Analysekapitel zeigen, bestätigen sich im Fortschreiten zu weiteren Visiones und ergänzen sich durch weitere Gesichtspunkte, die aber einer motivlichen Mitte zugeordnet bleiben, dem Sprachbild von der Quelle des lebendigen Wassers, dem fons vitae. Dieses sukzessive Anwachsen konzentrischer Kreise der Deutung entspricht den eher kreisenden Gedankenbewegungen in den Visionsdeutungen Hildegards. Zugleich können hierdurch Unterschiede zwischen dem Liber Scivias und dem Liber Divinorum Operum plastisch illustriert werden. Die Präferenz für textimmanente Verfahren bedingte, die zeitgenössischen Illustrationen aus dem Rupertsberger Codex und dem Codex von Lucca nicht in die Textdeutung mit einzubeziehen. Denn erst auf der Grundlage einer Aufmerksamkeit auf den Text könnte sein Verhältnis zu den Bildern geklärt werden, die sich trotz ihrer heutigen medialen Bekanntheit schon dadurch relativieren, dass der Wiesbadener Riesencodex ohne Illustrationen auskommt. Hier habe ich eine ähnliche methodische Grundentscheidung getroffen wie Maura Zátonyi: Sie erkennt ihnen zwar „eine wichtige Rolle im Werkverständnis“¹¹⁷ zu, die aber für ihr spezifische Forschungsanliegen nicht berücksichtigt werden konnte.

 Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Bd. Gesammelte Werke. Hermeneutik I (Tübingen: Mohr Siebeck, ), : „Die Aufgabe ist, in konzentrischen Kreisen die Einheit des verstandenen Sinnes zu erweitern.“  Maura Zátonyi, Vidi et intellexi. Die Schrifthermeneutik in der Visionstrilogie Hildegards von Bingen, Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters NF  (Münster: Aschendorff, ), .

1.2 Methodische Entscheidungen für die Textanalysen

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Für jede der acht ausgewählten¹¹⁸ Visiones werden die Untersuchungsergebnisse in einem Dreierschritt vorgeführt: Der erste Unterabschnitt stellt die formale Anlage der jeweiligen Vision vor. Im zweiten Abschnitt werden einzelne Sprachbilder und Bildsymboliken interpretiert. Das dritte Unterkapitel fasst jeweils die Erträge für eine Theologie des Lebens zusammen. Lateinische Zitate¹¹⁹ von Hildegard und von Parallelautoren werden in eigens für diese Arbeit angefertigten deutschsprachigen Übersetzungen dargeboten. Denn die Analyse der lateinischen Texte soll auch ohne Lateinkenntnisse nachvollziehbar sein. Da die bislang erstellten kritischen Editionen von Einzelwerken Hildegards entsprechend der unterschiedlichen Ausgangslage der jeweiligen Leithandschriften unterschiedlichen orthographischen Regeln folgen, wurde die Rechtschreibung der lateinischen Originalzitate behutsam vereinheitlicht. Weite Passagen der Visionswerke Hildegards präsentieren sich als ein Metaphernnetz, als eine „continuata metaphora“.¹²⁰ Deswegen werden die Begriffe „Metapher“, „Sprachbild“, „Bildsymbolik“ in dieser Analyse zunächst als unspezifische Arbeitsbegriffe verwendet, die nicht einer bestimmten modernen Metapherntheorie zuzuordnen sind. Sie sollen nur ausdrücken, dass mit Worten eine bildliche Vorstellung evoziert wird,¹²¹ wobei die Frage, ob und inwiefern sie eine uneigentliche, übertragene Redeweise darstellen, vorerst noch ausgeklammert wird. Hinweise hierzu gibt später der Auswertungsteil dieser Arbeit. Doch das Symbol erleichtert nicht, sondern erschwert das Denken: Dies mahnt die Formel Ricœurs an: Das Symbol gibt zu denken (le symbole donne à penser).¹²²

 Es wurden nur Visiones aus dem Liber Scivias und aus dem Liber Divinorum Operum ausgewählt, da die Schaubilder des Liber Vitae Meritorum sich in großflächigeren Buchteilen präsentieren. Dies entspricht dem überlieferungsgeschichtlichen Befund, dass vor allem der Liber Scivias und nachgeordnet der Liber Divinorum Operum rezipiert wurde. In der heutigen popularwissenschaftlichen Darstellung findet hingegen die Tugendlehre des Liber Vitae Meritorum stärkere Beachtung.  Dass die intensive Lektüre der lateinischen Gesamttexte eine selbstverständliche Voraussetzung für eine seriöse Hildegardforschung ist, fordert ein: Elisabeth Gössmann, „Anmerkungen zur neueren Hildegard-Forschung“ in Hildegard von Bingen. Versuche einer Annäherung. Archiv für Philosophie- und Theologiegeschichtliche Frauenforschung. Sonderband, Hg. Elisabeth Gössmann (München: Iudicium ): .  Peter Rusterholz, „Grundfragen der Textanalyse. I. Hermeneutische Modelle,“ in Grundzüge der Literaturwissenschaft, Hg. Heinz Ludwig Arnold and Heinrich Detering (München: dtv, ): .  Vgl. Petra Gehring, „Das Bild vom Sprachbild. Die Metapher und das Visuelle,“ in Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Wolfenbütteler Forschungen, Hg. Lutz Danneberg, Carlos Spoerhase and Dirk Werle (Wiesbaden: Harrasowitz, ): . Petra Gehring votiert aber dafür, sich in der Interpretation vor einer „unklaren Anlehnung ans Visuelle“ zu hüten und eine „konsequent textorientierte metaphorologische Arbeitsweise“ anzustreben (a.a.O., ).  Paul Ricœuer, Hermeneutik und Strukturalismus (München: Kösel, ), , zitiert nach: Ilja Karenovics, „Hermeneutik,“ in Literaturtheorien des . Jahrhunderts, Hg. Ulrich Schmid (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ): .

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1 Entwicklung und Begründung eines Methodenmanuals

Denn nach Ricœur entfaltet sich eine Metapher als ein „Ereignis“, insofern es ein schöpferisches Ereignis darstellt statt einer rein übertragenen Redeweise.¹²³ Neben Metaphernnetzen nutzt Hildegard die Abbildung von Wortfeldern, um komplexe theologische Zusammenhänge in wenigen Worten sprachlich zu repräsentieren. Denn „…Bedeutungen sind offensichtlich eng mit den Bedeutungen anderer Wörter verknüpft“.¹²⁴ Hierbei korreliert das für Hildegard typische, sich in Semantik und Grammatik widerspiegelnde Schwanken in der Gedankenführung zwischen einem theologischen Detailthema und einem theologischen Überblickswissen über die Heilsgeschichte der Vernetzung verschiedener Gedächtnissysteme des Menschen: Allgemeines und spezifisch-individuelles Wissen sind nicht als zwei völlig separate Gedächtnissysteme zu betrachten. Vielmehr stehen beide in einer ständigen Interaktion: Allgemeines Wissen wird benutzt, um partikulares Wissen zu verstehen, partikulares Wissen wird benutzt, um allgemeines Wissen zu vervollständigen und eventuell zu modifizieren.¹²⁵

Dies lässt die Vermutung zu, dass die Autorin auf diese Weise recht unbefangen authentische eigene Denkvorgänge niedergeschrieben hat. Eine Anschlussfähigkeit einer literaturwissenschaftlichen Methode an die theologiegeschichtliche Forschung bietet die Intertextualität. Ein Fernziel, das außerhalb den Dimensionen der vorliegenden Monographie liegt, wäre die Erstellung eines vernetzten „Textuniversum“¹²⁶ für das 12. Jahrhundert. Jedoch gehen innerhalb dieser Dissertation die ausgewählten Methoden der Stilanalyse und Werkinterpretation bewusst nicht extensiv der Frage nach möglichen Quellen nach, sondern sie stellen die „Fügung als Kunstwerk“¹²⁷ des Untersuchungstextes in den Mittelpunkt. Ausführlichere Studien zur Ideen- und Begriffsgeschichte für eine Lebenstheologie liefert das siebte Kapitel. In steter Intensität wird über die ganze Darstellung hinweg die Verwurzelung in augustinischen Grundgedanken sowie die Nähe zur Theologie des Areopagita und des Eriugena belegt werden. Ferner gilt es, sowohl hinsichtlich der Stringenz der Texte im Inneren, als auch im Vergleich mit der akademischen Theologie ihrer Zeit und in ihrer Relevanz für heute,

 Vgl. Oliver Simons, Literaturtheorien zur Einführung (Hamburg: Junius, ),  f. Knut Wenzel erklärt die sprachschöpferische Energie der Metapher dadurch, dass sich in ihr „zwei Implikationssysteme“ an Bedeutungen gegenseitig anreichern. (Knut Wenzel, Zur Narrativität des Theologischen. Prolegomena zu einer narrativen Texttheorie in soteriologischer Hinsicht, Regensburger Studien zur Theologie  (Frankfurt am Main: Peter Lang, ), ; Hervorhebung durch den Autor).  Monika Schwarz and Jeanette Chur, Semantik. Ein Arbeitsbuch (Tübingen: Narr, ), .  Monika Schwarz and Jeanette Chur, Semantik. Ein Arbeitsbuch (Tübingen: Narr, ), .  Anton Seljak, „Intertextualität,“ in Literaturtheorien des . Jahrhunderts, Hg. Ulrich Schmid (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ): .  Peter Rusterholz, „Formen ‚textimmanenter Analyse‘, „ in Grundzüge der Literaturwissenschaft, Hg. Heinz Ludwig Arnold and Heinrich Detering (München : dtv, ): .

1.2 Methodische Entscheidungen für die Textanalysen

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nach der Reformulierung einer Theologie des Lebens bei Hildegard deren Dekonstruktion zu wagen. Bereits Emil Staiger mahnte, bei Interpretationen die Kategorie der Fremdheit nicht zu übersehen.¹²⁸ Ebenso umschreibt Gadamer ein „Zwischen“ zwischen Fremden und Nachvollziehbaren als einzig möglichem Spielraum des Verstehens.¹²⁹ Die Fremdheit ist aber nicht allein als eine Erschwernis der Textdeutung zu sehen, sondern auch als Faszinosum, das zur Beschäftigung mit dem Text anregt.¹³⁰ Dies ist ein Grund für das popularwissenschaftliche Interesse an Hildegard von Bingen, da hier eine Gegenwelt zur Alltagswelt vermutet wird.¹³¹ Der Akt der Dekonstruktion geht aus vom Sprachlichen und zielt auf die Hinterfragung der theologischen Stringenz. Zunächst strebt sie den „Nachweis der inneren Instabilität des Textgebäudes“¹³² an. Gerade die von Derrida geübte Dekonstruktion der „Leitdifferenzen“ der abendländischen Metaphysik ist aufschlussreich für den Begriff des Lebens, wie er sich bei Hildegard von Bingen präsentieren wird: Maßgeblich ist die Polarisierung von „Lebendigem“ und „Totem“, kurzgeschlossen mit der Opposition von „Authentischem“ und „Abgeleitetem“ sowie von „Innerem“ (im Sinne von Wahrem und Eigentlichem) und „Äußerem“ (im Sinne von Verfremdeten und Verhüllendem).¹³³

Also sollten notwendige kritische Anfragen in der heutigen wissenschaftlichen Lektüre Hildegards nicht von einer akademischen Panegyrik über jene als einer unangreifbaren Kirchenlehrerin überdeckt werden. Daher nimmt diese Arbeit nur zurückhaltende Andeutungen für eine „werktranszendente“¹³⁴ Deutung des Opus Hildegardianum für heutige theologische Fragen in Wissenschaft, Verkündigung und geistlichem Leben vor.

 Peter Rusterholz, „Formen ‚textimmanenter Analyse‘, „: .  Ilja Karenovics, „Hermeneutik,“ in Literaturtheorien des . Jahrhunderts, Hg. Ulrich Schmid (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ): .  Andrea Zink, „Narratologie,“ in Literaturtheorien des . Jahrhunderts, Hg. Ulrich Schmid (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ): .  Vgl. das Vorwort zu: Johann Evangelist Hafner and Joachim Valentin, eds., Parallelwelten. Christliche Religion und die Vervielfachung von Wirklichkeit. ReligionsKulturen  (Stuttgart: W. Kohlhammer, ), .  Ulrich Schmid, „Einleitung,“ in Literaturtheorien des . Jahrhunderts, Hg. Ulrich Schmid (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ): .  Monika Schmitz-Emans, „Dekonstruktion,“ in Literaturtheorien des . Jahrhunderts, Hg. Ulrich Schmid (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ): .  Vgl. zu dieser interpretatorischen Gegenbewegung im Anschluss an eine werkimmanente Deutung: Ulrich Schmid, „Einleitung,“ in Literaturtheorien des . Jahrhunderts, Hg. Ulrich Schmid (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ): .

I Analysen

2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin 2.1 Die Zielsetzung dieses Untersuchungsganges Zur Interpretation der Aussagen Hildegards zum Begriff des Lebens muss ihre Selbstdarstellung der literarischen Eigenart und der Entstehungsgeschichte ihrer Schriften untersucht werden. Diese Schriften sind großenteils im Genus der Visio¹ gestaltet, einer textlichen Einheit von unterschiedlicher Länge, in der ein Schaubild beschrieben und dann im Dialog mit ausdeutenden, aber auch fragenden Stimmen in theologische und moralisch-asketische Einzelfragen weiter geführt wird. Kürzere Visiones werden zuweilen in die Gattung eines Briefes umgeformt, der sich, auch bei einem historisch gegebenen Frageanlass, in den überarbeiteten Fassungen der Briefsammlung weit vom ursprünglichen Entstehungskontext löst, soweit jener nicht ohnehin von vornherein nur eine literarische Fiktion ist.² Letzteres bestätigten bereits 1965 Adelgundis Führkötter und Marianna Schrader in ihren Untersuchungen zur „Echtheit des Schrifttums der heiligen Hildegard von Bingen.“³ Die Lesegewohnheiten der wissenschaftlichen Hildegard-Rezeption des 20. Jahrhunderts hatten sich von der Rezeptionsgeschichte ab dem Hoch- und Spätmittelalter prägen lassen. Anders als andere Texte des Bildungskanons und der Bibel war Hildegard nicht in das Visier einer humanistischen und aufklärerischen Quellenkritik geraten.⁴ Was war der Grund, dass sie sozusagen im toten Winkel dieser Bewegung lag? Die Werke Hildegards wurden in der Neuzeit sogar von Geistesgrößen geachtet, die dem  Grundlegend zur Gattung der Visionsliteratur im Mittelalter: Peter Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, Monographien zur Geschichte des Mittelalters  (Stuttgart: Anton Hiersemann, ),  f (Überblick über Visionsschriften zur Lebenszeit Hildegards) und  –  (zur Definition der literarischen Gattung).  Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen. Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Erudiri Sapientia IV (Berlin: Akademie, ),  f.  Adelgundis Führkötter and Marianna Schrader, Die Echtheit des Schrifttums der heiligen Hildegard von Bingen. Quellenkritische Untersuchungen, Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte  (Köln/Graz: Böhlau ), .  Vgl. zur Editio princeps des Faber Stapulensis  des Liber Scivias und zum Anspruch des Faber, auf die ältesten Textzeugen zurück zu greifen: Michael Embach, „Beobachtungen zur Überlieferungsgeschichte Hildegards von Bingen im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Mit einem Blick auf die Editio princeps des ‚Scivias‘,“ in „Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst“. Hildegard von Bingen ( – ), Hg. Rainer Berndt (Berlin: Akademie, ): . Der Text bei Migne, PL  geht auf die Editio Princeps zurück. Zur Quellenkritik in der Hildegardforschung das Standartwerk von Adelgundis Führkötter and Marianna Schrader, Die Echtheit des Schrifttums der heiligen Hildegard von Bingen. Quellenkritische Untersuchungen, Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte  (Köln/Graz: Böhlau ).

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

verfassten Christentum reserviert gegenüber standen und denen die Behauptung ihres visionären Ursprungscharakters eigentlich hätte fremd sein müssen.⁵ Wurde Hildegard eher in ihrem kirchenkritischen Potential wahrgenommen? Entsprach sie dem Geniebegriff der Sturm-und Drang-Zeit, der dann weiterhin die Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts beeinflusste? Bot sie sich als Heilige an, die – von ihrer Wirkungsstätte am Rhein als Erinnerungsort der Reichsbildung her – deutschsprachlicher Intellektualität den Rang eines numinosen Ursprungscharakters, einer göttlichen Autorschaft geben sollte?⁶ Für dieses Phänomen könnten neuere Theorien zu Visualität und Narrativität mögliche Erklärungen angeben: Als im 19. Jahrhundert die Photographie erfunden war, erhoffte man sich von ihr nicht nur eine größere Objektivität in der visuellen Darstellung von Bildern. Sondern man pries sie mit Metaphern, die durchaus aus den Selbstcharakterisierungen der Visiones Hildegards hätten stammen können. Photographien wurden ob ihrer Objektivitätsverheißung als Sprache des Lichtes gelobt.⁷ Es könnten also gerade technische Errungenschaften gewesen sein, die den Schaubildern Hildegards losgelöst von ihrem religiösen Kontext eine gewisse Glaubwürdigkeit verliehen hätten. Träfe diese Erklärung zu, dass die Sakralisierung moderner Technik den Anspruchs- und Ärgernischarakter (Gal 5,11) einer himmlischen Schau aus dem Mittelalter verdeckt, dann wäre es eine Ironie des Schicksals, dass uns die Illuminationen des Rupertsberger Kodex heute nur noch dadurch zugänglich sind, dass sie vor ihrem Verschwinden in den Wirren des Kriegsende 1945 fotografiert wurden. Die zweite Erklärungsmöglichkeit ergäbe sich aus einer Gesetzmäßigkeit der Narrativität, wie sie der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke erklärt: Erzählungen sind ein Beispiel dafür, wie Menschen in ihrem kulturellem Alltag undramatisch zwischen verschiedenen „Wahrheitsprogrammen“ wechseln.⁸ Zum Wahrheitsprogramm von Erzählungen des Glaubens gehört es, dass sie die Glaubensreaktionen der Adressaten in ihre Erzählstruktur mit einbeziehen.⁹ Darum kann selbst noch bei einer dekonstruktivierenden Lektüre, die den Werkanspruch kritisiert, die Erzählung

 Vgl. Heinrich Schipperges, „Goethe auf den Spuren der heiligen Hildegard,“ Hildegard von Bingen.  – , Bingener Geschichtsblätter  (): .  Für die Geschichtswissenschaft des . Jahrhunderts als neuer Leitwissenschaft wurde der Werkanspruch Hildegards zum Experimentierfeld unterschiedlicher Wissenschaftstheorien. Daraus resultieren divergierende „Rezeptionsmuster“ in der Forschung, die aber in der populären Vermittlung harmonisierend dargeboten wurden. Diesen Prozess weist nach Marc-Aeilko Aris, „Die verlorene Hildegard. Lesehemmungen und Lesevorlieben im . Jahrhundert,“ in Hildegard von Bingen in ihrem historischen Umfeld, Hg. Alfred Haverkamp (Mainz; Philipp von Zabern, ): .  Vgl. Marius Rimmele and Bernd Stiegler, Visuelle Kulturen/Visual Culture zur Einführung (Hamburg: Junius, ), .  Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie (Frankfurt am Main: S. Fischer, ), .  Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung, .

2.1 Die Zielsetzung dieses Untersuchungsganges

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den Leser und Interpreten in ihren Bann ziehen.¹⁰ Diese Theorie macht die Faszination der Werke Hildegards bei der Forschergemeinde und bei einem breiteren Publikum nachvollziehbar. Um die herkömmlichen Deutungsmuster in der Forschungsgeschichte¹¹ durch einen zusätzlichen Blickwinkel zu ergänzen, soll im folgenden der Zusammenhang zwischen Schau und Lebensbegriff anhand der autobiographischen Einschübe in der Vita untersucht werden. Die Ergebnisse werden mit Befunden aus der Protestificatio, dem Prolog zum Liber Scivias, verglichen werden. Sie sind insofern nur vorläufig, als sie im Auswertungsteil dieser Arbeit mit weiteren Einzeläußerungen zur Art der Schau, die über das gesamte Opus Hildegardianum verstreut sind, sowie zu den religiösen Erkenntnisbedingungen des Menschen und der Rolle der prophetia kombiniert werden müssen. Denn in ihrer oftmals durchgefeilten literarischen Komposition spiegelt die Autorin auf mehreren Darstellungsebenen die Reflexionen religiöser Erkenntnis, zu der ihr Werk ebenso eine formale Anleitung wie eine materiale Gegenständlichkeit bieten will. Gerade die Abweichungen zwischen der Protestificatio und dem autobiographischen Material in der Vita geben wichtige Hinweise für die literarische Konstruktivität des Darstellungsanspruchs des Gesamtwerkes. Bei der Analyse jener „Konstruktivität“ geht es mir in Rahmen dieser Untersuchung weniger um den Nachweis literarischer Abhängigkeiten von anderen Visionswerken und die stilisierte „Literarizität“ der Selbstdarstellung Hildegards. Dies ist das Anliegen von Christel Meier. ¹² Vielmehr soll darauf aufmerksam gemacht werden, wie Hildegard mit gezielten Darstellungsstrategien einen Sinnraum aufbaut, der nicht schlicht mit historischer Wirklichkeit gleichgesetzt werden kann, sondern in einem Methodenverbund von Rekonstruktion und Hermeneutik ausgehend von dem Sinnanspruches des Textes erschlossen werden muss.¹³ So könnte dann der Geltungsanspruch des Opus Hildegardianum als Gottesrede im Sinne einer „Kohärenztheorie“ anerkannt werden, wie es Jan Demas vorschlägt.¹⁴ Der Erzeugung und Bestätigung einer Sinnkohärenz des eigenen Lebens dient in ähnlicher Weise die „Autofiktion“¹⁵ in modernen Autobiographien.

 Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung, .  Vgl. hierzu das Kapitel  dieser Arbeit.  Christel Meier, „Prophetentum als literarische Existenz: Hildegard von Bingen ( – ),“ in Deutsche Literatur von Frauen. Erster Band: Vom Mittelalter bis zum Ende des . Jahrhunderts, Hg. Gisela Brinker-Gabler (München: Beck, ): .  Vgl. zu dieser Erfordernis Hans-Jürgen Goertz, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ),  f.  Jan Demas, Große Denker des Mittelalters. Ihr Leben – ihr Werk – ihre Welt (Freiburg im Breisgau: Herder, ), .  Martina Wagner-Egelhaaf, „Zum Stand und den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Literaturwissenschaft,“ Bios  ():  f.

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

Aber schon Augustinus konstruierte ein reflektiertes „Autorenkonzept“,¹⁶ um in einer kulturellen Umbruchszeit unterschiedlich gebildeten Adressatenkreisen gerecht werden zu können. Jüngst hat Johanna Schumm die literarische Bauform seiner Confessiones in der Kontrastierung mit ihrer Wirkungsgeschichte bei Derrida analysiert. Sie betont die Komplexität der literarischen Blickwinkel, die Authentizität gestalten sollen: Gleichzeitig spricht Augustinus sich selbst, Gott und den Leser an. Die Blickführung in die Innenwelt des Autors, der sich als Objekt beschreibt, eröffnet neue innere Räume. Dies belegt das biblische Motiv (Mth 7,7 f) im vorletzten Liber XII der Confessiones von der Tür, die sich dem Anklopfenden öffnet.¹⁷ Dieses Bild wird Hildegard in verschiedenen Variationen ausgestalten, wobei sie seine motivliche Einbettung in den Confessiones mit übernimmt. Ist es am Beginn des Liber XII,I,1 die Heilige Schrift, die beim Herzen des Augustinus anklopft, so in conf. XII,XII,15 der Mensch, der zum Anklopfen bei Gott ermutigt wird. Die Struktur dieser Wechselseitigkeit gestaltet Hildegard in mehreren Visiones des Liber Scivias aus. Für eine bewusste Referenz auf Augustinus spricht, dass zwei weitere Grundmotive in conf. XII,10,10 alle Visionen prägen, die in dieser Dissertation untersucht werden: Die Wasserquelle des Lebens, und die Stimme (vox), die zur Quelle zurück ruft. Vor diesem Hintergrund sei davor gewarnt, die Hinweise Hildegards über den Entstehungsmodus ihrer Schriften in jeder Hinsicht wörtlich zu nehmen. Leider geschieht dies sogar in Hildegard-Literatur mit wissenschaftlichem Anspruch: Niemand geringerer als der Theologiehistoriker Yves Congar qualifizierte Hildegard als Exponentin des prophetischen Charismas im Mittelalter.¹⁸ Obwohl er keine nähere Begründung hierfür angibt, beeinflusste er so das Hildegardbild nachfolgender Forschergenerationen: So referiert Michael Zöller zusammenfassend den Anspruch Hildegards: „Gott weist seine Prophetin und ihre Botschaft als von ihm gesandt aus.“¹⁹ Wenn er auch im Anschluss an Christel Meier auf die literarische Stilisierung von Selbstaussagen Hildegards hinweist,²⁰ so wendet er solche Hinweise doch nicht methodisch exakt auf die theologische Ausdeutung des Liber Scivias an. Sondern er folgt dem hildegardianischen Sprachduktus einer „göttlichen Wegweisung“.²¹

 Vgl. Torsten Krämer, Augustinus zwischen Wahrheit und Lüge. Literarische Tätigkeit als Selbstfindung und Selbsterfindung. Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und ihrem Nachleben  (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, ),  f.  Johanna Schumm, Confessio, Confessiones, „Circonfession“. Zum literarischen Bekenntnis bei Augustinus und Derrida, periplous. Münchner Studien zur Literaturwissenschaft (München: Wilhelm Fink, ),  f.  Yves Congar, Der Heilige Geist, Übers. August Berz (Freiburg im Breisgau: Herder, ), .  Michael Zöller, Gott weist seinem Volk seine Wege. Die theologische Konzeption des „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen ( – ), Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie  (Tübingen: Francke, ), .  A.a.O., .  A.a.O., .

2.1 Die Zielsetzung dieses Untersuchungsganges

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Ähnlich attestiert Hildegard Gosebrink Hildegard eine gottgeschenkte und sachlich überzeugende Erleuchtung über den tieferen Sinn der Bibel.²² Von einer Glaubwürdigkeit der Gabe der Schau von Hildegard spricht Ingrid Riedel. ²³ Die Authentizität der Visionen unterstreicht Christine Büchner. ²⁴ Einer Diastase zwischen der literarischen Figur der Seherin in ihrer Selbstdarstellung und ihrer realen Existenz widerstreitet Michaela Diers. ²⁵ Auch ein Großmeister der Mediävistik wie André Vauchez übernimmt Vorurteile über Hildegard, wie die, dass Eugen III. ihr Projekt von Visionsschriften gutgeheißen hätte.²⁶ Daher erkennt er ihr das Merkmal eines „visionären Prophetentums“ zu.²⁷ Er kolportiert desweiteren die Einschätzung, dass die Mithilfe von Mönchen bei der Niederschrift ihrer Werke als Beispiel für die untergeordnete Stellung von Frauen unter ihre männlichen Seelenführer zu werten sei. Diesen Eindruck will er dadurch evozieren, dass er eine Abbildung von der Züchtigung der Heiligen Elisabeth durch Konrad von Marburg neben eine Miniatur zur Werkentstehung aus der Rupertsberger Sciviashandschrift stellt.²⁸ In Wirklichkeit aber beugt in der einen Abbildung Elisabeth ihr Haupt, in der anderen der Mönch, der Hildegard assistiert. In der Bildmitte der einen steht die gedemütigte Elisabeth, in der der anderen die Wachstafel, in die die geistbewegte Hildegard ihre Notizen einritzt. Eine geschickte Lösung bietet Maura Zátonyi an: Sie geht von der hildegardianischen „Selbstinterpretation als Prophetin“²⁹ aus und erklärt sie durch biblische Kontexten einerseits und aus Referenzen auf Eriugena andererseits, der das Konzept eines propheta theologus entworfen hatte.³⁰ Um einer solchen Wiederholung von Vorurteilen und Fehldeutungen in der Forschungsgeschichte zu entgehen, setzt diese Dissertation bei den Texten selbst an:

 Hildegard Gosebrink, Maria in der Theologie Hildegards von Bingen, Studien zur systematischen und spirituellen Theologie  (Würzburg: Echter, ), ,  Ingrid Riedel, Hildegard von Bingen. Prophetin der kosmischen Weisheit (Zürich: Kreuz, ), .  Christine Büchner, Hildegard von Bingen. Eine Lebensgeschichte (Frankfurt am Main/ Leipzig: Insel, ), .  Michaela Diers, Hildegard von Bingen (München: dtv, ), .  André Vauchez, „Der Einstieg der Laien in das religiöse Leben,“ in Machtfülle des Papsttums ( – ), Bd. , Die Geschichte des Christentums. Religion, Politik, Kultur, Hg. André Vauchez, deutsche Ausgabe bearbeitet und herausgegeben von Odilo Engels, und Mitarbeit von Georgios Makris und Luwig Vones (Freiburg im Breisgau: Herder, ): .  André Vauchez, Der Einstieg der Laien in das religiöse Leben, .  André Vauchez, Der Einstieg der Laien in das religiöse Leben, .  Maura Zátonyi, Vidi et intellexi. Die Schrifthermeneutik in der Visionstrilogie Hildegards von Bingen, Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters NF  (Münster: Aschendorff, ), .  Vgl. zum Konzept Eriugenas des propheta theologus den Hinweis bei Christel Meier, „Prophetentum als literarische Existenz: Hildegard von Bingen ( – ),“ in Deutsche Literatur von Frauen. Erster Band: Vom Mittelalter bis zum Ende des . Jahrhunderts, Hg. Gisela Brinker-Gabler (München: Beck, ): .

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

Erst nach der Beleuchtung ausgewählter Textstellen zum literarischen Selbstverständnis einerseits und zum Lebensbegriff andererseits erfolgt eine vertiefte Konfrontation mit dem bisherigen Forschungsstand. Dies mündet im Auswertungsteil dieser Arbeit in begründete eigene Positionsbestimmungen für eine literaturwissenschaftliche und theologiegeschichtliche Einordnung Hildegards. Im Folgenden wird eine innovative Analyse der Selbstdarstellung der Schriften Hildegards als Niederschrift einer Schau (visio) und Audition, vorgelegt. Diese Untersuchung ist in mehrfacher Hinsicht ein eigenständiger, weiterführender Beitrag gegenüber früheren Forschungsergebnissen: Erstens werden mehrere Quellen herangezogen und miteinander verglichen. Neben bekannteren Textausschnitten aus dem Liber Scivias und dem Epistolarium, die die Wahrnehmungstradition der Forschung prägten, werden bislang weniger berücksichtigte aus dem autobiographischen Material der Vita und aus gleichsam testamentarischen autobiographischen Anmerkungen im Kommentar zum Pseudo-Athanasischen Glaubensbekenntnis Quicumque berücksichtigt (Auflistung in der mutmaßlichen³¹ werkgenetischen Reihenfolge): – – –

Liber Scivias, Pars Prima, Visio Prima Liber Scivias, Pars Tertia Undecima, Letzte Audition im Capitulum 16 (= Ende des Liber Scivias) Liber Scivias, Protestificatio

– –

Epistolarium, Ep. 1: Brief an Bernhard von Clairvaux³² Epistolarium, Ep. 103R: Brief an Guibert von Nogent



Liber Divinorum Operum, Epilogus

– –

Vita Sanctae Hildegardis, Autobiographische Passage aus Liber I Vita Sanctae Hildegardis, Liber II , autobiographische Visiones



Hildegardis Bingensis, Testamentarische Nachrichten in der Explanatio Symboli Sancti Athanasii

Zweitens lassen sich durch den Vergleich jener Textcorpora, deren Entstehung Jahrzehnte auseinander liegt und die unterschiedlichen Entstehungskontexten entstam-

 Diese Reihenfolge wurde von mir erstellt. Da Hildegard von jahrelangen Entstehungszeiträumen ihrer Werke spricht (Liber Scivias, Protestificatio , Z ), kann vermutet werden, dass Protestificatio und Epilogus erst nachträglich angefügt werden,vielleicht sogar beide gleichzeitig als Rahmung des Werkes.  Auch wenn das Briefcorpus noch im hohen Alter Hildegards weiter überarbeitet wurde, nicht zuletzt auch seitens Guibert von Gembloux, so ist doch von einer frühzeitigen () Anfrage Hildegards an Bernhard von Clairvaux auszugehen.

2.1 Die Zielsetzung dieses Untersuchungsganges

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men, sowohl wiederkehrende Elemente identifizieren wie durch markante Unterschiede ein Einblick in die literarische Konstruktivität des Textanspruches gewinnen. Folglich wird drittens in dieser Arbeit vermieden, den Anspruch der hildegardianischen Texte, Wiedergabe von Vision und Audition zu sein, lediglich nachzuzeichnen. Obwohl anlässlich der kritischen Edition des Briefcorpus schon längst Unstimmigkeiten in der literarischen Selbstdarstellung Hildegards als kirchlich approbierter Seherin bekannt geworden sind, folgt doch die Darstellung und Einordnung in wissenschaftlichen Handbüchern und Sammelwerken oft allzu vertrauensselig ihren Darstellungsabsichten. Davor soll der genaue Blick auf die Texte bewahren. Inwieweit durch solche Nachforschungen gängige Einordnungsmuster für das Werk Hildegards aus akademischer und ekklesial-panegyrischer Sicht widerrufen werden müssen, sei später in den Auswertungskapiteln dieser Arbeit angesprochen. Freilich kann hier nicht eine umfassende Detailanalyse sämtlicher in Frage kommender Einzeltexte Hildegards zu ihrem literarischen Selbstverständnis geleistet werden. Dies müsste einer weiteren Monographie vorbehalten bleiben. Hierzu liegen einige Erkenntnisse aus der interdisziplinären Hildegard-Forschung vor: Die Hildegardspezialistin Christel Meier erläutert, wie die Gattung der Autobiographie dazu dient, eine metareflexive „Autorgeschichte“³³ zu entwickeln. Im 12. Jahrhundert stabilisierte sich das literarische Konzept eines Autors, der sich in einer fiktiven „Lebensnähe“³⁴ und „Authentizität“³⁵ präsentiert. Man musste so schreiben, um auf die „Akzeptanz“ des damaligen Lesers hoffen zu können. Daher dienen autobiographische Mitteilungen von Schriftstellern nicht nur der Artikulation des Selbstbildes, sondern auch der literarischen Konstruktion der Rolle, die man als Autor in der Gesellschaft einnehmen möchte. Diesen Konnex betont Morgan Powell. ³⁶ Die gezielt angestrebte Öffentlichkeitsrelevanz von visionären Schriften des 12. Jahrhunderts wurde ebenfalls von Christel Meier herausgestellt.³⁷ Davon zeuge insbesondere, so Meier, die geographische Spannweite des Briefwechsels Hildegards, „…von Skandinavien bis nach Mittelitalien, von Prag bis ins westliche Frankreich und nach England“.³⁸

 Christel Meier, „Autorschaft im . Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt,“ in Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Hg. Peter von Moos (Köln/Weimar/Wien: Böhlau, ): .  Christel Meier, „Autorschaft im . Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt,“: .  Christel Meier, „Autorschaft im . Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt,“: .  Morgan Powell, „Vox ex negativo. Hildegard von Bingen, Rupert von Deutz and Authorical Identity in the Twelfth Century,“ in Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Hg. Peter von Moos (Köln/Weimar/Wien: Böhlau, ): .  Christel Meier, „Von der ‚Privatoffenbarung‘ zur öffentlichen Lehrbefugnis. Legitimationsstufen des Prophetentums bei Rupert von Deutz, Hildegard von Bingen und Elisabeth von Schönau,“ in Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, Hg. Gert Melville and Peter von Moos (Köln/Weimar/Wien: Böhlau, ): .  Christel Meier, „Von der ‚Privatoffenbarung‘ zur öffentlichen Lehrbefugnis. Legitimationsstufen des Prophetentums bei Rupert von Deutz, Hildegard von Bingen und Elisabeth von Schönau,“: .

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

Auch der Werkanspruch, eine Theologie als Rede Gottes als des eigentlichen auctor aufzuzeichnen, ist im 12. Jahrhundert nicht außergewöhnlich. Zu diesem Fazit gelangt Felix Heinzer anhand des Beispiels des Fons Philosophiae des Gottfried von St. Viktor. ³⁹ Die in diesem Kapitel von mir erzielten Forschungsergebnisse sind auf die hermeneutischen Erfordernisse für die anschließenden textlichen Recherchen zum Begriff des Lebens hin focussiert: Um Fundstellen zur hildegardianischen Anschauung von „Leben“ (vita) textadäquat zu identifizieren, interpretativ auszuloten und zu synthetisieren, muss stets die Eigenart der Textstruktur im Opus Hildegardianum als Deutungshorizont im Auge behalten werden. Jene leitet sich von der gewählten Darstellungsform als Gottesrede, die als geschaut geschilderte Bilder deutet, ab. Allerdings ist dabei zu beachten, inwiefern die Autorin ihre literarische Selbstdarstellung und ihren scheinbar objektiven Werkanspruch, die Stimme Gottes wieder zu geben, vermengt. Diese Überlappung von Selbststilisierung und Werkstilisierung spiegelt sich in der Vermischung des vorangestellten Geltungsanspruches als Wort Gottes mit Vorgriffen auf theologische Einzelfragen. Die verschiedenen Textcorpora unterscheiden sich unter anderem dadurch, wie intensiv diese Vermischungen von mehreren Darstellungsebenen ausfallen. Zum Beispiel wird geschildert, wie die Schau selbst über die Eigenart der Schau belehre: Die Weisheit im Licht der Liebe lehrt und befiehlt mir davon zu sprechen, wie ich in dieser Vision mein Dasein habe (constituta sum).⁴⁰

Auch der theologische Begriff des Lebens spielt in die Konstruktivität des literarischen Selbstverständnisses Hildegards hinein, sei es in der Benennung des „lebendigen Lichtes“ (lux vivens)⁴¹ als Medium der Vision oder in Anmerkungen zum Begriff des Lebens.⁴²

 Felix Heinzer, „Leselenkung als Selbstinszenierung des Autors. Zum autographen Text- und Bildvorspann von Gottfrieds von St. Viktor ‚Fons Philosophiae‘,“ in Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern, und Handschriften, Medienwandel-Medienwechsel-Medienwissen , Hg. Eckart Conrad Lutz, Martina Backes and Stefan Matter (Zürich: Chronos, ): .  Vita Sanctae Hildegardis, Fontes Christiani , Liber II, Übers. und eingeleitet von Monika Klaes, lateinischer Text nach CCM , , Z  f; Übersetzung von mir. (Das Partizip constitutus wird im Mittellatein als Partizip Präsens von esse verwendet. Es geht also um einen dauerhaften Seinszustand, in dem die Autorin geschaffen sei). In den lateinischen Zitaten dieser Arbeit werden die verschiedenen Orthographien der kritischen Editionen einander angeglichen.  Hildegardis Scivias, CCM , edidit Adelgundis Führkötter, collaborante Angela Carlevaris (Turnhout: Brepols, ), Protestificatio, , Z ; das Gegenstück hierzu in der Rahmung des dreibändigen Visionswerkes im Epilogus des Liber Divinorum Operum, , Z . Diese Bezeichnung findet sich vor allem in der Visionstrilogie und im Briefcorpus, nicht jedoch in den autobiographischen Äußerungen der Vita, die gehäuft den Wahrheitsaspekt der vera visio betonen.  Zum Beispiel ermuntert in einer Vision eine vox gaudii die Seherin persönlich hinsichtlich der Freude des ewigen Lebens (vita autem aeterna gaudebit), um sie so zur Überwindung der Zweifel über

2.1 Die Zielsetzung dieses Untersuchungsganges

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Ein innovativer Ansatz dieses Kapitels ist es, den autobiographischen Passagen in der Vita ein größeres Gewicht als eigenständigen Quellentexten beizumessen.⁴³ Seitens der Herausgeberin der kritischen Edition der Vita, Monika Klaes, wurden sie recht summarisch als möglicherweise gekürzte und umformulierte Auszüge aus anderen Werken Hildegards bezeichnet.⁴⁴ Später präzisierte Klaes jene Einschätzung insofern, dass nicht mehr nachweisbar sei, ob die Autoren und Redaktoren der Vita hier auf eine geschlossene autobiographische Textsammlung zurückgreifen konnten oder jene, möglicherweise noch zu Lebzeiten Hildegards, aus den Archiven auf dem Rupertsberg selbst zusammenstellten.⁴⁵ Meine eigenen Mutmaßungen hierzu seien als Exkurs in einer Fußnote dargestellt.⁴⁶ die Veröffentlichung und Umsetzung der Aufträge in ihren Visionen zu ermutigen. Dadurch erhält sie die Kraft, sich auch dem hiesigen Leben zuzuwenden (ad praesentem vitam, so in Vita, Liber II, , Z  – ).  Bei Michael Embach, Die Schriften der Hildegards von Bingen, , werden sie zwar erwähnt, aber nicht als eigenständige Schrift Hildegards ausgewertet.  Monika Klaes, „Einleitung“ zu: Vita Sanctae Hildegardis, CCM , cura et studio Monicae Klaes (Brepols: Turnout, ): *-*.  Monika Klaes, „Einleitung“ zu: Vita Sanctae Hildegardis / Canonizatio Sanctae Hildegardis, Fontes Christiani , Übers. und eingeleitet von Monika Klaes (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ): .  Im Folgenden seien einige Anmerkungen von mir zur Rekonstruktion einer möglichen Genese des autobiographischen Materials der Vita vorgestellt. Eine umfassendere Begründung dieser Thesen müsste in einer eigenen Monographie hierzu vorgenommen werden. . Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die Darbietung des Materiales im uns heute vorliegenden Endtext der Vita. Sie wurde von Gottfried, einem der Mitarbeiter Hildegards in der Klosterverwaltung, begonnen und von Guibert von Gembloux fortgeführt, der allerdings selbst als ehemaliger Sekretär und Vertrauter Hildegards eine eigene, fragmentarisch erhaltene Vita Hildegards begonnen hatte (Monika Klaes, „Einleitung“ zu FC :  f). Wenn er jene auch nicht fortführte, sondern sich auf das Konzept Gottfrieds stützte, so könnte er jenes doch mit seinen eigenen Aufzeichnungen angereichert haben. Ob das autobiographische Quellenmaterial bereits von Gottfried in den ersten Entwurf der Vita aufgenommen wurde, oder von Guibert bereit gestellt wurde, kann vom derzeitigen Forschungsstand her noch nicht beurteilt werden (Monika Klaes, „Einleitung“ zu FC : ). Die autobiographischen, als Visiones bezeichneten Texte werden ab dem Liber II der Vita nummeriert. Jedoch werden ebenso wie auch schon im Liber I autobiographische Äußerungen ohne Nummerierung eingeschoben. . Die Texte Hildegards sind mit unterschiedlicher Sorgfalt und in unterschiedlich intensiver inhaltlicher Durchdringung mit dem Text der Redaktoren verbunden. Zuweilen erscheinen die Zwischentexte der Redaktoren recht hilflos. (Theoderich bezeichnet seine Arbeitsweise in Vita , Z als contexens visiones, ibd. , Z  als textum visionum …scriptis exarare; die hildegardianischen Visiones werden , Z  unscharf als vastum pelagus bezeichnet.). Dies ist ein Indiz dafür, dass die Autorin trotz der mangelnden formalen Ausbildung in Theologie ihren Mitarbeitern und den Kompilatoren der Vita und des Pentachronon des Gebeno von Eberbach haushoch überlegen war. . Als erster methodischer Schritt, um Rückschlüsse auf das Ausgangsmaterial zu gewinnen, wurden von mir alle Visiones, auch die unnummerierten, aus dem Gesamttext herausgelöst und die Anfangsund Schlusssätze aller Textausschnitte verglichen. Bereits in diesem Untersuchungsstadium finden sich Indizien für eine Disparatheit der verwendeten Quellen aus der Feder Hildegards. Es lassen sich Textgruppen bilden, die sich durch die anschließende inhaltliche Analyse bestätigen:

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

Bereits der holprige Einbau⁴⁷ der Selbstaussagen Hildegards führte zu ihrer Marginalisierung in der Forschungsgeschichte.⁴⁸

. Die ersten drei visiones beginnen im Eingangssatz mit dem Bericht einer Schau, jeweils mit dem Verb videre. Die vierte bettet diesen Bericht von einer vera visio in die Schilderung einer Krankheit ein, an die sich dann später die narratio von der Bekehrung des Philosophen anschließt. Im Abschnitt . werden Hinweise benannt, dass sich jene Begebenheit möglicherweise erst später, nicht schon wie in Vita , Z  f behauptet, während der Abfassungszeit des Liber Divinorum Operum, abspielte. Visio fünf enthält erst gegen Ende eine kurze autobiographische Reflexion. Sie ist Zeugnis der anthropologischen Interessen Hildegards. Ihre Aufnahme in die Vita ist ein Zeugnis, dass bereits in der frühen Rezeption im Kreis ihrer Mitarbeiter die dualistische Grundsicht der Autorin erkannt wurde sowie ein spiritualistischer Grundzug, der sich häufiger im Spätwerk ab dem Liber III des Liber Divinorum Operum bemerkbar macht (vgl. Vita, , Z  – ). In der anschließenden Visio Sexta vermischen sich autobiographische Bemerkungen mit architektonischen Schaubildern zu verschiedenen geistlichen Haltungen verschiedener kirchlicher und sozialer Stände. In der Visio Octava findet sich eine Spur für ein mystisches Erleben Hildegards, in einem Visionsbild, das zunächst subjektiv auf sie bezogen ist und der Seherin persönlichen Trost und Schutz verheißt (Vita, , Z  – ). So kann vermutet werden, dass Hildegard noch mehr Schauungen mit persönlich für sie bestimmtem Inhalt niedergeschrieben hat. Es lässt sich ihr also ein Verständnis von visionärer Mystik unterstellen, in dem auch subjektive Erlebnismystik, in dem es um das individuelle Gottesverhältnis geht, ihren Raum findet. . Ungeachtet seiner inhaltlichen und formalen Disparatheit lassen die Originaltexte Hildegards ebenso wie der frühe Beginn von zwei Projekten einer Vita noch zu ihren Lebzeiten die Vermutung zu, dass Hildegard möglicherweise die Zusammenstellung einer Autobiographie plante. Dies würde sich gut in den Grundduktus ihres Lebenswerkes einfügen, in dem stets auf ihr Autorenschicksal reflektierte.  Hierzu bietet sich eine Analyse des Übergangs im Liber II zwischen dem Einleitungskapitel des Redaktors und dem folgenden Capitulum II aus der Feder Hildegards an: Die Spannung zwischen den beiden Kapiteln tritt deswegen nicht auf den ersten Blick zu Tage, weil der Text Hildegards erst mit einer Beschreibung von „fünf Tönen der Gerechtigkeit“ entlang von heilsgeschichtlichen Stationen der Offenbarung einsetzt. Entweder wurde dieser Textteil von Hildegard selbst der Schilderung ihrer Schau vorangestellt, die von ihr als Entwicklungsgeschehen in die Dynamik der Autobiographie verortet wurde. Damit würde sie die von ihr dargestellte Schau in den Großkontext der allgemeinen, für den Gläubigen verbindlichen Offenbarung einordnen und so deren Anspruch und Bedeutung weg von subjektiver Erlebnismystik überhöhen. Oder es handelt sich um zwei Einzeltexte, möglicherweise durch den Zwischentext Vita, , Z  –  verbunden. Für die literarische Konstruktivität dieses Zwischenabsatzes spricht die geschilderte Aufforderung der göttlichen Weisheit: „Sprich, instruiert durch mich, auf folgende Weise über dich!“ (a.a.O., Z 8 – 10). Sie wird durch den vorausgehenden Mittelsatz des Absatzes verstärkt (a.a.o. Z 6 f), der den Werkanspruch, dass Hildegard ihr theologisches, briefliches und musikalisches Werk als Diktat einer himmlischen Stimme niedergeschrieben hätte, vervielfältigt.  Zudem ist zu beachten, dass die Rezeption des Liber Scivias noch während seiner Vollendung und Jahrzehnte vor der Abfassung des autobiographischen Materiales und der Endredaktion der Vita einsetzte, so dass von unterschiedlichen Rezeptionsverlaufen dieser Werke auszugehen ist, die auch die Forschungsgeschichte färbten.

2.2 Darstellungsstrategien in der Schilderung der visionären Herkunft der Texte

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2.2 Darstellungsstrategien in der Schilderung der visionären Herkunft der Texte Hildegards 2.2.1 Kategorien in der Konstanz und Variation typischer Darstellungswege Die Schriften Hildegards von Bingen können als selbstreferentielle Werke bezeichnet werden. Denn sie berichten alle an Anfang und Ende sowie in Zwischenbemerkungen über ihre eigene Entstehung. Dabei stellt sich die Verfasserin nicht nur als Schreibende dar, sondern als erlebendes Subjekt, das ihre Visionen und Auditionen erst auf einen Schreibbefehl der darin vernommenen himmlischen Stimme zu Papier bringt. Also werden die Produktionsbedingungen des Buches bereits zu einer Signatur seines Inhaltes. Um dem Leser den Duktus ihres Gesamtwerkes als Gottesrede⁴⁹ plausibel zu machen, verfolgt die Autorin bestimmte Darstellungsstrategien. In den unterschiedlichen hier berücksichtigten Textcorpora finden sich wiederkehrende, oft formelhaft eingesetzte inhaltliche Elemente, die je für sich und in ihrer Gesamtheit den Anspruch der Autorin, Gottesrede darzustellen, legitimieren sollen. So kommt jedem der im Folgenden skizzierten Elemente eine bestimmte Funktion im Gesamtsetting der Beweisführung gegenüber dem Leser zu. Dennoch zeigen sich Widersprüche zwischen jenen Einzelelementen und mitunter gravierende Detailabweichungen im Arrangement von einzelnen Elementen in den unterschiedlichen Schriften. Hierbei geht die Autorin jeweils auf mehreren Ebenen vor: Sie schildert erstens die menschlichen Begleitumstände der Entstehungskontexte. Darin wird nicht nur ihre eigene Biographie zum Musterbild einer möglichen Rezeption der Werkaussagen, die als Wort Gottes eingeführt werden. Sondern sie schildert zudem paradigmatisch verschiedene Typen möglicher Reaktionen von Lesern. Sie komponiert zweitens ihre Selbstaussagen über die mit ihrer Biographie verwobenen Entstehungsbedingungen aus literarischen Topoi, die weder rein konventioneller Redeschmuck sind noch vom heutigen Rezipienten naiv wörtlich genommen werden dürfen. Damit verfolgt sie die Doppelstrategie, zugleich den behaupteten göttlichen Ursprung ihrer Schriften zu untermauern und sich trotz der scheinbaren Anmaßendheit dieses Textanspruches über die Einreihung in literarische Konventionen als anpassungsbereit an die Normen der damaligen kirchlichen Gesellschaft zu zeigen.⁵⁰

 Dies könnte man als einen literarischen Versuch sehen, die primäre Begriffsbedeutung von Theologie als Rede Gottes bei Dionysius Areopagita mittels eines durchgängig als Rede Gottes und Dialog Gottes mit dem Menschen ausformulierten Werkes darzustellen.  Vgl. zur Funktion von Topoi, überindividuelle Seelenlagen einer Gesellschaft anklingen zu lassen: Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Tübingen und Basel: Francke, ),  sowie Dieter von der Nahmer, Die lateinische Heiligenvita. Eine Einführung in die lateinische Hagiographie (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), , und Gottfried Kerscher,

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

Zum dritten gibt sie, um die Möglichkeit von an sie ergangenen Visionen zu wahren, einen scheinbaren Einblick in die geistliche Psychologie jenes Geschehens. Geschickt schließt sie dabei, wie noch zu zeigen sein wird, die beiden Extremformen einer halluzinatorischen Täuschung der äußeren Sinne und einer exstatischen Erfahrung aus. Sie weicht in den mittleren Bereich einer lebenslänglichen Mitteilung von Schaubildern und Gottesworten aus, wie sie jedem Christen als Einsprechung des Heiligen Geistes zugänglich sein könnte. Hierbei umgeht sie freilich drängende Detailfragen vom Standpunkt der Gnadenlehre aus.⁵¹ Während sie erst im Spätwerk explizit von einer Geistgewirktheit jener Phänomene spricht, kennzeichnet sie im Liber Scivias das Medium dieser Mitteilungen zurückhaltender als eine himmlische Lichterscheinung, aus der eine Stimme vom Himmel her spricht.⁵² Innerhalb des Großkontextes des Gesamtwerkes stehen jene Einzelstrategien im Zusammenhang mit den Versuchen, eine kirchenamtliche Approbation jener Schriften als „gottgewirkt“ einzuholen. Dabei wurden schon während der Aufzeichnungszeit des Liber Scivias kirchlichen Vorgesetzten Antwortschreiben aufgenötigt, die in umgearbeiteten Fassungen in die frühen Sammelhandschriften des Gesamtwerkes eingingen. Langfristig ging jedoch die im Mittelalter nicht unübliche Taktik, über literarische Fiktionen Wirklichkeit zu schaffen, auf: Verhinderte doch die geschichtswissenschaftlich erwiesene Fiktionalität jener behaupteten Sachverhalte keineswegs die jüngsten kirchlichen Urteile über die Heiligkeit der Person und der fides orthodoxa ⁵³ der Schriften Hildegards als Kirchenlehrerin. Diese Urteile können im Sinn einer heutigen kirchenamtlichen Zustimmung zum Geltungsanspruch der Werke Hildegards verstanden werden. In diesem Untersuchungsabschnitt meiner Arbeit geht es lediglich darum, literarischen Darstellungsmustern dieses Geltungsanspruches nachzuspüren. Eine Ent-

„Topoi und neuronale Strukturen,“ in Hagiographie und Kunst. Der Heiligenkult in Schrift, Bild und Architektur, Hg. v. Gottfried Kerscher (Berlin: Reimer, ): .  So wäre es etwa fraglich, ob eine zur Auferbauung von Dritten gewährte gratia gratis data in lebenslänglicher Konstanz gewährt wird. Statt von einer Übernatürlichkeit der Schau wird nur von deren himmlischen Ursprung gesprochen.  Im ersten Satz der Protestificatio, , Z  –  heißt es: cum caelesti visioni ..inhaererem, vidi maximum splendorem, in quo facta est vox de caelo ad me dicens. Lichtgabe, Bildgabe und deutende Stimme erscheinen also von Anfang an im Verbund.  So schon  das Urteil von Gerhard Ludwig Müller, „Die hl. Hildegard von Bingen vor dem Geheimnis des dreifaltigen Gottes“ in Hildegard von Bingen.  – . Bingener Geschichtsblätter : : „Wenn sich Hildegard in ihrem Schrifttum auch in der Art der Darstellung ihrer Einsichten von der Fachbegrifflichkeit und der methodisch-systematischen Komposition unterscheidet, so kommt sie doch mit ihnen überein in der Quelle des Glaubens und im Bezug auf die normativen Vergegenwärtigungsformen der Offenbarung Gottes in Jesus Christus.“

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scheidung über dessen faktische Legitimität aus dogmatischer Warte soll nicht getroffen werden!⁵⁴

2.2.2 Originalität im Rahmen der Autorenkunst des 12. Jahrhunderts: Autobiographische Verortung des Berichtes von einer ekklesial relevanten Sendung 2.2.2.1 Topos von der Kindheit als heiligem Ursprung In allen literarischen Darstellungen über die Art ihrer Schau betont Hildegard deren Beginn von Kindheit an.⁵⁵ Dadurch unterstreicht sie zum einen die Kontinuität ihres Lebenswerkes bis zum Zeitpunkt ihrer Reflexion darüber als über 70 Jährige.⁵⁶ Zum anderen soll dadurch der göttliche Ursprung ihrer Schriften betont werden.⁵⁷ So lässt sich erklären, warum die Autorin bei einer Erwähnung des frühen Beginns ihrer Schau jenen in die Zeit im Mutterleib zurück verlegt.⁵⁸ Dies entspricht dem usus in Heiligenlegenden, die spätere Auserwähltheit und Heiligkeit des Protagonisten durch Zeichen oder Vorkommnisse während der Schwangerschaft zu betonen.⁵⁹ Dass diese –

 Zur prinzipiellen dogmatischen Denkmöglichkeit einer Privatoffenbarung mittels Vision und Audition vgl. Karl Rahner, Visionen und Prophezeihungen. Zur Mystik und Transzendenzerfahrung, Hg. von Josef Sudbrack (Freiburg im Breisgau: Herder ), .  Hierbei variieren in den verschiedenen Texten die Altersangaben: Liber Scivias, Protestificatio, , Z  – : a puellari aetate, scilicet a tempore illo cum quinquennis essem usque ad praesens tempus. Recht unbestimmt die Angabe in dem Brief an Bernhard von Clairvaux: ab infantia mea vidi magna mirabilia (CCM XCI, , Z ). Ähnlich in dem Jahrzehnte späteren Brief an Guibert von Gembloux Ep. CIII R, ,  – : Ab infantia mea…visionis huius munere in anima mea usque ad praesens tempus semper fruor, cum iam plus quam septuaginta annorum sim. Dass Hildegard jedoch den Ausdruck pueritia auch in einem weiteren Sinn für ihre Zeit als Jugendliche und junge Frau verwendet, erhellt eine Wendung aus der Explanatio Symboli Sancti Athanasii: sicut ego mater vestra a pueritia mea vos admonui (Explanatio, CCM , , Z  f).  Vita, ,  – : Ab infantia autem mea …visionem hanc in anima mea usque ad praesens tempus semper video, cum iam plus quam septuaginta annorum sim.  Dabei kann in verschiedenen Viten das puer-senex- Motiv durchaus unterschiedlich ausgestaltet werden und muss ihm nicht von vornherein der Wert als historische Quelle abgesprochen werden. (So Dieter von der Nahmer, Die Lateinische Heiligenvita,  – .) Die Wertschätzung kindlicher Spiritualität zeigt sich in einer Preisung in der zeitgenössischen Autobiographie des Guibert von Nogent, De vita sua Monodiarum libri tres, PL :  f.  Vita ,  – : In prima formatione mea, cum Deus in utero matris meae spiraculo vitae suscitavit me,visionem istam infixit animae meae. Zu beachten ist die Wahl des Verbs infixit: Damit soll die Dauerhaftigkeit der Schaugnade herausgestellt werden. Dies kann aus theologischer Sicht durchaus fragwürdig sein.  Diese Stilisierung findet sich nicht in dem von Theoderich von Echternach überarbeiteten und zunächst von Guibert von Gembloux konzipierten Beginn der Vita. Dies ist erstaunlich. Denn es hätte sich der Gebrauch jenes topologischen Motivs doch gerade in einer zum Zweck der Erlangung einer Kanonisation Hildegards verfassten Vita bestens angeboten. Dies ist einer von mehreren Hinweisen darauf, dass das autobiographische Material Hildegards nicht mit der Sorgfalt eingearbeitet wurde, die

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gegenüber den anderen in diesem Kapitel berücksichtigten Quellentexten einmalige – Vordatierung einer literarischen Konstruktion entstammt, bestätigt sich durch den Folgesatz, in dem die Schriftstellerin ihr Geburtsjahr 1098 auf die symbolträchtige Jahreszahl 1110 verlegt. So stellt sie ihren Lebensgang und die Gabe der Schau durch die kausale Konjunktion nam als Sendung in eine Verfallszeit⁶⁰ dar, die durch Glaubenszweifel (haesitationes)⁶¹ geprägt sei.⁶²

2.2.2.2 Formalobjekte und Medialität der behaupteten göttlichen Mitteilungen 2.2.2.2.1 Gott selbst bleibt hinter dem Rufen seiner Stimme verborgen Obwohl es das durchgängige Anliegen der Autorin ist, ihre Visiones als gottgewirkt zu erweisen, tritt der göttliche auctor hinter Bild und Stimme in einen imaginativen Hintergrundraum zurück, auch dort, wo er von der Textoberfläche her zum Leser spricht. Hierin unterscheidet sich das Opus Hildegardianum von zeitgenössischer Visionsliteratur.⁶³

dem Ziel einer baldigen offiziellen Heiligsprechung besser gedient hätte. Da der erste Werkteil seines Vorgänger Guibert nicht tiefgreifend überarbeitet wurde (Vita, , Z  – : ut praefati viri liber primae positionis locum obtinens nullam suae dispositionis patiatur iacturam.) sind die darin zitierte Originaltexte Hildegards nicht bei der Zählung ihrer sog. Visiones im Liber II berücksichtigt.  Vgl. die Kennzeichnung ihrer Zeit im Liber Scivias, Pars Tertia,Visio , Capitulum , , Z  – . Dort wird der Anspruch erhoben, dass die Aufzeichnungen Hildegards dazu dienen, Erkenntnisse, die eigentlich schon in den umfangreichen Kommentaren zur Bibel zu finden wären, nun wieder als „nova secreta und multa mystica“ (a.a.O., Z ) zu verkünden. Die Qualifizierung der jeweiligen Gegenwartszeit des vorläufigen Pilgerstandes als defiziente Greisenzeit in der Attributverbindung senescens mundus geht zurück auf das Eingangsmotiv bei Gregor dem Großen, Homiliae in Evangelia, Homilia I,, FC /, , Z . Gegenpol ist nach Gregor die jenseitige alia vita (Homiliae in Evangelia, Homilia I, , ,  – ), ein Begriff, der von Hildegard des Öfteren aufgenommen wird. Hier handelt es sich nicht um einen theoretischen Begriff, sondern diese Gegenvorstellung im Glauben führt zu lebensveränderndem Handeln im Diesseits: Sed absit hoc a fidelium cordibus, absit ab his qui et esse aliam vitam per fidem credunt, et eam per operationem diligunt.  Präziserer Wortsinn: Zögern vor der Glaubenszustimmung.  Vita, , Z  – : Nam post incarnatioem Christi anno millesimo centesimo doctrina apostolorum et ardens iustitiam quam in christianis et spiritualibus constituerat, tardere coepit et in haesitationem vertebatur. Hellhörig sollte hier das Nomen in spiritualibus machen! Zu der mutmaßlichen Abfassungszeit jener Notiz stand es bereits als Fachausdruck für reformfreudige oder gar heterodoxe geistliche Bewegungen des Christentums, die Hildegard hier in einem Hendiadyion in die Zeit des Urchristentums verlegt, wobei sie deren Orthodoxie durch den Hinweis auf die doctrina apostolorum behauptet (Zur Berührungen der späteren franziskanischen Spiritualen-Bewegung mit der aus dem . Jahrhundert stammenden Geistigkeit des Joachitismus vgl. Dieter Berg, „Spiritualen,“ in LThK  , .)  Zwar weist auch Rupert von Deutz auf die eigentliche Unausdrücklichkeit einer Schau Gottes in Menschenworten hin, er schildert jedoch dennoch Konkreta der personalen Erscheinung des Sohnes Gottes: vidi ipsum vigilans in cruce viventem … Qualis autem visus est aspectus eius?…Vultus eius miro et ineffabili modo sese demittens. (Ruperti Tuitiensis De Gloria et honore Filii Hominis super Mattheum, CCM , edidit Hrabanus Haake (Turnhout: Brepols, ), , Z  – ).

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In manchen Textpassagen des Visionswerkes besteht sogar die Gefahr, dass die Personalität Gottes, die die Sprecherstimme trägt, durch die abstrakteren Bezeichnungen von mit ihm identischen Tugenden zu wenig akzentuiert wird.⁶⁴ Diese Gefahr erhöht sich dadurch, dass jene Tugenden an anderen Stellen deutlicher als Hilfsmittel für den Menschen qualifiziert werden.⁶⁵ Hingegen präsentiert sich im Liber Scivias die Szenerie konkreter: Während in der möglicherweise nachträglich vorangestellten Protestificatio nur von einer vox de caelo als Gesprächspartnerin Hildegards die Rede ist, benennt das Schaubild der ersten Vision jemand, der über einem Berg sitzt, als Sprecherstimme, die mit kräftiger, deutlicher Artikulation aus dem Text heraus den Menschen anruft.⁶⁶ So solle auch der Text Hildegards deutlich rufen (clamare).⁶⁷

2.2.2.2.2 Verbund von Audition und Vision Obwohl sich das theologische Gesamtwerk Hildegards aus Visiones zusammensetzt, ist in ihren Schilderungen die auditive Vermittlung stärker ausgeprägt.⁶⁸ Dies entspricht dem Vorrang des Wortes Gottes in der alttestamentlichen Prophetie.⁶⁹ Gleichermaßen betont die Regula Benedicti den Vorrang des Hörsinnes in geistlichen Lernprozessen.⁷⁰

 Z. B. die Redeweise in der Explanatio Symboli, , Z : caritas in sapientia dicit.  Hier in einer Verwendungsweise, in der nicht immer klar ist, bei welchem Satzkolon mehr von einer Tugend Gottes (sapientia, caritas) und einer Tugend des Menschen oder des Menschen Jesus gesprochen wird (humilitas, oboedientia): Deus enim hominem in sapientia creavit, in caritate eum vivificat, in humilitate vero et oboedientia illum rexit, quatenus intelligeret quomodo vivere deberet. (Explanatio Symboli, ,  – ).  Liber Scivias, Pars Prima, Visio Prima,  f, Z  f: Et ecce idem qui super montem illum sedebat fortissimo et acutissima voce clamabat dicens.  Liber Scivias, Pars Prima,Visio Prima, , Z : Surge ergo, clama et dic. Dieser Zuruf ist ähnlich als Schlusssatz in die Protestificatio aufgenommen: Clama ergo et scribe sic. (Liber Scivias, Protestificatio, , Z  f).  Dies widerspricht dem landläufigen Bild von Hildegard als Verfechterin einer Bildtheologie, wie etwa in der insgesamt kenntnisreichen und dicht auf die hildegardianischen Texte bezogenen Monographie von Christian Feldmann, Hildegard von Bingen. Nonne und Genie (Freiburg im Breisgau: Herder ), f. Zudem bemisst sich das Visionäre der Prophetie weniger an den Vermittlungsmedien ihrer Botschaft – wobei Hildegard ja auch die Schaubilder in Worten berichtet! – sondern als Vorstellungskraft von dem Heil, das Gott verwirklichen will, über jene „Gottesträume von einer Zukunft“ (Erich Zenger, „Verrückt sind diese Propheten. Zeitdiagnostik und Prophetie,“ Renovatio  (): ). Biblische Prophetie ist zumeist als Schriftprophetie vom Wort Gottes überliefert (a.a.O., ).  Die Attributverbindung des „Wortes Jahwes“ ist eine besondere Eigentümlichkeit der prophetischen Schriften im Alten Testament. (Vgl. Gerhard von Rad, Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels, Bd. , Theologie des Alten Testaments (Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, ), ).  Regula Benedicti, Prolog, , lateinisch/deutsch, Hg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz (Beuron: Beuroner Kunstverlag, ), : obsculta … et inclina aurem cordis tui. Zum Hören wird aufgerufen (RB Prolog, f.), um die Wege zum Leben finden zu können (RB Prolog  – ).

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Das Zusammenspiel von Hören, Schauen und Verstehen in Hinblick auf religiöse Erkenntnisse zum Begriff des Lebens ist im Ersten Johannesbrief (1 Joh 1,1 f) beschrieben. Diese Passage könnte als neutestamentliche Hintergrundfolie⁷¹ für das Selbstverständnis von Hildegard als Autorin gedient haben: Was wir gehört haben und gesehen haben…, was wir durchschaut haben über das Wort des Lebens und was sich als Leben offenbart hat.

Zwar werden zumeist „Hören“ und „Sehen“ in den literarischen Selbstreflexionen Hildegards parataktisch auf einer Ebene von Relevanz angeführt, wobei das Hören zuerst genannt wird.⁷² Aber ebenso finden sich Wendungen, die in einer Attributverbindung ebenso den dichten Verbund⁷³ beider Vermittlungskanäle zum Ausdruck bringen wie die Funktionalität der Schau für die Audition:⁷⁴ In der Schau höre ich.⁷⁵

Entsprechend dieses Satzmusters, in dem zum Nomen der Schau das Verb über eine Aktivität der Rezipientin der Schau tritt, wird die Schau eben nicht als eine Sachgnade geschildert, die dann auf dingliche Weise in reiner Objektivität an den Leser der Niederschrift der Visionen weitergegeben wird. Sondern es gehört zu ihrer Eigenart, ausdeutende Aktivitäten bei der Empfängerin auszulösen: Die Vision lehrte mich, und lies mich erklären (explanare).⁷⁶ In der Vision diktierte ich, sang, und schrieb ich auf.⁷⁷

 Als weiteres neutestamentliches Textvorbild für das hildegardianische Verständnis von Schau könnte  Petr , –  angenommen werden. Einen synoptischen Vergleich mit  Kor ,  –  bietet Maura Zátonyi, Vidi et intellexi. Die Schrifthermeneutik in der Visionstrilogie Hildegards von Bingen, Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters NF  (Münster: Aschendorff, ), .  Z. B. Vita , Z : audivi et vidi. Die von Hieronymus geprägte Formel des videre verbum in seiner Übersetzung von der alttestamentlichen Einleitungsformeln Jes , sowie Amos ,/ Micha , und Jer , zielt weniger auf die Bildlichkeit einer Vision den auf die Erkenntnis des Logos Christus im vernommen Wort Gottes (Vgl. Rainer Berndt, „‚Im Angesicht Gottes‘. Zur Theologie der Vision bei Hildegard von Bingen,“ in „Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst“. Hildegard von Bingen ( – ), Erudiri Sapientia II, Hg. Rainer Berndt (Berlin: Akademie, ):  – .).  Zu jenem Verbund in der alttestamentlichen Prophetie bei einem gewissen Vorrang der Audition vgl. Klaus Seybold, Poetik der prophetischen Literatur im Alten Testament, Poetologische Studien zum Alten Testament  (Stuttgart: W. Kohlhammer, ), .  Vgl. hierzu Abschnitt . dieses Kapitels.  Ep. r, , Z .  Vita, ,  f.  Vita ,  f.

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Das Hören dessen, was im Medium einer lichthaften Schau dargeboten wird, mündet also in eine Vielzahl von weiteren Aktivitäten der Autorin, in Einsicht, Wissen, Diktat, Verschriftlichung, Vortrag, Ausdeutung, Gesang. Die Schau ist in der Darstellung Hildegards nicht nur inhaltliche Mitteilung, sondern Movens für vielfältige Kreativität. Es ist also eine ihrer literarischen Strategien, die Audition in der Vision als vornehmliche Entstehungsursache für ihr Lebenswerk vorzustellen. Hierbei könnten die erzählten Bildlichkeiten ihrer Schau auch im Sinne der erkenntnistheoretischen Integumenten-Lehre gedeutet werden. So wurden ähnlich in der Schule von Chartres in neuplatonischer Tradition Sprachbilder entworfen, um schwer ausdrückbare Sachverhalte in der Naturphilosophie anzudeuten.⁷⁸ Daher ist es nicht statthaft, Hildegard als sogenannte Bildtheologin und Vertreterin eines Symbolismus⁷⁹ zu deklarieren in strikter Opposition zu den wissenschaftlichen theologischen Schulen ihrer Zeit.⁸⁰

2.2.2.2.3 Literarische Strategien, um die Visionen als echte Gottesrede auszuweisen In ihren letzten Schriften, so in den autobiographischen Skizzen der Vita und den Nebenbemerkungen in der Explanatio Symboli verwendet die Autorin den Terminus der Visio oft in der formelhaften Wendung einer vera visio. ⁸¹ Dahinter steht mehr als das Bemühen, den Leser immer wieder an die von ihr beanspruchte Echtheit des göttlichen Ursprunges ihrer Meinungen und Schriften zu erinnern. Der Terminus der „Wahrheit“ soll nicht nur ihren Hinweis auf die kirchliche Anerkennung ihrer Schriften unterstützen.⁸² Sondern diese formelhafte Attributverbindung, dicht verbunden durch die Stilfigur der Alliteration, kann auch ein Indiz dafür sein, dass sich im Spätwerk Hildegards ihre erkenntnistheoretischen Interessen  Zu einer dementsprechenden Ähnlichkeit zwischen der theologischen Methode in der Schule von Chartres und der sogenannten monastischen Theologie vgl.Winthrop,Wetherbee, Platonism and Poetry in the Twelfth Century. The literary influence of the School of Chartres (Princeton: Princeton University Press, ), .  Zur Theorie einer symbolistischen Theologie im . Jahrhundert vgl. Alois Dempf, Sacrum Imperium. Geschichts- und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ),  f.  Für eine Dynamisierung der Wahrnehmungskonventionen der Theologiegeschichte, die lange die wissenschaftlichen und die monastischen Schulbildungen des . Jahrhunderts als zwei einander diametral gegenüberstehende Blöcke wahrnahm, plädiert Frank Bezner, Vela Veritatis. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der intellectual history des . Jahrhunderts, Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters  (Leiden/Boston: Brill, ),  f. So unternahmen Mönche Studienaufenthalte an französischen Kathedralschulen (Bardo Weiß, Mystik und Institution. Zu den Visionen Ruperts von Deutz , Theos , Hamburg: Dr. Kovac, ),  f.)  Vita, , Z ; Vita, , Z ; Vita , , Z  f; Vita, , Z ; Vita, , Z ; Vita, , Z  f u. Z ;Vita , Z  u. ; Explanatio Symboli , Z ; sowie Liber Divinorum Operum, Epilogus, , Z .  Die Erwähnung der kirchlichen Billigung ihrer Schriften in Mainz sowie durch Eugen III. in Trier in Vita, ,  – .

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

verstärken: In der Schau soll Wahrheit vermittelt werden und deswegen muss die Schau als gottgewirkt und kirchlich approbiert bezeichnet werden. Hier tritt freilich der Widerspruch auf, dass sich die Texte nicht aus sich heraus, immanent als „wahr“ bezeugen können, sondern für ihren Wirkungsanspruch auf die äußere kirchliche Bestätigung angewiesen sind. Daher müssen die hildegardinanischen Texte diesen Hinweis immer wieder in sich integrieren.⁸³ Quellenbelege für eine kirchliche Billigung der ersten Textteile aus dem Liber Scivias durch kirchliche Vorgesetzte finden sich nur einseitig im Opus Hildegardianum. Auch Michael Embach, ein exzellenter Kenner des Quellenmaterials, referiert jene ohne Vorbehalte.⁸⁴ Eine Notiz seitens päpstlicher oder regionaler Archive bezüglich einer Billigung der Schriften Hildegards auf dem Trierer Provinzialkonzil 1147/1148 ist bislang nicht nachweisbar. Denn die Angaben in den offiziellen Papst-Regesten stützen sich wiederum nur auf die Aussagen von Hildegard und den Coautoren ihrer Vita. ⁸⁵ Doch auch heutige Historiker werten sie als Nachweis einer päpstlichen Approbation der Visionsschriften Hildegards.⁸⁶ Eine weitere Quelle, die hierfür als Beleg herangezogen wird, der Brief 199 des Johannes von Salisbury, spricht aber von keinem kirchlichen Akt der Prüfung und Gutheißung, sondern nur von vertrauten Beziehungen zwischen Eugen III. und Hildegard.⁸⁷

 In der Protestificatio erfolgt hierzu nur ein summarischer Verweis auf die kirchlichen Oberen zur Entstehungszeit des Werkes (Liber Scivias, Protestificatio,,  – ). Dies könnte ein Hinweis sein, dass die realen Reaktionen Eugen III. zurückhaltender ausgefallen waren. Dem einzigen erhaltenen Schreiben von Papst Eugen III. an Hildegard (Ep. ), motiviert durch eine ordensrechtliche Detailfrage, könnte sogar eine deutliche Reserve gegenüber dem damaligen Ruf Hildegards entnommen werden. Unter Abschnitt . werden Anmerkungen zur angeblichen posthumen Prüfung der Werke Hildegards durch Pariser Magistri vorgenommen werden, wie sie der abschließende Abschnitt der Canonizatio behauptet (Canonizatio Sanctae Hildegardis, Fontes Christiani ,  (kritische Erfassung des lateinischen Textes durch Monika Klaes).  Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen. Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Erudiri Sapientia IV (Berlin: Akademie, ),  – .  Regesta Pontificum Romanorum, ab condita ecclesia ad annum post christum natum MCXCVIII, edidit Philippus Jaffé, editionem secundam correctam et auctum auspiciis Gulielmi Wattenbauch, Tomus Secundus, (Leipzig: Rudolf de Decker, ), .  So Michael Horn, Studien zur Geschichte Papst Eugen III. ( – ), Europäische Hochschulschriften Reihe III. Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Band  (Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris: Peter Lang, ), ; ferner Marlene Meyer-Gebel, Bischofsabsetzungen in der deutschen Reichskirche vom Wormser Konkordat () bis zum Ausbruch des Alexandrinischen Schismas (), Bonner Historische Forschungen  (Siegburg: Franz Schmitt, ), .  Joannis Saresberiensis postea Espicopi Carnotensis Opera Omnia, nunc primum in unum collegit et cum codicibus manuscriptis contulit J.A. Giles,Volumen II. Epistolae, , unveränderter Nachdruck, Leipzig: Zentralantiquariat der Deutschen Demokratischen Republik, , Ep. , Ad magistrum Giradum Pucelle (), : saltem visiones et oracula beatae illius et celeberrimae Hildegardis apud vos sunt, quae mihi ex eo commendata est et venerabilis, quod eam dominus Eugenius speciali caritatis affectu famliaribus amplectebatur.

2.2 Darstellungsstrategien in der Schilderung der visionären Herkunft der Texte

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Hier macht sich das Desiderat einer wissenschaftlichen Biographie zu Hildegard von Bingen bemerkbar.

2.2.2.2.4 Verschattungen und Verzögerungen der Schau Um die Echtheit der Schau zu legitimieren, werden ihre befremdenden⁸⁸ Aspekte im Sinne eines mysterium tremens ausgeschildert. Wenngleich die subjektiven Reaktionen der Seherin nicht übergangen werden, so erscheint das Geschehen der Schau doch als etwas Übermächtiges und Zwingendes.⁸⁹ Dies fließt bereits in die Komposition des ersten Satzes des Liber Scivias ein. Er eröffnet das Gesamtwerk, wie es schon zu Lebzeiten Hildegards als eine handschriftliche „Ausgabe letzter Hand“ zusammen gestellt worden war:⁹⁰ Und siehe, im 43. Jahr meines zeitlichen Lebenslaufes, sah ich, als ich in großer Angst und zitternder Aufmerksamkeit einer himmlischen Schauung anhing (inhaerem), einen sehr hellen Glanz, in dem sich eine Stimme aus dem Himmel ereignete, die zu mir sprach.⁹¹

Neben dem Bezug auf biblische Erfahrungsmuster, gemäß derer die Visio als Alteritätserfahrung gekennzeichnet wird, um ihre Faktizität zu unterstreichen, hat dies einen tieferen systematisch-theologischen Grund: Zwar geht Hildegard nicht auf damit zusammenhängende Grundoptionen der christlichen Gnadenlehre ein.⁹² Doch sie schildert die Schau als eine Erlebnisgröße, die einerseits dem Menschen fremd erscheint, weil sie sich von seinen Erlebnismodi abhebt. Andererseits kann sie sich intensiv dem Menschen annähern, so dass er von ihr „durchdrungen“ wird.⁹³ Von diesem Denkrahmen her wird die häufige, auf den ersten Blick pleonastisch anmutende Verwendung der Attribute mysticus und mysterium als Beiworte⁹⁴ der Visio nachvollziehbar.⁹⁵ Die Vorsilbe my(o)- bedeutet das Verschließen der äußeren Sinne.⁹⁶

 Vita , Z  f: multa quae … aliena erant.  Vita , Z : vis visionis.  Hier handelt es sich um ein im Mittelalter seltenes Phänomen, das – insbesondere für das Epistularium –, neben dem Text der heutigen kritischen Editionen im Digitalisat (Hessische Landesbibliothek) des überlieferungsgeschichtlich einflussreichen Wiesbadener Riesenkodex als Ausgabe „letzter Hand“ einzusehen ist. (Vgl. Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen,  f).  Liber Scivias, Protestificatio, , Z  – .  Zur Gnadenlehre Hildegards vergleiche das Kapitel . dieser Arbeit  Vita ,  f: hac visione pleniter perfundebat.  Vita , Z : in mystica visione; Vita , Z  f: mysticam et mirificam visionem. Diese Attributverbindung prägte Dionysius Areopagita in der Einleitung seiner Mystica Theologia. Vgl. hierzu: Kurt Ruh, Die Grundlegung der Kirchenväter und die Mönchstheologie des . Jahrhunderts, Bd., Geschichte der abendländischen Mystik (München: C.H.Beck, ), .  Michael Zöller, Gott weist seinem Volk seine Wege. Die theologische Konzeption des „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen ( – ), Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie  (Tübingen: Francke ),, attestiert für den Bedeutungsradius des Wortes mysticus bei Hildegard objektiv-

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

Bei Paulus vertritt mystikos den bleibenden „Verborgenheitscharakter“⁹⁷ der Offenbarung über und durch Christus. Wie noch zu zeigen sein wird, verweist Hildegard mit diesem Lexem, wie schon im Sprachgebrauch des zweiten Jahrhunderts nach Christus,⁹⁸ auf den inneren Tiefensinn der biblischen Schriften. Möglicherweise folgt sie in dem Sprachgebrauch von einer mystica visio bereits der neuen Übersetzung des Corpus Dionysiacum durch Johannes Saraszenus von 1167.⁹⁹ Diese Vermutung von mir wäre ein Indiz dafür, dass Hildegard Zugang zu aktuellen wissenschaftlichen Errungenschaften ihrer Zeit hatte und sie, wo es ihr dienstlich erschien, für ihr Werk in Anspruch nahm. Gleichzeitig markiert sie in mehrfacher Hinsicht Vorbehalte gegen einen Erkenntnisoptimismus. Diese Vorbehalte gelten nicht allein Mankos in der menschlichen Erkenntnisfähigkeit.¹⁰⁰ Sondern der Modus der Schau selbst belässt manches in Zwielicht und Dunkelheit. Dies illustriert die Autorin durch die Sprachbilder von Schatten (umbra)¹⁰¹ und Wolke (nubes). Auf letzteres soll unten unter 2.2.3 eingegangen werden. Auch wenn der Liber Scivias sozusagen mit einem „vollen Lichtkegel“ einsetzt,¹⁰² spielt in allen Werken Hildegards die Unterscheidung zwischen der „Schau im Licht“ und der „Schau im Schatten des lebendigen Lichtes“ eine große Rolle.

allgemeingültige Aussagen über Verborgenes, das nur dem geistlichen Sinn zugänglich ist. Dass dies zu unspezifisch ist, wird von mir in dem Untersuchungsgang dieses Kapitels nachgewiesen.  Vgl. Otger Steggink, „Mystik,“ in Praktisches Lexikon der Spiritualität, Hg. Christian Schütz, (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ): .  Hans Urs von Balthasar, „Zur Ortsbestimmung christlicher Mystik,“ in Grundfragen der Mystik, Kriterien , Hg.Werner Beierwaltes, Hans Urs von Balthasar and Alois M. Haas (Einsiedeln: Johannes, ): .  Vgl. Bernhard McGinn, „Mystik. III. Historisch-theologisch,“ in LThK  : .  Dionysiaca, Faksimile – Neudruck der zweibändigen Ausgabe Brügge  in vier Bänden, Bd.  (Stuttgart-Bad Canstatt: Frommann-Holzboog, ), . Übersetzung des Beginns der Theologia Mystica durch Johannes Saraszenus: Tu autem, o amice Timothee, circa mysticas visiones forti contritione et sensus derelinque. (Hervorhebung von mir). Frühere Übersetzungen übersetzen die griechischen mystika theámata als mysticis spectaculis oder mysticas speculationes oder mysticas contemplationes.  Dafür stehen die Schattenwürfe im Höhlengleichnis Platons (Politeia a-b; siehe: Heinz Druegh, „Schatten,“ in Metzler Lexikon literarischer Symbole, Hg. Günter Butzer and Joachim Jacob (Stuttgart: J.B. Metzler, ): .  Dem Symbol des Schattens eignet eine Ambivalenz zwischen Rückzug des Lichtes und Hinweis auf einen höheren Schutz (So Christoph Wetzel, Das große Lexikon der Symbole (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), ). Letzterer Pol macht verständlich, warum Hildegard den „Schatten des lebendigen Lichtes“ als einen lebenslangen Begleiter vorstellt. Hier folgt sie einem inhaltlichen Schwerpunkt in den Formulae des Eucherius von Lyon: Umbra, ut indicavimus, significatur protectio divina (Formulae spiritalis intelligentiae , CSEL , VII, S. , Z .  Liber Scivias, Protestificatio,  f, Z  – : maximae coruscationis igneum lumen …totum cerebrum meum transfudit. Im nächsten Teilsatz erfolgt eine Anspielung auf den brennenden Dornbusch Ex ,  f: flamma non tamen ardens sed calens (Protestificatio, , Z ).

2.2 Darstellungsstrategien in der Schilderung der visionären Herkunft der Texte

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1175,vier Jahre vor ihrem Tod, differenziert die Autorin in einem Schreiben an ihren späteren Sekretär Guibert von Gembloux (1124/25 – 1213),¹⁰³ der eine entscheidende Rolle bei der Überarbeitung ihres Gesamtwerkes spielen wird, zwischen jenen beiden Modi der Schau. Dabei grenzt sie die Schau im Schatten als permanente Verfassung, und die Schau „im lebendigen Licht“ als seltenes Ereignis voneinander ab: Und in diesem Licht erblicke ich ein anderes Licht, das mir als das lebendige Licht (lux vivens) benannt wird, manchmal und nicht heute… Meine Seele entbehrt aber zu keiner Stunde des zuvor genannten Lichtes, das der Schatten des lebendigen Lichtes (umbra viventis luminis) genannt wird.¹⁰⁴

Diese zwei verschiedenen Formen von Licht als Erkenntnismedium prägen die wechselhafte Lichtregie der Visionsbeschreibungen in der Visionstrilogie. Die Autorin macht sie ferner für sich verschiebende Schwerpunktsetzungen innerhalb der Werkchronologie verantwortlich: Ein weiteres Gebäude blieb mir aber in der Schau verborgen, so dass ich die Worte über es noch nicht gelernt habe (didici). Aber ich hörte in dem wahren Licht, dass eine zukünftige Schrift, die über jenes geschrieben werden wird, stärker und herausragender als die vorhergehenden sein würde.¹⁰⁵

Solche Erkenntnisverzögerungen¹⁰⁶ und Verschattungen sind jedoch nicht nur im Sinn einer apophatischen Theologie aufzufassen. Sondern sie hängen mit dem Versuch Hildegards zusammen, über die Metaphorik des Spiegels die Bedingungen der Möglichkeit religiöser Erkenntnis durch den Menschen überhaupt erst positiv zu fundieren. Der Spiegel fungiert als Vermittlungsinstanz, um die eigentliche Inkommensurabilität zwischen dem menschlichen Erkenntnissubjekt und Gott als Objekt seiner Erkenntnis zu vermitteln. Dies ist möglich, weil Gott nicht nur das Objekt der menschlichen Erkenntnis ist, sondern im Erkenntnisvorgang zugleich Subjekt ist, das das Erkenntnismedium des Lichtes und die menschlichen Erkenntnisprozesse trägt. So kommt es im Erkenntnisprozess dialogisch auf den Menschen zu. Dieser Sachverhalt wird jedoch von Hil-

 Siehe Tilman Struve, „Wibert v. Gembloux,“ in LThK  : .  Ep. r, ,  f,  f.  Vita, , Z  – , Z  – . Man könnte auch übersetzen: „…eine zukünftige Schrift, die aufgrund (de illo) von jenem (aedificium = Heilsgebäude) geschrieben wird…“. Unklar bleibt, ob Hildegard damit ein weiteres, nicht mehr realisiertes oder überliefertes Buchprojekt meint, oder Werkpassagen mit Bausymbolik etwa aus dem Liber Divinorum Operum.  Jene spiegeln sich in symptomatischen Darstellungsverzögerungen in der Architektonik einzelner Visiones, wenn zum Beispiel eine geschaute Tugendfigur erst in Aussehen und religiöser Funktion umschrieben wird, ehe erst später im Text ihr Name genannt wird. So wird der Leser in die Erkenntnisverzögerung der Autorin, die von ihren Erkenntnisvorgängen in der Schau erzählt, mit einbezogen. In der Analyse einzelner Visiones in dieser Untersuchung wird auf solche Retardierungen jeweils hingewiesen werden.

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

degard nicht theoretisch entfaltet, sondern in zahlreichen, variierenden Schaubildern erzählt, in denen Gott dem Menschen eine Ausweitung von dessen Optik vermittelt.¹⁰⁷ Allerdings zieht dies das interpretatorische Problem nach sich, dass sich in der Narration der Autorin die Ebenen von Erkenntnisvorgang und Erkenntnisobjekt vermischen. Dabei wird zusätzlich das Erkenntnissubjekt zu seinem eigenem Erkenntnisobjekt, zu eigenen Reflexionen über sich selbst¹⁰⁸ angeregt durch die Belehrungen der Stimme, die organisch der Schau verbunden ist. Aus jener Komplexität des erkenntnistheoretischen Feldes, das die Autorin in den Schaubildern, in der Niederschrift der deutenden vox und in den Metareflexionen zur Art ihrer Schau aufspannt, wird ersichtlich, dass sie die Rezeptionsaktivitäten beim Empfang von Audition und Vision nicht nur berücksichtigt, sondern ihnen eine wichtige Rolle in der Struktur ihrer Werkgestaltung einräumt.¹⁰⁹

2.2.2.3 Die Subjektivität der Autorin zwischen aktiver Rezeption und „prophetischer Passiologie“¹¹⁰ 2.2.2.3.1 Ebenen der aktiven Rezeption der Vision Hildegard präsentiert sich mitnichten als neutrale Übermittlerin einer objektiven, passiv empfangenen Botschaft.¹¹¹ Sondern sie erwähnt verschiedene Aktivitäten beim Vernehmen und literarischen Ausgestalten der Visionen und Auditionen. Oben haben wir schon mehrfach darauf hingewiesen, dass jene Aktivitäten integraler Bestandteil der Schau sind, wenn man sie, wie es auch die hildegardianischen Texte tun, als Ereignis betrachtet. Denn alleine schon der stete Verbund von Vision und Audition weist auf die Unverzichtbarkeit einer Interpretation der Schau hin, auch wenn zunächst Gott als authentischer Interpret der geschauten Bilder vorgeführt wird. Es greift also schon auf dieser Ebene zu kurz, das Werk Hildegards als eine Bildtheologie oder eine Theologie des Symbolismus zu charakterisieren.

 Zwar spricht Hildegard von der „Schau im lebendigen Licht“ oder der „Schau im Schatten des lebendigen Lichtes“. Jedoch kann nicht unterstellt werden, dass sie hiermit auf abstraktere Konzepte eines augustinischen lumen mentis anspielt, zumal sie nicht klar zwischen natürlicher und übernatürlicher Gotteserkenntnis unterscheidet.  Ep. , , Z .  Auf die Rolle der Mitarbeit des Menschen in all seiner Rationalitas weist hin Fabio Chávez Alvarez, „Die brennende Vernunft“. Studien zur Semantik der „rationalitas“ bei Hildegard von Bingen, Mystik in Geschichte und Gegenwart I,  (Stuttgart: Frommann-Holzboog, ), .  Der von mir geprägte Begriff einer prophetischen Passiologie wird unten im Abschnitt .... erläutert.  So entspricht sie nicht dem Ideal Hans Urs von Balthasars von einer objektivierenden Mystik (Hans Urs von Balthasar, „Zur Ortsbestimmung christlicher Mystik,“ in Grundfragen derMystik, Kriterien , Hg. Werner Beierwaltes, Hans Urs von Balthasar and Alois M. Haas (Einsiedeln: Johannes, ): ; sowie Hans Urs von Balthasar, „ Spiritualität,“ in Ders., Verbum Caro. Skizzen zur Theologie I (Einsiedeln: Johannes, ):  f).

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Es lassen sich vier verschiedene Ebenen von mentalen Rezeptionsaktivitäten unterscheiden: 1. aufnehmende, assimilierende Tätigkeiten, 2. interpretatorische Tätigkeiten, 3. rhetorisch-expressive Tätigkeiten sowie 4. auf das Erlebnissubjekt der Autorin bezogenes Verkosten (gustare)¹¹² Gerade in den späteren Schriften zur Abrundung eines Lebenswerkes, das als Derivat einer lebenslangen Seherbiographie stilisiert wird, verfeinert Hildegard ihre Erklärung dieses vielschichtigen Spektrums von Rezeptionsweisen. Freilich finden sich schon in den früheren Schriften kürzere Hinweise auf diese Assimilationsvorgänge: Bereits die dialogische Struktur der Protestificatio ist ein Indiz dafür, dass die Mitteilungen von Gott als Sinnräume dargeboten werden, in die die Autorin durch eigene Lernaktivitäten hineinwachsen muss.¹¹³ Explizit spricht sie in ihrem Brief an Guibert von Nogent von Lernvorgängen, die nicht auf die Weise eines instruktiven Inputs zustande kommen, sondern durch gezielte Strategien zur wissenden Erkenntnis seitens des Subjektes: Zugleich sehe ich und höre und weiß ich es. Wie in einem Augenblick lerne ich das, was ich weiß (quod scio disco).¹¹⁴

Denn Hildegard will nicht einfach nur das Empfangene kund geben, sondern es ihrerseits ihrem Publikum ausdeuten.¹¹⁵ So nimmt die Interpretation und literarische Ausgestaltung eine zentrale Rolle im Selbstverständnis Hildegards als Autorin ein. Deswegen führt sie, entsprechend von Darstellungsidealen im 12. Jahrhundert, gerade ihre Subjektivität ins Feld, um ihrer Niederschrift der Worte Gottes einen objektiveren Charakter zu geben.¹¹⁶ Eigene Leiderfahrungen formt sie literarisch zu einer prototypischen Umgangsweise mit den Gottesreden um, die aus ihren Werken heraus den Leser ansprechen sollen.

 Liber Scivias, Pars Tertia, Visio Tertia Decima, Cap. , , Z , sowie Ep. r, , Z .  So lässt sie auf eine Rede der Stimme Gottes die Worte folgen: Sed ego…recusavi. (Liber Scivias, Protestificatio, , Z  – ).  Ep. r, , Z  f.  Vita, , Z  f: verba, quae Deus iussit, explanavi.  Vgl. hierzu Christel Meier, „Autorschaft im . Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt,“ in Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Hg. Peter von Moos (Köln/Weimar/Wien: Böhlau, ):  f, sowie: Katrin Bederna, Ich bin du, wenn ich ich bin. Subjektphilosophie im Gespräch mit Angela de Foligno und Caterina Fieschi da Genova, Ratio Fidei , (Regensburg: Friedrich Pustet, ), .

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

2.2.2.3.2 Innenraum der Seele: Abgrenzungen gegen körperliche und exstatische Schau Die Benennung der Seele (anima) als Ereignisort¹¹⁷ der Mitteilungen durch Gott weist auf die für deren Empfang nötige Eigeninitiative des Menschen hin.¹¹⁸ Dieser Ort wird wegen seiner Unkörperlichkeit gegen missverständliche Auffassungen abgegrenzt. Bei jenen Abgrenzungen lassen sich in den verschiedenen Werkstadien Hildegards unterschiedliche Entgegensetzungen beobachten. Sie gehen alle auf die augustinische Grundunterscheidung von außen-innen (extra-intra) zurück:¹¹⁹ Protestificatio ¹²⁰

Epistula r/Vita Liber I ¹²¹

nicht im Schlaf nicht in Psychose nicht mit den äußeren körperlichen Augen nicht mit den äußeren Augen nicht mit den äußeren Ohren nicht als gemeinsamer Ertrag aus den fünf Sinnen aber keine Einschränkung der äußeren Sinne während der Schau nicht in abgelegenen Orten nicht mit den Erwägungen der Seele

 Zur verstärkten Betonung der Verinnerlichung gerade in erkenntnistheoretischen Reflexionen des . Jahrhunderts vgl. Georg Wieland, „Rationalisierung und Verinnerlichung. Aspekte der geistigen Physiognomie des . Jahrhunderts,“ in Philosophie im Mittelalter. Entwicklungslinien und Paradigmen, Hg. Jan P. Beckmann, Ludger Honnefelder, Gangolf Schrimpf and Georg Wieland (Hamburg: Meiner, ): .  Fabio Chávez Alvarez, „Die brennende Vernunft“. Studien zur Semantik der „rationalitas“ bei Hildegard von Bingen, Mystik in Geschichte und Gegenwart I,  (Stuttgart: Frommann-Holzboog, ), .  Zum binären Code außen – innen sowie äußerer und innerer Mensch vgl. Cornelius Bohl, Geistlicher Raum. Räumliche Sprachbilder als Träger spiritueller Erfahrung, dargestellt am Werk De compositione des David von Augsburg (Werl/Westfalen: Dietrich-Coelde, ),  – ; die „…Interiorisierung als religiöse Grundkategorie bei Augustinus…“ entfaltet Wolfgang Achnter, Willensfreiheit in Theologie und Naturwissenschaften. Ein historisch-systematischer Wegweiser (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ),  – .  Liber Scivias, Protestificatio , Z  – . Gegenüber den differenzierteren Reflexionen im Spätwerk folgt auf diesen Abschnitt der Protestificatio eine einschränkende Wendung, die den Leser, der ihre Andeutungen nicht mitvollziehen möchte, der eingeschränkten Wahrnehmung seitens des homo carnalis bezichtigt: Quod quomodo sit, carnali homini perquirere difficile est. (Protestificatio, , Z  f).  Ep. r, , Z  – , wörtlich übernommen in Vita, Liber I, , Z  – .

2.2 Darstellungsstrategien in der Schilderung der visionären Herkunft der Texte

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Die Abgrenzung vom „Außen“ gilt nicht nur gegenüber den äußeren Sinnen,¹²² sondern gegenüber allem, was die Seherin als „Welt“ versteht.¹²³ Hierzu gehören zwar bestimmte Spielarten von Wissenschaftlichkeit.¹²⁴ Doch wäre es verfehlt, Hildegard einem antidialektischen, wissenschaftskritischen Lager zuzuschreiben. Die geschickte Art, wie sie etwas auf Anfragen des Odo des Soissons zum porretanischen Modell einer Quaternität in Gott reagiert (ep. 40r) oder die Antwort auf einen Fragenkatalog der Mönche von Villers (ep. 106r, 109r) hinauszögert, verrät ein weitaus differenzierteres Verhältnis zur dialektischen Theologie in Frankreich.¹²⁵ Die ebenso diplomatische wie in theologischen Grundentscheiden klare Art der Antwort verrät eine gute Kenntnis von Streitpunkten im damaligen theologischen Diskurs. Dabei vermeidet sie es, polemisch – wie etwa ein Bernhard von Clairvaux ¹²⁶ – und in verneinender Absage auf die Dialektiker zu reagieren. Allerdings verschleiert sie ihre Sympathie mit der einen oder anderen Seite in theologiepolitischen Auseinandersetzungen ihrer Zeitgenossen,¹²⁷ indem sie eigene Erwägungen in der Vernahme der Schau verneint.¹²⁸ Dass es sich hier um eine Stilisierung handelt, beweist der Hinweis auf Akte der Interpretation der Schau im selben Brief.¹²⁹

 Mitten in der Schilderung der Inhaltlichkeit einer Schau rekurriert Rupert von Deutz darauf, dass er sie mit den interiores oculi wahrgenommen habe (Ruperti Tuitiensis De Gloria et honore Filii Hominis super Mattheum, CCM , edidit Hrabanus Haake (Turnhout: Brepols, ), Super Mattheum XII, , Z  f.)  Vgl. die Deutung bei Berndt, Rainer, „‚Im Angesicht Gottes‘. Zur Theologie der Vision bei Hildegard von Bingen,“ in „Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst“. Hildegard von Bingen ( – ), Erudiri Sapientia II, Hg. Rainer Berndt (Berlin: Akademie, ), : „In ihren Büchern begleitet Hildegard den Leser auf den Weg von außen nach innen: von der Zweideutigkeit der „imagines“ zur Nüchternheit der „pictura“, auf dass der Leser, einmal bei der „scriptura“ angelangt, schließlich bei sich selbst bleibt und Gott schaut. Dann wird der Mensch in sich genügend Raum entdecken für das innere Sehen und Hören.“  Hildegard deutet sie in der Protestificatio durch die Benennung der Verfahren der grammatikalischen Textanalyse an (Liber Scivias, Protestificatio, , Z  – ).  Vgl. die Überblicke bei Klaus Guth, Johannes von Salisbury (/ – ). Studien zur Kirchen-, Kultur- und Sozialgeschichte Westeuropas im . Jahrhundert, Münchner Theologische Studien I/ (St. Ottilien: Eos ),  – , sowie Frank Bezner, Vela Veritatis. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der intellectual history des . Jahrhunderts, Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters  (Leiden/Boston: Brill, ), ,.  Vgl. Ulrich Köpf, „Bernhard von Clairvaux ( – )“, in Klassiker der Theologie. Erster Band von Irenäus bis Martin Luther, Hg. Heinrich Fries and Georg Kretschmar (München: C.H. Beck, ): .  So verschweigt die Vita das Interdikt am Lebensende Hildegards und die dahinter stehenden Konflikte. (Vgl. Monika Klaes, „Einleitung“ zu: Vita Sanctae Hildegardis / Canonizatio Sanctae Hildegardis, Fontes Christiani  (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ), ).  Ep. r, , Z .  Ep. r, , Z  f.

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

Ein zweiter Widerspruch fällt in dieser Abgrenzung des Innenraumes der Seele als Ort der Schau auf: Obwohl die Beteiligung äußerer Sinne verneint wird, finden sich mancherorts Andeutungen einer körperlichen Affizierung durch die Schau.¹³⁰ Die Seele als innerer Ereignisort der Schau¹³¹ verändert sich durch ihren Empfang in metaphorischen Bewegungen der Ausweitung (dilatare) und des Aufstiegs (ascendere).¹³² Beide Bewegungen spiegeln sich in der Ausgestaltung der Visionsberichte, in denen Schaubilder und Symbole im ausdeutenden Text ebenfalls den fiktionalen Raum ausweiten und zum geistlichen Aufstieg anregen.¹³³ Das Sprachbild der Ausweitung bildet so ein Analogat zur Dynamik der Heilsgeschichte. Der Leser der Schriften Hildegards und stellvertretend für ihn die Autorin, die sich als Rezipientin des göttlichen Textes schildert, soll sich in diese expansive Dynamik einschwingen.¹³⁴

2.2.2.3.3 „Feilen“ (limare) an der Wiedergabe von Gottesrede in Menschenworten Der Schritt der Übertragung von Gotteswort in Menschenwort lässt sich aus einer scheinbar beiläufigen Formulierung Hildegards im Briefcorpus entnehmen. Die Brisanz jener im Folgenden zitierten Nebenbemerkung fiel bereits den Redaktoren der Vita auf, die zwar jene Äußerung mit Veränderungen übernahmen, sie aber dadurch in ihrem Sinn verharmlosten: Aber der, der ohne Fehl groß ist, berührte bald das kleine menschliche Zelt, dass es jenes Wunder sehe und unbekannte Buchstaben forme (ignotas litteras) und eine unbekannte Sprache (linguam ignotam) ertönen lasse. Jenem kleinen menschlichen Zelt wurde gesagt: Das, was dir in einer Sprache von oben her gezeigt wurde, trage nicht gemäß der Gestalt des menschlichen Sprachgebrauches (humanae consuetudinis) vor. Da dir jener Sprachgebrauch nicht 〈in der Schau〉 gegeben ist, möge jener, der die Feile der künstlerischen Ausarbeitung (lima) hat, es nicht ver-

 Liber Scivias, Pars Prima, Visio Tertia, Cap. , Z  – : homo eorundem miraculorum magnitudine perculsus concussionem mentis et corporis sui sentit, dum in eisdem mirabilius attonitus imbecillitatem fragilitatis suae considerat; Vita, Liber II, , Z  – : omnia viscera mea concussa sunt et sensualitas corporis mei extincta est.  Vita, , Z : in anima mea video. Diese Passage als Zitat aus Ep. r, , Z , wo sich allerdings noch nicht die Präzisierung in anima findet, sondern erst in Z .  Ep. r, , Z  –  (= Vita, ,  – ). Jedoch ersetzt der Redaktor das Nomen spiritus meus durch anima mea. Möglicherweise bündelt er also die verschiedenen Seelenvermögen, die bei Hildegard Akteure der Schau sind, auf den Begriff der anima hin: Spiritus vero meus, prout Deus vult, in hac visione sursum in altitudinem firmamenti et in vicissitudinem diversi aeris ascendit. Freilich geht es nicht um eine Levitation, sondern im übertragenen Sinn um einen inneren Aufstieg, die im Liber Scivias als ascensio humilitatis beschrieben wird: Dieses Oxymeron der seelischen Ausweitung durch einen kenotischen Abstieg bildet ein Gegenstück zur Dimensionserweiterung im Tiefenverständnis der Schrift, in der alta profunditas expositionis. (Liber Scivias, Protestificatio, , Z  & ).  Vgl. das Kapitel . und . dieser Arbeit.  Vgl. Liber Scivias, Pars Tertia,Visio Secunda, , Cap. , Z  f: in bonis operibus ad sanctitatem dilatatur. Das Verb dilatare spielt auf den Prolog der Regula Benedicti an mit seiner Verheißung dilatato corde (Regula Benedicti, Prolog ).

2.2 Darstellungsstrategien in der Schilderung der visionären Herkunft der Texte

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nachlässigen, sie zu dem angemessenen Klang der Menschen zu polieren (ad aptum sonum hominum expolire).¹³⁵

Die Bedeutung dieser Passage für das literarische Selbstverständnis Hildegards kann nicht hoch genug eingeschätzt werden! Die Mitteilungen an die Seherin werden in einer fremden, unbekannten Gestalt gegeben, die erst an den Sprachgebrauch der Menschen angeglichen werden muss.¹³⁶ Bekanntlich unternahm die Autorin das Projekt einer Kunstsprache (Lingua Ignota) und eines Zeichensystems von Litterae Ignotae. ¹³⁷ Die dazu erhaltenen Listen geben der Forschung bis heute Rätsel auf.¹³⁸ Die Autorin beschreibt einen doppelten Auftrag einer Übersetzungstätigkeit für sie und ihren Mitarbeiterkreis: Den Übertrag von der Sprache Gottes, die einst Adam zur eigenen Sprachschöpfung inspiriert hätte,¹³⁹ in die Menschensprache und eine ent-

 Ep. , CCM , , – : Sed ille, qui sine defectione magnus est, modum parvum habitaculum tetigit, ut illud miracula videret et ignotas litteras formaret, ac ignotam linguam sonaret. Et dictum est illi: Hoc quod in lingua desuper tibi ostensa non secundum formam humanae consuetudinis protuleris, quoniam consuetudo haec tibi data non est, ille qui limam habet, ad aptum sonum hominum expolire non negligat.  Zur Unterscheidung vom Gotteswort und dem ihm gegenüber „leeren“ Menschenwort schon in der alttestamentlichen Prophetie vgl. Gerhard von Rad, Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels, Bd. , Theologie des Alten Testaments (Gütersloh: Kaiser, ), .  Es liegt noch keine kritische Edition dieser Schriften vor. Sie können in PL  eingesehen werden.  Vgl. Laurence Moulinier, „Un lexique „trinlingue“ du XIIe siècle: La lingua ignota de Hildegarde de Bingen,“ in Lexiques bilingues dans les domaines philosophique et scientifique (Moyen Âge-Renaissance), Hg. Jacqueline Hamesse and Danielle Jacquart (Turnhout: Brepols, ): . Eine instruktive Übersicht über den Forschungsstand bietet Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen. Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Erudiri Sapientia IV (Berlin: Akademie, ),  – : Es handelt sich um Wortlisten von rund  Wörtern, die möglicherweise als offenes System angelegt sind, da sich auch in der Symphonia weitere Kunstworte finden. Zum Teil sind sie mit volkssprachlichen Glossen versehen. Dass es sich kaum um die Niederschrift von Glossolalie handelt, beweist die Übernahme mancher Listen aus dem mittelalterlichen Sachwörterbuch des Summarium Heinrici. So stecken die Wortlisten das Feld des klösterlichen Alltagslebens ab, beziehen sich also mehr auf die Lebenswelt. Doch sie dienen weniger als innerklösterliche Geheimsprache, analog zu zeitgenössischen Kryptographien in anderen kirchlichen und kaiserlichen Lebenswelten. Vielmehr scheint sich eine sprachtheologische Intention mit ihnen zu verbinden, die Ursprache Adams künstlich nachzubilden und so das klösterliche Leben insbesondere im mündlichen Dialog als Lebensraum paradiesischer Lebensformen zu designen. Es würde sich also um ein künstliches Sprachsystem handeln, dass zwischen Theorien über eine Sprache für das echte Leben, wie es von Gott gedacht war, und ihrer praktischen Verwendung im dadurch verwandelten Alltagsleben der Klosterinsassen steht. Dieses Changieren ist für die wissenschaftliche Beschreibung von Hildegards Sprache der Theologie für einen christlichen Lebensbegriff bedeutsam. Die oben zitierte Stelle aus einem Brief von / an Papst Anastasius mit vorausgehenden scharfen Invektiven in Romam wirft jedoch die Frage auf, ob Hildegard nicht auch einen größeren Aktionsradius für die lingua ignota vorsah, als deren Vermittlerin sie sich ausweisen möchte. Gerade die Notwendigkeit, sie in die consuetudo hominum zu übertragen, statt die Relevanz ihrer Schauungen esoterisch für Monasterien einzugrenzen, spricht für eine solche Sicht.  Vgl. Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen, .

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

sprechende rhetorisch-künstlerische Ausgestaltung. Freilich geht es hier nicht nur um sprachliche Adaptionen. Denn die Auditionen können von der Schreiberin auch inhaltlich nicht adäquat erfasst werden: Denn nicht kann ich das, was ich sehe, vollkommen wissen.¹⁴⁰

Auch die lateinische Niederschrift sei noch ungefeilt (latinis verbis non limatis). Hier misst sich die Autorin des späteren Briefes interessanterweise nicht mit Theologen, sondern mit Philosophen.¹⁴¹ Das Sprachbild der Feile (lima) für die Überarbeitung von Texten wird also von Hildegard zweifach verwandt, einmal für den Übertrag von Gottessprache in Menschensprache, und ein anderes Mal für die Anschlussfähigkeit an damalige fachphilosophische Diskussionslagen. Aufgrund dieser doppelten Verwendung war es den Redaktoren der Vita ein leichtes, im Zuge der Umänderung des Heiligkeitsschemas über Hildegard zu einer Braut Christi im Rahmen der konventionellen Heiligenideale¹⁴² die oben zitierte Passage aus dem Brief an Papst Anastasius von 1153/54 entschieden zu verharmlosen. Sie glätten das Unkonventionelle an Hildegards Spiritualität¹⁴³ und an ihrem Schreibanspruch, auch Theologen und Philosophen etwas zu sagen zu haben. Nun erscheint Hildegard als fromme Dame, deren Stil von Beratern verbessert werden müsse: Da du das, was dir von oben her gezeigt worden ist, nicht in lateinischer Sprache gemäß des lateinischen Sprachgebrauches vorträgst, …¹⁴⁴

Hingegen vergleicht sich Hildegard selbst gegen Ende ihres Lebens mit den biblischen Propheten, die entsprechend der nächtlichen Verschattung ihrer Schau deren Inhalt in Sprachbilder einkleiden mussten, weil dies die angemessene Darstellungsform ist: Der Heilige Geist, der vom Vater und dem Sohn in der Wahrheit der Prophetie hervorgeht, lässt die Propheten prophetische Worte aussprechen (in veritate prophetiae procedens prophetas prophetare fecit). Doch jene verbargen jedoch oft die Tiefe ihrer prophetischen Erkenntnis, etwa wenn sie

 Ep. r, , Z : Nec ea quae video perfecte scire possum.  Ep. r, , Z  – : Et ea quae scribo, illa in visione video et audio, nec alia verba pono quam illa quae audio, latinis verbis non limatis ea profero quemadmodum illa in visione audio, quoniam sicut philosophi scribunt scribere in visione hac non doceor.  Diesen Prozess innerhalb der Vita beobachtet Barbara Newman, „Seherin – Prophetin – Mystikerin. Hildegard-Bilder in der hagiographischen Tradition,“ in Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten, Hg. Edeltraud Forster (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ): .  Vgl. Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen, .  Vita, , Z  – . Die Wendung in lingua latina findet sich nicht in der Briefvorlage Hildegards. Vgl. zur Veränderung des Sinnspitze der Äußerung Hildegards vgl. Monika Klaes, „Einleitung“ zu: Vita Sanctae Hildegardis/Canonizatio Sanctae Hildegardis, Fontes Christiani  (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ), .

2.2 Darstellungsstrategien in der Schilderung der visionären Herkunft der Texte

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einen Text schrieben, da sie wie im Schatten und der Erkenntnis der Nacht sich manchmal durch Andeutungen in Sprachbildern (per significationem) ausdrückten.¹⁴⁵

Allein aus dieser Anmerkung spricht die reflektierte Sprachkunst Hildegards, die ihrerseits auf einem theologischen Verständnis von den Einschränkungen der Wiedergabemöglichkeiten von Gottesrede in Menschensprache aufruht.¹⁴⁶

2.2.2.3.4 Diminuitive und Bescheidenheitstopoi zur Relativierung des geschilderten Seherichs Bereits in der antiken Rhetorik war es im Rahmen der captatio benevolentiae üblich, sich selbst als Autor durch Bescheidenheitstopoi¹⁴⁷ zurückzunehmen. Daher sollten die häufigen Selbstbezeichnungen Hildegards als paupercula forma und als indocta ¹⁴⁸ nicht interpretatorisch überstrapaziert werden auf ihre Rolle als Frau, die keiner formellen akademischen Ausbildungsstätte angehörte.¹⁴⁹ Noch bis in die Neuzeit und Frühmoderne hinein war die Teilnahme am akademischen Diskurs nicht von vornherein von dem formellen Bildungsgang abhängig, sondern von Fähigkeiten, die man heute als „Materialqualifikation“ bezeichnen würde.Vorgängerinnen wie Hrosvita von Gandersheim und Zeitgenossinnen wie Herrad von Landsberg ¹⁵⁰ bezeugen den hohen Bildungsgrad, der im geistlichen Stand, aber auch für weltliche weibliche Adlige durchaus nicht unüblich war.¹⁵¹  Explanatio Symboli Sancti Athanasii, in Hildegardis Bingensis Opera Minora , CCM ,  f, Z  – .  Hierzu Benedikt Gilich, Die Verkörperung der Theologie. Gottesrede als Metaphorologie, Religionskulturen  (Stuttgart: W. Kohlhammer, ), .  Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Tübingen und Basel: Francke, ),  – .  In einer Formel zusammengefasst in Vita, Liber III, Z : et ego indocta et paupercula forma; die Wendung paupercula forma als stete Selbstbezeichnung u. a. in Vita, Liber II, , Z , Ep. r, , Z , Explanatio Symboli , Z  und , Z . Bereits Eriugena äußerte das Ideal einer spiritualitas sapienter indocta.  Vgl. die Behauptung bei Barbara Newman, Hildegard von Bingen. Schwester der Weisheit, Übers. Annette Esser und Mónica Priester (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ), . Die Korrektur des Zerrbildes von Hildegard als einer wenig gebildeten Frau durch die gegenwärtige Forschungslage entwirft Maura Zátonyi, Vidi et intellexi. Die Schrifthermeneutik in der Visionstrilogie Hildegards von Bingen, Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters NF  (Münster: Aschendorff, ), .  Hierzu Fiona J. Griffiths, The Garden of Delights. Reform and Renaissance for Women in the Twelfth Century (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, ), .  Zu einer Überlegenheit von weltlichen Adelsfrauen in der Bildung gegenüber ihren Ehemännern, sei es im Frühmittelalter, sei es im . Jahrhundert vgl. Eugen Paul, Antike und Mittelalter, Bd. , Geschichte der christlichen Erziehung (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ),  anlässlich des Liber manualis der Dhuoda, eines Glaubenshandbuches einer Dame des französischen Hochadels aus dem . Jahrhundert (Dhuoda, Manuel pour mon fils, SC bis, introduction, texte critique, notes, par Pierre Riché, traduction par Bernard de Vregille et Claude Mondésert (Paris: Les Éditions du Cerf, ).).

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

Freilich wird diese Arbeit in ihren Analysekapiteln anhand mehrerer theologischer Detailprobleme zeigen können, welche Tragik es ist, dass einer begabten und spekulativ interessierten religiösen Autorin nicht die anspruchsvolle philosophische und theologische Schulung zu Teil wurde, die ihr ermöglicht hätte, ihren Gedankenreichtum stringent argumentativ durchzukomponieren!¹⁵² Wenn sich Hildegard als ungebildet (indocta) bezeichnet, obwohl aus ihren Schriften nicht nur rhetorische Gewandtheit, sondern grundlegende Kenntnisse zentraler theologischer Autoren wie Augustinus, Eriugena, Anselm sprechen, so will sie damit eine kontrastive Kulisse für ihr Konzept einer „mystica eruditio“ bereitstellen. Gott bildet die Autorin,¹⁵³ indem er ihr auf andere Weise als ein Grammatiklehrer¹⁵⁴ oder Literaturwissenschaftler Einsicht in den Bedeutungssinn¹⁵⁵ biblischer Schriften vermittelt. Dabei geht es nicht nur um ihren persönlichen Erkenntnisgewinn. Sie soll jenen vielmehr an die weitervermitteln, deren Amt es eigentlich wäre, den inneren Sinn, das „Knochenmark“ (medulla)¹⁵⁶ der biblischen Schriften herauszuziehen. Wer dies nicht vermag, wird seinerseits hierzu „herausgezogen“ (erudiantur).¹⁵⁷ Durch eine derartige mystica eruditio trete das Heil neu in die Gegenwartszeit des Lesers ein,¹⁵⁸ stehe gleichsam der Himmel wieder offen.¹⁵⁹ Mit einer relativierenden Selbstbezeichnung als indocta gibt die Autorin also Raum für eine Sichterweiterung, die ihr und den Lesern neue Perspektiven eröffnet. Dies wird mit Vokabeln der Ausweitung und des Überfließens angedeutet:

 Es wäre eine systematisch-theologische Frage, ob für die proaktive Förderung inskünftiger möglicher Kirchenlehrerinnen nicht mehr verlangt werden könnte, als darauf zu hoffen, dass Charisma, dichterisches Geschick und Imaginationskraft ausreichen würden für eine religiöse Lehre, die universalkirchlich relevant und verantwortbar normativ sein kann.  Die Zurückweisung einer humana doctrina (Anselm, De concordia praescientiae Dei cum libero arbitrio ) und die Zielvorstellung einer (mystica) eruditio (Isidor von Sevilla, De ecclesiasticis officiis , ,) durch Gott begegnen im Kontext von Spuren einer Inspirationslehre in der Vorscholastik (vgl. Johannes Beumer, Die Inspiration der Heiligen Schrift, Handbuch der Dogmengeschichte I b (Freiburg/ Basel/Wien: Herder, ),  – ). So kann deren Transformation aus der theologischen Lehre einer Inspiration der Schrift hin zur Strukturierung des literarischen Selbstverständnisses der Autorin als eine vom Subjekt her gedachte „Inspirationslehre von unten“ verstanden werden.  Liber Scivias, Protestificatio, , Z  – .  Liber Scivias, Protestificatio, , Z : intellectum expositionis librorum.  Das Wortbild der medulla für einen von Gott ermöglichten Tiefenblick in einen Sachverhalt wird schon bei Augustinus verwendet (Sermo , PL ,  f.) Man kann es als ein hier popularisiertes Gegenbild zur mittelplatonischen, im . Jahrhundert wieder, z. B. in der Schule von Chartres, aufgegriffenen integumentum/involucrum-Lehre sehen, in der es um die metaphorische Verhüllung sonst unsagbarer und nicht direkt einsehbarer Sachverhalte geht. Dadurch brechen im . Jahrhundert grundsätzliche Fragen einer theologischen Erkenntnistheorie auf (Frank Bezner, Vela Veritatis. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der intellectual history des . Jahrhunderts, Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters , (Leiden/Boston: Brill, ),  – ).  Liber Scivias, Pars Prima, Visionsbeschreibung, , Z  – : hi erudiantur qui medullam litterarum videntes eam nec dicere nec praedicare volunt.  Liber Scivias, Pars Prima, Visionsbeschreibung, , Z  f: dic de introitu incorruptae salvationis.  Liber Scivias, Protestificatio, , Z : aperto caelo.

2.2 Darstellungsstrategien in der Schilderung der visionären Herkunft der Texte

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Weite dich also aus in der Quelle des Überfließens und fließe über in der mystica eruditio! ¹⁶⁰

Denn die menschlichen Akte in Erkenntnisbemühungen und rhetorischer Gestaltung eines Stoffes greifen gegenüber der göttlichen dispositio zu kurz. Dies sei tabellarisch dargestellt: Mensch¹⁶¹

Gott¹⁶²

intellectus adinventio compositio

scire videre disponere

Wie die Defizienz des menschlichen Bemühens um Einsicht, intellectus, nach der Darstellung der Autorin quantitativ und qualitativ von Gott her gelindert werden kann, sei im übernächsten Abschnitt unter 2.2.2.4 analysiert. Zuvor soll ein weiteres Darstellungselement für die menschlichen Entstehungsbedingungen ihrer Schriften vorgestellt werden, die existentielle Leidenssituation.

2.2.2.3.5 Prophetische Passiologie Unter dem von mir geprägten Fachbegriff einer „prophetischen Passiologie“ werden Darstellungsmuster verstanden, die einen Seher oder biblischen Propheten dadurch legitimieren, dass der Auftrag zu Schau, Rede und Niederschrift mit persönlichem Leid für den Beauftragten verbunden ist, das die Echtheit jenes Auftrags ausweisen soll. Dabei kann Leid ebenso dadurch verursacht sein, dass der Visionär sich dem Auftrag zu entziehen sucht, wie durch die Folgen seiner Reden, Schriften und Taten, die Widerspruch bei den Adressaten hervorrufen. Die ganze Existenz des Sehers wird als in der Kreuzesnachfolge leidgeprägt dargestellt, um gemäß den paulinischen Wendungen (1 Kor 15,43; 2 Kor 6,9 f; 2 Kor 12,9) an seiner Schwachheit die Kraft Gottes zu demonstrieren. Es handelt sich um ein literarisches, narratives Muster, dem durchaus das subjektive Lebensgefühl des Autors zugrunde liegen kann. Hierbei wird eine dramatische Spannung aufgebaut, indem das Wortfeld von Schmerz und Leid dem des Trostes (solacium)¹⁶³ durch Gott und durch Mitstreiter, die dem göttlichem Wirken an dem Autor trauen, gegenübergestellt wird.

 Liber Scivias, Pars Prima,Visionsbeschreibung, , Z  – : in fontem abundantiae ita dilatare et ita in mystica eruditione efflue.  Liber Scivias, Protestificatio, , Z  – . Zum rhetorischen Arbeitsschritt der inventio in Antike und . Jahrhundert vgl. Heinrich F. Plett, Einführung in die rhetorische Textanalyse (Hamburg: Helmut Buske, ),  – .  Liber Scivias, Protestificatio, , Z  f.  Vita, Liber II, Z : in omnibus passionibus…solacium.

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

Dass dieses Spannungsfeld literarische Schaffensprozesse sogar jenseits eines explizit religiösen Kontextes begleitet, wurde von säkularen Autoren der Neuzeit geäußert.¹⁶⁴ Das bedrückende existentielle Wort Hildegards von „keinerlei Sicherheit“ (nulla securitas)¹⁶⁵, das durchaus auf erlebte Anfeindungen, beginnend beim Unverständnis der eigenen Amme¹⁶⁶ zurückgehen mag, wird durch den typisch hildegardianischen Zielbegriff des gaudium ¹⁶⁷ aufgewogen, das allerdings in Fülle erst im ewigen Leben zu finden sei.¹⁶⁸ Die dichte Semantik von Leiderfahrungen¹⁶⁹ in den autobiographischen Erzählungen der Vita spiegelt an der Person der Autorin die entsprechenden überindividuellen ekklesiologischen Zustände insbesondere in den Reflexionen des Liber Divinorum Operum. ¹⁷⁰ Aus der persönlichen „Historia Calamitatum“ erwachsen in jahrelangen Entstehungszeiträumen unter hohem persönlichen Einsatz¹⁷¹ die umfangreichen Bände der Visionstrilogie. Diesen Zusammenhang zwischen Leid und Werkentstehung kleidet Hildegard mehrmals in eine ähnliche Sprachform, die ich als „passiologische Werkentstehungsformeln“ bezeichnen möchte: Obwohl ich aber häufig durch all diese Beunruhigungen erschöpft wurde, konnte ich dennoch durch die Gnade Gottes das Buch der Lebensverdienste, das mir von Gott her (divinitus) offenbart worden war, zu Ende bringen.¹⁷²

2.2.2.4 Intellectus als Offenbarung: Die Tiefendimension der Inhaltlichkeit im geschilderten Zusammenwirken von Gott und Autorin Es wurde schon angedeutet, dass sich Hildegard als Interpretin göttlicher Mitteilungen versteht. Ihre Deutungen verlaufen in zwei Richtungen: Zum einen muss, wie in Abschnitt 2.2.2.3.3 gezeigt worden ist, Gotteswort in Menschenwort, Gottessprache in  Jochen Hörisch, Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls (Frankfurt am Main: Suhrkamp ), .  Ep. r, , Z .  Vita, Liber II, ,  – .  Vita, Liber II, , Z  sowie , Z .  So das Gegensatzpaar von innerweltlicher tristitia und der Freude im himmlischen Jerusalem in: Hildegardis Bingensis Liber Divinorum Operum, CCM , Epilogus, cura et studio A. Derolez et P.Dronke (Turnhout: Brepols, ), , Z  und , Z .  Überblick über das dichte Wortfeld: pressura (dolorum) (Vita, Liber II, 126, 25 u. 138, Z 6 sowie 140, Z 1); infirmitas (Vita, Liber II, 136, Z 5); tribulatio (Vita, Liber II, 138, Z 6 u. 13); penuria (Vita, Liber II, 138, Z 24); persecutio (Vita, Liber II, 142, Z 10); infestationes (Vita, Liber II, 7, Z 9); cruciarer (Vita, Liber II, 152, Z 23 f), conflictus (Vita, Liber II, 162, Z 28), iniuria (Vita, Liber II, Z 4).  Siehe hierzu das Kapitel . und . dieser Arbeit.  Liber Divinorum Operum, Epilogus, ,  – : die et nocte…scribendo laborarem.  Vita, Liber II, , Z  – . Vgl. ähnliche Formeln in Vita, Liber II, , Z  –  für den Liber Scivias und in Vita, Liber III, ,  –  und  –  für den Liber Divinorum Operum.

2.2 Darstellungsstrategien in der Schilderung der visionären Herkunft der Texte

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Menschensprache übertragen werden. Zum anderen dienen die Mitteilungen im Visionswerk Hildegards als ein sekundäres, privat vermitteltes Gotteswort dem primären Gotteswort in der Bibel:¹⁷³ Für die tiefere Einsicht in den Schriftsinn, die den Diensten der Autorin in der Ausdeutung vorausgehen muss, verwendet Hildegard den Fachterminus intellectus. ¹⁷⁴ Allerdings sagt sie in den Reflexionen zu ihrer Schau kaum etwas aus über die inhaltliche Qualität dieses inneren Einblicks in den Sinn der biblischen Schriften und über sein Verhältnis zur rein naturalen, philosophischen Erkenntnis. Zudem deutet sie intellectus ebenso als von Gott ermöglichte Hermeneutik nicht-biblischer Schriften an. Für den Einzelfall, an dem Hildegard die durch die Visionen ermöglichte Interpretation philosophischer Schriften erwähnt,¹⁷⁵ kehrt sich die Erkenntnisrichtung um: Durch Einsichten aus der Glaubenskommunikation mit der himmlischen Stimme erhöht sich die Intelligibilität philosophischer Schriften. Ähnlich ist der Begriff einer scientia speculativa nicht als von der Schau abgelöstes spekulatives Denken zu verstehen, sondern als in der Vision ermöglichte Spiegelerkenntnis.¹⁷⁶ Hildegard ordnet vielmehr den Erkenntnismodus des intellectus dem augustinischen Konzept des homo interior zu.¹⁷⁷ Es geht also um die Erkenntnisvollzüge des inneren, geistlichen Menschen. Intellectus ist so weniger als die Erkenntnisqualität hinsichtlich des Erkenntnisobjektes bestimmt, denn als religiös-ethische Qualität des Erkenntnissubjektes. Dies zeigt sich auch in den zahlreichen Aufrufe an die Leser: audite et intellegite! ¹⁷⁸ Jene Aufforderung warnt zu einem vor Irrwegen der Erkenntnis, der die Schriften

 So bereits in der Protestificatio des Liber Scivias, ,  – : intellectum expositionis librorum, videlicet psalterii, evangelii et aliorum catholicorum tam veteris quam novi Testamenti voluminum sapiebam. Ein Verständnis von intellectus als einer prophetisch inspirierten Schrifthermeneutik bei Hildegard entwirft Maura Zátonyi, Vidi et intellexi. Die Schrifthermeneutik in der Visionstrilogie Hildegards von Bingen, Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters NF  (Münster: Aschendorff, ),  f.  Vgl. die Abgrenzungen bei Margot Schmid, Die fragende Schau der heiligen Hildegard (Leutesdorf: Johannes, ), . Zur augustinischen Variante des audiam et intellegam in Conf. , vgl. Norbert Fischer, „Einleitung“ zu: Aurelius Augustinus, Suche nach dem wahren Leben (Confessiones X / Bekenntnisse ), eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Norbert Fischer (Hamburg: Meiner, ), LXXVI.  Vita, , Z  – : In eadem visione scripta prophetarum, evangeliorum et aliorum sanctorum et quorundam philosophorum sine ulla humana doctrina intellexi ac quaedam ex illis exposui. (Hervorhebung von mir).  Liber Scivias, Pars Tertia, Visio Secunda, Cap. , , Z  f: Unde etiam scientia haec est speculativa, quia ipsa est quasi speculum; Ep. r, , Z . Beide Textbefunde weisen den Zusammenhang zwischen Spiegelschau und ethischer Erkenntnis aus.  Liber Scivias, Pars Tertia, Visio , , cap. , Z  f: visum et auditum interioris hominis.  Z. B. Expositio Symboli Sancti Athanasii, , Z : audite et intellegite. Jene Formel audite et intelligite findet sich als geprägte Wendung in etlichen Einzelvisionen der Hauptwerke Hildegards. Jenes Signalmotiv zieht sich also quer durch das Lebenswerk.

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

Hildegards abhelfen wollen.¹⁷⁹ Zum anderen sind die Adressaten dadurch zur mentalen und existentiellen Umkehr aufgerufen. Hierbei werden besonders die Hirten und Lehrer der Kirche in die Pflicht genommen.¹⁸⁰ Aber letztendlich gilt diese Mahnung (admonitio)¹⁸¹ für alle Gläubigen.¹⁸² So sind das Hören und die Einsicht der Autorin mit dem geforderten Hören und Einsehen der Leser ihrer Texte parallelisiert. Die Selbstdarstellung der Schriftstellerin dient als Vorbild für den Rezipienten.

2.2.3 Philosophie und Prophetie als dialektische Gegenspieler in den Metareflexionen des Spätwerkes Bei einem Vergleich der stilisierten Metareflexionen Hildegards zur Art der von ihr geschilderten Schau fallen begriffliche Verschiebungen und Positionsveränderungen im Spätwerk auf: Je mehr sich Hildegard als Prophetin bezeichnet und dabei den Begriff der Prophetie intensiver reflektiert, desto mehr Äußerungen ergehen auch zu deren Verhältnisbestimmung zur Philosophie. Letzteres ist allein schon deswegen bemerkenswert, weil man von der Gattung von Visionsschriften aus eher eine Stellungnahme zur akademischen Theologie ihrer Zeit erwarten würde. Freilich entspricht diese der Verlagerung ihrer Erkenntnisinteressen im letzten Band der Visionstrilogie und im darauf folgenden Spätwerk der Opera Minora auf Schöpfungstheologie und Erkenntnistheorie, also auf Themengebiete der Artes. Dass jene Interessenverlagerung nach der Vollendung des Liber Divinorum Operum (1174) durch eine persönliche Bezugsperson verstärkt wurde, geht aus einer dementsprechenden Erzählung in den autobiographischen Teilen der Vita hervor. Jene Episode wurde wohl deswegen von den Redaktoren der Vita aufgegriffen,¹⁸³ weil sie versuchten, Hildegard als Diskurspartnerin eines akademischen Milieus zu lancieren. Die Erzählung von der Bekehrung des Philosophen hebt sich von einem textlichen Hintergrund ab, in dem Hildegard quer durch das autobiographische Material der Vita verschiedene Reaktionsweisen auf mündliche oder schriftliche Berichte von ihren Visionen schildert. Dabei führt sie dem Leser nicht wertneutral ein Spektrum an unterschiedlichem Rezeptionsverhalten vor, aus dem er die für ihn passende Identifikationsfigur auswählen könnte.Vielmehr werden Kritiker an der Gottgewirktheit ihrer Schauungen, die auch aus ihrem näheren Umfeld¹⁸⁴ stammen, als ungebildet¹⁸⁵ und

 Expositio, , Z  f.  Expositio, , Z  f.  Liber Scivias, Pars Tertia, Visio Tertia Decima, Cap. , Z  f: sermones istos suscipite et eos in interiora corda vestra ponite, nec admonitionem istam in visitatione vestra recusate.  Expositio, , Z : haec itaque scriptura a fidelibus audienda et intelligenda est.  Vita, Liber II, , Z  – , Z  f.  Vita, Liber II, , Z .  Vita, Liber II, , Z  f.

2.2 Darstellungsstrategien in der Schilderung der visionären Herkunft der Texte

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unwahrhaftige Spötter ¹⁸⁶ bezichtigt. So soll der Leser zur Zustimmung zu den idealen Rezipienten bewogen werden, die den Schauungen Glauben schenken.¹⁸⁷ Jene gehören oft dem einfachen, unterstützungsbereiten Volk an,¹⁸⁸ das sozusagen die literarische Rolle des Chores der Zustimmenden übernimmt. Der Philosoph in der Erzählung wird als Skeptiker geschildert, der sich nach gedanklicher Prüfung des möglichen Ursprunges der Schriften Hildegards durch die divina inspiratio zu ihrer Anerkennung bekehrt.¹⁸⁹ Bereits in dieser erzählten Umkehr wird ein Zusammenhang zwischen verstandesgemäßer, philosophischer Prüfung und der prophetischen Inspiration von Gott her hergestellt. Dass jene Geschichte ungeachtet ihres Verweisungssinns einer Versöhnung zwischen philosophischer Skepsis und prophetischer Erkenntnis einen Kern im realen Leben Hildegards gehabt haben könnte, erhellt sich aus ihrer Nennung von großzügigen Spenden des bekehrten Philosophen. So wird er umgekehrt zum Boten von Gottes Zuwendung für die Seherin.¹⁹⁰ Jene Szene kann mehrfach gedeutet werden: Zum einen als Werbung an philosophisch-dialektisch gebildete Leser für die Anliegen ihrer Schriften. Zum anderen als Andeutung, dass die Autorin in ihren letzten Lebensjahren selbst an intellektuellen Kontakten mit philosophisch gebildeten Gesprächspartnern wie Guibert von Gembloux und den Mönchen von Villers interessiert war. Auf jeden Fall versuchen die Redaktoren der Vita diesen Eindruck zu erwecken. So lancierte Guibert in einem Antwortschreiben an Hildegard (ep. 104) einen detailreich ausgeschmückten Bericht von der begeisterten Rezeption Hildegards durch gebildete Geistliche und Laien in Frankreich. Wenn jener auch fingiert sein mag, so ist er doch eines von mehreren Zeugnissen, dass man, möglicherweise auf Anregung oder mit Billigung der greisen Hildegard, plante, sie als diskursfähig mit der dialektischen akademischen Theologie in Frankreich zu vermarkten. Hildegard selbst mag es hierbei um einen sachlichen Austausch gegangen sein, bei dem sie, wie in den sorgfältig entwickelten Teilantworten auf Odo von Soissons (ep. 40r) und die Mönche von Villers (ep. 109r), selbstbewusst ihre eigene theologische Position wahrte. Doch wollte ihr Mitarbeiterkreis wohl eher strategisch vorgehen. So endet die Canonizatio, die eigentlich ein formaljuristisch stichhaltiges Dokument sein sollte, mit einer Legende von einer angeblichen posthumen Prüfung der Schriften Hildegards durch Pariser Magistri auf Geheiß des Bischofs.¹⁹¹ Dabei wird der Name des

 Vita, Liber II, , Z  f.  Vita, Liber II, , Z : visionem hanc in fide cognoscentes.  Vita, Liber II, ,  – . Diesen Sachverhalt beschreibt Hildegard wiederum nicht direkt, sondern gestaltet ihn als Visionsbild aus.  Vita, Liber II, , Z  – .  Vita , Z  f: anima mea exhilarata fuit, quia Deus in oblivionem nos non adduxit.  Canonizatio, /, , Z  –  sowie /, , Z  – . Meinem Wissen nach liegt noch keine Forschungsarbeit vor, ob sich Spuren einer solchen Prüfung in den an sich bereits detailliert erforschten Pariser Universitätsakten (Chartularium Universitatis Parisiensis) für die Zeit zwischen  und 

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

Wilhelm von Auxerre als Lehrer des Pariser Bischofs ins Spiel gebracht.¹⁹² Dessen Summa Aurea (nach 1215) wurde zum theologischen Lehrbuch von Großmeistern der Hochscholastik.¹⁹³ Es ist also das Bestreben zu konstatieren, das Opus Hildegardianum als dialogfähig mit der Weiterentwicklung der akademischen Theologie in ihren letzten Lebensjahren und in den ersten Jahrzehnten nach ihrem Tod zu positionieren. Welche Auffassung von Prophetie entfaltet Hildegard im Zusammenhang mit ihrem literarischen Selbstverständnis?¹⁹⁴ Im Liber Scivias spielt der Begriff der Prophetie nur eine marginale Rolle.¹⁹⁵ Zwar wird sie als Vermögen der Einsicht in religiöse Zusammenhänge gepriesen.¹⁹⁶ Doch soll jenes Vermögen vor allem zur individuellen Akzeptanz der im Liber Scivias vorgelegten Mahnrede dienen. Im Spätwerk jedoch wird sich das Darstellungsinteresse Hildegards auf Fragen der Erkenntnistheorie und der Kirchenreform verlagern.¹⁹⁷ Die Autorin weist in einer autobiographischen Reminiszenz in der Vita auf zwei Ebenen des ekklesiologischen Kontextes der Prophetie hin: Zum einen würde das kirchliche Urteil ihre Visionsschriften dem Heiligen Geist zusprechen, aus dem die biblischen Prophetenreden stammen.¹⁹⁸ Zum anderen sei ihr die Niederschrift ihrer kirchlichen Schau als eine Art kirchliches Amt gegeben.¹⁹⁹ Denn Gott schicke den Geist nicht nur durch Weisheit und Wunder, sondern auch durch die Prophetie in den Menschen.²⁰⁰ So versteht sie Hildegard nicht nur als Gabe, sondern auch als Verschriftlichung von Inhalten, die im Leben des Lesers wirksam werden können. Prophetie hat einen Bezug zum konkreten Leben:

fänden. Wenn die Möglichkeit einer Faktizität einer solchen Prüfung erwiesen werden könnte, wäre auch zu fragen, ob jene nicht einen nachweisbaren Einfluss auf die Überlieferungsgeschichte und Rezeptionsgeschichte gehabt haben müsste.  Canonizatio, /, , Z .  Henryk Anzulewicz, „Wilhelm von Auxerre,“ in LThK  : .  Zum Prophetiebegriff in ihren inhaltlichen Ausführungen, insbesondere im ekklesiologischen Kontext vgl. das Kapitel . und . dieser Arbeit.  Liber Scivias, Pars Tertia,Visio , Cap. , , Z : contra prophetiam istam. Jene wird zuvor Z  als mystica verba huius libri bezeichnet. Es stellt sich die Frage, warum die Autorin nicht schon in der Protestificatio und in der ersten Vision des Liber Scivias ihr Werk als prophetia bezeichnet.  Liber Scivias, Pars Tertia, Visio Septima, Cap. , , Z : beatam intelligentiam regalis prophetiae.  Zum Zusammenhang von Prophetie und Kirchenreform bei Hildegard vgl. Constant J. Mews, „Hildegard, visions and religious reform,“ in „Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst“. Hildegard von Bingen ( – ), Erudiri Sapientia II, Hg. Rainer Berndt (Berlin: Akademie, ): .  Vita, , Z  f: ex Deo esse dixerunt et ex prophetia, quam olim prophetae prophetaverunt.  Ep. r, , Z : visionis huius munere.  Vita, , Z  f: cum Deus Spiritum suum per prophetiam et sapientiam vel per miracula in hominem mittit.

2.3 Vermengung der Erzählung der Entstehungszusammenhänge

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Mit dem Segen des himmlischen Taus werde erfüllt, wer sie 〈diese hier vorgelegte prophetia〉 umarmt, wer sie in seinem Herzen behält und wer sie in klare Lebenswege überführt.²⁰¹

2.3 Vermengung der Erzählung der Entstehungszusammenhänge und der theologischen Inhaltlichkeit im Motiv des Lebens Hildegard bietet nicht zuerst eine Metareflexion der von ihr geschilderten Schauvorgänge dar, um darauf inhaltlich zu einer Theologie des Lebens überzugehen.Vielmehr prägen umgekehrt ihre theologischen Ansichten zum Begriff des Lebens ihre Erklärung des Visionsgeschehens. Wie wir gesehen haben, ist es das Medium des „lebendigen Lichtes“ (lux vivens), ausgehend vom „lebendigen Gott“ (deus vivens), durch das sich die Protagonistin der erzählten Schau zu tieferen Einblicken (intellectus) in religiöse Sachverhalte anregen lässt. Der lebendige Gott und die Heilsgeschichte mit dem Ziel des ewigen Lebens werden wahrgenommen im „lebendigen Licht.“ Man kann hier von einer Lebendigkeit erster und zweiter Ordnung sprechen: Lebendigkeit erster Ordnung:

Der lebendige Gott und die Dynamik der Heilsgeschichte auf das ewige Leben hin.

Lebendigkeit zweiter Ordnung: Die Schau im lebendigen Licht. Jene hat die Lebendigkeit erster Ordnung nicht nur als Erkenntnisobjekt, sondern der lebendige Gott ist zugleich Bedingung der Möglichkeit ihrer Erkenntnis.

Diese Zusammenhänge formuliert Hildegard nicht als abstrakte Theorie, sondern auf der Ebene eines Sprachbildes der Spiegelung der Lichterscheinungen im Wasser: Das Licht, das ich sehe, ist kein örtliches. Sondern es ist viel durchscheinender als eine Wolke, die die Sonne trägt. In ihm vermag ich keine Höhe, Länge und Tiefe zu erwägen. Dieses Licht wird mir als der Schatten des lebendigen Lichtes bezeichnet. So, wie Sonne, Mond und Sterne im Wasser erscheinen, so leuchten für mich Schriften, Predigten, Tugenden und Werke der Menschen in jenem in konkreter Gestalt (formata) im spiegelnden Widerschein auf (resplendent).²⁰²

Es handelt sich hier um eine Schlüsselstelle für das Selbstverständnis Hildegards als Seherin und Autorin. Darin zeigt sich die Sprachkunst Hildegards, einen differenzierten Gedankengang in einem einzigen lateinischen Satz zu komponieren: Das erste Wort ist lumen, das letzte resplendent. Es geht also um das Licht und seinen spiegelnden Widerschein, wobei sich im einen Licht eine Vielzahl von Sach Liber Scivias, Pars Tertia, Visio Tertia Decima, Cap. , Z  – .  Ep. r, , Z  – : Lumen igitur, quod video, locale non est, sed nube quae solem portat multo lucidius, nec altitudinem nec longitudinem nec latitudinem in eo considerare valeo, illudque umbra viventis luminis mihi nominatur, atque ut sol, luna et stellae in aqua apparent, ita scripturae, sermons, virtutes et quaedam opera hominum formata in illo mihi resplendent.

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

verhalten spiegelt. So ist hier indirekt ein Zusammenhang zwischen dem einen Erkenntnismedium und einer Vielzahl von Erkenntnisobjekten hergestellt. Der Abschnitt spricht im ersten Verb von der Aktivität der Seherin (video), im mittleren Verb (mihi nominatur) von der ausdeutenden Stimme, und im dritten Verb (apparent) von der Daseinsweise der Erkenntnisobjekte im Erkenntnisvorgang der Schau im Medium des lebendigen Lichtes. So werden einerseits die Sehende, das Erkenntnismedium und die Erkenntnisobjekte benannt und andererseits die Vision eng mit der ausdeutenden Stimme verbunden. Die deutende Audition interpretiert also nicht nur die Schaubilder, sondern ebenso den Schauvorgang. Dabei wird das Licht als in einer Schwebe zwischen Überhelle und Verschattung (umbra) qualifiziert, als unvorstellbar klare Erkenntnisatmosphäre, die sich aber dem Menschen nur in einer Abschattung zeigt, die ihm die Erkenntnis verdunkelt erscheinen lässt. Jene Metaphorik von der Wolke,²⁰³ bei der die Wolke als Gotteszeichen der Exoduserzählungen (Ex 13,21) zur Helldunkel-Erkenntnis uminterpretiert wurde, entwickelten gleichermaßen Augustinus und Gregor von Nyssa. ²⁰⁴ Prägend für mittelalterliche Lehren von Gotteserkenntnis und Mystik wurde sie jedoch durch ihre Entfaltung bei Dionysius Areopagita ²⁰⁵ und bei Eriugena. ²⁰⁶ Für die Gotteserkenntnis im Schatten entwarf Hildegard eine eigene Bildallegorie, wobei sich das Erkenntnisobjekt selbst in der Schattenerkenntnis präsentiert: Ich zeige mich in der Verschattung (obumbratio), so wie der Maler das, was unsichtbar ist, durch die Bildfiguren (imagines) seiner Malerei den Menschen erklärt (declarat).²⁰⁷

Dem Schwebebereich des Erkenntnismodus zwischen Überhelle und Schatten entsprechen zwei unterschiedliche Formen eines Vergleiches mit Naturerscheinungen. Einmal wird das Vergleichsphänomen mit Komponenten aus der Natur im Komparativ übertroffen (nube quae solem portat multo lucidius). Beim zweiten Vergleich mit der Spiegelung der Gestirne im Wasser²⁰⁸ bleiben beide Vergleichsglieder auf einer Ebene.

 Wolken als eine flüchtige Verbindung von Irdischem und Himmlischen weisen auf „die Verborgenheit wie die Präsenz des Göttlichen“ hin (The Archive for Research in Archetypical Symbolism, Das Buch der Symbole, Hg. Ani Ronnberg and Kathleen Martin (Köln: Taschen, ), ).  Zum Motiv der Wolke bei Gregor von Nyssa vgl. Martin Laird, „Darkness,“ in The Brill Dictionary of Gregory of Nyssa (Supplements to Vigiliae Christianae ), Hg. Lucas Francisco Mateo-Seco, and Giulio Maspero (Leiden: Brill, ): ; ferner Jean Daniélou, Platonisme et théologie mystique. Doctrine spirituelle de Saint Grégoire de Nysse, Théologie , nouvelle édition revue et augmentie (Paris: Aubier, ),  – .  Vgl. Kurt Ruh, Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des . Jahrhunderts, Bd. , Geschichte der abendländischen Mystik (München: C.H. Beck,),  mit dem Hinweis auf De genesi ad litteram XII .  Peter Dronke, The Medieval Poet and his World (Rom: Edizoni di Storia e Letteratura,), . Auf die Symbolik der Wolke bei Eriugena wird in dieser Arbeit im Kapitel ... eingegangen.  Liber Scivias, Pars Tertia, Visio , Capitulum ,  f, Z  – .  Dabei deutet auch die Aufreihung von Sonne auf der einen Seite und Mond und Sternen auf der anderen Seite auf die Ambivalenz einer Hell-Dunkel-Erkenntnis hin.

2.3 Vermengung der Erzählung der Entstehungszusammenhänge

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Die drei Einzelzüge dieses Bildes, Licht, Wasser, Spiegelung sind erkenntnistheoretische Motive. Bei der späteren Analyse von einzelnen Visiones aus dem Liber Scivias und aus dem Liber Divinorum Operum, die den zentralen Teil dieser Arbeit bilden, wird sich zeigen, dass viele Bildsymbole Hildegards gleichzeitig Leben, Erkenntnis und literarische Selbstreflexion repräsentieren. Auf dem metaphorischen Weg der Umkreisung durch verschiedene Sprachbilder kann keine Totaltheorie zum Begriff des Lebens angestrebt werden.²⁰⁹ Darauf machen zum einen die Bildfiguren von Schatten und Nebel aufmerksam, zum anderen der Vorgang der Spiegelung. In ihm treffen sich zwar die Aktivität des Erkenntnissubjektes und die Erscheinungsweise der Erkenntnisobjekte, die wiederum vom von Gott gesandten „lebendigen Licht“ ermöglicht ist, so dass Gott zugleich Erkenntnisgarant und Erkenntnisobjekt sein kann. Doch zugleich eignet der Erkenntnis im Spiegel, die schon von Paulus als partielle Rätselerkenntnis umrissen wurde²¹⁰ eine Verkleinerung, Seitenverkehrung und Uneigentlichkeit der Erkenntnisqualität. Dies wird noch komplizierter dadurch, dass Hildegard nicht nur Sachverhalte in der Spiegelschau erscheinen lässt, wie Tugenden und Werke der Menschen, sondern auch Schriften (scripturae) und Reden (sermones), die ihrerseits Sachverhalte enthalten. Zudem wird das Motiv des Spiegels nicht nur explizit benannt, sondern implizit in der Werkstruktur nachgebaut: In den Visionen spiegeln sich die erkenntnistheoretischen Grundannahmen über das Motiv des Spiegels, insofern auf verschiedenen Darstellungsebenen Sprachfiguren von Spiegelung zu Strukturmustern werden. So spiegelt sich zum Beispiel eine Metaphorik in der anderen. Oder in einem Visionsbild erscheinen Bilder, die ihrerseits Bilder enthalten. Oder Personifikationen religiöser Sachverhalte, wie etwa der Tugendfiguren, sind einander zugewandt und bilden in ihren Äußerungen einen korrespondierenen Dialog (so als Grundmuster des Werkaufbaus im Liber Divinorum Operum). Oder Bildfiguren im Visionsbild enthalten wiederum ein Bild oder sind mit einem Bildsymbol geschmückt, dass auf Schau und Erkenntnis verweist, ein Phänomen, das ich in der Analyse einzelner Visionen als Bild im Bild bezeichnen werde. Des Weiteren beansprucht Hildegard nicht nur, die Grundformen ihrer Schriften in der Spiegelschau zu erblicken. Sondern das Medium der religiösen Erkenntnis ist nicht nur das lebendige Licht selbst, sondern auch die Bibel, durch den Heiligen Geist wurzelnd in der Rationalitas Gottes und durch die Spiegelerkenntnis im Glauben lesbar auf Gotteserkenntnis hin. ²¹¹

 Totaltheorien und Verabsolutierungen des Lebensbegriffes, wie sie im ersten Drittel des . Jahrhunderts unternommen wurden, bergen ideologische, totalitäre Gefahren in sich. Darauf wurde in der Einleitung zu dieser Arbeit an den Beispielen der Lebenstheologie Karl Adams hingewiesen. Die mangelnde Exaktheit von Andeutungen über ein Cluster von Symbolen, wie sie bei Hildegard zu beobachten ist, eröffnet hier durchaus Impulse, solche Verabsolutierungen zu vermeiden.   Kor ,: videmus nunc per speculum in aenigmate.  Ep. r, CCM  A, , Z – . Jener Brief an eine Regensburger Äbtissin von  gehört dem Spätwerk an, in dem sich Hildegard noch intensiver mit diesen Fragen beschäftigte.

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

So treffen drei verschiedene Formen von Spiegelerkenntnis zusammen. Auf der bildlichen Ebene ausgedrückt: Es spiegeln sich drei verschiedene Spiegel ineinander: Die Spiegelschau im Glauben, die Spiegelschau in der gläubigen Lektüre der Schrift und die Spiegelschau in der Vision. Es wäre also von „Spiegeln in Spiegeln“ zu sprechen. Ähnlich kennt Hildegard eine Spiegelschau im Vollzug der Sakramente. So treffen beim Sakrament der Taufe wiederum die beiden Sprachbilder vom Spiegel und von der Quelle des lebendigen Wassers zusammen.²¹² Es wurde bereits angesprochen, dass die Schriften und Predigten sozusagen nicht „druckfertig“ in Menschensprache erscheinen, sondern in Verständniskernen, die erst noch literarisch ausgestaltet werden müssen. Dass gerade in der Schau Schriften und Reden erscheinen, betont den Vorrang der akustischen und verbalen Ebene bei den Mitteilungen von Gott. Auch anhand dieser Beobachtung könnte man höchstens eingeschränkt von einer Bildtheologie bei Hildegard reden, da die Bildlichkeit eher dienende Funktion für die Verbalität hat, einerseits zur Erzeugung einer Erkenntnisatmosphäre, andererseits zur Figuration von Zusammenhängen, die dann durch die als transzendent geschilderte, deutende vox, oder durch Seitensätze der Autorin selbst erläutert werden. Für unseren Untersuchungszusammenhang einer Theologie des Lebens bei Hildegard ist bedeutsam, dass religiöse Erkenntnis und Werkentstehung in Symbolbildern des Lebens geschildert werden. Dabei ist nicht nur das „Licht“ ein Vorstellungsbild für Erkenntnis, sondern ebenso das „Wasser“ als Symbol sowohl für Spiegelerkenntnis als auch für Lebensfrische²¹³ und Erneuerung. So kann die Autorin Kurzverweise aus dem Bildkreis der Wassersymbolik wie eine Chiffre einsetzen, um den Zusammenhang zwischen vertiefter religiöser Wahrheitserkenntnis, Lebenszusage durch Gott und geistgetragenen Elan zur religiösen Umkehr und kirchlichen Erneuerung ins Spiel zu bringen. Während in der Visionstrilogie Anklänge auf eine regeneratio spiritus et aquae ²¹⁴ sozusagen zum „Grundwasserspiegel“ zentraler Werkaussagen werden,²¹⁵ fallen im Briefkorpus exhortative Kurzverweise auf den Springquell des Lebens auf: Baue deinen Geist nun wieder zum Guten auf (ab bona restaura) und schaue hin auf die Quelle des lebendig springenden Wassers (aspice in fontem aquae salientis).²¹⁶

 Liber Scivas, Pars secunda,Visio , Capitulum , , Z  – : per speculum fidei in fonte viventis aquae.  Auf eine ähnliche Symbolkombination beruft sich die japanische Philosophie des Lebensbegriffes (Vgl. Gerhard Pfulb, „Lebewesen und tote Dinge. Ein metaphorisches Gegensatzpaar in Japan ( – ),“ in Archiv für Begriffsgeschichte  (): .) Es handelt sich mithin um ein menschheitliches Ursymbol.  Liber Scivias, Pars Prima, Visio Secunda, Cap., Z  f: gloriam sponsi sui in regeneratione Spiritus et aquae palam praedicavit.  Siehe hierzu die Verweise im Kapitel . und . sowie im Kapitel .  Ep. r, Epistolarium, Pars Prima, CCM , edidit Lieven van Acker (Turnhout: Brepols, ), , Z : Nunc mentem tuam ad bona restaura et aspice in fontem aquae salientis. Das Verb aspice

2.4 Hermeneutische Schlussfolgerungen

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2.4 Hermeneutische Schlussfolgerungen für eine heutige wissenschaftliche Interpretation Welche Schlussfolgerungen können aus diesen Untersuchungen für die noch ausstehende Entwicklung einer wissenschaftlichen Hermeneutik für das Opus Hildegardianum gezogen werden? Wie oben dargestellt wurde, verfolgt Hildegard intensiv ein Bündel von Strategien, um die Rezeption durch den Leser zu lenken. Diese Leserlenkung muss in einer wissenschaftlichen Erforschung der Theologie Hildegards methodisch reflektiert analysiert werden. Deswegen seien abschließend einige aus unserer Darlegung resultierende Hinweise benannt, zunächst in methodischer Hinsicht, sodann in inhaltlicher Konzentration auf die Erforschung des Begriffes von „Leben“ bei Hildegard: 1. Entsprechend des Grundduktus dieser Arbeit sollten inhaltliche, theologische Äußerungen nicht losgelöst von ihrem jeweiligen sprachlichen Gewand interpretiert werden. Dies verlangt neben der Berücksichtigung topologischer Traditionen der antiken und mittelalterlichen Rhetorik ein Aufspüren von Darstellungsstrategien, die sich nicht immer direkt an der Textoberfläche zeigen. Daher ist für eine Interpretation der Theologie Hildegards eine exemplarische Mikroanalyse ausgewählter Textcorpora²¹⁷ hinsichtlich der Stilebenen, Stilmittel und Redefiguren unverzichtbar. 2. Hildegard kann als Beispiel für eine biographische Theologie im Mittelalter gelten.²¹⁸ Sie zieht individuelle autobiographische Details zur Legitimation theologischer Aussagen mit größerem Geltungsradius heran. Hier knüpft sie an paulinische Denkmuster (2 Kor 6, 9 f) an. Zugleich wird umgekehrt die eigene Biographie auf theologische Aussageziele hin stilisiert.²¹⁹

wird auch verwendet für die Aufschau der Seherin zum lebendigen Licht: ut de hoc ad verum lumen diligentius aspicerem (Ep. r, ,  f).  Als Motto hierzu könnte eine Überleitung der Redaktoren innerhalb der Textmontage des autobiographischen Materials der Vita dienen: textus visionum eius producatur in medium (Vita, , Z ).  Ein bekanntes Beispiel für jene Literaturgattung nach dem Vorbild der augustinischen Confessiones ist De vita sua monodiarum libri tres, PL :  – , des Guibert von Nogent ( – ). Es geht jedoch bei diesem theologischem Feld nicht nur um gattungsgeschichtliche Fragen, sondern um eine Hermeneutik vom theologischen Wert des Einzellebens als locus theologicus der Heilsgeschichte.  So soll sich der Lebensort der Autorin verändern, damit die Visionen an einem würdigen Ort niedergeschrieben werden (Vita, , Z  – : vocem magnam audivi me prohibentem, ne quicquam amplius in loco illo de visione hanc proferrem vel scriberem.) Dies könnte man mit dem theologischen Fachwort der Heterotopie bezeichnen. Ebenso jedoch dient diese Schilderung der Rechtfertigung einer Lebenswende und der daraus resultierenden Schwierigkeiten mit Oberen und Mitschwestern.

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2 Zur literarischen Konstruktivität der Selbstdarstellung Hildegards als Autorin

3. Theologische Seitenbemerkungen zu einer christlichen Auffassung vom Lebensbegriff werden mit einem Verständnis von Leben als individueller Biographie korreliert. Allerdings sind dabei, anders als in einem heutigen Verständnis einer subjektorientierten Korrelationstheologie, individuelle Erlebnisse als transitorische Begebenheiten skizziert, die mit dem Ausblick auf eine allen Gläubigen versprochenen Freude im ewigen Leben relativiert werden. Bereits in diesem Untersuchungsstadium anhand autobiographischer Texte kündet sich eine Zweistufigkeit zwischen dem hinfälligen irdischen Leben und dem ewigen Leben in Freude an, zwischen vita praesens und vita aeterna, zwischen vita caduca und vita futura. ²²⁰ 4. Hildegard kleidet ihre Anschauungen und ihr philosophisches und theologisches Grundwissen zum Begriff des Lebens in die sprachliche Form einer Gottesrede. Gott wird als Lehrer über das Verständnis von Leben dargestellt, weil er das Leben selbst ist.²²¹ Jedoch wird die Medialität des von ihm ausstrahlenden lebendigen Erkenntnislichtes nicht ungebrochen an den Menschen vermittelt, sondern im Spiegel und in der Verdunklung. Daher trägt die Autorin ihre Theorie des Lebens zwar einerseits mit dem auktorialen Geltungsanspruch vor, Mitteilungen von Gott selbst in die menschliche Sprachwelt zu vermitteln. Andererseits macht sie stets auf Einschränkungen dieser Erkenntnisse aufmerksam, die nicht nur in Defiziten des menschlichen Erkenntnisvermögens liegen, sondern in der Eigenart der Vermittlung zwischen Gott und Mensch. Darum wird in der nun folgenden Analyse von einzelnen Visiones aus dem Liber Scivias und dem Liber Divinorum Operum jeweils auf solche erkenntnistheoretischen „Lichtbrechungen“ in den Deutungen Hildegards hingewiesen und auf ihre Entsprechungen von Verschattung, Dunkelheit und Leere in der Bildlichkeit der Visiones.

 Vita, Liber II, , Z  f, in der für Hildegard typischen Parallele eines Dualismus zwischen Seele und Körper.  Vgl. Vita , Z  f sowie Explanatio Symboli, ,  f: quoniam vita una a seipsa est, a quo omnia vitalia sunt.

3 Visiones aus dem Liber Scivias 3.1 Der Geist erhebt den Geist: ¹ Durchblick zum Leben in der Visio SV III,10 3.1.1 Überblick über den Textabschnitt 3.1.1.1 Formale Analyse der ganzen Visio Entgegen der Reihenfolge des Gesamttextes wird die Analyse der Visio SV III,10 an den Anfang der Untersuchungen gestellt. Denn die Bekanntschaft mit ihrem Aufbau und ihrer Symbolik dient als Exordium für Leitmotive, die in dieser Dissertation im Verlauf eines spiralförmigen Untersuchungsganges immer wieder begegnen werden. Die zehnte Visio des dritten Teils des Liber Scivias ist der letzte Abschnitt des Werkes, bevor die Auseinandersetzungen der Endzeit und der eschatologische Friede geschildert werden. Daher leiten die letzten Kapitel der Visio zu jenen Inhalten über. Durch die Beschreibungen der geschauten Bilder sind die Textteile der Tertia Pars des Liber Scivias aufeinander bezogen. Hierzu gibt die Autorin direkte und indirekte Signale der Textphorik an den Leser: Direkte Verweise auf vorausgehende Visionsberichte sind durch deiktische Pronomen, Adjektive und Partizipien gekennzeichnet.² Implizite Verweise zeigen sich durch die Fortführung und Ausdifferenzierung der Symbolsprache. Die Visiones des dritten Teiles können wie ein fortlaufender Film einer Kulisse von Symbolgebäuden der kämpfenden und himmlischen Kirche gelesen werden. Wie im ganzen Buch Scivias wird berichtet, dass ein „Sitzender auf dem Thron“ gesehen und gehört wird.³ Die erste Visio des dritten Teiles berichtet von einem Gebet, das die Autorinnenfigur des Werkes in der Schau gesprochen habe. In ihm wird die Sprecherstimme als Gott-Vater angerufen.⁴ Über die Nennung des „Berges“ und zweier kleiner „Fenster“ ist eine Rückbindung an die Bildsprache der ersten Vision des ersten Teiles erzielt.⁵ Dies kann ein indirekter Hinweis an den Leser sein, dass eine sorgfältige Lektüre des Gesamtwerkes erwartet  Hildegardis Bingensis Liber Scivias, edidit Adelgundis Führkötter, collaborante Angela Carlevaris, CCM / A (Turnhout: Brepols, ), Pars Tertia, Visio , Z  f. Im Folgenden werden Stellen aus dieser Vision nur durch die zu ihr gehörende Zeilenangabe belegt. Bei Passagen aus anderen Teilen des Liber Scivias und weiteren Werken Hildegards wird das betreffende Werk genannt. Diese Verfahrensweise wird ebenso in den weiteren Analysekapiteln beibehalten bleiben. Die lateinische Orthographie, die in den kritischen Textausgaben verschiedener Opera Hildegards nach unterschiedlichen Richtlinien ausgestaltet wurde, ist in dieser Arbeit vereinheitlicht. Die deutschen Übersetzungen stammen von mir.  Z  – : et post haec, ….praemonstrati, …..praedictae, ….praefatus.  Z : Et lucidus qui sedebat in throno iterum mihi dicebat.  Pars III, Visio Prima, Z  f: O bone ac mitis Pater, …. O tu metuende Pater.  Pars I, Visio Prima, Z  – : Vidi quasi montem… et super ipsum quendam tantae claritatis sendentem; Pars I, Visio Prima, Z.  f: In ipso autem monte quasi plurimae fenestellae videbantur.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

wird, bei der solche Querverbindungen selbst entdeckt und im Auge behalten werden sollen. Die Visio gliedert sich in zwei große Teile: In der zweiten Hälfte setzt die Deutung der erzählten Bilder durch die gehörte Stimme ein.⁶ Der Bildbericht zu Beginn der Visio fällt knapp aus, um in eine längere Rede eines geschauten iuvenis ⁷ überzugehen. Jener weist sich erst später als Menschensohn⁸ aus, um dann im Deutungsteil in der dritten Person als Sohn Gottes vorgestellt zu werden.⁹ Solche Verzögerungen der Benennung einer Redefigur sind in der Vision immer wieder zu beobachten. Möglicherweise soll beim Redeantritt einer neu in die Darstellung eintretenden Person der Spannungsbogen gehalten werden: Die sprechende Person präsentiert sich jeweils erst durch Selbstaussagen über ihr Verhalten und ihre Rollen im Heilsgeschehen, bevor der Leser ein Begriffsetikett mit seinen eigenen Assoziationen füllen könnte. In der Rede des Menschensohnes wird die Symbolverbindung vom „Acker des Herzens“ eingeführt. Sie hat kein direktes Pendant in den Gegenständen, die im vorausgehenden und später wieder fortgeführten Schaubericht vorkommen. Die sprachliche Analyse wird jedoch aufdecken, dass es indirekte Bezüge zwischen den Bildlandschaften der Ansprache des Menschensohnes und des dann wieder einsetzenden Visionsberichtes gibt. Dennoch ist zu überlegen: Warum lässt die Autorin erst den jugendlichen Menschensohn direkte Ermahnungen an den Leser – sowohl an die Eheleute, als auch an die Ehelosen unter ihnen¹⁰ – vorbringen, ehe sie durch Erzählungen, die den visuellen Vorstellungssinn ansprechen, und durch deren Deutungen vertieft werden? Dies belegt wiederum das Bemühen der Schriftstellerin, die Rezeption durch den Leser direkt zu lenken. In der Weiterführung der Bildreihe über das Heilsgebäude der Kirche, die sich über den ganzen dritten Teil des Buches Scivias entwickelt, werden fünf Tugendfiguren, imagines, dargestellt. Jedoch werden sie nicht nur aus einer übergeordneten Autor Ab Zeile , bei insgesamt  Druckzeilen.  Zur Vorstellung eines Gottes, der in Christus jugendlich den Sprung zur Erde vollzieht, in der Vulgärtheologie des . Jahrhunderts vgl. Peter Dinzelbacher, Hoch- und Spätmittelalter, Bd. , Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum in  Bänden, Hg. Peter Dinzelbacher, mit einem Beitrag von Daniel Krochmalnik (Paderborn/München/Wien/Zürich: Ferdinand Schöningh, ), .  Z  f: audite me Filium hominis dicentem ad vos.  Z : filius hominis, Filius videlicet Dei. Die Sinnrichtung des Hoheitstitels „Menschensohn“ ist aus heutiger exegetischer Perspektive nicht exakt bestimmbar. Sie changiert zwischen einer Metonymie, einer betonten Umschreibung, für das Ich Christi und einer Metapher für den Anbruch der Gottesherrschaft durch ihn. Daher wird der Titel „Menschensohn“ zuweilen als „Kompositionsmetapher“ erklärt, „…die Naheliegendes, aber bisher Unvorstellbares als existierende Wirklichkeit aufdeckt“. (Detlev Dormeyer, Einführung in die Theologie des Neuen Testaments (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), .) So ist die Bezeichnung „Menschensohn“ zwar eine der häufigsten im Neuen Testament, erklärt sich jedoch nicht aus den Texten selbst (Müller, Mogens, „Menschensohn im Neuen Testament,“ in RGG  , .).  Schon Gregor schreibt in dem Doppelkapitel seiner Regula Pastoralis über Verheiratete und Ehelose zuerst über die die Eheleute (Gregor der Große, Regula Pastoralis, III, ).

3.1 Der Geist erhebt den Geist: Durchblick zum Leben in der Visio SV III,10

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perspektive in der dritten Person beschrieben, sondern sie stellen sich in Ich-Aussagen selbst vor. Weitere indirekte Aussagen machen sie durch die von ihnen eingenommen Blickwinkel auf die anderen Figuren. Teilweise spezifizieren zusätzliche Attribute, welche Werte und Haltungen sie repräsentieren. Auch im nachfolgenden Werk Liber Vitae Meritorum treten diese Tugendfiguren in derselben Fünfergruppe auf.¹¹ Ihre Namen beginnen alle mit C: constantia, caelestis desiderium, compunctio cordis, contemptus mundi, concordia. ¹² Anlässlich deren Anfangsbuchstaben C sei auf die Häufung von Worten mit religiöser Semantik mit diesem Anfangslaut aufmerksam gemacht.¹³ Eine solche findet sich auch schon bei Augustinus mit Nomen aus dem Umkreis der symphonia. ¹⁴ Es ist gerade der Zusammenhang von Lautebene und Semantik, der die Schwingungsräume zwischen der Oberflächenstruktur und der Tiefenstruktur eines Textes erzeugt.¹⁵ Zu den explizit genannten Handlungsträgern treten „Welt“ und vom Text angesprochene „Menschen“ als Akteure hinzu. Über Anreden und Appelle sind Welt und Menschen der Rezeptionszeit zur Interaktion mit dem Geschehen im Text eingeladen.

 Liber Vitae Meritorum, CCM , edidit Angela Carlevaris (Turnhout: Brepols, ), Pars Quarta, cap.  – . Hierbei stellen sich jene Tugenden nur indirekt, vor der Widerrede gegen die Selbstscharakterisierung der ihnen entgegengesetzten Laster. Einige Tugenden schreiben sich Attribute des Lebens zu: Das caelestis desiderium versteht sich als Leben und Grünkraft (viriditas) in den guten Werken (Liber Vitae Meritorum, Pars Quarta, Z  f). Der compunctio cordis wird die Speise des Lebens (cibus vitae) gereicht (a.a.O., Z ).  Vgl. die textnahe Zusammenfassung bei: Gabriele Lautenschläger, Hildegard von Bingen. Die theologische Grundlegung ihrer Ethik und Spiritualität (Stuttgart: Frommann-Holzboog, ),  f.  In der Visio sind zahlreiche sinntragende Worte zu beobachten, die mit C beginnen, wobei der Klanglaut des C öfters durch Stabreimketten verstärkt ist. Im folgenden eine Auswahl jener Stichworte: cadere, caelestis, candor, claritas, coadunare, cogitatio, cognoscere, cohaerere,colligatio, columna, compassio, communicare, compati, concipere, concordia, concorditer, conculcare, coniunctio, consortium, confortari, conscientia, conscribere, considerare, consilium, consortium, constituere, consummare, contritio, convertere/converti, crux.  Sancti Aurelii Augustini de trinitate libri XV, CCSL – L Aurelii Augustini Opera Pars ,, cura et studio W.J. Mountain, auxiliante Fr. Glorie (Turnhout: Brepols, ), IV, II, , Z  – : Haec enim congruentia (sive convenientia vel concinentia vel consonatia commodius dicitur quod est unum ad duo) in omni compaginatione vel si melius dicitur coaptatione creaturae valet plurimum. Hanc enim coaptationem, sicut mihi nunc occurit, dicere volui quam graeci αρμονιαν vocant.  Vgl. Annette Luisier, „Strukturalismus,“ in Literaturtheorien des . Jahrhunderts, Hg. Ulrich Schmid, (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ), . Im vorliegenden Fall beginnen etliche Verben und Tätigkeitsnomen, die innere religiöse Akte ausdrücken, so wie der Zielbegriff caelum mit C. Trotz des etwas anderen Klanges kann man auch „Christus“ zu diesem semantischen Feld zählen. Ein Großteil der Worte sind Composita mit der Präposition cum – eine Sprachstruktur, auf die weiter unten noch eingegangen wird.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

3.1.1.2 Kriterien für die Auswahl der untersuchten Redeformen und Bilder Kriterium für die Fokussierung auf bestimmte Symboliken und Aussageweisen war nicht allein die Häufigkeit der Nennung oder die Breite der Schilderung.¹⁶ Vielmehr schälte sich ein Motivkreis heraus, der durch seine Anknüpfungspunkte auf metaphorologischer Ebene auf theologische Zusammenhänge aufmerksam macht. Denn die hier beleuchteten Symbole von Acker, Herz, Hirsch und Fenster haben drei Gemeinsamkeiten: 1. Sie sind Symbole des Lebens.¹⁷ 2. Sie weisen auf Entgrenzungen des fiktionalen Raumes hin. 3. Sie dienen für Metareflexionen über die Aussagemöglichkeiten literarischen Sprechens. Der mit Acker und Hirsch zusammenhängende¹⁸ Bildkreis von „Wasser/ Quelle/ Brücke“ sei hier nur am Rande gestreift, da er in einem anderen Kapitel gründlicher untersucht werden wird. Es finden sich nämlich in der vorliegenden Visio nur knappe Verweise auf das Wasser als johanneisches Zeichen des Lebens.¹⁹ Bei den untersuchten Redeformen wird im Folgenden auf sprachliche Strukturen aufmerksam gemacht, die als häufige stilistische Eigenheiten in stabilen Korrelationen zu theologischen Bedeutungsmomenten stehen.²⁰

 Die Kleidsymbolik und die Gebäudesymbolik wurden hier nicht berücksichtigt, zumal weil zu beiden schon Untersuchungen vorliegen. Über die „Architektursysteme als universale Raumkörper“ vgl.: Barbara Maurmann, Die Himmelsrichtungen im Weltbild des Mittelalters. Hildegard von Bingen, Honorius Augustodunensis und andere Autoren, Münstersche Mittelalter-Schriften  (München: Wilhelm Fink, ), . Zur Kleidsymbolik: Bertha Widmer, Heilsordnung und Zeitgeschehen in der Mystik Hildegards von Bingen, Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft  (Basel/Stuttgart: Helbing & Lichtenhahn ),  – .  Der Hirsch, dessen Geweih sich erneuert, ist bereits in der keltischen Mythologie Sinnbild der Lebenserneuerung. Vgl. Gertrud Maria Rösch, „Hirsch,“ in Metzlers Lexikon literarischer Symbole, Hg. Günter Butzer and Joachim Jacob (Stuttgart: J.B. Metzler, ): . Zur Erde als Zeichen des Lebens vgl. Sascha Monhoff, in Metzlers Lexikon literarischer Symbole, Hg. Günter Butzer and Joachim Jacob (Stuttgart: J.B. Metzler, ): .  Vgl. Hans Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, Hg. Ulrich von Bülow and Dorit Krusche (Berlin: Suhrkamp, ), .  Z  f in dem Formular eines Gebetsvorschlages an den Leser, der sich solche Worte zu eigen machen könne: ita ut cum rectis suspiriis bibam de aqua fontis vivi, qui me faciat gaudere in vita. (Bezug auf Apk ,). Vgl. die hildegardianische Deutung und die Auslegungsgeschichte zu „Wasser des Lebens“ im Kapitel . Hildegard vermeidet wie auch bei anderen Symbolen und geistlichen Grundworten nicht die Ambivalenz des Symbols: Innerhalb des zehnten Vision der Pars Tertia wird Wasser ebenso zum Zeichen des drohenden geistlichen Todes, der nur durch Christus als Brücke vermieden werden kann (Z  – ).  Sie werden jeweils formalisiert und durch einen Rahmen hervorgehoben. Ihre Identifikation kann als ein Analogat zu einer Motifemanalyse gesehen werden. (Zur Motifemanalyse vgl: Stefan Alkier, Neues Testament (Tübingen: A. Francke, ),  – .) Im Unterschied hierzu werden jedoch nicht nur typische heilsgeschichtliche Handlungsmuster katalogisiert, sondern zugleich deren Spiegelung in häufig beobachtbaren Sprachstrukturen.

3.1 Der Geist erhebt den Geist: Durchblick zum Leben in der Visio SV III,10

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Über den Weg der Deutung von Einzelmomenten fördert die literarische und theologische Untersuchung ein tiefer liegendes Gerüst von Grundgedanken zu Tage, die um die religiösen Innenbewegungen der Verinnerlichung und der Erhebung durch den heiligen Geist zum ewigen, glückseligen Leben kreisen.

3.1.2 Untersuchung einzelner Bildmotive für Leben 3.1.2.1 In agro cordis: Der innere Acker des Herzens Hildegard von Bingen fasst zwei biblische Symbole in einer Attributkomposition zusammen: Der sogenannte „Acker des Herzens“. Diese beiden Symbole sind noch nicht in der Bildsprache des Visionsberichtes enthalten, durchziehen aber durchgängig seine verschiedenen Deutungsebenen. Ihre Bildwerte beeinflussen sich gegenseitig. Das Motiv vom Acker geht auf die neutestamentlichen Gleichnisse von den unterschiedlich fruchtbaren Böden, vom Schatz im Acker und von den Talenten zurück. (Mth 13,25; Lk 19,12– 27). Hildegard lässt den Menschensohn in Anspielung auf die matthäische Allegorie (Mth 13,19)²¹ den „guten Acker“ mit einem „guten Herzen“ vergleichen: Dem Menschen, der mit gutem Herzen den Samen meines Wortes freiwillig aufnimmt, teile ich die großen Gaben des Heiligen Geistes wie einem guten Acker im Überfluss zu.²²

In diesem Zitat werden weitere Kernbegriffe genannt, die die ganze zehnte Vision prägen: Der Heilige Geist und die Dimension des Überflusses (superabundanter). Auf der Bildebene des Ackers wird das Überborden der Ernte öfter wiederholt.²³ Dies ist ein Hinweis, dass in den Lebenssymbolen von Acker und Herz das Leben als Leben im Überfluss (Joh 10,10)²⁴ gezeichnet wird. Der Abfolge von labor – sudor – fructus im Ackerbau entspricht auf der Ebene der Tugend labor – cultus – merces/praemium. So umfassen „Acker“ und „Herz“ als

 Bereits im Kontext des Matthäusevangeliums dient die Bildsprache vom Acker zu einem Metagleichnis über die Aussagbarkeit und Verstehbarkeit von Gleichnissen über das Reich Gottes. Dass Hildegard gerade dieses Metaphernfeld wählt, lässt zwei Schlussfolgerungen zu. Erstens: Metareflexionen über eine angemessene Sprachlichkeit für Glaubensgeheimnisse begleiten ihr Schaffen als religiöse Autorin. Zweitens: Diese Reflexionen bleiben – anders als bei manchen modernen Literaten – jedoch nicht in der Schwebe.Vielmehr leitet sie daraus einen hohen Anspruch ihres eigenen Werkes als Zugang zur Deutung der Heiligen Schrift ab. Jenen unterstreicht sie, in dem ihre Metareflexionen durch biblische Anspielungen wie auf Mth  in alle Teile ihrer Werke eingeflochten sind.  Z  – .  Z  superabundanter, Z  f superabundent.  Vulgata Joh , : ego veni ut vitam habeant et abundantius habeant. Zum gegenwärtigen Konzept einer pleromatischen Theologie vgl. Ralf Miggelbrink, Lebensfülle. Für die Wiederentdeckung einer theologischen Kategorie, Quaestiones Disputatae  (Freiburg im Breisgau: Herder, ), .

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

Symbole für Leben²⁵ in der Genitivverbindung „Acker des Herzens“ verschiedene Anläufe, das Verhältnis von Gnade und Werk im Leben des Christen zu beschreiben. Denn „Blühen“ und „Blumen“ gestalten das Bildfeld des Ackers aus: Mit den Worten des Hohenliedes bezeichnet sich der Menschensohn in der Selbstprädikation in seiner Rede als flos campi. ²⁶ Gemäß der Ausdeutung der Vision durch die Stimme, die als Stimme des Vaters Christi verstanden werden kann,²⁷ blühen menschliche Tugenden in der Menschwerdung des Erlösers durch die von Gott vermittelte Tugend von oben her.²⁸ Es ist eine für die Sprache Hildegards typische Konstruktion, dass ein menschliches oder kreatürliches Werk sich „in“ dem Ermöglichungsgrund durch Gott ereignet: grammatikalische Struktur²⁹ für kreatürliches Tun in der Ermöglichung durch das Heilshandeln Gottes: in & Ablativ (Wortfeld des Heilshandeln Gottes) & Verb

Bei dieser Wendung kann abgewogen werden, ob es sich um einen Ablativus Instrumentalis, oder um einen Ablativus Qualitatis oder um eine Art Ablativus Originis bzw. Ablativus Loci handelt: Eine Person handelt aus ihrem Stand in dem betreffenden Heilswerk Gottes an ihr heraus. Die untersuchte Visio beschreibt vor allem das ökonomische Heilshandeln vom Sohn Gottes und von dem Geist als Heilsmittler des Sohnes. Dabei wird eine Heilszusage im Futur an den Leser gemacht, indem sich der Menschensohn wie als Gärtner in der Vermittlung durch den Heiligen Geist dem Menschen zuwendet. Jene Heilszusage bezieht sich über das Stichwort des Ackers unmittelbar auf den Leser, der zuvor aufgefordert wurde, den Acker seiner Gesinnung³⁰ zu zeigen. Der Menschensohn will für sich im Rezipienten einen Acker der Bereitschaft für Gott bereiten, einen Acker, der zum Eigentum Christi wird:³¹ In dir bereite ich diesen Acker für mich!³²

 In der uns nach bisheriger Kenntnis nur aus dem . Jahrhundert erhaltenen Fassung des medizinischen Werkes von Hildegard von Bingen, den Causae et Curae, ist das organische Herz der Sitz der Seele. Bei dieser Erläuterung taucht auch die Metaphorik von „Fenstern“ auf, durch das die Seele mit ihrem Sitz im Herz ein Erkenntnislicht für ihre Erwägungen gewinnt: Beatae Hildegardis causae et cure, Rarissima Mediaevalia Opera Latina I, edidit Laurence Moulinier, recognovit Rainer Berndt (Berlin: Akademie, ), liber II, , Z  – : Sic et anima in corde velut in domo sedens cogitationes … quasi per fenestras considerat.  Z  (Hld ,), vgl. Z  f.  Vgl. hierzu unten Anmerkung .  Z  – : quia 〈haec virtus〉 in incarnatione eiusdem salvatoris per supernam virtutem floruit.  Solche Grundstrukturen sollen im Verlauf der Arbeit gesammelt werden und dann im Kapitel  über Hildegard und ihre Sprache der Theologie zusammen gestellt werden.  Z  f: agrum animi tui.  Z  f: eundem agrum meum in corde tuo.  Z : agrum illum paro mihi in te.

3.1 Der Geist erhebt den Geist: Durchblick zum Leben in der Visio SV III,10

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Dies wird bildlich ausgefaltet in einer Hauptsatzkette mit dem Anfangswort „ego“ und dem Schlusswort „pascam“, als einer indirekten Anspielung auf den Menschensohn als Guten Hirten: Ich werde Rosen und Lilien und andere sehr gute farbige Kräuter (pigmenta) in jenen Acker sähen, und ihn durch die Inspiration des Heiligen Geistes fleißig bewässern. Diese Blumen werde ich in der Grünkraft (in viriditate) und in der Blühkraft (in floriditate) dieses unverletzten Ackers weiden.³³

Hier fallen die hildegardianischen Grundworte der viriditas und floriditas. „Floriditas“ markiert einen Hinweis auf das verlorene Paradies, das durch den Menschensohn wieder als eschatologischer Endzustand aufgebaut werden soll.³⁴ Der Zusage des Aufblühen-Lassens des Menschen in Tugenden korrespondieren wiederholte Mahnungen zur Innenschau: Im Wechsel der Bildebenen wird angemahnt, gleichsam das Unkraut aus dem Ackers des Herzens herauszureißen.³⁵ Dies wird im Perfekt als eine Handlung geschildert, die schon vor der Aufforderung an den Leser³⁶ hätte geschehen müssen. Dies ist ein Beispiel für häufige hildegardianische Formulierungen einer Art „Anthropodizee“: Die Autorin lässt Gott oder den Sohn Gottes immer wieder Anklagen an den Menschen richten. Innerhalb der hier untersuchten Visio werden mögliche Gegenargumente des Lesers vorwegnehmend entkräftet: Du kannst dich nicht herausreden!³⁷

Gemäß der Tugendfigur der Herzenszerknirschung, der compunctio cordis, die im Erzählverlauf der Visio nach der Rede des Menschensohnes beschrieben und gedeutet wird, soll der Angesprochene zu Buße³⁸ und Besserung³⁹ motiviert werden. Dies wird als schmerzvoller Prozess eingefordert,⁴⁰ wobei die Wunden des Herzens, die vulnera cordis, Wert vor Gott haben.⁴¹

 Z  – .  Z : cum Adam de terra floriditatis proiectus est.  Z : O homo, quare non inspexisti agrum animi tui, ut eradicares inutiles herbas et spinas et tribulos.  Von der heutigen wissenschaftlichen Lektüre aus sei von einem „Leser“ des Textes gesprochen. Im Duktus des Textes kann jener aber ebenso als „Hörer“ der in ihm niedergeschriebenen Reden verstanden werden, weil sich jene nicht nur an die Erzählerfigur und an weitere Rollenträger innerhalb des Textes richten, sondern immer wieder sozusagen aus dem Text heraus direkt zum Rezipienten sprechen, der als idealer Rezipient gemäß der Intention des Textes ein Hörer im Glauben (Röm ,) wäre.  Z : Unde excusare te non vales – Z  f: te non potes excusare.  Z : paenitentiam ex corde fac; Z : circumcisio mentis.  Z  –  auf der Bildebene: Aus dem Unkraut sollen nützliche Kräuter und schöne Blumen werden.  Z : requiro vulnera et dolorem cordis tui.  Z : vulnerato corde …invocaveris me.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

Doch das Herz ist nicht nur Organ der Reue, sondern ebenso Ort der Offenbarung für den Glauben der Menschen: In den Herzen der Menschen wird die Offenbarung (manifestatio) der himmlischen Dinge in zwei Spiegeln des Glaubens gezeigt.⁴²

Das Symbol des Herzens wird nicht nur für den Heilsweg des einzelnen Menschen verwandt. Es dient ferner als Bild für den Heilsplan Gott-Vaters, der seinen Sohn zur Erlösung der Menschen in die Welt sandte.⁴³

3.1.2.2 Sicut cervus desiderat: Sprung und Lauf zum Lebensquell Ein weiterer Schwerpunkt der „Bildregie“ und Ausdeutung im hildegardianischen Text liegt auf der Metaphorik des Hirsches als Subjekt und Objekt von Sehnsucht und Erlösung. Bereits in dem Psalmvers Ps 41(42),2 ist die Doppelstruktur von Bildebene und Sachebene in der Deutung auf die Seele hin vorgegeben: So wie der Hirsch die Wasserquelle ersehnt, so sehnt sich meine Seele nach Gott.⁴⁴

Das Sprecher-Ich wird von Hildegard als Tugendfigur, imago,⁴⁵ der himmlischen Sehnsucht, des caelestis desiderium, vorgestellt. Diese Tugendfigur blickt auf eine

 Z  f: in cordibus hominum manifestatio caelestium in duobus speculis fidei demonstrata. Vgl. die Deutung unter ..  Z  – ; ähnlich in der Symphonia: Im Sohn zeigt sich die innere Kraft des Vaters, der sozusagen den Sohn sozusagen aus seinem Herzen ausatmet. (Carmen : O vos angeli, in: Hildegard von Bingen, Symphonia. Gedichte und Gesänge, lateinisch und deutsch, Hg. Walter Berschin and Heinrich Schipperges (Gerlingen: Lambert Schneider, ), . Zwar liegt mittlerweile eine weitere kritische Edition in Hildegardis Bingensis Opera Minora, CCM , ed. Peter Dronke et alii (Turnhout: Brepols, ) vor. Doch da auch Berschin und Schipperges einen Lesetext aus einem begründet kollationierten und umfassend berücksichtigten Handschriftenmaterial erstellten, ziehe ich diese Ausgabe heran).  Ps (),: Quemadmodum desiderat cervus ad fontes aquarum, ita desiderat anima mea ad Deum. Im Wortlaut der Vulgata spricht der nächste Halbsatz Ps ,a über den lebendigen Gott: sitivit anima mea ad Deum fortem vivum.  Die Tugendfiguren werden im lateinischen Original als imagines bezeichnet. Damit ist gemeint, dass sie emblematische Symbolfiguren sind für Tugenden, die von Gott ermöglicht und unterstützt, aber vom Menschen gewählt, ausgeübt und durchgehalten werden. Hierbei versteht es die Autorin als einen Aspekt der Hilfe durch Gott, wenn jene Tugendfiguren quer durch ihr Gesamtwerk als von der Stimme Gottes her gedeutet und anempfohlen werden. In dem Wechselspiel von Selbstaussagen der Tugenden, Dialog untereinander und (wie im Liber Vitae Meritorum, im Ordo Virtutum und in der letzten Vision des Liber Scivias) mit ihren Gegenspielerinnen unter den Lastern, sowie in der Deutung durch Sprecherstimmern von Gott-Vater und Gott-Sohn werden sie in der literarischen Ausgestaltung sozusagen im o Gradwinkel „ansehbar“. Vgl. zur Einordnung solcher Personifikationen in die Stilistik und Moraltheologie des . Jahrhunderts: Hans Liebeschütz, Das allegorische Weltbild der Heiligen Hildegard von Bingen, Studien der Bibliothek Warburg (Leibzig/Berlin: Teubner, ),  – ,

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weitere ihr zur Linken und auf ein Schaubild, das auf deren Brust erscheint. So wird über die bildliche Ebene des Gesprächs der Tugendfiguren ein Bild im Bild durch einen Bibelvers mit reicher Auslegungsgeschichte ausgedeutet.⁴⁶ Dieses Bild wird als eine Erscheinung⁴⁷ innerhalb der Fortführung des Visionsbildes im direkten Anschluss an die Rede des Menschensohnes gekennzeichnet. Jedoch wird die Deutung des Hirsches auf den zwei Fensterchen, zu sehen auf der Brust der mittleren Tugendfigur, erst allmählich angebahnt. Erst stellt sich die mittlere Tugendfigur durch Umschreibungen vor, ohne noch ihren Namen constantia zu nennen.⁴⁸ Ihre Kollegin ihr zur Rechten blickt den Hirschen an, spricht den Psalmvers aus und deutet ihn auf sich hin aus. Dabei nennt auch sie ihren Namen, caelestis desiderium, noch nicht. In dem Psalmvers sieht sie ihre Zielrichtung ausgedrückt: den Blick⁴⁹ auf die Quelle des lebensspendenden Wassers (ad fontem aque vivae). Der motorische Akt, der dieser Ausspannung entspricht, wäre der Sprung, wobei es sich hier um die analoge Andeutung einer inneren Bewegung handelt. Berge und Hügel werden durch das Compositum ac zu visuellen Stellvertretern einer Unbesowie Max Wehrli, Literatur im deutschen Mittelalter. Eine poetologische Einführung (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ), .  Vgl. Bernhard Domagalski, „Hirsch,“ in LthK : . Zur Ikonographie als Taufsymbol vgl.: Hannelore Sachs, Ernst Badstübner and Helga Neumann, „Hirsch,“ in Hannelore Sachs, Ernst Badstübner and Helga Neumann, Christliche Ikonographie in Stichworten (Berlin/Leipzig: Koehler&Amelang, ), . Neben dem Mosaik in der römischen Basilika von San Clemente in Rom kann auf Beispiele aus dem . Jahrhundert verwiesen werden (z. B. das Taufbecken in Freudenstadt). Vgl. das Zitat von Ps (), bei Augustinus, conf. XIII,XIII,, CCL , , Z  f.  Z : apparuerunt.  Die Kapitelüberschrift, die die Figur entgegen der Retardierungsstrategie des Textes schon vorab benennt, geht wohl auf eine spätere Bearbeitungsstufe zurück, die frühestens  bis  Jahre nach Vollendung des Werkes anzunehmen ist. Vgl. Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen. Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Erudiri Sapientia IV (Berlin: Akademie, ), . Ähnlich die Beobachtungen am illuminierten Scivias-Kodex in Wiesbaden und an der Lucca-Handschrift bei: Albert Derolez, „Neue Beobachtungen zu den Handschriften der visionären Werke Hildegards von Bingen,“ in Hildegard von Bingen in ihrem historischen Umfeld. Internationaler wissenschaftlicher Kongreß zum jährigen Jubiläum, Hg. Alfred Haverkamp (Mainz: Philipp von Zabern, ), . Bereits in diesen frühen handschriftlichen Rezeptionsstufen beginnt ein Prozess einer Ästhetisierung des Werkes, der sich von den eigentlichen Textintentionen löst. Das zeigt sich ebenso in der Bebilderung des Rupertsberger Riesencodex, der in der Miniatur  (fol. v) eine Verengung der Aussage in einem simplifizierenden, hierachisierenden Bildaufbau vornimmt. Dies diagnostiziert Lieselotte E. Saurma-Jeltsch, Die Miniaturen im „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen. Die Wucht der Visionen und die Ordnung der Bilder (Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert, ), .  Im Partizip respiciens in Z  f wird die Wortfamilie – spicere von Z  (inspiciens) wieder aufgegriffen. Der Hirsch, der später von einer anderen Sprecherstimme im Text als Christusfigur vorgestellt wird, wird nun mit der Quelle des lebensspendenden Wassers identifiziert. So vermischen sich verschiedene mögliche Deutungsebenen des Psalmverses: 1. Hirsch = Tugend des caelestis desiderium der Sehnsucht nach der Quelle = Christus 2. Von der Tugendfigur des caelestis desiderium angesehene Symbolerscheinung des Hirsches = Christus

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ständigkeit der (verräterischen) Annehmlichkeit des vorläufigen, vergehenden Lebens, transitoriae vitae. Jene soll innerlich gleich einem Hindernis übersprungen⁵⁰ werden. Dieser innerliche Akt ereignet sich nur in einem unverfälschtem Herz (tantum simplice corde). Was bildlich geschaut wird, zielt auf die Innerlichkeit⁵¹ ab, entsprechend dem oben erläuterten Bild vom Acker des Herzens. Die kurze Selbstaussage schließt ab mit der Qualität der Quelle in geistlichem Geschmack (suavitas), in Unerschöpflichkeit ohne Überdruss. So charakterisieren diese drei Qualitäten bereits einen Gegensatz zum transitorischen Leben. Dieser Grundgedanke wird durch die Selbstaussage der linken Tugendfigur, später als compunctio cordis bezeichnet, verstärkt. Ihr Blick geht über die symbolische Erscheinung des Hirsches hinaus auf das wahre und ewige Licht hin. Gott selbst wird als Quelle der Sättigung ohne Überdruss und Ende benannt.⁵² Die geistliche Sehnsucht ist eine Bewegung, die in der Sättigung nicht an einen Endpunkt der Sattheit gelangt, sondern sich umso mehr ausweitet, je mehr sie sich erfüllt. So ist sie ebenso in sich wie von ihrem Objekt her infinit. Mit diesem Grundwort spiritueller Theologie werden etliche Aussagen der Entgrenzung verstärkt, die in der vorliegenden Visio zu beobachten sind.⁵³ Denn Sehnsucht bedeutet in den Umschreibungen der Visio, zum Himmel aufzublicken.⁵⁴ So wird der Weg des Friedens angestrebt. Jene Wendung vom Weg des Friedens, von der via pacis,⁵⁵ ist ein Bedeutungsmoment, das zwar nicht durch häufige Nennung an der Oberfläche des Textes der Visio auffällt, doch mehrmals aus den Tiefenstrukturen heraus aufblitzt und so auf eine wichtige Qualität eigentlichen, ewigen Lebens aufmerksam macht. Seine Valenz aus den hintergründigen Ebenen des Textes heraus verstärkt sich dadurch, dass es mehrmals in den Zusammenhang mit einem Element des johanneischen Ternars von Weg, Wahrheit und Leben (Joh 14,6) gerückt wird, dem der Wahrheit im Glauben. Dieser Zusammenhang wird zum Beispiel durch die Attributverbindung via veritatis hergestellt, gerade dann, wenn Glaubensdevianz und Schismata durch einen der Sprecher der Visio kritisiert werden.⁵⁶ Neben der Verknüpfung „Weg des Friedens“ wird ebenso – als weiteres Bild im Bild – von

 Hier ist das Vergleichsmoment der Sprung des Hirsches. Später wird in seiner Ausdeutung als Christusfigur der schnelle Lauf des Hirsches hervorgehoben.  So erläutert Augustinus das Widerkäuen und Meditieren der Schrift anhand des Vorstellungsbildes von Hirschen, die sich tief in die Wälder zurückziehen (Augustinus, conf. , ).  Z  – :quia ipse innumerabili gloria plenus est, cuius suavitate nemo satiari potest.  Vgl. unten den Abschnitt ....  Z : in caelum aspicere et ad Deum anhelare…nihil aliud desiderantes nisi quod ab terrenis rebus seperatum est.  Z : viam pacis in mentibus hominum parant, quatenus caelestia desiderent.  Z : magna schismata infidelium in irrisione nigredinis a via veritatis deviantium. (Man beachte die Stilfigur der figura ethymologica: „a via deviantium“!)

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einer „Schau des Friedens“⁵⁷ gesprochen, worin man eine Anspielung auf das himmlische Jerusalem in seiner Ethymologie als visio pacis sehen kann. Über die engere, eigentliche Bedeutung der Tugendfigur der Herzenszerknirschung hinaus wird in drei Gerundia ein Dreierschritt von positiven, aber von sich aus nicht zum Ziel gelangenden Grundakte des Bezuges auf Gott mit erwähnt: Bedenken, Sehnen und Seufzen, und Betrachtung (cogitando aut suspirando aut intuendo).⁵⁸ Aus derartigen Nebenbemerkungen kann geschlossen werden, dass Hildegard durchaus über Aufstiegswege und Erfahrungssysteme der Mystik reflektierte. Doch jene stehen nie im Mittelpunkt einer eigenen systematischen Darstellung, sondern werden stets nur über „Codewörter“⁵⁹ – insbesondere aus der zisterziensischen Mystik⁶⁰ – beiläufig eingeflochten. So rechnet Hildegard mit einem Lesepublikum, das mit mystischen Sprachwelten vertraut ist und jene eingestreuten Worte als Assonanzen an ein weites Bedeutungsfeld der geistlichen Theologie versteht. So wenig, wie Hildegard eine mystische Autorin im strengen Sinn ist, kann ihr also ebenso wenig die Kategorie der Mystik gänzlich abgesprochen werden.⁶¹ Ein weiteres Indiz hierfür im Kontext der Visio ist, dass der Sohn Gottes sowohl in seiner Selbstvorstellung in der ersten Person als auch in seiner Schilderung in der dritten Person durch die ausdeutende Stimme vom Himmel als jemand ausgesagt wird, der auf die Sehnsucht des Menschen eingeht.⁶² Ja, als einer, der sogar selbst Sehnsucht hat, auf die Sehnsucht des Menschen einzugehen. So wird der flinke Lauf des Hirsches⁶³ auf Christus hin gedeutet: Der Lauf seiner Schnelligkeit drückt die himmlische Sehnsucht aus.⁶⁴

 Z  f: scissuras infidelium devitat et ad visionem perpetuae pacis anhelat; Z  f: in se noblissimos lapides, qui sanctae animae in visione pacis sunt, colligit.  Z .  Z. B. Z  unter Bezug auf Hld ,: et dulciora in interiore gustu super mel et lac, cum desideranti populo manifestantur; Z : dulcissimis amplexibus.  Dies könnte ein Grund sein, warum Hildegard umgekehrt gerade in zisterziensischen Kreisen rezipiert wurde, wie die handschriftliche Überlieferung der Scivias vermuten lässt (Siehe hierzu: Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen. Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Erudiri Sapientia IV (Berlin: Akademie, ), .) Nicht nur in der theoretischen geistlichen Theologie, sondern auch in Fragen des praktischen klösterlichen Lebensstandart und der klösterlichen Ökonomie näherte sich Hildegard zisterziensischen Positionen an. Vgl. die detaillierten Nachweise bei Franz Staab, „Hildegard von Bingen in der zisterziensischen Diskussion des 12. Jahrhunderts,“ In „Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst“. Hildegard von Bingen (1098 – 1179), Erudiri Sapientia. Studien zum Mittelalter und zu seiner Rezeptionsgeschichte Bd. II, Hg. Rainer Berndt (Berlin: Akademie, 2001): 179.  Siehe hierzu die ausführlichere Diskussion unter Kapitel ...  Z  f: nonne facio totum quod desideras.  Diese typologische Deutung wurde schon vor Hildegard entwickelt, zum Beispiel anhand der Exegese von Gen ,, Ps , und Hld , f. (Vgl. Gertrud Maria Rösch, „Hirsch,“ in Metzlers Lexikon literarischer Symbole, Hg. Günter Butzer and Joachim Jacob (Stuttgart: J.B. Metzler, ): .)  Z : per cursum velocitatis suae caeleste desiderium designans.

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Verschiedene Motivstränge der Metaphorik des Hirsches sind in den mittelalterlichen Redaktionsstufen des Physiologus zusammengefasst. Hier ist dieses Tier gleichzeitig Bedeutungsträger für das Kreuzesleiden Christi und für den Christen in Taufe, Gotteskindschaft, Buße und Askese.⁶⁵ Wie bei Hildegard damit zugleich die Glaubenssehnsucht des an ihn glaubenden Gottesvolkes⁶⁶ gemeint ist, sei im folgenden Unterkapitel anhand des Symbols der „zwei Fensterchen“ erläutert.

3.1.2.3 Duae fenestellae: Die zwei Spiegelfenster des Glaubens Auf der Brust, also in der Herznähe der Tugend der constantia, erscheint in der Visionsbeschreibung das Bild zweier Fensterchen (fenestellae), auf denen die Symbolfigur des Hirsches sich zum Sprung bereit macht. Aus dem Text kann nur indirekt erschlossen werden, ob es sich um reine Fensteröffnungen oder um Glasfenster mit spiegelndem Effekt handelt. Die Kombination aus Fenster und Hirsch könnte an entsprechende Hausverzierungen denken lassen, wie sie bis heute zu finden sind.⁶⁷ Das Motiv stellt nicht nur ein weiteres „Bild im Bild“ dar. Sondern durch die Assoziation des Hineinblickens und Hindurchblickens durch die Fenster gewinnt der dargestellte Bildraum eine Tiefenperspektive.⁶⁸ Jene vergegenständlicht den Vektor einer Erkenntnisvertiefung. Ähnlich sind im Volksmärchen Fenster Grenzort und Vertiefungsort der Begegnung von Himmel und Erde. Einerseits bietet jene Bilderscheinung, die durch das Wort apparitio ⁶⁹ in der Schwebe bleibt, gleichsam erst zeitlich verzögert eintritt und blass bleibt, Anknüpfungspunkte an die Welterfahrung des Lesers. Andererseits weist die Bildkombination von Fenster und Hirsch, der auf diesem Fenster steht und dort seinen Ausgangspunkt für den Lauf der Erlösung nimmt, auf eine überraschende Komponente in ihrem theologischen Sinn hin.  Nach: Physiologus. Naturkunde in frühchristlicher Deutung, Übers. u. hg.v. Ursula Treu (Hanau: Artia, ),  f.  So deutet Hildegard im Liber Divinorum Operum in Bezug auf Hab , die Schnelligkeit des Hirschen auf den Gebetswunsch des Menschen hin, auf dem Weg der Gebote zu wandeln: LDO Pars Prima, Visio tertia, Cap.V, Z  – : Unde et idem Deus et Dominus, cum ipsum veraciter invocavero, ponet gressus meos in velocitatem mandatorum suorum, quemadmodum cervus porperat cum fontem desiderat. Hierbei ist es derselbe spiritus vitalis, durch den der Betende lebt und durch den er seine Wege erkennt (a.a.O., Z  – ). Dass die Autorin das Sprachbild vom Hirschen, der zum Wasser läuft, einmal auf Christus und einmal auf den Menschen hin ausdeutet, zeigt ihre Wendigkeit in der Differenzierung von Deutungsebenen.  Gerade in der gegenwärtigen populären Ästhetik erfährt der Bildwert des Hirsches, möglicherweise als Projektionsfigur des Ursprünglichen,Verlässlichen, eine, wenn auch im Kitsch ironisch gebrochene, Renaissance.  Das Fenster ist zugleich Symbol der Rahmung und der Imagination. (Vgl. Volker Mergenthaler, „Fenster,“ in Metzlers Lexikon literarischer Symbole, Hg. Günter Butzer and Joachim Jacob (Suttgart: J.B. Metzler, ): ).  Z  f.

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Der Text der Visionsbeschreibung, der in der Ausdeutung unverändert aufgenommen wird, lässt nämlich offen, ob der Hirsch gestützt auf die oberen Fensterrahmen⁷⁰ oder oberhalb von ihnen erscheint. Auf der theologischen Deutungsebene wird die Aussage jedoch klar präzisiert: Der Hirsch als Christusfigur wird als Objekt des Glaubens der gläubigen Menschen „gestärkt“, wobei sein Ansetzen zur Erlösung sowohl seine eigene Geneigtheit als auch das Beharrungsvermögen der Menschen im Glauben darstellt. Die kausale Hauptsatzkonjunktion ergo wird im Text der Visionsbeschreibung der Ausdeutung hinzugefügt zur Einführung einer Begründung, wie Christus als GottMensch und Mitte der Trinität⁷¹ die Welt durch äußerliche Erlösungswerke und durch die innerliche Begründung der Tugenden vollendet⁷² und zu Gott führt.⁷³ Der Zeitenwechsel vom Perfekt der Bilderzählung⁷⁴ zum Präsens der Bildausdeutung⁷⁵ könnte auf die Gegenwartsbedeutung des theologischen Sinns für den Leser hindeuten. Dass die Autorin ganz bewusst eine inhaltliche Akzentuierung hin zum Glauben als Stütze für den Geglaubten vornimmt, wird an dem Wechsel vom Aktiv (posuisset/ponat) in der Bildbeschreibung zum Passiv in der theologischen Deutung ersichtlich: ponitur. Entsprechend der sonstigen Sprachsorgfalt Hildegards darf man annehmen, dass es hier um mehr als ein Wortspiel geht. Daher sei zur Verdeutlichung der Zusammenhänge der Passus auf Deutsch zitiert:⁷⁶ Also erscheinen auf ihrer Brust zwei Fensterchen: Das bedeutet (quod est): in den Herzen der Menschen [erscheint] die gezeigte Offenbarwerdung (manifestatio) der himmlischen Dinge in zwei Fensterchen des Glaubens: Denn man muss die Menschheit und die Gottheit im Sohn Gottes glauben. Durch sie ist dieselbe Tugend in den Menschen vollendet. Sie kann nicht von der Tugendkraft seiner Rechtheit (rectitudinis) wegbewegt werden. Aber über diesen Fenstern erscheint ein Hirsch, hingewendet zur Rechten jener Tugendfigur: Denn über diesen Glauben, dass der Sohn Gottes als Mensch und Gott geglaubt wird,wird er selbst durch die Glaubensbereitschaft des treuen Volkes sehr stark aufgestellt. Dies geschieht, wenn er sich zur Rechten der Tugend der Beharrlichkeit (constantia) wendet, indem er durch den Lauf seiner Schnelligkeit die himmlische Sehnsucht (caeleste desiderium) bezeichnet. Denn das ewige Leben wird in der Verfolgung des guten Werkes gefunden, so dass er die Vorderfüße auf das rechte Fenster und die Hinterfüße auf das linke Fenster stellt.⁷⁷

Die Erscheinung zeigt zwei Fenster, weil im Glauben sowohl die Gottheit als auch die Menschheit Christi gewichtet werden müssen. Es wäre eine Trägheit im Glaubens-

       

Z  f: super ipsas fenestras apparet. Z . Z : consummavit. Z : perducit ad Deum. Z  f apparuerunt; Z  posuisset, coaptasset. Z  apparet, Z  ponat,  coaptat. In kursiver Schrift erscheinen die Eigenzitate der Autorin aus ihrer Visionsbeschreibung. Z  – . Hervorhebungen in meiner Übersetzung von mir.

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aufblick, die echte Gottheit zu übersehen, aber ebenso glaubenswidrig, seine echte Menschheit zu bestreiten.⁷⁸ Glaube wird in der vorliegenden Visio sowohl als fides quae inhaltlicher Kernaussagen, wie auch als fides qua im Erkenntnisprozess der Verinnerlichung,⁷⁹ als Qualität des Festhaltens am Geglaubten und als Moment der Beziehung zu Gott bestimmt. Dass die Glaubenserkenntnis begrenzt ist, wie es der Diminutiv der Bildsprache von „Fensterchen“ ausdrückt, deutet sich schon in der Bildlichkeit des Menschensohnes in der Vision an: Dass er nur zum Teil zu sehen ist, weist auf unterschiedliche Phasen der Offenbarungsgeschichte hin. Hierbei endet in der Sichtweise Hildegards die Offenbarung nicht mit dem irdischen Auftreten Jesu und seiner Auferstehung. Vielmehr zählen die Werke Christi in der irdischen Zeit der Kirche dazu.⁸⁰ Dabei kann nur durch Offenbarung und Glaube erahnt werden, wie sich die inskünftigen Epochen der Kirche bis zur Vollendung der Weltzeit gestalten.⁸¹ Die klaren Scheidungen zwischen Gläubigen und Ungläubigen, die die Autorin gegen Beginn⁸² und gegen Ende⁸³ der Visio vornimmt, verstärken die Bildbedeutung der Spiegelfenster des Glaubens im Schaubild. Die entsprechenden Mahnungen belegen, wie die fides catholica zur ihrer Lebenszeit durchaus angefochten ist.⁸⁴ Auch bei ihrem Zeitgenossen Honorius Au-

 Z  – : quia quod ipse verus Deus sit nec in tranquillitate fidei contemnendum, aut quod verus homo sit nec in eiusdem fidei impugnatione ab ullo Deum veraciter diligente diffidendum est. Zu den Adjektiven verus vgl. DH  (Credo) und DH  (Horos des Konzils von Chalcedon).  Z  – : Nam cum requiris me intimo intellectu animae tuae, ut in baptismo per fidem doctus es, nonne facio totum quod desideras? Eine „dauernde, nicht abgeschlossene Bewegung des Glaubensaktes in seinen immer neuen Spiegelungen“ bemerkt Margot Schmidt, „Hildegard von Bingen als Lehrerin des Glaubens. Speculum als Symbol des Transzendenten,“ in Hildegard von Bingen ( – ). Festschrift zum . Todestag der Heiligen, Hg. Anton Ph. Brück, unveränderter Nachdruck der . Auflage Mainz  (Mainz: Selbstverlag der Gesellschaft für mittelrheinische Kirchengeschichte, ): .  Z  – : hoc est quod ab incarnatione ipsius usque ad praesens tempus opera quae gessit in ecclesia fidelibus manifesta sunt.  Z  – : quia illa quae a tempore hoc usque ad completionem saeculi huius in eadem eccelsia future sunt, nec videri nec sciri potuerunt, nisi quantum revelatione divina er fide catholica percipiuntur.  Z : O boni homines, qui tepide et turpiter marcetis in vobismetipis nolentes vel oculum unum aperire ad videndum.  Z  – : ut sunt pagani, … ac falsi Christiani, semper de malo in malum descendentes nec in caducis rebus speculum catholicae fidei sursum aspicientes.  Zu Hildegards Stellungnahmen zu Glaubensirrtümern ihrer Zeit vgl. Bertha Widmer, Heilsordnung und Zeitgeschehen in der Mystik Hildegards von Bingen, Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft  (Basel/Stuttgart: Helbing & Lichtenhahn, ),  – .Vor einer voreiligen Gleichsetzung heutiger Konzepte des Unglaubens mit der vielfältigen, mitunter gattungsabhängigen, Konnotationen von infidelitas warnt Dorothea Weltecke, „Der Narr spricht: Es ist kein Gott“. Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom . Jahrhundert bis zur Neuzeit, Campus Historische Studien  (Frankfurt am Main: Campus, ),  f.

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gustodunensis (~1080 – 1150/60) symbolisieren Fenster die Bestrebungen der Glaubenslehrer, den Glauben gegen Fehldeutungen und Fehlhaltungen zu verteidigen.⁸⁵

3.1.2.4 Ad interiora spiritus: Dynamiken zur Entgrenzung des inneren, äußeren und heilsgeschichtlichen Raumes In drei Weisen finden in der vorliegenden Visio Verschiebungen und Ausweitungen des Bildraumes und seiner religiösen Aussagekraft statt: In Bewegungen von unten nach oben, von außen nach innen und in einer Bildsprache der Entgrenzung. Diese drei Tendenzen lassen sich in der ganzen Visio beobachten. Allen Bildsymbolen, die als religiöse Bedeutungsträger fungieren, eignet gleichfalls die Funktion, Entgrenzung anzudeuten.⁸⁶ Der beschriebene Bildraum wird nicht nur vom Wirken Gottes erfüllt,⁸⁷ sondern so ausgeweitet, dass die räumliche Ausdehnung zum Abbild der heilsgeschichtlichen Ausspannung auf den jüngsten Tag als Ende der irdischen Zeit wird.⁸⁸ Hier spielt der Ort der Visio innerhalb des Gesamtaufbaues des Liber Scivias eine Rolle: Es ist die letzte Visio des dritten Teiles, bevor die Kämpfe am Ende der Zeiten und die himmlische symphonia ⁸⁹ des ewigen, glückseligen Lebens geschildert wird. Gemäß jenes inhaltlichen Zugs „nach oben“ wird in den Schlusskapiteln der Visio vor allem der tropologische und anagogische Sinn der geschauten Bilder ausgedeutet.⁹⁰ Das Gebäude der Kirche, das in früheren Visionen differenziert betrachtet wurde, erscheint in der Darstellung als nach oben gezogen, wie auf der Erde als einem Berg liegend.⁹¹ Auch in der Dimension des geschauten Lichtes lässt sich eine Dimensionserweiterung hin zu einer stärkeren Durchsichtigkeit beobachten:

 So Joseph Sauer, Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Auffassung des Mittelalters. mit Berücksichtigung von Honorius Augustodunensis, Sicardus und Durandus, zweite, vermehrte Auflage (Münster: Mehren&Hobbeling, ), , unter Bezug auf Honor. Aug., Gemma Animae ,  und Spec. Eccl., Dom. De passione Domini, PL .  Zum Beispiel dient die Symbolfigur des Hirsches dazu, in unbekannte Räume zu führen. (Vgl. Joseph Wiesner, „Zum Hirsch in der Frühzeit,“ in Pisciculi. Studien zur Religion und Kultur des Altertums. Festschrift für Franz Joseph Dölger, Hg. Theodor Klauser and Adolf Rücker (Münster: Aschendorff, ), .)  Z : Deus operatur ab oriente et a septemtrione et ab occidente ad meridiem.  Z : ad effectum illum perducit, qui novissimus dies est.  Daher kündigt sich die concordia als Figur jenseits des Zeitenendes an: Z  f: Transeunte autem mundo clarius in caelesti visione apparebo. Vgl. ähnlich in Z  – .  Dass Hildegard von Bingen in Theorie und Praxis mit den Auslegungsverfahren in verschiedenen Schriftsinnen vertraut war, erhellt die Sammlung ihrer Expositiones Evangeliorum (ediert in Hildegardis Bingensis Opera Minora, CCM  (Turnhout: Brepols, ).) Jene entstand möglicherweise schon parallel zur Abfassung des Scivias, was insbesondere für den letzten, dritten Teil des Scivias angenommen werden kann. Etliche Perikopen sind in zwei verschiedenen Auslegungen durch jeweils verschiedene Schriftsinne kommentiert.  Z  – , sowie Z  f.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

Der Boden des Gebäudes der Kirche erscheint wie weißes Glas. Durch diesen gläsernen Boden kann nun der „Glanz des leuchtenden, der auf dem Thron sitzt“, hindurch bis zum Abgrund scheinen. Dabei wird ein ähnlicher Effekt beschrieben wie bei dem Hirschen, der auf die Spiegelfenster des Glaubens gestützt ist: In der Bildbeschreibung dreht sich die Erde, so dass sie zum stützenden Berg für die Kirche wird, die ins himmlische Jerusalem übergeht. In der sich ausweitenden und sachte verändernden Räumlichkeit der beschriebenen Vision gibt es also keine strikte Abgrenzung von Himmel und Erde, sondern bewegte Formen des Übergangs und der Annäherung. Dabei sind Erde und der Glaube der Menschen nicht nur Objekte des Descensus von himmlischen Dingen, sondern auch Subjekte, die Kirche und Gott-Menschen in ihrem Heilswirken stützen. Dies wird jedoch nur im Zusammenhang mit den betreffenden Bildern insinuiert und nicht eigens expliziert. Dabei geht Hildegard grundsätzlich von der Priorität des Heilswirkens Gottes aus, wie in im Unterkapitel 3.1.3.1 noch gezeigt werden wird. Dass das Heilshandeln Gottes ein Stützen von unten her ist – gleich einer Stützgeste in der Krankenpflege –, seinerseits gestützt auf die Menschheit Christi und dem Glauben daran durch das Volk Christi auf der Erde, spiegelt sich grammatikalisch in Komposita mit der Vorsilbe sub: grammatikalische Struktur für das Heilshandeln Gottes als Auffangen und Stützen von unten her: Präpostion sub & Verb/ Nomen

Beim Verb sus-cipere hören Kenner der benediktinischen Lebensform sofort die Worte der Oblationsformel mit, suscipe me domine, wenn die Autorin den Gott-Menschen sagen lässt: Ich werde dich retten, in dem ich dich von unten her stütze.⁹²

Ebenso lässt sie Gott durch den Ausdeuter der Vision als starke Stütze bezeichnen, als fortissimum sustentaculum. ⁹³ Denn dem Erhobenwerden durch Gott entsprechen Aufstiegswege der Menschen. Jene werden bereits am Beginn der Visionsbeschreibung durch sieben Stufen in Parallele zu den sieben Schöpfungstagen symbolisiert. Allerdings erfolgt die explizite Nennung dieses Symbolwertes erst in der zweiten Hälfte der Visio mit der Visionsdeutung, die durch die leuchtende Figur, die auf dem Thron sitzt, vorgeführt wird.⁹⁴

 Z : et suscipiens salvabo te; vgl. Z : et sublevatum suscipiam te.  Z : quoniam ipse fortissimum sustentaculum existit; ähnlich das Verb succurrere Z : ut tibi succuram.  Z  – : septenarius ascensus candidissimae fortidutinis plenus rectissima actione existens, quam Deus operetur et perficit in homine, ut in sex diebus operatus in septimo requievit.

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Auch dies ist ein Indiz dafür, dass die Ausdeutung des Bildraumes komplexe Zusammenhänge des Wirkens der Gnade als Kraft Gottes in den Tugenden der Menschen darstellen soll. Dabei kann die Ausweitung der bildlichen Dimensionen als visuell angedeutete Ermutigung an den Leser verstanden werden, dass durch solches Wirken Gottes im Menschen Entwicklungsspielräume für Mensch, Welt und Kirche vergrößert werden. Freilich wird in der expliziten Ausdeutung der Bildfiguren darauf verwiesen, dass derartige Zusprüche nur im inneren „Aufflug“ durch den Heiligen Geist wahrzunehmen und in ihrer Bedeutung für das Leben des Lesers zu erfassen seien.⁹⁵ Dementsprechend stellt die Autorin ihr Werk als eines vor, das nicht nur im Heiligen Geist entstand,⁹⁶ sondern auch im Heiligen Geist zu lesen sei. Derartige Leseanleitungen, formal in Schlussklauseln zur Gliederung der Visionstexte eingesetzt, enthalten stets das Stichwort „innerlich“ als Hinweis darauf, dass in Parallele zur Ausdehnung des geschilderten Bildraumes der religiöse Innenraum des Adressaten intensiviert werden möge.⁹⁷ Der gelesene Text soll zum verinnerlichten Text des Gewissens werden. Er soll nach dem biblischen Motiv der inscriptio cordis (Jer 31,30) ins Gewissen eingeschrieben werden.⁹⁸ Dabei ist zu beachten, dass der Text, den der Leser liest, dennoch als gesprochener Text verschiedener Sprecherfiguren vorgestellt wird, der auch vom Leser quasi auditiv vernommen werden können.⁹⁹ In der Forschung gibt es unterschiedliche Standpunkte dazu, inwieweit im klösterlichen und weltlichen Kontext schriftliche Texte auch beim Alleine-Lesen laut geäußert wurden.¹⁰⁰ Die Betontung des auditiven Sinnes könnte ein Hinweis darauf sein, dass das Opus Hildegardianum auch zum Vorlesen in der Klostergemeinschaft und in der Volkskatechese konzipiert war.

 Z  – : In virtute sua Spiritus sanctus trahit hominis mentem…, ut possit volare in visione oculorum Spiritus illius qui interiora videt.  Vgl. die autobiographische Äußerung Hildegards, die in ihre Vita eingeflochten ist: in superna tamen visione dictavi, cantavi ac scripsi, que Spiritus sanctus per me proferre volebat. (Vita Sanctae Hildegardis, Liber , cap. , , in Vita Sanctae Hildegardis. Canonizatio Sanctae Hildegardis, Fontes Christiani , Übers. und eingeleitet von Monika Klaes (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ), ).  Z : Qui autem acutas aures interiores intellectus habet.  Z  f: in conscientia animi sui conscribat. Zum hohen Anspruch Hildegards an den Leser vgl. den Prolog und das Kapitel  dieser Arbeit.  Auf derartige Textphänomene fiktiver Mündlichkeit macht aufmerksam: Giorgio Agamben, Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform, Homo sacer IV,, Übers. Andreas Hiepko (Frankfurt am Main: S. Fischer, ),  f.  Dafür, dass man in der voruniversitären Klosterkultur Texte nicht still gelesen hätte, sondern sie mindestens geflüstert und mit Bewegungen begleitet hätte, plädiert: Ivan Illich, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand (München: C.H.Beck, ),  f.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

3.1.3 Ad vitam vivere: Theologische Aspekte des Lebensbegriffes in der Visio III, 10 3.1.3.1 Dignissimo compositionis effectu coadunatur: ¹⁰¹ Das verschlungene Verhältnis von Gnade und Werk Bevor ein Überblick über den Gedankenkreis vom Leben in der vorliegenden Vision gegeben wird, sollen damit zusammenhängende Aspekte der Gnadenlehre beleuchtet werden. So kann untersucht werden, inwieweit das hildegardianische Verständnis von Leben seine Verankerung in der Lehre von der Gnade hat. Der ganze Liber Scivias und so auch die Visio SV III,10 verstehen sich als Ermahnung, admonitio, die den Leser zu Werken der Tugend ermuntern soll.¹⁰² Dennoch wird wiederholt die Priorität des Wirken Gottes und der Gnade eingeschärft.¹⁰³ Dies wird jedoch nicht als abstrakter Lehrsatz formuliert, sondern dem Rezipienten als Wort des Menschensohnes in den Mund gelegt.¹⁰⁴ So wird indirekt zudem zum Ausdruck gebracht, dass Gnade von Christus aus durch den Heiligen Geist an den Menschen vermittelt wird. Diese Vermittlung ist möglich, weil Christus als Menschensohn Sohn Gottes ist.¹⁰⁵ Die Menschheit Christi ist das perfekte Werk Gottes. Dieses Prädikat legt die Autorin dem Sitzenden auf dem Thron in der ersten Person in den Mund.¹⁰⁶ Dadurch weist sich die Sprecherstimme implizit als Gott-Vater aus. Die Vorrangigkeit des Gnadenbeistandes wird nicht allein zur Distanzierung von menschlicher Selbstüberhebung ausgesprochen. Sondern sie wird als Ermöglichungsgrund von Zusagen an den Menschen allgemein sowie an den individuellen Leser betont. Solche Zusagen sind quer durch das Opus Hildegardianum als festes Strukturmerkmal zu beobachten. Dafür lassen sich, wie in der vorliegenden Visio, drei verschiedene sprachliche Strukturen mit aufsteigendem Komplexitätsgrad ausmachen: a) Gottes Wesen und sein Verhalten gegenüber den Menschen werden als in eins fallend geschildert. Durch die Ansprache der ersten Person Singular an die zweite Person Singular des Lesers wird auf literarischer Ebene vorgeführt, dass sich diese

 Z .  Z  f: verba suae admonitionis; Liber Scivias, Tertia pars, Visio , Z .  Zur genaueren Interpretation der Gnadenlehre Hildegards im Horizont der Theologie des . Jahrhunderts siehe das Kapitel . dieser Arbeit.  Z : habes enim per me illa in te, in quibus potes laborare; Z : quoniam nullum lucidum opus sine adiutorio meo perficere potes; Z  f: oblitum quod nihil boni sine me facere posses; Z : istud est meum et per me, et non tuum nec per te; Z  f: ideoque hoc donum est meum et non tuum.  Z : filius hominins, filius videlicet Dei. Zu beachten ist hier das Adverb videlicet in kausaler Bedeutung: Der Menschensohntitel im Vollsinn kann nur dem Sohn Gottes zuerkannt werden.  Z , . Diese Kennzeichnung wird jedoch nie explizit vorgenommen.Vgl. Liber Scivias, Tertia pars,Visio , Z : Hier spricht die Erzählerfigur die Stimme dessen, der auf dem Thron sitzt, als Herr an. In der dem ganzen Buch vorgeschalteten Protestificatio wird eine vox de caelo eingeführt (Liber Scivias, Protestificatio Z  f), die sich später als lux vivens ausweist (Protestificatio Z ) und sich in den darauf folgenden Sätzen Handlungen zuschreibt, die auf sie als Herrscher der Welt schließen lassen.

3.1 Der Geist erhebt den Geist: Durchblick zum Leben in der Visio SV III,10

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Zusage in einem persönlichen, intimen Beziehungskontext zwischen Gott und Mensch abspielt. Hierzu ein Beispiel aus dem untersuchten Textabschnitt: Ich bin dein Haupt und dein Helfer.¹⁰⁷

Derartige Selbstaussagen können auf folgende Formel gebracht werden: Selbstaussage des Menschensohnes oder von Gott-Vater (als viva vox): Nomen des Schutzes/ Beistands & sum

b) Gott geht auf das Suchen, Bitten, und Fordern des Menschen ein. Indem er sein Eingehen auf den Menschen verspricht, ermutigt er ihn, auf diese Weise von sich aus um Beziehungsaufnahme und Beziehungsverstärkung zu Gott zu bitten. Diese Formel folgt dem Sprachduktus des Matthäusevangeliums (Mth 7,8): Wenn du an die Tür klopfen wirst, wird Dir geöffnet werden.¹⁰⁸

Auf eine Formel gebracht: si & suchende/ bittende, vertrauende Handlung des Menschen ⇒ Zusage der Unterstützung durch Gott im Futur

Dass dabei wiederum das Suchen und Fordern des Menschen durch eine gratia praeveniens des Menschen motiviert ist, zeigt folgendes Textbeispiel: Wenn du, berührt durch die Berührung von oben her, mich anrufen wirst, wirst du eine Antwort von mir hören.¹⁰⁹

 Z : caput et adiutorium tuum sum.  Z : Si pulsaveris ad ianuam, tibi apperietur.  Z  f: Nam superno tactu tactus si invocaberis me, responsum audies a me. Als Bilder für die Wirkweisen des Heiligen Geistes erscheinen in der zehnten Visio der Tertia Pars Berührung (tactus), Regen (imber) und Gabe (donum). Tactus entstammt den Sprachspielen zisterziensischer Mystik, wobei bereits in Mth , und Mth , Berührung Zeichen des Heils ist. Donum ist terminus technicus der gnadentheologischen Diskussion, abgeleitet aus dem NT. Imber stammt aus Ez ,  als Zeichen des Segens im messianischen Reich. Beim dem Nomen für die Antwort Gottes, re-sponsum, sei auf die Vorsilbe re aufmerksam gemacht.Wie unter .. angesprochen wird, vereinen sich unter der Vorsilbe re Ausdrücke, die mit der Erlösung und Rückführung zur Gott zu tun haben.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

c) Das Zueinander und Ineinander von vorgängiger und aufhelfender Gnade einerseits und des Wirkens des Menschen andererseits wird in ausgefeilten Satzgefügen¹¹⁰ zum Ausdruck gebracht, wobei Partizipien, Nebensätze, Infinitivkonstruktion, Adverbien und Superlative die sprachliche Gestalt der sachlichen Verschränkung bilden. So lässt Hildegard den Menschensohn im vorletzten Satz seiner Rede von Gott erklären: Er selbst wendet dir die Barmherzigkeit seiner Gnade zu (convertens). Durch die Süßigkeit seiner Liebe lässt er dich auf überfließende Weise (superabundanter) mehr in der Liebe zu ihm brennen. So unterscheidest du, erfüllt vom Trost (consolatione) durch den Heiligen Geist, weise (sapienter) alles, was gut ist, und wirkst größere gute Werke. Mit äußerst brennender Liebe verherrlichst Du so Deinen Vater, der dir gütig dies gegeben hast.¹¹¹

Gott verherrlicht sich selbst in den guten Werken, die zu wirken er den Menschen ermöglicht. Doch jene sind hierbei mehr als eine passive Durchgangsstation. Durch eine Innenschau, die eine anfanghafte Kenntnis Gottes und Liebe zu ihm voraussetzt,¹¹² erkennen sie, was sie in den Gaben des Heiligen Geistes zu tun hätten: quid eis in donis Spirtus sancti faciendum est.¹¹³

Hier begegnet wieder die oben aufgeschlüsselte sprachliche Wendung „in & Ablativ (Wortfeld des Heilshandeln Gottes) & Verb“, allerdings spezifiziert durch ein Gerundiv, dass den theologischen Hinweis auf den Handlungsanspruch des Gesollten mit einbezieht. Die Spannung von Ermöglichung durch Gott und Anspruch von Seiten Gottes könnte man mit dem paulinischen Phänomen, dass der Imperativ dem Indikativ folgt, vergleichen.¹¹⁴ Ferner kann man darin einen Gedankengang erkennen, der an einen ähnlichen des frühreformatorischen Luther erinnert: Im Stehen in den Gnadengaben werden Werke des Menschen ermöglicht, wenn nicht sogar von Gott gefordert. Für das Zusammenwirken von der vorauseilenden Gnade Gottes und dem Werk des Menschen verwendet Hildegard verschiedene Nomen und Verben, die mit der

 Zur Korrelation von der Kompliziertheit eines Sachverhaltes zur Elaboriertheit der Sprachstruktur vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, Übers. v. Rolf-Dietrich Keil (München : Wilhelm Fink, ), .  Z  – : Unde et ipse misericordiam gratiae suae ad te convertens per dulcedinem dilectionis suae superabundanter magis te faciet ardere in amore ipisus, ita ut consolatione Spiritus sancti repletus sapienter omne quod bonum est discernas et maiora opera bona facias, ardentissimo amore glorificans Patrem tuum qui tibi benigne dedit haec.  Z : homines, qui me cognoscunt et diligunt.  Z  f.  Ähnlich in dem späteren Werk Liber Divinorum Operum, Pars Prima, Visio Tertia, Cap VI, Z  f: Quicquid enim boni homo operatur, non de merito ipsius, sed de dono gratiae Dei procedit. Zum paulinischen Verhältnis von Indikativ und Imperativ vgl.: Peter Lampe, Die Wirklichkeit als Bild. Das Neue Testament als ein Grunddokument abendländischer Kultur im Lichte konstruktivistischer Epistemologie und Wissenssoziologie (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, ), .

3.1 Der Geist erhebt den Geist: Durchblick zum Leben in der Visio SV III,10

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Präposition cum zusammengesetzt sind, wie coniunctio, compositio, coadunari, compaginatio. Zusammenwirken von Gott und Mensch (in mehrfacher Staffelung) : cum & Nomen/ Verb

Dabei wird das Wirken Gottes in der Gnade als Überfluss geschildert, durch Adverbien wie superabundanter, oder durch Superlative. Denn das göttliche Werk ist für die Autorin Fülle und Süßigkeit.¹¹⁵ Gott bietet im Mitleiden, in der compassio dem Menschen die Schicksalsgemeinschaft, das consortium an. Gemeinschaft mit den Menschen ist ihm so viel wie Mitleiden: Und ich will mit dir Gemeinschaft haben und mit deinen Schmerzen mitleiden.¹¹⁶

In diesem Mitleiden wird die Barmherzigkeit Gottes, die sich zum Menschen herab beugt, gar als „misericordia flexibilis“ beschrieben.¹¹⁷ Allerdings erhellt eine weitere Textstelle zur flexibilis misericordia Dei, dass der Begriff des consortium zwischen dem Beistand Gottes im irdischen Leid und der eschatologischen Integration des Menschen in das himmlische Jerusalem schwankt, und eher in letzterem seine Zugrichtung hat.¹¹⁸

3.1.3.2 Spiritus elevat spiritum: Leben als Erhebung zur Gemeinschaft im himmlischen Jerusalem Also deuten die vorherigen Analysen deuten darauf hin, dass der Schwerpunkt des Begriffes von Leben in der zehnten Vision des dritten Teiles auf dem ewigen, glückseligen Leben im himmlischen Jerusalem liegt. Gleichwohl sind durchaus Wendungen von Leben im Sinn eines irdischen Lebendig-Seins zu beobachten. Entsprechend des literarisch gestalteten Argumentationsganges in den Reden des Menschensohnes und der ausdeutenden Stimme von Gott Vater wird vor allem deswegen auf das Leben im biologischen Sinn Bezug genommen, um auf die Ansprüche Gottes als des Schöpfers der Menschen zu verweisen.¹¹⁹ Als besonderes Kennzeichen des kreatürlichen Lebens wird auf die postlapsale

 Z  f: in plenitudine divini operis … et in dulcedine sui affectus.  Z : et ego volo tibi communicare ac compati doloribus tuis.  Z : : quia misericordia Dei pia compassione se ad homines flectens et miseriis eorum compatiens, se quaerentibus semper flexibilis est.  Z ; vgl. Z  und Z .  Z  –  mit dem klassischen Dreierschema von Leben, Bewegung und Einsicht; sowie Z . Zum Konnex zwischen Leben, Bewegung und Intellekt, wie er ab Plato bedacht wird, vgl. Lothar

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

fragilitas der menschlichen Natur hingewiesen.¹²⁰ Die Wahrheit des eigentlichen Lebens besteht für die Autorin jedoch in der belohnenden Rückgabe des Lebens, der remuneratio vitae ¹²¹ durch Christi Lauf zum Kreuz.¹²² Der Weg Christi zum ewigen Leben wird von den Menschen im Bleiben bei guten Werken nachgeahmt: Das ewige Leben verwirklicht sich in der Beständigkeit in guten Werken.¹²³

Dabei soll die Beharrlichkeit in guten Werken schon jetzt so mit der Quelle des Lebens verbinden, dass man sich bereits im irdischen Leben allen Widrigkeiten zum Trotz freuen kann.¹²⁴ So bewegen die Tugenden den Menschen vom Tod weg zum Leben hin, ad vitam. ¹²⁵ Der Präpositionalausdruck ad vitam ist eine stabile Ausdrucksweise im Opus Hildegardianum, wann immer es um die Hinwendung zum von der Autorin als echt verstandenen Leben geht: Abkehr von defizitären Formen vorläufiger, todverfallener Existenz hin zum wahren Leben: ad & vitam (& Verb)

Allerdings folgt aus dem Schwergewicht auf der Zentrierung des eigentlichen Lebens in die Eschatologie ein Dualismus in der Zuordnung der Prädikate von „himmlisch“ und „irdisch“ für innerweltliches Selbst- und Welterleben: Himmlisch bist du im Geist, irdisch im Fleisch. Also musst du das Himmlische lieben und das Irdische niedertreten (conculcare).¹²⁶

Zur Wahrung der höheren Freude, der superna felicitas,¹²⁷ sei die christliche Vollkommenheit in der Verachtung der Welt, im contemptus mundi, zu bestimmen.¹²⁸ Schäfer, „Leben. II. Philosophisch,“ in LthK  :  f. Thomas von Aquin formuliert in der Summa: Vita autem maxime manifestatur duplici opere, scilicet cognitionis et motus. (STh I, q , a). Näheres hierzu im Kapitel . dieser Arbeit.  Z : humana natura fragilitatis tuae; vgl. Z .  Z : Dies ist wieder ein zusammengesetztes Nomen mit re- als semantischen Marker für Werke der Erlösung als re-ditus. Dieser Effekt wird verstärkt durch ein benachbartes Verb mit der Vorsilbe re, resonare: Z  f: propter remuneratonem vitae non cesset resonare.  Z  f: properans ad passionem crucis vitam in veritate perseverantibus contulit. In dieser Ausdeutung des schnellen Laufs des Hirschen schwingt ein Anklang an den Ternar von Weg, Wahrheit und Leben (Joh ,) mit.  Z  f: quoniam vita aeterna in perseverantia boni operis reperitur.  Z  f: ita ut cum rectis suspiriis bibam de aqua fontis vivi, qui me faciat gaudere in vita.  Z f: ad vitam de morte festinat.  Z  – : caelestis es in spiritu, terrestis in carne. Unde et quae caelestia sunt debes amare et quae terrestia sunt conculcare.  Z .

3.1 Der Geist erhebt den Geist: Durchblick zum Leben in der Visio SV III,10

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Die Rückkehr und Hinwendung zum Leben wird in zwei Bewegungsschemata beschrieben. Das erste, das neuplatonische Schema von Ausgang und Rückgang, exitus und reditus,¹²⁹ bezieht sich auf die Heilsgeschichte im Ganzen. Dabei soll das Schöpfungswerk gestärkt, geschmückt und vollendet werden.¹³⁰ Bei dem zweiten Bewegungsmuster geht es um die Begegnung des einzelnen Menschen mit Gott innerhalb der Heilsgeschichte: Der Gott, der sich in Christus und Geist hinabneigt, erhebt zugleich den Menschen nach oben.¹³¹ Diese Erhebung ereignet sich im heiligen Geist: Der Geist erhebt den Geist.¹³²

Die Autorin erklärt: Der Heilige Geist erhebt den Geist des Menschen über sich hinaus. Dabei geht es nicht um eine rein kontemplative Einsicht in Heilsereignisse, sondern um die vom Heiligen Geist ermöglichte Erwägung, was im Heiligen Geist zu tun sei, sozusagen um ein geistgewirktes praktisches Erkenntnisvermögen. Dies soll auf mehrere Weisen zum Gebet anregen: Der Mensch soll wie in einer Art immer-währenden¹³³ Gebet über die Gaben und die Ausstrahlung der so von Gott ermöglichten Taten nachdenken. Aufgrund jener Taten wiederum sollen Mitmenschen zum Lob Gottes ermuntert werden.¹³⁴ Wie die Rückschenkung des unverlierbaren Lebens mit der Ehrung und Verkündigung Gottes im Lobgebet zusammenhängen, vermittelt bildlich die Tugendfigur der Weltverachtung. Laut der Bildbeschreibung ist auf ihrer Brust eingemeißelt, also nicht nur flüchtig erscheinend, eine Selbstbezeichnung als Lobopfer, als hostia laudis. ¹³⁵ Gleichzeitig zitiert sie Offb 2,7 mit dem Versprechen der Speise vom Holz des Lebens.¹³⁶ Dabei ist im erklärenden Folgesatz die Metaphorik von der Quelle des Heils, die den Tod ertränkt,¹³⁷ wieder aufgenommen. Dass die Tugendfigur des contemptus mundi  Z : perfectionem Christi et contemptum mundi; Z  f: perfectio Christiana in contemptu mundi.  Z  sicut etiam opus suum per se educens, illud …in summa perfectione completum reducit ad semetipsum. Zur Diskussion über Eriugena als möglicher Quelle für dieses Schema bei Hildegard siehe Christel Meier, „Scientia Divinorum Operum. Zu Hildegards von Bingen visionär-künstlerischer Rezeption Eriugenas,“ in Eriugena Redivivus. Zur Wirkungsgeschichte seines Denkens im Mittelalter und im Übergang zur Neuzeit, Hg. Werner Beierwaltes (Heidelberg: C. Winter, ): .  Z  f: confirmatum et ornatum atque in summa perfectione completum.  Zitat von Offb , f in Z  –  f: Et sustulit me in montem…Et ostendit mihi civitatem sanctam Ierusalem descendentem de caelo.  Z  f: Spiritus elevat spiritum.  Z  f: Quapropter omni hora te oportet meditari.  Z  – : quatenus homines bono exemplo provocati Deo honorem laudis inde exhibeant.  Z  f. mit den Worten aus Hebr ,: Ego sum hostia laudis.  Z  mit Zitat von Offb ,: Vicenti dabo edere de ligno vitae. Zur Metaphorik von der Speise des Lebens vgl. Bertha Widmer, Heilsordnung und Zeitgeschehen in der Mystik Hildegards von Bingen, Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft  (Basel/Stuttgart: Helbing & Lichtenhahn, ),  – .  Z : fons salutis mortem submergens.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

sich als blühend in der Erlösung¹³⁸ charakterisiert, kann so ausgelegt werden, dass Weltverachtung nicht als Ziel in sich dienen soll, sondern als Durchgangsstadium zum eigentlichen Leben, so wie das Kreuz zum Lebensbaum wird. Mithin kann an einigen Bildmotiven und Kernaussagen zum Begriff des Lebens ermessen werden, dass einer differenziert ausgeschilderten Visionsbeschreibung durchaus präzise theologische Zielaussagen zugrunde liegen, die stringent durch die Visio hindurch angestrebt werden. Jene Stringenz liegt nicht in abstraktiven Argumentationsketten, sondern in einem Bauplan, der hinter der Textoberfläche ersichtlich wird: Präpositionen (in, sub, cum, ad, super), Konjunktionen (si) und Vorsilben (re) werden gezielt gehäuft als sprachliche Mittel eingesetzt, um dem Rezipienten den Impetus des göttlichen Heilswirkens einzuschärfen. Der Zustand des Friedens und die Aufforderung zum Gotteslob werden als tragende Motive in der Untergrundstruktur des Textes ersichtlich. Textaufbau und stilistische Mittel bauen im Textverlauf eine Dynamik auf, die den inhaltlichen Hauptgedanken des Erhobenwerdens zum eigentlichen Leben spiegelt.

3.2 Wenn ihr meine Rede mit der Freude eures Herzens erfüllt!: ¹³⁹ Der Rückweg zum Leben in rectitudo und honestas in der Visio SV I,2 3.2.1 Formale Analyse der sprachlichen Strukturelemente 3.2.1.1 Zur Komposition der Visio Diese Visio wurde für eine intensivere Untersuchung ausgewählt, weil es sich um den ersten Textabschnitt im Liber Scivias handelt, der inhaltlich über eine Leseanleitung für das Visionswerk hinausgeht. Im Kapitel 2 dieser Arbeit wurde die vorausgehende Visio Prima der Prima Pars untersucht. Im Vergleich zu späteren Visiones des Scivias, insbesondere zu denen des dritten Teiles, fällt in der zweiten Vision des ersten Teiles die Beschreibung der Bildlichkeit der Schauung recht kurz aus. Sie wird nicht gleich zu Beginn der Rede der „Stimme von oben“ ausgedeutet, sondern später wieder aufgenommen. So entsteht zwischen Visionsbericht und Mahnrede ein geschlossener Text. Wie in vielen Visiones des Liber Scivias lässt sich beobachten, dass die imaginative Ebene der geschilderten Schauung durch weitere Bildsymbole innerhalb der Audition ergänzt wird. Die Bildbereiche von Garten und Lebensspeise hängen nicht direkt auf der Ebene der Bildsprachlichkeit zusammen. Ihr Bezugspunkt ist vielmehr die

 Z : me virentem in redemptione fecit.  Hildegardis Bingensis Liber Scivias, Pars prima, Visio Secunda, Z  f: cum …vocem meam cum gaudio cordis vestri adimpletis.

3.2 Der Rückweg zum Leben in rectitudo und honestas in der Visio SV I,2

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Sachebene des Begriffes des glückseligen Lebens (vita beata). Jener fällt daher gleich zu Beginn der Deutungsrede.¹⁴⁰ Ebenso wird von vornherein durch Bildaufbau und Redeeinsatz das Grundmotiv der Rede genannt: Der Unterschied zwischen einer echten und einer nur vorgetäuschten Nachfolge Gottes.¹⁴¹ Innerhalb des komplexeren Eingangssatzes wird ein Bogen zwischen „Deum“ als Anfangswort des Satzes sowie der ganzen Audition und „deiciantur“ als Schlusswort gebildet. Damit ist klangvoll, wie in einem Anfangsakkord, der Inhalt des Großteils der berichteten Rede umrissen: Aus der Schilderung des Falls Luzifers und von Adam und Eva werden konkrete Anforderungen an den zeitgenössischen Lesers Hildegards für die Ausgestaltung einer christlichen Ehe abgeleitet. Dabei wird die Ehe als ekklesiale Lebensform bestimmt. Ein Visionswerk, das durchgängig Reflexionen über die Kirche zum Inhalt hat, lässt jene schon an seinem Beginn mit der Ehe als christlicher Lebensweise beginnen. Dieser Werkaufbau folgt zwar einer heilsgeschichtlichen Logik, stellt aber gerade bei einer monastischen Autorin eine beachtliche Wertschätzung dieses Standes dar. Daraus lässt sich ableiten, dass Hildegard ihr Visionswerk auch für einen weiteren Leserkreis der Laien in der Welt konzipiert hat. Nachdem fast 2/3 der niedergeschriebenen Rede von einem moraltheologischen Impetus bestimmt sind, liefert erst deren dritter Teil die soteriologische Basis hierfür: Anhand der Symbolik des Gartens, in der sich der Paradiesesgarten und der Garten der Kirche spiegeln, schildert Hildegard das Erlösungsgeschehen als ZurückgetragenWerden zum Leben aus. Die Verbindung zwischen diesen beiden Teilen stellt ein relativ kurzes, in einer Dichte aus Komparativen und Superlativen ausformuliertes Zwischenstück über den Preis des jungfräulichen Lebensstandes her. Die theologische Bedeutung dieser Zwischenpassage wird dadurch unterstrichen, dass hier bereits Einzelmotive aus dem Motivkreis des Gartens anklingen. Die gemessen an späteren Visiones aus dem Liber Scivias sparsame Auswahl an Motivkreisen, von „Licht“, „Sternen“ und „Nebel“ in der Schau, von „Garten“ und „Lebensspeise“ in der ermahnenden Deutungsrede darf nicht über deren theologische Tiefenbedeutung in dieser Vision hinwegtäuschen. Dabei spielen sowohl im Visionsbericht als auch in der Rede Raumdimensionen eine Rolle: „Garten“ impliziert die Vorstellung von einem Raum, der schützend umzäunt und gegen Unwirtlichkeit abgegrenzt ist. Gegenden in der Raumwelt der Vision gemahnen schon von ihrem lateinischen Namen regio ¹⁴² an die augustinische Dualität, modern gesprochen, an den binären Code von regio similitudinis und regio dissimilitudinis, von Unheil und Heil.

 SV Pars Prima, Visio Secunda, Z : in beata vita.  Z  – : Deum fideli devotione subsequentes…cum illi qui Deum ficte attendunt.  Z : regionem.

100

3 Visiones aus dem Liber Scivias

Hierbei ist in der visio secunda die Möglichkeit einer Verschiebung dieser Abgrenzungen von Heil und Unheil ausgedrückt. In einem Textabschnitt, der unmittelbar der Schanierstelle über die Nachfolge im jungfräulichen Lebensstand folgt, und so an Leser aller christlichen Stände gerichtet erscheint, wird dem Leser der Bibel und des hildegardianischen Textes ein Übergang zum Heil in der Gottesbegegnung und so zum Leben eröffnet, in dem die Möglichkeit des Eintritts des Erlösers in den Herzinnenraum (Offb 3,20) verheißen wird. Dieser Abschnitt soll als eine Art „Filetstück“ der Gnadenlehre, Eucharistielehre und geistlichen Theologie Hildegards in diesem Kapitel genauer untersucht werden. Im Tabernakel seines Herzens¹⁴³ wird der Mensch gleichsam zum Raumgeber, zum Tempel Gottes.¹⁴⁴ Dies begründet seine von Gott gewollte integritas, die der Mensch dann durch ein entsprechendes moralisches Verhalten mit schützen soll. Hinter einer textlichen „Vorderbühne“ von moralischen Vorschriften entfaltet sich eine Tiefensicht, wie der Mensch zu hoher Verantwortung als Gestalter von Lebensräumen berufen wird, die das Wachstum zum ewigen, glücklichen Leben vorbereiten.

3.2.1.2 Ähnlichkeit mit Strukturen der Visio SV III, 10 Der Motivkreis des Gartens berührt den des „Ackers“, der im vorherigen Kapitel untersucht wurde. Es lassen sich weitere sprachliche und inhaltliche Einzelelemente benennen, die ebenso in anderen Visiones zu beobachten sind. So können sie im Gang der Untersuchung allmählich als konstante Strukturmerkmale der theologischen Sprache Hildegards bestimmt werden. Denn hinsichtlich des Œuvre Hildegards kann man gleichzeitig von einer Stilkonstanz und einer Stilentwicklung sprechen. Allerdings muss bei der Interpretation der Wechselwirkung dieser beiden Phänomene berücksichtigt werden, dass die Visionswerke zwar über jahrelange Zeiträume hinweg entstanden, aber – wohl in mehreren Überarbeitungsgängen – für die Gesamtausgaben vereinheitlicht und geglättet wurden. Ebenso auf der sprachlichen wie auf der inhaltlich theologischen Ebene ist eine Konstanz bestimmter Merkmale festzustellen. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass Hildegard ein bestimmter theologischer „Gedankenplan“ bei der Abfassung des Liber Scivias vorschwebte. So sind wiederum die im vorausgehenden Kapitel dieser Arbeit identifizierten Sprachformeln für theologische Sachverhalte auszumachen: Die Konjunktion si für Zusagen Gottes, Wendungen mit re für Erlösung,¹⁴⁵ Verben mit sub für das unterstützende Erhobenwerden des Menschen durch Gott, Präpositionalausdrücke mit ad für die Dynamik des Heilsgeschehens zum Leben hin.¹⁴⁶    

Z : tabernaculum cordis. Z : qui templum Dei fuit. Z  f: in pristinam honorem maiori gloria reposuit. Z  ad vitam. Vgl. Z , .

3.2 Der Rückweg zum Leben in rectitudo und honestas in der Visio SV I,2

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Wieder wird die Zielvorstellung für das Leben des Menschen mit Gott als consortium bezeichnet, anhand der Präposition in mit Ablativ als Spiegel des Standes des Menschen in Gott.¹⁴⁷ Da die gegenwärtige condicio humana wiederum als fragilitas gezeichnet wird,¹⁴⁸ wird ihr wieder das Sehnen der Menschen, das desiderare, nach Gott gegenübergestellt.¹⁴⁹ Ebenso werden neben den Menschen voller Sehnsucht nach Gott wieder jene geschildert, die ihn verlachen.¹⁵⁰ Auch erscheint Erlösung im Bild des Erhobenwerdens über die Himmel.¹⁵¹ Das Motiv des „Anklopfens“, ein akustisches Phänomen, das zugleich die Vorstellung von einer Tür oder einem Tor als Abgrenzung, aber auch als Möglichkeit des Überganges zwischen zwei Raumbereichen erweckt, taucht ebenfalls wieder auf, nun aber von der anderen Seite her: In der Visio SV III,10, also gegen Schluss des Visionswerkes, ist der Mensch ermutiget, bei Gott „anzuklopfen“. In der Visio SV I,2 des ersten Teils, also fast noch zu Beginn, wird Gott geschildert, der beim Menschen anklopft.¹⁵² Die Gemeinsamkeit des Motivs belegt, wie der Liber Scivias in seinen sprachlichen Wendungen immer wieder die wechselseitige Annäherung von Gott und Mensch ausdrückt.¹⁵³

3.2.1.3 Weitere stilistische und inhaltliche Merkmale In dieser Visio begegnen einige weitere Stilmerkmale, die als eigentümlich für die Sprache Hildegards erachtet werden können: Erstens finden sich lautmalerische Wendungen,¹⁵⁴ wie sie schon alttestamentliche Propheten verwenden, zum Beispiel Jes 10,14.¹⁵⁵ Sie werden dort artikuliert, wo Protagonisten die Fälschlichkeit ihrer Entscheidung eines Aufstandes gegen Gott erkennen: lautmalerische Interjektionen/ Verben: Reue über den Aufstand gegen Gott und Furcht über das drohende Gericht

 Z : consortium homo habens in Deo.  Z : fragilitas humanae teneritudinis.  Z : quod iustitiam desiderantibus vitam affert.  Z . ioculatores.  Z : Sic homo super caelos elevatus est.  Zitat von Mth , in SV Pars Tertia,Visio Decima, Z  f: Si pulsaveris ad ianuam, tibi apperietur.  Zitat von Offb , in SV Pars Prima, Visio Secunda, Z : Ecce sto ad ostium et pulso.  Z : plorate et ululate.  Vgl. Klaus Seybold, Poetik der prophetischen Literatur im Alten Testament, Poetologische Studien zum Alten Testament  (Stuttgart: W. Kohlhammer, ), .

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

Zweitens umkleiden Superlative die Werberede der Ordensfrau für den jungfräulichen Lebensstand, die im Sinne der Ordenspolemik des 12. Jahrhunderts mit der Heilsbedeutung des ehelosen Christus, geboren von einer jungfräulichen Mutter, legitimiert wird.¹⁵⁶ Drittens werden Menschen, die sich Gott widersetzen, als „stulti“ angesprochen.¹⁵⁷ Hier geht es weniger um eine Beleidigung, als um einen Hinweis, dass die Autorin das Verhältnis zu Gott als Angelegenheit des Verstandes wertet. Ohne das Bemühen, ihre Ausrichtung auf Gott zurecht rücken zu lassen, könnten Menschen nicht klug und weise genannt werden.¹⁵⁸ Viertens ist das Stichwort des tactus, das schon im vorausgegangenen Kapitel dieser Arbeit angesprochen wurde, in einer beachtenswert anderen Akzentuierung eingesetzt: Gott lässt sich auf Grund seiner Barmherzigkeit von den Menschen berühren.¹⁵⁹ Dies ist freilich, anders als etwa in moderner Prozesstheologie, kein Gegensatz zur prinzipiellen Immobilität Gottes, wie sie auch in der vorliegenden Visio den Rezipienten eingeschärft wird. Dennoch darf die Tragweite dieser semantischen Verschiebung auf Gott als Objekt, das auf die Bedürftigkeit des Menschen reagiert, nicht unterschätzt werden. Wie in der Visio SV III,10 liegt also wieder eine subkutane Andeutung vor, dass es, ungeachtet der Souveränität Gottes, durchaus ein Angerührtwerden Gottes, Christi, der Kirche durch den Menschen gibt. Sie beziehen sich und stützen sich auf den Menschen, wenn es um den Dienst an seinem Heil geht.

3.2.2 Bildsprache 3.2.2.1 Die Metaphorik des Gartens als Weide des Lebens Die Bildsprache eines blühenden „Heilsgeländes“¹⁶⁰, einer Art „Heilsbotanik“¹⁶¹ falten die späteren jesajanischen Schriften aus. Metaphern aus der Vegetation bilden ethische Sachverhalte ab, vor allem die Gerechtigkeit als Bedingung für eine Oase des Lebens (Jes 61, 3),¹⁶² die auf der bildlichen Ebene sowohl durch Gott als auch durch den ge-

 Z : amantissimas oves; Z  f: pulcherrimum pomum; Z : dulcissimi flores.  Z ; Z .  Jene zentrale Bedeutung von weisheitlicher Erkenntnis für den Menschen spiegelt sich im sprachlichen Ausdruck Hildegards, so Viki Ranff, Wissen und Weisheit bei Hildegard von Bingen. Eine verborgene Philosophie bei Hildegard von Bingen, Mystik in Geschichte und Gegenwart, Abteilung I. Christliche Mystik  (Stuttgart-Bad Canstatt: Frommann-Holzboog, ), .  Z : Deus in vera misericordia tactus est.  Ulrich Berges, „Gottesgarten und Tempel: Die neue Schöpfung im Jesajabuch,“ in Gottesstadt und Gottesgarten. Zur Geschichte und Theologie des Jerusalemer Tempels, Hg. Othmar Keel and Erich Zenger, Quaestiones Disputatae  (Freiburg im Breisgau: Herder, ): .  Ibd.  Ulrich Berges, „Gottesgarten und Tempel,“:  f.

3.2 Der Rückweg zum Leben in rectitudo und honestas in der Visio SV I,2

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rechten Menschen wie durch einen Wasserquell belebt wird (Jes 58,11).¹⁶³ Der Garten Gottes entsteht zwar an konkreten Kultorten wie dem Zion. Doch jene konkreten Planzungen zeigen anbruchshaft das Versprechen Gottes einer späteren umfassenden Neuschöpfung des ganzen Kosmos (Jes 65, 17).¹⁶⁴ Hildegard bezieht sich zwar nicht wörtlich auf Jesaja. Doch dürfte es kein Zufall sein, dass sowohl in Jes 61,3 als auch in der hildegardianischen Visio das Bild des Gartens mit dem theologischen Grundwort der Gerechtigkeit verbunden ist, wobei den Trauernden Freude verheißen wird.¹⁶⁵ Der „Garten“ ist wiederum, wie im vorausgehenden Kapitel dieser Arbeit „Acker“, „Herz“, „Hirsch“, und „Fenster“ ein Symbol gleichermaßen von Umgrenztheit¹⁶⁶ und Entgrenzung¹⁶⁷ sowie ein Metasymbol für poetologische Reflexionen. Als Versinnbildlichung für das Handeln Gottes bilden sich in ihm die heilsgeschichtlichen Stadien des Paradieses, der Zeit der Kirche und des Himmels ab.¹⁶⁸ So wird Heil topographisch als äußere und innere Räumlichkeit geschildert. Zugleich steht Garten für Aktivitäten des Menschen, gleichermaßen für seinen äußeren Gestaltungswillen wie für seine innere Welt in Ethos und Bildung. In der Kultur der Klostergärten leitet Walahfried Strabo (807– 848) im 9. Jahrhundert mittels der Symbolik von Rose und Lilie eine christologische Kurzformel her, die die Tugendkämpfe und die eschatologische Friedenssehnsucht der Jünger Christi fundiert.¹⁶⁹ Darin schimmert eine Naturtheologie durch, die Pflanzen nicht nur als Symbole heilsgeschichtlicher Ereignisse interpretiert, sondern ihr Einbezogensein in jene und ihre Veränderlichkeit durch heilsgeschichtliche Vorkommnisse andeutet.¹⁷⁰ Auf der Grundlage des Sprachbildes des Gartens entstehen im Hoch- und Spätmittelalter ausdifferenzierte Symbollandschaften, die als Bauplan für Kompendien heilsgeschichtlicher und geistlicher Theologie dienen.¹⁷¹

 Ulrich Berges, „Gottesgarten und Tempel,“: .  Ulrich Berges, „Gottesgarten und Tempel,“:  zu Jes , .  Im Text der Vulgata Jes ,: „ut ponerem lugentibus Sion et darem eis coronam pro cinere/ oleum gaudii pro luctu/ pallium laudis pro spiritu maeroris/ et vocabuntur in ea fortes iustitiae platatio domini ad glorificandum.“  Daher verbinden sich mit seiner Bildwelt auf erkenntnistheoretischer Ebenen ordo-Vorstellungen und auf religiöser Ebene die Ähnlichkeit zum „Tempel“ als einem gleichfalls für das Heilige umgrenzten Bezirk.  Zum Beispiel im zu seiner Umwelt offenen Landschaftsgarten.  Noch in Gartenschilderungen der Romantik gehen die drei Zeitstufen von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft ineinander über. Hierzu Anna Ananieva, „Garten,“ in Metzler Lexikon literarischer Symbole, Hg. Günther Butzer and Joachim Jacob (Stuttgart: J.B. Metzler, ): .  Walahfrid Strabo, De cultura hortorum. Über den Gartenbau, lateinisch und deutsch, Übers. u. Hg. Otto Schönberger (Stuttgart: Phlipp Reclam jun., ), , Z  – : Lilia qui verbis vitaque dicavit amoena/Morte rosas tinguens, pacemque et proelia membris/ Liquit in orbe suis, virtutem amplexus utramque./ Premia ambobus servans aeterna triumphis.  Durch den homo rebellis geraten nach Hildegard die Elemente in Unordnung (Z  – ).  Vgl. Peter Cornelius Mayer-Tasch and Bernd Mayerhofer, Hinter Mauern ein Paradies. Der mittelalterliche Garten (Frankfurt am Main/Leipzig: Insel, ),  f.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

Als Zeitgenossin von Hildegard komponierte so Herrad von Landsberg ihr Kompilationswerk Hortus Deliciarum. ¹⁷² Allerdings lässt sich keine direkte literarische Abhängigkeit zwischen Hildegard und Herrad von Landsberg nachweisen.¹⁷³ Berührungspunkte ergeben sich wohl eher aus der Beheimatung in einer ähnlichen literarischen und theologischen Tradition und aus dem ähnlichen Bestreben, religiöse Hochkultur der Romanik zusammenzufassen und weiterzuvermitteln.¹⁷⁴ Hildegard schildert zunächst das Paradies als locus amoenitatis ¹⁷⁵ aus, wobei jener antike Topos durch die Bildsprache hindurch mit theologischen Erklärungen durchtränkt ist, also kreativ weiterentwickelt wird:¹⁷⁶ Aber das Paradies ist ein locus amoenitatis. Denn er blüht in der Grünkraft der Pflanzen und Kräuter und aller angenehmen Spezereien. Er ist erfüllt von den wohlriechendsten Düften. Er ist beschenkt von Gott her in der Freude der glückseligen Seelen. Der herben Erde gibt er den allerstärkendsten Trank. Denn er teilt der Erde die stärkste Kraft mit. Ähnlich gibt die Seele dem Körper seine Kräfte. Denn das Paradies selbst ist nicht im Schatten und Verderben der Sünden verdunkelt.¹⁷⁷

Die Grünkraft (viriditas) der Vegetation vermittelt die Lebenskraft Gottes an die Natur. Hinter der materiellen Kraft des Körpers steht die der Seele als Lebenskraft. Beide innerweltlichen Kräfte von Natur und Seele sind vom heilsgeschichtlichen Stand vor oder nach dem Sündenfall abhängig, also nur von theologischen Kritierien her gewertet.  Rekonstruktion der im . Jahrhundert zerstörten Handschrift durch das Warburg Institut in: Herrad of Hohenbourg, Hortus Deliciarum  Bd., Studies of Warburg Institute , Hg. Rosalie Green, Michael Evans, Christine Bischoff, and Michael Curschmann (London: Brill, ).  Vgl. Susann El Kholi, Lektüre in Frauenkonventen des ostfränkisch-deutschen Reiches vom . Jahrhundert bis zur Mitte des . Jahrhunderts, Epistemata  (Würzburg: Königshausen&Neumann, ), , ,  f. Allerdings können Bezüge Herrads zu Admont und zu bayerischen Benediktinerklöstern nicht ausgeschlossen werden. (Vgl. Fiona J. Griffiths, The Garden of Delights. Reform and Renaissance for Women in the Twelfth Century (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, ), .) Zumindest beziehen sich sowohl Hildegard von Bingen als auch Herrad von Landsberg auf Honorius Augustodunensis, der spätestens ab  in Regensburg ansässig war. (So Wilfried Hartmann, Honorius Augustodunensis, in LthK  : ; sowie Manfred Gerwing, Theologie im Mittelalter. Personen und Stationen theologisch-spiritueller Suchbewegungen im mittelalterlichen Deutschland (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ), ).  Das Manuskript des Hortus Deliciarum war mit volkssprachlichen Glossen versehen.Vgl. Susanne El Kohli, Lektüre in Frauenkonventen des ostfränkisch-deutschen Reiches vom . Jahrhundert bis zur Mitte des . Jahrhunderts, .  Z  sowie in vorheriger kurzer Ankündigung in Z . Zu dem Topos des locus amoenus vgl. Heinrich F. Plett, Einführung in die rhetorische Textanalyse (Hamburg: Helmut Buske, ), .  Zu kreativen Fortschreibungen dieses Topos in der Poetik und Philosophie des . Jahrhunderts vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Tübingen/ Basel: Francke, ), .  Z  – . Übersetzung von mir. Der Ausdruck locus amoenitatis steht wörtlich in Z . Das Zitat dieses antiken Topos ist ein Hinweis darauf, dass Hildegard eine Schulung in den Artes erhalten haben muss!

3.2 Der Rückweg zum Leben in rectitudo und honestas in der Visio SV I,2

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Später dient die Metaphorik des Gartens, von Hildegard als Vergleichsbild, similitudo,¹⁷⁸ qualifiziert, dazu, um den Heilswillen Gottes als eines umsichtigen Philosophen und Künstlers¹⁷⁹ zu illustrieren, der im Kreuzestod seines Sohnes die Menschen zur Weide des Lebens zurück bringen lässt.¹⁸⁰ Hierbei ist im Stichwort der pigmentarii, der „Salbenmischer“¹⁸¹ auf der Bildebene angedeutet, dass die Kirche der Raum ist, in der der Mensch zum heilen Leben zurück gebracht wird. Dies wird im Sakrament der Eucharistie zugeeignet.¹⁸²

3.2.2.2 Cibus Vitae im Tabernaculum Cordis Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird (und die Tür öffnen wird), werde ich eintreten und werde mit ihm Mahl halten und er mit mir“. (Apk 3, 20) Das kann so ausgedrückt werden: Ihr, die ihr mich, euren Heiland, treu liebt, seht, dass ich euch, im Willen, euch zur Hilfe zu eilen, im Tabernakel eures Herzens erwarte. Dabei erwäge ich, was euer Gewissen in der Durchforschung eures Herzens enthält. Ich erschüttere euren religiösen Geist mit dem Anhauch (durch den Heiligen Geist) der Rückerinnerung an eure Gesinnung zur Eröffnung einer Aufnahme des guten Willens. Wenn dann das Herz treu den Klang der auf mich bezogenen Gottesfurcht vernimmt, verbinde ich mich in bräutlicher Zuneigung hin zu ihm, indem ich ihn umfasse. Mit ihm pflücke ich die nie ausgehende Speise, während er sich selbst mir als süßen Geschmack in seinen guten Werken darreicht, so dass auch er die Speise des Lebens in mir selbst haben wird. Denn er liebt ja das, was denen, die die Gerechtigkeit ersehnen, das Leben herbeischafft.¹⁸³

Der komplexe Satzbau dieser Passage spiegelt das differenzierte eucharistische Zueinander von Gott und Mensch wieder. Daher sei er tabellarisch aufgeschlüsselt: Aufschlüsselung dieser Passage nach Satzbau und rhetorisch-inhaltlichen Elementen: (Abkürzungen: M = Mensch, G = Gott; Termini in Anführungszeichen sind arbeitshypothetische Begriffe.) Appell: Mitwirkung M: Grund/Zusage: Mitwirkung der Menschen: in „mystischer Intensität M“: Biblischer Zeuge:

Ideo gaudete, cum sic perseveratis, quia tunc vobiscum sum cum me fideliter suscipitis et vocem meam cum gaudio cordis vestri adimpletis, quemadmodum in secreta visione Iohannis

 Z : Unde, o homo, similitudinem hanc considera. Die Autorin weist folglich darauf hin, dass sie mit der allegorischen Darstellungsform die Aufmerksamkeit des Rezipienten binden und ihn zum Nachsinnen anregen will.  Z : tantus philosophus et tantus artifex. Zum Zusammenhang zwischen Gott als Künstler und seiner Ursprungsfülle an viriditias vgl. Fabio Chávez Alvarez, „Die brennende Vernunft“. Studien zur Semantik der „rationalitas“ bei Hildegard von Bingen, Mystik in Geschichte und Gegenwart I,  (Stuttgart: Frommann-Holzboog, ), .  Z  – .  Z : Tunc etiam pigmentarios suos constituit.  Bezeichnung Christi als caelestis panis in Z .  Z  – .

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

in „mystischer Intensität G“: Gottesrede, die Schrift deutet:

dilecti mei ostendo dicens:

Der Hauptsatz setzt das Handeln und Reden Gottes: „Ich bin mit euch (vobiscum sum) und zeige folgendes, in dem ich – durch den johanneischen Autor – sage:“ (nachträgliche Abschnittseinteilung mit lapidarer Überschrift „Johannes de eadem re“ zerschneidet Zusammenhang!) Biblisches Zitat (Apk , ) als Fortführung der Gottesrede:

Ecce sto ad ostium et pulso. Si quis audierit vocem meam …intrabo ad illum et cenabo cum illo et ipse mecum.

Weiterdeutung des Verses, vorgeführt als Deutung Gottes selbst: Didaktisch rhetorischer Marker (weiterhin als Rede von G!): Appell a) Adressat: Mitwirkung M: (hierbei G- M verschränkt): Appell b) Imperativ: Grund/ Zuspruch: Intention Gottes … vorausschauend richterlich: Zusammenwirken Gott-Mensch Handeln am Menschen Ziel:

Quod dicitur: Vos qui me salvatorem vestrum fideliter amatis videte (im johanneischen Sinn) quia vobis sucurrere volens exspecto ad tabernaculum cordis vestri considerans quid conscientia vestra in scrutino cordis sui habeat et cum sufflato recordationis vestrae spiritum vestrum ad apertionem susceptionis bonae volutatis concutio.

Folge: „Bedingung“ in Mitwirkung M Zusage Praesens: in „mystischer Intensität“ G Eschatologische Erweiterung: (Bild vom Mahl)

Quod (invertierte Wortstellung) si tunc fidele cor percipit sonitum timoris mei coniugo me ad ipsum amplectens eum

indeficientemque cibum capiens cum illo „Moralische und mystische Intensität M“: cum ipse suavum gustum in bonis operibus semetipsum mihi preabet, Zusage Futur: ita quod et ipse cibum vitae (Apc ,) in memetipso habebit, moralische Dignität des M quoniam illud amat

3.2 Der Rückweg zum Leben in rectitudo und honestas in der Visio SV I,2

erfasst Grund der Zusage in Gott

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quod iustitiam desiderantibus vitam affert.

Durch eine Leseanleitung an den Leser, der in der zweiten Person angesprochen wird, wird die Bedeutung des Abschnittes markiert. Der Lesevollzug käme erst zum Ziel, wenn die Worte der Stimme¹⁸⁴ freudig innerlich im Herzen nachvollzogen werden.¹⁸⁵ Der Sprecher stellt sich als jemand vor, der durch den Text hindurch zum Leser spricht. Um den Weg zum Herzen des Rezipienten zu finden, fällt das Stichwort des Herzens in dem Satzgefüge mehrmals.¹⁸⁶ Dies wird verstärkt durch das Wort re-cordatio ¹⁸⁷ und weiteren Verben und Nomen, die wie cibus mit c beginnen.¹⁸⁸ Darüber hinaus weist der Abschnitt Sprachstrukturen aus, die im vorausgehenden Kapitel dieser Arbeit anhand der Visio SV III,10 als theologische Sinnträger analysiert wurden: Die Formel mit si im zitierten Bibelwort als Zusage der Zuwendung Gottes und ein Kompositum mit sub zum Ausdruck der Zuwendung Gottes auf Augenhöhe des Menschen.¹⁸⁹ Das Herz als Ort der Gottesbegegnung¹⁹⁰ und die Speise als wechselseitiger Austausch zwischen Mensch und Gott, von gutem Werk und Leben, werden von einem Kranz weiterer geistlicher Sinnesorgane umgeben: Vom geistlichen Hörsinn, vom geistlichen Unterscheidungssinn (scrutinium) und von der geistlichen Umarmung (coniungo me ad ipsum amplectens eum). Allerdings wahrt es den Takt des göttlichen Sprecher-Ichs, der auf freiwilliges Gehört-Werden wartet, obwohl er anklopfend durch den niedergeschriebenen Text hindurch die Initiative ergreift, dass er laut Hildegard den Menschen als Objekt des Handeln Gottes hier nur in der dritten Person beschreibt. Es kündigt nicht invasiv an: „Ich werde mit dir die Speise nehmen…“, sondern beschreibt distanzierend in der dritten Person, wie es einem Menschen gehen könnte, der ihm Gehör schenkt. Dies ist

 Von der Textoberfläche her spricht weiterhin Gott-Vater.Vom Kontext der Johannesoffenbarung her (Offb ,) und der eucharistischen Ausdeutung durch Hildegard wäre jedoch ebenso Christus als Sprecher herauszuhören.  Z  – : Ideo gaudete, … et vocem meam cum gaudio cordis vestri adimpletis. Diese Aufforderung wird verstärkt durch Z  f: fidele cor percipit sonitum timoris mei.  Z : tabernaculum cordis; Z : in scrutinio cordis; Z  f: cor percipit sonitum.  Z  f.  Z : considerans; Z : conscientia; Z : sus-ceptio; Z : concutio; Z : per-cipit; Z : coniungo; Z : capiens; Z : cum. Vgl. die Auflistung von Stichworten, die mit C beginnen, im Kapitel . dieser Arbeit.  Z : videte quia vobis sucurrere volens. Durch den v- Laut wird eine Verknüpfung zwischen dem Willen Gottes und der Wahrnehmung seiner Zuneigung durch den Menschen hergestellt. „vobis“ steht gezielt in der Mitte des Satzteiles. Es ist das Subjekt des Menschen, auf das das Heil zielt und in dem sich Mensch und Gott begegnen.  Zur Metapher des Herzens bei Hildegard vgl. Irmgard Müller and Christian Schulze, „Das Herz als anatomisches und anthropologisches Thema im Mittelalter,“ in Das Herz. Organ und Metapher, Hg. Wilhelm Geerlings and Andreas Mügge (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ):  f.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

umso bemerkenswerter, als in anderen Textstellen der Sprecher durchaus Mahnungen und Befehle ausspricht. Solche Beschreibungen in der dritten Person geben jenen Interpreten recht, die Hildegard höchstens als Vertreterin einer objektiven Lehrmystik einordnen wollen.¹⁹¹ Aber ungeachtet der Formulierung des menschlichen Erlebens in der dritten Person bleibt dennoch die Frage, ob dieser Abschnitt so kunstvoll hätte ausgestaltet werden können, wenn nicht entsprechende innere Erfahrungen der Autorin vorgelegen hätten, und diesen präzisen Gestaltungswillen motiviert hätten.¹⁹² Jedenfalls lässt sich angesichts dieses Textabschnittes die Hypothese nicht ausschließen, dass Hildegard nicht nur über die „Speise des Lebens“ theoretisiert, sondern deren lebensstärkende Kraft anfanghaft erfahren hat und dies in verobjektivierender Weise an den Leser weiter geben will. Das belegt die Gesamtkomposition der beiden längeren Sätze: Sie werden gerahmt von den Worten vos und vitam affert. In der Mitte, zwischen den beiden Satzpassagen, steht in betonter Schluswendung das Verb concutio, durch das sich das Sprecher-Ich als durchaus dynamisch und mit gesteigertem Affekt handelnd aufweist. Gleichwohl handelt es nicht um reine Erlebnis-Mystik, sondern es wird die Nüchternheit einer rechten Gesinnung des Menschen und das Vollbringen von guten Werken eingefordert. Wiederum begegnet eine Andeutung, dass Gott durchaus ein affizierbares Objekt der Verhaltensweisen des Menschen sei.¹⁹³ Eucharistie schimmert hier als wechselseitige Gabe von Gott und Mensch durch. Ausführlicher wird in der Visio II,6 des Scivias über die Eucharistie verhandelt. Dies geschieht mitunter in Form einer stückweisen Messallegorese. Doch obwohl daraus Folgerungen für den Lebenswandel der Priester entsprechend der Bestrebungen spätgregorianischer Reformimpulse abgeleitet werden, wird das Messgeschehen gleichzeitig aus der Perspektive der Stimme oben¹⁹⁴ geschildert und von deren Erklärungen aus auf die Teilnehmerperspektive der Laien zugemünzt. Die Erklärung der Eucharistie im Zusammenhang mit dem Begriff des Lebens durchzieht fast die ganze Visio. Hierbei werden mehrere Aspekte der johanneischen Rede vom Leben angesprochen und miteinander in Bezug gesetzt. Daher kann anhand des Sprachbildes von der „Speise des Lebens“ vorgeführt werden, wie die Autorin um

 Vgl. Kurt Ruh, Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des . Jahrhunderts, Bd. , Geschichte der abendländischen Mystik (München: C.H. Beck, ),  f.  So ist es kein Zufall, dass im ersten Satz nach der untersuchten Passage im Rückgriff auf die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies jenes mit dem antiken Topos eines locus amoenitatis (Z ) bezeichnet wird. Damit wird auf die Qualität des Innenortes des tabernaculum cordis (Z ) angespielt.  Z  – : cum ipse suavem gustum in bonis operibus semetipsum mihi praebet. Entsprechend der Tragweite für das Gottesbild erfolgen solche Hinweise durch Hildegard stets nur nebenbei, sei es sprachlich in Nebensätzen oder bildlich durch unausgesprochene Konsequenzen auf der Bildebene.  Erst allmählich weist sich die Stimme von oben als Gott-Vater aus, ähnlich wie es auch in der zehnten Vision des ersten Teils zu beobachten war: SV, Pars Secunda,Visio Sexta, Z  f: Sed ego qui sum initium et finis, iterum dico tibi, o homo, de noblili Filio meo.

3.2 Der Rückweg zum Leben in rectitudo und honestas in der Visio SV I,2

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einen Bezugspunkt herum auf einer mittleren Ebene des Textes verschiedene Anteile des johanneischen Begriffes vom Leben systematisiert. Allerdings setzt das Erkennen und „Lesen“ jener Systematisierungen vom Leser eine intensivere Beschäftigung mit dem Text voraus. Bezüge zwischen den Einzelkapiteln der Visio müssen selbstständig hergestellt werden. Freilich wird der Leser indirekt auf diese Notwendigkeit hingewiesen, insofern mit der johanneischen Symbolik vom Wasser des Lebens auf mehreren Ebenen gespielt wird:¹⁹⁵ Ihr, die ihr die Dummheit ablegen wollt, kommt von jener Unwissenheit (ignorantia), in der ihr Gott nicht kennt, und von jener Entehrung, durch das ihr in das Exil geschickt seid, in eure hellweiße Gegend zurück (in candidam regionem vestram), die euch durch den Spiegel des Glaubens im Quell des lebendigen Wassers gezeigt worden ist.¹⁹⁶

Der Glaube ist wie ein Spiegel. Diese abstraktive Feststellung wird durch das Bild der Quelle verstärkt, in deren Wasseroberfläche man sich spiegeln kann. Zwar erzeugt jede Art von Wasseroberfläche eine Spiegelung. Die Metaphorik der Quelle zeigt jedoch, dass der Glaube deswegen ein Spiegel ist, weil sowohl die Erkenntnisgegenstände als auch das Erkenntnismedium der Spiegelerkenntnis direkt von Gott kommen. Daher ist die Erkenntnis im Glauben auf das Leben bezogen, da Leben spendend. Indirekt wird mit der Evozierung des Bildes von der Quelle das Konzept eines Glaubenswissens und einer Glaubenserkenntnis angedeutet, in denen Glaubenstheorie und Leben kein Gegensatz sind, weil sie beide in der Quelle alles Geschaffenen gründen. Noch einen weiteren Grund für die Unzertrennbarkeit von intellektueller Glaubenssicht und praktischer Lebensstärkung führt Hildegard an, wiederum nicht argumentativ, sondern indem sie assoziativ das Bild vom lebendigen Brot, panis vivus (Joh 6,51)¹⁹⁷ anreiht: Esst in frommer Verehrung mein Brot, das kein Mann in den Acker sähte, und dem die Erde keine Grünkraft (viriditas) geben musste. Sondern es geht aus Gott hervor und bleibt auch dauerhaft in ihm. Denn so wie das Brot kauend gegessen wird und die Erde zertreten wird (conculcatur), so überragt der Sohn Gottes als lebendiges Brot den Menschen.¹⁹⁸

Hier ist nicht nur die in sich geeinte Schöpfungswirklichkeit die Brücke zwischen Theorie und Leben der Adressaten des Textes, die ja direkt aus dem Text heraus angesprochen werden, sondern zugleich die Erlösungswirklichkeit (die wiederum im Spiegel des Glaubens erkannt werden kann,was indirekt auch der Anspruch des Textes

 Im Kapitel ... wird genauer auf die Symbolik des „Wassers des Lebens“ und auf die regeneratio spiritus et aquae eingegangen werden.  SV, Pars Secunda, Visio Sexta, Z  – .  Ähnlich die Diktion in SV, Pars Secunda, Visio Sexta, Z .  SV, Pars Secunda, Visio Sexta, Z  f.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

an den Leser ist). Denn insofern Gott-Sohn zugleich Mensch ist, kann er den Schwächen des Menschen entgegen wirken: Denn der Sohn Gottes selbst ist in der Kraft seiner Gottheit stabil (in virtute divinitatis stabilis est), und die Menschen sind in der Schwachheit ihres Fleisches veränderlich (in debilitatae carnis suae labiles sunt.)¹⁹⁹

So wird, wiederum in Anspielung auf das johanneische Sprachbild von der Quelle des Lebens, begründet, inwiefern die Eucharistie im Raum der Kirche Gnade schenkt²⁰⁰ und daher Seligkeit und Freude ermöglicht. Durch die Spendung der Sakramente wird die Kirche zur Lebensgeberin.²⁰¹ Entsprechend der Anbindung der Metaphorik vom „Brot des Lebens“ an die der „Quelle des Lebens“ wird die Eucharistie nicht nur als Speise, sondern ebenso als „Trank des Lebens“ anempfohlen. Dies wird jedoch nicht einfach behauptet, sondern aus der Heilswirkung von Passion und Auferstehung heraus erläutert.²⁰² Dabei bezieht sich der nächste Satz insofern auf das Sprachbild von der Quelle, als der, der den Trank spendet, als Heil des Lebens, salus vitae, selbst für die Unerschöpflichkeit jener Quelle birgt.²⁰³ Die Eucharistie wird so zum Kristallisationspunkt der ganzen Heilsgeschichte. Doch wird dies nicht als reine Erinnerung bedacht, sondern anamnetisch und korrelativ vergegenwärtigt: Wer die Speise des Lebens genießt, legt einen Erkenntnisweg zurück, wie ihn die Bezogenheit von Altem und Neuen Testament vorbildet. Schrift, Eucharistie, Glaubenserkenntnis und Leben des einzelnen Menschen fallen so in eins

 SV Pars Secunda, Visio Sexta, Z  – .  SV Pars Secunda, Visio Sexta, Z  – : Quia et nutrimenta eccelsiae plena sunt gratia tua, cum ei plenam ubertatem in sacramento corporis et sanguinis tui tribuis, qui panis vivus et fons aquae vivae es. Diese Passage ist als Gebet formuliert und drückt so die Reaktion des Empfängers der Gnade durch das Sakrament aus. Durch die Formulierung als Gebet wird die Dimension der subjektiven Zueignung der objektiven Gnade durch das Sakrament angedeutet. Außerdem wird dadurch vorgeführt, welche Rolle das sakramentale Geschehen innerhalb der Beziehung von Gott und Mensch spielt. Die Gnade des Sakramentes ist also nicht nur Sachgnade, sondern vertieft die Beziehungsgnade. So kann dieser Textausschnitt als Beispiel dafür dienen, wie Hildegard wichtige theologische Zusammenhänge nicht explizit ausspricht, aber durch die Art der Textgestaltung in ihren Auswirkungen auf das religiöse Leben des Menschen exemplarisch vorführt. Aus heutiger Sichtweise könnten so die menschlichen Gebete in der Scivias als Mittel der Förderung der religiösen Sprachkompetenz gesehen werden. Im Zusammenhang mit johanneischen Attributen von Leben und Lebendigkeit tritt hier wieder die Betonung der Fülle auf (plena, ubertas).  SV Pars Secunda, Visio Sexta, Z  – : quae mihi mater in creatione mea est, scilicet cum educatione vegetationis vitam mihi dans.  SV Pars Secunda, Visio Sexta, Z  – : Filius Dei qui me exulem animam in passione sua salvat, in ressurectione etiam sua mihi misericorditer poculum vitae dat. Die bildliche Dimension einer Flüssigkeit lässt hierbei die Passion mitschwingen: SV Pars Secunda, Visio Sexta, cap .  SV Pars Secunda, Visio Sexta, Z  – : ita quod idem Filius Dei numquam hoc modo exhaurietur, quin potum vitae sitientibus dare possit, quoniam ipse salus vitae est. Ähnlich die Rede von der fons salvationis in SV Pars Secunda, Visio Sexta, Z : ipse fons salvationis existens.

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zusammen. Die Wahrheit des Glaubens ist deswegen wahr, weil sie auch am einzelnen Menschen als erfahrbare Barmherzigkeit wahr wird.²⁰⁴ Der Weg zum Leben ist ohne Gotteserkenntnis nicht möglich. Um dies zu erklären, parallelisiert Hildegard die schattenhafte, nach einem mehrfachen Schriftsinn rufende Erkenntnis der Alten Testamentes mit der innerlichen geistlichen Erkenntnis Gottes. Dass jene sich in der Konsummation der eucharistischen Gaben vollziehen kann, wird durch einen weiteren Vergleich aus dem Bildfeld des Getränkes²⁰⁵ angedeutet: Wir, die wir uns einst in einem Defekt befanden, sind nun im Gezeigt-Bekommen (in ostensione) und in der Wissenserkenntnis der wahren Heiligung durch gute Werke gestärkt und getröstet (confortati). Durch ihn 〈den Sohn Gottes〉 verzehren wir die Speise des Lebens, in der wir, Gott im Wissen erkennend, zum Leben fortfahren. Denn im Erkenntnisraum des Alten Testamentes, das sozusagen im Schatten (per umbram) noch nicht den vollen Heilssinn in sich enthalten konnte, sondern im Vorstellen (in ostensione) einer Sprachbezeichnung viele Bedeutungsunterschiede in sich barg, mussten wir viel geistlichen Hunger aushalten und konnten wir uns nicht zur Erlösung erheben. Nun sind wir also in ihm selbst gesättigt.Wir trinken in jenem den heilsamen Becher.Wir schmecken (gustando) sozusagen treu gläubig im wahren Glauben, wer Gott sei. Denn wir können ihn nicht mit den äußeren Augen des sterblichen Fleisches sehen. Sondern dies haben wir mit geistlicher Erkenntnis „intus“ (quae spiritali intelligentia intus habemus), so, wie der Wein seine sehr starke Kraft in den Blutbahnen des Menschen zeigt. Aber jene Gotteserkenntnis können die Menschen nicht fühlbar in sich spüren, sondern sie wissen nur innerlich, dass es so ist.²⁰⁶

Die einzelnen theologischen Denkschritte und die dichte sprachliche Überlagerung von Assonanzen an die Symbole von Quelle, Speise und Trank des Lebens weisen die Autorin als eine differenzierte Theologin und Sprachkünstlerin aus. Einerseits wird die Glaubenserkenntnis in Kennworten einer in den geistlichen Sinnen erfahrbaren geistlichen Theologie ausgedrückt (z. B. gustando). Andererseits wird sie nüchtern als inneres Erleben geschildert, das nicht zwingend mit Gefühlen verbunden ist und vom Verstand registriert und eingeordnet wird. Genauso wenig würde allerdings das rein äußerliche Vernehmen und äußere Zustimmen von Glaubenswahrheiten ausreichen.²⁰⁷ Der Leser wird implizit gemahnt, nicht nur mit dem Gehör der äußeren Ohren zu hören, sondern im Herzen.²⁰⁸

 Vgl. den Doppelausdruck von veritas und misericordia in SV Pars Secunda, Visio Sexta, Z : sugentem misericordiam et veritatem.  Dies nimmt bereits die Anspielung auf Hld , in SV Pars Secunda,Visio Sexta, Z  (inebriamini) sowie Z  (bibite in spe) vorweg.  SV Pars Secunda, Visio Sexta, Z  – .  SV Pars Secunda, Visio Sexta, Z  – .  SV Pars Secunda, Visio Sexta, Z  – : Nam foris in auditu auris audiunt et in taeditate cordis sui percipient ea quae ipsis de eodem sacramento dicuntur, ita quod illa libenter in fide perfecte comprehenderent, sed tamen prae dubietate quae in ipis est non possunt intueri quanta sanctitas in illo sit. Aus dieser Einschränkung könnte auch eine Warnung an heutige Rezipienten eingeschärft werden: Selbst bei einem zum äußeren Hören geneigten Publikum ist es mit der reinen Präsentation von Glaubenswahrheiten, etwa in zeitgemäßen Katechismen und Glaubenskursen noch nicht getan. Um-

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Der Weg vom Tod zum Leben gründet auf Entscheidungen, die einer inneren Blickveränderung entsprechen.²⁰⁹ So, wie der ganze Liber Scivias als eine Art Spiegelkabinett²¹⁰ von Schau in der Schau, von Bildern in Bildern, von Schilderungen von Blicken auf verschiedenen Ebenen komponiert ist, vollzieht sich diese Blickveränderung in einem Zusammenspiel verschiedener Blickwinkel: Im Innenblick des Heilsgedächtnisses blicken die Gläubigen auf den Sohn Gottes als Vor-Bild, der den Blick zum Leben wieder frei machte. Dies wird in der Sprache der vorliegenden Visio als Appell an den Leser gerichtet, in dem ihm diese Aufforderung als rechter Blick auf die biblische Erzählung von der Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens angeboten wird.²¹¹ Es überlagern sich die Optiken auf das allgemeine Heilsgeschehen und auf das individuelle Weiterleben des Rezipienten. Um dies zu betonen, wechselt das Sprecher-Ich ins Partizip Präsens eines Verbs, das energisches Eingreifen bedeutet als Gegensatz zum statischen Verharren der Menschen in Unheilsregionen.²¹² Jener Grundentscheid für das Leben als Vorwegnahme des ewigen Lebens²¹³ führt zu einer inneren Ausrichtung auf die Gerechtigkeit,²¹⁴ die in Tugendakten verfolgt werden soll.²¹⁵ Die schnelle Bewegung des erlösenden Gottes soll mithin in der Flinkheit der menschlichen Akte nachgeahmt werden, in einer Lebensführung in fröhlicher Schlichtheit.²¹⁶ Die theoretische Anschauung des eigentlichen Lebens als Zielvorstellung und die Ausgestaltung einer konkreten Lebensform sollen also nach der Intention des Textes miteinander korrespondieren. Mithin erweist der Vergleich der Bedeutungsdimensionen der Eucharistie in den beiden Visiones aus dem ersten und dem zweiten Teil des Scivias einerseits eine

gekehrt kann nach Hildegard kein verinnerlichter Glaube ohne eine solche Wissengrundlage induziert werden.  SV Pars Secunda, Visio Sexta, Z  – .  Ein analoges Phänomen lässt sich auf den geschilderten akustischen Ebenen des Textes identifizieren, wenn zum Beispiel die ausdeutende Stimme aus dem Himmel die Stimme des Priesters in der Heiligen Messe zitiert, die auch schon in der Visionsschilderung genannt wurde, und jene durch die Stimme eines biblischen Zeugnisses erläutert. (Vgl. SV Pars Secunda, Visio Sexta, Z , ). Neben dem Strukturphänomen „Bilder im Bild“ (vgl. Kapitel .) ist gleichfalls von „Stimmen in der Stimme“ zu sprechen. Das göttliche Sprecher-Ich führt dem Leser so intertextuelle Bezüge zwischen Schrift, Liturgie, Leben vor.  Im Anschluss an das Zitat aus Ex ,  SV Pars Secunda, Visio Sexta, Z  – : Vos qui imitatores Filii mei esse vultis, estote respicientes de morte ad vitam, videlicet in memoria vestra habentes salvationem diei illius qui Filius meus est, qui mortem conculcavit et vitam dedit; …Nunc ergo de terrenis actibus ad caelestia respicite.  SV Pars Secunda,Visio Sexta, Z  – : ita per Filium meum vos eripiens de loco isto, in quo …iacentes turrite in eo perstitistis.  SV Pars Secunda, Visio Sexta, Z : quoniam eis verum mane vitae aeternae attulit; Z : genus humanum in restaurationem aeternae vitae se reducere.  SV Pars Secunda, Visio Sexta, Z  f: iustitiam quae in desiderio animae est, quia ipsa vitam diligit.  SV Pars Secunda, Visio Sexta, Z : currite de virtute in virtutem.  SV Pars Secunda,Visio Sexta, Z : illis, qui in simplicitate sunt; Z : in laetitia simplici cordis.

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Kongruenz der theologischen Anschauungen vom Leben und der „Speise des Lebens“, andererseits eine zunehmende Ausdifferenzierung des Beziehungsnetzes²¹⁷ zwischen verschiedenen systematisch-theologischen und heilsgeschichtlichen Aspekten und der Virtuosität ihres sprachlichen Ausdruckes.

3.2.3 Theologie des Lebens anhand einer Renarratisierung theologischer Formeln 3.2.3.1 Honor und rectitudo: Soteriologische Kernworte aus der anselmischen Theologie Hildegard von Bingen verwendet in der Ausformulierung der begründenden und appellativen Passagen der Gottesrede soteriologische Grundbegriffe,²¹⁸ die aus der anselmischen Theologie bekannt sind: Rechtheit (rectitudo)²¹⁹ sowie Ehre (honor). Durchaus ist für die Orationes und Meditationes Anselms eine handschriftliche Überlieferung auch in Nonnenklöstern nachweisbar, und zwar entgegen der sonstigen Verbreitung von volkssprachlichen Übersetzungen, gerade auf Lateinisch.²²⁰ Auch das sogenannte Gebetbuch der Heiligen Hildegard von Bingen (Clm 935), das vom Rupertsberg stammen könnte, enthält Ausschnitte aus den anselmischen Orationes.²²¹ Zwischen der anselmischen Gebetstheologie und den Grundgedanken des rund 20 Jahre später entstandenen Werkes²²² Cur Deus Homo besteht eine inhaltliche Kongruenz. Hildegard bezieht sich nicht auf narrative Ausschilderungen in den Meditationes, sondern auf deren abstraktive Grundbegriffe, die sie dann mit ihren Mitteln der Allegorie und des Appells illustriert. Dies stützt die These von einer Renarratisierung theologischer Grundbegriffe im Opus Hildegardianum. Darin ist ein besonders Spezifikum der Darstellungsweise und Denkungsart der hildegardianischen Theologie zu sehen. Anselm selbst weist darauf hin, dass Untersuchungen zu Inkarnation und Erlösung als Aufgabe der Hochtheologie auf Anfragen von Menschen aus allen Bildungsschichten zurückgehen. So gibt er selbst vor dem Beginn des Lehrdialoges in Cur

 Vgl. hierzu dessen Ausfaltung bei Bertha Widmer, Heilsordnung und Zeitgeschehen in der Mystik Hildegards von Bingen, Baseler Beiträge zur Geschichtswissenschaft Band  (Basel/ Stuttgart: Helbing & Lichtenhahn, ),  – .  Selbstbeschreibung Gottes in der Ich-Perspektive als iustus et rectus ( Z ).  Zum anselmischen Begriff der rectitudo vgl. Karl Heinz Menke, Das Kriterium des Christseins. Grundriss der Gnadenlehre (Regensburg: Friedrich Pustet, ), .  Susann El Kholi, Lektüre in Frauenkonventen des ostfränkisch-deutschen Reiches vom . Jahrhundert bis zur Mitte des . Jahrhunderts (Würzburg: Königshausen&Neumann, ), .  Susann El Kohli, Lektüre in Frauenkonventen des ostfränkisch-deutschen Reiches vom . Jahrhundert bis zur Mitte des . Jahrhunderts, .  Richard W. Southern, Saint Anselm. A Portrait in a Landscape (Cambridge: Cambridge University Press, ), xxviif. Allerdings ist die Meditatio de humana redemptione erst nach Cur Deus Homo verfasst worden.

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Deus Homo einen Hinweis auf wechselseitige Beeinflussungen von akademischer Theologie und Populärtheologie in schriftferneren, oralen Kulturen.²²³ Anselm stellt Gerechtigkeit und Ehre als geschuldete Leistungen (debitum) der Wiedergutmachung von Mensch und Engel dar.²²⁴ Diese Begriffe sind also in den Kontext des Gesollten gestellt. Sie sind Haltungen des Willens und des Herzens. Ihre Nichterfüllung bedeutet Schuld, die nach Wiedergutmachung verlangt, weil Gott auf entehrende Weise das Seinige genommen wird. Im Kontext der Darlegungen Anselms haben diese Zentralbegriffe also von ihrem Inhalt her einen Anforderungscharakter an den Menschen. Dies mag ein Grund dafür sein, dass Hildegard sie in ihr als Mahnrede verstandenes Visionswerk mit einfließen lässt. Jedoch verschweigt sie die Differenzierung Anselms, dass Gott nicht auf sich bezogen seine Ehre verlieren kann,²²⁵ sondern nur in Bezug der Störung der Schönheit der Schöpfungsordnung.²²⁶ Ehre von Gott aus gesehen als Ehre, die ihm vom Menschen zu erweisen ist, bezeichnet Anselm als honestas. ²²⁷ Es wird zu prüfen sein, inwiefern Hildegard honestas hingegen als Eigenschaft menschlicher Wohlanständigkeit versteht. Bei Anselm werden rectitudo und honor/honestas auf christologischer Ebene mit dem Begriff des Lebens in Bezug gesetzt: Nur der erhabene Wert des Lebens des Gott-Menschen ist hinreichend (sufficiens) zur Satisfaktion und für die Erlösung der Menschen.²²⁸

3.2.3.2 Applikation soteriologischer Theologumena auf lebenspraktische Appelle in der Ehekonzeption der Visio SV I,2 Hier geht es nicht um ein Gesamtpanorama der Aussagen Hildegards über die Ehe, sondern nur darum, inwiefern sie in der vorliegenden Visio mit dem Begriff des Lebens

 S. Anselmi Cantuariensis Archiepiscopi, Opera Omnia, Tomus Primus, ad fidem recensuit Franciscus Salesius Schmitt (Stuttgart-Bad Canstatt: Frommann-Holzboog, ), Cur Deus Homo, I, , : De qua quaestione non solum litterati, sed etiam illiterati multi quaerunt et rationem eius desiderant. Derartige Seitenbemerkungen könnten zum Anlass werden, Demarkationslinien zwischen wissenschaftlicher und populärer Theologie in der Theologiegeschichtsschreibung zu überprüfen. Bei dem vorliegenden Zitat ist zu beachten, dass auch die sog. illiterati sich nicht mit Narration und Imagination zufrieden geben, sondern nach Vernunftgründen verlangen (Vgl. den betreffenden Einwand von Boso im ersten Abschnitt von Liber , Capitulum IV).  Das folgende nach: Anselm von Canterbury, Cur Deus Homo, Liber , Capitulum ,  f.  Anselm, Cur Deus Homo, Liber , Cap. : Deum impossibile est honorum sum perdere.  Anselm, Cur Deus Homo, Liber , Cap. ,  – : quaedam ex violate ordinis pulchritudine deformitas.  Anselm, Cur Deus Homo, Liber , Cap. . .  Anselm, Cur Deus Homo, Liber , Cap. , : Vitam autem huius hominis tam sublimen, tam pretiosam apertissime probasti, ut sufficere possit ad solvendum quod pro peccatis totius mundi debetur, et plus in infinitum.

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zusammen hängen. Daher werden hier nur einige ausgewählte Aspekte beleuchtet werden.²²⁹ Die Forschung zur Ehekultur des Mittelalters kann nicht nur mit Quellenreichtum aufwarten, sondern mit einander widersprechenden Ergebnissen, die daraus resultieren, dass Äußerungen einer Quelle zu wörtlich genommen oder zu absolut als Zeitspiegel verwendet werden.²³⁰ So ist etwa zwischen anekdotischen Zeugnissen und normativen Texten, die auf eine gegenteilige Lebenswirklichkeit einwirken wollen, zu unterscheiden und die jeweilige Autorperspektive zu berücksichtigen. Ein Bild über zeitgenössische Auffassungen zur irdischen Liebe zwischen Mann und Frau gegen Ende der Lebenszeit Hildegards verrät der Traktat „De Amore“ des Andreas Cappelanus. ²³¹ Entgegen der allgemeinhistorischen Annahme von einer Verfeinerung des Liebesempfindens im Zuge der höfischen Minnekultur²³² wird dort allerdings die Echtheit der Liebe bezweifelt.²³³ Andere schriftliche Quellen bezeugen indirekt oder direkt, dass Missbrauch in allen Gesellschaftsschichten an der Tagesordnung war.²³⁴ Die Ermahnungen, die Hildegard in der Gottesrede der Visio Secunda zu Ehe und Sexualität ausspricht, können aus verschiedenen Blickwinkeln gewertet werden: 1. Unter dem Gesichtspunkt eines christologisch und marianisch motivierten Dualismus, der in den Lobpreis der Jungfräulichkeit²³⁵ mündet, worin jedoch zugleich emanzipatorische Aspekte konstatiert werden können.²³⁶

 Gerade durch die Focussierung auf die Textbefunde aus der Secunda Visio der Prima Pars wird unten das Urteil widerlegt werden, dass das „…Juristische…bei Hildegard durch seine Reduzierung auf Natursymbolik und konkrete Biologie entschärft“ würde. (So die Einschätzung bei: Elisabeth Gössmann, „‚Ipsa enim quasi domus sapientiae‘. Die Frau ist gleichsam das Haus der Weisheit. Zur frauenbezogenen Spiritualität Hildegards von Bingen,“ in Hildegard von Bingen. Versuche einer Annäherung, Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung. Sonderband, Hg. Elisabeth Gössmann (München: Iudicium, ): ). Weitere Details zur Ehelehre Hildegards wären vor allem aus dem Briefcorpus und dem medizinischen Werk zu belegen.  Vgl. Ernst Schubert, Alltag im Mittelalter. Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), .  Vgl. Georges Duby, Eva und die Prediger. Frauen im . Jahrhundert, Übers. Grete Osterwald (Frankfurt am Main: S. Fischer, ),  – .  Mit Peter Dinzelbacher spricht man gar von einer „Entdeckung der Liebe“ im . Jahrhundert, sei es im gesellschaftlich-höfischen Bereich, sei es in der monastischen Vielfalt von Auslegungen des Hohen Liedes und Traktaten De Diligendo Deo. (Vgl. Georges Duby, Eva und die Prediger. Frauen im . Jahrhundert, .)  Arnulf Krause, Europa im Mittelalter. Wie die Zeit der Kreuzzüge unsere moderne Gesellschaft prägt (Frankfurt am Main: Campus, ), .  Arnulf Krause, Europa im Mittelalter,  f. Ähnlich urteilt schon Friedrich Heer, Mittelalter. Von  bis  (Zürich: Kindler, ), .  Vor diesem Hintergrund darf Hildegard nicht, ausgehend von modernen Fragenstellungen, leichthin als ganzheitlich-antidualistisch denkende Autorin klassifiziert werden. Davor warnt zu Recht: Hildegard Gosebrink, Maria in der Theologie Hildegards von Bingen, Studien zur systematischen und spirituellen Theologie  (Würzburg: Echter, ), . Ähnlich Barbara Newman, Hildegard von Bingen. Schwester der Weisheit (Freiburg im Breisgau: Herder, ), .

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2.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

Als Bestreben nach einer Humanisierung der Lebenswelt durch Anweisungen zum „Jugendschutz“ und „Mutterschutz“,wie sie gegebenenfalls konkrete Erfahrungen aus der Seelsorge der Äbtissin nahelegten. Als spätgregorianische Reformimpulse hin zu einer Ehelehre, die ein Verhalten einübt, das es erleichtert, das ewige Leben zu erreichen.

Diese Aspekte müssen jeweils aus den Zeitverhältnissen der Autorin heraus bedacht werden, ohne sie vorschnell mit heutigen Anfragen zu vermengen. Daher soll nun herausgearbeitet werden, wie nach Hildegard Ehe so als christliche Lebensform gestaltet werden kann, dass das jenseitige Lebensziel einer vita beata nicht gefährdet wird. Folgende Fragen seien herausgegriffen: – Mit welchen Verben und Nomen wird christliche Ehe bezeichnet? Wie konvergieren jene zu den soteriologischen Kategorien von honestas und rectitudo? – Wie werden die Zuständigkeitsbereiche für das Verhältnis von Naturrecht und kirchlichen Vorschriften skizziert? – Welche Rolle für den hildegardianischen Begriff des Lebens nimmt ihr Konzept von integritas ein, in dem sich Körpererfahrung, menschliche Grundrechte der Personwürde und heilsgeschichtliche Symbolik zu einer Art sakramentalen Anthropologie verbinden? Ehe wird von Hildegard vor allem als coniunctio bezeichnet.²³⁷ Mit diesem Nomen jenseits der herkömmlichen juristischen Nomenklatur²³⁸ ist sowohl der seelische Übereinklang²³⁹ verbunden als auch die körperliche Nähe,²⁴⁰ hingeordnet auf eine gemeinsame Elternschaft.²⁴¹ Über den Ehezweck der Nachkommenschaft hinaus sieht die Autorin Ehe also nur dort im christlichen Sinn verwirklicht, wo es zu einer tragfähigen Verinnerlichung des

 Zu dieser Ambivalenz vgl. Elisabeth Gössmann, „Das Menschenbild der Hildegard von Bingen und Elisabeth von Schönau vor dem Hintergrund der frühscholastischen Anthropologie,“ in Hildegard von Bingen. Versuche einer Annäherung, Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung. Sonderband, Hg. Elisabeth Gössmann (München: Iudicium, ): .  Z : coniunctio desponsationis; Z : in coniunctione caritatis; et passim.  Von Isidor von Sevilla her (Ethymologien ,) wurden vor allem coniugium, conubium und matrimonium als lateinische Begriffe für Ehe eingesetzt. (Vgl. Gabriela Signori, Von der Paradiesehe zur Gütergemeinschaft. Die Ehe in der mittelalterlichen Lebens- und Vorstellungswelt, Geschichte und Geschlechter  (Frankfurt am Main: Campus, ),.)  Z  f: in una caritate ambulabunt; Z  f: sed pura dilectione diligent.  Z  – : coniunctio exercenda est.  Bezeichnet als opus (Z ), studium (Z ) und cooperari: (Z  f: Mulier viro et vir mulieri in opere filiorum cooperatur.)

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Ehebandes kommt.²⁴² Die Mahnungen in der Gottesrede dürfen also nicht nur als Moralismus gedeutet werden.Vielmehr sind sie eingebettet in eine positive Sicht²⁴³ von christlicher Ehe als Ebenbürtigkeit in der gemeinsamen Liebe, wie sie sich bei einigen Theologen des 12. Jahrhunderts andeutet.²⁴⁴ Dies begründet sie nicht nur aus der Schöpfungstheologie, sondern aus der soteriologischen Bedeutung eines Ehelebens, das in rectitudo ²⁴⁵ und honestas ²⁴⁶ zur Nachfolge dessen wird, der die rectitudo der Schöpfungsordnung und die honestas des gefallenen Menschen wieder hergestellt hatte. Indem Hildegard diese anselmischen Kernworte als ethisches Ideal in ihr Ehekonzept einflicht, und Großworte spekulativer Hochtheologie zu konkreten Leitvorstellungen eines individuellen Tugendlebens²⁴⁷ umgestaltet, macht sie implizit eine theologische Aussage von eminenter Tragweite: Ehe ist nicht nur Heilmittel als „remedium“, sondern sie schafft Werte, die das ewige, glückselige Leben vorbereiten.²⁴⁸ Die konkreten Gehalte und Anforderungen der honestas seien schon aus den Kriterien der natürlichen menschlichen Vernunft abzuleiten über das, was der menschlichen Natur entspricht.²⁴⁹ So steht noch vor der kirchlichen Disziplin eine Ehrbarkeit in der humana disciplina,²⁵⁰ die freilich bei Hildegard nicht in Gegensatz zu kirchlichen Einzelbestimmungen gesehen wird.

 Zwar erwähnen Kanonisten des . Jahrhunderts nicht die gegenseitige Liebe als Konstitutivum der Ehe. Indem sie jedoch das Diktum Isidors von Sevilla vom consensus als Begründung der Ehe aufgreifen, schaffen sie einen juristischen Begriffsraum, der das verinnerlichte Verständnis von Ehe als gegenseitiger affektiver Liebe beheimatet. (Diese Beobachtung im Anschluss an Gratian bei Ernst Schubert, Alltag im Mittelalter. Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ),  f).  Zu einem ähnlichen Ergebnis auf Grund von medizinischen Passagen aus Causae et Curae gelangt Gabriele Lautenschläger, Hildegard von Bingen. Die theologische Grundlegung ihrer Ethik und Spiritualität (Stuttgart: Frommann-Holzboog, ),  f.  Gabriela Signori, Von der Paradiesehe zur Gütergemeinschaft. Die Ehe in der mittelalterlichen Lebens- und Vorstellungswelt, Geschichte und Geschlechter  (Frankfurt am Main: Campus, ),  – , nennt Marbod von Rennes (Liber decem capitulorum IV), Hugo von St. Victor (De sacramentis I, ), Petrus Lombardus (Sententiarum libri quattuor, II, ) und Petrus von Blois (De amicitia christiana ).  Z : in rectitudine permanebunt.  Z : qui ab initium masculum et feminam in honestate constitui.  Z : prolem in via rectitudinis gignat; Z : ob amorem filiorum in rectitudine…fieri non prohibetur. Vgl. zu diesem Phänomen der Umgestaltung ins konkrete Tugendwirken des Einzelnen: Vicki Ranff, „Durch Mitwirken antworten. ‚Iustitia‘ und ‚Misericordia‘ als Ausdruck der interpersonalen Konstitution des Menschen,“ in Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten, Hg. Edeltraud Forster (Freiburg im Breisgau: Herder, ): .  Dominikanische Volksprediger des . Jahrhunderts werden die Ehe wie eine Art zweiten Orden preisen. (Vgl. Gabriela Signori, Von der Paradiesehe zur Gütergemeinschaft, .)  Z : secundum quod eum humana natura docet; Z : cum humana disciplina.  Z  f: Sic genus humanum…in honestate humanae disciplinae procedere positum est.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

Ohne sich auf die betreffenden Rechtscorpora, zum Beispiel der Decreta des Burchard von Worms (965 – 1025)²⁵¹ zu beziehen, verweist sie auf eine Korrespondenz der naturrechtlichen Leitlinien mit den Vorschriften der Kirche ihrer Zeit, die sich in dem jeweils verwendeten Begriff der disciplina ausdrückt.²⁵² Dabei werden, in einem mit dem Umgebungstext unverbundenen, möglicherweise später hinzugefügten, Einwurf, die Geistlichen in die Pflicht gerufen, auf die Einhaltung jener Normen zu achten.²⁵³ Dieser Zuruf weist auch Geistliche in verantwortlichen Positionen als explizit intendierten Leserkreis des Liber Scivias aus. In einem Textabschnitt, in dem vordergründig damalige Kirchengesetze repetiert werden, wann Frauen und Männer nach körperlichen Verletzungen wieder ein Kirchengebäude betreten dürften, entfaltet sich auf einer tieferen theologischen Ebene ein Idealbild, wie sich körperliche Unversehrtheit des Menschen und die konkrete, sich an Orten verdichtende und durch materielle sakramentale Zeichen verdichtete²⁵⁴ Heilszuwendung Gottes parallelisieren. Doch bleibt jenes Idealbild vor einer spiritualistischen Utopie bewahrt, weil es gerade vor dem Hintergrund verschiedener körperlicher, seelischer und geistlicher Verletzungen von Menschen entworfen wird. Die Kirche und das Kirchengebäude dürfen dem Text zufolge nicht um einer kultischen Reinheit willen von verwundeten Menschen nicht betreten werden. Sondern durch derartige Vorschriften solle symbolisiert werden, dass jeder Mensch das Recht hätte, heil ein Tempel Gottes zu sein.²⁵⁵ Da jene integritas nicht vom Menschen zu leisten ist,wird jene Textpassage von der Berufung auf die Medizin der Barmherzigkeit, der medicina misericordiae, eingeleitet.²⁵⁶ Im Laufe dieser Untersuchung wird also weiterhin zu verfolgen sein, inwiefern ein Konzept von integritas die hildegardianische Auffassung von Leben prägt und wie dies jeweils theologisch begründet ist.

 Vgl. zur Ehekasuistik des . Teils der Decretorum libri XX des Burchard von Worms: Jean Verdon, Irdische Lust. Liebe, Sex und Sinnlichkeit im Mittelalter, Übers. Gaby Sonnabend (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ),  f.  Z  f: quod eis per disciplinam ecclesiaticae institutionis demonstratur; Z  f: sicut et eccelsia in doctoribus suis prohibet.  Z : audite ergo, qui in turribus ecclesiae estis. Dieser Einwurf ist zwar durch ein „ergo“ mit dem vorausgehenden Text verbunden. Doch wäre jene Passage, die an die Menschen im allgemeinen (Z : Ergo, o homines, …) gerichtet ist, auch bei Streichung dieses Appells lesbar. Da in der Bildwelt der Visiones des dritten Teiles die Symbolik der Türme der Kirche vorgestellt wird, könnte jener Ausrufesatz aus einer späteren Überarbeitungsstufe der Prima Pars, während der Abfassung der Tertia Pars oder aus einer der späteren handschriftlichen Gesamtausgaben stammen.  Z : sacra sacramenta eiusdem templi mei.  Z  f: sicut integra membra Abel, qui templum Dei fuit.  Z : in magna medicina misericordiae. Christus als der Arzt der Barmherzigkeit schenkt das ewige Leben. (SV Pars Prima, Visio Tertia, Z  – : Ego enim sum magnus medicus omnium languorum, …et ostendam tibi misericordiam meam et vitam aeternam tibi dabo.)

3.2 Der Rückweg zum Leben in rectitudo und honestas in der Visio SV I,2

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3.2.3.3 Beata vita als Ausgangpunkt und Ziel Das Wortfeld „Leben“ rahmt und durchzieht die ganze Visio. Bereits im ersten Satz der Visionsschilderung ist von „lebendigen Leuchten“²⁵⁷ die Rede, die strahlen, weil sie im glückseligen Leben existieren.²⁵⁸ Der Textabschnitt schließt mit der Verheißung an die Adressaten eines unverlierbaren Lebens.²⁵⁹ So ist der Begriff der beata vita schon vom äußeren formalen Rahmen her als Grundthema dieser Visio hervorgehoben. Hierbei wird schon früh in der Visionsdeutung die theologische Begrifflichkeit Anselms von Canterbury angezielt, um Wegweisungen zum Erreichen des ewigen Lebens nicht nur vorzuschreiben, sondern zu begründen.²⁶⁰ Dies geschieht, in dem die Bildlichkeit der „brennenden Lampen“ als Brennen in der Gottesliebe gedeutet wird. Diese spirituelle affektive Dimension wird dann in die abstraktere ethische Ebene des Beharrens in der rectitudo fortgeführt.²⁶¹ Mittels zweier kurzer Participia Coniuncta wird so ein Übergang zwischen Metaphorik der Schau, geistlicher Theologie und abstraktiverer Moraltheologie vollzogen. Durch solche Sprachkunst wird illustriert, dass biblische Bilder des Lebens nicht einfach zur Ausschmückung eingeflochten werden, sondern in theologische Tiefenzusammenhänge gestellt werden. Über die Bildkreise von „Garten“ und „Lebensspeise“ werden Protologie, Ehelehre, Ekklessiologie und Eschatologie auf ihre Kernaussagen für die Erlösung der Menschen zum Leben hin zentriert. Über die Lexeme „Schaf“²⁶² und „zurückgetragen werden“²⁶³ wird dabei die Metaphorik vom Guten Hirten (Joh 10,11)²⁶⁴ zur imaginativen und narrativen Grundlage der Verdeutlichung des Erlösungsgeschehens. Hierbei schwingt auch die entsprechende Formulierung der Regula Benedicti (RB 27,9) mit. Erlösung wird so als Rückführung zum Leben verstanden.²⁶⁵ Daher soll schon hiesiges Leben günstig und gedeihlich sein.²⁶⁶ Zum Beispiel drückt dann echte Liebe

 Z  f: Deinde vidi velut maximam multitudinem viventium lampadarum.  Z  f: quae est plurimus exercitus supernorum spirituum in beata vita fulgentium.  Z : indeficientem vitam possidebitis.  Das theologische Stichwort der rectitudo fällt zum ersten Mal in Z .  Z  f: Et ita in amore eius exardenscentes et in rectitudine perseverantes.  Z : amantissimas oves meas.  Z  f: in cuius morte perdita ovis ad pascua vitae reportata est; Z : perdita ovis ad vitam reportata est.  Zur Auslegungsgeschichte von Joh  im . Jahrhundert vgl.: Annette Wiesheu, Die Hirtenrede des Johannesevangeliums. Wandlungen in der Interpretation eines biblischen Textes im Mittelalter (.– . Jahrhundert), Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte NF  (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ),  f, .  Z  – : Idem etiam Dominus qui ovem istam perdiderat sed eam tam gloriose ad vitam reduxerat.  Z : prosperitate vitae.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

unter den Eheleuten die Übereinstimmung mit der Schöpfungs- und Erlösungsordnung Gottes aus.²⁶⁷ Wegen der mangelnden Einsicht des Menschen in die Geheimnisse der Schöpfung wird der Leser zur Rechenschaft vor dem göttlichen Sprecher-Ich herausgefordert.²⁶⁸ Mithin erhebt der hildegardianische Text den Anspruch, in den Lebenstext des jeweiligen Adressaten hinein zu sprechen und sich darin lebendig fortzusetzen. Entsprechend der Leitvorstellung einer vita beata ²⁶⁹ wird Leben insbesondere unter dem Aspekt der Freude vor Augen gestellt, als gaudium ²⁷⁰ oder als vita felicitatis. ²⁷¹

3.3 Im Leben erschien die Gnade, die das Leben gibt: ²⁷² Ein originelles Kompendium der Gnadenlehre in der Visio SV III,8 3.3.1 Formale Beobachtungen 3.3.1.1 Der Aufbau der Visio Das Aufspüren von Stellen, die wesentliches über den Begriff des Lebens aussagen, führt zu Meisterstücken theologischen Denkens bei Hildegard. Dies sei nun anhand der Gnadenlehre demonstriert: Entfaltet man die Sinnbezüge und Sachzusammenhänge einer Theologie des Lebens bei Hildegard, stößt man auf eine seitenlange Rede der Gnade, die eine erstaunlich eigenständige Stellungnahme zu Detailfragen und Feinjustierungen in den herkömmlichen und zeitgenössischen Gnadentraktaten offenbart. Indem Hildegard die Gnade in ihrer literarischen Selbstvorstellung gehäuft Lexeme aus der Wortfamilie admonitio/moneo/admoneo verwenden lässt, zielt sie eine gewisse Deckungsgleichheit an zwischen ihrer Sicht der Gnade und ihrem Werkanspruch, eine (Nieder‐) Schrift als Sprachrohr der Gnade vorzutragen. Das ist mit ein Grund, warum eine Emphase auf die initiierende Rolle der Gnade gelegt wird: Das Visionswerk soll den Leser motivieren, damit zu beginnen, sich auf die Gnade einzulassen.²⁷³ So spricht die Gnade in der ersten Person selbst zum Leser.

 Z  f, Z  f.  Z  – : Nunc dic mihi, o homo: …quia nescis quomodo vivas in corpore vel quomodo exuaris a corpore.  So schon als innerweltliche vita beata in den Werktiteln der antiken Philosophie, z. B. bei Seneca.  Z ; Z .  Z .  Hildegardis Bingensis Liber Scivias, Pars Tertia, Visio Octava, Z  f: gratia Dei…dans vitam in vita apparuit.  Das letzte Wort der Vision vor der Schlussformel ist „alloquitur“ (Z  f: sicut et ipsa virtus in superiore exhoratione sua filios Dei alloquitur). Zuvor erfolgt eine indirekte Leseanleitung an den Leser. (Z : verba eius ardenter suscipiant et suscipientes compleant).

3.3 Ein originelles Kompendium der Gnadenlehre in der Visio SV III,8

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Die theologische Bedeutung, die Hildegard dieser langen Rede der Gnade gibt, wird schon am formalen Rahmen ersichtlich. Sie überragt sämtliche andere Selbstvorstellungen von Tugendfiguren in der Tertia Pars. Nur die Stimme aus dem Himmel, der zuweilen von der Stimme des Sohnes sekundiert wird, spricht länger. Innerhalb der Visio Octava ist ebenso eine Ich-Rede der Gnade literarisch gestaltet wie eine Reflexion über sie in der dritten Person. Mit ersterer drückt die Autorin indirekt den Beziehungscharakter der Gnade aus.²⁷⁴ Ferner ist es als implizite Aussage über die systematisch-theologische Verankerung der Gnadenlehre zu bewerten, dass die Figur der Gnade in der Bildlichkeit der Tertia Pars des Liber Scivias auftritt, in der es um das innere Leben der Kirche geht. Die Lehre über die Gnade ist ekklesiologisch verankert. Unterstützt durch die Gnade bauen Menschen die Kirche auf. Metaphorisch wird dies in einer Verbindung von Bausymbolik und Pflanzensymbolik dargestellt, um Stärkung und Auferbauung der Kirche durch das geistliche Aufblühen der Menschen in ihr zu symbolisieren. Der theologische Tiefengrund für die Veranschaulichung der Gnadenlehre innerhalb einer detaillierten Bildreihe über die Kirche ist, dass durch die Gnade Mensch und Gott zusammen wirken, so wie die Kirche ein corpus permixtum aus göttlicher und menschlicher Verantwortung ist. Freilich könnte man es als Schwäche an der Darstellungsweise der Gnade durch Hildegard monieren, dass aus dem fingierten Blickwinkel der ungeschaffenen Gnade heraus argumentiert wird, und dass sich subjektives Erleben der Gnade durch den Menschen nur indirekt in jenen Äußerungen spiegelt. Eine zusätzliche theologische Aussage wird indirekt dadurch gemacht, dass nie der Heilige Geist als dritte Person Gottes im Liber Scivias als Sprecher-Ich auftritt, obwohl von ihm in der dritten Person sehr oft gesprochen wird. Auf unterschiedlichen heilsgeschichtlichen und systematisch-theologischen Ebenen lässt Hildegard der Gnade eine eminente Rolle zukommen. So geht sie über eine indirekte Auseinandersetzung mit gnadentheologischen Problemen aus der theologischen Fachdiskussion ihrer Zeit weit hinaus. Sie stellt, im Gewand von Rhetorik, Allegorese und Narration, einen eigenständigen Gesamtentwurf „De Gratia“ vor, der durchaus auch als Bezugspunkt heutiger Weiterentwicklungen der Gnadenlehre²⁷⁵ Beachtung verdienen könnte.  Die affektive Wärme der Zugewandheit der Gnade wird unter anderem an den Vokativen in Superlativ und Diminiutiv ersichtlich (Z : filioli mei; Z : nunc, o carissimi filii mei).  Diese Weiterentwicklungen laufen in verschiedenen Richtungen ab: In einigen Gesamtdarstellungen wird, mitunter gerade um das Anliegen der Universalität des Gnadengeschehens in der Heilsgeschichte zur verdeutlichen, der Gnadenlehre überhaupt kein eigenes Kapitel mehr gewidmet. (Zur Vision eines modernen eigenständigen Traktates über die Gnade und zu den Vor- und Nachteilen seiner Aufspaltung auf die restlichen dogmatischen Themengebiete vgl. Piet Fransen, „Dogmengeschichtliche Entfaltung der Gnadenlehre,“ in MySal / (Einsiedeln: Benzinger,): ). Andernorts wird über Detailfragen aus der theologischen Tradition hinweg gestiegen, ohne zu berücksichtigen, dass sich darin echte Sachprobleme verbergen mögen, die man nicht verschweigen kann. Gerade jüngere Anstrengungen, die Gnadenlehre neu im Gesamtgebiet der systematischen Theologie

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

Auf diese theologische Qualität wird man jedoch nur durch eine akkurate und subtile Einzeluntersuchung der sprachlichen Gestalt der vorliegenden Visio aufmerksam.

3.3.1.1 Wiederholung sprachlicher und inhaltlicher Strukturelemente aus anderen Visiones Es begegnen in der Visio Octava der Tertia Pars Symbole und Kernworte für theologische Sachverhalte, die in den beiden vorherigen Kapiteln bereits analysiert worden waren. So werden Grundaussagen verstärkt, aber ebenso in neuen Kombinationsmöglichkeiten variiert.²⁷⁶ Die Bildmotive von „Acker“, „Blüten“, „Speise“, „Hirsch“ und „Herz“ werden wieder ins Spiel gebracht.²⁷⁷ Die schon aus anderen theologischen Kontexten bekannten hildegardianischen Grundworte von consortium, tactus, amplexus, desiderium, dulcedo, gaudium/felicitas, integritas werden jetzt als Erfahrungsweisen der Gnade akzentuiert.²⁷⁸ Die Gnade stellt sich mittels der im Kapitel 3.1 beschriebenen „ego-sum“ Satzstruktur vor.²⁷⁹ Sie bietet sich an als Stärkung der Seele im Antagonismus von Körper und Seele,²⁸⁰ so dass sich der Eindruck eines tiefer sitzenden Körper-Seele-Dualismus im theologischen Denken der Autorin verstärkt. Um spezifische Zusammenhänge zwischen Gnade und Leben herauszuarbeiten, sei ein Augenmerk auf die Amplifikation der Bedeutungskreise der Symbolik der „Speise“ gelegt: Speise wird zum einen gemäß dem Bibelwort Joh 4,34 als Bildsignal für den Gehorsam Christi und dann des ihm nachfolgenden Menschen ausgedeutet.²⁸¹ Zum anderen wird für diese Auffassung einer gnadentheologisch zugemünzten Speisezu verorten, könnten sich Anregungen in früheren Konzepten holen. So könnte etwa die klassische Differenzierung zwischen geschaffener und ungeschaffener Gnade davor bewahren, dass sich die theologische Reflexion über die Gnade und die erfahrungsmäßigen Zugänge zu ihr verflüchtigen, wenn man zu euphorisch den Gnadenbegriff ausdehnt auf jede Handlung Gottes und auf alle antwortenden Akte des Christentums, wobei dann zusätzlich noch der Hiat zwischen Geschöpf und Schöpfer verwischt ist. Dieser Gefahr erliegt z. B. in der Interpretation der patristisch-ostkirchlichen Gnadenlehre Gisbert Greshake, Gnade – Geschenk der Freiheit. Eine Hinführung (Kevelaer: Topos-Plus, ), .  Zum Beispiel mischen sich Bildmotive, die andernorts getrennt eingeführt wurden, neu in ihrem Bezug auf das tertium comparationis: Christus als „Blume auf dem Acker“ wird durch seine jungfräuliche Geburt von Gott her als von der Sünde unberührtes „Himmelsbrot“ erklärt (Z  – ).  Hirsch: Z ; Acker und Blütensymbolik: Z  et passim; Herz: Z , .  consortium: Z , ; tactus, amplexus, desiderium: Z , ; felicitas: Z , ; gaudium/ dulcedo: Z  f; integritas: Z .  Z : sum ei initium. Vgl. unten Kapitel ..  Z : quoniam haec prima victoria in corpore tuo facta est; Z: perfectum opus, ita quod se incipiunt a carnalibus desideriis constringere.  Z  f.

3.3 Ein originelles Kompendium der Gnadenlehre in der Visio SV III,8

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symbolik als Tiefengrund die schon bei Jeremia formulierte Verbindung vom prophetischen Essen der Schrift eingesetzt: Jene Speise essen, die die Schrift des Evangeliums ist.²⁸²

Ohne weiteren Kommentar gibt Hildegard hier einen indirekten Hinweis darauf, dass Gnade über das „Verkosten“ der Schrift erfahren wird, die wiederum Anstöße zu rechten Werken gibt.²⁸³

3.3.1.1 O humilitas: ²⁸⁴ Textstrukturen durch gestaltete Lautlichkeit Das dichterische Stilmittel der Häufung einer Klangfigur lässt eine Nähe von Teiltexten des Liber Scivias zu den Liedern Hildegards vermuten. In der Ich-Rede der Tugendfigur der caritas wird ihre Sichtweise und ihre innere Bewegung über den Kampf der Demut gegen die Überhebung Luzifers auf einer poetischen und dramatisierenden Stilebene nacherzählt. Das Mitempfinden der Tugendfigur der caritas mit der humilitas, der eine entscheidende Rolle in den heilsgeschichtlichen Auseinandersetzungen zwischen Gut und Böse zukommt,²⁸⁵ weist auf den dichten inneren Zusammenhang von Tugendhaltungen hin. Dies ist der Autorin wichtiger als die Abgrenzung der theologalen Tugenden von den restlichen. Um solche Zusammenhänge sprachlich verdichtet zu spiegeln, ist jener Textabschnitt von einem kunstvollen Spiel mit dem Vokal o geprägt: Er erscheint als Interjektion, um Spannungsmomente hervorzuheben und so eine Kommentierung des Erzählten anzudeuten.²⁸⁶ Zugleich markiert er im Vokativ die einzelnen dramatis personae,²⁸⁷ wodurch der Erzähler in die Handlung mit hinein steigt. Zum dritten häufen sich Worte mit einem oder zwei o-Lauten.²⁸⁸ Der letzte Laut des Abschnittes ist  Z  f: comedere cibum illum, qui est scriptura evangelii. Deutlich wird hier die Bedeutung der Schrift für alle Gläubigen konstatiert (ibd.:) quo satiari debent omnes fideles. Angesichts der zeitgenössischen Auseinandersetzungen über die private Bibellektüre in Laienkonventikeln – vgl. die differenzierte, nicht rein abwehrende Stellungnahme zu einem solchen Konventikel in der Stadt Metz  durch Innozenz III., Brief „Cum ex iniuncto“ an die Einwohner der Stadt Metz (DH ) – könnte dies als eine recht deutliche, wenn auch scheinbar nur nebenbei erwähnte Fürsprache Hildegards für die Anliegen heterodoxer christlicher Bewegungen ihrer Zeit um eine direktere Begegnung der Laien mit der Bibel interpretiert werden. Das Verkosten (Z ), also die intensive innere Auseinandersetzung mit und die seelische Einverleibung von Worten der Schrift werden zu einer Art eucharistischen Vorgang, in dem Gnade vermittelt wird.  In der Formulierung ex negativo: Z  – : sed festinant fugere gratiam Dei, quia nec videre nec audire nec cogitare volunt quod eis faciendum sit, dum vocantur admonitione boni.  Z ,  f.  Vgl. das Lob der Demut als Königin der Tugenden in Z , .  Z  f: Sed – o, o, o – humilitas hoc tolerare noluit.  Z : O virtutes, ubi est Lucifer?; Z : O turpissime Lucifer.  Zum Beispiel: Z : odio…transmomordit; Z : formato autem homine; Z  f: in Deo et in homine.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

ebenso ein o. ²⁸⁹ Freilich ist jene Art der Lautmalerei durch die grammatikalischen Strukturen des Lateinischen mit Verbflexionen und nominalen Endlauten auf -o, sei es im Nominativ der dritten Deklination oder im Dativ/ Ablativ der ersten Deklination, recht leicht zu erzeugen. Eine gewisse Nähe der Tugendfigur der Gottesliebe zum Wirken der Gnade spricht sich in der folgenden Ichaussage aus, in der ein Nomen mit Endung auf o (defensio) verwandt ist: Ich bin für die Meinen wie eine sehr nützliche und eine äußerst wünschenswerte Verteidigung.²⁹⁰

Also will sich die caritas ebenso wie die Gnadenhilfe als ein Eingreifen in die Anfechtungen des Menschen verstanden wissen. Aus diesem Tiefengrund grenzt Hildegard sie gegen Zerrformen ab, die nur aequivok als „Liebe“ bezeichnet werden könnten.²⁹¹ Dies hängt mit ihrer Auffassung von christlichem Leben zusammen: Lebendig ist nur, wer aus einem richtigen Begriff von caritas heraus jene recht übt.²⁹² Insgesamt werden die Tugendfiguren auf vier verschiedenen Ebenen beschrieben: Ihr Aussehen in der Schau wird als descriptio personae²⁹³ nachgezeichnet. Sie stellen sich selbst jeweils in eigenen Reden vor. In diesen Reden äußern sie Beobachtungen und Wertungen zu anderen Tugendfiguren, die so im Text bereits auf einer dritten Ebene repräsentiert werden. Bei der Ausdeutung ihrer Bildlichkeit werden sie aus einer vierten Perspektive in der dritten Person präsentiert. Sie charakterisieren sich ebenso selbst, wie sie aus dem Blickwinkel der Seherin, der anderen Tugendfiguren und der deutenden Stimme erläutert werden. Sie treten also in multiperspektivischer Beleuchtung auf der Bühne des Textes auf. Im nächsten Visionswerk, dem Liber Vitae Meritorum erhellt sich ihre Lebensbedeutung dialektisch aus der Gegenüberstellung mit dem jeweiligen konträren Laster. Zudem präsentieren sie sich bereits in der Visionsbeschreibung als Figuren in Bewegung.²⁹⁴ Der Leser soll also nicht einfach lapidare Sachaussagen über einzelne Tugendhaltungen hinnehmen, sondern gleichsam in geistiger Betrachtung um die Figuren herumgehen. Die Ich-Erzählerin führt paradigmatisch für den Leser vor, dass es sich hier um einen aktiven Prozess der Wahrnehmung²⁹⁵ und des verlangsamten Nach Z : pertranseo.  Z : cum valde utilis multumque exoptabilis defensio meis sum.  Z : apellant aequivocas meas.  Z  f: Nunc autem caeci et mortui.  Vgl. zur literarischen Funktion einer descriptio personae: Heinrich F. Plett, Einführung in die rhetorische Textanalyse (Hamburg: Helmut Buske, ), .  Z : incedebant. Zuvor, in der Bildbeschreibung, wurde ihre Bewegung als ein Auf- und Niedersteigen präzisiert (Z  – : ubi omnes virtutes Dei descendentes et ascendentes..ad opus suum ire videbam.)  Vgl. die selektierende Schau und Wiedergabe Z  f: Sed inter has virtutes preacipue septem videbam.

3.3 Ein originelles Kompendium der Gnadenlehre in der Visio SV III,8

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sinnens handeln soll.²⁹⁶ Die Bewegtheit der Figuren soll auch Denken und Handeln des lesenden Betrachters in Fluss bringen. Dass die Autorin hier ihre eigenen Rezeptionsstrategien äußert, kann als Argument dafür gewichtet werden, dass man nicht einfach von einer objektiven Schau sprechen kann, in der die Subjektivität des Schauenden zugunsten der Objektivität einer mitgeteilten Lehre zurück träte.²⁹⁷ Vielmehr kann gemäß der hildegardianischen Darstellung die schriftlich vermittelte Bildwelt nur durch eine aktive, selbstgesteuerte Wahrnehmungsübung im Rezipienten wirksam werden.

3.3.2 Columna umbrosa und locus vacuus: ²⁹⁸ Bildfiguren zwischen Konturiertheit und Erkenntnisentzug Differenzierte metaphorologische Metareflexionen Hildegards lassen sich erahnen, wenn man die Weiterführung der Architektursymbolik der Tertia Pars in der Visio Octava untersucht. Die Autorin spiegelt den Bericht über ihre eigene Schau durch die Nennung weiterer möglicher Blickwinkel und Helligkeitsstufen: Eine Säule kann innerhalb und außerhalb des Gebäudes gesehen werden²⁹⁹ und ist umschattet. Dabei wird nicht ausgesagt, von woher der Schatten fällt. Jener Sachverhalt wird als objektiver Tatbestand von der subjektiven Sicht des Seher-Ichs unterschieden: Während die Säule objektiv umschattet sei,³⁰⁰ erscheint sie dem Blick der Seherin noch dunkler.³⁰¹ Ihr Umfang kann nicht erkannt werden.³⁰² Dies ist insofern widersprüchlich, weil eine Säule ja nur durch die Wahrnehmung ihrer Umrisslinien als solche identifiziert werden könnte. Ebenso bilden die materielle Massivität einer Säule und ihr gleichsam schwebendes Erscheinen im Bild einen Gegensatz. Dass dies bewusst so von der Dichterin gestaltet ist, ergibt sich durch ähnliche Formulierungen in der Visio Septima.³⁰³ Anders als in jener wird jedoch die

 Z : diligentissime considerabam.  Den Vorrang der Objektivität will beispielsweise wahren Hans Urs von Balthasar, „Zur Ortsbestimmung christlicher Mystik,“ in Grundfragen der Mystik, Hg. v. Werner Beierwaltes, Hans Urs von Balthasar, Alois Maria Haas, Kriterien  (Einsiedeln: Johannes, ): . Bei solchen Wertungen darf der Begriff einer „Objektivität“ freilich nicht thetisch gesetzt werden, sondern muss in seinem Bedeutungsradius geklärt werden.  Z  und Z  f.  Z  – : vidi quasi columnam magnam et obrumbratam intra et extra idem aedificium apparentem. Ein ähnlicher Doppelblick von innen und außen wird in der vorherigen Visio bezüglich der Säule der Dreifaltigkeit konstatiert: SV Visio Septima, Z  f: ut et intra et extra ipsum aedificium appareret.  Z .  Z .  Z  f.  SV Pars Tertia, Visio Septima, Z  – .

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

Bildregie der Visionsbeschreibung durch Metareflexionen über die Inhaltlichkeit und über die Formalbedingungen einer früheren Schau unterbrochen.Vom Leser wird also höchste Aufmerksamkeit auf die folgenden eingeschobenen Bemerkungen verlangt: Denn der Bildraum wird durch die Unbestimmtheit der Höhendimension der Säule nach oben ausgeweitet, um die Aussagen dieses Textteiles mit früheren über Gott als Schöpfer im Blick auf seine Schöpfung³⁰⁴ und über den Menschensohn in Bezug zu setzen.³⁰⁵ Dabei werden die in früheren Passagen der Scivias geschilderte Elemente der Schau und ihrer theologischen Auslegung in die Spannung zwischen dem niedergeschriebenen Gezeigt-Werden durch Gott und dem Verbleiben in seinem Geheimnis gestellt. Dies ist in dem Oxymeron einer mystica ostensio zusammen gespannt.³⁰⁶ Obwohl so schon zu Beginn der Schilderung der Schau jene verschattete Säule auf frühere Visionsbilder von Schöpfergott und von der Menschheit des Gottes-Sohnes bezogen ist, wird ihre Symbolbedeutung erst nach der seitenlangen Rede der Gnade erläutert, wobei nicht nur der Bedeutungsinhalt des Symbols, sondern auch der Vorgang der Symbolisierung und verzögerten Ausdeutung in der Stilfigur der Anapher und der figura ethymologica als mysterium mysticum ³⁰⁷ klassifiziert ist. So ist die Selbstvorstellung der Gnade und zuvor – in kürzeren Ichreden – der Tugendfiguren der Demut, der Gottesliebe, der Gottesfurcht, von Glaube und Hoffnung und der castitas, in den Bezug auf die Schöpferkraft Gottes und auf die Bedeutung der Menschheit Christi einbezogen. Ebendies nimmt auf der Bildebene der nächste Absatz vorweg, indem eine Leiter in der Säule geschildert wird gemäß dem archetypischen Symbol der Himmelsleiter. Dadurch ist das Motiv des Aufstiegs in den Himmel³⁰⁸ mehrfach verstärkt: Die Symbole von Säule und Leiter überlagern sich und werden mit einem augustinischen Grundwort³⁰⁹ als ascensus ³¹⁰ bezeichnet.

 Z  f.  Z  f.  Z  f: mihi in mystica ostensione mysterium…demonstratum fuerat. Der Ausdruck der mystica ostensio steigert die vorherige zweimalige Setzung des unbegleiteten Nomens mysterium (Z ; Z ). Durch das Oxymeron der mystica ostensio legt die Autorin den semantischen Schwerpunkt des Terminus mysterion auf „die Dialektik von Offenbarung und Verborgenheit Gottes in seinem Offenbarungsund Heilshandeln.“ (Martin Brüske, „Mysterium,“ in RGG  : ).  Z : per mysticum mysterium.  Vgl. die Bewegung der Säule der Demut Z  f: In minimo incepi et ad ardua caelorum ascendi.  Vgl. Leopold Wittmann, Ascensus. Der Aufstieg zur Transzendenz in der Metaphysik Augustins, Epimeleia  (München: Johannes Berchmanns, ), . Der Aufstieg durch die Gnade wird auch im Gebet versucht (Augustinus, conf. , , ). Denn die Gnade ermutigt zum „Anklopfen“ bei Gott (conf. , , ), da sie als lumen cordis den Menschen wie eine Stimme hinter ihm anspricht, (conf. , , ), die zur Quelle des Lebens ruft: Et nun ecce redeo aestuans et anhelans ad fontem tuum…hunc bibam et tunc vivam. Non ego vita mea sim: …in te revivesco (ibd.). Jene Passagen aus den dem Zwölften Buch der Confessiones offenbaren sich also als mögliche Quelle der Bildwelt und des Sprachkosmos Hildegards zur ihrer Anschauung von Gnade und Leben.Vgl. hierzu das Kapitel 2 und das Kapitel 7.4 dieser Arbeit.  Z : in modum scalae ascensus erat.

3.3 Ein originelles Kompendium der Gnadenlehre in der Visio SV III,8

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Innerhalb eines einzigen Satzes häufen sich fünf Bildsignale der Aufwärtsbewegung, die auf der Sinnebene mit dem Hendiadyoin studium und opus ³¹¹ als einer spirituellen Aufstiegsbewegung zur Vervollkommnung gleichgesetzt werden. Zugleich grenzt sich diese Bewegung von einer platonischen in die ideale obere Ideenwelt insofern ab, als der Abstieg in die Bedingungen der menschlichen Existenz und die Mühsal der Bemühungen, symbolisiert in steinernen Lasten,³¹² mit einbezogen sind. In den Partizipien descendentes et ascendentes ³¹³ bilden sich überkreuzende Linien ab, die gleichermaßen für den kenotischen Abstieg Christi und seine Erhöhung wie für die analogen Bewegungen der Gnade stehen. Christus als Gott-Mensch gibt so gleichsam den Raum, in dem Kräfte der Gnade wirksam werden. Indem die Tugendkräfte, die von Gott ausgehen,³¹⁴ von der ausdeutenden Stimme als Werkleute Gottes, operarii Dei,³¹⁵ bezeichnet werden, lanciert Hildegard bereits in der Visionsbeschreibung eine Auffassung von Gnade, die deswegen nicht in konträrem Gegensatz zum menschlichen Werk steht, weil die Gnadenhandlungen Gottes selbst als Werk, freilich als Werk Gottes, verstanden werden. Gnade wird so zur Weiterführung des Schöpfungswerkes, weshalb die Autorin gezielt den Begriff opus einsetzt.³¹⁶ Die Gnadenkräfte wirken zielgerichtet, unter dem Anspruch einer Zielmaximierung auf Vollendung und Heiligkeit des Menschen hin, einerseits in gemeinsamer Aktion, andererseits differenziert auf die nötigen Werke des einzelnen Menschen. So widerspricht die Autorin durch die Vorstellung einer Gruppe einander ähnlicher, aber voneinander unterschiedener Einzelgnaden Anschauungen eines Gnadenautomatismus und einer Uniformität des Heils ohne Stufungen in Quantität und Qualität der Gnade. Zugleich verwehrt sie sich gegen das Ansinnen, konkrete Feststellungen über den Gnadenstand eines Menschen zu treffen.³¹⁷ Dies kann als indirekte Replik gegen

 Z f: stadium idem opus perficiendi.  Z  oneratas lapidibus. Hierzu die Ausdeutung in Z  – : Descendunt etiam per ipsum ad corda fidelium hominum, …secundum quod operarius ad levandum lapidem se inclinat quem ad aedificium deferat.  Z .  Z  f: omnes virtutes Dei.  Z : „Isti fortissimi operarii Dei sunt.“ Es kommt selten vor, dass bereits während der Erzählung des Visionsgeschehens eine Kommentierung durch die ausdeutende Stimme erfolgt. Daher ist diesem Ausruf besondere Bedeutung zuzumessen.  Vgl. zum Bedeutungsspektrum von opus bei Hildegard: Heinrich Schipperges, Die Welt der Hildegard von Bingen. Panorama eines außergewöhnlichen Lebens (Freiburg: Herder, ), . Opus als Überbegriff für das Schöpfungswerk, für die innerseelische Geordnetheit und Wachstumsbereitschaft, für äußere Werke und die Ehe illustriert Otto Betz, „Wirken mit Augenmaß. ‚Opus/Operatio‘ und ‚Discretio‘ – Schlüsselbegriffe im Denken Hildegards,“ in Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten. Zum . Geburtstag, Hg. Edeltraud Forster (Freiburg: Herder, ): .  Z  – : Qui, quot et quales futuri sint in prolixitate supervenientium temporum, hoc est in mysterio ineffabilis Trinitatis.

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die frühmittelalterlichen Auseinandersetzungen um die gemina praedestinatio³¹⁸ gesehen werden: Denn die Urteil der göttlichen Gnade sind verborgen!³¹⁹

Bezeichnenderweise fällt dieses Urteil über Aussagemöglichkeiten zur Rechtfertigungsgnade gerade nach dem Satz, in dem die Gnade als Leben-schenkend ausgewiesen wird, als unermesslich für das menschliche Erkenntnisvermögen im Geben des Lebens.³²⁰ Diese Unermesslichkeit symbolisiert in der Bauallegorie ein leerer, noch nicht ummauerter Platz, der, weil unbebaut, als Unterbrechung des bereits bebauten Gebietes eingeordnet ist. Hierbei soll das unerwartete Attribut interruptus den Leser durch Irritation zu höherer Aufmerksamkeit bewegen. Die „Baulücke“ im Bild soll auch durch erhöhte inhaltliche Konstruktionsleistungen des Lesers gefüllt werden. Jedoch geht es noch um mehr, um eine theologische Tiefenaussage: Der leere Ort zeigt nicht nur die Unangemessenheit von menschlichen Festschreibungen über den Gnadenstand an. Sondern positiv versinnbildet er die Wachstumschancen, die durch das Zusammenwirken der Gnade mit den inskünftigen guten Werke der Menschen geboten sind: Noch sind die „lebendigen Werke“ (viventia opera), die durch die Wirkgnade Christi als Haupt in seinem Leib möglich sein werden, verborgen.³²¹ Der Baugrund ist kein „ground zero“, sondern Ort künftigen Lebens, und gerade deswegen vor allzu zudringlichem menschlichen Erkenntnisvermögen geschützt. Das Höhenstreben der im Blick unbegrenzten Säule deutet hohe Ziele für den Menschen an.³²² Zudem wird die Menschheit Christi unter dem Vergleichspunkt einer tragenden und stützenden Säule verglichen, dass sie die Last der Auferbauung der Kirche trägt.³²³ Aber ähnlich wie im Symbolbild der Hirsch auf den Spiegelfensterchen des Glaubens gestützt erscheint,³²⁴ wird die Säule der Menschheit als zusammenge-

 Zu den heftigen Auseinandersetzungen im . Jahrhundert um die doppelte Prädestination, ausgelöst durch den Mönch Gottschalk von Orbais, und durch die Synoden von Quierzy (DH  – ) auf das Verhältnis von Gnade und Freiheit focussiert, vgl. Georg Kraus, „Gnadenlehre – Das Heil als Gnade,“ in Glaubenszugänge. Lehrbuch der katholischen Dogmatik Band , Hg. Wolfgang Beinert (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ): . Ferner: Karl-Heinz Menke, Das Kriterium des Christseins. Grundriss der Gnadenlehre (Regensburg: Friedrich Pustet, ),  – .  Z  f: quia iudicia divinae gratiae occulta sunt. (Z  – ).  Z  – : quia gratia Dei…dans vitam in vita apparuit, ita ardens in clarissima divinitate, ut omnem visum tam interiorem quam exteriorem hominis excedat.  Z  – : Filius Deus verus …latet in membris suis, …., per viventia opera membra capitis sui effecti.  Entsprechend wird im Liber Divinorum Operum der Mensch selbst eine columna sanctitatis genannt (Liber Divinorum Operum, Pars Prima, Visio Tertia, Cap., Z ).  Z  – : fortissima sanctitatis columna existens, omnem videlicet ecclesiasticam aedificationem sustentans.  Vgl. die Analyse im Kapitel ..

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setzt aus den „lebendigen Steinen“ (1 Petr 2,5)³²⁵ der Menschen gezeichnet, die wegen ihres Glaubens und ihrer daraus folgenden guten Werke als Bausteine der Säule der Menschheit dienen.³²⁶ Durch die Gnade sind also die Menschheit Christi und die Menschheit derer, die an die Heilswirksamkeit des Gott-Menschen glauben, nicht nur dicht aufeinander bezogen, sondern beinahe gegenseitig aufeinander verwiesen. Durch das Motiv der Säule³²⁷ blickt die achte Visio des dritten Teils des Liber Scivias zurück auf die vierte Visio des ersten Teils, die in einer Art religiösen Telemachie den Rückweg der Seele durch verschiedene allegorisch ausgedeutete Abenteuer hindurch zur Mutter Zion erzählt. Die Seele errichtet in ihrem Innenraum, tabernaculum, eine Art Miniaturversion des Heilsgebäudes aus der Bildlichkeit der Tertia Pars. Darin erbaut sie durch gute Werke, beflügelt durch den Zuspruch einer mütterlichen Stimme,³²⁸ die als Stimme der Kirche verstanden werden kann, eine eiserne, mithin sehr stabile, Säule.³²⁹ Bereits im Vorgriff werden so Zusammenhänge zwischen dem Seeleninnenraum des Menschen, seiner eigenen religiösen und äußerlichen Aktivität und Unterstützungskräften, die im Raum der Kirche erfahrbar sind, angedeutet.³³⁰ Es zeugt für die literarischen Kompositionskünste Hildegards,wenn schon in einer früheren Passage des Werkes ein Modell für bildliche und sachliche Zusammenhänge

 Zur literarischen und baulichen Symbolik der lapides vivi vgl. Günther Binding, Der früh- und hochmittelalterliche Bauherr als sapiens architectus, . überarbeitete und ergänzte Auflage (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ),  – .  Z  f: Cuius humanitas apparet in ardente fide lapidum fidelium populorum.  Die Metapher der Säule kann sich sowohl auf den Vergleichsmoment als Stütze oder auf den einer „Repräsentationsfunktion“ beziehen. (Dietmar Peil, „Säule/Pfeiler,“ in Metzler Lexikon literarischer Symbole, Hg. Günther Butzer and Joachim Jacob (Stuttgart: J.B. Metzler, ), ). Baugeschichtlich hängt die Kunst der Gestaltung von Säulen mit der Harmonie und Ästhetik der antiken Tempelarchitektur zusammen. Die Säulen sollen, wie Vitruv im ersten Jahrhundert nach Chr. empfiehlt, so angeordnet sein, dass sie Durchlass und Durchblick zu den Götterbildern geben. (Vitruv, De Architectura Libri Decem. Zehn Bücher über Architektur, Übers. und durch Anmerkungen und Zeichnungen erläutert durch Franz Reber (Wiesbaden: Marix, ), Drittes Buch, Kapitel Drei, .) In der mittelalterlichen Allegorese vertreten Säulen vor allem in Anlehnung an Offb , die Apostel, sodann Glaubenslehrer im Allgemeinen und die Bischöfe. Dabei können Säulen durchaus auch als Bild der Gnade gedeutet werden. (So Joseph Sauer, Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Auffassung des Mittelalters (Münster: Mehren & Hobbeling: ), , u. a. unter Verweis auf den mutmaßlichen Autor der Hymne „Veni Creator Spiritus“, Hrabanus Maurus, Allegoriae in Sacram Scripturam, PL ,  ff. sowie auf den Zeitgenossen Hildegards, den Kanonisten und Autor einer Liturgieerklärung, Sicard von Cremona, PL ,  B). Aus der Anspielung auf Spr , in Z  f erhellt sich, dass Hildegard den Bildwert der Säule in der Visionsbeschreibung auf die sieben Gaben des Heiligen Geistes ausweitet. Allerdings erschließt sich dies infolge ihrer retardierenden Darstellungsweise erst bei gründlicher Lektüre der ganzen Vision.  SV Pars Prima, Visio Quarta, Z  – .  SV Pars Prima, Visio Quarta, Z  – : opera claritatis feci… In eodem autem tabernaculo … columnam impoliti ferri posui.  Als Hinweis auf die Eucharistie ist es zu werten, wenn die Seele im tabernaculum Manna vorfindet, also von der Lebensspeise erwartet wird: SV Pars Prima,Visio Quarta, Z : Et manna inveniens illud comedi.

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entworfen wird, dass später aufgegriffen und durch etliche weitere Aspekte erweitert wird. Zugleich wird so ekklesiales und individuell-biographisches Heilsgeschehen ineinander gespiegelt. Durch die Überlagerung der Symbolwerte von Säule und Leiter schafft sie einen Übergang zu den Bildwelten von Pflanzen zur Illustration des Aufblühens durch die Gnade. Denn eine Tugendleiter könnte ikonographisch in die Zeichnung eines Lebensbaumes übergehen, in einen „arbor vitae, dessen Knospen die Werkleute Gottes als Tritte benützen.“³³¹ Dies deutet sich in der Miniatur 29 des Rupertsberger Codex des Liber Scivias an.

3.3.3 Gnade und Leben 3.3.3.1 Diskussionsfelder der Gnadenlehre zur Zeit Hildegards Die vorausgegangenen Analysen der Visio Octava zeigten bereits, dass sich Hildegard auf theologische Fachdiskussionen über die Gnadenlehre bezieht. Hierbei nennt sie zwar keine Autoren. Doch sowohl von ihren Sachaussagen her als auch durch das gezielte Einstreuen entsprechender Fachworte in narrativer Verwendungsweise meldet sie ihre Kenntnis gnadentheologischer Fragestellungen an.³³² Aber es handelt sich nicht allein um deren Rezeption, sondern sie entwirft eigene Lösungsvorschläge, indem sie einen eigenständigen Horizont der Problemzusammenhänge aufspannt. Um die gnadentheologischen Problemlagen im 12. Jahrhundert zu skizzieren, werden hier nur einige Punkte herausgegriffen. Dabei sei davor gewarnt, Gnadensystematiken späterer Schulsysteme auf die Epoche der Vor- und Frühscholastik zu

 Lieselotte E. Saurma-Jeltsch, Die Miniaturen im „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen. Die Wucht der Visionen und die Ordnung der Bilder (Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert, ), .  So greift sie die von Augustinus herrührende Unterscheidung von gratia praecedens und gratia subsequens auf, wobei sie die beschreibenden Attribute zu erzählenden Verben umwandelt, und sie durch die Kommunikationsakte des Berührens und Mahnens illustriert: Z  f: Propter quod etiam ipsa praecedit et subsequitur, tangit et monet homines. Noch konkreter ordnet sie die gratia praeveniens den durch sie Gerechten zu und die gratia subsequens als eine nachgehende Seelsorgerin den Sündern (Z  f: praecedit iustos, ut sibi preavideant ne cadant, subsequens peccatores, ut paeniteant et resurgant.) Vorauslaufende Textstellen aus der Visio Octava der Tertia Pars, die dieses Feld der Unterscheidung umschreiben, stellt zusammen Michael Zöller, Gott weist seinem Volk seine Wege. Die theologische Konzeption des „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen ( – ), Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie  (Tübingen: Francke ),  f. So verdienstlich diese Textsynopse ist, so sehr ist allerdings in dieser Monographie eine weitergehende theologiegeschichtliche und systematisch-theologische Analyse zu vermissen. Ebenso fließt in die Visio Secunda der Prima Pars Z 408 der terminus technicus des posse (non) peccare ein, den der Lombarde in seinem Lehrbuch der Sentenzen verwendet. (Vgl. zu der Formel des posse non peccare: Wolf- Dieter Hauschild, Alte Kirche und Mittelalter, Bd. 1, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte (Gütersloh4: Gütersloher Verlagshaus, 2011), 601.),

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projizieren³³³ und aus den Akzentsetzungen sehr unterschiedlicher Autoren eine kontextunabhängige Gesamtsystematik zu destillieren.³³⁴ Der Optimismus, in dem Hildegard die göttlichen Sprecherfiguren ausrufen lässt, dass der Mensch auch postlapsal befähigt ist, das Gute zu erkennen, zu wählen und auszuführen, geht möglicherweise auf ihre Kenntnis von ähnlichen Feststellungen bei Ambrosius zurück.³³⁵ In der frühscholastischen Fachtheologie des 12. Jahrhunderts kristallisiert sich jene Anschauung zu der Formel: „Facienti quod in se est, Deus non denegat gratiam“.³³⁶ Ohne dass es im Visionswerk Hildegards wörtlich wiedergegeben würde, deckt jenes Axiom sich mit der Werkintention. Die Heilsnotwendigkeit der Gnadenhilfe als eines unverzichtbaren adiutorium für den Menschen wurde 418 auf dem Regionalkonzil von Karthago (DH 225 – 227) konstatiert und durch päpstliche Bekräftigung zur kirchlichen Lehre.³³⁷ Gregor der Große führt die augustinische Unterscheidung zwischen gratia praeveniens und gratia subsequens weiter.³³⁸ Kooperativ könne der Mensch mit der Gnade in guten Werken mitarbeiten.³³⁹

 So spielt die Gegenüberstellung von Natur und Gnade ungeachtet eines gewissen Leib-SeeleDualismus bei Hildegard und trotz ihrer vermutlich intensiven Augustinus-Kenntnisse keine Rolle. Das mag daran liegen, dass ihr Gnadenverständnis auf die Schöpfungsgnade hin ausgeweitet ist und Natur und Elemente nicht autonom, sondern unter naturtheologischem Blickwinkel gesehen werden. Obwohl vermieden werden muss, spätere gnadentheologische Klassifikationen und Anfragen in das Opus Hildegardianum hineinzudeuten, kann es dennoch eine reizvolle und durchaus fruchtbare weitere heuristische Methode sein, solche probehalber durchzuspielen: Wenn man zum Beispiel abwägt, ob Hildegard gratia actualis und gratia habitualis gegenüberstellt, kann man in der Kleidsymbolik eine Metapher für Gnade und Tugenden als Habitus entdecken.  Zum Beispiel trifft die generalisierende Behauptung nicht für Autoren wie Anselm, Hildegard, Wilhelm von St. Thierry, dass sich im Mittelalter das Erkenntnisinteresse der Gnadenlehre weg von der Betonung eines gnadenhaften „Beziehungsgeschehens“ entwickelt hätte. (So das Fazit bei Bernd Jochen Hilberath, „Gnadenlehre,“ in Handbuch der Dogmatik, Bd. , Hg. Theodor Schneider (Düsseldorf  : Patmos, ): ).  Zu diesem Optimismus gleichermaßen bezüglich der menschlichen Fähigkeiten und der Großzügigkeit der Gnade vgl. J. Patout Burns, „Gnade: Die Augustinische Grundlegung,“ in Von den Anfängen bis zum . Jahrhundert, Bd. , Geschichte der christlichen Spiritualität, Hg. Bernhard Mc Ginn, John Meyendorff, and Jean Leclercq (Würzburg: Echter, ): .  Hierzu Adolar Zumkeller, „Facienti quod in se est Deus non denegat gratiam,“ in LThK  : . Hildegard geht es jedoch um mehr als um eine rein passive Befähigung des Menschen zum Empfang der Gnade, wobei sie, auf einer anderen, weniger argumentativen, denn narrativ-persuasiven Ebene betont, dass auch zur menschlichen Vorbereitung auf die Rechtfertigungsgnade eine Gnadenhilfe erforderlich ist. Dies ergibt sich zwingend aus ihrer Emphase auf die initiierende Rolle der Gnade, die weiter unten im Abschnitt ... untersucht werden soll.  Vgl. Gisbert Greshake and Eva Maria Faber, „Gnade,“ in LThK  : .  Gregor der Große, Moralia in Job ,  (CCL  A, , S.  f, Z  – ).Vgl. hierzu: Georg Kraus, „Gnadenlehre – Das Heil als Gnade,“ In Glaubenszugänge. Lehrbuch der katholischen Dogmatik Bd. , Hg.Wolfgang Beinert (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ), ; sowie: Reinhold Rieger, „Gnade/ Gnade Gottes. IV. Kirchengeschichtlich,“ in RGG  :  f.

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Anselm von Canterbury warnt davor, biblischen Aussagen vorschnell eine Abwertung der Gnadenprioriät einerseits und der menschlichen Freiheit andererseits zu unterstellen.³⁴⁰ Einen Systematisierungsversuch der Gnadenlehre legt Petrus Lombardus im ersten Teil seines Sentenzenwerkes vor.³⁴¹ Doch obwohl er das maßgebliche Lehrbuch für die kommenden Jahrhunderte bis zur Neuzeit schrieb, erntete er von seinen Kommentatoren Kritik für seine Identifikation des Heiligen Geistes und der Gnade mit der Liebe im Herzen des Menschen.³⁴² Auch Hildegard wird dieser Identifikation nicht erliegen, die dazu führen würde, dass die ungeschaffene Gnade pantheistisch in den Menschen einginge. Zeitgenossen Hildegards ordnen die Gnadenlehre oft anderen dogmatischen Themengebieten unter, so der Christologie, der Sakramentenlehre oder der Lehre von den theologalen Tugenden.³⁴³ Gemäß ihrer synthetischen Denkweise vermag sie jedoch statt einer eindimensionalen Zuordnung unter einen Gesichtspunkt Interdependenzen zu einer Vielzahl von Teilgebieten der christlichen Lehre zu entwickeln. Diese Vielfalt kann sie dadurch vorzuführen, dass sie der Gnade einen eigenen Textabschnitt der Visio widmet. Anhand der literarischen Fiktion einer Ich-Rede der Gnade, die widerspiegelt, dass Gnade tatsächlich in einer gewissen Weise zum Menschen spricht und so – mit den Worten Karl Rahners – „letztlich die Selbstmitteilung des absoluten Gottes an die Kreatur ist“,³⁴⁴ lässt sie den Leser miterleben, wie Aussagen über Christus, die Trinität, die Schöpfung, den Menschen, die Tugenden auf die Gnade als einen sachlichen Mittelpunkt zulaufen. So liefert Hildegard in diesem Textabschnitt in der gedanklichen Struktur der Zentralität der Gnade fast schon einen Vorläufer protestantischer Dogmatiken – etwa in der protestantischen Barockscholastik – mit der Gnadenlehre als Mittelpunkt.

 Gregor der Große, Moralia in Job ,, CCL  B,  f, Z  – ). Zur gratia operans et cooperans vgl. Johann Auer, „Gnade. II. Dogmengeschichtlich,“ in Handbuch theologischer Grundbegriffe. Bd. , Hg. Heinrich Fries (München: dtv, ): .  S. Anselmi Cantuariensis Archiepiscopi, Opera Omnia, Tomus Primus, ad fidem recensuit Franciscus Salesius Schmitt (Stuttgart-Bad Canstatt, ), De concordia XXX III, ,  f.  Er ordnet die Gnadenlehre den Themenbereichen Prädestination, Ebenbildlichkeit, Freiheit, Sakramente, Gaben des Heiligen Geistes und – für einen Vergleich mit Hildegard besonders relevant – der „christozentrischen Entfaltung der theologischen Tugenden“ zu (Sentenzen I, d  – ; II, d ; II, d  – ; III  – ; III  f; II d  – ), so Albrecht Peters, „Gnade,“ in HWP : . Siehe ferner Georg Kraus, „Gnadenlehre,“: .  Vgl. Johann Auer, „Gnade, II. Geschichte der Gnadenlehre,“ in Sacramentum Mundi. Theologisches Lexikon für die Praxis, Bd.  (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ): .  Vgl. Johann Auer, ibd.  Karl Rahner, „Gnadentheologie,“ in Sacramentum Mundi. Theologisches Lexikon für die Praxis Bd. , (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ): .

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3.3.3.2 Anwesende Gnade: Hildegardianische Beschreibungsebenen der Gnade in Partizipien In der fiktiven Ichaussage der Gnade beschreibt jene ihre verschiedenen Wirkmodi besonders häufig im Partizip Präsens. Durch das participium coniunctum wird so einerseits ausgedrückt, dass das Wirken der Gnade Beziehungen zwischen Gott und Mensch schafft. Außerdem nimmt das Partizip als nominalisierte Verbform eine Mittelstellung zwischen Tätigkeitsverb und Attribut ein. Die Handlungen der Gnade machen ihre Eigenschaften aus. Gnade wird so als dynamisches Prinzip gezeichnet, das Veränderungen schafft. Andererseits wird durch die von der consecutio temporum unabhängige Gegenwartsform des Partizips die stete, unverrückbare Gegenwart des Einflusses der Gnade angedeutet. Mittels der Aufzählung der verschiedenen Tätigkeitsbereiche, die durch Partizipien benannt werden, erscheint bereits die Differenziertheit eines theoretischen Gnadensystems, das von Hildegard selbst entworfen wurde.³⁴⁵ Dass hier ein vernetztes System vorliegt, wird anschließend an der Analyse einer Kernstelle deutlich werden. Entsprechend der Intention des Liber Scivias einer admonitio charakterisiert sich die Gnade in der Darstellung Hildegards als ermahnend.³⁴⁶ Nach dieser initiierenden Rolle werden einzelne Akte der Unterstützung des Menschen genannt: In einer Anspielung auf die gratia elevans ³⁴⁷ wird ihre aufhelfende Unterstützung anschaulich geschildert.³⁴⁸ Eine indirekte Replik auf die zeitgenössischen Diskussionen, wie Liebe und Gnade aufeinander bezogen, aber gleichwohl voneinander unterschieden sind, wird, ausgehend von der Leuchtkraft der Gnade auf der Bildebene als Brennen der Gnade in der Liebe, die von Gott kommt,³⁴⁹ ausgedeutet. Ehe die Gnade dem Menschen Kraft zur antwortenden Liebe zu Gott schenkt, beschenkt sie mit der Liebe von Gott, mit der sie selbst wirkt, ohne mit ihr identisch zu sein,³⁵⁰ so wie eine brennende Lichtquelle nicht mit dem Feuer identisch ist. Mithin vermag die Gnade die Lebenskraft, die von Gott als Leben selbst kommt, lebensspendend an den Menschen weiterzureichen.³⁵¹ Es ist das Leben, das Christus

 Eine Liste einer Gnadensystematik um  in einer Glosse zur Summa des Preapositinus zitiert Artur Michael Landgraf, Dogmengeschichte der Frühscholastik. Bd. / (Regensburg: Pustet, ): .  SV Visio octava, Z  f: admonens et exhortans hominem; Z : audite me vos admonentem; ähnlich in der Schilderung in der dritten Person: monens homines paenitentiam agere. Admonere erscheint ebenso häufig als flexiertes Verbum: Z  f: Tunc iterum admoneo atque hortor eum ad bonum; Z : tangit et monet homines.  Zum Begriff der gratia elevans als einer Kraft, die zum guten Werk führt, im . Jahrhundert siehe Artur Michael Landgraf, Dogmengeschichte der Frühscholastik. Bd. / (Regensburg: Pustet, ): .  Z : monet illos ad salutem eos levans de luto peccati ad spectaculum luminis.  Z : gratia Dei ardens in caritate unter Bezug auf Z  f.  Z  f.: ardens in clarissima divinitate.  Z : vivificans; Z : dans vitam in vita apparuit.

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selbst dem Menschen weitergibt, als Frucht, die er geben kann, weil er selbst von Gott stammt.³⁵² Über den Leitbegriff des Lebens erscheint Gnade hier also christologisch rückgebunden. Die Autorin konstruiert aus einer Kette von Partizipien eine Satzpassage, die in ihrer äußeren Struktur zum einen die Kreuzbewegung vom Herabneigen der Gnade zum Menschen und vom Erheben des Menschen anzeigt, zum anderen die Antworthandlungen des Menschen auf die Gnade zeigt. Die Grammatik des Satzgefüges spiegelt wieder, was sich in der Gesamtsicht der Wirkweisen und Effekte der Gnaden sachlich zusammenfügt: Denn die Gnade Gottes neigt sich (inclinans) in ihrer Stärke und Zugewandtheit (pietate) zu den gläubigen Menschen. Darauf erhebt sie jene über sich zu den himmlischen Dingen.Wodurch? Dies geschieht auf den zwei Wegen der Zonen. Dabei berührt sie (tangens) sozusagen die Angst des schwachen Fleisches, das im blutvollen geistlichen Kampf sich müht, und die Tugendkraft der Seele, die im Körper lau ist. Sie zieht jene (trahens) in den Einflussbereich des roten und gelben Glanzes der Menschheit und der Gottheit des Sohnes Gottes, sozusagen der allerhellsten Sonne. Er zieht sie zur Liebe zu den himmlischen Dingen. Das hat zur Folge, dass der gläubige Mensch sich selbst widersteht in der Konkupiszenz der Sünde, berührt durch das Heil, das Unverletzlichkeit bringt, in der Gnade (in integritate gratiae tactus). Berührt wird er sozusagen um sich herum durch die von der Gnade ausgehenden Tugendkräfte, und hinter sich durch die Ertötung der Laster. So vollendet er mannhaft mit gutem Ausgang (bono fine) seine Werke, während jene ihn mit einer wünschenswerten und erfreulichen Gewandung (textura) umkleiden.³⁵³

Gnade strahlt hier vom Sohn Gottes aus. Sie kann dem Menschen zugeeignet werden, weil Christus in sich Menschheit und Gottheit verbindet und daher auf Leib und Seele des Menschen über die Gnade einwirken kann. Auch der Leib ist Objekt der Gnade. Die Initiative geht von der Gnade aus, die den Abstand von Gott und Mensch, Himmel und Erde im Herabneigen überbrückt, so wie es der Gott-Mensch tat. Der Mensch wird berührt, gezogen, hinaufgetragen. Dies zeigt sich in Tugendhandlungen des Menschen, die aber von der Tugendkräften der Gnade getragen sind. Die Gnade der Beharrlichkeit (gratia perseverantiae) lässt die Intention der aufhelfenden und heilenden Gnade (gratia medicinalis, gratia sanans) und die Mitwirkung des Menschen an das Ziel gelangen. Die gemeinsame Zusammenarbeit von Gott und Mensch verändern den Menschen, so dass sein Zustand wie „neugewebt“ (textura) erscheint. Mittels des Stichwortes textura, das bewusst an den Schluss des Abschnittes gesetzt wird, spielt Hildegard auf vielfältige Kleidermetaphoriken im Liber Scivias an.³⁵⁴

 Z  f: quoniam a Deo exivit plenum fructum suavitatis vitae afferens.  Z  – , Übersetzung von mir. Um einer besseren Verständlichkeit im Deutschen willen mussten leider die Partizipien in Hauptverben aufgelöst werden.  Im Liber Divinorum Operum schildert sie, wie die Apostel durch Tugendwerke, die sie als vas Spiritus Sancti vollziehen, Kleider des Heils weben, die sie an die Kirche übergaben, die aber in der Erzählzeit des Werkes verschmutzt und zerissen seien (Liber Divinorum Operum, Pars Tertia, Visio Quinta, cap. , Z  – ; cap. , Z , , ). So dient die Symbolhandlung des „Webens“ als

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Nicht nur haben die Gewänder der einzelnen Tugendfiguren in der Tertia Pars je eine spezielle Bedeutung. Sondern der Bildkreis vom Kleid dient als Metapher des Heils durch das Anziehen Christi (Röm 13,14) und des neuen Menschen in der Gnade (Eph 4,24).³⁵⁵ Die Gnade hilft, das macht die Wortstellung dieses Satzes deutlich, jenes Gewand des Heils anzuziehen. Hierbei eignet sich das Wort textura zugleich als Metasymbol,³⁵⁶ das wohl bewusst statt vestis gesetzt wurde: Gewoben ist nicht nur das Gewand, sondern verwoben sind – als gratia concomitans, cooperans – die Initiativen der Gnade und die Folgehandlungen des Menschen, die eine Struktur bilden, die als Veränderungen am Menschen greifbar werden. Die Gnade, die Heilung bringt, hüllt den Menschen in ihre eigene Atmosphäre des Heilseins, der integritas,³⁵⁷ durch die der Mensch sich wiederum eine Art Lebenshülle an eigenen guten Werken erschafft. Wiederum spielen in diesem Textabschnitt Raumdimensionen und Ortsveränderungen eine Rolle: Gnade spielt sich nicht nur innerlich ab, Gnade schafft nicht nur eine neue ontologische Qualität einer integren textura, sondern sie durchstreift materielle und immaterielle Dimensionen,³⁵⁸ um den Menschen in den Raum der himmlischen Dinge zu versetzen. Durch die Schilderung von Raumveränderungen und Bewegungen erscheint die Gnade hier als höchst aktive, dynamische Kraft.

3.3.3.3 Gratia Christi: Personale Gnade des Sohnes Die Gnade Christi³⁵⁹ kann in der Doppelung von genitivus subjectivus und genitivus objectivus interpretiert werden: Als die Gnade, derer Christus als Mensch teilhaftig

Darstellung des Zusammenhanges von apostolischer Lehre und Hingabebereitschaft der Apostel. Jener Konnex von Lehre und Lebenshaltung soll Vorbild für spätere Zeiten der Kirche sein.  Zur Kleidsymbolik bei Hildegard als Bild für die „Gnade der Schöpfungsordnung“ vgl. Gabriele Lautenschläger, Hildegard von Bingen. Die theologische Grundlegung ihrer Ethik und Spiritualität (Stuttgart: Frommann-Holzboog, ),  – .  Aus der wörtlichen Bedeutung entwickelte sich die Bezeichnung eines literarischen kohärenten „Gewebes“ als Text. (Vgl. Eckart Reinmuth, Hermeneutik des Neuen Testaments. Eine Einführung in die Lektüre des Neuen Testaments (Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, ), ). Möglicherweise lässt die Autorin mit dem Schlusswort der textura anklingen, dass durch den Text ihres Werkes der Leser inspiriert wird, eigene Werke für das neue Lebensgewand im Zusammenwirken mit der Gnade zu wirken. Für diese Deutung spräche, dass sie bevorzugt Symbolworte mit poetologischen Konnotationen für literarische Prozesse verwendet (zum Gewebe als poetologisches Symbol vgl. Erika Greber, „Gewebe/Faden,“ in Metzler Lexikon literarischer Symbole, Hg. Günter Butzer and Joachim Jacob (Stuttgart: J.B. Metzler, ): .)  Die Erzählfigur einer reductio ad integrum findet sich schon in Am ,. Dies erläutert Seybold, Klaus, Poetik der prophetischen Literatur im Alten Testament, Poetologische Studien zum Alten Testament  (Stuttgart: W. Kohlhammer, ), .  Die Autorin verwendet hier gezielt das Nomen zonae (Z ) in Verbindung mit Weg (ibd.: iter).  Dass „Gnade“ im allgemeinen und näherhin die Lehre von der „Gnade Christi“ als Haupt nach  Kor , „zu einem geradezu quälenden Thema geworden“ ist, deutet an: Otto Hermann Pesch, Die Geschichte der Menschen mit Gott. Teilband /, Bd. , Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung (Stuttgart: Matthias Grünewald, ), .

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wurde, und als die gratia Christi capitis, die von ihm aus den Menschen gewährt wird.³⁶⁰ Diese Vermittlung vollzieht sich über den Heiligen Geist.Weil der Heilige Geist dem Menschen Jesus Gnadengaben schenkt, was Hildegard ausführlich schildert, reicht Christus diese Gnaden an die Menschen weiter als spiritus vivificans. ³⁶¹ Auch Hildegard greift zum Wortfeld des Lebens, um den Zusammenhang zwischen dem Wirken des Geistes, dem Wirken Christi und dem Wirken der Menschen im Raum der Kirche zu kennzeichnen.³⁶² So nennt sie die Werke der Menschen, die durch die Gnade von Christus induziert sind, viventia opera. ³⁶³ Denn Christus vermittelt die Lebenskraft der Gnade, weil in seiner Menschheit die Gutheit seines Erlösungswerkes in der Lebenskraft und Tugendkraft der viriditas wirkte.³⁶⁴ Humanitas, bonitas, viriditas fügen sich so eng zusammen. Dabei sind im Begriff der viriditas sowohl die vitale Kraft auf der Ebene der Schöpfung als auch die gnadenhafte Kraft der Neuschöpfung zusammen gedacht.³⁶⁵ Was die Dichterin in diesen drei Begriffen zusammenfasst, faltet sie zuvor anhand jeder einzelner der sieben Gaben des Heiligen Geistes aus: Die Begnadigung des Menschen Jesus mit jeder von ihnen erklärt sie aus der Art, mit der er jede für das Heil der Menschen einsetzt. Dies sei am Beispiel der Gottesfurcht erläutert: Der Mensch Jesus wurde von ihr erfüllt, wie es seine Ehrerbietung (honor) gegenüber dem Vater bewies.³⁶⁶ Dadurch spendet er die Grünkraft für die Menschen, damit sie Gottesfurcht³⁶⁷ und weitere Tugenden zu üben.³⁶⁸

 Wie nur in der Erkenntnisordnung, aber nicht in der Wesensordnung zwischen der persönlichen Gnade des Einzelmenschen Jesus und der Gnade Christi als Haupt zu unterscheiden ist, erläuterte später Thomas von Aquin (STh III q  a ). Es wäre schade, und würde den Reichtum der Tiefendimensionen der Bedeutung von Gnade schmälern, wenn man über eine zu starke Verankerung der Gnadenlehre in der theologischen Anthropologie diesen Aspekt übersähe. Obgleich auch Otto Hermann Pesch Gnade unter dem Gesichtspunkt „Der ‚richtige‘ Mensch“ verhandelt, entgeht er dieser Gefahr, indem er „Erinnerungen und Warnungen aus der Geschichte“ (der Theologie) anschließt. (Otto Hermann Pesch, Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung, ,  – ).  Zum Zusammenhang von Gnade, Geist und Christus schon bei Augustinus vgl. Wolf-Dieter Hauschild, „Gnade, IV. Dogmengeschichtlich,“ in TRE  (): .  Hierzu verwendet sie zusätzlich den Bildbereich des Schmucks: Das Priesteramt Christi wird vermittels der Gnade durch die Tugendwerke der Menschen geschmückt (Z  – ).  Z  f: per viventia opera membra capitis sui effecti.  Z  – : quoniam eadem humanitas salvatoris ostendit in se altissimam et profundissimam bonitatem sui operis quod idem Filius Dei operatus est in viriditate illa, cum virtutes iam in doctrina eius virebant.  Zur Bedeutungsfülle der viriditas vgl. die instruktive Übersicht bei Heinrich Schipperges, Die Welt der Hildegard von Bingen. Panorama eines außergewöhnlichen Lebens (Freiburg: Herder, ),  sowie den Überblick über theologische Bedeutungsfacetten bei: Gabriele Lautenschläger, „,Viriditas’. Ein Begriff und seine Bedeutung,“ in Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten. Zum . Geburtstag, Hg. Edeltraud Forster (Freiburg: Herder, ): .  Z : honorans patrem suum.  Z  f: timorem Domini acquirunt.  Z  f: germinante viriditatem quarumcumque virtutum.

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Weil der Gott-Mensch die Fülle des Lebens und die Tugenden ist, wird er so als plenitudo zum Gegenbegriff zu dem zuvor schon im Visionsbericht beschriebenen leeren Ort.³⁶⁹ Jener wird nun als der Wohnsitz von Hochmut und Überschreitung des göttlichen Gesetztes beschrieben, der aber als eigentlicher „Nichtort“ wegen seiner Leere der Fülle der Erlösungstaten und der in den Menschen wirkenden Gnade weichen muss. Hildegard versteht die Gaben des Heiligen Geistes nicht als reine Geschenke in die Passivität der empfangenden Seelen hinein. Indem sie jene explizit mit den Tugendfiguren auf der Bildebenen identifiziert, postuliert sie, dass sie die Gläubigen nicht allein durch innere Erleuchtung³⁷⁰ zu neuen Erkenntnis- und Willensakten bringen, sondern zu konkret ausgeübten Tugendakten. Geschickt bezieht sie sich durch das Stichwort der forma auf die Diskussion ihrer Zeit, ob die Gnade nicht bloß eine Qualität oder ontologische Informierung (forma) der Seele sei, ohne eine Bewegung in der Seele selbst zu sein.³⁷¹ Dabei geht Hildegard in ihrer Stellungnahme recht subtil vor: Sie widerspricht nicht direkt! Jedoch gibt sie durch die Nennung des Fachterminus forma zu verstehen, dass ihr die entsprechenden theologischen Anfragen wohl geläufig sind. Sie schränkt jene Theorie aber durch ein vorausgehende quasi ein. Zudem umrahmt sie die Formel „quasi in forma sua illuminantes corda fidelium“³⁷² durch zwei Kola, die eher das Gegenteil implizieren: In einem vorausgehenden Relativsatz wird darauf hingewiesen, wie bereits im begnadeten Menschen Jesus Tugenden geoffenbart sind.³⁷³ Im nachfolgenden Satzteil werden die Gnadengaben durch die Stichworte in habitu ³⁷⁴ und dilatantes ³⁷⁵ als

 Z : quia ipse tantam plenitudinem virtutum in se habuit, quod in eo nullus vacuus locus inventus es, ubi aut mortifera superbia, aut delectatio honoris aut prevaricatio legis sedem invenire potuisset.  Z : illuminantes corda hominum.  Vgl. zur frühscholastischen Lehre von der Gnade als forma der Seele vor deren Selbstbewegung und Aktivität vgl. Otto Hermann Pesch, Die Geschichte der Menschen mit Gott. Teilband /, Bd. , Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung (Stuttgart: Matthias Grünewald, ), ,.  Z .  Z  f: quae aperte in eodem Unigenito Dei manifestatae sunt. Durch die Doppelung von aperte und manifestatae ist die Sinnspitze besonders betont.  Z . Habitus ist doppeldeutig: Gewandung auf der Bildebene, auf der Sinnebene gnadengewirkte Verfestigung einer Tugendhaltung, so dass nun entsprechende Akte mit Leichtigkeit spontan geübt werden können, und die Gewandtheit dieser Tugendausübung zum inneren Besitz eines Menschen wird. Indem die Autorin gleichzeitig von der Einmütigkeit der Tugendgaben und ihrer Ausweitung spricht (Z : in unitate fidei se dilatantes), vervielfacht sich die Sachbedeutung von habitus, indem zugleich innere Konzentration und Dimensionserweiterung anklingen, entsprechend der Dichte von Bewegungsaussagen im dichterischen Raum dieser Visio.  Z . Hier schwingt das Verheißungswort „dilatato corde“ aus dem Prolog der Benediktsregel mit (RB Prolog ). Die Erreichung dieses Zieles setzt nicht nur innere Dispositionierungen voraus, sondern die stete, jahrelange Übung der „Werkzeuge der guten Werke“ (RB ).

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dauerhafte Geneigtheit zum Ausüben von Tugendakten skizziert, also als weitaus mehr als eine passive Disposition zum Empfang der Gnade.³⁷⁶ Für diese Deutung spricht die ferner die Betonung der initiierenden Rolle der Gnade, die im folgenden Abschnitt beleuchtet werden soll.

3.3.3.4 Sum ei initium: ³⁷⁷ Gnade und Bekehrung Dass Hildegard in Kenntnis der gnadentheologischen Hauptfragen ihrer Zeit ein erstaunlich eigenständiges Konzept der Gnadenlehre vertritt, lässt sich besonders an der von ihr fingierten Selbstvorstellung der Gnade als in Bewegung setzender Beginn ablesen. Hierbei ist wieder eine Formel ego & sum & Apposition zu identifizieren, wie sie immer wieder im Liber Scivias für Selbstaussagen Gottes oder Christi verwendet wird:³⁷⁸ Ich teile Perlen des Guten aus, indem ich den Menschen mahne und ermuntere. Freilich so: Während die Einsichtskraft (intellectus) des Menschen durch mich berührt wird, bin ich ihm ein Anfang. Das heißt: Während der geistliche Sinn (sensus) des Menschen meine Ermahnung im Hören vernimmt (intellegit…auditu), so, dass auch der selbe geistliche Sinn zur Zustimmung (consensum) geführt wird zum Berührtwerden von mir, dann bin ich ihm ein Anfang des Guten, dass er beginnen muss, wobei ich ihm auf diese Weise eine Helferin bin.³⁷⁹

Wie auch in anderen Visiones wird das sich stufenweise entfaltende komplexe Beziehungsgeflecht von Gnade und Mensch in einem komplex durchstrukturierten Satzmuster ausgedrückt. In moderner Umgangssprache könnte man das beschriebene Phänomen als eine Art „Fein-Tuning“ zwischen Gott und Mensch betiteln, als eine Feinabstimmung zwischen Gnade und Mensch. Denn durch die dreimalige Nebensatz-Konjunktion dum wird ein Zeitkontinuum aufgebaut, in dem beide Größen simultan aufeinander reagieren. Der Autorin gelingt es so, sowohl durch das Nomen initium die primäre Initiative von seitens der Gnade zu betonen,³⁸⁰ als auch durch das Verb incipere das beginnende Tun³⁸¹ des Guten.

 Daher schließt sich an die Erörterung der Gaben des Heiligen Geistes an den Menschen Jesus eine Reflexion über deren „Früchte“ bei den Menschen an. Die Bildebene des gnadentheologischen Fachterminus fructus (Z ) wird genutzt, um durch einen Vergleich des „Obstbaumes“ Christus (Z  f) mit den menschlichen „Waldbäumen“ (Z ), die weniger Frucht bringen, einzuprägen, wie die Gnade Christi die Frucht der Süßigkeit des Lebens“ (Z : suavitas vitae) bringt.  Z .  Vgl. das Kapitel . dieser Arbeit.  Z  – .  Das Stichwort „initium“ fällt zweimal, gefolgt von dem geforderten incipere des Menschen.  Deutlich ist ausgedrückt, dass es nicht nur um innerliche Reue und Umkehr geht (Z ), oder um äußerliche Werke der Buße, sondern um neue Setzungen des Positiven. Dafür bürgt, gleichsam als schützender Rahmen einer neuen „Anfangszeit“ wieder ein Zeitrahmen, der durch die Konjunktionen dum – tunc aufgespannt ist und auf den das Signalwort tempus aufmerksam macht: Unde in eodem tempore, dum homo potest incipere in incendio donorum insignis preaconii quod de me oritur, tunc ad

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Satzgefüge mit den Konjunktionen dum – tunc: Zeitkontinuum, in dem Gnade und Mensch simultan einen Anfang setzen

Dem Beginn der Gnade soll der Beginn der menschlichen Tugendaktivität entsprechen. Um dieses Zusammenspiel in Gang zu setzten, müssen beide Seiten tätig sein.³⁸² Dabei eilt aber die Gnade dem Menschen voraus, in dem sie ihm zu einer möglichen Zustimmung verhilft. Dies kleidet Hildegard mit den Stilmitteln der figura ethymologica und der Assonanz in das Wortspiel von sensus und consensus. ³⁸³ Für die genauere Erläuterung dieses Geschehens wählt die Dichterin Worte aus, die in ihren Konnotationen der Heftigkeit zeigen, dass es für beide Seiten um viel geht: Da der Mensch die Möglichkeit hat, sich der Gnade zu verweigern,³⁸⁴ kann es zu einer Art „Ringkampf“³⁸⁵ zwischen Mensch und mahnender Gnade kommen. Daher ist es eigentlich die Gnade, die wie ein „Feuerbrand“ mit der Möglichkeit eines guten Werkes beginnt und diese zur möglichen Durchführung an den Menschen weiterreicht.³⁸⁶ Da ein Schwerpunkt des hildegardianischen Bildes von der Gnade auf die Ermutigung zu einem Anfang gesetzt ist, honoriert die Gnade freilich auch unbeholfene und zögerliche Anfangsversuche des Menschen.³⁸⁷ Um dies zu verdeutlichen, führt die Autorin gemäß ihrer literarischen Strategie einer Renarratisierung theologischer Fachtermini den Begriff der gratia medicinalis narrativ in Ausschilderungen medizinischer Rhetorik zurück. Die Gnade wird mit einer

illud properet ac etiam citius veniat voluntas in bonis et perficiat opus hoc in claritate. (Z  – ; vgl. Z : ut incipiat operari iustitiam).  In gewisser Weise nähert sich Hildegard hier der Position der zeitgenössischen theologischen Schule der Porretaner, auf die verwiesen wird bei Artur Michael Landgraf, Dogmengeschichte der Frühscholastik Bd. / (Regensburg: Pustet, ),  unter Bezug auf Petrus von Poitiers, Sent  lib  c  (PL ,  D).  Z  f: sensus ducitur ad consensum.  Z : Si autem voluntas his donis repugnat, tunc ad nihilium deducuntur haec quae memoravi.  Z  f: Tunc et ibi colluctatio est, ut vel perficiatur quod do, vel non. Dieser Motivkreis hängt mit der von der Speise des Lebens zusammen. Daher wird als Vorbild für die Willenszustimmung des Menschen Joh , zitiert. (Z  f. Der Einschub „Scriptura habet de Filio Dei dicente“ (Z ) ist ungewöhnlich knapp, gemessen an häufigeren feierlicheren Formulierungen wie den folgenden: SV, Pars Secunda, Visio Quinta, Z  f: ut in evangelio de Iohanne lucerna mundi scriptum est; Pars Secunda, Visio Quinta, Z : quemadmodum dilecto Iohanni…ostenditur; oder: Pars Tertia, Visio duodecim, Z  f: ut etiam Iohannes dilcectus meus testatur dicens. Möglicherweise entstammt er einer früheren Bearbeitungsstufe des Werkes, in der Kurzsätze als Platzhalter für spätere längere durchstilisierte Formeln stehen, zum Beispiel während des Diktates auf Wachstafeln.  Z  f: Nam ego do bonum in initio et calefacio illud in mente tribuoque opus voluntati ad perficiendum.  Z  – : Hic homo dubie suscepit me: nolo tamen eum derelinquere, quia quamvis sic susciperet me, tamen non omnino despexit me. Unde et ego non frustra laboravi in ipso; Z  – : Ego tamen nolo eundem nomine deserere, sed meo adiutorio et proelio volo esse pro ipso in certamine, ubi suaviter primum incipio tangere.

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Ärztin verglichen, die sich nicht scheut, ekelerregende Wunden zu berühren.³⁸⁸ Dies wird zu der Spitzenaussage gesteigert, dass die Gnade sich kenotisch der menschlichen „Fäulnis“ anschließen will, wenn sie auf einsichtige Menschen trifft.³⁸⁹ Für diesen Fall lässt die Autorin die Gnade sogar versprechen, dass sie auf die Wünsche der Menschen eingehen würde.³⁹⁰ Dieser kurze Nachsatz bietet wiederum ein Beispiel, wie Hildegard gewagte, weitreichende Äußerungen gleichsam nebenbei vorbringt. Um der Barmherzigkeit Gottes willen ergreift die Gnade nicht nur die Initiative, sondern passt sie sich der jeweiligen Empfangsbereitschaft des Menschen an. Darin erhellt sich der Zusammenhang vom Bild der Gnade als initium und der Anschauung vom Leben:Wer sich von der Gnade ansprechen lässt, entscheidet sich für den Rückweg vom Tod zum Leben.³⁹¹ Wer die Gnade nicht flieht, und sie nicht verachtet, dem steht das ewige Leben offen.³⁹² So schlüssig jene Sachzusammenhänge in der Darstellung Hildegards klingen, so erstaunlich sind sie trotzdem für eine Autorin des 12. Jahrhunderts! Denn in der Forschung geht man gemeinhin davon aus, dass die spätantike Bestimmung der Gnade als initium auf der Synode von Karthago 418 (DH 227) und dem 2. Konzil von Orange 529 (DH 373, 375)³⁹³ zur Lebenszeit Hildegards längst in Vergessenheit geraten wäre.³⁹⁴ Hatte Hildegard Zugriff auf entsprechende Texte in uns noch nicht bekannten Florilegien? Oder wusste sie nur vom Stichwort initium, auf Wegen, die sich schwer eruieren lassen, und entwickelte sie daraus einen Dreh- und Angelpunkt ihrer Gnadenlehre, da jener der Intention ihres Werkes als einer der Initialgnade korrespondierenden „Anfangshilfe“ besonders gut entspricht? Auf jeden Fall zeigt sie hier Weitblick und Entschlossenheit zu einer gegenüber ihren Zeitgenossen völlig eigenständigen gnadentheologischen Konzeption!

 Z : Taedio enim mihi non est tangere ulcerata vulnera.  Z  f: ubi me etiam adiungo humanae putredini.  Z  f: illis parata sum facere quidquid volunt.  Z : vita aeternae felicitatis.  Z  f: quia tunc idem homo mea admonitione sic evigilavit de somno mortis, quam sibi pro vita elegerat.  Begriff des initium fidei in DH . Allerdings erweitert Hildegard – wie oben dargestellt – den Begriff des Anfangs hin zu einem initium des guten Werkes.  So urteilt zum Beispiel Piet Fransen, „Dogmengeschichtliche Entfaltung der Gnadenlehre,“ in MySal / (Einsiedeln: Benziger, ), ; ähnlich: Eva-Maria Faber, „Orange. ) Synoden,“ in LThK  : .

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3.3.3.5 Beistand und Entzug: Erfahrungen der Gnade Wenn auch Hildegard keiner subjektiven Erlebnismystik zuzuordnen ist,³⁹⁵ so blitzen in ihrem Werk doch Widerspiegelungen und Reflexionen über subjektive Erfahrungen der Gottesbeziehungen hervor. Allerdings werden sie durch verobjektivierende Einkleidungen verschleiert. So lässt die Autorin in der Visio Octava die Gnade in der dritten Person über die Gnadenerfahrungen der Menschen sprechen. Möglicherweise wählte sie mit deswegen diese Darstellungsform, um günstiger geistlichen Trost spenden zu können: Einen Rezipienten könnte es besser überzeugen, wenn bestimmte religiöse Erlebnisse als geistliche Gesetzmäßigkeiten gedeutet werden, statt dass er zur Zustimmung zu einer subjektiven Einzelerfahrung eines anderen genötigt würde, die ihm vom vornherein unter Verdacht stünde, nicht auf seine Situation übertragbar zu sein. In den Textabschnitten, in denen die individuellen Wirkungen der Gnade auf den Menschen geschildert werden, erscheint die Gnade eher vom Geist statt von Christus her gespendet zu werden. Hingegen wird bei Aussagen über ekklesiale Konkretisierungen der Gnade und über ihren Dienst, zu guten Werken anzustiften, eher die Vermittlung der Gnade durch Christus betont. Hierbei sind jene Bezüge nie als konträrer Gegensatz verstanden, sondern als komplementäre Ergänzung von Sichtweisen. Die Gnade muss deswegen auch in ihren Erfahrungsweisen durch das einzelne Individuum betrachtet werden, da es ihr Wesen ausmacht, in den Seeleninnenraum des Menschen hinein zu wirken. Sie ist Erleuchtung der Seele, lumen animae. ³⁹⁶ Βereits bei Augustinus wird im Gefolge der johanneischen Bildwelt (Joh 8,12) der Zusammenhang zwischen Illumination und einem christologischen Lebensbegriff aufgespannt.³⁹⁷ Nachdem die Formel audite et intellegite quer durch den Liber Scivias ausgerufen wird, um den Leser zu innerer Einsicht zu bewegen,³⁹⁸ verdeutlicht nun die Selbstvorstellung der Gnade, dass es einer gratia illuminans bedarf, um diese Akte zu vollziehen.³⁹⁹

 So zum Beispiel das Votum von Peter Dinzelbacher, Deutsche und Niederländische Mystik des Mittelalters. Ein Studienbuch (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, ), .  Z : quia illis do lumen animae.  Augustinus, De Trinitate IV, , , CCL , S , Z  – : Has ut curaret atque sanaret verbum, per quod facta sunt omnia, caro factum est et habitavit in nobis. Inluminatio quippe nostra participatio verbi est, scilicet vitae quae lux est hominum. Vgl. Josef Weismayer, „Erleuchtung. III. Systematisch-theologisch,“ in LThK  : . Freilich ist bei dem Rekurs auf Augustinus zu unterscheiden, wo er erkenntnistheoretisch von einer natürlichen Erleuchtung des Verstandes und wo er gnadentheologisch von einer Geisterfahrung spricht, wobei eine Überlagerung beider Ebenen nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann.  SV Pars Prima, Visio Secunda, Z , .  Z  f: Gratia Dei sum, filioli mei: ideo audite et intellegite me, quia illis do lumen animae qui me intellegunt in admonitione.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

Die Gnade wird mit einem inneren geistlichen Sinn wahrgenommen, insofern eine Veränderung der inneren Gesinnung (animus) zu bemerken ist.⁴⁰⁰ Dies wäre mit dem Vorgang zu vergleichen, wenn die äußeren Sinne etwas wahrnehmen und der Mensch seine Schritte dementsprechend lenkt.⁴⁰¹ Ähnlich reagiert die innere Gesinnung mit einer Veränderung von Gewohnheiten auf die Ermahnung der Gnade.⁴⁰² Die Gnade erklärt sich in der Darstellung Hildegards explizit gegenüber denen, die sie offen aufnehmen wollen. Hierbei wechselt die Sprachform kurzfristig zu einer direkten Anrede im Vokativ,⁴⁰³ um dann wieder in Aussagen über sie in der dritten Person überzugehen. Zunächst wird ein Zustand gegenseitiger Immanenz beschrieben: Während sie meine Gegenwart spüren, freuen sie sich in mir und ich mich in ihnen!⁴⁰⁴

Hierzu fallen bereits bekannte Stichworte und Bildvergleiche.⁴⁰⁵ Darunter ist wieder das Psalmwort vom Hirschen, der zur Wasserquelle eilt (Ps 41(42),2).⁴⁰⁶ Doch schnell wechselt die Atmosphäre: Die Gnade erklärt, warum sie gerade denen, die sich nach ihr sehnen, oft das Gefühl gibt, von ihr zu verlassen zu sein.⁴⁰⁷ Ja, sie lässt geradezu ihre innere Gesinnung leiden und ihre Herzen verletzt werden.⁴⁰⁸ So soll geistlicher Hochmut unterbunden werden und geistliche Fruchtbarkeit ermöglicht werden.⁴⁰⁹ Also klingen Erfahrungen der Trockenheit an. Ebenso können Spuren einer geistlichen Leidensmystik herausgelesen werden. Sobald es jedoch um die einzelnen Gnadengaben geht, wird rein die Positivität der Unterstützung durch den Heiligen Geist hervorgehoben: Wiederum in Konnex mit dem Bild der lebendigen Wasserquelle wird die Stärkung der Seele durch den Heiligen Geist geschildert.⁴¹⁰ Sie wird von ihm gehegt und inspiriert.⁴¹¹ Mithin werden die Andeutungen von Erfahrungen des Entzuges von spürbarer Gnade wie in einem Seitenblick eingestreut, wodurch vorwegnehmend Anfragen des

 Z  f: quoniam homo in sensu suo…sentit mutationem animi sui.  Z  – .  Z  – : et si tunc voluntas suscepit admonitionem meam, mox ipsa elevat se…ita quod idem sensus discit ignota in sua consuetudine.  Z : O flores mei!  Z f: qui dum me adesse sentiunt, subito gaudent in me et ego in illis.  Z : pretiosas margaritas; Z : Die Gläubigen als nobilissimi quadrati lapides.  Vgl. in dieser Arbeit Kapitel ..  Z : Sed ego saepe relinquo eos, ita quod ipsis videtur quasi sint sine adiutorio.  Z  f: animis ipsorum dolentibus ac cordibus eorum vulneratis in doloribus.  Z  f: ut exterior homo in eis non infletur per superbiam; Z : quia multiplices fructus in eis facere volo.  Z  f: confortata per Spiritum sanctum…in clarissima albedine fontis aquae vivae.  Z  f; Z  f.

3.3 Ein originelles Kompendium der Gnadenlehre in der Visio SV III,8

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Lesers aufgegriffen werden und die Schilderungen einen stärkeren Charakter von Lebensechtheit gewinnen.

3.3.3.6 Reaedificando ad vitam: ⁴¹² Die Finalität der Gnade Die theoretischen Ausfaltungen der Gnadenlehre im Mittelalter haben durchaus im Sinne der Korrelation Auswirkungen auf das ganz konkrete Alltagsleben.⁴¹³ Man kann, mit den Worten von Otto Hermann Pesch …philosophisch-theologisch interpretieren, wie das Leben in der Gnade Gottes ganz selbstverständlich und freudvoll, mit einem Wort: menschlich vollendet sein kann.⁴¹⁴

Bereits im Johannesevangelium wird die Kraft der Gnade verheißen, Leben neu zu schenken. Der Zusammenhang zwischen Gnade und Leben besteht darin, dass Christus das Leben ist (Joh 1,4), ein Leben, aus dessen Fülle die Gnade entspringt (Joh 1,16).⁴¹⁵ Gerade die Untersuchung der Wirkweisen der Gnade prägt einen christlichen Begriff von Leben. Dies wird, wie schon Martin Grabmann 1922 – noch vor der Frühphase des Existentialismus – herausstellte, bei niemand geringerem als Thomas von Aquin deutlich.⁴¹⁶ Hinweise auf die Lebensdienlichkeit der Gnade durchziehen das ganze dogmatische Lehrbuch von Michael Schmaus über die Gnadenlehre. So könnte die christliche Gnadenlehre als Angebot einer Antwort auf den „Schrei nach Leben“⁴¹⁷ in der Existenzphilosophie verstanden werden. „Weil die Gnade das innerste Leben Gottes nachformt“,⁴¹⁸ fördert sie ein Leben in Fülle.⁴¹⁹  Z : reaedificando in paenitentia peccatores ad vitam.  Vgl. Rebecca Milena Fuchs, „Heiliger Geist. Dichtung. Lebenswelt. Überlegungen und Beispiele aus der Lyrik zu des ‚Lebens Leben Geist‘“, in MThZ  ():  f.  Otto Hermann Pesch, Die Geschichte der Menschen mit Gott. Teilband /, Bd. , Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung (Stuttgart: Matthias Grünewald, ), .  Im Text der Vulgata Joh ,: Et de plenitudine eius nos omnes accepimus et gratiam pro gratia.  So das Kapitel „Das übernatürliche Gnadenleben als Teilnahme am inneren göttlichen Leben“ in der Monographie: Martin Grabmann, Die Idee des Lebens in der Theologie des hl. Thomas von Aquin (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ),  – . Grabmann lässt es in die Beschreibung der gnadengewirkten Gottesfreundschaft nach Thomas von Aquin münden. Ebenso wird in einer jüngeren Dissertation in den Kapitelüberschriften der Bezug von Gnade und Leben angedeutet, bei Aloisia M. Levermann, Wachsen in der Gottesfreundschaft. Theologie des Verdienstes bei Thomas von Aquin, Theologie im Dialog  (Freiburg: Herder, ). Dort soll anhand der aquinatischen Lehre gezeigt werden, wie die Gnade einen „Lebenshorizont“ bildet, wie sie „Lebenskräfte“, „Lebensentfaltung“, „Lebenserneuerung“, „Lebensmitteilung“, „Lebensvollendung“ schenkt. Leider wird aber in dieser sehr klar aufgebauten Arbeit nicht näher auf den Begriff des Lebens bei Thomas von Aquin eingegangen.  Michael Schmaus, Die göttliche Gnade, Bd. /, Katholische Dogmatik (München: Max Hueber, ), .  Michael Schmaus, Die göttliche Gnade, Bd. /, Katholische Dogmatik, .  Michael Schmaus, Die göttliche Gnade, .

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

So nimmt die Gnade in der literarischen Gestaltung der Visio Octava den Menschen mit in ihre Bewegung des Ausgangs von Gott und der Rückkehr zu Gott hinein: Insofern die Handlung der Gnade Handlung Gottes ist, entspringt sie der Quelle des Lebens.⁴²⁰ Darum eignet ihr ein offenbarender Charakter.⁴²¹ Dies wird vom Menschen aus begründet: Gnade kommt dem Menschen entgegen, dessen Lebensdurst sich erfüllen darf.⁴²² Der Weg zur Quelle versinnbildet den Wandel im Glauben an die Barmherzigkeit.⁴²³ Der Bildlichkeit der Gnade und der Antwort des Menschen korrespondieren vom inneren Sinn her Metaphern der Bewegung: Das Fließen der Wasserquelle versinnbildet als visuelle Ausschmückung das Theologumenon von der gratia infusa. ⁴²⁴ Sowohl das Wirken der Gnade als auch die antwortenden Erkenntnisse, Willensentschlüsse und Handlungen des Menschen werden durch die Bildmotive von „Weg“ und „Ziel“ als Prozesse gekennzeichnet, die auf Vollendung hinstreben. Dabei ist der Weg christologisch als „Weg der Wahrheit“, der letztlich Christus selbst ist,⁴²⁵ bestimmt. Formulierungen der via veritatis spielen auf dem johanneischen Ternar von Weg,Wahrheit und Leben an (Joh 14,6) und geben so einen indirekten Hinweis darauf, dass der Weg der Gnade zum Leben führt.⁴²⁶ Da Wahrheit eine Komponente jenes Ternars ist, legt Hildegard Wert darauf, dass der Mensch Tugendhandlungen, die durch die Gnade inspiriert und unterstützt werden, in weiser Erkenntnis reflektiert, um sich so auch schon auf dem weltlichen Weg⁴²⁷ ein „Lebenshaus“ zu bauen.⁴²⁸ Mithin tragen Gnade und Mensch gemeinsam dazu bei, dass sich das Leben in Fülle⁴²⁹ und Glück⁴³⁰ vervollkommnet.⁴³¹

 Z : fluit de fonte vitae aeternae.  Z  – : quia obstrui et abscondi non potest…Nam ut fons non debet esse in absconso sed in manifesto…  Z  f unter Bezug auf Joh ,: ut omnis homo qui sitit ad ipsum veniat et hauriat atque bibat.  Z  f: Idcirco fidelis homo ambulet in fide ad Deum quaeratque misericordiam eius.  Diese Grundbewegung spiegelt sich in durch die Gnade unterstützten Erkenntnisakten des Menschen, in denen sich die unterscheidende Erkenntnis der Weltdinge zur Gotteserkenntnis im Glauben aufschwingt: Z  – : Unde et ob has causas effundit et infundit homo, hoc est quod ipse in intellectu suo scienter comprehendit discretionem in creaturis, ita quod novit quae sint amabiles et odibiles et quae utiles et inutiles, et quod etiam post haec in fide, qua ipse Deum intellegit, concluduntur omnes opera ipsius.  Z  f: currite et properate…in via veritatis…quae est Iesus Christus Filius Dei.  Z  f: pergit lucidissimum iter Christi, ita mortem etiam in semetipsis per igneum ardorem spiritus sancti suffocans.  Z  f: per viam saecularem…volo redire ad Deum.  Z  f: sapienter domum sibi in vita aedificans.Wahrlich kein Zufall ist hier die Anspielung auf Spr ,: sapientia aedificavit sibi domum excidit columnas septem. Denn dieser Vers birgt die Metaphorik der Säulen als Symbol für die sieben Gaben des Heiligen Geistes in sich.  Z : multa fructuositate exuberat.  Z : vita felicitatis.  Z : perveniat ad perfectionem vitae.

3.4 Trinität als Quell des Lebens in der Visio II,2 des Liber Scivias

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3.4 Die Fülle, die keinen Anfang hat, der gesehen werden kann: ⁴³² Trinität als Quell des Lebens in der Visio II,2 des Liber Scivias 3.4.1 Textstruktur als fundamentaltheologische Aussage: Trinität und Offenbarung in der Heilsgeschichte 3.4.1.1 Blicke in den textlichen „Grundwasserspiegel“ des Liber Scivias: Fons vitae als Bildsignal für eine soteriologische Christozentrik Die Visio Secunda des Zweiten Teils des Liber Scivias ist eine der kürzesten des Liber Scivias. Die Schilderung des Visionsbildes für Trinität besteht aus zwei Sätzen und ist in ihrer Bildlichkeit vor allem von Licht- und Feuerfarben und der Gestalt eines Menschen geprägt. In der vorausgehenden Vision des Zweiten Teils geht es um den Gott-Menschen, in der folgenden um die Kirche. In einer weiteren Vision des dritten Teiles, in Visio SV III,7, wird ebenfalls die Trinität illustriert. Dort ist sie im Bild einer dreikantigen Säule in die sukzessive Ausdeutung des Gebäudes des Heils eingefügt. Zwar gibt es dichte inhaltliche Berührungspunkte beider Visionen, wenn sie, jeweils anhand von Zitaten aus dem ersten Johannesbrief, Trinität als Lebensquelle erläutern. Doch spricht die Visio des Dritten Teils verstärkt Appelle aus, während die Vision des Zweiten Teils eher auf einer spekulativen Ebene argumentiert. Daher werden in dieser Analyse Vergleiche zur Visio Septima des Dritten Teiles gezogen werden. Damit kann die Vielfalt von Sprachebenen und Abstraktionsniveaus innerhalb des Liber Scivias präsentiert werden. Bereits aus der Platzierung dieser beiden Visionen innerhalb des Gesamtwerkes ergeben sich einige indirekte Aussagen über die Bezogenheit von Trinität, Welt und Kirche: Das Visionswerk beginnt nicht gleich mit Schauungen zur Trinität, sondern kommt erst nach einer Passage zur Christologie auf sie zu sprechen. Dabei wird keine rein theoretische Abhandlung angestrebt. Sondern trotz eines durchaus spekulativen Anspruchs legt Hildegard eine Trinitätstheologie für die Praxis des menschlichen Lebens vor. Dies wird in diesem Abschnitt an konkreten Textbeispielen gezeigt werden, die auf den Begriff des Lebens bei Hildegard hin ausgewertet werden. Die Reihenfolge Christologie – Trinitätslehre – Ekklesiologie in Aufbau des Liber Scivias will deutlich machen, wie Dreifaltigkeit als Glaubensgut nur über die Offenbarung zugänglich wird. Darum weist die Autorin in beiden Visiones immer wieder auf

 Hildegardis Bingensis Liber Scivias, Pars Secunda, Visio Secunda, Z  f: plenitudo illa quae numquam visa est in ortu.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

den Zusammenhang zwischen Trinität und Offenbarung hin.⁴³³ Dies soll nach weiteren einleitenden Bemerkungen am Ende dieses Unterkapitels skizziert werden. Durch den methodischen Grundentscheid dieser Untersuchung, nicht visionsübergreifende Aussagen zu einem theologischen Traktat herauszudestillieren, sondern Schwerpunktthemen in ihrer sprachlichen Struktur innerhalb einer einzelnen Vision zu analysieren, erscheint eine Tiefenstruktur des ganzen Liber Scivias, die man sonst übersehen könnte: Jede Vision umkreist das Sprachbild des fons vitae, der Quelle des Lebens. Diese johanneische Metapher wird auf die Erlösung durch das Kreuzesopfer hin ausgedeutet.⁴³⁴ Es ist die Grundbewegung des „Fließens“,⁴³⁵ über die mehrere theologische Sachzusammenhänge durch dieses Bild einer heilenden Kraft (medicinalis vis)⁴³⁶ repräsentiert werden und in einen Kausalzusammenhang gestellt werden. Denn mit der „Quelle“ verbindet sich im Bildwort des „Durstes“ die Bedürftigkeit der Menschen, die Opfertat des Gott-Menschen und die Verheißung von überfließender Fülle, ansatzhaft hier und vollendet in der ewigen Fülle. Wird so vom Menschen und seinem Lebenshunger nach Vervollkommnung aus gedacht, so wird zugleich der Bogen gezogen zum eigentlichen Quell des Lebens, der Trinität.⁴³⁷ Hildegard interpretiert⁴³⁸ das johanneische Bildwort von der „Quelle“ als umsorgende Liebe Gottes mit mütterlichen Zügen. Der Begriff des Lebens ist hier mehrfach

 SV Pars Tertia,Visio Septima, Z  – : In universo mundo ineffabilis Trinitas in unitate deitatis apertissime apparet, ne ulli creaturae suae imperio et potestate absconsa apparet.  Z  f: unde etiam de illo dulcissima materia sudavit, de qua omnia bona salvationis fluunt.  Eine erste Andeutung davon schon im ersten Satz der Visionsdeutung Z  f: quae plantavit omnes rivulos fortium.  Z : quae est medicinalis vis. Z : vero Verbo Dei testimonium sanctae Trinitati atque vivificae salvationi quae fit per aquam regenerationis ad vitam reddente.  Ähnlich wird dies in einem Gedicht Hildegards hervorgehoben, das dreimal – entsprechend der Dreifaltigkeit – der Trinität das Attribut vita zuweist, platziert an Beginn, Mitte und Ende des Liedtextes, so dass durch diese literarische Struktur die Trinität als Schöpferin, innere Durchdringung und Ziel allen Lebens erscheint: Laus trinitati/que sonus et vita/ ac creatrix omnium/in vita ipsorum est/…/et quae in omnibus vita est. (Hildegard von Bingen, Symphonia. Gedichte und Gesänge, lateinisch und deutsch,Übers. u. Hg.Walter Berschin und Heinrich Schipperges (Gerlingen: Lambert Schneider, ), .) Zwar liegt mittlerweile eine weitere kritische Edition in Hildegardis Bingensis Opera Minora, CCM , Ed. Peter Dronke et alii (Turnhout: Brepols, ) vor. Doch da auch Berschin und Schipperges einen Lesetext aus einem begründet kollationierten und umfassend berücksichtigten Handschriftenmaterial erstellten, ziehe ich diese Ausgabe heran. Zu Mängeln des editorischen Berichtes in CCM  bezüglich der Symphonia vgl. Michael Embach, „Rezension zu: Hildegardis Bingensis Opera Minora (CCM ), Turnhout ,“ in Archa Verbi. Yearbook for the Study of Medieval Theology  (): .  Hierbei wechselt sie unkommentiert entsprechend des Sprachduktus der kommentierten Passage  Joh , (Z  – ) von der Ichrede Gottes in die erste Person Plural, gleichermaßen deutbar als IchPerspektive der Seherin beziehungsweise der Autorin, die sich an ihr Publikum wendet, sowie als Mitsprechen von Autorin und Lesern mit dem neutestamentlichen Autor. (Jener wird von Hildegard mit dem Evangelisten Johannes und dem Lieblingsjünger identifiziert und oft mit der Formel zitiert: Z  f: quemadmodum Iohannes dilectus meus protestatur dicens).

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Bezugspunkt für die heilsgeschichtlichen und lebensgeschichtlichen Erlebnisformen der Sorge Gottes für das Leben der Menschen: Denn durch diese Quelle des Lebens (per ipsum fontem vitae) kommt die mütterliche Zuneigung (materna dilectio) der Umarmung Gottes, die uns zum Leben hin ernährt (quae nos ad vitam enutrivit) und die in Gefahren unsere Helferin (auxiliatrix) ist. Sie ist die allertiefste und allersüßeste Liebe von Gott (caritas), die uns zur Umkehr belehrt und auferbaut (instruens). Auf welche Weise? Gott hat sich barmherzig erinnert (misericorditer recordatus est) an sein großes Werk und die äußerst wertvolle Perle, den Menschen, den er aus dem Lehm der Erde formte und dem er den Lebensatem einhauchte (spiraculum vitae inspiravit). Auf welche Weise? Er selbst errichtete und lehrt das Leben in der Buße (instruxit vitam in paenitentia).⁴³⁹

Leben, das letztlich Gott selbst verbürgt, kommt einerseits bergend auf den Menschen zu. Da es als von Gott geschaffenes Leben eine innere Struktur hat, impliziert diese geschenkte Struktur auch Forderungen, den Lebensvollzug nach ihr auszurichten. Über den Begriff des Lebens sind Ontologie und Ethik, Sein und Sollen in der Anschauung Hildegards eng verbunden. Daher wird Trinität von Hildegard in beiden Visiones von der plenitudo ⁴⁴⁰ aus entwickelt, vom Gedanken einer Überfülle,⁴⁴¹ die Einheit nur als Einheit in Differenz denken lässt.⁴⁴² Diese theoretische Begründung mündet in die Qualifikation von der Einheit in der Dreiheit als Höchstform der Ästhetik.⁴⁴³ Da Trinität als Lebensquell

 Z  – . Das Verb instruere beinhaltet die Bedeutungsschattierungen von „errichten“, „auferbauen“, „belehren“. Hierbei schwingt eine Assonanz an das Gebäude des Heils, also an die Kirche mit. Dass das ganze Leben des Menschen Umkehr und Buße sei, wird Jahrhunderte später  Luther am Beginn seiner  Thesen aussprechen (Martin Luther, Disputation zur Erläuterung der Kraft des Ablasses, in Aufbruch zur Reformation, Bd. , Ausgewählte Schriften I (Frankfurt am Main/Leipzig: Insel, ), These ).  Als erster Gegenstand der Visionsdeutung wird plenitudo benannt (Z ).Vgl. SV Pars Tertia,Visio Septima, Z  – . In Z  wird über das Stichwort der viriditas der Bezug zum Lebensbegriff hergestellt. Die Vorrangigkeit der Einheit, aus der die Vielheit wie aus einer Quelle „herausfließt“, ist eine axiomatische Grundregel der Theologie des Zeitgenossen Alanus von Lille (Alain von Lille, Regula Theologiae. Regeln der Theologie, Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters , lateinisch/ deutsch, Übers. und eingeleitet von Andreas Niederberger und Miriam Pahlsmeier (Freiburg im Breisgau: Herder ), Regula I.., ).  Jener Gedanke der Über-Fülle ist nicht naiv optimistisch gesetzt, sondern weiß um die Abgründe entgegengesetzter Vorstellungen: Z : Nam si Dominus vacuus esset propriae viriditatis suae, quid tunc esset opus illius? Der Gegenbegriff der „Leere“ ist, wie im vorherigen Kapitel dieser Arbeit beschrieben, Strukturmoment im vorläufigen Gebäude des Heils.  SV Pars Tertia,Visio Septima Z  – : Unde considerandum est, quia si ex his tribus personis duae vel una deesset, non esset Deus in plenitudine sua. Ähnlich SV Pars Secunda, Visio Secunda, Z  – : Nam Pater est Pater, Filius est Filius, Spiritus sanctus est Spiritus sanctus, hae tres personae in unitate divinitatis indivisibiliter videlicet vigentes.  SV Pars Tertia, Visio Septima Z  – : Nam quamvis eaedem personae distinctae sint, tamen sunt una et integra atque incommutabilis substantia inaestimabilis pulchritudinis permanens in indivisa unitate. An diesem Zitat lässt sich ablesen, dass ebenso die integritas des Menschen aus der integritas der Einheit der drei Personen der Dreieinigkeit deriviert. Dieser Grundgedanke könnte in

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höchste Schönheit ist, werden ebenso Aussagen über gesteigertes Leben für den Menschen mit ästhetischen Kategorien getroffen: Denn der Sohn Gottes…wurde Mensch, um den Gläubigen den Glanz und den Schmuck des Lebens zuzueignen.⁴⁴⁴

Folglich weist die Bildlichkeit des Wasserquells darauf hin, dass ein Schwerpunkt des trinitätstheologischen Denkens Hildegards auf der heilsökonomischen Trinität liegt, von deren Werken aus auf Aussagemuster über die immanente Trinität zurück geschlossen wird.⁴⁴⁵ Somit wird Trinität als Form der Offenbarung in Worten und Taten der drei göttlichen Personen in der Heilsgeschichte geschildert. Von diesem Ansatz her wird Trinitätstheologie entfaltet, damit der Mensch den dreieinen Gott in Gebet und Werken verehrt.⁴⁴⁶ Umgekehrt werden Kriterien über Feststellungen über die Trinität aus der Kongruenz mit Glaubensnormen abgeleitet. Dass Glaube zugleich ein theoretischer und praktischer Vollzug ist, dass fides quae und fides qua keinesfalls in Gegensatz stehen müssen, drückt Hildegard in einer kurzen Passage der Visio Octava der Pars Tertia innerhalb von zwei sorgfältig gefügten Sätzen aus: Der Glaube spricht: Gott ist zu verehren als einer in drei Personen, die von einer Wesenheit und von derselben Herrlichkeit sind. Also werde ich Treue und Zuversicht zu Gott haben, und in Ewigkeit werde ich seinen Namen nicht in meinem Herzen zerstören. ⁴⁴⁷

Am Anfang dieser Satzpassage steht unus, am Ende corde meo, in der Mitte fides. Das Wissen um die Einheit in der Dreiheit und die Verinnerlichung dieses Glaubenssatzes rahmen den Glauben. In einer kurzen Selbstvorstellung des Glaubens wird der Glaube sowohl als Festhalten am Grundaxiom der Dreifaltigkeit wie als Haltung des Vertrauens qualifiziert. Dabei bilden objektive Glaubenswahrheit und subjektive Verinnerlichung keinen Gegensatz. Sondern sie gehen eine harmonische Verbindung ein, die sich in innerem und äußerem Kult ausdrückt.⁴⁴⁸ Diskussionen über den spezifischen Beitrag des christlichen Glaubens für die Menschenwürde fruchtbar gemacht werden:Trinität als Exemplar- und Finalursache von Heilsein, Ganzsein, UnzerissenSein des Menschen.  SV Pars Tertia, Visio Septima Z  f: ad conferendum credentibus candorem et decorem vitae. Stilistisch sind hier wieder die Alliteration aus C-Lauten zu beobachten und die betonte Schlussstellung von vitae.  Dies Grundoption fällt bereits im Eingansabschnitt der Visionsdeutung, noch vor einer trinitätstheologischen Spezifizierung: Z  f: Ideoque in pleno opere cernitur quis fabricator sit.  SV Pars Tertia, Visio Septima, Z  f: cultus sanctae Trinitatis manifestissimae declaratus est.  SV Pars Tertia,Visio Octava, , Z  – : Unus est Deus in tribus personis unius essentiae et aequalis gloriae colendus. Fidem ergo et fiduciam habebo in Domino et non delebo in aeternum nomen eius de corde meo.  Das Axiom lex credendi – lex orandi, das in beide Richtungen hin verstanden werden kann, steht hinter dem Hinweis in Z  – : Sed ubi nec splendida claritas, nec purpureus viror, nec igneus

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Mit der Offenbarung der Trinität wird ein neues Datum in der Heilsgeschichte gesetzt, eine nova gratia. ⁴⁴⁹ Sie markiert als alia salus ⁴⁵⁰ eine überbietende Differenz zum Ursprungsstand.⁴⁵¹ Besonders in der Tertia Pars, in der Visio Septima, wird der Zusammenhang von Trinität und Offenbarung betont. Dies kann damit zusammen hängen, dass hier Heilsereignisse in ihrer Zuspitzung auf die finalen Auseinandersetzungen vor dem Ende der Zeiten geschildert werden. Bereits zu Beginn der Visio Secunda des Zweiten Teiles fällt eine Überlagerung der Bildlichkeit des Aussageobjektes und der dargestellten deutenden Stimme auf: Nachdem die Seherin ein äußerst heiter strahlendes Licht gesehen hat, spricht es als lebendiges Licht zu ihr.⁴⁵² Bezieht man das helle Licht des Schaubildes auf Gott-Vater, so stellt die Autorin es also so dar, als ob Gott-Vater ein Bild zur Trinität deutet und als Leben selbst die Identität von Trinität und Leben vertritt. In heilsgeschichtlichen innerweltlichen Taten und Werken der Schöpfung tun sich die trinitarischen Personen gegenseitig der Welt kund: Der Vater wird bekannt gegeben (declaratur) durch den Sohn, der Sohn durch die Entstehung der Geschöpfe, der Heilige Geist durch den menschgewordenen Sohn.⁴⁵³

Nachdem Hildegard Trinität zunächst spekulativ aus dem Gedanken der Fülle entwickelt hatte, leitet sie nun narrativ aus den Daten der Heilsgeschichte nicht nur die Dreifaltigkeit an sich ab. Sondern durch die Verwobenheit der Offenbarungsakte wird die innere Verbindung der göttlichen Personen in ihren Folgen für die Welt repräsentiert. Das Gewicht dieses Gedankens unterstreicht sie, indem sie ihn noch einmal in heilsgeschichtlicher Zuspitzung wiederholt: Es ist der Vater, der vor den Zeiten (ante saecula) den Sohn gezeugt hat. Es ist der Sohn, durch den alles geschaffen ist im Beginn der Schöpfungsdinge (creaturarum). Es ist der Heilige Geist, der in Gestalt einer Taube erschien bei der Taufe genau dieses Sohnes Gottes im Hinblick auf das Ende der Zeiten (sub fine temporum).⁴⁵⁴

ardor est, ibi nec flamma cernitur, sic ubi nec Pater nec Filius nec Spiritus sanctus colitur, ib nec Deus digne veneratur.  SV Pars Tertia, Visio Septima, Z  – : Nam sancta et ineffabilis Trinitas summae unitatis sub iugo legis servientibus, occultata, sed in nova gratia de servitute liberatis manifestata. Gratia wird hier im Sinn einer Art „Offenbarungsgnade“ verwendet.  Z : alia salus exorta est.  Z  f: alia salus exorta est quam illa quam in primo ortu habuimus, cum heredes innocentiae et sanctitatis fuimus.  Z  – : Deinde vidi serenissimam lucem…Et iterum audivi eandem viventem lucem mihi dicentem.  Z  f.  Z  – .

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So bildet die Autorin in einer knappen Satzpassage ab, wie Trinität einerseits die Zeit umgreift und andererseits in der Aktion der trinitarischen Personen die innerweltliche Zeit schafft und in die Zeitverhältnisse bis zu ihrem Ziel hin eingreift. Ihr Denken über die Trinität verbindet also die Sicht auf die innertrinitarischen Relationen mit den Auswirkungen dieser Relationen auf die Verhältnisse der Welt. Die Ausstreckung der innerweltlichen Zeit auf ein Ende und ihr Charakter als einer Art innerweltlichen „Films“ der Offenbarung von Trinität spiegelt sich in der Finalität der Belebung des Menschen auf Vollendung hin, der ebenso ein offenbarender Charakter eignet: Denn die Belebung (vivificatio), die in dir ist, strebt immer danach, dass sie vollendet wird, bis zu der Zeit, in der sie als vollkommene erscheint (dum plena apparet).⁴⁵⁵

Hildegard stilisiert ihre Schau und ihre Schrift als Medium, um die Offenbarung der Trinität an die Menschen zu vermitteln.⁴⁵⁶ Hier wird, anders als in anderen Passagen, in denen die Autorin über die Art und Abzweckung ihrer Schau reflektiert, die Vision und die Audition des deutenden Wortes in einem Satz zusammen gefügt.⁴⁵⁷ Die Bilder der Schau symbolisieren Gaben Gottes, die entgegen ihrer ursprünglichen Verborgenheit deutlich vor Augen gestellt werden.⁴⁵⁸ Ziel dieser Erhellung ist die Inspiration der Herzen der Leser.⁴⁵⁹ Die Metaphorik dieser beiden Sätze, von Licht und Feuer, die ineinander übergehen, weist auf die Bildebene der Visio Secunda der Secunda Pars zurück.⁴⁶⁰ Dies ist ein Beispiel dafür, welch anspruchsvollen Leistungen in der mentalen Zusammenschau von Textpassagen vom Leser erwartet werden. Anhand des Bildmotivs einer Säule mit drei Kanten⁴⁶¹ weist die Autorin darauf hin, dass die Trinität nicht nur die nötige Wahrheit über sich selbst offenbart, sondern sich falschen Umgangsweisen mit Glaubenswahrheiten über sie entgegenstellt. Die Kanten auf der Bildebene sind deswegen scharfkantig, weil derjenige, der sich von den Offenbarungsaussagen über die Trinität distanziert, ebenso die Achtung der integritas

 Z  f: Nam vivificatio quae in te est semper studet ut perficiatur usque ad id tempus illud dum plena apparet.  Z  – .  Z  f: Et iterum ille, quem videbam in praedicto throno sedentem et haec omnia mihi demonstrantem, dixit mihi.  Innerhalb eines Satzes treten sieben Worte des Zeigens und Mitteilens auf, entsprechend der Siebenzahl der Gaben des Heiligen Geistes: clarissime, apparent, lumine, demonstro, tribuo, dicere, ostendere. (SV Pars Tertia, Visio Septima, Z  – ).  Diese Aussage wird durch ein Wortspiel verstärkt: Die an sich schon feurigen Herzen der Gläubigen sollen entzündet werden. (SV Pars Tertia, Visio Septima, Z : ad accendendum ignea corda fidelium).  Z  – : Et illa serena lux perfudit totum illam rutilantem ignem, et ille rutilans ignis totam illam serenam lucem.  SV Pars Tertia, Visio Septima, Z  – : Habebat autem in exteriore sui parte tres angulos …velut acutissimus gladius incidentes.

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der „Drei in Eins“ verletzt, wie er sich vom Reich Gottes⁴⁶² und vom Leben abschneidet.⁴⁶³

3.4.1.2 Sprachmuster für Trinitätstheologie Zwar tritt in der Visio Secunda die Bildlichkeit der Schau gegenüber der sachlichen Argumentation zurück. Doch wird sie in ihrer Dreierstruktur, die zugleich das „Drei in Eins“ wieder spiegelt, klar mit der Deutung auf die Trinität hin verbunden. Hierzu verwendet Hildegard drei Compositia mit der Präposition de: designat, ⁴⁶⁴declarat, ⁴⁶⁵ demonstrat. ⁴⁶⁶ Mit diesen drei Verben, die der Trinitätsanalogie einen deutlichen Verweisungssinn zuweisen, gelingt es ihr zugleich, das Mysterium der Trinität von einer absoluten Einheit bei gleichzeitiger Unterschiedenheit der Personen in einem Wortspiel abzubilden: Alle drei Verben beginnen mit -de als Zeichen der Einheit, und stammen von verschiedenen Grundverben als Zeichen der Unterschiedenheit. Kompositum mit de: Verweisungssinn eines Bildmomentes der Schau

Die Eigenschaften Gottes und seine Gaben an den Menschen werden durch Attributverbindungen illustriert, die in dieser Visio gehäuft auftreten.⁴⁶⁷ So sollen eine infinite Steigerung der Extension und der inneren Qualität der Gottesattribute ausgedrückt werden, auf erkenntnistheoretischer Ebene und hinsichtlich ihrer soteriologischen Auswirkungen auf den Menschen. Das Nomen im Genitiv drückt die Heilswirkung auf den Menschen aus, das durch es inhaltlich spezifizierte Nomen im Nominativ die Eigenschaft Gottes. So vergegenwärtigt diese Nominalverbindung den dichten Zusammenhang von Gott in sich und Gott für uns, von immanenter und ökonomischer Trinität. Nominales Genitivattribut: Unermesslichkeit einer Eigenschaft Gottes, die sich in einer Heilstat an dem Menschen auswirkt Zusammenhang von Gotteslehre und Soteriologie

 SV Pars Tertia, Visio Septima, Z : Et qui sic non credit, ille abscindetur de regno Dei, quia scindit integritatem divinitatis et se ipsum in fide, ut scriptum est. Gegenbegriff gegen die integritas Gottes ist also die Abwehrhaltung des scindi seitens des Menschen.  SV Pars Tertia, Visio Septima, Z  f: ad veram fidem converti noluerunt, unde et a vita divisi et separati sunt.  Z .  Z .  Z .  Zum Beispiel: Z : accensor fidelium cordium; Z  f: plenitudo fructuositatis; Z : materna dilectio amplexionis.

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In den Text fließen Fachtermini⁴⁶⁸ aus der philosophischen Gotteslehre und der theologischen Trinitätslehre ein.⁴⁶⁹ Doch der Ton des Textes ist trotz eines spekulativen Anspruchs ein affektiver: Die Zuwendung der ökonomischen Trinität zum Menschen wird breit ausgemalt in vier Feldern von Synoymen: In dem der Liebe (caritas, dilectio), dem des Heils und des Neubeginns (alia salus), des wertvollen Schmuckes (pretiosissimae margaritae)⁴⁷⁰ und der Süßigkeit.⁴⁷¹ Ähnlich werden herkömmliche Formulierungen über die innertrinitarischen Hervorgänge von der Autorin durch Adverbien aufgelockert, die das Wie der processiones und deren Aussagbarkeit präzisieren.⁴⁷² Dass hinter dieser Visio ein katechetisches Anliegen steckt, erhellt sich aus einer Vielzahl von Fragewörtern und rhetorischen Fragen,⁴⁷³ im Stil der literarischen Fiktion eines Lehrdialoges. Appelle zu religiösen Vollzügen und zu Veränderungen des Lebensstiles, die aus den lehrmäßigen Darlegungen folgen, beginnen mit unde. ⁴⁷⁴ Dabei kann diese Konjunktion sowohl konsekutiv als auch kausal verstanden werden: „Wenn Gott auf Weise x handelt, dann ist es sinnvoll, dass der Mensch auf Weise y reagiert.“ Oder: „Weil Gott auf Weise x handelt, hat der Mensch durchaus das Vermögen, auf Weise y zu rea-

 Wie etwa der Ausdruck essentia: SV Pars Tertia, Visio Septima, Z : Sic tres personae in una incommutabili essentia divinitatis sunt.  Die Herausgeber der kritischen Edition nennen im Apparat für beide Visiones mehrere Anspielungen auf das Symbolon Quicumque. (DH  f; vgl. den kritischen Apparat auf den Seiten , , ,  f). Bei bislang ungeklärter Verfasserschaft wurde es verschiedenen namhaften Autoren aus dem . bis . Jahrhundert zugeschrieben, zum Beispiel Athanasius (als Ps. Athanasianum), Ambrosius oder Vinzenz von Lerin. Im Mittelalter war es besonders in liturgischer Verwendung weit verbreitet (So der Kommentar in DH ). Es ist von ökumenischer Relevanz, da es in der Neuzeit Eingang in die liturgischen Bücher der griechisch-orthodoxen und russisch-orthodoxen Kirche gefunden hatte. (Hierzu und zur Bedeutung im Mittelalter vgl. Charles Kannengieser, „Quicumque,“ in LThK  : ). Für unsere Untersuchung zur Theologiesprache Hildegards ist vor allem der Vorrat an Fachtermini wichtig, den die auswendige Kenntnis des Quicumque unserer Autorin zur Verfügung stellte: aequalis, coaeterna, immensus, coaequales, substantia, assumptione humanitatis. Desweiteren ist im Quicumque der Konnex von rechtem Glauben und rechtem Kult vorgezeichnet. Explizit wird sowohl einem Tritheismus entgegen getreten wie eine Vermischung der trinitarischen Personen verwehrt (neque confundentes personas, neque substantiam seperantes). Der Lohn von guten Taten im ewigen Leben wird verheißen, gleichsam wie in einer Kurzformel für das Visionswerk Hildegards: qui bona egerunt, ibunt in vitam aeternam (Ähnlich zum Beispiel in SV Pars Tertia, Visio 10, Z 715 f: quoniam vita aeterna in perseverantia boni operis reperitur).  Z .  Z : illos ad vitam per dulcedinem suam reducens; Z  f: suavissima caritas; Z  f: de illo dulcissima materia sudavit.  Z  – : In sono autem nota Patrem qui inenarrabili potestate omnia propalat; in virtute Filium qui mirabiliter ex Patre genitus est; in flatu vero Spiritum sanctum qui suaviter ardet in ipsis.  Etwa in Z  – , ein Abschnitt, der am Anfang und am Ende durch die Frage quid est hoc gerahmt ist. Charakteristisch für den Stil Hildegards ist ferner die Nachfrage quomodo in Z , .  Z  – : Unde, o homo, intellege in his tribus personis Deum tuum, …Noli ergo oblivisci creatoris tui.

3.4 Trinität als Quell des Lebens in der Visio II,2 des Liber Scivias

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gieren.“ Entscheidend ist, dass Hildegard – wie es auch in anderen Visiones zu beobachten ist -, nicht einfach kultische und religiöse Vorschriften an den Menschen niederschreibt -, sondern dem Adressaten hierfür einsichtige Begründungen liefern will: Konsekutiv-kausaler Appell, der mit unde eingeleitet ist: Gott handelt auf Weise x. ⇨ Folglich (daher/ also) sollte der Mensch auf Weise y reagieren.

Besonders hervorzuheben ist, dass Hildegard eine eigene Sprachfigur entwickelt, um die innertrinitarischen Bezüge wie in einer Art Spiegelkabinett jeweils aus der Perspektive aller drei trinitarischen Personen darzustellen.⁴⁷⁵ So zeigt sie indirekt, welche Perspektivenvielfalt durch die wechselseitige Spiegelung der Personen in der Dreifaltigkeit entsteht, wie dadurch die Einheit in Fülle sich ins Unendliche vertieft. Sobald nämlich die innertrinitarischen Relationen mittels analoger Ternare veranschaulicht werden, wachsen die möglichen Abspiegelungen mit der Zahl der Vergleichsbilder.⁴⁷⁶ Durch derartige, zunächst recht umständlich wirkenden Ausformulierungen wird die Autorin der Forderung des Glaubensbekenntnis Quicumque (DH 75) gerecht, die trinitarischen Personen je einzeln, singillatim, als Gott zu bekennen, ohne ihre Einheit zu zerreißen: dreimalige Ausformulierung der innertrinitarischen Relationen und Prozessionen jeweils von Vater, Sohn und Geist aus als sprachliches Abbild der komplexen wechselseitigen innertrinitarischen Spiegelungen

Als sprachliches Signal dafür, dass sich der Leser, und stellvertretend für ihn, die IchErzählerin als Seherin und Hörende intensiv im Durchdenken und in geistlicher Betrachtung mit der Reichweite christlicher Lehre zur Dreifaltigkeit für den Menschen auseinandersetzten soll, wird das Verb considerare eingesetzt.⁴⁷⁷ Denn gerade bezüglich der Trinitätstheologie entfaltet Hildegard den Versuch einer Erkenntnistheorie, die im Folgenden skizziert werden soll.

 Z  – : quoniam Pater non est sine Filio, nec Filius sine Patre, nec Pater nec Filius sine Spiritu sancto, nec Spiritus sanctus sine ipsis.  Eine Ausformulierung am Beispiel der Flamme Z  – ,  f: ut in flamma non est nec operatur splendida claritas sine purpureo virore nec sine igneo ardore, nec purpureus viror sine splendida claritate nec sine igneo ardore, nec igneus ardor sine splendida claritate nec sine purpureo virore.  Z  – : Unde in splendida claritate Patrem considera, qui paterna pietate claritatem suam fidelibus suis expandit; vgl.  f sowie SV Pars Tertia, Visio Septima, Z .

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

3.4.1.3 Regalis prophetia: ⁴⁷⁸ Erkenntnistheoretische Grundannahmen zur Trinitätslehre In der literarischen Stilisierung des Visionswerkes lässt Hildegard Thesen über die Dreifaltigkeit aus einem Wechselspiel zwischen Gottesrede in der Audition und in den Worten der Schrift und der menschlichen Einsichtskraft entstehen. Wie schon Augustinus ⁴⁷⁹ wählt sie Vergleichsbilder, die nicht nur in der Ausfächerung ihrer dreifachen Vergleichspunkte zur Trinität als Metapher für die Dreifaltigkeit wirken. Sondern zugleich sind sie Metaphern für Sprache und Erkenntnis. Dies trifft besonders für den Vergleichsausdruck des Wortes, des verbum, zu, das in Klang (sonus), Kraft (virtus) und Atemhauch (flatus) an die Dreifaltigkeit erinnert.⁴⁸⁰ Dabei dienen alle drei Aspekte dazu, das Wort beim Hörenden ankommen zu lassen: Der Klang ermöglicht Hören, die Kraft des Tones Wahrnehmung, der Atemhauch Ankunft der Schallwellen beim Hörenden.⁴⁸¹ Vertreten diese drei Tätigkeitsnomen die Personen der Trinität, so lässt sich, über die explizite Aussage der Textpassage hinaus folgern, dass Hören, Bewirken und Zum-Ziel-Führen Verhaltensweisen der Trinität wären, die der anfanghaften menschlichen Einsicht in ihr Wesen entsprechen. In besonderer Weise wird die Trinitätsmetapher des Wortes dem Leben zugeordnet, eine Verbindung die auf der theologischen Doppeldeutigkeit von „Wort“ aus Wort der Sprache und als göttlichen Logos beruht: Das Wort ertönt aus dem Mund des Menschen. Aber nicht bleibt der Mund ohne das Wort und das Wort ohne das Leben. Und wo bleibt das Wort? Im Menschen. Und vom wem geht es aus? Vom Menschen. Auf welche Weise? Vom lebenden Menschen. So ist der Sohn im Vater, den der Vater für das Heil der Menschen auf die dunkle Welt schickte.⁴⁸²

So bestechend die von Hildegard angedeuteten Zusammenhänge auf den ersten Blick erscheinen, so bliebe doch einiges rätselhaft, wenn man Wort, Mund und Mensch in dieser Passage mit Vater, Sohn und Geist parallelisieren wollte. Gegebenenfalls könnte Leben auf den Heiligen Geist bezogen sein, wobei die Zuordnungen nicht gepresst werden dürfen. Denn von dem untergründigen Bezug auf den Johannesprolog her⁴⁸³ ist auch das Wort Leben, das den Menschen Schmuck und Glanz des Lebens vermittelt.⁴⁸⁴

 Pars Tertia, Visio Septima, Z : intelligentiam regalis prophetiae.  Dies wird nachgewiesen im . Abschnitt dieses Kapitels.  Dieser Ternar wird in dem Brief Hildegards ep.  R an den Erzbischof Eberhard von Salzburg als dreifache Kraft nicht des verbum, sondern der rationalitas, als Analogie zu den trinitarischen Strukturen der Ewigkeit, Gleichheit und connexio gedeutet (Vgl. hierzu Vicki Ranff, „Zur Auslegung eines Trinitätsternars durch Hildegard von Bingen für Bischof Eberhard von Salzburg,“ Archa Verbi  (): ).  Z  f.: Sed sonum habet, ut audiatur, virtutem ut intellegatur, flatum ut compleatur.  Z  – .  Vgl. Vulgata Joh ,: In principio erat Verbum et Verbum erat apud Deum; Joh ,: in ipso vita erat et vita erat lux hominum; Joh ,: et lux in tenebris lucet. Die Auslegungsgeschichte des Johannesprologes wird insbesondere im Kapitel . und im Kapitel  zur Sprache kommen.

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Der Reiz und zugleich die Schwierigkeit der Auffassung von der Dreifaltigkeit in den Darstellungsweisen bei Hildegard bestehen darin, dass sie Reflexionen über die Erkenntnis von Einheit und Dreiheit mit der Darstellung jener so verknüpft, dass dabei jeder der trinitarischen Personen bestimmte Formen des Offenbarungshandeln und der Unterstützung menschlicher Erkenntnisakte appropriiert werden. Zudem wird dies nicht nur durch analoge Vergleiche innerweltlicher Ternare illustriert, sondern oft erst aus der Sachebene jener Ternare abgeleitet. Bei dieser Übertragung von der Sachebene des Vergleichsbildes auf die Trinität wird nicht kongruent argumentiert. So werden etwa im einen Fall Schlussfolgerungen für die ökonomische Trinität gezogen, im anderen für die immanente.⁴⁸⁵ Die Einschränkung, dass Vergleichsausdrücke lediglich analoge Reichweite haben, flicht Hildegard durch Partikel wie quasi und videlicet ein.⁴⁸⁶ Um die Verschiedenartigkeit von menschlichen Erkenntnisprozessen in der Lehre von der Trinität aufzufächern, verwendet die Autorin das Nomen sensus mit unterschiedlichen Sinnspitzen: Auf der Ebene eines Erkenntnisaktes bedeutet sensus die mit Unterscheidungskraft vollzogene Einsicht in Glaubensgeheimnisse.⁴⁸⁷ Einem solchen sensus intellectualis eignet ein anamnetisches Erinnerungsvermögen: Religiöse Erkenntnis führt von der Erinnerung an genossene Wohltaten Gottes zur Neujustierung auf die Belebung und Vervollkommnung mit Gottes Hilfe auf Gott hin.⁴⁸⁸ So steht sie rein menschlicher Einsicht entgegen.⁴⁸⁹ Denn Vorgänge der Erinnerung und der sukzessiven Vertiefung hätten schon in der nachösterlichen, durch den Heiligen Geist bestärkten Verkündigung zu einer Frische von Glaubenserkenntnis geführt, als ob man jene direkt von der Begegnung mit Christus erhielte: Daher (unde) erinnerten sie sich bald mit vollendetem religiösen Erkenntnissinn (perfecto sensu) an alles, was sie früher mit trägem Glauben nachlässig von Christus gehört und wahrgenommen

 Z  f: ad conferendum credentibus candorem et decorem vitae.  Z  – . Hier fallen zudem Äußerungen über den inkarnierten Sohn und den Geist in der Heilsgeschichte. In Z  –  geht es rein um die innertrinitarischen Beziehungen. So führt die Autorin zwar hintereinander drei Vergleichsgänge von drei Eigenschaften eines Steines, der Flamme und des Wortes mit der Einheit und Dreiheit in Gott vor, jedoch in unterschiedlichen Zielrichtungen, mit logischen Inkongruenzen, die in einem systematisch-theologischem Traktat unhaltbar wären. Dies ist eines der Textphänomene, das zur hypothetischen Frage verleitet, welche noch stärkere Stringenz das theologische Denken einer Hildegard gewonnen hätte, wenn sie eine formelle philosophisch-theologische Schulung hätte durchlaufen können.  Z  f: indivisibiliter videlicet vigentes.  Z  f: Hic est sensus mysteriorum Dei, ut discrete cernatur et intellegatur.  Z  – : In intellectuali senus tuo recordare illius qui te constituit,…Nam vivificatio quae est in te semper studet ut perficiatur.  Z : in humano sensu tuo submurmuras.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

hatten. Sie führten jene Inhalte so in ihr Erinnerungsvermögen zurück, als ob sie sie gerade in jener Stunde erkannt hätten.⁴⁹⁰

Freilich ist diese Erklärung nicht nur als heilsgeschichtliche Erzählung aus der Apostelzeit vorgebracht, sondern um dem Leser die Mahnschrift Hildegards als Hilfe zur direkten Kommunikation mit Christus anzubieten, indem Möglichkeiten zur existentiellen Vertiefung von Glaubenswissen aufgezeigt werden. Denn es handelt sich nicht um rein menschliche Prozesse der Erkenntnis, des Lernens, der Wiedererinnerung, sondern gerade bei Fragen nach der Trinität geht es um Erkenntnisgaben durch und im Heiligen Geist.⁴⁹¹ Ebenso entstammt das menschliche Erkenntnisorgan, das nach Glaubenseinsicht in die Glaubensgeheimnisse sucht, dem Geheimnis Gottes, dem arcanum Dei, ⁴⁹² was eine gewisse Affinität von Erkenntnisobjekt, Erkenntnismedium im Heiligen Geist und Erkenntnisgegenstand begründet. Solche geistgewirkten Erkenntnisvorgänge, die die von der Offenbarung und vom grundsätzlichen Hiat zwischen Schöpfer und Geschöpf gesetzten Grenzen einer Gotteserkenntnis nicht überdehnen wollen, werden nicht nur als zum Leben und zur Glückseligkeit führende Einsicht bezeichnet.Vielmehr werden sie als jedem Gläubigen gegebene, von einer Spezialgabe zu unterscheidende königliche Gabe, als regalis prophetia gelobt.⁴⁹³ Diese Gabe dient einem Verständnis der Bibel, das hilft, Werke des Glaubens zu wirken: Denn der Glaube fußt mit den Werken in der Kenntnis der Schrift!⁴⁹⁴

Gotteserkenntnis verfeinert sich also dazu, die ebenso „bewundernswerte“, wie „verborgene“, wie „starke“ Gegenwart Gottes in der Welt wahrzunehmen.⁴⁹⁵ Gewiss  Z  – . Zuvor fällt die lernpsychologisch interessante Anmerkung, dass die Apostel durch den Heiligen Geist alle Angst und Menschenfurcht verloren hätten. Jene kann einerseits als Hinweis auf die Produktionsbedingungen des Liber Scivias aufgefasst werden, insofern in der Protestificatio das Motiv von der Überwindung der Furcht vor Veröffentlichung betont wurde (SV Protestificatio, Z  – ). Andererseits kann sie es zugleich zur Ermutigung des Lesers dienen.  Pars Tertia, Visio Septima, Z  f: contentus esse dono quod a Spiritu sancto accepit.  Pars Tertia, Visio Septima, Z  f: Spiritus hominis spiritalis est, ..currens de arcano Dei.  Pars Tertia, Visio Septima, Z : intelligentiam regalis prophetiae. Hildegardianische Bemerkungen zur Prophetie sollen in dieser Untersuchung nur insoweit berücksichtigt werden, insofern für den Duktus der Analyse des Lebensbegriffes von Bedeutung sind.  Pars Tertia,Visio Septima, Z  f: quod fides est cum operibus in scientia Scripturae. Dieser Satz könnte von Luther stammen! (Im Sermon Von den guten Werken wird das ursprüngliche „Werk“ des Glaubens an Christus mit dem Begriff eines Lebens durch die Gnade verbunden: „Denn in diesem Werk müssen alle Werke ergehen und das Einströmen ihres Gutseins wie ein Leben von ihm empfangen.“ Zitiert nach: Martin Luther, Aufbruch zur Reformation, Hg. Karin Bornkamm (Frankfurt am Main/ Leipzig: Insel, ), ).  Pars Tertia,Visio Septima, Z  – : quoniam Deus in creaturis suis tam mirabilis exsistit ut nullo modo ab eis ad finem perduci possit; tamque secretus ut nulla earum scientia vel sensibilitate per-

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könnten diese drei Gegenwartsweisen vom Interpreten behutsam⁴⁹⁶ den Personen der Trinität zugeordnet werden: Als verborgene Gegenwart von Gott Vater, als bewundernswerte Gegenwart von Gott-Sohn, als starke Gegenwart im Heiligen Geist, der die Menschen zu ihrer eigenen Stärke bestärkt.

3.4.2 Palpabilis comprehensio: ⁴⁹⁷ Der Stein als Bild für Leben und Wohnstatt in Christus Zur Veranschaulichung, wie drei Personen in Gott eine Einheit bilden, entfaltet Hildegard drei Modelle einer Analogie in den jeweils drei Kräften des Steines, der Flamme und des Wortes.⁴⁹⁸ Dass sie „Stein“ und „Flamme“ als Vergleichsbilder auswählt, geht möglicherweise auf Augustinus zurück, der jene als Beispiele nennt, um abbildhafte Spuren des Trinitätsschemas im Erkenntnisakt des Menschen zu analysieren.⁴⁹⁹ Das Vergleichsbild der Flamme greift die Bildlichkeit der Visionsschilderung vom glühenden Feuer auf. Um spezifischen Eigenarten der trinitätstheologischen Konzeption der Autorin im Hinblick auf ihrem Begriff des Lebens auf die Spur zu kommen, soll hier die Metaphorik des Steines untersucht werden. Sie hängt auf der sachlichen und auf der symbolischen Ebene mit der des Feuers zusammen. Denn aus einem Stein lässt sich Feuer schlagen.⁵⁰⁰ In der Symbolebene des grundlegenden oben-unten-Musters⁵⁰¹ steht der sursum-Aktivität des Feuers⁵⁰² als Zeichen für das Streben der begnadeten Seele zu Gott die Gravitationskraft des Steines entgegen. Gerade anhand der Exegese des Lebensbegriffes im Johannesevangelium nennt Augustinus den Stein als Beispiel für die allumfassende, lebensspendende Schöpferkraft Gottes im Sohn, die neu durch das Holz des Kreuzes entfacht wurde.⁵⁰³

tinaciter sit examinandus, atque tam fortis quod omnis fortitudo ipsarum ab eo dirigatur, nec eius fortitudini valeat comparari.  Dies ist allerdings nur eine Interpretationsmöglichkeit, da alle drei Personen der Trinität und der eine Gott auf diese drei Weisen in der Welt anwesend sind.  Z  f.  Z : Tres vires in lapide et tres in flamma et tres in verbo sunt.  Augustinus, De Trintate,,,, CCSL , , , Z  – .  Ambrosius, Hexaemeron, dies secundus, sermo III, cap..  Jenes Muster gehört zu jenen elementaren Schemata, die als motorische Grunderfahrungen das Denken und die Sprache prägen, weil sie neurologischen Tiefenschichten entstammen.Vgl. zu solchen Urschemata Raoul Schrott and Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren (München: Carl Hanser, ), .  Augustinus, conf. ,, , CCSL ,  f, Z  – .  Augustinus, Tractatus in Iohannis Evangelium, ,, CCSL , , Z  – .

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

Daher sieht Hildegard den Stein⁵⁰⁴ als eine Art Kristallisation von Lebenskräften, insbesondere aus den Elementen Feuer und Wasser. Im Stein spiegelt sich wie in einem Mikrokosmos der Strukturaufbau der Natur, in der Kräfte der Konzentration nach innen, des Zusammenhaltes von Elementen von einer ebenso starken wie fasslichen Oberfläche eingeborgen werden. Der Stein symbolisiert so – bezeichnet durch das Stichwort der viriditas – Lebenskraft nach innen wie Nutzwert nach außen für die Bedürfnisse des Menschen in Wohnung und Schutz. So ergibt sich schon aus diesem ersten Untersuchungsgang der Sachebene seiner physikalischen Kräfte sein Symbolwert für das Verhältnis von immanenter und ökonomischer Trinität: Im Stein ist die feuchte Grünkraft und der anfassbare (palpabilis) Zusammenhalt (comprehensio) und das glühende Feuer. Er hat die feuchte Grünkraft, um nicht aufgelöst oder vermindert zu werden. Ihm eignet der anfassbare Zusammenhalt, damit er Wohnung und Schutz bieten kann. Das glühende Feuer hat er, damit er zu seiner Festigkeit gehegt und gesichert wird.⁵⁰⁵

Es ist eine entscheidende christologische Aussage, wenn Hildegard den „anfassbaren Zusammenhalt“, die palpabilis comprehensio,⁵⁰⁶ dem inkarniertem Logos zuordnet. Sie ist ebenso bestechend wie bedenklich: Denn positiv findet sich hier ein Zeugnis, wie sich das Christusbild des 12. Jahrhundert zum Ideal eines berührbaren Menschen hin wandelt:⁵⁰⁷ Der anfassbare Zusammenhalt bezeichnet den Sohn, der, geboren aus der Jungfrau, berührt und umfasst werden kann.⁵⁰⁸

 Der Stein symbolisiert nicht nur durch seine schwer verletzliche Härte die göttliche Erhabenheit und ewige Dauer. Sondern er dient zugleich als „Symbol für die poetische (Ur‐) Schrift der Natur“. (So Doren Wohlleben, „Stein/ Gestein,“ in Metzler Lexikon literarischer Symbole, Hg. Günter Butzer and Joachim Jacob (Stuttgart: J.B. Metzler, ), , allerdings ohne Verweis auf die reiche Ausfaltung jenes Symbolkreises in den Dichtungen Adalbert Stifters). Er vertritt also wie etliche Symbole, die Hildegard verwendet, ein poetologisches Ansinnen, in dem es unausgesprochen um die Reflexion des Autors über die Suche nach der Perfektionierung eines Kunstwerkes geht.  Z  – .  Z  f: palpabilem vero comprehensionem. Comprehensio ist mit „Festigkeit“, wie in der Übersetzung von Mechthild Heieck (Hildegard von Bingen. Wisse die Wege. Liber Scivias, Eine Schau von Gott und Mensch in Schöpfung und Zeit, Neuübersetzung von Mechthild Heieck (Beuron: Beuroner Kunstverlag, ),  f) ungenügend wiedergegeben. Denn gemeint ist das Zusammenhalten, das Zusammenfügen nicht durch äußeren Zwang, sondern von den inneren Kräften her. So könnte jenes Nomen sogar als heilsgeschichtliche Anspielung auf die Rückführung und das Zusammenhalten aller Dinge in Christus gemeint sein, ähnlich einer recapitulatio bei Irenäus von Lyon (haer. ,,).  Vgl. zu dieser Entwicklung Peter Dinzelbacher, Hoch- und Spätmittelalter, Bd. , Handbuch der Religionsgeschichte im deutschen Raum, Hg. u. verfasst von Peter Dinzelbacher, mit einem Beitrag von Daniel Krochmalnik (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ),  – .  Z  – . Im Lateinischen ist das Wortspiel von comprehensio und comprehendi zu beachten: et palpabilis comprehensio designat Filium, qui natus ex Virgine tangi et comprehendi potuit.

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Das Verb comprehendi als Anzeige für die Möglichkeit des Menschen, den Gott-Menschen zu umfassen, hat Auswirkungen auf das Gottesbild. Hier findet sich wiederum ein Indiz dafür, wie Hildegard untergründig das Bild eines Gottes zeichnet, der sich im Gott-Menschen nicht nur auf die Interaktion mit dem Menschen einlässt, sondern gleichsam Objekt der Aufnahme durch den Menschen wird. Dementsprechend vergleicht die Autorin nun in einem dritten korrelativen Schritt der Deutung, nach der Untersuchung der physikalischen Kräfte des Steins auf der Sachebene und ihrer Parallelisierung zu den Personen der Trinität, die Umgangsweisen des Menschen mit einem Stein mit religiösen Erfahrungen, die in besonderer Weise einer der drei Personen in Gott zugeschrieben werden können.⁵⁰⁹ Ein Mensch, der in seinem Körper zu oft die feuchte Grünkraft eines Steines berührt, wird alsbald durch Krankheit geschwächt. So geht der Mensch, der durch die Instabilität seiner Gedankenwelt drängend blindlings die Geheimnisse des Vaters entlarven will, hinsichtlich des Glaubens zu Grunde. In ihrem anfassbaren Zusammenhalt (in palpabili comprehensione) bieten die Steine dem Menschen sich als Wohnstatt, indem sie ihn durch ihren festen Zusammenhalt vor den Menschen schützen. Ebenso ist der Sohn Gottes, der der wahre Eckstein ist, eine Wohnstatt für das gläubige Volk, um es vor bösen Geistern zu beschützen. Wie das brennende Feuer das Dunkle erleuchtet, indem es das verbrennt, was es bedeckt, so treibt der Heilige Geist den Unglauben in die Flucht, indem er jeden Rost der sündhaften Ungerechtigkeit wegnimmt.⁵¹⁰

Die Schwäche jener von der Naturbeschreibung und von den elementaren Bedürfnissen des Menschen ausgehenden Denkform ist aber, dass recht unbekümmert im Visionsbild⁵¹¹ und in der Ausdeutung die Inkarnation in die Trinität eingetragen wird. So entsteht doch der Eindruck, dass die Schriftstellerin bei aller formelhaft wiederholten Betonung der Drei-in-Eins Formel⁵¹² den Schwerpunkt ihres trinitätstheologischen Denkens auf die ökonomische Trinität und auf daraus folgende Anforderungen für das Glaubensleben der Menschen legt. Trotz ihrer eigenen Betonungen der Rechtgläubigkeit als Voraussetzung für beständiges Leben⁵¹³ gerät sie an die Grenze dessen, was ohne die entsprechenden Differenzierungen aussagbar wäre,⁵¹⁴ ohne das Dogma zu verletzten.

 Dieses Vorgehen wird durchaus den Anforderungen des gegenwärtigen didaktischen Schemas der Elementarisierung gerecht, in dem elementare Strukturen, Zugänge, Erfahrungen und Wahrheiten miteinander verschränkt werden sollen.  Z  – .  Z  – : ac eadem serena lux et idem rutilans ignis totam speciem eiusdem hominis, ita lumen unum in una vi possibilitatis exisistentes.  Z  f: Sic quomodo hae tres vires sunt in uno lapide, ita et vera Trinitas est in vera unitate.  Vgl. z. B. Z  –  und die Warnung Z  f: ad veram fidem converti noluerunt, unde et a vita divisi et separati sunt.  So sollte eigentlich auch, entgegen der Formulierung in Z  f, der trinitarische Verweisungssinn von den drei Kräften des Steines von den christologischen und ekklesiologischen Motiven von Christus als Eckstein unterschieden werden.

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Mag sie so dem menschlichen Adressaten ihres Werkes ein Trostbild seiner eigenen Eingeborgenheit in die Kräfte der Trinität bieten, so bleibt doch fraglich, ob sich die Autorin nicht selbst der mangelnden Subtilität ihrer Aussagen bewusst war, und sie deswegen durch präzisere in der Visio Septima des Dritten Teiles ergänzen wollte.

3.4.3 Trinitarische Lebensfülle und trinitarische Spiritualität Denn in der Tertia Pars des Liber Scivias bezieht Hildegard noch deutlicher die Trinität auf den Begriff des Lebens, in Hinblick auf die letzte Vision, in dem die Stimme der Harmonie, die vox harmoniae, Gott als Lebensquell preist, in dem sich die Antlitze derer spiegeln, die er errettet.⁵¹⁵ Gemäß des oben skizzierten Konnexes von Trinität, Offenbarung und Erlösung gibt der inkarnierte Logos in seinem Heilswerk ein Zeugnis (testimonium) der belebenden Erlösung und so der Dreifaltigkeit.⁵¹⁶ Dies wird unter der Überschrift des Bildmotives des Wassers, das zum Leben erneuert (per aquam regenerationis ad vitam reddente) anhand des Ternares von Geist, Wasser und Blut aus dem Ersten Johannesbrief entfaltet (1 Joh 5,6 – 8). Hierbei zitiert Hildegard die biblische Passage mit dem Comma Johanneum,⁵¹⁷ also der ausdrücklichen Explikation auf Vater, Sohn und Geist. Da das Wasser auf die Taufe und das Blut auf die Eucharistie verweisen, werden diese beiden Sakramente als belebende Heilsmittel geschildert, ohne dass jedoch ihre Bezeichnung genannt würde.⁵¹⁸ Die Dreiheit der trinitarischen Personen und des johanneischen Ternares spiegeln sich darin, dass die menschliche Seele Körper und Blut zu einem Leben hin verbindet.⁵¹⁹ Allerdings werden eindeutige Zuordnungen von Wasser, Blut und Geist zu den trinitarischen Personen unterlaufen. Der „Geist“ wird von Hildegard auch auf den Vater hin gedeutet, der allen Geschöpfen den Lebensgeist garantiert; das „Wasser“ auf den Sohn, der mit seinem Kreuzesopfer die Schuld der Menschen gleichsam abwäscht, schließlich das „Blut“ auf den Heiligen Geist, der Tugenden in den Menschen weckt.

 SV Pars Tertia,Visio Tertia Decima, Z  f: O vivens fons, quam magna est suavitas tua, qui faciem istorum in te non amisisti.  Z  f: vero Verbo Dei testimonium sanctae Trinitati atque vivificae salvationi. In Z  f sind die Erde und die gegenwärtige Weltzeit während der Abfassung des Textes und ggf. während seiner Lektüre betont: testimonium dant in terra, ita quod ostendunt et tribuunt in praesenti saeculo. Jene kategoriale Vermittlung wird durch die johanneischen „Heilszeichen“ Geist, Wasser und Blut ermöglicht.  Es handelt sich um einen textlichen Zusatz, der erst in der Vetus Latina und der Vulgata belegt ist, aber möglicher Weise durch entsprechende Ausdeutungen bei Augustinus motiviert ist (Karl Jaroš, Das Neue Testament und seine Autoren. Eine Einführung (Köln/Weimar/Wien: Böhlau, ), ).  Dabei wird der ekklesiologische Hintergrund im Bild vom „Haus des Heiles“, ad domum salvationis, angedeutet (Z ).  Hingegen wird im Liber Divinorum Operum eine Dreierstruktur des Menschen aus Körper, Seele und Rationalitas als vestigum trinitatis benannt. (LDO Pars Prima, Visio Prima, cap. , Z  – .)

3.4 Trinität als Quell des Lebens in der Visio II,2 des Liber Scivias

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Der Textabschnitt, in dem der johanneische ⁵²⁰ Ternar differenziert erklärt wird, bietet eine Art Mikrokosmos zur theologischen Anschauung vom Leben bei Hildegard.⁵²¹ Vorwegnehmend sollte nicht übersehen werden, dass „Leben“ hier nicht nur auf Heil zugemünzt ist, sondern auf Heil, insofern es Rückkehr zu Wahrheit in Christus ist, wie gemäß einer Textvariante von 1 Joh 5,6 formuliert wird.⁵²² Also bildet sich der „Grundwasserspiegel“ des Textabschnittes zum einen aus der johanneischen Metapher vom Quell des Lebens.⁵²³ Sie wird hier durch die Semantik „aqua regenerationis“ vertreten, weil es hier eher um den Aspekt der Erlösung als wie andernorts um den der Überfülle geht.⁵²⁴ Zum anderen ist seine theoretische Untergrundfolie das Dreieck von Weg, Wahrheit, Leben (Joh 14,6). Vita und veritas werden direkt genannt, via ausgedrückt durch Verben und Nomen mit re-, die Erlösung und Rückkehr schildern. Quer durch den Liber Scivias lässt sich beobachten, dass zwei Teile dieses Begriffsdreieckes genannt werden und der dritte sich implizit aus dem Text ergibt, der in den Großtext unter dem Titel „Wisse die Wege“ eingebettet ist.⁵²⁵ Zwei von drei Termini des Ternars Weg, Wahrheit, Leben (Joh ,) werden explizit genannt: das dritte ist mit gemeint und implizit herauszulesen

Im Folgenden seien vor einer theologischen Interpretation im Sinne einer Korpustextanalyse⁵²⁶ alle Stellen des Abschnittes aufgelistet,⁵²⁷ in denen von vita die Rede ist:

 Heutige Exegese vermutet entweder einen „johanneischen Kreis“ (so Detlev Dormeyer, Einführung in die Theologie des Neuen Testaments (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ),) oder eine „johanneische Schule“ (vgl. Joachim Gnilka, Johannesevangelium (Würzburg: Echter, ),) als Autor des  Joh, oder kommt anhand einer Stilanalyse zum Schluss, dass Joh und  Joh einem Autor zuzuschreiben seien (So Karl Jaroš, Das Neue Testament und seine Autoren, .).  Der Abschnitt Z  –  ist nach sprachlichen und sachlichen Gesichtspunkten abgegrenzt und deckt sich nicht mit der sekundären Kapiteleinteilung.  Hildegard zitiert nach dem Text der Vulgata: Et Spiritus est qui testificatur quoniam Christus est veritas. Würde die lateinische Übersetzung dem griechischen Original folgen, dürfte es nur heißen: quoniam Spiritus est veritas.  Die Metapher von Gott als Quelle klingt bereits in der Überschrift der Protestificatio an, Z  f: protestificatio veracium visionum a deo fluentium.  Aspekte und Schattierungen der hildgardianischen, aus der johanneischen Theologie inspirierten Grundmetapher vom Wasserquell des Lebens werden im Schlusskapitel dieser Untersuchung, Kapitel  zusammengeführt werden.  Zur Frage, ob sich der Werktitel sci vias (Wisse die Wege!) wirklich auf die Autorin zurückführen lässt, vgl. anhand einer Diskussion der handschriftlichen Befunde, ausgehend davon, dass der Wiesbadener Riesencodex jene noch nicht kennt: Michael Zöller, Gott weist seinem Volk seine Wege. Die theologische Konzeption des „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen ( – ), Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie , (Tübingen: Francke ),  f, Anm. . Zu Recht fordert er eine „textnahe Untersuchung“, anhand derer dann die Stimmigkeit des Werktitels belegt werden könnte (a.a.O., ,  f).  Vgl. zur Methode der Korpustextanalyse das Kapitel  dieser Arbeit.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

Wortfeld „Leben“ im Textabschnitt Liber Scivias, Pars Tertia, Visio Septima, Z  –  : :  ( – )  ()   (–)  ( – )

testimonium…vivificae salvationi per aquam regenerationis ad vitam reddente quomodo anima pertranseat corpus et sanguinem hominis, ita quod una vita erit quoniam non est falsa et deceptuosa vita, sed acutissima ita est Christus perfecta veritas in qua vita surrexit remedium vivificae salvationis, per quod perveniendum est ad caelestia non est in plena vita restaurationis salutis nisi resurgat per me in aqua regenerationis  ( f.) (aqua:) quoniam et animam et corpus per spiritalem regenerationem confortans transmittit ad vitam  ( – ) per aquam salvationis, quae est medicinalis vis, in Filio meo incipiens et in ipso ad vitam permanens ,  ( – quoniam spiritus non est vivens homo sine sanguinea materia corporis, nec san) guinea materia corporis vivens homo sine anima  ( f.) nec haec duo reviviscunt in gratia novae legis ad vitam nisi per aquam regenerationis  ( – ) quia rationalitati deest praecellens honor vitae, in qua redemptus homo semper resonare debet perfectam laudem in conspectu Deo  ( f.) creavit hominem ad honorem illum, qui completur in corpori Filii eius in vita aeterna  ( f.) cum perditus homo reviviscit in honore vitae salutifera gratia redemptus in Deo

Der untersuchte Textabschnitt besteht ohne das Bibelwort aus dem Johannesbrief aus 15 lateinischen Sätzen.⁵²⁸ Es lassen sich 17 Formulierungen aus dem Wortfeld „Leben“ zählen. Hierbei fehlt diese Semantik in vier Sätzen. Hingegen verdichtet sie sich gegen Ende des Textfeldes: Die letzten vier Sätze bringen acht Wendungen zum Lebensbegriff. Jene Verdichtung lässt sich ebenso auf der Ebene des Mikrotextes beobachten: Zweimal wird eine figura ethymologica mit dem Verb reviviscere gebildet,wobei jeweils ein wichtiges theologisches Stichwort mit im Spiel ist: In einer gesperrten Wortstellung, die mit der bereits im Kapitel 3.1.3.2 vorgestellten Formel ad vitam endet, die in diesem Textteil vier mal gebraucht wird, wird das Aufleben in der Gnade des neuen Bundes auf Christus hin benannt, das im Sakrament der Taufe erlangt werden kann.⁵²⁹ Es geht also um eine geistliche Lebensqualität, die schon im hiesigen Leben des Getauften erreicht werden kann. Dabei ist wiederum, wie in den untersuchten Passagen im vorausgehenden Kapitel 3.3 unserer Untersuchung, der christliche Begriff des Lebens mit dem der Gnade verbunden. Ähnlich hebt die zweite Paronomasie ein theologisches Grundwort hervor, das wir in seiner Renarratisierung im Kapitel 3.2 beleuchtet haben, den honor vitae. Er steht in

 In dieser manuell entworfenen Liste sind Sinnzusammenhänge aus dem Kontext mit aufgenommen. Der Fundort des Kontextes steht jeweils in Klammern, der des Stichwortes vor der Klammer. Die Zahlen beziehen sich auf die jeweilige Zeilenzahl SV Pars Tertia, Visio Septima.  Sätze, die durch Semikolon abgetrennt sind, wurden als selbstständige Satzeinheiten gezählt.  Z : reviviscunt in gratia novae legis ad gratiam.

3.4 Trinität als Quell des Lebens in der Visio II,2 des Liber Scivias

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dieser Attributverbindung zweimal in betonter Schlussstellung eines Satzkolons.⁵³⁰ Aus dem Aufleben des Menschen folgt ein Leben in der zweifach wiederhergestellten Ehre Gottes und des Menschen: Einerseits ist es die Ehre des Menschen, die durch den Leib des Sohnes, der ein leibliches Opfer gab, wiederhergestellt wurde, so dass sein Leben nun im Leib Christi zum ewigen Leben vollendet werden kann.⁵³¹ Andererseits ist es die Ehre Gottes, für die der erlöste Mensch sozusagen zum Resonanzraum wird durch sein Gotteslob.⁵³² Aus diesen beiden Erklärungen wird deutlich, dass Hildegard ganz im Sinne neuerer Interpreten der sogenannten Satisfaktionstheorie⁵³³ argumentiert: Es geht insofern um die Ehre Gottes, insofern der Mensch wieder zu seiner eigenen Ehre auflebt. Zu dieser Erkenntnis gelangt sie, indem sie anhand eines johanneischen Grundwortes die Wirkungen der ökonomischen Trinität auf den Menschen ausschildert. So wird schon aus einer schlichten Stichwortauflistung zu einer Textpassage deutlich, dass die Autorin ausgehend von einer mehrperspektivischen Konturierung der christlichen Vorstellung vom Leben ein theologisches Gesamtpanorama entwickelt. Soteriologische Zielaussagen werden durch eine medizinische Begleitsemantik abgestützt: Das „Wasser der Wiederbelebung“ ist ein Heilmittel⁵³⁴ und eine medizinisch wirksame Kraft.⁵³⁵ Leben wird unter dem Aspekt der Vollendung und Dauerhaftigkeit verstanden.⁵³⁶ Daher bedarf es der Wiederherstellung des hiesigen Lebens. Erlösung als Rückführung steht semantisch in dichtem Kontext mit Worten des Lebens. Innerhalb unserer Stichwortliste zur Wortfamilie vita fallen 13 Nomen und Verben mit ‐re ins Auge. So ist ebenfalls das biologische Leben des Körpers kein rein physisches. Sondern jener erhält so wie die Seele neue Lebenskraft durch das baptismale Mitauferstehen mit dem auferstandenen Christus.⁵³⁷ Spielt allgemein die Metaphorik der Quelle des lebendigen Wassers eine große Rolle, so wird in der aufgelisteten Statistik zum Stichwort Leben im vorliegenden Textcorpus eine dichte Nähe der Semantiken von „Leben“ und „Wasser der Erneue-

 Z : praecellens honor vitae; Z : cum perditus homo reviviscit in honore vitae.  Z  f.  Z  – .  Vgl. Jürgen Werbick, Soteriologie, Leitfaden Theologie  (Düsseldorf: Patmos, ), .  Z : remedium vivificae salvationis.  Z : medicinalis vis.  Z  f: per quod perveniendum est ad caelestia; Z : in plena vita restaurationis salutis; Z : in ipso ad vitam permanens. Die Präposition per- lässt anklingen, dass dem Menschen ein Durchgang zu dieser Dauerhaftigkeit analog zu dem Durchgang Christi vom Tod zur Auferstehung von Nöten ist: per quod perveniendum est ad caelestia (Z  f) ⇨ et in ipso ad vitam permanens (Z ).  Z  – : sic et aqua spiritalem affert sanctifictionem, …quoniam et animam et corpus per spiritalem regenerationem confortans transmittit ad vitam.

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3 Visiones aus dem Liber Scivias

rung“, „aqua regenerationis“⁵³⁸ sichtbar, und zwar nicht in einem rein sakramententheologischen Umfeld, sondern indem der johanneische Ternar von Geist, Wasser und Blut zum Nachweis einer trinitätstheologischen Grundaussage dienen soll. So wird das gemeinsame Wirken der zu unterscheidenden Personen⁵³⁹ für die Lebenserneuerung der Menschen, appliziert durch die Grundsakramente von Taufe und Eucharistie, ausgefaltet. Hierbei geht es nicht um reine Verheißungen. Sondern es wird von zwei Seiten her ein Erkenntnisraum für die Sicherheit einer Heilserkenntnis aufgebaut, um dadurch echtes von trügerischem Leben abgrenzen zu können: Einerseits ist dem Menschen von Gott her der menschliche Geist als sicherer Grund für Erkenntnisurteile gegeben, wobei Gott zugleich die Spielräume für die möglichen Dimensionen von Gotteserkenntnis vorgibt.⁵⁴⁰ Andererseits ist durch den auferstandenen Christus als Leben selbst die Wahrheit des echten Lebens verbürgt. Somit werden Wahrheitserkenntnisse über echtes und rechtes Leben im Licht der Auferstehung möglich.⁵⁴¹ Auf dieser Basis entwickelt Hildegard einen Dreierschritt trinitarischer Spiritualität, als Aufruf: intellege ⇨ recordare ⇨ amplectere

Aus der Meditation der innertrinitarischen Relationen und der ökonomischen Heilswirkungen der Trinität kann der Mensch noch tiefer erfassen, was Gott für ihn tun will. Deswegen werden in der Darstellung der Trinitätsvisionen dem Menschen die drei Personen in Gott gezeigt und von der Stimme des lebendigen Lichtes erläutert: Ich habe sie deswegen dem Menschen gezeigt, damit er umso heftiger in Liebe zu mir entbrennt.⁵⁴²

Auf diese Intention Gottes, die mit der Werkintention des Liber Scivias identifiziert wird, soll der Mensch mit drei Akten antworten, die den augustinischen vestigia trinitatis von memoria, intelligentia, voluntas als psychologische Analogie für Trinität gleichen, aber – gemäß unserer These einer Re-Narratisierung von theologischen Fachtermini durch Hildegard – von abstrakten Nomen zu konkreten Appellen umgewandelt sind:

 In der obigen Liste x der Präpositionalausdruck per aquam regenerationis, x (per me) in aqua regenerationis. Dadurch ist die Medialität dieses Heilsmittels bezeichnet.  Z  – : Sic Pater, Filius et Spiritus sanctus testantur quod omnino non disiunguntur in potestate, quamvis in personis distinguantur, quia simul operantur in unitate simplicis et incommutabilis substantiae.  Z  – : Et sicut spiritus hominis est certissima causa scientiae quae ei a Deo data est, pertransiens in ea omnia quae sibi a Deo concessa sunt, quoniam non est falsa et deceptuosa vita sed acutissima.  Z  f: ita est Christus perfecta veritas in qua vita surrexit et lumen salvationis refulsit.  Z  f.

3.4 Trinität als Quell des Lebens in der Visio II,2 des Liber Scivias

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Also, o Mensch, erkenne (intellege) in diesen drei Personen deinen Gott.⁵⁴³ Erinnere (recordare) dich in deinem geistlichen Sinn der Einsicht an den, der dich erschaffen hat.⁵⁴⁴ Also, o Mensch, umarme (amplectere) so deinen Gott im Licht deiner Kraft.⁵⁴⁵

Mithin gelingt es der Autorin, Trinität als Lebensquelle zu beschreiben, deren Einsicht und Verehrung dem Menschen zum Lebensprogramm werden kann. Jedoch werden Schwächen in der Genauigkeit trinitätstheologischer Aussagen deutlich. Daher kann sie nicht eindimensional mit zeitgenössischen vorscholastischen Theologen wie Richard von St. Victor, oder mit Mitstreitern aus dem Umkreis der monastischen heilsgeschichtlichen Theologie wie Rupert von Deutz und Gerhoh von Reichersberg verglichen werden.⁵⁴⁶ Zuweilen verschwimmt der Aussagewert von Symbolbildern und Metaphern, so ansprechend manche Einzelaussagen wie die von Christus als palpabilis comprehensio auch sein mögen.⁵⁴⁷ Gerade wegen des Bemühens der Autorin, Trinitätstheologie von erkenntnistheoretischen Grundannahmen her zu gestalten, erscheint es als Tragik, dass sie hierzu nicht auf eine formelle philosophische Ausbildung zurückgreifen kann. Umso bemerkenswerter ist ihr Anliegen, eine Theologie der heilsökonomischen Trinität auf eine Theologie des Lebens hin auszugestalten!

 Z : Unde, o homo, intellege in his tribus personis Deum tuum.  Z  f: In intellectuali sensu tuo redordare illius qui te constituit.  Z  f: Unde, o homo, sic amplectere Deum tuum in lumine vigoris tui. Das Bildwort lumen ist ein indirekter Hinweis darauf, wie der Mensch als Ebenbild der Lichthaftigkeit der innertrinitarischen „Lichtkreise“ (vgl. Z ,,,) entspricht und in sie wie die Figur eines Menschen im Schaubild, die den Gott-Menschen repräsentiert, eingeborgen wird.  Jene Autoren könnten nur insofern sehr grob mit Hildegard verglichen werden, als sie ebenfalls das Schwergewicht auf die heilsgeschichtlichen und ekklesialen Wirkungen der ökonomischen Trinität verlagern. (Vgl. Franz Courth, Trinität. In der Scholastik, Bd. II/b, Handbuch der Dogmengeschichte (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ),  – ; sowie: Manfred Gerwing, Theologie im Mittelalter. Personen und Stationen theologisch-spiritueller Suchbewegungen im mittelalterlichen Deutschland (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ), ; ferner: Leo Scheffczyk, „Lehramtliche Formulierungen und Dogmengeschichte der Trinität,“ in MySal ,  – , der auf die grundsätzlichen Schwierigkeiten einer Synthese von spekulativer Trinitätstheologie und heilsgeschichtlicher Theologie hinweist).  Daher sollte der Liber Scivias nur sehr zurückhaltend der Theologie des Symbolismus im . Jahrhundert zugeordnet werden, wie dies etwa vorgeschlagen wird von Vicki Ranff, „Zur Auslegung eines Trinitätsternars durch Hildegard von Bingen für Bischof Eberhard von Salzburg,“ Archa Verbi  (): . Denn, anders als Ranff (a.a.O., ) suggerieren will, ist das literarische Darstellungsgewand als Vision und Audition keine Entschuldigung für mangelnde Stringenz.

4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum 4.1 Ich bin das ganz heile Leben: ¹ Theologische Wortfelder von Leben, Schönheit und Verheißung in der Visio LDO I,1 4.1.1 Konstante hildegardianische Theologumena in einer neuen textlichen Atmosphäre 4.1.1.1 Formale Analyse des Exordiums des Liber Divinorum Operum Nach einem Schreibbefehl durch die Stimme aus dem Himmel² setzt die erste Visio des Liber Divinorum Operum mit einer Visionsschilderung ein, die in ihrer materialen Bildlichkeit und in der Art der Beschreibung bereits wichtige theologische Hauptmotive ankündigt: Und ich sah wie (velut) in der Mitte der südlichen Luft ein schönes und im Mysterium Gottes wunderbares Bild (pulchram mirificamque in misterio Dei imaginem) wie (quasi) die Form eines Menschens, dessen Gesicht von solcher Schönheit und Klarheit war, dass ich leichter in die Sonne als in es selbst hätte schauen können.³

Die Wahrnehmungsweise und die Inhaltlichkeit der Schau sind in mehreren Formulierungen einer Einschränkung beschrieben: Die Vergleichsworte velut und quasi; das Erscheinen des Schaubildes „in der Luft“, als, wie man sagen könnte, „ätherische Erscheinung“; die doppelte Betonung des Mysteriums Gottes und des Erscheinungsbildes; die Helligkeitsausstrahlung des als gesehen geschilderten Gesichtes, die als kaum wahrnehmbar beschrieben wird. Jene

 Hildegardis Bingensis Liber Divinorum Operum (Abkürzung LDO), CCM , cura et studio A. Derolez et P. Dronke (Turnhout: Brepols, ), Pars Prima, Visio Prima, Cap. , , : Integra namque vita sum. Da die kritische Edition nach anderen Gesichtsweisen aufbereitet ist, als die des Liber Scivias, CCM , werden jeweils die betreffenden Capitula der Vision, die Seitenzahl der Edition und die Zeilenzahl genannt. (Auf einer Seite der Edition können gleichlautende Seitenzahlen unterschiedlicher Capitula abgedruckt sein). Innerhalb dieser Arbeit wird die lateinische Orthographie des LDO der Edition des Liber Scivias angeglichen. So wird zum Beispiel das ę caudatum aufgelöst in ae und werden v- Laute mit v statt mit u wiedergegeben. Dies soll nicht den Wert der Textnähe der kritischen Edition durch Derolez und Dronke schmälern und erfolgt unter dem Vorbehalt, dass die Konstruktion einer solchen Vereinheitlichung der lateinischen Orthographie der Opera Hildegardiana hier nur ein untersuchungstechnisches Hilfsmittel ist.  LDO Pars Prima, Prologus, , Z  f: iterumque vocem de celo me sic docentem audivi. Et dixit: Scribe ergo secundum me in modum hunc. Im Gegensatz zum Liber Scivias wird der Lehrcharakter der Audition, in dem es auf die genaue Ausdrucksweise ankäme, stärker betont. Vgl. die Analyse im Kapitel .  LDO Pars Prima, Visio Prima, Cap. , Z  – : Et vidi velut in medio australis aeris pulchram mirificamque in misterio Dei imagine quasi hominis formam, cuius facies tantae pulchritudinis et claritatis erat, ut facilius solem quam ipsam inspicere possem. Im Folgenden werden bei Zitaten aus dieser Visio gleich das Capitulum (Cap.), die Seitenzahl und die Zeile/n (Z) angegeben.

4.1 Theologische Wortfelder von Leben, Schönheit und Verheißung in der Visio LDO I,1

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letzte Wendung erinnert an die Metapher einer „Überhelle“ Gottes bei Dionysius Areopagita und Eriugena. ⁴ Die im Satz zuvor angedeutete lehrmäßige Bestimmtheit der deutenden Stimme steht im Gegensatz zu der Schau, die fast nur wie die Hypothese einer Schaumöglichkeit angedeutet wird. Leider ist nicht klar zu bestimmen, ob mit der imago, die im ersten Satz nach der Visionsschilderung zu sprechen beginnt, das ganze Visionsbild oder nur die wie ein Mensch erscheinende Figur gemeint ist. Die Verwendungsweise des Terminus imago im Liber Scivias und im Liber Divinorum Operum würde für letzteres sprechen. Aus dem Inhalt ihrer Rede kann zurück geschlossen werden, dass die forma hominis mit einem Gesicht Gott repräsentieren soll,⁵ und zwar den Gott-Menschen. Dass die Figur eines Menschen geschaut wird, weist schon auf die mehrfachen Anspielungen zur Mikrokosmos/Makrokosmos-Figur⁶ hin, die von der Autorin theologisch mit den Theologumena der Ebenbildlichkeit des Menschen und der Menschwerdung des Logos als einer Figur der Trinität verbunden werden. Dies wird in einem eigenen Unterkapitel dieses Abschnittes beleuchtet werden. Es entspricht der Denkfigur einer Spiegelung von Gott, Mensch und Kosmos, dass Schönheit, pulchritudo ⁷ als Prinzip des Wirkens Gottes und der Erkenntnis Gottes, die

 Vgl.Werner Beierwaltes, „Licht. I. Antike, Mittelalter und Renaissance,“ in HWP  (),  unter Bezug auf Johannes Scotus Eriugena, Expositio super ierarchiam cael. I,  PL , .  Das erste deutliche Textsignal nach einer Andeutung von Tätigkeiten, die nur einer übergeordneten Kraft zugeschrieben werden kann, ergeht erst in Cap. , , Z : Sed ego ignea vita substantiae divinitatis. Allerdings ist diese Formulierung so ungenau, dass sie immer noch pantheistisch oder gnostisch missverstanden werden könnte. Erst  Zeilen später folgt das Stichwort deus (Cap. , , Z ), das in einem gewissen Textbruch als Aussage über eine dritte Person dann noch weiter unten auf einen trinitarischen Gott bezogen wird (Cap. , , Z  f). Jenes Phänomen einer Verzögerung von Benennungen war ebenso im Liber Scivias zu beobachten. Es mag mehrere Gründe für diese literarische Strategie geben: Die Aufmerksamkeit des Lesers wird auf die Sachaussagen gelenkt, bevor er sie mit seinen eigenen Vorkonzepten von Gott und Dreifaltigkeit verbindet, die die Aufnahme des Neuen sonst zu schnell überlagern würden. Der geheimnisvoll „mystische“ Charakter der Schau wird durch solche Verschleierungen literarisch stilisiert. Beide möglichen Intentionen führen dazu, den Leser die Schau wie ein neuartiges Erlebnis wahrnehmen zu lassen, sowohl in der Ereignisatmosphäre als auch in den inhaltlichen Aussagen.  LDO Pars Prima, Visio Prima, Cap. , Z  – : Deus, qui omnia creavit, hominem ad imaginem et similitudinem suam fecit, et in ipso tam superiores quam inferiores creaturas signavit. In diesem Eingangssatz zu dem schöpfungstheologischen Hauptteil der Visio wird die Denkfigur Mikrokosmos/ Makrokosmos als Überschrift, als Prothema oder Prothesis für zahlreiche Einzelentfaltungen nicht nur in der ersten Visio, sondern für den ganzen Liber Divinorum Operum eingeführt. Daher ist deus bewusst das erste Wort dieser schöpfungstheologischen Rede und rahmt der Satzkern „Deus…signavit“ die zwei Spiegelfiguren von Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott und Ein-Zeichnung der anderen Geschöpfe in ihn als Mikrokosmos.  Bereits im Eingangssatz der Visio wird sie zweimal erwähnt: Cap. , Z : pulchram…imaginem; Z : tantae pulchritudinis. Durch die textliche Nähe von pulchritudo und claritas wird „Schönheit“ zum Prinzip der Wirkweise im Ausstrahlen, einer Wirkweise, die jedoch so infinit ist, dass sie der menschlichen Erkenntnis nur partiell fasslich und „erträglich“ ist.

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

sich wiederum in einer Schönheit der literarischen Darstellung spiegeln soll, in dieser Visio immer wieder betont wird. Vor einer späteren stückweisen Ausdeutung der Schau spricht die Figur mit dem Gesicht, durch das sie als Person auftritt, die anschaut und anschaubar ist, die anspricht, und ansprechbar ist, über ihr Wirken in und gegenüber der Schöpfung. Eine zweimalige Selbstbeschreibung als feurige Kraft (ignea vis) rahmt eine Selbstaussage als feuriges Leben (ignea vita).⁸ Dabei wird von vornherein ihre Eigenschaft als „Anzünderin“ des Lebens angesprochen: Und diese Bildfigur (imago) sprach: Ich bin die höchste und feurige Kraft (ignea vis), da ich alle lebendigen Funken (viventes scintillas) entzünde.⁹

Die Bildlichkeit dieses Satzes wird in einem folgenden Absatz, der im Abschnitt 4.1.3.1 analysiert werden wird, anhand verschiedener Naturphänomene dichterisch entfaltet, ehe sie in weitere Ausführungen mit eher abstraktiveren theologischen Erklärungen der naturtheologischen Sachverhalte mündet. Der zitierte Satz ist ein prägnantes Beispiel für die gleichzeitigen Stärken und Schwächen Hildegards im Spiel mit verschiedenen Ebenen metaphorischer Diktion: „Anzünden“, eine erstarrte Metapher,¹⁰ die durchaus als Fachterminus für die Inspiration durch den Geist Christi als Schöpfergeist verstanden werden kann, wird durch das evozierte Bild des Funkensprühens in seinen primären Bildwert zurückgeführt, remetaphorisiert: göttliche Tätigkeit auf der Sachebene einer „erstarrten“ Metapher (z. B. fluere, accendere) ⇨ Rückführung auf die Bildebene (Remetaphorisierung), ⇨ jedoch so, dass konkrete Auswirkungen in der außerliterarischen, physischen Welt behauptet werden (Z. B. „lebendige Funken werden angezündet, die in der Natur aufleuchten“) ⇨ Eindruck des Pantheismus, Trennlinien zwischen Immanenz und Transzendenz verschwimmen¹¹

Es ist eine deutliche Stärke der Autorin, erloschene Metaphern, die aus geprägten Fachausdrücken kaum mehr herausgehört werden, wieder bewusst zu machen durch

 Cap. , , Z .  Cap. , , Z  f.  Vgl. zu diesem Phänomen Hans Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, Hg. Ulrich von Bülow and Dorit Krusche (Berlin: Suhrkamp, ), , ; ferner Ivo Brack, Poetik in Stichworten. Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe, unveränderter Nachdruck der ., überarbeiteten und erweiterten Auflage von Martin Neubauer (Berlin/Stuttgart: Gebrüder Borntraeger, ), .  Jener Eindruck eines „Verschwimmens“ verstärkt sich dadurch, dass sich durch solche Wendungen bereits auf der Textoberfläche die Textsegmente von Bildbeschreibung und Bilddeutung ineinander verstauchen. So in Cap. , : Zum Adlerskopf mit den feurigen Augen (a.a.O., Z  f) gesellt sich der feurige Blitz (fulgor) der Engel, der Sonne, der Sterne (a.a.O., Z ,,). Diese Ungenauigkeiten stehen der Grandiosität des Motivs der Spiegelschau entgegen, die zuweilen als Spiegel im Spiegel auf unterschiedlichen Textebenen erscheint (a.a.O., Z : velut in speculo), so dass der Text exemplarisch solche Spiegelschauen vorführt.

4.1 Theologische Wortfelder von Leben, Schönheit und Verheißung in der Visio LDO I,1

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Begleitsemantiken, die eine konkrete Visualisierung anregen. Doch hierin birgt sich zugleich eine Schwäche in der argumentativen theologischen Aussagekraft solcher Textfiguren: Durch die Rückführung ins konkrete, zunächst durch seine Farbigkeit den Leser für sich gewinnende Bild werden theologische Differenzierungen verwischt: So wird der Impuls Gottes für die Welt, sein „Energieschub“, zu schnell in konkrete materielle Auswirkungen umgesetzt. Der grundlegende Unterschied zwischen Schöpfer und Schöpfung verschwimmt und muss durch zusätzliche Formulierungen und Mahnungen wieder aufgefangen werden.¹² Dies unterläuft der Schriftstellerin, wie wir in den Untersuchungen zu Visionen aus dem Liber Scivias gesehen haben, weniger in der Gnadenlehre, denn in der Trinitäts- und Schöpfungslehre, wodurch sich für die Rezeption der Gesamtsystematik eines theologischen Denkers gravierende Folgen ergeben.¹³ Nach der Selbstvorstellung als feurige Lebenskraft, durch die eine Theologie des Lebens als Thema der Visio angekündigt ist, wechselt das Sprecherich von der imago zurück zur vox aus dem Himmel. Jene spricht dann über Gott in der dritten Person. Hier stellt sich die sachlogische Frage nach dem Verhältnis oder gar einer möglichen Identität von dem Erzählerich der Bildfigur mit der erklärenden und deutenden Stimme, die sich bereits im Prolog über die Wendung „der ich ohne Anfang und Ende Leben bin“¹⁴ als Gott andeutet: Handelt es sich um zwei Stimmen, die beide Gott in seiner Einheit vertreten? Oder kann analog zu einer prosopographischen Ausdeutungsweise, die eine Stimme GottVater und die andere Gott-Sohn (in der Menschengestalt) zugeordnet werden? Ist diese deutungsoffene Unbestimmtheit ein bewusster literarischer Kniff oder eine ungewollte Ungeschicklichkeit der Darstellung? Soll so der „schwebende“ Eindruck des Visionsbildes auch den Deutungstext prägen? Gegen einen Flüchtigkeitsfehler der Autorin spricht, dass ja beide Sprecher in die Erzählperspektive der Autorin, die sich als Seherin und Hörende schildert, eingeordnet sind. Auf jeden Fall setzt sich die Darstellungsstrategie der Unbestimmtheit auf der Ebene der Wirkungsintention fort. Statt gehäufter direkter Appelle wie im Liber Scivias

 Vgl. zum Beispiel: Cap. , , Z: ignea vita substantiae divinitatis, Z : quadam invisibili vita; Z : Ego itaque vis ignea in his lateo. Doch auch diese letzten beiden Wendungen bannen die Gefahr eines Pantheismus nicht, da das Wie des unsichtbares Inneseins des Leben Gottes im Menschen nicht geklärt wird. Eher wird so der Begriff des Lebens unpräzise, anders als in anderen Kontexten des Opus Hildegardianum.  Da sich diese leise Gewichtsverschiebungen in der Vermengung von Bild- und Sachebene von Metaphern, durch die die Sphären vom Immanenz und Transzendenz verrutschen, durch deutsche Übersetzungen und Auswahlausgaben für weitere Leserkreise eher noch verstärken, könnte vorsichtig angefragt werden, inwieweit ist sinnvoll ist, das Werk Hildegards nach ihrer Erhebung zur Kirchenlehrerin ohne kommentierende Erklärungen und Einschränkungen zu popularisieren. M. E. wäre es hilfreich, gewisse Randunschärfen ihrer literarischen Einkleidung theologischer Zusammenhänge durch ein dogmatisches, ggf. lehramtliches Gutachten zu erhellen.  LDO Prologus, , Z : qui sine initio et fine vita sum.

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

wird dem Leser eher in Verheißungen¹⁵ vor Augen gestellt, was ein Leben mit Gott bedeuten könnte. Dies wird am Ende der Visio in einer Exegese, in der die Gotteserfahrungen von Adam und Eva, Abraham und Maria miteinander verschränkt werden, angedeutet als eine Art Ausblick für all die Leser, die das ganze Visionswerk Liber Divinorum Operum ernst nehmen¹⁶ und durch es wie die Vorbildfigur Abraham ihr gläubiges Vertrauen zu Gott vertiefen wollen.¹⁷ Ihnen wird nicht nur Heil für die Seelen, sondern auch für die körperliche Existenzweise versprochen.¹⁸ Der längere Mittelteil zwischen der Selbstvorstellung von Gott als flammenden Leben¹⁹ und der aus zentralen Stationen der Heilsgeschichte abgeleiteten Verheißung bildet eine Abhandlung über Gott als Schöpfer. Hierbei wird ausgehend von der praescientia Dei jenseits der geschaffenen Zeit Schöpfung immer wieder auf ihre Überbietung in der Erlösung hin gedacht. Die gedankliche Verbindung wird über die Semantik der Fülle erreicht: Der Kernbegriff der Fülle, plenitudo, impliziert integritas. ²⁰ Deren Gefährdung beim Menschen in Versuchung und Fall begegnet die göttliche plenitudo caritatis, mit der sie schon im Vorauswissen der Schöpfungsdinge jene bedacht hatte.²¹ So wird in Nebenaussagen²² auch Gott als plenitudo vorgestellt und die Kategorie der Fülle mit der von Leben und Heilsein verbunden, sei es auf der Ebene Gottes, sei es auf der Ebene des Menschen. Obwohl der Ausgangspunkt von der Fülle, vom Pleroma gerade bei neuplatonischen Autoren beliebt ist, wird er von Hildegard nicht in deren  Nach einem Anklang an die benedictio Dei (LDO Pars Prima,Visio Prima, Cap. , , Z ) lässt die Autorin die Sprecherstimme eine Verheißung an den Leser aussprechen: Quapropter quicumque fideliter crediderit, divinae promissioni, …computabitur iustus inter filios Dei (LDO Cap. , ,  f). Das Verb computabitur, das in Cap. , ,  f wiederholt wird (in plenum numerum celestis computandum erat) erinnert an die Vorstellung einer Komputativgerechtigkeit.  LDO Pars Prima,Visio Prima, cap. , , Z : Omnis itaque homo qui Deum timet et diligit verbis istis devotionem cordis sui aperiat.  Cap. , ,  f: Et quoniam ille Deo fideliter in omnibus credidit.  Cap. , ,  f: ac ea 〈verba ista〉 ad salutem corporum et animarum hominum …prolata.  Jenes kann auf Grund der Bildlichkeit in der figura hominis in besonderer Weise Gott-Sohn appropriiert werden, auf Grund des Bildmotivs des Feuers und des Entflammens jedoch ebenso GottHeiliger Geist.  Cap. , , Z  – : Nam in scientia caritatis homo est anima et corpore ad plenitudinem integritatis perductus, quamvis a statu recte stabilitatis multociens moveatur.  Cap. ,, Z  f: Deus enim in aeternitate sua omnes creaturas praescivit, quas in plenitudine caritatis…protulit.  Dies muss allerdings erst durch genaue Textlektüre erhoben werden. Es wird nicht in einer systematisierten Abfolge vorgebracht, die zum Beispiel lauten könnte: „Gott ist Fülle. Darum ist für Geschöpfe, die von ihm erdacht sind und sein Ebenbild sind, Fülle ein Ziel. Jenes wird heilsgeschichtlich durch die Erlösung und die geheilte Existenz auf Dauer im Himmel erreicht.“ Ein Mangel an Systematisierung besteht ferner darin, dass die Autorin zwar im selben Kontext trinitarische Formeln einfließen lässt, jedoch nicht auf ihren eigenen Gedankengang einer Ableitung einer Einheit in Dreiheit aus einer Einheit in Differenz als höhere Fülle von Einheit zurückgreift, wie sie ihn im Liber Scivias skizziert hatte (vgl. Kapitel . dieser Arbeit).

4.1 Theologische Wortfelder von Leben, Schönheit und Verheißung in der Visio LDO I,1

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Sinn gebraucht: Einzeldinge entstehen erstens durch Schöpfung, nicht durch Emanation, wobei Fülle als ideale Existenzbedingung der Geschöpfe schon im Geist, im Vorauswissen Gottes grundgelegt ist. So ist ihr zweitens die Vorstellung eines Pleroma als Zwischenstation zwischen Gott, Demiurgen²³ und geschaffenen Einzeldingen fremd. Plenitudo wird bei ihr zu einem Attribut, das lebendigen res auf allen Seinsebenen zugeschrieben werden kann. Mithin überdecken sich vita, plenitudo, integritas fast schon als Höchstbegriffe, gleichermaßen für alles Geschaffene, das existiert, und für Gott.

4.1.1.2 Fortführung des semantischen „Baukastens“ aus dem Liber Scivias Noch weitere hildegardianische Grundworte, die bereits im Liber Scivias eine tragende Rolle spielten, finden sich wiederum im Liber Divionorum Operum. Zeigt sich so einerseits die Konstanz eines „semantischen Baukastens“ über Jahrzehnte eines vielfältigen Werkprozesses hinweg, werden jene Grundworte dennoch im letzten Band der Visionstrilogie in einen neuen Kontext gestellt, der auf Verschiebungen im theologischen Erkenntnisinteresse und des Ausdruckswillens der Autorin hinweist. Im Folgenden seien einige²⁴ tragende Semantiken, zentrale Symbole und Sprachformeln zusammengefasst, die sich sowohl in dieser Visio des Liber Divinorum Operum als auch im Liber Scivias nachweisen lassen:

 Gnostische Lehren hatten den Gedanken der Fülle zwar aus den Zusagen des Neuen Testamentes entlehnt, aber in ihrem Sinn uminterpretiert, in endlosen Ketten von Emanationen, die sich zu einem Zwischenraum zwischen Gott und Geschöpfen verdichten. (So Wolfgang Ullmann, „Fülle,“ in HWP  ():). Hingegen ist die heilsgeschichtliche Semantik der Fülle der einer Verheißung, promissio benachbart. Jene impliziert wiederum den Glauben des Menschen als mögliche Antwort darauf. Aus derartigen textlichen und sachlichen Gesichtspunkten schichtet sich nach und nach ein semantisches Feld rund um den christlichen Begriff des Lebens auf, hier zum Beispiel in der Abfolge: vita ⇨plenitudo⇨promissio⇨fides.  Hierbei ist keine vollständige linguistische Analyse angestrebt, wie sie mit den Mitteln der Computerlinguistik zu leisten wäre. Sondern es wird eine Auswahl vorgestellt, anhand derer theologische Konstanten zwischen dem ersten und letzten Band der Visionstrilogie erhoben werden können.

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Tragende Semantiken in der Visio  der Prima Pars des Liber Divinorum Operum, die auch aus dem Liber Scivias bekannt sind: cadere, celsitudo, colligere, conculcare, considerare, consortium, consummatio, ad nihilum deducere, desiderium, dona Spiritus Sancti, fides catholica, forma/formatio, gaudere, gaudium, honestas, humana natura, humilitas, imago, inspicere, integritas, lux, officium, opus, ostensio, mors, ad finem perducere, perficere, perseverare, plenitudo, rationalitas, sonare, spiritalis populus, splendor, suscipere, tenebrae, umbra, verbum, veritas, vestigia, vestis/vestimentum, vita/vivere, vitalis, viriditas. zentrale Symbole, die bereits aus den untersuchten Visiones des Liber Scivias vertraut sind: agrum/terra, columna, cor, flamma/flammare, lapis, speculum Sprachformeln, die ebenso in den untersuchten Visiones des Liber Scivias identifiziert wurden: ego- sum Formel sub-Formel (, Cap., Z ) re- Formel (, Cap. , Z )

Trotz dieser Übereinstimmungen kann eine Fortentwicklung des Sprachstils Hildegards beobachtet werden.

4.1.1.3 Größere Dichte von philosophischen und theologischen Termini Es mag verschiedene Gründe haben, warum der Liber Divinorum Operum eine größere Dichte an philosophischen und theologischen Fachtermini aufweist als der Liber Scivias. Zum einen kann dies an der Mithilfe neuer Mitarbeiter liegen.²⁵ Zum anderen kann dies aus einem erweiterten Austausch mit der theologischen Fachwelt in Gesprächen, Briefen und der Lektüre theologischer Werke resultieren, der sich infolge der Resonanz auf die ersten Veröffentlichungen Hildegards ergab.²⁶ Der dritte, tiefste Grund ist jedoch, dass sich wohl das Erkenntnisinteresse der Autorin von einer allgemeinen, überblicksweisen und für die Volkskatechese geeigneten Darstellung des Glaubens und der Heilsgeschichte auf Fragen der Schöpfungstheologie, der Naturtheologie, der Anthropologie²⁷ und der Exegese²⁸ verlagert hat. Diese Verlagerung darf nicht unterbewertet werden.

 Vgl. hierzu Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen. Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Erudiri Sapientia IV (Berlin: Akademie, ), ,, der hierin gar „…die kooperativ-korporativen Merkmale der Rupertsberger Schreibstube…“ erkennen will.  Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen,  – .  Der Focussierung auf anthropologische Fragen in heilsgeschichtlicher Beleuchtung entspricht das Eingangszitat des exegetischen Schlussteiles der Visio aus Gen ,: Adam, ubi es? (, Cap. , Z ). Diese Frage könnte als Überschrift für weite Teile des Liber Divinorum Operum gelten.

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Sie steht dem Wunsch der Schriftstellerin und der ersten mittelalterlichen Generation von Herausgebern, Rezipienten und von Promotoren einer eventuellen Heiligsprechung nach einer Glättung ihrer Aussagen zu einem harmonischen Gesamtwerk entgegen. Wie wir im Methodenkapitel gesehen haben, verleitete dieser Wunsch der ersten Editoren und Interpreten noch heutige Forscher, kursorisch Aussagemengen zu einer religiösen Frage aus dem Gesamtwerk zusammen zu stellen, ohne den jeweiligen Werkkontext zu beachten. Die Verschiebung von theologischen Schwerpunktinteressen zwischen dem Liber Scivias und dem Liber Divinorum Operum, der wohl zwischen 1163 – 1174 entstand,²⁹ korrespondiert dem geistesgeschichtlichen Hintergrund.³⁰ Bereits im Liber Scivias finden sich Spuren einer nicht explizit benannten Auseinandersetzung mit naturphilosophischen und anthropologischen Positionen der Schule von Chartres. ³¹ Möglicherweise zog sich die Autorin zudem von kirchenpolitischen Auseinandersetzungen und Beschwerlichkeiten³² auf grundsätzlichere Themen wie Schöpfungsordnung und Anthropologie zurück, nicht ohne jene Themengebiete zu einem indirekten Spiegel für Ungeordnetheiten in den Verhältnissen in Kirche und Welt zu machen. Die veränderten Schwerpunktsetzungen manifestieren sich in einer neuen literarischen Struktur. Formal bleibt sie dem Werkplan einer Gliederung in Einzelvisionen treu. Tatsächlich jedoch wachsen sich mehrere Visiones zu einem „Buch im Buch“ von über hundert Seiten aus und können als Einzelmonographien gewertet werden.

 In einer autobiographischen Passage in der Vita berichtet die Autorin selbst über einen Entstehungszusammenhang zwischen ihren exegetischen Studien zum Johannesevangelium und dem Liber Divinorum Operum: Vidique, quod eadem explanatio initium alterius scripturae quae necdum manifestata erat esse deberet, in qua multae scrutationes creaturarum divini mysterii quaerendae essent. (Vita Sanctae Hildegardis, Liber , Visio Septima, in Vita Sanctae Hildegardis / Canonizatio Sanctae Hildegardis, Fontes Christiani , lateinischer Text nach CCM , Übers. u. eingeleitet von Monika Klaes (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ), , Z  – ; die lateinische Orthographie wurde der aus der kritischen Edition des Liber Scivias angeglichen.) Trotz des Stichwortes vidi spricht sich hier ein gezielter Produktionsplan Hildegards aus, eine Strategie zum Aufbau eines vernetzten Gesamtwerkes!  Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen,  f.  Zur Ausweitung der Naturphilosophie und Naturtheologie im . Jahrhundert vgl. Marie-Dominique Chenu, La théologie au douzieme siècle, Études de philosophie médiévale (Paris: J. Vrin, ), . Grundlegend für die neuere Forschung ist Andreas Speer, Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer „scientia naturalis“ im . Jahrhundert (Leiden/New York/Köln: E.J. Brill, ). Den Versuch einer Integration der neuen naturwissenschaftlichen Interessen in das herkömmliche Bildungsprogramm der Artes Liberales unternahm Hugo von St. Victor (Hugonis de Sancto Victore Didascalion. De studio legendi, Studies in Medieval and Renaissance Latin, a critical Text, edited by Charles Henry Buttimer (Washington: Catholic University Press, ), Liber primus,  f, c., De Physica & Liber Primus, , c. , Medicina).  Die Rede vom homo liberatus in Scivias, Prima Pars, Visio secunda, , Z  könnte als Replik auf die Denkmöglichkeit zur Schaffung eines homo perfectus bei Alanus von Lille verstanden werden (Alanus von Lille, Contra Haereticos, Liber I c, PL ,  B).  Vgl. die Anspielung im Prologus , Z  f: pressura apostolicae sedis nondum sopita sub Friderico Romanae dignitatis imperatore.

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Die Veränderung der Tonlage im Liber Divinorum Operum lässt sich unter anderem an der größeren Okkurrenz von philosophischen und theologischen Fachworten belegen:³³ Theologumenon:

Renarratisierung im Kontext:

incurvatio in se ipsum recurvatio (, Cap. , Z ); incurvans (, Cap. , Z ) substantia ignea vita substantiae divinitatis (,Cap.,Z ) essentia invisibilis vita invisibilis (, Cap. , Z ; , Cap. , Z ) innumerabilis indeficiens divinitas (, Cap. , Z ) imago et similitudo (vielfache Nennungen) redimere transcendere infusio/infundere/perfundere/perfusio potentia possibilitatis (, Cap. , Z  f) praescientia aeternitas

4.1.2 Speculum und significatio: Ästhetik der Spiegelung als Prinzip von Schöpfung, Textproduktion und Argumentation 4.1.2.1 praesignare und designare: Literarische Deutungsfiguren als Nachzeichnung der praescientia In der Visio finden sich zahlreiche explizite Hinweise auf den Verweisungssinn von als geschaut geschilderten Bildern. So wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Erkenntnis gelenkt, dass die Audition der theologischen Tiefendeutung der Vision dient: Dies zeigt auch diese Schauung, die Du siehst!³⁴

Durch das gestaffelte Verfahren von Visionsbericht und Deutungsangeboten gewinnt der Text eine Tiefenperspektivik, ähnlich, wie wenn man versucht, auf einem zweidimensionalen Material drei- oder mehrdimensionale Raumverhältnisse wieder zu geben. So wird durch die Werkstruktur vorgeführt, wie eine immer tiefere Erkenntnis Gottes in seine Unendlichkeitsräume, in sein mysterium hineinführt. Um zu erklären, warum Aussagen über den scheinbaren Umweg von Visionsschilderung und Vortrag einer Deutung, die als von Gott selbst kommend geschildert wird, formuliert werden, führt die Autorin den Begriff significatio ein. Es handelt sich

 Die Fundorte werden im Folgenden nur bei Beispielen zur Renarratisierung genannt.  , Cap. , Z  f: Hoc et visio haec, quam vides, demonstrat.

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um einen Expressionsvorgang Gottes, der durch die Art seines Ausdrucks den Menschen zur unkörperlichen Tiefensicht des Glaubens animieren soll: Durch diese bildliche Ausdrucksweise (significatio) wird gezeigt, dass durch sie jener im Glauben erkannt werden kann, der nicht mit sehfähigen Augen in innerweltlicher Optik gesehen werden kann (qui visibilibus oculis visibiliter non videtur).³⁵

Mit dieser Erklärung an den Leser legitimiert Hildegard ihre literarische Darstellungsstrategie von Schauungen und von Gottesreden, und zwar nicht in Hinblick auf sie als Autorsubjekt, das so als Stellvertreter eines göttlichen auctor aufgewertet werden könnte. Sondern sie argumentiert im Hinblick auf den Leser: Die von ihm geforderten Decodierungsleistungen sollen ihn in Schauweisen des Glaubens als einer anderen Art von Sehen und Erkennen einführen. Hierbei gilt es, Bilder und Symbole in ihren horizonteröffnenden Tiefendimensionen zu „lesen“. Dies ist möglich, weil in der Analyse des Glaubensaktes als eines Sehens³⁶ der Zusammenhang zwischen Glaubenserkenntnis und Sachstrukturen dadurch begründet ist, dass Gott bereits in der Vorsehung die zu schaffenden Geschöpfe auf ihren Darstellungssinn von Erkenntnissen über Welt und Gott hin konzipiert. In dem Begriff der praescientia wird der Entstehungsort der Parallele von Schöpfunsgsordo, Erkenntnisordo und daraus abzuleitendem moralischen Ordo identifiziert: Alles freilich, was Gott gewirkt hat, hatte er vor dem Beginn der Zeit in seinem Vorauswissen (in praescientia sua). In der reinen und heiligen Gottheit erschien (apparuerunt) vor jeglicher Zeithaftigkeit (ante aevum) ohne Zeitmoment oder Zeitdauer (absque momento et absque tempore) alles Sichtbare und Unsichtbare. Auf ähnliche Weise können Bäume und andere Geschöpfe, die Gewässern benachbart sind, in ihnen gesehen werden, obwohl jene sich ja nicht körperlich in ihnen aufhalten. Aber dennoch erscheint ihre ganze Gestalt in ihnen.³⁷

Ähnlich wie im Sprachbild der fons vitae als eines Leitmotivs im Liber Scivias wird hier das Beispiel des Wassers für die Erläuterung von Spiegelungsfiguren in Schöpfung und religiöser Erkenntnis herangezogen. Bereits in der Visionsschilderung wird eine Spiegelung des Glanzes der Engel erwähnt.³⁸ In der Ausdeutung jener Stelle wird ihr Glanz, der sich in den Adlersaugen des Schaubildes spiegelt, als Gotteslob geschildert.³⁹ So wird unausgesprochen das Panoptikum von Spiegelungen von Gott,Welt und Mensch um die kultische Dimension erweitert und in der Herrlichkeit Gottes selbst fundiert.  , Cap. , Z  f.  Hildegard untersucht ebenso weitere Facetten des Glaubensvorganges, zum Beispiel die des Vertrauens, vgl. unten das Schaubild unter Abschnitt ....  , Cap. , Z  – .  , Cap. , Z – : quasi caput aquilae, quod igneos oculos habebat, aspiciebam, in quibus fulgor angelorum velut in speculo apparebat.  , Cap. , Z  f- , Cap. , Z : Et sicut splendor solis ipsum indicat, ita etiam angeli Deum laudando ostendunt.

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Die Spiegelungen, die aus der Selbsterkenntnis Gottes in seiner praescientia als einer ersten Spiegelschau hervorgehen, werden in Akten des Glänzens und Erscheinens geschildert: So, wie im Spiegel alles, was vor ihm ist, glänzt, so erschienen (apparuerunt) in der heiligen Gottheit alle Seine Werke noch außerhalb einer zeitlichen Dimension (sine aetate temporum).⁴⁰

Das Verb apparuere erscheint in dieser Visio, aber ebenso in Erzählungen der Schaubilder im Liber Scivias, immer wieder, um den Auftritt einzelner Bildmomente im geistlichen Wahrnehmungsvorgang der Ich-Erzählerin zu kennzeichnen sowie die schwebende Immaterialität der geschauten Dinge und Vorgänge. Wenn ein und das selbe Verb für die innergöttliche praescientia und für die Dramaturgie der Erzählung von der Schau als eines Geschehensablaufes verwendet wird, deutet dies an, dass die Autorin ihr Werk als Angebot eines andeutungsweisen Einblickes in das Sehen Gottes in Vorauswissen, Schöpfung und Heilsgeschichte stilisiert. Aus diesen Verknüpfungen von Vorauswissen und Erscheinen wird Schöpfung als Design geschaffener Wesen mit einem Aussagesinn verstanden. Zum Beispiel weist die Trichotomie des Menschen in Rationalitas, Körper und Seele auf die Dreieinigkeit hin.⁴¹ Mit dem Verb praesignare wird ebenso die typologische Andeutung von Heilsereignissen im Neuen Testament durch alttestamentliche Begebenheiten bezeichnet.⁴² Weil der Mensch nach dem Ebenbild eines Gottes geschaffen ist, der in sich das Vorauswissen um alle Schöpfungsdinge hat, wird der Mensch in seinen Proportionen ein Symbol aller Geschöpfe.⁴³ Dies wird detailreich in der Vierten Visio des ersten Teils des Liber Divinorum Operum entfaltet werden, so ausführlich, dass sich jene Visio zu einem Buch im Buch auswachsen wird. Hierbei werden die Theologumena der Gottebenbildlichkeit und der Mikrokomos/ Mikrokosmos-Denkfigur miteinander gekoppelt.

4.1.2.2 Makrokosmos/Mikrokosmos als zentrale Bildfigur Jene Denkfigur und Bildfigur führt Hildegard aus der philosophischen, theologischen und literarischen Tradition weiter, ⁴⁴ die auf den Timaios des Plato zurück geht.⁴⁵ Da sie

 , Cap. , Z  – : Sicut enim in speculo omnia quae coram ipso sunt radiant, sic in sancta divinitate omnia opera eius sine aetate temporum apparuerunt.  , Cap. , Z  – : Aeternitas itaque Pater,verbum Filius, spiramen haec duo connectens Spiritus Sanctus dicitur, sicut etiam Deus in homine, in quo corpus, anima et rationalitas sunt, signavit.  , Cap. , Z  – : oboedientia quoque Abrahae, in qua Deus fidem ilius probavit, …oboedientiam beatae virginis praesignavit.  , Cap. , Z  – : per hominem…, quem ad imaginem et similitudinem suam fecit, et omnes creaturas secundum mensuram in ipso homine signavit.  Zu dieser Bildfigur bei Bernhardus Silvestris, dessen Werk De Universitate Mundi sich in die Bücher Megacosmus und Microcosmus teilt, und bei Alanus von Lille vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter (Tübingen und Basel: Francke, ),  und .

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ihr im Liber Divinorum Operum einen zentralen Platz einräumt, wird die Autorin zu einer wichtigen Exponentin⁴⁶ dieser Vorstellung einer Abspiegelung der Schöpfungsdinge im Menschen als Ebenbild.⁴⁷ Die wechselseitige Abbildlichkeit vom Mikrokosmos und Makrokosmos ist sowohl eine Denkfigur, um die innere Bezogenheit von Mensch und Natur zu markieren, als auch eine Bildfigur. Bereits in der Architekturästhetik des Vitruv wird der Mensch entweder einem Kreis als Symbol für Vollkommenheit (homo circularis) oder einem Quadrat als Bild für die vier Elemente und Weltgegenden eingeschrieben (homo quadratus).⁴⁸ Die unter dem Namen des Gregor von Nyssa überlieferte anthropologische Schrift De Natura Hominis des Nemesios von Emesa,⁴⁹ die 1085 ins Lateinische übersetzt wurde, machte dieses Motiv in der theologischen und spirituellen Literatur heimisch.⁵⁰ Sie wurde insbesondere von Johannes Damaszenus, Isidor von Sevilla und Eriugena weiter tradiert.⁵¹ Für unsere Untersuchung ist vor allem hervorzuheben, dass diese Bildfigur schon bei Plato in den Symboliken von Kreisbahnen und zentrierten Kugelgestalten in den Denkzusammenhang mit der Anschauung des vollkommen Lebendigen gesetzt wurde.⁵² Hildegard wird in ihren anthropologischen und medizinischen Texten insbesondere hinsichtlich der Elementenlehre⁵³ die Entsprechung von Mensch und Natur als einer schöpfungstheologischen Aussage der scriptura creatoris ⁵⁴ beleuchten.

 Vgl. Max Wehrli, Literatur im deutschen Mittelalter. Eine poetologische Einführung (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ), . Relevant sind u. a. Timaios c (Seele und Körper bilden den Bau des Weltalls ab) und Timaios b (mit der Forderung, wie ein lebendiges Wesen gestaltet sein müsse, dass alles andere Lebendige in sich fasst).  Vgl. Otto Betz, Hildegard von Bingen. Gestalt und Werk, mit einem Beitrag von Felicitas Betz (München: Kösel, ), .  Zum Zusammenhang der Imago-Lehre mit der Bildfigur Mikrokosmos/Makrokosmos in der monastischen Theologie des . Jahrhunderts vgl. Stephan Otto, Der Bildbegriff in der Theologie des . Jahrhunderts, Beiträge zur Philosophie und Theologie des Mittelalters / (Münster in Westfalen: Aschendorff, ), .  Vitruv, De Architectura Libri Decem. Zehn Bücher über Architektur, Liber , Cap. ., Übers. Franz Reber (Wiesbaden: Marix, ), .  Zu diesem Autor aus dem ./. Jahrhundert siehe: Peter Krafft, „Nemesios,“ in LthK : .  Vgl. Walter Kranz, Kosmos, Archiv für Begriffsgeschichte. Bausteine zu einem historischen Wörterbuch der Philosophie Bd. , Hg. Erich Rothacker (Bonn: H. Bouvier, ), .  Vgl. Matthias Gatzemeier, „Makrokosmos/Mikrokosmos,“ in HWP  (): .  Plato, Timaios  e.  Z. B. Beatae Hildegardis Causae et Curae, Rarissima mediaevalia Opera Latina Volumen I, edidit Laurence Moulinier, recognovit Rainer Berndt (Berlin: Akademie ), Liber (), , Z  – : Sed quemadmodum anima rationem, intellectum, scientiam et sensibilitatem in se continet, sic etiam firmamentum quatuor elementa secundum genus sum in se continent et sustentat.  Beatae Hildegardis Causae et Cure, Liber II (), , .

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4.1.3 Semantische Felder um den Begriff des Lebens 4.1.3.1 Analyse von Kernstellen Um den Textbereich der folgenden Analysen zu konkretisieren, sei eine Übersetzung von Kernpassagen aus dem zweiten Capitulum der Visio vorangestellt: Aber ich, das feurige Leben (ignea vita) des göttlichen Wesens flamme über⁵⁵ die Schönheit der Äcker (super pulchritudinem agrorum flammo). Ich leuchte in den Gewässern und brenne in Sonne, Mond und Sternen. Durch den lufthaften Wind erwecke ich wie mit einem unsichtbaren Leben, das alles enthält, auf lebensspendende Weise alles zum Leben (invisibili vita….vitaliter omnia suscito). Die Luft lebt nämlich in der Grünkraft und in den Pflanzen, die Gewässer fließen wie im Lebensfluss, die Sonne lebt in ihrem Licht…Dies alles lebt in seinem Wesen und kann nicht im Bereich des Todes gefunden werden, weil ich das Leben bin. Ich bin die Rationalitas. Ich habe den Wind des klingenden Wortes, durch den alle Kreatur geschaffen ist. In ihm hauche ich allem Leben zu, damit keines in seiner Art sterblich sei, weil ich das Leben bin. Denn ich bin das ganz heile Leben, das nicht von Steinen geschnitten ist und nicht von den Zweigen grünt und nicht der Manneskraft entstammt. Sondern alles Lebendige stammt von mir als Wurzel (de me radicatum est). Die Rationalitas ist die Wurzel; das tönende Wort aber blüht in ihr selbst. …Aber ich bin auch dienstbereit (officialis), da alles Lebendige von mir her brennt. Ich bin das gleichbleibende Leben in der Ewigkeit, das nicht entstanden ist und nie vergehen wird. Dieses ein-und dasselbe Leben, das sich bewegt (movens) und das wirkt (operans), ist Gott. Dennoch ist dieses Leben eines in drei Kräften. Die Ewigkeit wird der Vater, das Wort der Sohn, die Hauchung (spiramen), die beide verbindet (connectens) der Heilige Geist genannt. So hat es auch Gott im Menschen bezeichnet (signavit). Dass ich aber über die Schönheit der Äcker flamme, das meint die Erde (terra), die jener Baustoff (materia) ist, aus der Gott den Menschen schuf. Dass ich in den Gewässern leuchte, ist gemäß der Seele ausgesagt, weil so, wie das Wasser die ganze Erde durchtränkt (perfundit), die Seele den ganzen Körper durchläuft (pertransit). Dass ich in der Sonne und im Mond brenne, das bedeutet die Rationalitas. (Die Sterne aber sind die unzähligen Worte der Rationalitas). Und dass ich mit dem lufthaften Wind, wie mit einem unsichtbaren Leben, das alles enthält, auf lebensspendende Weise alles zum Leben erwecke, das stellt dar, das durch Luft und Wind die gesäten Dinge im Wachstum voranschreiten, von nichts davon weggebracht in dem, was sie sind.⁵⁶

 Die Naturschilderung der Eingangspassage ist so gestaltet, dass im Leser Bilder der an der Ackerfurche, am Horizont und am Himmel flimmernden Lebenskraft evoziert werden. Dieser Effekt wird unter anderem durch die Präposition super erreicht, die in der Kombination mit dem Nomen pulchritudo einen Wahrnehmungsakt bezeichnet, den der Leser unwillkürlich mit vollzieht. Da anschließend Wind und Gestirne genannt sind, wird der imaginative Blick des Lesers in diesem Landschaftsbild nach oben gezogen. Wer je Lebensorte der Autorin auf beiden Seiten des Rheins bei Bingen und Rüdesheim besucht hat, dem wird sich der Gedanke aufdrängen, dass sie durch die Natur in ihrem Lebensumfeld zu diesen Schilderungen angeregt wurde. Dies ist insofern hoch bedeutsam, als man den Beginn literarischer Landschaftsbeschreibungen oft erst Petrarca mit der auf den 26.4. 1336 datierten Besteigung des Mont Ventoux zuerkennt. (Petrarca, Familiarum rerum libri IV 1, in: Franceso Petrarca, Die Besteigung des Mont Ventoux, lateinisch/deutsch, Übers. u. hg. Kurt Steinmann (Stuttgart: Phlipp Reclam jun., 1995)). Allerdings mündet auch bei Petrarca die Naturbetrachtung in eine Besinnung auf den Seeleninnenraum unter expliziten Bezug auf Augustinus (a.a.O. Cap. 27– 32). Hildegard gelingen gerade aus ihrem naturtheologischen Blickwinkel Naturschilderungen in dichterischer Leuchtkraft!   – , Cap. , Z – .

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Die Ausdeutung der Visio hebt mit einer in variierten, pleonastischen Wiederholungen betonten Selbstvorstellung Gottes als des Lebens an. So könnte die Struktur des Eingangskapitels der Visionsdeutung mit der Form eines Rondos verglichen werden, in der das inhaltliche Grundmotiv nach erklärenden Einschüben entweder gleichbleibend oder mit leichten Änderungen immer wieder ertönt. Hierbei wird eine Ich-Aussage Gottes aus dem Prologus, der die Autorität des Schreibbefehles untermauert, aufgegriffen, die gleichsam als Überschrift für das ganze Werk Liber Divinorum Operum gelten könnte: Daher schreibe nicht gemäß deines Herzens, sondern gemäß meines Zeugnisses, der ich ohne Anfang und Ende das Leben bin.⁵⁷

In diesem Aufruf sind Ich-Aussagen aus dem Johannesevangelium (Joh 14,6) und aus der Apokalypse (Offb 1,8) verbunden. Die Wendung von „Anfang und Ende“, „Alpha und Omega“ klingen an die umfangreichen Ausdeutungen des Johannesprologes und des Buches Genesis im Liber Divinorum Operum ⁵⁸ an, sowie an die jenseits der Zeitlinie zwischen Anfang und Ende liegende praescientia des lebendigen Gottes (Offb 1,17 f). So wird schon im Vorspann des Werkes der Lebensbegriff mit biblischen Konnotationen eingeführt, die Schwerpunkte der theologischen Reflexion im abschließenden Band der Visionstrilogie markieren. Eine erste Entfaltung dieser Akzentuierung des Lebensbegriffes auf Fragen von Schöpfung, Vorsehung, Naturtheologie und Anthropologie nimmt gleich der Beginn der Deutungsrede in der ersten Visio vor. Dadurch wird der nur wenige Absätze entfernte, oben zitierte Ich-Bin-Satz des Prologes verstärkt. Vor einer Analyse dieses Kapitels aus der Visio⁵⁹ seien im Sinn einer corpus-TextAnalyse die Fundstellen zum Begriff des Lebens⁶⁰ aufgelistet: () Vita, vivere, vivens im Capitulum : , Cap., Z  f: Ego summa et ignea vis, quae omnes viventes scintillas accendi. , Cap., Z  f: Sed et ego ignea vita substantiae divinitatis super pulchritudinem agrorum flammo. , Cap., Z  f: et cum aero vento quadam invisibili vita, quae cuncta sustinet, vitaliter omnia suscito. , Cap., Z  – : Aer enim in viriditate et in floribus vivit, aquae fluunt quasi vivant, sol etiam in lumine suo vivit. , Cap. , Z  f: luna…a lumine solis accenditur ut quasi denuo vivat. , Cap. , Z  f: stellae quoque in lumine suo velut vivendo clarescunt.

 LDO Prologus , Z  f: qui sine initio et fine vita sum.  LDO Pars Prima, Visio Quarta, Cap. ,  – . Vgl. das folgende Kapitel dieser Arbeit, Kapitel ..  Hier ist es angemessen, der vorgegebenen Kapiteleinteilung zu folgen.  Für die Untersuchung dieser Visio erstellte ich solche Listen ebenso zu den Stichwörtern agrum/ terra, celsitudo, cor, imago et similitudo, pulchritudo, significatio/designare/praesignare, und speculum. Sie sollen jedoch nicht hier wiedergegeben werden, um nicht die Aufmerksamkeit vom Kernbegriff des Lebens abzulenken.

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

, Cap. , Z  f: haec omnia in essentia sua vivant nec in morte inventa sunt, quoniam ego vita sum. Rationalitas etiam sum. , Cap , Z : quia ego vita sum. , Cap., Z  – : Integra namque vita sum, quae de lapibus abscisa non est et de ramis non fronduit et de virili vi non radicavit; sed omne vitale de me radicatum est. , Cap. , Z  – : Sed et officialis sum, quoniam omnia vitalia de me ardent, et aequalis vita in eternitate sum, quae nec orta est nec finietur; eademque vita se movens et operans Deus est, et tamen haec vita una in tribus viribus est. , Cap. , Z  – : Et quod cum aereo vento quadam invisibili vita, quae cuncta sustinet, vitaliter omnia suscito. () Der Mensch als alia vita: , Cap. , Z  – : Tunc Deus aliam vitam, quam corpore texit, exsurgere fecit, quod homo est; cui et locum et gloriam perditi angeli dedit, quatinus iste in laude Dei perficeret quod ille facere noluit. () Die Seelen im Leben vor Gott erhalten: , Cap. , Z f: spiritales et saeculares, qui Deo famulari animasque suas in vita conservare desiderant.

Auf den ersten Blick ist ersichtlich, dass fast alle Fundstellen zur Wortfamilie „Leben“ aus dem zweiten Capitulum stammen. In Analogie zur alia gratia aus der Visio Octava der Pars Tertia aus dem Liber Scivias kennzeichnet der Begriff einer alia vita in der Erschaffung des Menschen nach dem Engelsturz eine neue heilsgeschichtliche Etappe. So wird vita fast mit dem Heilshandeln Gottes synonym. Die pastose Breite, mit dem die Bedeutung des Attributes Leben gleichermaßen für Gott und für die Schöpfung gezeichnet wird, wird daraus ersichtlich, dass Nomen, Verben, Adjektive aus erstarrten Partizipien, Adverbien und Gerundia der Wortfamilie „vita“ verwendet werden, zuzüglich der hildegardianischen Eigenprägung der viriditas. Um die Struktur des Abschnittes als eines „Rondo con variationi“ zu analysieren, sei sie formalisiert dargestellt. Annähernd in der Mitte⁶¹ steht die johanneische Grundaussage: Weil ich das Leben bin! (Joh 14, 6)⁶²

 Sie findet sich in der . von insgesamt  Druckzeilen der kritischen Edition.  , Cap. , Z : quia ego vita sum. Durch diese Mitte wird eine Symmetrie innerhalb des Capitulums erzeugt, die sich ebenfalls in der ähnlichen Rahmen am Anfang und am Ende zeigt. Im ersten und im letzten Teil erscheint jeweils das gleichlautende Satzkolon: cum aero vento quadam invisibili vita, quae cuncta sustinet,vitaliter omnia suscito (, Cap. , Z  f = , Cap. , Z  – ). Dadurch wird die Aussagekraft dieser Feststellung verstärkt, die durch das Medium einer vita invisibilis, die von Gott ausgeht, vitalistischen und immanentistischen Anschauungen von Leben widerstreitet. Außerdem werden jeweils am Anfang und am Ende des Capitulums dieselben Naturphänomene genannt von Acker, Wasser, Sonne, Mond und Sternen sowie Wind (, Cap. , Z  f sowie , Cap. , Z  f-, Cap. , Z  – ). So sagt alleine schon die formale Struktur mit symmetrisch gespiegelten Sätzen und Bildmotiven an Anfang und Ende und in der Mitte mit biblischer Selbstaussage Gottes als das Leben

4.1 Theologische Wortfelder von Leben, Schönheit und Verheißung in der Visio LDO I,1

181

Sie sei hier mit A* bezeichnet. Alle weiteren Selbsterklärungen Gottes⁶³ sind mit A1 bis A7 gekennzeichnet. Die Lebensweisen der Geschöpfe seien mit B1 bis B8 benannt. Zur inhaltlichen Orientierung sind jeweils Kernwörter aus dem Text⁶⁴ beigegeben. So ergibt sich folgendes Muster: A – B A – B A – B B – B – B B – A A* A – B A – B – A – A – A B – Aa – B – Ab

ignea vis – viventes scintillas ignea vita – super pulchritudinem agrorum invisibili vita – cuncta aer … in viriditate et in floribus, aquae…, sol, luna omnia in essentia sua – vita sum, rationalitas *quia ego vita sum* integra vita – omne vitale de me radicatum officialis – vitalia de me ardent – aequalis vita – vita se movens et operans – vita una in tribus viribus vento – invisibili vita – cuncta vitaliter omnia suscito

Aus dieser Formalisierung lassen sich mehrere Beobachtungen ableiten, die zeigen, wie durch die Textstruktur weitere inhaltliche theologische Folgerungen gewonnen werden können: Wenn man den johanneischen Ausspruch (Joh 14,6) A* hinzurechnet, halten sich Textsegmente über Gott als Schöpfer und über die geschaffenen Dinge die Waage. Beide werden zuerst dreimal in kürzen abwechselnden Satzsegmenten beschrieben.

Selbst aus, wie alles Leben von Gott stammend von ihm belebt und auf ihn bezogen ist, wie Natur nicht ohne Gott als Belebungsprinzip wahrgenommen und gedacht werden kann. Des Weiteren ist die symmetrische Struktur eine formale Abspiegelung des theologischen Ordo-Gedankens.  Die handschriftliche mittelalterliche Kapiteleinteilung deutet die imago spezifisch als caritas. (CCM , : Verba eiusdem imaginis, per quam karitas intellegitur, igneam vitam substantiae Dei se nominantis.) Dieser Auffassung folgt die Einführung der Herausgeber Albert Derolez und Peter Dronke (CCM , XXXIX). Das erscheint mir jedoch zu eng gefasst, da es hier nur um jene Caritas gehen könnte, die mit Gott selbst identisch ist, und nicht lediglich um die caritas als vermittelnde Tugendfigur wie im Liber Scivias und im Liber Vitae Meritorum. Zudem weisen weder die Bildsprache der Schau noch die Semantik der Deutungsrede auf eine spezifische inhaltliche Nähe zur caritas hin. Gleichwohl ist jene Spezifizierung als eine frühe Interpretationsstufe zu achten, die den Begriff des Lebens dem der göttlichen caritas annähert. Eventuell wurde jene frühe Deutung dadurch verursacht, dass die Metaphorik des flammare und der scintillas an das Feuer als Attribut des Heiligen Geistes erinnert, dessen Rolle als Vermittler der Caritas, die von Geist und Gnade unterschieden werden muss, ja im . Jahrhundert, wie wir im Kapitel . gesehen haben, zur Diskussion stand. Jedoch ist trotz der Selbstaussage „rationalitas sum“ als Deutungsmöglichkeit auf den Heiligen Geist hin (, Cap. , Z ) durch die trinitarischen Wendungen in , Cap.  Z  –  eine Verengung der imago auf die Eigenschaft der caritas oder auf eine Person der Dreifaltigkeit verneint. An diesem Beispiel kann man sehen, dass sich schon auf den frühesten Rezeptionsstufen die Interpreten aufgrund der textlichen Ambiguitäten zu vereinseitigenden Deutungen verleiten ließen, die einer akribischen Untersuchung nicht stand halten.  Hier sind, zur analytischen Reduktion nur die Sätze mit Stichworten aus der Wortfamilie Leben berücksichtigt, wie sie oben im Kasten aufgelistet wurde. De facto ist das Strukturbild durch weitere Einschübe, die mitunter von einer dritten Hand stammen könnten, noch komplizierter.

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

Gott und Schöpfung werden aber nicht nur in ihrer Relation gezeigt, sondern auch in ihrem Eigenstand. Dies geben die jeweiligen Abfolgen B bis B und A bis A wieder. Trotzdem ist dies nur eine denkerische Unterscheidung, weil sich zum Ende des Textabschnittes hin die inhaltliche Verschränkung vom Leben Gottes und der Geschöpfe verdichtet. Um die Abhängigkeit der geschaffenen Naturphänomene von Gott zu zeigen, ist in vier Einzelsätzen die grammatikalische Abfolge Personalpronomen ego ⇨ Apposition, die Gottes Attribut ausdrückt, ⇨ Objekt (geschaffenes Naturphänomen) ⇨ und Verb in Endstellung⁶⁵ gewählt: Abhängigkeit von lebendigen Kreaturen von der Belebung durch Gott als Leben: ego & Apposition (inhaltlich: Gottesattribut) & Objekt (inhaltlich: geschaffene, verlebendigte Kreatur) & Verb in betonter Schlussstellung (inhaltlich: spezielle Art des verlebendigenden Wirkens in Schöpfung und creatio continua)

Des Weiteren erhellt die Formalisierung die Komplexität an Strukturmustern, mit der die Autorin eine Grundaussage einschärfen und Einzelaspekte um einen biblischen Aussagekern hin gliedern will: Gott als Leben ist charakterisiert als feurig (ignea), als unsichtbar (invisibilis), als heil und unverletzlich (integer), als gleichbleibend ohne zeitliche Veränderungen (aequalis). In Gott sind Leben und rationalitas mit ihm selbst identisch. Auf kürzestem Textraum verbindet die Autorin das philosophische Grundaxiom,⁶⁶ dass „Leben“ sich in „Bewegung“ und „Wirken“ ausdrückt⁶⁷ und daher Gott die Höchstform des Lebens ist, mit dem theologischen Grunddogma, das Gott als Leben sich trinitarisch entfaltet. Allerdings könnte die hildegardianische Formel vita una in tribus viribus ⁶⁸ modalistisch missverstanden werden und ebenso auch immanentistisch, da sie der Schriftstellerin wohl durch die textliche Nähe zur Deutung der von Gott geschenkten Lebenskräfte von Gott in die Feder floss. Dies ist eine der Textstellen aus dem Opus Hildegardianum, die sich im ersten Anlauf zwar recht anschaulich und anziehend präsentieren, jedoch nicht strengeren Standards dogmatischer Präzision standhalten. Gleichwohl werden im nächsten Satz, der auch ein korrigierender Einschub⁶⁹ eines Sekretärs oder Redaktors sein könnte, die drei Personen in Gott aufgezählt.⁷⁰

 Zum häufigen Hilfsverb sum & Apposition, das die Identität von Existenz und speziellen Attributen Gottes mitschwingen lässt, treten insbesondere die Verben accendere, flammare, suscitare, denen der Aspekt des Impulsgebenden, Initiierenden, Inspirierenden eignet.  Vgl. zu diesem Ternar bei Aristoteles und Platon Martin Grabmann, Die Idee des Lebens in der Theologie des hl. Thomas von Aquin (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ),  f unter Bezug auf STh I, q , a & a.  , Cap. , Z : eademque vita se movens et operans Deus est.  , Cap. , Z : vita una in tribus viribus est.  Dies lässt der abstrakte Wechsel von der ersten Person Singular in die distanzierende Sachaussage in der dritten Person vermuten, der im Folgesatz sofort wieder zurück genommen wird. Da in diesem

4.1 Theologische Wortfelder von Leben, Schönheit und Verheißung in der Visio LDO I,1

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Dass sich die Existenz der geschaffenen Naturdinge in der Bestimmung durch Eigenschaften abspielt, die in semantischer Nähe zum Begriff des Lebens stehen („Blühen“, „Licht“),⁷¹ und dass ihre Existenz in Gott als dem Lebens selbst ihren Wurzelgrund hat, drücken Partizipialkonstruktionen mit vivere in aus: Existenz der geschaffenen Dinge, speziell der Naturphänomene, in Qualitäten, die vita inhaltlich füllen: vivere in

Das Motiv des Hinwegflammens des göttlichen Lebens über den Acker wird nur im ersten Anlauf als reines Naturbild präsentiert. Über das Symbol von ager/terra werden verschiedene Ebenen des Wirkens von Gott als Lebensprinzip in den verschiedenen Seinsschichten geschaffener Dinge und in unterschiedlichen Stadien der Heilsgeschichte verbunden. Hierbei ist jener metaphorische Wirkort durch Schönheit qualifiziert, die ihm als Objekt des Heilswirkens eignet, sei es die Schönheit des natürlichen Ackers als Wachstumsfeld,⁷² sei es seine Bedeutung als Grundmaterie zur Erschaffung des Menschen,⁷³ sei es als jeder Ort der Heilsgeschichte, der als Gegenort zum babylonischen Exil⁷⁴ zum Vorbild des Glaubens an die Verheißungen Gottes wird.⁷⁵ So wird über jenes Leitwort von „Acker“ und „Erde“ das von Gott gespendete Leben als konkrete Ausgestaltung eines Heilsraumes vorgeführt, in dem durch die göttliche „Lebensentzündung“ und Lebensmitteilung Schönes aufblüht. Entsprechend der Deutungsdurchgänge der typologischen Exegese und des moralischen und geistlichen Schriftsinnes ist dieser Heilsraum letztlich das Herz des Menschen. Hier treffen wir wieder auf das Motiv vom „Acker des Herzens“, das schon anhand der Visio Decima der Tertia Pars des Liber Scivias vorgestellt wurde: So wird der Same deines Herzens vervielfältigt und erhellt, den du in den guten Acker gesät hast, der von der Gnade des Heiligen Geistes erleuchtet wurde.⁷⁶

Einschub das hildegardianische, oben erklärte Kernwort des signare verwendet wird, handelt es sich bei dem Redaktor möglicherweise um eine Person aus dem näheren Umfeld der Autorin, die mit ihrer Diktion recht vertraut ist.  , Cap. , Z  f: Eternitas itaque pater, verbum Filius, spiramen haec duo connectens Spiritus Sanctus dicitur.  Beispiele: , Cap. , Z  – : Aer enim in viriditate et in floribus vivit, …sol etiam in lumine suo vivit; , Cap. , Z  f: stellae quoque in lumine suo velut vivendo clarescunt.  , Cap. , Z  f: super pulchritudinem agrorum flammo.  , Cap. ,  f: Quod autem super pulchritudinem agrorum flammo, hoc terra est, quae materia illa est, de qua Deus hominem fecit.  , Cap. ,  – : in terram Babylonis convertetur, videlicet in terram confusionis et ariditatis, quae sic absque pulchra viriditate agri, id est benedictionis Dei, permanebit.  , Cap. ,  f: Terra autem ista per virgam Aaron praesignata virgo Maria erat.  , Cap. , Z  – : Hoc modo erit semen cordis tui multiplicatum et elucidatum, quod seminasti in bonum agrum gratia Spiritus Sancti perfusum.

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

Die gleichbleibende Schlussklausel der Visiones des Ersten Teils des Liber Divinorum Operum greift daher eine Wendung auf, die in der Ersten Visio zweimal⁷⁷ hintereinander genannt ist, die devotio cordis: Jeder Mensch also, der Gott fürchtet und liebt, öffne diesen Worten die Verehrung des Herzens, und beherzige (sciat), dass jene freilich nicht von einem Menschen, sondern durch mich, der ich bin, öffentlich vorgetragen (prolata) werden zum Heil der Körper und der Seelen der Menschen.⁷⁸

Freilich beanspruchen derartige Leseanleitungen in den Schlussklauseln eine Identität des Textes mit dem offenbarenden Äußerungswillen und Heilswirken Gottes. So hoch gegriffen, wenn nicht anmaßend dieser Anspruch erscheint, so zeigt er doch, dass der Text nicht als ein sich geschlossener konzipiert ist,⁷⁹ sondern auf seine Wirkungsgeschichte hin intendiert ist, als Text, der sich in den Herzen der Leser fortsetzt, deren Herzensintention⁸⁰ die Herzenserhebung zu Gott sein soll.⁸¹ Dies spiegelt eine Stilfigur, in der in einer Attributverbindung wie in einem Oxymeron Höhe und Tiefe, Erhabenheit Gottes und Demut des Menschen, kenotischer Abstieg Christi und Erhebung des Menschen zusammen gespannt sind, die Erhabenheit der triumphierenden Erniedrigung, die celsitudo triumphantis subiectionis. ⁸²

4.1.3.2 Skizze einer semantischen Landschaft für den Begriff des Lebens Exemplarisch seien nun wesentliche Aspekte des Lebensbegriffes in seinen Relationen zu benachbarten Semantiken des hildegardianischen Sprachkosmos in einem Schaubild (S. 186) zusammengestellt. Das Motiv der Säule soll darauf hinweisen, dass ein derartiges Modell eines semantischen Netzes eigentlich räumlich in mehreren Dimensionen imaginiert werden müsste. Denn im untersuchten Text folgt nicht ein Begriff in argumentativer Entwicklung aus dem anderen, sondern bereits eingeführte Termini werden auf verschiedenen Textebenen wieder aufgegriffen und in stets neuen Kombinationen vorgeführt. So können zum Beispiel die Bedeutungsbereiche von plenitudo, viriditas, pulchritudo unterschiedliche Schnittmengen zum Begriff des Le-

 , Cap. , Z  – , Cap. , Z  sowie , Cap. , Z  f.  , Cap. , Z  – ; ähnlich , Cap. , Z  – ; , Cap. , Z  –  und , Cap. , Z  – . Ebenso bitten die Schlußklauseln der Tertia Pars um eine Aufnahme des Textes devoto cordis affectu (, Cap. , Z ).  Zum Wechselspiel zwischen offenen und geschlossenen Textphänomenen in der Abfassung und Rezeption eines Textes vgl. Sabine Kuhangel, Der labyrinthische Text. Literarische Offenheit und die Rolle des Lesers (Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag, ), .  , Cap. , Z : bonam intentionem cordis.  , Cap. , Z ; in recto suspirio cordis.  , Cap. , Z  – : quoniam in celsitudine triumphantis subiectionis, cum quilibet Deo subiectus seipsum et diabolum superat, celsus in beatitudine divinae protectionis efficitur.

4.2 Lehre vom Leben aus der Exegese des Johannesprologs in der Visio LDO I,4

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bens einnehmen, entweder in wörtlicher Nennung, beispielsweise in einem Genitivattribut⁸³ oder in den Sinnkonstruktionen des Lesers und Interpreten.⁸⁴ Wie lässt sich das folgende Schaubild auf S. 186 theologisch deuten? Auf den ersten Blick fällt auf, dass der Begriff des Lebens mit einer Vielzahl von weiteren Kernworten vernetzt ist, die diesen Begriff inhaltlich füllen, mit Aspekten, durch die Gott als Leben das Leben der Geschöpfe entzündet, inspiriert und zum ewigen Leben durch Verheißungen ermutigt. Leben ist Fülle, Ganzheit, Lebenskraft in Schönheit. Es erschöpft sich jedoch nicht in einem Ästhetizismus, sondern ist Wahrheit, die von der rationalitas Gottes als ordo strukturiert ist und als geordnete Struktur von der rationalitas des Menschen wahrgenommen werden kann. Die Naturphänomene sind als Spiegelbild und Gleichnis erschaffen, um die Menschen auf die Bahn einer Lebensweise zu bringen, die in ihrer Ehrbarkeit (honestas) ein gläubiges Vertrauen auf Gott ausdrückt. Dabei sind sie nicht einlinig auf die Menschheit hin dimensioniert, sondern ihr rechtes Maß ist dem Menschen so eingeschrieben, dass daraus eine Verantwortlichkeit für die rationale Umwelt abgeleitet werden kann. Dies lebt Gott selbst in seinem Dienstofficium für die Schöpfung vor. So entsteht das Bild eines lebensspendenden und lebenserhaltenden Gottes, der bei aller Notwenigkeit einer theoretischen Unterscheidung seiner Schöpfung als unsichtbares Lebensprinzip doch sehr nahe kommt. In der Betonung dieser Nähe wirken allerdings Formulierungen zur Trinität als ein Leben in drei Lebenskräften zu ungenau und missverständlich.

4.2 „Leben in Gott ohne Nichtung“:⁸⁵ Lehre vom Leben aus der Exegese des Johannesprologs in der Visio LDO I,4 4.2.1 Ein „Buch im Buch“ als Spiegel des Stufenaufbaues des Lebens Anhand der ausführlichen Vierten Visio des Ersten Teiles des Liber Divinorum Operum, die wie ein „Buch im Buch“ in der kritischen Edition mehr als 130 Druckseiten einnimmt,⁸⁶ seien die Eigenarten des letzten Bandes der Visionstrilogie gegenüber dem Erstling Liber Scivias herausgearbeitet. Denn es könnte in der Forschung noch weit aus

 Z. B. , Cap. , Z : ad plenitudinem caritatis perductus.  Beispiel: Aus den Selbstbezeichnungen der Sprecherstimme als Appostion in ego-sum-Sätzen wird durch interpretierende Konstruktion des Lesers die semantische Korrelation von ignae vita, rationalitas, integritas und officialis/officium erschlossen. (Jedes Attribut in einem Ich-Bin Satz im Capitulum ,  f, Z, Z , Z , Z ).  Hildegardis Bingensis Liber Divinorum Operum, CCM , Pars Prima,Visio Quarta, , Cap. , Z : in Deo vita sine extinctione.  Seite  –  in CCM .

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

Das semantische Feld zum Begriff des Lebens in der Visio Prima der Prima Pars des Liber Divinorum Operum Gott: Menschen: Christus:

caelestis consortium ! iustus computabitur ! merita

celsitudo: celsitudo summae caritatis *celsitudo triumphantis subiectionis (staurologische, kenotische Bewegungsfigur) colligere, sustentare, revocare devotio " cordis

vestis lucidum spiritalis pop!lus salus corporum

celsitudo verae fidei:

divina promissio*

plenitudo

integritas rationalitas

! semen " cordis pulchritudo agrorum = terra, de qua Deus hominem fecit (! ad imaginem et similitudinem)

alia vita corpus, anima, rationalitas !omnes creaturas secundum mensuram in ipso homine

vita „EGO VITA SUM“ (Joh 14, 6) vivere, moveri, operari vita una in tribus viribus

pulchra viriditas agri

viriditas

= benedictio* Dei

pulchritudo

fides als Vertrauen (fides qua) fides als fides catholica (fides quae)

veritas ordo: in viriditate vivere in lumine vivere humana natura ! in honestate vivere

vis

vis ignea/ignea vita: flamma/flammare accendere suscitare

deus als vita ist officialis, in caritatis officio

!speculum ! visio Offenbarung in Schau und Spiegel: sowohl literarische Darstellungsform als auch theologisches Erkenntnismittel als auch inhaltliche Bestimmungen der Anschauung von vita Darstellung von !Spiegelfiguren (speculum; Ebenbildlichkeit, Makrokosmos/Mikrokosmos) im literarischen Gewand von visio (ostensio) und Visionsdeutung durch vox de caelo und imago praesignare in praescientia und biblischer narratio (typologische Exegese) Entschlüsselung, (de-)signatio, der Schaubbilder anhand von Symbolen: ager/terra = " cor columna vestis Jene repräsentieren sowohl im LIBER SCIVIAS als auch im LIBER DIVINORUM OPERUM Aspekte des Lebensbegriffes moralisierende Folgerung: Nachfolge der *vestigia filii Dei

Abb. 1: Das semantische Feld zum Begriff des Lebens in der Visio Prima der Prima Pars des Liber Divinorum Operum

4.2 Lehre vom Leben aus der Exegese des Johannesprologs in der Visio LDO I,4

187

stärker auf die Unterschiede dieser beiden Werke eingegangen werden, die wohl die Vorrangstellung des Liber Scivias in der mittelalterlichen Rezeption bedingten.⁸⁷ Daher weist dieses Kapitel durch die Analyse konkreter Beispiele auf Schwächen in der systematisch-theologischen Konsistenz und im Stil und Spannungsaufbau dieser Visio hin. Jene Inkongruenzen beruhen möglicherweise darauf, dass mehrere Coautoren als Gehilfen der schon älteren Hauptautorin⁸⁸ ihr Werk mit überarbeitet haben. Hierbei bestand die Überarbeitung wohl vor allem aus der Einfügung von erklärenden zusätzlichen Passagen, statt dass Wiederholungen und Redundanzen gekürzt worden wären. Gleichwohl handelt es sich gerade bei den größeren Visiones aus dem Buch der Werke um Texte, die reiches Material zum Begriff des Lebens bieten, da jener hier noch mehr als im Buch Wisse die Wege focussiert wird. Dies erhellt gerade die Zusammensetzung dieser Vision aus mehreren Werkteilen, die auch für sich bestehen könnten und wahrscheinlich erst nachträglich zusammen gefügt wurden, aber in ihrer Komposition eine zusätzliche implizite Aussage über die theologische Lehre vom Begriff des Lebens machen: Die Visio LDO I,4 geht als Ausdeutung eines recht kurzen Schaubildes von der Benennung vielfältiger Mikrokosmos/Makrokosmos-Strukturen aus, die anhand einer ausgefeilten Körpermetaphorik systematisiert werden. Nachdem so der menschliche Körper als Bild für vielfältige naturtheologische Zusammenhänge beleuchtet ist, werden jene auf die Verfasstheit der menschliche Seele zurück gespiegelt, wobei Bilder hierfür in den Windkräften des Kosmos und den Jahreszeiten gesucht werden. Ähnliche Einzelmetaphoriken finden sich im medizinischen Werk.⁸⁹ Freilich beruft sich Hildegard hier auf konventionelle Vergleiche, die seit der antiken Philosophie und der arabischen Medizin geläufig sind.⁹⁰ Ihre eigene Aussage ist darin zu entdecken, dass

 Vgl. hierzu Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen. Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Erudiri Sapientia IV (Berlin: Akademie, ),, , der dies aus dem Überlieferungsbefund belegen kann.  Hildegard befand sich nach ihren eigenen Angaben während der langjährigen Abfassungszeit in ihrem siebten bis achten Lebensjahrzehnt. Vgl. hierzu Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen, .  Zu Beginn von Causae et Curae wird die Mikrokosmos/Makrokosmosstruktur eingeführt: Homo enim caelum et terram atque alias facturas in se habet et forma una est, et in ipso omnia latent. (Beatae Hildegardis Causae et Curae, Liber I, edidit Laurence Moulinier, recognovit Rainer Berndt, Rarissima Mediaevalia Opera Latina I (Berlin: Akademie, ), , Z  f). Über die Erklärungsbrücke der Elementenlehre (Causae et Curae Liber I, , Z  – ) werden nach und nach Einzelbeispiele einer wechselseitigen allegorischen Ausdeutung von Körpereigenschaften und Umweltphänomenen vorgeführt, z. B. : Et sicut quinque sensus corporis hominis corpus eius continent et ornamenta eius sunt, ita etiam isti quinque planetae solem continent atque decor ipsius sunt. (Causae et Curae Liber I, , Z  – ); oder: Firmamentum quoque stellis continetur, ne dilabatur, velut homo a venis sustentatur, ne diffluat et ne separetur (Causae et Curae Liber I, , Z  f).  Vgl. hierzu Heinrich Schipperges, Die Kranken im Mittelalter (München: C.H. Beck, ),  f. Zur Allgegenwärtigkeit von Körper-Metaphern und Körper-Allegoresen in der mittelalterlichen Politiktheorie siehe: Susanne Lüdemann, „Körper/Organismus,“ in Wörterbuch der philosophischen Me-

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

sie jene traditionellen Allegorien durch eine Auslegung der Rede vom Leben im Johannesprolog krönt. Jene führt sie dann in der nächsten Visio durch eine Exegese des Schöpfungsberichtes in der Genesis weiter. Mithin ist es gut vorstellbar, wie die Visio Quarta aus mehreren ursprünglich selbstständigen Einzeltraktaten zusammengefügt wurde. Zwar kommt es durch dieses Verfahren zu zahlreichen, für den Leser durchaus ermüdenden Wiederholungen von Einzelaussagen, insbesondere, wenn es um das Verhältnis zwischen Körper und Seele geht. Originell ist jedoch der dadurch vorgeführte Versuch, eine Allegorese des menschlichen Körpers in der lufthaften Umwelt und im zeitlichen Verlauf des Jahreskreises an die johanneische Theologie zurück zu binden. Abstraktere Aussagen über Existenz und Leben im allgemeinen sind so durch vorgeschaltete, konkret ausbuchstabierte Symbolgehalte körperlicher Verfasstheiten und Vollzüge illustriert. Jedoch darf keinesfalls übersehen werden, dass es hier nicht um autonome Naturbetrachtungen geht.⁹¹ Vielmehr stehen Naturphänomene bei Hildegard ganz im Dienst einer Zeigefunktion für religiöse Erkenntnisse, für ethische Handlungsmöglichkeiten. Erst nachgeordnet, und eher in den medizinischen Schriften betont, bestimmen sie sich über ihren Heilungsdienst an den Menschen. Diese Sichtweise auf Natur und Körper wurde von Hans Joachim Werner als „kosmischer Moralismus“ bezeichnet.⁹² Dementsprechend betrachtet Hildegard naturale körperliche Vorgänge in der vorliegenden Visio zumeist unter einem dualistischen Blickwinkel, insofern es um den moralischen Sieg der Seele geht. Dies wird weiter unten noch dargestellt werden. Der Ausblick auf die jenseitige Vollendung des Menschen⁹³ mit einem neuen, lufthaften⁹⁴ Körper als neues, zu preisendes Schöpfungswerk Gottes wird zur Über-

taphern, Hg. Ralf Konersmann (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ): . Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Tübingen und Basel: Francke, ),  – , referiert Beispiele einer dementsprechenden „Spätfrucht“ einer langen metaphorischen Tradition (a.a.O. ).  Daher erscheint das Urteil von Markus Enders, „Das Naturverständnis Hildegards von Bingen,“ in „‚Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst‘. Hildegard von Bingen ( – ),“ Hg. Rainer Berndt, Erudiri Sapientia  (Berlin: Akademie, ): , einer Mittelstellung der Naturbetrachtung Hildegards zwischen dem Symbolismus der Viktoriner und der Naturphilosophie von Chartres als zu voreilig, da es bei ihr um eine strikte Naturtheologie geht!  Hans Joachim Werner, „Homo cum creatura. Der kosmische Moralismus in den Visionen der Hildegard von Bingen,“ in Mensch und Natur im Mittelalter. Erster Halbband, Hg. Albert Zimmermann and Andreas Speer (Berlin/New York: Walter de Gruyter, ): .  Auch in der Ausdeutung des Johannesprologes fallen Äußerungen zur neuen, nicht mehr bedürftigen Art der Körperlichkeit im Himmel, so in , Cap. , Z  – : Post futuram autem resurrectionem beatus homo non indiget ut crescat aut ab ullo pascatur, quia in claritate illa tunc erit, quae numquam transibit nec mutabitur, hac namque claritate per sanctam Trinitatem beatus homo tunc induetur, et illum inspiciet qui terminum initii et finis numquam habuit, et ob hoc senio et taedio numquam afficietur, quia etiam semper nova spallendo cytharizabit.  , Cap. , Z  – : cum vero corpus cum vivente anima renovabitur, scilicet post novissimum diem, tunc levis et volatilis erit quasi avis, quae pennas habet.

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leitung zur Exegese von Joh 1,1– 14, die ebenso mit dem Ausblick auf die endzeitliche Herrlichkeit abschließt.⁹⁵ In einer autobiographischen Passage, die in der Vita überliefert ist, überhöht die Autorin den Entstehungskontext ihrer Ausdeutung des Johannesprologes, in dem sie ihre Schau mit dem religiösen Einblick des Evangelisten Johannes als des Lieblingsjüngers vergleicht: Aus der Offenbarung Gottes träufelten in das Wissen meiner Seele Tropfen des süßen Gnadenregens – so wie der Heilige Geist auch den Evangelisten Johannes tränkte, als er aus der Brust Jesu die denkbar tiefste Offenbarung sog. Dort wurde sein geistlicher Sinn von der heiligen Gottheit selbst so berührt, dass sie ihm die verborgenen Mysterien und Werke offenbarte, indem sie sagte: „Am Anfang war das Wort…“.⁹⁶

Nach dieser Gleichsetzung betont sie den spezifischen Blickwinkel, unter dem sie das verbum in ihrer Auslegung vor allem vorstellen möchte, unter dem vom Logos als Schöpfer – und weniger unter dem der innertrinitarischen Beziehungen.⁹⁷ Hier haben wir den kostbaren Fall, von der Autorin selbst einen Hinweis auf die von ihr intendierte Wirkung eines Werkteiles auf den Leser zu erhalten. Sie fährt nämlich fort: Denn der Mensch muss sowohl ein Werkarbeiter für die Göttlichkeit und als auch eine verschattete Abbildung ihrer Geheimnisse sein und in allem die heilige Trinität offenbaren.⁹⁸

Dieser Anspruch gilt auf drei Ebenen. Erstens auf der des Autorsubjektes: Hildegard weist mit dieser Folgerung auf ihren Anspruch als Autorin und Exegetin des Johannesprologes hin. Zweitens auf der Ebene des Darstellungsobjektes in der ganzen Visio I,4, in der die Wunder der organischen Verfasstheit als Hinweis auf die Schöpferkraft der Trinität gedeutet werden. Drittens auf der Ebene der erhofften Rezeptionshaltung des Lesers, der durch das Panorama dessen, was er als Mensch in seiner Hinordnung sowohl auf den Kosmos als auf Gott sein kann, motiviert werden soll, gute Werke zu vollbringen.

 , Cap. , Z  – , Cap. , Z : Et vidimus gloriam eius; quia nos, cum ipso eramus, specialiter vidimus eum in mirabili natura.  Vita Sanctae Hildegardis, Liber II, Cap. , Visio Septima, lateinisch und deutsch, Übers. und eingeleitet von Monika Klaes, Fontes Christiani  (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ), : Et de Dei inspiratione in scientiam animae meae quasi guttae suavis pluviae spargebantur, quia et Spiritus sanctus Iohannem evangelistam imbuit, cum de pectore Iesu profundissimam revelationem suxit, ubi sensus ipsius sancta divinitate ita tactus est, quod absconsa mysteria et opera aperuit ‚In principio‘ inquiens, ‚erat verbum‘ et cetera. (Die oben zitierte Übersetzung wurde von mir vorgenommen).  Vita Sanctae Hildegardis, Liber II, Cap. , Visio Septima,: Nam verbum, quod ante creaturas sine initio fuit et quod post eas sine fine erit, omnes creaturas procedure iussit et opus sum in ea similitudine produxit.  Vita Sanctae Hildegardis, Liber II, Cap. , Visio Septima,: Sed et homo operarius divinitatis et obumbratio mysteriorum eius esse atque in omnibus sanctam trinitatem revelare debet.

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Im Rahmen dieser Untersuchung soll vor allem das letzte Capitulum 105 der Visio auf die dichte Semantik des „Lebens“ hin analysiert werden. Diese wird unten im dritten Abschnitt anhand einer manuell erstellten Korpustextanalyse erfolgen. Zudem werden zwei Metaphernkreise beleuchtet, die in der vierten Visio gehäuft auftreten, und für die beiden Großwerke Liber Divinorum Operum und Liber Scivias symptomatisch sind, nämlich die von „Licht“ als Raumerhellung einerseits und von „Leere“ als Raumaussparung andererseits. Diese beiden Metaphernfelder stehen beide in engem Zusammenhang mit dem Lebensbegriff, einmal als Lebensmitteilung, einmal als Lebensverneinung. Zuvor sei nun auf vier weitere Aspekte hingewiesen, die dieses „Buch im Buch“ inhaltlich durchziehen: Erstens auf die Funktion der Bildfigur von Mikrokosmos/ Makrokosmos für die hildegardianische Erkenntnistheorie. Zweitens auf die Kleidsymbolik im Zuge der für den Liber Diviorum Operum charakteristischen Indumentenchristologie. Drittens auf die zahlreichen Äußerungen über das Verhältnis von Leib und Seele, aus denen sich zumeist ein dualistischer Antagonismus ausspricht. Viertens, damit zusammenhängend, auf die Bedeutung der Reue im Rahmen einer Anthropologie des Rückweges und der Heilung. Alle vier Thematiken gruppieren sich um die Auffassung der Autorin vom rechten Leben: Es geht um die Erkenntnis der Seinsschichten des Lebendigen, um die Heilsmittlerschaft Christi als Beginn des neuen Lebens, um die inneren Bewegungen von Erkenntnis und Umkehr zum rechten Leben, um den Dienst von Körper und Seele in dem Bemühen um einen rechten Lebensweg. In der Hinordnung unterschiedlicher theologischer Themengebiete auf den Begriff des Lebens wird so zudem der innere Zusammenhang von Erkenntnislehre, Naturtheologie, Christologie Anthropologie und Soteriologie deutlich. Obwohl Hildegard durch die Einstreuung von Fachwörtern auf die jeweiligen akademischen Diskussionshorizonte anspielt,⁹⁹ entwirft sie dennoch ihr eigenes Konzept eines Durchblickes zwischen jenen Fragenfeldern: Einerseits wird Gott im Aufstieg von der Erkenntnis der lebendigen Naturdinge als Leben erkannt.¹⁰⁰ Andererseits ist nur durch seinen Offenbarungswillen eine anfängliche Einsicht in die Geheimnisse der vom ihm erschaffenen Naturwesen möglich.¹⁰¹ Die naturalen Spiegelungen von Bildern in Wolken und Wasseroberflächen veranschaulichen, wie der Mensch sein Gemüt auf das Tun des Guten richtet, so dass es geistlich zur Heiligkeit fruchtbar wird.¹⁰² Dabei kann nur das als wahre Erkenntnis

 Beispiele aus der Trinitätstheologie: , Cap. , Z : in una aequalitate divinitatis; , Cap. , Z : inseperabile est et consubstantiale; , Cap. , Z  f: non tamen illi coeterna, sed ab ipso praescita et praevisa et praeordinata.  , Cap. , Z  f: Et quomodo Deus vita esse cognosceretur, nisi per vitalia?  , Cap. , Z  – : Sed tamen in omnibus creaturis, siclicet in animalibus, in reptilibus, in volatilibus et in piscibus, in herbis et in pomiferis quaedam occulta misteria Dei latent, quae nec homo nec alia ulla creatura scit aut sentit, nisi quantum eis a Deo datum est.  , Cap. , Z  – : Sed et eaedem nubes speculositas illa sunt, quam homines caelum nominant, quoniam localia instituta solis, lunae et stellarum per eas quasi formae aliquae per speculum

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qualifiziert werden, was in seiner Erkenntnisbewegung in die Anerkenntnis Gottes als des Dreieinen mündet; alles andere wäre ein Fehlschluss.¹⁰³ Dies kann gefordert werden, weil Analogien über innertrinitarische Relationen bereits aus der körperlichen Verfasstheit des Menschen gewonnen werden können: Denn im Vater ist das Wort, das sein Sohn ist, so verborgen gewesen, wie das Herz innen im Menschen verborgen ist.¹⁰⁴

Während so aus den Körperformen Erkenntnisse für das Seelenheil des Menschen gewonnen werden können,¹⁰⁵ entdeckt der Mensch in derlei Betrachtungen seiner eigenen Verfasstheiten Gott wie in einem kleinen Siegelbild (sigillum).¹⁰⁶ So anmutig jene Blickwinkel wirken, so sehr sind dennoch mit ihnen Erläuterungen verbunden, die nicht logisch stichhaltig sind: Zum Beispiel findet sich im Anschluss an die letzte Formulierung vom „Siegelbild“ ein Zirkelschluss, dass Gott ja keine Macht hätte, wenn er nicht die Möglichkeit hätte, alles zu schaffen.¹⁰⁷ Ähnlich wird von den Engeln, sowie vom Glanz und der Grünkraft der geschaffenen Dinge auf die Alleinstellung Gottes hinsichtlich seiner Ewigkeit und Schöpferkraft zurück geschlossen.¹⁰⁸ Hierbei liegt der Fehler gar nicht so sehr in der grundsätzlichen denkerischen Stoßrichtung, als in fehlenden Zwischengliedern einer argumentierenden Begründung, warum zur Schöpfung von Dingen mit Lebenskraft und Lebensausstrahlung kein geschaffener Demiurg im Stande wäre.Wie bezwingend hätte Hildegard ihre theologischen Anliegen vorbringen können, wenn ihr hierzu eine intensive Schulung in Logik und Dialektik möglich gewesen wäre! Gelungenere Beispiele eines Schlussverfahrens von menschlichen Eigenschaften auf Eigenschaften Gottes¹⁰⁹ finden sich auf dem Feld der Moraltheologie, auf dem die Schriftstellerin differenzierter argumentiert: Neben der direkten Argumentationslinie von der Wahl einer guten Handlungsweise durch einen Menschen auf die Gutheit

videntur, ita ut homines constitutionem illorum se videre existiment; quod tamen ita non est, quia ipsae nubes officia tantum earumdem constellationem velut in imbraculo speculi ostendent atque quemadmodum aqua fluunt, in qua omnia opposita conspiciuntur; designantes quia de recto desiderio fidelis hominis cogitatio ad fructiferam utilitatem bona opera proferens exiens, viriditatem illius tangit, quatinus multiplices fructus sanctitatis producat et mentes hominum ad caelestia elevet.  , Cap. , Z  f: verum Deum in Trinitate colens nec alium deum in fallacia quaerens.  , Cap. , Z  f: quoniam in patre verbum, quod filius eius est, latuit,velut cor in homine latet.  , Cap. , Z  f: in forma hominis illa assignata ad salutem quoque animae introducat.  , Cap. , Z  f: In his cogitationibus homo omnipotentem Deum sicut sigillum inspiciat.  , Cap. , Z  f: Sed et si Deus possibilitatem omnia facere non haberet, ubi esset potentia ipsius?  , Cap. , Z  – : Quomodo autem cognosceretur quia solus aeternus est, si ab angelis ita non consideraretur? …Et quomodo aeternus esse innotesceret, si nulla claritas ab ipso procederet? Nulla enim creatura est quin aliquem radium habeat, videlicet aut viriditatem aut semina aut flores aut pulchritudinem?  Der Mensch wird zum Zeigebild der Ehre Gottes: , Cap. , Z  f: Sed homo significatio totius honoris Dei est.

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Gottes hin entwickelt sie die indirekte, dass das Ansichreißen einer schlechten Handlungsoption ex negativo die Macht Gottes zeige, dagegen einzuschreiten.¹¹⁰ Diese kleine Bemerkung lässt durchblitzen, zu welch nuancierten Argumentationsverfahren Hildegard im Stande gewesen wäre, wenn sie sich in unterschiedlichen Argumentationstechniken hätte ausbilden können. Ein ähnliches Differenzierungsvermögen offenbart sie, wenn es um die Einschränkung der Aussagekraft von Analogien und von allegorischen Ausdeutungen von Mikro/Makrokosmosfiguren geht, die oft mit den Textsignalen signare/significatio ¹¹¹ eingeführt werden: Mag auch all dies in die Form des Menschen eingezeichnet sein, so doch nicht in der Reihenfolge und der Vollkommenheit, wie sie in echt in den oberen Gestirnen existieren.¹¹²

Innerhalb vielfältiger Spiegelungen von Mikrokosmos und Makrokosmos hat der Mensch eine doppelte Symbolfunktion: Zum einen zeigen die Proportionen und Funktionen seiner Körperteile Eigenschaften der umgebenden Natur an.¹¹³ Zum anderen weist der Mensch in den Strukturen seines Körpers und in den Erkenntnissen und Willensentscheiden seiner Seele auf Gott hin. Diese zweite Symbolfunktion ist deshalb in ihm angelegt, weil Gott in Jesus Mensch wurde, um den Menschen in seiner Menschheit zu tragen.¹¹⁴ So ist der Mensch nicht nur direkter Spiegel der geschaffenen Dinge, sondern als Ebenbild Gottes sozusagen Spiegel des Spiegels durch den GottMenschen.¹¹⁵ Zwar kann man Hildegard nicht die Favorisierung einer absoluten Prädestination Christi zusprechen.¹¹⁶ Es widerspräche ihrem heilsgeschichtlichen Denken, wenn man ihr die Ansicht unterstellen würde, dass Christus auch ohne den Sündenfall des Menschen Mensch geworden wäre. Aber dennoch betont sie den Zusammenhang von der Schöpfung des Menschen und der Menschwerdung Christi in einer Weise, die man als Ausdruck einer „relativen Prädestination Christi“ werten könnte:

 , Cap. , Z  – : Sic in omni homine fit, quoniam in illo qui per bonam scientiam bonum eligendo operatur bonitas Dei ostenditur, et in illo qui malum arripiendo illud perficit postestas Dei declaratur; quia Deus illud quandoque diiudicat, quandoque remittit.  Beispiel: , Cap. , Z : ideoque et omnes creaturas in homine signavit.  , Cap. , Z  – : sicut etiam omnia haec in forma hominis signata sunt, quamvis non eo ordine nec ea perfectione ut in superioribus existunt.  , Cap. , Z  – : Sed et in rotunditate capitis hominis rotunditas firmamenti ostenditur et in recta aequaliquae mensura eiusdem capitis recta et aequalis mensura firmamenti demonstratur.  , Cap. , Z  – : Sed et quemadmodum omnis creatura a Deo processit, sic et Adam omnes homines in forma sua portavit, quibus filius Dei filius vera Pascua subminstravit, cum hominem in humanitate sua portavit.  , Cap. , Z  – : Et Deus ad imaginem et similitudinem suam formam hominis fecit, quia etiam ut forma illius sanctam divinitatem tegeret voluit.  Dies beansprucht Heinrich Schipperges, Hildegard von Bingen (München: C.H. Beck, ), .

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So hat Gott den Menschen ihm gemäß strukturiert (ordinavit),weil er wollte, dass sein Sohn aus der Menschengestalt (de homine) Fleisch annimmt.¹¹⁷

Die Bezeichnung der Inkarnation als „Einkleidung“ des Logos in die Körperlichkeit des Menschen hat eine lange Tradition seit der Patristik.¹¹⁸ Sie darf nicht von vornherein als Doketismus missverstanden werden. Sicher gäbe es kräftigere Metaphern, die besser dazu geeignet werden, die Intensität der Einigung ohne verschmelzender Vermischung von göttlicher und menschlicher Natur Christi zu bezeichnen. Dabei verwendet Hildegard die Symbolik der „Einkleidung“ und des „Kleides“ nicht nur im engeren Sinn für die Inkarnation, sondern als Grundsymbol für das Heilshandeln Gottes am Menschen, der die Welt wie ein „Zeltkleid“ für den Menschen denkt und der dessen Ebenbildlichkeit auf die Inkarnation hin figuriert.¹¹⁹ Wegen der Abbildlichkeit zu Gott in der Vernunft (rationalitas) ist das „Kleid“ Christi in seiner Menschheit als „königlich“ klassifiziert, als eine Qualität, der er sich dauerhaft von innen her verbinden kann.¹²⁰ Gerade durch diese „Bekleidung“ mit der Menschheit kann er Zeugnis für die Gottheit Gottes ablegen.¹²¹ Hier entpuppt sich ein christologischer Tiefengrund, warum es für die Autorin von vornherein keine autonome Naturbetrachung und keine autonome Anthropologie außerhalb der theologischen Disziplin geben kann, da der Mensch auf den Gott-Menschen Christus als des Offenbarers der Gottheit geschaffen ist. Reine Menschlichkeit zeigt sich nur, wo der Mensch sich zum nicht von Gott Gewollten hinneigt. Dass die Inkarnation als Offenbarung und Heilshandeln unter dem Bild des Kleides vorgeführt wird, ist der Tiefengrund dafür, warum auch für den Begriff des Lebens und die Lebensverwirklichung des Menschen die Kleidsymbolik gebraucht wird:

 , Cap. , Z  f: Sic Deus hominem secundum se ordinavit, quia filium suum de homine incarnari voluit.  So zum Beispiel bei Theodor von Mopsuestia.Vgl.Wolf-Dieter Hauschild, Alte Kirche und Mittelalter. Bd. , Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, ), . Im Anschluss an Tertullian erläutert Joseph Ratzinger, Volk Gottes und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche, Münchner Theologische Studien II,, unveränderter Nachdruck der Auflage von  mit einem neuen Vorwort, (St. Ottilien: Eos, ),  – , wie sich anhand der Metaphorik des vestimentum der Menschheit Christi „…eine ganze Theologie der Heilsgeschichte…“ (a.a.O. ) entfaltet lässt  , Cap. , Z  – : Nam Deus mundum creavit, quem homini tabernaculum praeparare voluit, et quia hominem induere voluit, idcirco eum ad imaginem et similitudinem suam fecit.  , Cap. , Z  – : Unde et verbum Dei in homine regale vestimentum cum rationali anima assumpsit et illud totum ad se traxit et in eo permansit.  , Cap. , Z  f: Venit itaque testando divinitatem humana forma indutam.

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Aus seiner Natur und aus der Sehnsucht seiner Seele heraus fordert der Mensch das Gewand des Lebens. Da ja Gott keine Kreatur leer ohne die notwendigen Kräfte erschafft, kann der Mensch immer wunderbare Dinge wirken.¹²²

Es ist die Seele, die den ganzen Menschen zu guten Werken stärkt. Entlang ihres Allegoriengebäudes zur Körpermetaphorik kommt Hildegard in der Visio I,4 immer wieder auf das Verhältnis von Körper und Seele zu sprechen. So interessant hier etliche Einzelaussagen sind, so erschwert sich doch deren Einordnung, da die Autorin hierzu kein fortlaufendes konzines Lehrstück vorlegt, sondern immer wieder widersprüchliche Anmerkungen einfließen lässt. Es bleibt dem Leser überlassen, sich ein Gesamtbild zu erarbeiten. Ein Beispiel für eine solche Widersprüchlichkeit bieten die Capitula 15 bis 30, in denen intensiver auf dieses Fragenfeld eingegangen wird. Die Priorität der Seele vor dem Leib spricht sich im ersten Satz des Capitulums 15 aus.¹²³ Möglicherweise verstärkt eine paränetische Intention all die Warnungen, in der der Leib als das Prinzip geschildert wird, dass den Menschen zum Schlechten hinzieht.¹²⁴ Jedoch bleibt die Autorin letztlich die Erklärung schuldig, warum die Seele als das Lebensprinzip sich hierzu vom Körper bewegen lässt.¹²⁵ Denn sie schreibt ja der Seele intellektuelle Akte der Einsicht zu, die dann in eine Willensbewegung zum Guten übergehen: Denn in der Seele gibt es drei Kräfte: Nämlich die des geistigen Überblicks (comprehensio), die in der Kraft Gottes (in potentia Dei) das Himmlische und das Irdische erfasst. Die Kraft der geistigen Einsicht (intelligentia), die am meisten versteht, wenn sie erkennt, dass Sünden schlecht sind, sobald sie jene auf dem Weg der Reue hinter sich lässt. Die Willensbewegung, durch die sie in sich in jede Richtung hin bewegt wird, wenn sie heilige Werke (sancta opera) in den Beispielhandlungen der Gerechten mit ihrem Seelenzelt (habitaculo) verrichtet.¹²⁶

Diesen drei inneren Akten der Seele entsprechen drei äußere, sobald jene die Werke, zu denen sie sich entschieden hat, äußerlich wirkt.¹²⁷

 , Cap. , Z  – : Ex natura quoque et ex desiderio animae homo vestem vitae postulat; et quoniam Deus nullam creaturam sine viribus vacuam creavit, ideo homo mirabilia semper operatur. (Man beachte die Stilfigur der Alliteration in der Attributverbindung vestis vitae.)  , Cap. , : Haec quoque ad animam prospiciunt.  , Cap. , Z  – : Anima quippe in verecundia stat nec in peccatis delectatur, sed per gustum carnis illa cum carne operatur; , Cap. ,  f: Quod si homo secundum desiderium animae operatur, omnia opera eius bona fiunt; si vero secundum carnem, mala erunt; , Cap. , Z  – : Unde etiam anima ipsius per bonum studium velut in die bona operando in altum ascendit, sed dum concupiscentiae carnis consentendo superatur, quasi in nocte sopore deprimitur; , Cap. , Z  – ; Conflictus etenim iste in homine est, videlicet quia caro in peccatis delectatur et anima in ipsis affligitur; , Cap. , Z  f: et ideo in afflictione homo semper est, ita scilicet ut anima querelam contra carnem habeat; , Cap. , Z  f: sic anima et corpus diversa certamina inter se habent.  , Cap. , Z : sic et anima carni consentit.  , Cap. ,  f-, Cap. ,  – .  , Cap. , Z  f: Hoc etiam modo pares in anima tres vires sunt, id est exspiratio, scientia et sensus, cum quibus perficit opera sua.

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Der interessante Ansatz dieser Analysen Hildegards ist, dass sie die Beschaffenheit der Seele in der symbolischen Spiegelung durch körperliche Strukturen von vornherein in ihrem Bezug auf das Leben vor Gott denkt.¹²⁸ Es wird also nicht erst eine natürliche Seelenkunde entworfen und dann auf das religiöse Leben hin appliziert. Vielmehr werden Körper und Seele auf ihre mögliche Verlebendigung durch den Heiligen Geist hin wahrgenommen,¹²⁹ wobei die Seele die Wirkungen des Heiligen Geistes an den Körper vermittelt.¹³⁰ Gerade jedoch vor dem Hintergrund der ausgefalteten geistlichen Psychologie im vorangehenden Werk Liber Divinorum Operum bleibt aber unverständlich, warum Sünde nun nicht als in Fehlhaltungen der Seele verwurzelt beschrieben wird,¹³¹ sondern im Körper als einer Art Widerstandsprinzip. Dies wird noch fraglicher, wenn zugleich gelobt wird, wie die Seele durch den Körper ihren Wunsch nach guten Werken verwirklichen kann.¹³² Das hat Auswirkungen auf den Begriff des Lebens: Wenn die Seele das Prinzip ist, das den Leib verlebendigt,¹³³ bleibt die Frage, woraus dann die Widerständigkeit des Leibes gegen lebensfördernde Akte des Guten resultiert.¹³⁴ Zudem äußert die Autorin gleichzeitig eine positive Sicht auf die Beziehung von Seele und Körper¹³⁵ und auf die Rolle des Körpers im Heilsgeschehen, die über den Dienst einer Symbolisierung ethischer Leitlinien für das Reich Gottes hinausgeht.¹³⁶

 , Cap. , Z  – : Et ut fidelis homo a Deo regitur et sicut perversus ab eo alienatur, ita et in homine quaelibet elementa ordinate distincta sunt.  , Cap. , Z  – : Haec autem designant quoniam anima in humano corpore ab inceptione operum suorum usque ad finitionem eorum septem dona Sancti Spiritus aequali studio venerari debet.  , Cap. , Z  – : et hoc modo carnem superat, ita ut corpus prae viribus animae effectum peccatorum non perficiat, sed de superiore rore Sancti Spiritus tactum pristinam duritiam deponat.  Dies wird sogar kurz und nebenhin in einem Gebet angedeutet: , Cap. , Z : Cum anima mea peccavi.  , Cap. , Z : quapropter et anima cum corpore operari delectatur; , Cap. , Z  f: unde etiam anima cum carne bona et sancta opera faciendo reviviscit; , Cap. , Z  f: Nam anima in corpore roborata fortiter operari incipit.  , Cap. , Z : Et anima vita existens etiam vivens ignis in corpore est; , Cap. , Z  f: Anima itaque a Deo in formam hominis mittitur, quatinus eadem forma per ipsum vivificetur; , Cap. , Z  – : Nam et sicut verbum Dei omnia pertransivit creando, ita et anima totum corpus pertransit cum ipso operando. Anima quoque viriditas carnis est; , Cap. , Z  f: Ab anima quippe vires quaedam corpus hominis vivificando procedunt.  Ein Antwortversuch ist nebenhin angedeutet in der Sterblichkeit des Körpers gegenüber der Unsterblichkeit der Seele: , Cap. , Z : Quia caro mortalis est, anima vero immortalis.  , Cap. , Z : Anima quippe carnem adiuvat et caro animam; , Cap. , Z  f: Anima utique, quoniam amplexionem dilectionis ad corpus cum quo operatur habet.  , Cap. , Z : ad servicium Dei se totam reflectit; , Cap. , Z  – : Sicut enim humiditas ab inferioribus corporis ad cerebrum ascendit, ita et anima cum sancto desiderio Deum cognoscendo omnia officia corporis hominis sursum trahit; , Cap. , Z  – : Quapropter etiam si corpus per eam ita superatur, ut iusta et bona opera operetur, de aeterna vita gaudebit; , Cap. , Z  f: ut opera quae caelestia sunt faciat.

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Denn wie im Liber Scivias betont sie, dass dem Menschen eine Sehnsucht nach dem Himmel eignet,¹³⁷ auf Grund derer seine Seele den Körper auf das Gute hin ausrichten will.¹³⁸ Diese Sehnsucht wird durch Entfremdungserfahrungen im hiesigen Leben intensiviert, die es wie ein „fremdes Leben“ (aliena vita) erscheinen lassen und in einem körperlichen Unwohlsein spürbar werden.¹³⁹ Ähnlich dem geistlichen Phänomen von Seufzern und Tränen¹⁴⁰ als Gnadengabe wäre hier nicht von einer psychosomatischen, sondern sozusagen von einer „spirtu-somatischen“ Betrachtungsweise zu sprechen. Rechtes, nicht entfremdetes Leben bedeutet, dass auch Körperreaktionen einer Reue und Rückkehr zu Gott entsprechen. Mit einem biblischen Bild aus Jesus Sirach 18,8¹⁴¹, das aus seinen ursprünglichen Kontext zur Visualisierung des inkommensurablen Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit gelöst wurde, ist die Reue als Durchgangsstadium in ihrer Dienstfunktion zur Sicherung der Freuden des ewigen Lebens gesehen: Denn auch wenn die Buße mehr wäre als alle Sandkörner und als alle Wasser der Meere, könnte sie dennoch die heilvolle Rettung ihrer Freude wegen der unaussprechlichen Herrlichkeit des ewigen Lebens kaum bedenken.¹⁴²

Reue soll also nicht den Menschen in seelischer Bestürzung und körperlicher Unbehaglichkeit beharren lassen, sondern zum inneren Ausblick auf die Freude des ewigen Lebens werden. Dieses Zitat ist ein Beispiel für den grundlegenden Optimismus, mit dem Hildegard das Leben als, wenn auch erst jenseitig erreichbare, Fülle in Freude versteht und von der her selbst Reue und Buße qualifiziert sind. So wird Reue zur Lebenskraft (viriditas paenitentiae)¹⁴³ und Erleuchtung der Seele.¹⁴⁴ Am Thema der Reue kündigt sich schon der Zusammenhang von Leben und Licht an, der dann im exegetischen Schlusskapitel der Visio anhand des Johannesprologs entfaltet wird.

 , Cap. , Z  f: homoque ex spiramine animae desiderium ad quaeque habet. Nam anima ad caelestia ascendit.  , Cap. , Z  f und  f: Quod si homo secundum desiderium animae operatur, omnia opera eius bona fiunt; se vero secundum carnem, mala erunt. …sic et rationalis anima omnia opera membrorum hominis ad se colligit.  , Cap. , Z  – : Unde fit ut, cum homo interdum adversitatem saecularium rerum deflet, animum multociens ad appetitum caelestium neglectis saecularibus retorqueat. Nam cum homo a Deo recedit et eum in oblivionem ducit, mox anima eius contremiscit, unde et omnia membra hominis, quae viribus illius impleta sunt, in alienam vitam conmoventur.  , Cap. , Z : ita ut suspiria haec lacrimas educant.  Im Vulgatatext gezählt als Ekkl ,, in der Einheitsübersetzung als Sir ,.  , Cap. , Z  – : Nam si paenitentia hominis supra harenam et supra aquas maris esset, salvationem tamen gaudii sui prae ineffabili gloria aeternae vitae vix considerare posset.  , Cap. , Z .  , Cap. , Z : Illuminatrix vero animae paenitentia est.

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Dementsprechend bilden Hinweise auf Reue und Umkehr ein Leitmotiv der Ausdeutungen der Körpersymboliken in dieser Vision, wobei auf biblische Vorbilder hingewiesen wird.¹⁴⁵ Worte der Schrift und daraus resultierende Worte der geistlichen Auferbauung¹⁴⁶ dienen der Umkehr zum Leben. Unausgesprochen will auch der Text der Visio selbst diesem Ziel zuarbeiten.

4.2.2 Licht und Leere: Zwei Grundmetaphern für den Gegensatz von Leben und Nicht-Sein 4.2.2.1 Licht, Sonne, Tag Die Bildlichkeit des Lichtes zählt zu den universellen „Titelmetaphern“.¹⁴⁷ Aufgrund der lebensspendenden Photosynthese durch das naturale Licht kommt ihm auf der übertragenen Ebene in ganz besondere Weise die Funktion eines Symboles für Leben¹⁴⁸ und den lebensspendenden Gott zu. Kaum einem Symbol eignet eine so starke dreifache Affinität zu biologischen, erkenntnistheoretischen und religiösen Sachverhalten! Es ist diskutabel, ob hier eine Metapher in eine „Metaphysizierung“¹⁴⁹ übergeführt wird, oder ob der grundlegende Zusammenhang zwischen Schöpfung, Sein und Erkenntnis als nur scheinbar uneigentliche Redeweise mit einem unleugbaren fundamentum in re deutbar ist. In der patristischen Theologie wurden die platonischen Gleichnisse ¹⁵⁰ mit den biblischen Aussagen zu Gott als Sonne und Licht (Ps 84,12; Joh 1,4) so verbunden, dass dies zu schöpfungstheologischen und trinitätstheologische Erklärungen diente. Das Wort ist Licht und Leben, weil der Sohn lichthaft ist wie der Vater.¹⁵¹ So wird es für die geschaffenen Wesen zum lichtbringenden Licht, zur lucifica lux. ¹⁵² Licht wird des-

 , Cap. , Z  – : sicut in evangelio scriptum est de villico, qui peccata relinquendo et debita minuendo ad misericordiam se convertit.  , Cap. , Z  f: ubi vera et sancta verba aedificatione fidelium proferuntur.  Zum Begriff der Titelmetapher, die sich in unterschiedlichen Konkretisationen, wie hier zum Beispiel in „Sonne“ und „Tag“ manifestieren kann, vgl. Ralf Konersmann, „Vorwort: Figuratives Wissen,“ in Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Hg. Ralf Konersmann (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ),.  Johann Kreuzer, „Licht,“ in Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Hg. Ralf Konersmann (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ): ; ferner: Torsten Voß, „Licht,“ in Metzler Lexikon literarischer Symbole, Hg. Georg Butzer and Joachim Jacob (Stuttgart: J.B. Metzler, ): . Wie bei vielen der von Hildegard eingesetzten Symbolen handelt es sich wiederum um eines mit einem poetologischen Begleitsinn für die Erkenntnis und Kreativität des Autors (a.a.O. ).  So die Interpretation von Johann Kreuzer, „Licht,“:  f.  Höhlengleichnis, Sonnengleichnis, Liniengleichnis in der Politeia.  Werner Beierwaltes, „Licht I. Antike, Mittelalter und Renaissance,“ in HWP  (): .  Beierwaltes a.a.O.,  verweist auf Augustinus, Contra Faustum Man. , . Vgl. ferner Johann Kreuzer, „Licht,“: 

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wegen im Bild der Sonne¹⁵³ symbolisiert, weil hierin die Verbindung des Einen mit der Vielheit ausgedrückt ist.¹⁵⁴ Eriugena faltet aus, wie die Welt durch ihre Durchlichtung zur Theophanie wird.¹⁵⁵ Die Metaphorik des Lichtes verknüpft in der Visio I,4 die Darstellung Gottes als Schöpfer, als Offenbarer und Erkenntnismittler mit der der Schöpfung und der Menschen als kreatürliche Schöpfer in ihren eigenen Werken. Die Autorin nutzt die Facetten dieses Symbolkreises, um ein Zueinander trotz aller Differenz von Einheit und Vielheit, von Ewigkeit und Zeit zu illustrieren. Allerdings verrutschen ihr zuweilen die Bildebene und die Sachebene in dem Versuch, Körperdinge mit Lichtsymbolik zur Verdeutlichung abstrakter Attribute für Gott heranzuziehen. Hierzu zwei Beispiele aus dem Beginn des Capitulum 105: Hildegard strebt an, die Überzeitlichkeit und die Aseität Gottes zu betonen, zwei Aussagen, die in sich akkurat sind. Jedoch wählte sie hierzu Vergleiche aus dem kreatürlichen Bereich, ohne auf die entsprechenden Erkenntnisabstriche in der Analogie hinzuweisen: Für die Überzeitlichkeit wird das konkrete Prädikat „der alte der Tage“ (antiquus dierum)¹⁵⁶ gewählt, das den Leser eben doch an eine unendliche Anzahl von Jahren in innerweltlichen Zeitdimensionen denken lässt. Dadurch wird das Ziel verfehlt, Gott als jenseitigen Schöpfer der Zeit zu verdeutlichen. Assoziativ wird aus der Semantik des Tages sein Selbststand gefolgert: Ich bin durch mich selbst der Tag!¹⁵⁷

Zwar verdeutlicht die folgende Relativsatzkette mit kausalem Sinn, dass hier nicht an das kreatürliche Sonnenlicht zu denken sei: Denn ich bin niemals aus der Sonne hervorgegangen. Sondern ich bin ja der, von dem die Sonne entzündet wurde. ¹⁵⁸

 Die erkenntnistheoretische Bildaussage der „Sonne“ steht der des „Spiegels“ nahe, sei es einer naturalen Spiegelung auf der Wasseroberfläche (Johann Kreuzer, „Licht,“: ), wodurch sie der hildegardianischen Grundmetapher der fons vitae benachbart ist, oder der durch kostbare künstliche Spiegel (Richard Cohen, Die Sonne. Der Stern, um den sich alles dreht, Übers. Claudia Preuschoft (Hamburg: Arche, ), ,  f).  Werner Beierwaltes, „Licht I. Antike, Mittelalter und Renaissance,“ in HWP  (): .  Werner Beierwaltes, „Licht“,  unter Bezug auf: Eriugena, Expositio super ierachiam caelesticam I, , PL , C.  , Cap. , Z  f. qui antiquus dierum sum; , Cap. , Z  f: Haec ergo antiquus dierum facio.  , Cap. , : Ego per memetipsum dies sum.  , Cap. , Z  f: qui a sole numquam processi, sed de quo sol accensus est.

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Doch verstärkt dieser Versuch einer nachgeschobenen Absetzung¹⁵⁹ von innerweltlichen Vorstellungen eher noch das entsprechende kreatürliche Vorstellungsbild des Lesers. Anders als es im Stil Hildegards durchaus üblich ist, gemahnt kein quasi oder velut an die Distanz zwischen den Vergleichsgliedern. Vielmehr wird die Apposition „dies“ so absolut gesetzt, dass die eigentliche Intention, das kreatürliches Tageslicht als vom absoluten „Tag“ bedingt zu sehen, geschwächt wird. Gleichwohl eignet der Identifikation von Gott mit dem Attribut des sozusagen „absoluten Tages“ die Assonanz von absoluter Präsenz, Dynamik, Lebendigkeit und Positivität. Zur Selbstbeschreibung Gottes auf einer optischen Ebene, für welche er selbst der Ermöglichungsgrund ist, gesellt sich die auf der akustischen Ebene als „Klang“, aus der – wohl durch die Offenbarung durch den Logos – auch die Rationalitas für die Menschen ertönt.¹⁶⁰ So umschreibt die Autorin erst den Logos mit dem Verb sonare und mit den Nomen vox und tonitruus, bevor sie ihn durch das Stichwort verbum konkret benennt.¹⁶¹ Im Ausstrahlen des Lichtes und im Ertönen des Klanges überlagern sich innertrinitarische Relationen und außertrinitarische Offenbarungsvorgänge. Beide spiegeln sich auf den textlichen Ebenen von Bildern und deutenden Stimmen, die in der Visionstrilogie als Vision und Audition geschildert werden. Der Beginn dieses Capitulums liefert also einen möglichen theologischen Grund für die Wahl der Textgattung durch die Autorin, durch die sie Offenbarungsgeschehen in der Textform abbilden will. Entscheidend ist die folgende Bemerkung, in der Gott als Erfinder der Spiegelschau bezeichnet wird, in der er selbst, um dann betrachtet werden zu können, seine wunderbaren Eigenschaften und Taten betrachtet: Zum Anblick meines Antlitzes habe ich Spiegel geschaffen, in denen ich alle Wunder meines Seins von je her (antiquitatis meae), die nie aufhören werden, betrachte (considero).¹⁶²

Die Kunstfertigkeit des theologischen Denkens Hildegards zeigt sich nun darin, dass diese optischen Spiegel wiederum „gespiegelt“ werden in einer weiteren Ebene von Phänomen und Erkenntnis, in dem Zusammenklang des Lobes (in laudibus conci Solche „nachgeschobenen“ Präzisierungsversuche lassen sich in der Visio I, öfters beobachten. Sofern sie nicht auf nachträgliche Korrekturen durch Redaktoren zurückzuführen sind, bezeugen sie das Bemühen der Autorin, poetische Sprachkraft mit denkerischer Schärfe zu kombinieren. Allerdings wäre die Sprachgestalt dieser Bemühungen wohl anders ausgefallen, wenn sie noch mehr auf logisch exaktere Schreibtechniken zurückgegriffen hätte, z. B. durch Vorordnung der Präzisierungen, durch Einsatz von Vergleichspartikeln, durch eine klarere Trennung von abstrakt formulierten Thesen, stringenten Beweisgängen hierzu und Beschränkung mancher Metaphern auf nachgeordnete Illustrationen zu Sachaussagen.  , Cap. ,  – : Ego etiam ratio sum, quae ab alio non sonuit, sed ex qua omnis rationalitas spirat.  , Cap. , .: vocem et tonitruum habeo…per verbum meum.  , Cap. , Z  – : Ad intuitum igitur faciei meae specula feci, in quibus omnia miracula antiquitatis meae, quae numquam deficient, considero. Leider ist der Sinnbezug von intuitus unklar: Geht es nur um die Selbsterkenntnis Gottes oder um sein Betrachtetwerden durch die Geschöpfe?

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nentia).¹⁶³ Dabei wird, wie der nachfolgende Kausalsatz zeigt, der Klang doppelsinnig als genitivus subjectivus und genitivus objectivus verstanden: Als Klang, als Ertönen der erschaffenden Stimme, mit der alles ins Sein gerufen wird, oder als Klang, mit dem das Seiende durch sein Dasein den Schöpfer lobt. Dies lässt die Schriftstellerin offen: Diese Spiegel habe ich im Zusammenklang der Lobbezeugungen bereitet, da ich eine Stimme und einen Donnerklang habe, mit der ich den ganzen Erdkreis mit den lebendigen Klängen aller 〈für alle〉 Geschöpfe bewege.¹⁶⁴

Diese Doppeldeutigkeit setzt sich fort im Motiv der Erschaffung der Engel als Lichtfunken (scintillae),¹⁶⁵ deren Verweigerung des Gotteslobes den Donner des Gotteseifers (tonitruum zeli) hervorruft.¹⁶⁶ Jenes Zorngeräusch verschlankt sich dann zum Neuansatz der Schöpfung, indem innertrinitarisch der Gedanke der Schöpfung des Menschen „diktiert“ wird. Damit ist ein zweifaches Bild evoziert: Zum einen der innertrinitarische Austausch wie zwischen einem Autor und seinen Schreibern, die das Werk in seine Materialität überführen. Zum anderen wird gemäß der Parallelität von akustischer und optischer Ebene der geschaffene Mensch nicht nur als diktiertes Wort und designiertes Werk, opus designatum, bezeichnet, sondern auch als eine Art Licht.¹⁶⁷ Da die Lichthaftigkeit der Schöpfung in dem lichthaften Schöpfungsvorgang durch den, der das Licht selbst ist, gründet, gestaltet sie sich in einer inneren Struktur, in einem Ordo.¹⁶⁸ Geschaffenes Leben hat also Struktur und Aufbau. Hierbei gehört die

 , Cap. , Z . Jedoch ist fraglich, warum hier nicht statt concinentia das hildegardische Kernwort der symphonia erscheint. Möglicherweise soll mit dem Nomen concinentia mehr der stimmliche Aspekt des verbums oder der vox hervorgehoben werden, während symphonia eine musikalische Harmonie auch ohne Liedtexte bezeichnen kann.  , Cap. , Z  – : ac eadem specula in laudibus concinentia paravi, quia vocem ut tonitruum habeo, cum qua totum orbem terrarum viventibus sonis omnium creaturarum moveo.  , Cap. , Z : innumerabiles scintillas, scilicet angelos, prodire iussi. Allerdings schwankt bei Hildegard die Bandbreite des Bedeutungsumfanges von scintilla, einem Grundwort der mystischen Theologie für den Seelenfunken oder den Seelengrund. Zur begriffsgeschichtlichen Konkretisierung vom antiken Rätselwort der syneidesis hin zum gebetstheologischen Fachausdruck bei Wilhelm von St. Thierry und Richard von St.Victor die Hinweise bei Karl-Heinz Steinmetz, Mystische Erfahrung und mystisches Wissen in den mittelenglischen Cloudtexten,Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie  (Berlin: Akademie, ), . Damit kann sowohl ein „Existenzfunken“, als auch eine Gnadengabe oder, wie im folgende Beispiel, das innere Lebensprinzip der Seele gemeint sein:  f, Cap. , Z  f: Deus enim per viventem scintillam animae primum hominem suscitavit.  , Cap. , Z  – : Et ideo in magno tonitru ultio zeli mei in praesumptione qua mihi contradixerunt illos deiecit, quia solummodo unus Deus est et alius esse non potest. Kann aus dem Wechsel von der ersten Person in die dritte ab dem Verb des Hauptsatzes geschlossen werden, dass hier vor allem der Logos als Sprecher geschildert wird? Oder handelt es sich um ein Versehen der Autorin?  , Cap. , Z  f: Homo autem designatum opus et lumen a Deo est, quod vivere incipit et in carne quandoque deficiet.  , Cap. ,  f: ordinatio omnis ordinationis et lux omnis luminis est.

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Ausstrahlung und Weitergabe des Lichtes zu den Eigenschaften des Lichtes selbst. So wird der geschaffene Mensch zum Lichtträger für die Kreatur, die ihm anhänglich zuläuft.¹⁶⁹ Dies ist möglich, weil auch die körperliche Natur des Menschen gewissermaßen von einem Licht als Lebenshauch „erleuchtet“ sei. Hier bezieht Hildegard eine johanneische Grundaussage (Joh 1,9), die gemeinhin eher im Sinne einer erkenntnistheoretischen oder religiösen Illumination gedeutet wird, gezielt auf seine Körperlichkeit.¹⁷⁰ Entsprechend einer allgemeinen Symbolkraft von „Tag“ für das menschliche Wissen um das Gute¹⁷¹ wird in uneigentlicher Aussageweise auch der Wille des Menschen als „Licht“ bezeichnet. Die Symbolik des Lichtes bündelt sich so von einer allgemeinen Eigenschaft geschaffenen Lebens, die von Gott als Licht und Leben selbst stammt, auf die ethische von rechter Erkenntnis und rechtem Tun. Hierzu erfolgt eine positive Ausweitung und eine negative Abgrenzung: Positiv führe das rechte Erkenntnislicht, das zum Verständnis Christi als Gott und Mensch verhilft, zu einer ekklesial wirksamen Erbenschaft an der Lebenskraft und Lebensfreude im ewigen Leben.¹⁷² Negativ drohe gemäß Joh 1,1 die Gefahr, die Bedeutung der Menschheit Christi für seine Gottheit zu verkennen.¹⁷³ Einerseits wertet dies Hildegard als eine Art jugendlichen Leichtsinnes ab.¹⁷⁴ Andererseits schätzt sie die Dunkelheit als eine Art nötigen kontrastierenden Erkenntnishintergrundes für die Wahrnehmung von Gott als Licht.¹⁷⁵ Letzteres könnte ein Grund sein, warum sie dementsprechend auf der visuellen und räumlichen Ebene sowohl im Liber Scivias als auch im Liber Divinorum Operum immer wieder die Symbolik der Leere¹⁷⁶ einfließen lässt.

 , Cap. , Z  – : Homo enim quasi lux aliarum creaturarum in terra conmorantium est, quae multociens ad ipsum currunt et qui eum multo amore lambunt.  , Z  – : Quae illuminat omnem hominem venientem in hunc mundum (Joh ,); quoniam haec lux cum spiraculo vitae perfundit omnem hominem carnem et ossa habentem.  , Cap. , Z : quia dies scientiam bonam, nox malam demonstrat.  , Cap. , Z  – : quoniam omnibus hominibus utriusque sexus qui eum receperunt, credendo eum esse Deum et hominem (quia Deus primum fide capitur, deinde quod Deus homo factus est recipitur), dedit potentia sua potentialiter potestatem hanc, ut propria voluntate sua filii patris sui in celesti regno fiant… Nam quia eum Deum et creatorem suum congnoverunt et eum caritate amplexi et fide oscultati sunt et omnia sua ab eo diligenter et caute sciscitati sunt, ros Spiritus Sancti in eos cecidit, ita ut tota ecclesia ab eis germinare et fructum supernorum gaudiorum proferre inceperit.  Dies wirkt sich unter anderem in einer Verschattung des Glaubens durch den Mangel an ihm entsprechenden guten Werken aus: , Cap. , Z  f: in umbra fidei nomen Dei sine operibus colendo.  , Cap. , Z  – : 〈Joh ,〉 Et mundus eum non cognovit, quoniam filii mundi videlicet qui mundum sequuntur propter caecitatem ignorantiae suae, ipsum venientem nescierunt nec eum operantem cognoverunt, quemadmodum infans scientiae et operationis nescius est; , Cap. , Z  – : Quemadmodum enim iuventus in creaturis decepta delectatur, ita mundus tunc in vanitate conversabatur; et ideo necessarium fuit ut Deus illis seipsum ostenderet et eos ad se colligeret.  , Cap. , Z  f: quia quomodo lux cognosceretur, nisi per tenebras?  „Leere“ im religiösen Sinn ist durch die Nicht-Erfülltheit durch den Heiligen Geist geprägt: , Cap. , Z  f: ita, cum scientia et sensus incredulorum ab igne Sancti Spiritus vacui erant.

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4.2.2.2 Das Nicht-Bild der Leere Es mag überraschen, dass gerade bei einer Autorin an der Schwelle zwischen Romanik und Hochmittelalter das Bildmotiv „leerer Orte“ erscheint und mit ihm die Thematik des „Nichts“. Dies würde man eher in spätmittelalterlichen Schriften einerseits¹⁷⁷ und in (post‐)modernen¹⁷⁸ andererseits vermuten. Dennoch ergibt sich dies aus der Logik der Extension des hildegardianischen Begriffes von Leben, der aus der Opposition zu verschiedenen Formen des Nichtseins und der Lebensverneinung heraus modelliert wird. Diese Gegenüberstellung spielt sich gleichzeitig in der Sphäre der Ontologie, der Erkenntnistheorie und der Ethik ab. So sind neben der Topographie leerer Orte,wie wir ihnen schon im Kapitel 3.3.2 unserer Untersuchung begegnet sind, die Semantiken von Nichts (nichil),¹⁷⁹ Tod und Täuschung¹⁸⁰ zum Verständnis der Motivik hinzu zu ziehen. Biblischer Aufhänger im exegetischen Schlusskapitel der Visio I,4 ist der Vers Joh 1,3 „et sine ipso factum est nichil“, der dem Stichwort Leben im folgenden Vers Joh 1,4 vorausgeht. So ist vom Text des Johannesprologes die Polarität nichil ⇔ vita vorgegeben und mit ihm der Grundgedanke, dass ein denkmögliches Nichts von der Schöpfungswirklichkeit umgriffen sei. Anders die Szenerie zu Beginn der Genesis: Auf der Erde gibt es Leere, die durch die Schöpfung gefüllt und strukturiert wird.¹⁸¹ Um die Differenz zwischen geschaffenem Sein und göttlichem Sein in aller Schärfe zu markieren, da das göttliche Sein nur in Anführungszeichen mit dem selben Wort wie irdisches Sein bezeichnet werden kann, schuf Eriugena im neunten Jahrhundert die durch das Paradox zum Weiterdenken anregende apophatische Formulierung von Gott als „Nichts“ oder „Nichtheit“.¹⁸² Darauf werden wir noch genauer im Kapitel 7.1 dieser Arbeit eingehen.

 Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des . und . Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, Hg. Kurt Köster (Stuttgart: Kröner, ), : „Wer sich aber wirklich in jene Zeit vertieft, vermag oft nur mit Mühe den heiteren Aspekt festzuhalten. Denn überall außer der Sphäre der Kunst herrscht das Dunkel.“  Z. B. Lutz Friedrichs, „,Heilige Leere‘ – Spätmoderne Autobiographik als Provokation für Theologie und Kirche,“ in Religion in der Lebenswelt der Moderne, Hg. Kristian Fechtner and Michael Haspel (Stuttgart/Berlin/Köln: W. Kohlhammer, ), .  Vgl. den Umriss einer Definition des Nichts und der Kreaturen, die zum Nichts tendieren in Causae et Curae Liber I, , Z  – : Sed nichilum nullam proprietatem habet, in qua subsistat, et ideo nichil est, unde etiam aliae creaturae, quae voluntate sua se nichilo coniungunt, proprietates suas perdunt et ad nichilum fiunt.  Vgl. etwa die plastische Schilderung eines „Marktplatzes des Todes“ mit täuschenden Angeboten nur vermeintlicher Lebenssteigerung im Liber Scivias, Pars Secunda, Visio II,, , Z  – .  Gen ,: terra autem erat inanis et vacua et tenebrae super faciem abyssi.  Vgl. Markus Enders, „Die unmittelbare Gottesschau des Evangelisten Johannes und sein Abstieg in das „Tal der Geschichte.“ Johannes Scottus Eirugenas Auslegung des Johannesprologs in seine Homilie „Vox Spiritualis“ und in seinem Kommentar zum Johannesevangelium,“ in „Im Anfang war der Logos“. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart, Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte , Hg. Markus Enders and Rolf Kühn, mit einem Beitrag von Christoph Bruns (Freiburg im Breisgau: Herder, ): .

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Neben einer philosophischen, dabei von der exegetischen und der schöpfungstheologischen Diskussion um die creatio ex nihilo inspirierten Grundierung der Rede von Leere und Nichts können zudem Theoreme aus der Apokalyptik hinter den „NichtBildern“ der Leere bei Hildegard stehen. Anhand apokalyptischer Schriften postuliert die mentalitätsgeschichtliche Forschung ein dementsprechend gefärbtes Lebensgefühl bei mittelalterlichen Menschen.¹⁸³ Freilich mag es sich hier um einen Fehlschluss der überzeichneten Verallgemeinerung von früh- und hochmittelalterlichen Einzeläußerungen handeln.¹⁸⁴ Zudem könnte ein poetologisches Interesse hinter jenen Andeutungen von NichtBildern in der Schau und in ihrer Deutung stehen: Das dichterische Experiment, neben dem Spiel mit der Spiegelung und Kombination verschiedener Bildwelten ebenso den Entzug jener Darstellungsmittel auszuprobieren, auch als Bühne, um den Realitätsgehalt der Metaphoriken der Textumgebung stärker zu beleuchten. Weniger jedoch wären Erfahrungen einer mystischen Nacht oder einer Dunkelheit Gottes selbst in die hildegardianischen Erzählungen von der Leere hineinzudeuten. Im Schnittpunkt zwischen Physik und Naturphilosophie prägten scholastische Autoren nach Hildegard den Begriff des horor vacui, des Zurückschreckens vor dem Leeren, das die Luft gleichsam an sich saugt.¹⁸⁵ Das Zurückschrecken und die Flucht vor dem leeren Raum beruht hier auf der Grundannahme, dass es eigentlich keinen leeren, körperlosen Raum geben kann.¹⁸⁶ Daneben findet sich eine Spur einer positiven Deutung von „Leere“ in der mystischen Tradition seit Philo von Alexandrien als einer Grundbedingung, dass in den menschlichen Geist das Göttliche eintreten kann.¹⁸⁷ Bereits in der Antike entzünden sich Diskussionen über das Nichts an der Auslegung des Johannesprologes: Ist das „Nichts“ in der Formulierung „ohne ihn ist nichts geworden“¹⁸⁸ ein etwas? Augustinus antwortet: Nein!¹⁸⁹ Gleichwohl hat es Auswirkungen auf den Menschen, wenn er sich nichtswürdigen Dingen zuneigt.¹⁹⁰ Eriugena weist im Sinne einer theologia negativa darauf hin, wie Gott in einem uneigentlichen Sinn Nichts genannt werden kann, insofern er erhaben ist über das

 Eine „dualistische Polarisierung…als apokalyptische Metasemantik“ zwischen Fülle und Mangel konstatiert: Alexander K. Nagel, „Ordnung im Chaos – Zur Systematik apokalyptischer Deutung,“ in Apokalypse. Zur Soziologie und Geschichte religiöser Krisenrhetorik, Hg. Alexander K. Nagel, Bernd U. Schipper and Ansgar Weymann (Frankfurt am Main: Campus, ): .  Davor warnt Vito Fumagalli, Wenn der Himmel sich verdunkelt. Lebensgefühl im Mittelalter, Übers. Renate Heimbucher (Berlin: Klaus Wagenbach, ),  sowie .  Siehe hierzu Fritz Krafft, „Horror vacui, fuga vacui,“ in HWP  ():  f.  Stephan Hartmann, „Vacuum,“ in HWP  (): .  Philo deutet so Gen (LXX) ,. Dies erwähnt Peter Heidrich, „Leere I.,“ in HWP  ():  f.  Joh ,: et sine ipso factum est nihil.  Augustinus, De natura boni. Vgl. Theo Kobusch, „Nichts, Nichtseiendes,“ in HWP  ():  f.  Theo Kobusch, „Nichts, Nichtseiendes,“:  unter Bezug auf Augustinus, De beata vita ,.

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innerweltliche Sein und er so den innerweltlichen Horizont nichtgöttlicher, geschaffener Dinge sprengt.¹⁹¹ Jedoch macht sich Hildegard diese Verwendungsweise des Begriffs des Nichts nicht zu eigen. Gerade im 12. Jahrhundert verstärkt sich das Interesse am Begriff des Nichts, sowohl aus der Perspektive der mystischen Theologie als auch aus dem der philosophischen Ontologie und Sprachlogik, wobei manche Überlegungen von der creatio ex nihilo ihren Ausgang nehmen.¹⁹² Derartige Deutungen des Nichts als Möglichkeitsbedingung, als Potentialität auf mögliche Verwirklichung hin, liegen jedoch den entsprechenden hildegardianischen Sprachformeln fern. Beschreibungen der Leerheit von Orten bilden sozusagen die „Nachtseite“ der Metaphorik des Lichts: Auf der bildlichen Textebene kann die Sonne den Norden als Ort der von der Offenbarung Gottes noch nicht erleuchteten Leere¹⁹³ nicht erreichen.¹⁹⁴ Diese Aussage wird dazu gesteigert, dass Gott bei der Schöpfung einen Platz leer gelassen habe, damit der Mensch die Helligkeit Gottes erkennen könne. Dieser leere Ort ist insofern in seiner Erkenntniskraft und ethischen Qualität doppeldeutig, weil in ihn dann jener Engel einzog, der als ursprünglicher Lichtträger, lucifer, aus dem Wunsch nach Steigerung der eigenen Lichtfülle ins Dunkle fiel. So wird die Leere zum Ort der Zerissenheit, in der die ursprüngliche Ermöglichung der Lichtschau sich ins Gegenteil verkehrt. Aber dennoch ist dieses Vakuum der Gotteserkenntnis in der Ethymologie Hildegards ein von Gott zugelassener, heilspädagogisch motivierter Ort: Als nämlich Gott die ganze Erde mit Geschöpfen kräftigte (roboravit), ließ er einen Ort leer (vacuum), damit die Kreatur erkennen könne, wie und wie beschaffen (quae et qualis) die Helligkeit Gottes sei. Denn durch die Dunkelheiten wird das Licht geehrt und der dunkle Teil dient dem hellen, während er als leerer Ort (vacuus locus) existiert. Denn Luzifer wählte jenen aus, als er seinem Herrn gleichen wollte.¹⁹⁵

 Theo Kobusch, „Nichts, Nichtseiendes,“:  (Eriugena, De divisiones Naturae ,  (PL ,  C/D).  Theo Kobusch, „Nichts, Nichtseiendes,“: .  , Cap. , Z  – , Cap. , Z  f: Ego enim qui sum in tribus parietibus opera mea ostendi, videlicet in oriente, in austro et occidente; quartum autem parietem in septentrione vacuum dimisi, in quo nec sol nec luna lucet.  , Cap. , Z  – : 〈cerebrum〉 vires solis demonstrat, qui orientalem et australem occidentalemque plagam perlustrat. Spetentrionalem autem divitat. Diese Äußerung fällt als allegorische Ausdeutung des Aufbaus des Gehirns, dass von drei Bereichen aus Feuchtigkeit als Lebenskraft in den Körper des Menschen schicke (, Cap. , Z  – ). Vgl. zur Region des Nordens, wenn auch in recht einseitiger Interpretaion als Ort der Hoffnungslosigkeit: Maurmann, Barbara, Die Himmelsrichtungen im Weltbild des Mittelalters. Hildegard von Bingen, Honorius Augustodunensis und andere Autoren, Münstersche Mittelalter-Schriften  (München: Wilhelm Fink, ),  – .  , Cap. , Z  – : Cum enim Deus totam terram cum creaturis roboravit, unum locum vacuum dimisit, quatinus creatura cognosceret quae et qualis claritas Dei esset; quoniam per tenebras lux honoratur et lucidae parti tenebrosa ministrat, vacuus locus existens; quia Lucifer illum elegit, quando domino suo aequari voluit.

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Im Zuge dieser Heilspädagogik ist das Nichts insofern ein Ziel, als Gott das, was sich ihm widersetzt, in seinem von ihm abhängigen Sein ins Nichts überführen kann.¹⁹⁶ Daraus lässt sich für die Anschauung Hildegards vom Leben folgern, dass die Fülle des Lebens erst erreicht werden kann, wenn geschaffenes Leben wieder den Rückweg zum Leben selbst findet. Reue und Umkehr wären sozusagen die Aktivitäten der Ausstaffierung, um vom Heil noch leere Räume zu füllen. Entsprechend des prinzipiellen Heilsoptimismus der Autorin ist jedoch trotz allen heilspädagogischen Nutzens die Leere höchstens ein Zwischenstadium, dem die Erlösung entgegen wirkt: Hier wird nämlich die Aussagekraft des Lebenssymbols des Kleides für die Inkarnation deutlich, insofern in dieser Bekleidung mit der Menschheit Kenosis als gewollte „Leere“ (Phil 2,7) von der Gottheit eben nichts ins Nichts führt, sondern zu einer neuen Fülle des Menschseins: Denn das Wort selbst, also der wahre Sohn Gottes, ist voll der Gnade, indem er gemäß seiner Barmherzigkeit schenkt und erlässt. Er hat sich nicht in seiner Gottheit ausgeleert, sondern zog die Menschheit an. Er ist von der Menschheit erfüllt, da ihn keine befleckte Gewandfalte einer Sünde der menschlichen Natur wie ein Kleid bedeckte.¹⁹⁷

Über das Stichwort der Fülle im zweimaligen Adjektiv plenus spannt dieser lebenstheologische Gegenbegriff zur Leere den Gedanken der Fülle der Gnade mit der Fülle vollkommener Menschheit in Christus zusammen.

4.2.3 Die Lehre vom „Leben des Lebens“¹⁹⁸ entlang einer Exegese des Johannesprologs Vor der theologischen Interpretation der Anschauung vom Leben im exegetischen Capitulum 105 der Visio I,4 seien gemäß der Verfahrensweise einer Corpus-TextAnalyse markante Fundstellungen zum Lebensbegriff aufgelistet. So wird die Häufigkeit der Verweise auf das Wortfeld „Leben“ sichtbar:

 , Cap. , Z : quia Deus hoc, quod se ipsi opponit, ad nichilum deducit; ähnlich und in Verknüpfung mit dem Motiv von Licht und Dunkelheit: , Cap. , Z  – : et sine ipso non factum est aliquid praeter malum, quod a diabolo est et ideo ab oculis Dei proiectum ad nichilium deductum est, quoniam solummodo unus Deus est, et alius non est. Rationalis quoque homo, in quem possibilitas operandi a Deo posita est, peccatum fecit, quod in nichilum ducitur, quia a Deo creatum non est; et huic nichilo Deus inexterminabiles tenebras posuit, quoniam fugiendo lumen recusavit.  , Cap. , Z  – : Nam ipsum verbum, scilicet verus Dei filius, plenus est gratia, dando et remittendo secundum suam misericordiam; qui semetipsum in divinitate non exinanivit, sed humanitatem induit; et humanitas ipisus plena est, quoniam nulla ruga peccati humanae naturae eum tetigit.  , Cap. , Z  et passim.

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Wortfeld „Leben“ im Textabschnitt Liber Divinorum Operum, Pars Prima, Visio Quarta, Cap.  , Z  – : quia vocem et tonitruum habeo, cum qua totum orbem terrarum viventibus sonis omnium creaturarum moveo. , Z  – : Homo quippe vestimentum illud est, quo filius meus circumamictus in regali potentia se Deum omnis creaturae et vitam vitae ostendit. , Z  – : nec illos qui eum Deum omnis creaturae singulariter profitentur ullus ad finem perducere valet, nec eos qui ipsum vitam omnis vitae specialiter vociferantur ulla lingua sufficit determinare. , Z  – : Cum verbum Dei sonuit, omnem creaturam, quae ante aevum in Deo preordinata et disposita fuit, ad se vocavit, et per vocem eius omnia ad vitam suscitata sunt; sicut etiam in homine designavit, qui verbum in corde suo occulte dictat antequam illud emittat, …et sic dictatus verbi in verbo est. , Z  f: Quando enim verbum Dei sonuit, idem verbum in omni creatura apparuit, et idem sonus in omni creatura vita fuit. , Z  f: quoniam homo secundum Deum per viventem animam rationalis est. , Z  – : in qua prima figura digiti Dei, quam in Adam formaverat, apparet, et quam eadem anima vivificando et plenitudine sua in incremento replendo pertransit. , Z  f: anima autem carnem movet et vivere facit. , Z  – : Sed quemadmodum homo sine connexionibus venarum homo non esset, sic etiam sine creaturis vivere non posset; et quia mortalis est, operi suo vitam non praestat, quoniam ipse incipiens vita a Deo est, Deus autem operi suo vitam dat, quia ipse vita sine inceptione vitae est. , Z  – : quia nullus creator est nisi solus Deus. Omnia enim utilia, quae res formatae et vitales sunt, per ipsum factae sunt. , Z : Et sine ipso factum est nichil: quoniam sine verbo Dei facta est nulla creatura, quia per verbum Dei omnis creatura tam visiblis quam invisibilis facta est, quae in nulla essentia, videlicet viventis spiritus aut viriditatis, subsistit. , Z : Deus enim unica vita est, quae non accepit inicium vitae illius, quae inicium habet. Quapropter omne quod factum est in ipso vita erat, quia ab eo praescitum fuit, et Deo vivebat. , Z  – : Et sicut hoc, quod in creatione factum est, in Deo vita sine extinctione fuit, quia creandum erat ubi factae creaturae nichil deerat, quin plenitudinem profectus sui in crecendo haberet; ita etiam, quae homo operatur ipsi, vita sunt ei ad vitam succurendo, quia in ipsis subsistit et perficitur. Sed et quoniam Deus sine incio et sine fine plena vita est, ideo etiam opus suum in ipso vita est, quod in nullo modo illudetur. , Z  – : 〈homo〉 quia quod sibi placet, cum gaudio conservat, quatinus ei vitam retineat; et quod sibi displicet, indignando a se proiecit, ne vitam eius laedat. , Z  f: Sic omne quod Deus fecit in ipso vita est, quoniam illud a Deo vitale in natura sua est. , Z  – : Unde et sicut verbum patris carnalem vitam hominibus dedit, cum eos creavit, ita etiam, cum tunicam suam induit, spiritalem vitam eis ostendit, quatinus per alienam vitam et non secundum carnem incedendo in turbas spiritalium se dilatarent; et ita utrumque populum in manu sua tenet, quoniam ipse filius Dei Deus et homo est. , Z ,: Et vita erat lux hominum 〈Joh ,〉, quoniam vita, quae creaturas suscitaverat, vita vitae hominis, quia per eum vivit, existens, ratione et scientia lucem hominibus dabat. , Z  – : Et ut homo cum creaturis sine luminibus istis in officio vitae suae velut caecus esset, et ut corpus eius some spiritu vivere non posset, sic etiam homo sine alis scientiae quod esset non intelligeret. , Z  – : Haec Deus in corde hominis declarat, quod vita et firmamentum totius corporis est et totum corpus sustentat, quia in corde cogitatio hominis ordinatur et voluntas pascitur. , Z : 〈Johannes〉: sic quoque per abstinentiam mirabiliter de elementis vixit.

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, Z  f: Homo autem designatum opus et lumen a Deo est, quod vivere incipit et in carne quandoque deficiet. , Z  – : Quae illuminat omnem hominem venientem in hunc mundum (Joh ,); quoniam haec lux cum spiraculo vitae perfundit omnem hominem carnem et ossa habentem. , Z  – , : Deus enim per viventem scintillam animae primum hominum suscitavit, quem de limo formavit, ita ut ille per eandem animae scintillam de limo caro et sanguis factus ist. , Z  – : quia tunc homo, ut praedictum est, carne induetur et ossa ipsius medulla implebuntur; sed amplius per defectum cibi et potus et vitae non deficiet, quoniam tunc in viribus divinitatis sine omni vicissitudine diversitatis procedet, quia in bono membrum Christi est, qui in mundo multas passions et plurima obprobria sustinuit, quamvis filius Dei esset. , Z  f: 〈diabolus〉 sed tamen quin homo in indeficientem vitam elevaretur impedire non potuit. , Z  – : Nomen autem hoc 〈Joh ,: His qui credunt in nomine eius〉, in quo vera credulitas est, tale est quod inicio caret, et quod per ipsum omnes creaturae surrexerunt, et quod vita est, per quam omnis vita spirat. Unde et ab omni creatura sua adoratur. , Z  f: Nomini autem vitalis creaturae tres vires assunt, quarum altera videtur et altera scitur, sed tertia non videtur. Corpus enim vitalis rei videtur et quod gignit scitur, sed unde vitalis sit nec cognoscitur nec videtur. , Z  – : Et corpus hominis et opera eius videntur, sed multo plus in ipso est id quod nec videtur nec cognoscitur. Sed cum tanta obscuritas in homine sit, quomodo manifestus ille esset qui eum creavit? Nam hunc nullus hominum in saeculo vivens scire potest sicuti est. , Z  f: Deus quippe Adam plasmavit ut aeternaliter inmutabilis viveret, sed ille inoboedientia preavaricatus est. , Z : usque ad novissimum diem, cum Deus hominem renovabit, ita ut postea inmutabilis vita, ut Adam creatus fuit, vivat. Haec autem vita in filiis qui in peccatis concepti et nati sunt nequaquam esse potuit, sed in humanitate filii Dei exorta est, per quem supernus pater recordatus est ut hominem liberaret, qui perierat. , Z  – : Deus enim omnia opera sua priusquam formarentur preaviderat; quae postea in creatione formatae formae in se vacua non remanserunt, sed vitalia facta sunt. Caro enim sine vita caro non esset, quoniam cum vita ab ea recesserit, in defectu deficit. Spiraculum autem quod Deus in Adam misit igneum et intellegibile ac vita fuit. , Z  f: Homo itaque hoc modo ut praedictum est vita est, et omnia quae ipsi adhaerent per ipsum vitalia sunt. , Z  – : per vitam caro vivit, et nisi per vitam caro plene non esset; et ita caro cum vita et cum caro unum sunt. , Z  f: et in illum spiraculum vitae miserat , Z  f: Ex natura quoque et ex desiderio animae homo vestem vitae postulat.

In der Ausdeutung des Johannesprologes entsteht ein größeres Panorama einer Lehre vom Leben bei Hildegard. In Vergleich zu zwei bedeutenden Stationen der Auslegungsgeschichte, den Kommentierungen durch Augustinus und Eriugena, fällt auf, dass die Autorin nicht nur dort vom Leben spricht, wo ein entsprechendes Stichwort des Johannesevangeliums dazu herausfordert, sondern fortlaufend.¹⁹⁹ Daraus kann  Folgende Verse werden in unterschiedlicher Hinsicht auf den Begriff des Lebens bezogen: Joh , (in principio erat verbum); Joh , (in ipso vita erat et vita erat lux hominum); Joh , (et tenebrae eam non comprehenderunt); Joh , (non erat ille lux); Joh , (erat lux vera); Joh , (in mundo erat); Joh , (dedit eis potestatem filios Die fieri, his qui credunt in nomine eius); Joh , (qui ex Deo nati sunt); Joh ,  (et habitabit in nobis et vidimus gloriam eius).

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gefolgert werden, dass sie, angeregt durch die johanneische Diktion, dieses Thema bewusst anzielt. Für entsprechende Metareflexionen steht eine kurze Seitenbemerkung, in der sie Querverweise innerhalb ihrer Einzeläußerungen zum Menschen als Leben benennt und jene dadurch präzisiert und differenziert.²⁰⁰ Eine Nähe zur Auslegung durch Augustinus kann in den Passagen mit Stichwörtern zu verbum, sonare ²⁰¹ und lux gesehen werden.²⁰² Ein Berührungspunkt mit der Exegese von Eriugena scheint gerade in einer Besonderheit seiner Kommentierung zu liegen, die nicht zwingend vom neutestamentlichen Text ausgeht,²⁰³ und weiter unten erklärt wird, nämlich in seiner Lehre einer duplex theoria. Dies wird innerhalb der nun folgenden Ausfaltung²⁰⁴ von Ebenen des Lebens in der Sicht Hildegards erläutert werden. Bevor sie im Einzelnen textnah vorgeführt werden, sei erst ein Überblick über die Gedankenabfolge gegeben: Aus einem in der via supereminentiae ausgedrückten überquellenden, aber in absoluter Einheit agierenden Lebensprinzip, das mit Gott identisch ist, werden Abstufungen des Lebens in mehreren Gegensätzlichkeiten deriviert.²⁰⁵ Dabei sind zunächst Christus als Wort und Klang, und dann der Mensch²⁰⁶ und das körperliche Organ des Herzens²⁰⁷ Vermittler der Lebensweitergabe. Aus der Kluft aus körperlicher und geistlicher Lebensform des Menschen wird dann die Notwendigkeit einer „RückErhebung“ in das eigentliche Leben bei Gott abgeleitet, das als ewiges re-installiert ist. In diesem Konzept verbindet sich eine ontologische mit einer heilsgeschichtlichen, bis

 , Cap. , Z : homo itaque hoc modo ut praedictum est vita est.  Klang als johanneisches Attribut des lebensschaffenden Logos wird zum Synonym für Leben: , Cap. , Z : sonus in omni creatura vita fuit.  Vgl. die Zusammenfassung der augustinischen Auslegung bei Markus Enders, „Das Wort Gottes als Schöpfungsmittler, Erkenntnisprinzip und Erlöser der Menschen. Augustinus′ Auslegung des Johannesprologs,“ in „Im Anfang war der Logos“. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart, Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte , Hg. Markus Enders and Rolf Kühn, mit einem Beitrag von Christoph Bruns (Freiburg im Breisgau: Herder, ): .  Vgl. Markus Enders, „Die unmittelbare Gottesschau des Evangelisten Johannes und sein Abstieg in das ‘Tal der Geschichte.‘ Johannes Scottus Eriugenas Auslegung des Johannesprologs in seine Homilie „Vox Spiritualis“ und in seinem Kommentar zum Johannesevangelium,“ in „Im Anfang war der Logos“. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart, Hg. Markus Enders and Rolf Kühn, Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte , mit einem Beitrag von Christoph Bruns (Freiburg im Breisgau: Herder, ): .  Diese Ausfaltung stellt eine systematisierende Interpretation von mir dar. Die Textbelege werden zeigen, dass Hildegard die diesbezüglichen Lehrpunkte nicht in sachlogischer Reihenfolge vorbringt, jedoch wohl eine rekonstruierbare Systematik beim Schreiben im Hinterkopf hatte. M. E. wäre es nicht statthaft, die mangelnde Systematisierung mit der Auslegung Satz für Satz zu entschuldigen, da ja bereits der Grundtext Anhaltspunkte für eine solche bieten könnte.  Hierzu ergehen Hinweise, dass zwar die Lebendigkeit eines Wesens materiell beobachtet werden kann, jedoch das Lebensprinzip, wodurch etwas lebt, nur erschlossen werden kann: . Cap. , Z : unde vitalis sit nec cognoscitur nec videtur.  , Cap. , Z : ut homo cum creaturis …in officio vitae suae…esset;  , Cap. , Z  – : in corde hominis…quod vita et firmamentum totius corporis est et totum corpus sustentat.

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in die Ekklesiologie hineinreichenden Sichtweise. Durch die systematisierende Rekonstruktion dieses Gesamtblickes auf Leben in unterschiedlicher ontologischer Dichte und Heilsrelevanz kann die Qualität des hildegardianischen Denkens über das Sein dargelegt werden, da sich jener Gesamtblick durchaus mit den Vorschlägen namhafter platonisierender Autoren messen kann. Doch nun zu den Einzelheiten: Gott und so auch der inkarnierte Logos sind das „Leben des Lebens“, die vita vitae. ²⁰⁸ Diese philosophische Erkenntnis kleidet die Autorin jedoch in die Erzählform einer Offenbarungsäußerung und in deren Rückspiegelung im kultischen Lob der himmlischen Liturgie.²⁰⁹ Sie transportiert also die Erkenntnisquelle über Gott als das Leben schlechthin, das als Lebensquelle in sich von Leben gleichsam übersprudelt, in ein Kommunikationsgeschehen des Äußerns und Beantwortens von Offenbarung. In jener Vorgehensweise hat Hildegard vielleicht einen Vorschlag einer Vermittlung zwischen den Fronten der spekulativen Theologie und der zuweilen antidialektischen, zuweilen am Kontakt mit der intellektuellen Entwicklung interessierten monastischen Theologie im rheinischen (und süddeutschen) Sprachraum versteckt.²¹⁰ Zudem hat sie jedoch einen ontologischen Grund für die Favorisierung dieses Gottesattributes, da sich in ihm nicht nur der Selbststand Gottes als Leben selbst ausspricht, sondern seine Wirkweise für die Kreatur als Lebensprinzip.²¹¹ Wie wir in der Untersuchung der Trinitätstheologie des Liber Scivias gesehen haben, ist es eine prinzipielle Denkweise Hildegards, Gott in seiner Aseität sowie die immanente Trinität sehr dicht auf Gott als Prinzip von creatio und creatio continua sowie auf die ökonomische Trinität hin zu sehen. Solchen nicht ungefährlichen Identifikationen neigt sie möglicherweise deswegen zu, weil sie Gott in seiner Bedeutung für das Leben des menschlichen Lesers betonen will. Dadurch kann es jedoch zu Formulierungen kommen, die in sich missverständlich sind, wenn man sie nicht mit weiteren Gedankengängen relativiert. Bevor daher auf die hildegardianische Fassung einer duplex theoria eingegangen werden soll, seien noch ein Attribut des Lebens, wie es nur Gott als Lebens selbst zukommt, zitiert: Um den denkerischen Einzelfall des

 , Cap. , Z  – : quo filius meus …se Deum omnis creaturae et vitam vitae ostendit: , Cap. , Z  f: qui ipsum vitae specialiter vociferantur.  Ähnlich auch die Andeutung einer gloria Dei formalis durch alle lebenden Geschöpfe: , Cap. , Z  f: Unde et ab omni creatura sua adoratur.  Mit einer solchen Haltung stünde sie nicht alleine, da dieses Zwischenfeld typisch ist für „…alle profilierten Persönlichkeiten, die in Deutschland in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts tätig waren.“ (Loris Sturlese, Die deutsche Philosophie im Mittelalter. Von Bonifatius bis zu Albert dem Großen ( – ), Übers. Johanna Baumann in Zusammenarbeit mit dem Autor (München: C.H. Beck,), .).  , Cap. , Z  f: quoniam vita, quae creaturas suscitaverat,vita vitae hominis, quia per eam vivit, existens.

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

Lebens Gottes, seine unica vita,²¹² begreiflicher zu machen, wählt sie einen Zugang von der Zeiterfahrung des Menschen aus: Während er einen Anfang hat, ist Gott anfangslos und daher das anfangslose, nicht in den Dimensionen der Zeit abzumessende, vollkommene Leben.²¹³ Daraus leitet Hildegard drei Folgerungen ab: Zum einen den Gegensatz von der vita indeficiens Gottes und der vita deficiens beim Menschen im jetzigen Zeitspiel.²¹⁴ Zum zweiten die präexistenze Lebensweise der Geschöpfe in Vorauswissen Gottes.²¹⁵ Zum dritten die heilsgeschichtliche Option für den Menschen, wieder zur vita indeficiens erhoben zu werden,²¹⁶ da ja der paradiesische Mensch zur vita immutabilis geschaffen war.²¹⁷ Leider vermeidet es hier die Autorin, explizit, sei es durch einen möglichen weiteren Begriff oder durch eine Erläuterung, zwischen der vita indeficiens Gottes und des Menschen zu differenzieren. Diese Unschärfe ist schon im Ausgangspunkt der Andeutung der Existenzsweise geschaffener Dinge in der praescientia als Mitgift angelegt: Zwar weist sie darauf hin, dass im ewigen Vorherwissen die geschaffenen Dinge nicht als gleichewige in Gott existieren, sondern nur als voraus gewusste, deren zeitlich limitierte Existenz mit voraus gewusst wird, so dass das Attribut der Ewigkeit trennscharf bei der Ewigkeit des Vorauswissens durch Gott verbleibt.²¹⁸ Mit dieser Einschränkung hat die Autorin den Kerngedanken einer duplex theoria, wie sie Eriugena entwickelt hatte, umrissen: Die Existenzweise der zu schaffenden Dinge in Gott ist sowohl von der Ewigkeit der Schöpfungspläne Gottes als auch von ihrer konkreten zeitlich eingeschränkten und im Sein kontingenten, revidierbaren konkreten Verwirklichung zu unterscheiden.²¹⁹ Aufgrund des gegenwärtigen For-

 , Cap. , Z : Deus enim unica vita est, quae non accepit initium vitae illius, quae initium habet.  , Cap. , Z  f: Sed et quoniam Deus sine initio et sine fine plena vita est.  , Cap. , Z  – : et quia mortalis est, operi suo vitam non praestat, quoniam ipse incipiens vita a Deo est; Deus autem operi suo vitam dat, quia ipse vita sine inceptione vitae est.  , Cap. , Z  f-,  f: quia omnia quae creata sunt in ipsius creatoris ratione apparuerunt, quoniam in praescientia eius fuerunt.  , Cap. , Z  quin homo in indeficientem vitam elevaretur. Zur Semantik des elevari vgl. Kapitel ....  , Cap. , Z  f: Deus quippe Adam plasmavit ut aeternaliter inmutabilis viveret. , Cap. ,  f: cum Deus hominem renovabit, ita ut postea inmutabilis vita, ut Adam creatus fuit, vivat.  , Cap. , Z  f: non tamen illi coaeterna, sed ab ipso praescita et praevisa et praeordinata. Das stilistische Merkmal der dreimaligen Anapher der Präposition prae- ist für Hildegard so typisch, dass man recht sicher davon ausgehen kann, dass jener Einschub von ihr selbst und nicht von einem theologisch exakter argumentierenden Korrektor stammt.  Vgl. Markus Enders, „Die unmittelbare Gottesschau des Evangelisten Johannes und sein Abstieg in das ‚Tal der Geschichte.‘ Johannes Scottus Eriugenas Auslegung des Johannesprologs in seine Homilie ‘Vox Spiritualis‘ und in seinem Kommentar zum Johannesevangelium,“ in „Im Anfang war der Logos“. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart, Hg. Markus Enders and Rolf Kühn, Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte , mit einem Beitrag von Christoph Bruns (Freiburg im Breisgau: Herder, ), .

4.2 Lehre vom Leben aus der Exegese des Johannesprologs in der Visio LDO I,4

211

schungsstands zur Rezeption Eriugenas im deutschen Sprachraum in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts²²⁰ ist die von Christel Meier ²²¹ angestoßene Diskussion über Spuren einer Beeinflussung durch diesen Denker bei Hildegard keineswegs abschlägig zu beantworten. Neben den allgemeinen theologiegeschichtlichen Belegen für eine sogar popularisierte Verbreitung von excerpierenden Relecturen von Grundwerken Eriugenas ²²² können hierzu inhaltliche Anhaltspunkte wie in unserem Beispiel beigebracht werden. Hierauf werde ich ausführlicher im Kapitel 7.1.2 eingehen. Verbleibt schon bei Eriugena allen Unterscheidungsgängen zum Trotz, die Gefahr einer pantheisierenden Sichtweise,²²³ und zwar nicht erst bei den verwirklichten Seienden, sondern schon hinsichtlich ihre präexistenten Vorausgedachtheit in Gott, so verfällt ihr Hildegard dadurch, dass sie nötige Einschränkungen unterlässt. So heißt es: Daher war alles, was dann geschaffen wurde, zuvor in ihm als Leben, weil es von Gott voraus gewusst gewesen ist, und lebte für Gott.²²⁴

Die Gefahr eines Missverständnisses solcher Äußerungen vergrößert sich dadurch, dass die selbe lateinische Formel in ipso vita, mit deren Wiederholung die Exegetin den Leser einladen will, seine Umgebung im Bezug auf Gott als Lebensspender zu sehen, gleichlautend für den Seinsstand der Dinge in der Schöpfung durch Gott, näherhin durch das verbum verwendet wird.²²⁵ Gemäß der johanneischen Diktion werden die zur inskünftigen Schöpfung voraus gewussten Dinge durch den Wortklang und durch das Licht zum Leben erweckt, zwei Lebensprinzipien, die in besonderer Weise dem Sohn zugeschrieben werden. Diese Lebensprinzipien spiegeln sich in der Darstellungsstruktur des Großkontextes der Visionstrilogie in den als von Gott ausgehend geschilderten Visionen und Auditionen.

 Einen Überblick hierzu bietet Loris Sturlese, Die deutsche Philosophie im Mittelalter,  –  sowie  – .  Christel Meier, „Scientia Divinorum Operum. Zu Hildegards von Bingen visionär-künstlerischer Rezeption Eriugenas,“ in Eriugena Redivivus. Zur Wirkungsgeschichte seines Denkens im Mittelalter und im Übergang zur Neuzeit, Hg. Werner Beierwaltes (Heidelberg: C. Winter, ), : hier anhand der Denkfigur des reditus.  Loris Sturlese (a.a.O. Anm. ) nennt u. a. Hrosvita von Gandersheim, das Elucidarium des Honorius Augustodunensis und den volkssprachlichen Dialog Lucidarius.  Zwar geht es Eriugena eher darum, darzustellen, wie die kreatürlichen Dinge als metaphora divina dienen. (Peter Schulthess and Ruedi Imbach, Die Philosophie im lateinischen Mittelalter. Ein Handbuch mit einem bio-bibliographischen Repertitorium (Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler, ), .) Dennoch klingen manche Passagen in seinem Hauptwerk De Divisione Naturae pantheisierend. (Vgl. Jan Decorte, Eine kurze Geschichte der mittelalterlichen Philosophie, Übers. Inigo Bocken and Matthias Laarmann (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ), , mit dem Zitat von De divisione naturae II,).  , Cap. , Z  – : Quapropter omne quod factum est in ipso vita erat, quia ab eo praescitum fuit, et Deo vivebat.  , Cap. , Z : ideo opus suum in ipso vita est; , Cap. , Z : Sic omne quod Deus fecit in ipso vita est.

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

Licht und Wortklang in Joh 1,1– 4 können so als die lebenstheologische Legitimation für die Wahl der visionären Darstellungsform Hildegards einer divina narratio vom Leben unterstellt werden. Leider deutet die Autorin nur kurz an, wie sich das Schöpfungswirken des Sohnes durch die Menschheit des inkarnierten Sohnes noch einmal zur Neuschöpfung des Lebens als vita immutabilis potenziert, wie also die Menschheit des Logos zum Lebensprinzip wird : Dieses Leben aber…entstand in der Menschheit des Sohnes Gottes, durch den sich der himmlische Vater erinnerte, den Menschen zu erlösen, der zugrunde gegangen war.²²⁶

Eine genauere Erläuterung der Bedeutung speziell der Menschheit Jesu als Lebensprinzip ist auch deswegen ein Desiderat in den Denkwegen Hildegards, weil sie infolge eines Dualismus, der bereits in mehreren Kapiteln dieser Arbeit angesprochen wurde, Seele und Körper nur in unterschiedlicher Weise dem Leben zuordnet. Dezidiert wird, trotz einer halbherzigen, in der Auseinandersetzung mit den Katherern unverzichtbaren Anmerkung,²²⁷ dass beide dem von Gott geschaffenen Leben einzuordnen wären, eine Stufung zwischen vita carnalis und vita spiritualis verzeichnet, wobei im Folgesatz eine Abwertung der vita carnalis hinsichtlich der Heilsrelevanz erfolgt: So ist alles, was Gott schafft, in ihm selbst das Leben, das es in Gott lebendig gemäß seiner Natur ist. Wie das Wort des Vaters den Menschen das fleischliche Leben gab (carnalem vitam), als es sie schuf, so zeigte es ihnen in der Offenbarung (ostendit) das geistliche Leben (vitam spiritalem), damit sie sich durch ein anderes Lebensprinzip (per alienam vitam) und nicht durch Entflammung des Fleisches ausweiteten in die Scharen der Engel hinein.²²⁸

Der heilsontologische Abstand zwischen vita carnalis und vita spiritalis als einer anzustrebenden vita aliena ²²⁹ wird in die Ekklesiologie hinein verlängert, also auf

 . Cap. , Z  – : Haec autem vita …in humanitate filii Dei exorta est, per quem supernus pater recordatus est ut hominem liberaret.  Zur Rolle Hildegards in der Auseinandersetzung mit den Katharern und zur Bedeutung ihrer Schriften für die Rekonstruktion der frühen Katharerbewegung im Rheinland vgl. Loris Sturlese, Die deutsche Philosophie im Mittelalter,  f. Zu häretischen Bewegungen in Köln in der . Hälfte des . Jahrhunderts siehe Claude Carozzi, Weltuntergang und Seelenheil. Apokalyptische Visionen im Mittelalter, Übers. Eva Moldenhauer (München: Fischer Taschenbuch, ), , sowie den unverzichtbaren Klassiker der Forschung: Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im . und . Jahrhundert und über die Grundlagen der deutschen Mystik (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), – .  , Cap. ,  – : Sic omne quod Deus fecit in ipso vita est, quoniam illud a Deo vitale in natura sua est. Unde et sicut verbum patris carnalem vitam hominibus dedit, cum eos creavit, ita etiam, cum tunicam suam induit, spiritalem vitam eis ostendit, quatinus per alienam vitam et non secundum carnem incedendo in turbas spiritalium se dilatarent.  Dieser Begriff der vita aliena wird also in der Visio I,  von Hildegard völlig gegensätzlich verwendet: Einmal als Entfremdung im hiesigen Leben, die zu überwinden sei, dann wieder als das er-

4.3 Die ekklesiologische Auslegung von Gen 1

213

verschiedene Menschengruppen und kirchliche Stände übertragen. Dies äußert Hildegard jedoch nicht pointiert, sondern sozusagen scheibchenweise: Erst wird beteuert, dass der Sohn Gottes als Mensch und Gott zugleich beide Teile des Gottesvolkes in der Hand halte.²³⁰ Sogleich jedoch wird die Haltung der Liebe nur dem spiritalis populus zugedacht, während für das populus saecularis nur die Gerechtigkeit zuständig sei.²³¹ Könnte man hier noch an eine Unterscheidung im Sinne der sichtbaren und unsichtbaren Kirche bei Augustinus ²³² denken, so markiert erst die biblische Aufforderung nach Gen 1,28 eine Gleichsetzung des Ehestandes mit dem populus carnalis. ²³³ Dies widerspricht der Hochschätzung der Ehe als geistlicher Lebensform im Liber Scivias. ²³⁴ Folglich bleiben bei aller Dichte der Rede vom Leben in der Ausdeutung des Johannesprologes doch manche Fragen offen.²³⁵

4.3 Ein lebendiges Land ist die Kirche: ²³⁶ Die ekklesiologische Auslegung von Gen 1 als einer prophetischen und apostolischen Lehre vom Leben in der Visio LDO II,1 4.3.1 In vera visione fidei: ²³⁷ Spezifische Merkmale in Struktur und Bildwelt 4.3.1.1 Formale Sonderstellung Die Visio II,1 ist die einzige der ganzen Visionstrilogie, die für sich einen ganzen Werkteil bildet. Sie allein macht den zweiten Teil des Liver Divinorum Operum aus. Mit 80 Druckseiten kann sie wiederum als ein „Buch im Buch“ betrachtet werden.²³⁸ Ähnlich wie bei der Visio I,4 darf vermutet werden, dass sie nachträglich aus einer Visionsdeutung und aus einem ehemals selbstständigen exegetischen Kommentar zu

strebenswerte Dasein in einer ins Jenseits reichenden vita angelica. So wird das Sinnpotential des für die Moderne und Postmoderne interessanten Lexems eines „entfremdeten“ „uneigentlichen“ Lebens verunklart.  , Cap. , Z : et ita utrumque populum in manu sua tenet, quoniam ipse filius Dei Deus et homo est.  , Cap. , Z  f.  Augustinus argumentiert jedoch in De civitate Dei XIV, von den zwei Arten der Liebe des Menschen aus, von der Selbstliebe zur eigenen Leistungsfähigkeit und zur Kraft Gottes.  , Cap. , Z .  Vgl. Kapitel ..  Vgl. die Hinweise zu den ideengeschichtlichen Herkünften der exegetischen Diskussion um Joh , f im Kapitel ....  Hildegardis Bingensis Liber Divinorum Operum, CCM , Pars Secunda,Visio Prima, , Cap. ,  f: Vivens terra ecclesia est.  , Cap. , Z .  In der Druckausgabe (vgl. Anm. ) S.  – .

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

Gen 1,1– 2,3²³⁹ zusammen gestellt wurde. Der formale Anschluss zwischen den beiden Textteilen wird durch die Wendung „deshalb, wie oben gesagt wurde“²⁴⁰ hergestellt. Jedoch werden damit unmittelbar zwei verschiedenen Stationen der Heilsgeschichte verbunden,²⁴¹ nämlich die Schöpfung und die Passion. Erst später im Text wird sich herausstellen, dass die Passion Christi in der Sicht der Autorin tatsächlich ein Akt der Neuschöpfung neuen Lebens ist, der von innen heraus auf die ersten Schöpfungsakte bezogen ist. Aber die Zusammenfügung der beiden Einzeltraktate wird weitaus geschickter als nur über einen Stichwortanschluss vollzogen.Vielmehr ist über das Symbol der „Erde“ (terra) eine innere Verbindung auf einer tieferen Sinnebene hergestellt.²⁴² Bereits in der Analyse der Visiones III,10 und I,2 des Liber Scivias ²⁴³ begegnete uns dieses Symbol als eine zentrale „Drehscheibe“, auf der sowohl verschiedene Stationen der Heilsgeschichte als auch verschiedene Deutungsschichten miteinander verbunden wurden. In der vorliegenden Visio ist es freilich weniger auf den Innenraum der Seele denn auf die Kirche als Entfaltungsraum von Glaube, Tugend und Leben hin ausgestaltet.²⁴⁴  Die hohe Strukturiertheit und inhaltliche Qualität dieses Hexaemeron-Kommentares lobt Bernhard McGinn, „Hildegard of Bingen als Visionary and Exegete,“ in Hildegard von Bingen in ihrem historischen Umfeld. Internationaler wissenschaftlicher Kongreß zum jährigen Jubiläum, Hg. Alfred Haverkamp (Mainz: Philipp von Zabern, ): : „No one had ever before attempted to give such a reading of the Hexaemeron.“  , Cap. , Z : Itaque, ut supra dictum est.  Wenn man den überleitenden Einschub herausstreicht, folgen Passion und Schöpfung im Text direkt aufeinander: , Cap. , Z  – , Cap. , Z  f: qui plurima obproria et passiones ad confusionem eiusdem serpentis in corpore suo pertulit…Deus mundum caelo ornavit terraque ipsum firmavit, ac per eum seipsum glorificavit. Das Schöpfungswerk und das Leiden Christi haben ästhetischen (ornavit) und daher doxologischen (glorificavit) Charakter.  Die Erde ist nach Offb , –  Schauplatz des Heilsdramas zwischen dem Bösen und der Frau, die Maria verkörpert und der rectitudo eignet (, Cap. , Z ). Sie kommt ihr gegen die Verfolgung des Unglaubens (, Cap. , Z ), die im Bild durch zerstörerische Wassermassen verkörpert wird, zu Hilfe, wobei terra hier wiederum mit der Bildlichkeit der vestis humanitatis des Gottessohnes parallelisiert wird (, Cap. , Z  f), die in der terra des Leibes Marias genährt wurde (de ipsa sumpsit). Jener Schauplatz verlagert sich im folgenden Satz in den Leib des leidenden Christus. Im nächsten Absatz, dem Beginn der Exegese des Schöpfungsberichtes, wird terra als Grundstoff (materia) für alle Geschöpfe im Himmel und auf der Erde verstanden (, Cap. , Z  – ), wobei die turbulenta materia der terra der lucida materia des Himmels entgegen steht (, Cap. ,  f) und der Mensch als Oberhaupt über die terrena eingesetzt ist (, Cap. , – ). Zahlreiche nachfolgende Passagen, in denen terra die Kirche verkörpert, werden noch im Lauf dieses Kapitels zitiert werden.  Vgl. Kapitel . und ..  , Cap. , Z  – : Deus populos Christianorum congregavit, qui inter paganos cum proeliis et doloribus impugnati in diversis locis erant, et eos in unam ecclesiam tulit. Dies ist eine parallele Struktur zur Erde als herausgenommener Schutzraum aus dem Wasser,wie es am Ende des ersten Teiles der Visio als Bild für Maria verwendet wurde. Vorwegnehmend sei darauf hingewiesen, dass das Zitat von Ps , (Credo videre bona Domini in terra viventium) mit der Bildwelt der Zusammensammlung der Erde aus dem Wasser in Gen , (Congregentur aquae …in locum unum et appareat arida) kombiniert wird. Auch später im Text taucht das Wortbild von der Kirche als Errettung aus den Fluten auf (, Cap. , Z  f), wobei Gott als Seemann und Ruderknecht bezeichnet wird, der dem Menschen durch

4.3 Die ekklesiologische Auslegung von Gen 1

215

So ist die ganze Visio von der bereits im Text des ersten Schöpfungsberichtes angelegten Spannung der Symbolbereiche von Wasser und Erde durchzogen. Dieses Spannungsfeld, das typisch für das heilsdramatische Denken Hildegards ist, kompliziert sich insofern, als jene Symbolbereiche auch für sich in vielfältiger Weise durchgespielt werden, und zwar in differenzierter Auslotung der Ambivalenzen auf der Bildebene. So kann „Wasser“ lebensspendend als bildlicher Stellvertreter des Heiligen Geistes geschildert werden oder als lebensvernichtend. Diese Komplexität nimmt dadurch zu, dass die Symbolwerte mit denen weiterer Schriftstellen, vor allem aus der Apokalypse, kooperieren oder auch konkurrieren. Außerdem werden die Verse aus Genesis 1 auf jeweils drei Deutungsebenen durchgespielt. Da sowohl „Wasser“ als auch „Erde“ gleichzeitig auf die Kirche hin gedeutet werden, aber je für sich auch auf andere religiöse Sachverhalte, müssen die entsprechenden Fundstellen genau beleuchtet werden. Interessanterweise nimmt die Autorin innerhalb dieser Visio kaum Bezug auf die sonst bei ihr und ihren Zeitgenossen vorherrschende Elementenlehre, obwohl gerade eine Auslegung des Schöpfungsberichtes hierzu reichen Anlass böte. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass ihr hier eine Auslegung auf Grundaussagen über die Kirche hin wichtiger ist. Sozusagen die Funktion eines „Schiedsrichters“ in den Prozessen auf der Bildebene von Zusammenspiel, Unterscheidung und Auseinandersetzung von Land und Wasser nimmt die Bildlichkeit des firmamentum ein. Es repräsentiert die bei Hildegard zentrale Tugend der discretio. Dies zeigt unten der Abschnitt 4.3.2. Schon rein äußerlich ist also die Auslegung einer Passage aus der Apokalypse (Offb 12,15 f) auf den Beginn des Bibeltextes in Gen 1,1 rückbezogen. Da zuerst, in der Vorführung der Ausdeutung des Visionsbildes, mehrere Stellen aus dem Buch der Offenbarung ausgelegt werden, bevor eine gründliche Exegese jedes Verses des Schöpfungsberichtes in jeweils drei verschiedenen Schriftsinnen geboten wird, wird die lineare Textanordnung der biblischen Bücher in eine Kreisstruktur²⁴⁵ als Abbild

die Stürme ins himmlische Jerusalem hilft (, Cap. , Z  – ). Dementsprechend werden einige Capitula weiter unten die Fische aus der Genesis auf die beweglichen Seelen (, Cap., Z  f) der geistlichen Menschen (spiritales homines, in: , Cap. , Z ) hin gedeutet. Unter .. wird die Bildlichkeit von Kirche als terra vivens breiter entfaltet werden.  Kreisstrukturen als Abbild der Schöpfungsmacht Gottes sind dem Kosmos in seiner Ausdifferenzierung in Himmel und Erde eingeschrieben: , Cap, , Z  f: Et hae duae materiae simul creatae sunt et in uno circulo apparuerunt; qui circulus potestas Dei est in caelo et in terra. In der Bildlichkeit der geschilderten Schau wird die rotunditas des Erdkreises von den Flügeln einer feurigen Kugel (globus rubeus) umgeben, während weitere Flügel dieser Kugelgestalt sich auf die Kugel zurückbiegen (, Cap. , Z  – ). In der Dimensionalität des Schaubildes werden so zweidimenionale Kreisfiguren als Abbild der Vollkommenheit auf die dreidimensionale einer Kugel zurückgeführt, die seit Plato als einer der Idealkörper die Vollkommenheitsrepräsentation eines Kreises noch überbietet. Leider gibt es noch keine moderne Nachzeichnung des Visionsbildes. Eine solche würde gute Kenntnisse in der darstellenden Geometrie erfordern.

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

des Vollkommenen und der Ewigkeit²⁴⁶ zurückgeführt. Daher darf es als bewusster Gestaltungswillen der Autorin angesehen werden, dass sie im Liber Divinorum Operum die Reihenfolge von Johannesprolog, Apokalypse und Genesis vorschlägt. Dabei wird letztere auf die Jetztzeit der Kirche von Schriftstellerin und Leser ausgedeutet. Dieses Anliegen wird später im Text ausgesprochen, indem zuerst der innertrintarische Hervorgang des Sohnes aus dem Vater als ein überzeitliches, ewiges Heute charakterisiert wird,²⁴⁷ und dann die Tätigkeit des inkarnierten Verbums als ein Aufwecken der religiösen Erkenntnis der Menschen in der Jetztzeit der Textwelt: Das Wort Gottes weckt das schlafende Bewusstsein (dormientes mentes) der Menschen und lässt sie in einer wahrhaftigen Schauung des Glaubens (in vera visione fidei) sehen.²⁴⁸

Wenn in einem Werk, das Schauungen beschreibt und interpretiert, ebenso der Glaube als „visio“ bezeichnet wird,²⁴⁹ bietet dies einen Hinweis, dass der Text selbst sich als Hilfe zum Aufwecken des gläubigen Bewusstseins und zur Vertiefung von Sichtweisen im Glauben versteht. Zugleich wird durch das Nomen „verbum“, das in die betonte Anfangsstellung des Satzes gesetzt ist, der Wortcharakter von Schöpfung, Offenbarung und Glaubenseinsicht betont, so, wie die Wahrheit laut rufend auf sich aufmerksam mache.²⁵⁰ Denn im Sohn ist die Vollendung alles Guten am siebten Schöpfungstag bestimmt.²⁵¹ Ja, er selbst wird hinsichtlich seiner Menschheit als das siebte, die Schöpfung vollendende Schöpfungswerk bezeichnet.²⁵² Mit der Inkarnation beginnt im Auftreten des Gott-Menschen selbst die Verkündigung, das Evangelium²⁵³ von der Vollkommenheit der Bewahrung vor dem Bösen.²⁵⁴ Hierbei sind sowohl der Begriff des

 Vgl. Susanna Brogi, „Kreis,“ in Metzler Lexikon literarischer Symbole, Hg. Günter Butzer and Joachim Jacob (Stuttgart, J.B. Metzler, ), .  , Cap. , Z  – : Ego hodie genui te. Quod hodie aeternitas illa est, in qua secundum divinitatem patri semper aequalis est. Die Capitula  und  werden genauer im Abschnitt ... untersucht.  , Cap. , Z  f: Verbum quoque Dei dormientes mentes hominum excitat illosque in vera visione fidei videre facit.  , Cap. , Z  f: Verbum…in vera visione fidei videre facit.  , Cap. , : clamore veritatis.  , Cap. , Z  f: ego in filio meo die septimo, id est in plenitudine totius boni, omnem operationem meam…definivi.  , Cap. ,  f: filius meus, qui meum septimum opus est. Allerdings ist die Ausdrucksweise Hildegards missverständlich, da sie unter Missachtung der Spielregeln für die Aussageformen der Idiomenkommunikation hier nicht explizit zwischen dem präexistenten Logos, dem Logos als Schöpfer und dem Menschen Jesus in seiner Geschöpflichkeit unterscheidet! Dies ist ein Beispiel dafür, dass es mancher Präzisierungen bedarf, wenn man heutzutage die Theologie Hildegards als vorbildliche fides orthodoxa einer Kirchenlehrerin erläutern möchte.  , Cap. , Z  – : Ostendit scilicet Deus unicum filium suum in carne, in quo ortum est evangelium, in quo dicitur: … vitam aeternam possidebit 〈Mth , 〉.  , Cap. ,  – : ad plenum tempus evangelii, in quo omnis plenitudo verae et iustae constitutionis adversus antiquum serpentem surrexit.

4.3 Die ekklesiologische Auslegung von Gen 1

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evangelium (über ein Zitat aus Mth 19,29) als auch der der plenitudo dem des Lebens zugeordnet. Zum ersten Mal in allen von uns bislang untersuchten Visiones deutet sich die beschriebene Stimme als Sprecherstimme der ganzen Trinität.²⁵⁵ Nicht überall jedoch wird stringent der Versuch durchgehalten, die Exegese des Schöpfungsberichtes durch die ganze Trintiät als Autor vorzuführen.²⁵⁶ Im Rahmen dieser Untersuchung wird darauf verzichtet, die Exegese des Schöpfungsberichtes durch Hildegard für jeden einzelnen Schöpfungstag nachzuzeichnen. Wenn es auch lohnend wäre, die Arbeitsweise Hildegards als Exegetin genauer zu untersuchen,²⁵⁷ wird hier dennoch das Augenmerk nur auf den Begriff des Lebens gelegt, auf die Beschreibung seiner erkenntnistheoretischen Prämissen, seiner metaphorischen Ausdrucksgestalt und seiner Relevanz für Ekklesiologie und geistliches Leben im Raum der Kirche. Daher wird die Visio II,1 hier nach übergeordneten thematischen Gesichtpunkten interpretiert, auf die die jeweiligen Kapitelüberschriften verweisen. Jene Gesichtspunkte gewinnen durch die Mittelstellung der Visio innerhalb des Liber Divinorum Operum eine erhöhte Bedeutung: Vorwegnehmend sei gesagt, dass es aufhorchen lässt, wenn eine Autorin, der man eher einen ekklesialen Konservatismus, gefärbt durch die Anliegen der Spätgregorianik, zuschreibt,²⁵⁸ ausspricht, dass Kirche durch eine innere prophetische Schau ersichtlich wird als „Land der Lebenden.“ Hierzu gesellen sich gehäufte Verweise auf das Wirken des Heiligen Geistes und seine Gnadengaben. Zwar wird Hildegard auch doktrinale Aspekte nennen. Dennoch ist zu fragen, ob sich hier nicht unter der Textoberfläche ein dynamischeres Bild von Kirche abzeichnet, aufgrund dessen die Autorin legitimen Teilanliegen von heterodoxen Reformbewegungen ihrer Zeit zustimmt. André Vauchez schildert, wie sich solche Bewegungen gegen Ende des 12. Jahrhunderts in allen sozialen Schichten verbreiteten: Einige davon fanden nur unter Klerikern und Intellektuellen Verbreitung: Dazu zählten der Joachitismus und einige Abweichungen von der Glaubenslehre, die sich im Umkreis der Universitäten entwickelten. Andere Formen der Abweichung fanden sich hingegen eher bei den Volksmassen,

 , Cap. , Z : Qui una vis unius substantiae divinitatis in tribus personis sumus; , Cap. , Z  f: Nunc nos tres personae, illa vis unius substantiae.  Zum Beispiel spricht die deutende Stimme andernorts über den Sohn: , Cap. , Z  f: Nam filius meus per suavitatem humanitatis suae illos ad se colligit.  Zur gegenseitigen Durchdringung der Genera von Visionsbericht und exegetischen Kommentar vgl. Bernhard McGinn, „Hildegard of Bingen als Visionary and Exegete,“ in Hildegard von Bingen in ihrem historischen Umfeld. Internationaler wissenschaftlicher Kongreß zum jährigen Jubiläum, Hg. Alfred Haverkamp (Mainz: Philipp von Zabern, ): .  Vgl. Maria Lodovica Arduini, Rupert von Deutz ( – ) und der „Status Christianitatis“ seiner Zeit. Symbolisch-prophetische Deutung der Geschichte (Köln/Wien: Böhlau, ), . Dass es möglich wäre, eine „erzkonservative Hildegard“ aus Einzeläußerungen herauszulesen, bestätigt Michaela Diers, „Hildegard von Bingen in Geschichte und Gegenwart,“ in Hildegard von Bingen. „Renaissance“ mit Missverständnissen?, Hg. Matthias Mettner and Joachim Müller (Freiburg in der Schweiz: Paulusverlag, ): .

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

deren Glaubenspraktiken, wenn man sie einer aufmerksameren und weniger arglosen Untersuchung unterzog, als bis dahin geschehen, unter der glatten Oberfläche des Konformismus zum Teil beunruhigende ideologische Risse erkennen ließen.²⁵⁹

Es handelt sich also um unterschiedliche Phänomene, die eine Gesamtstimmung religiöser Unruhe und Aufbruchsbereitschaft erzeugten. Ähnlich wie bald darauf Franziskus könnte Hildegard einen Mittelweg gesucht haben, der die beiden Extreme einer Erstarrung und der Verletzung des Dogmas vermeidet. Zunächst seien wie in früheren Kapiteln dieser Arbeit lexikalische und grammatikalische Textelemente aufgeführt, die schon in mehreren Visiones zu beobachten waren. Danach soll auf die gegenüber dem Jahrzehnte früher entstandenem Liber Scivias deutlich verstärkte Rolle der prophetia eingegangen werden. Unter Prophetie versteht die Autorin sowohl die Schriftprophetie als auch – in einem eingeschränkteren Maße – die Glaubenserkenntnis jedes Gläubigen, deren Förderung vom Text intendiert ist.

4.3.1.2 Elemente eines visionsübergreifenden Reservoirs an Symbolen und Theologuma Durch den visionsübergreifenden Vergleich wird nach und nach deutlich, wie die Autorin ein recht umfangreiches Werk aus einem letztlich doch recht überschaubaren Symbolvorrat heraus gestaltet, der auf eine Konstanz von religiösen Grundeinsichten innerhalb des Liber Divinorum Operum, in etlichem sogar innerhalb der gesamten Visionstrilogie hinweist. Durch die Analyse solcher Wiederholungen werden zugleich Tiefenschichten des Werkes identifizierbar wie auch Begrenzungen der theologischen Sichtweisen. Nur auf diesem Weg können später Grundaussagen zur theologiegeschichtlichen Einordung des Opus Hildegardianum getroffen werden. Auf der grammatikalischen Ebene sind die bereits bekannten Strukturen von Verben mit re- zur Anzeige von Handlungen der Erlösung²⁶⁰ und des Wiederauflebens²⁶¹ sowie von der Formel ad vitam ²⁶² verwendet. Auf der theologisch-inhaltlichen Ebene sind folgende Elemente zu benennen, die uns im Gang unserer Untersuchung bereits in anderen Visiones begegnet sind:

 André Vauchez, „Der Kampf gegen Häresien und Abweichungen von der Norm im Westen,“ in Machtfülle des Papsttums ( – ). Bd. , Die Geschichte des Christentums. Religion, Politik, Kultur, Hg. André Vauchez, deutsche Ausgabe bearbeitet und herausgegeben von Odilo Engels, und Mitarbeit von Georgios Makris und Luwig Vones (Freiburg im Breisgau: Herder, ): .  , Cap. , Z  〈iustitia〉 ipsa hominem in paradysum reducit; , Cap. , Z  f: De illicitis desideriis voluptatum carnis seipsum restaurans malumque sibi abstrahens; , Cap. , Z  f: Et quaecumque dona Sancti Spiritus habuerit, illa cum discretione frequenter reedificet.  , Cap. , Z : quia tunc Deo reviviscit, dum ad eum pervenire desiderat.  , Cap. , Z  f: quatinus per exempla eius, qui Deo patri oboediens factus est, ad vitam revertatur.

4.3 Die ekklesiologische Auslegung von Gen 1

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Die Symbolik der Speise des Lebens und davon abgeleitet die übertragene Bedeutung des geistlichen Geschmackes, des gustus, sei zusammen mit weiteren Grundworten geistlicher Theologie unter dem Abschnitt 4.3.3.4 untersucht. Wie in anderen Visiones spricht sich an etlichen Stellen ein Dualismus aus, in dem speziell die Leiblichkeit mit dem Bösen gleich gesetzt wird.²⁶³ Ebenso wird wieder die Metaphorik des Kleides gemäß einer Indumentenchristologie eingesetzt, um den Modus²⁶⁴ und die soteriologische Funktion²⁶⁵ der Menschwerdung zu illustrieren. Wiederum findet sich eine Umschreibung der Aseität Gottes.²⁶⁶ Ähnlich wie im Liber Scivias ²⁶⁷ sind die anselmischen Fachworte von rectitudo, iustitia und honor zu konstatieren. Während erstere renarratisiert²⁶⁸ verwendet werden,²⁶⁹ tritt der Fachterminus des honor in einer Differenzierung auf, die durchaus den komplexen Argumentationen von Anselm in Cur Deus Homo entspricht: Unter „Ehre“ ist zum einen die Ehre Gottes zu verstehen, die der Mensch Gott erweist, insofern er sich bemüht, der in ihm angelegten Ebenbildlichkeit gerecht zu werden.²⁷⁰ Dabei schließt die Ehre Gottes mit ein, dass der Mensch seiner abbildlichen Ehre als Geschöpf Gottes entsprechen kann.²⁷¹ Für eine komplexere Reflexion der Autorin über diesen anselmischen Grundbegriff spricht, dass sie ihn sowohl aus der Perspektive des Menschen, der Gott die Ehre erweisen möge, beleuchtet, wie aus der Perspektive Gottes, der zu seiner eigenen Ehrung²⁷² den Menschen mit einer ebenbildlichen Ehre ausstattet. Jene könne er in der Nächstenliebe als tathafte Folge aus dem religiösen Tiefenblick in die Bedeutung der Inkarnation verwirklichen.²⁷³  , Cap. , Z  f: Quia autem homo in quinque sensibus consistens semper peccat; , Cap. , Z  – : Ego qui sum certissime dico vobis, qui propter gustum carnis secundum concupiscentias vestras operantes ex toto extincti estis; , Cap. , Z  – : in corporali vita Deum diligendo querit. Nam in homine qui seipsum abnegat quasi homo non sit, …sed hoc modo victoriam corporalium desideriorum propter amorem Christi et propter spem verae fidei in passione habet.  , Cap. , Z  f: ut filius suus vestimento humanitatis …indueretur.  , Cap. , Z : in humanitate mea hominem redemi.  , Cap. , Z  – : Deus solus per semetipsum et in semetipso est nec ab ullo alio esse accepit, sed alia quaelibet creatura ab illo esse coepit.  Kapitel ..  Zu meiner These einer Renarratisierung von theologischen Fachbegriffen im Opus Hildegardianum siehe Kapitel ..  , Cap. , Z  – : Misit antiquus persecutor ex nequissima voracitate sua post rectitudinem mulieris; , Cap. ,  –  & , Cap. , Z : ipse autem incarnatus initium omnis iustitiae existit, …Illa vero iustitia quae in eo surrexit, scilicet baptismus et evangelium et unum Deum in nomine sanctae Trinitatis credere, ipsa hominem in paradysum reducit.  , Cap. , Z  f: in scientia sua honorem divinitati in similitudine Dei exhibeat.  Allerdings formuliert dies Hildegard in paränetischer Abzweckung ex negativo aus dem Zerrbild einer vana gloria: , Cap. , Z  – : In his quoque muneribus Spiritus Sancti vana gloria, quam Deus omnino abicit, effugetur, quia homo eam pro Deo seipsum honorans habet.  , Cap. , Z  f: Et nunc Deus hominem ad honorem sibi creat.  , Cap. , Z  – : faciamus ut homini isti magnus honor de sanctitate et cognitione divinarum rerum detur, ita ut sicut patronus habeatur et dilectionem sanctae incarnationis in imagine Dei ad proximum suum habeat.

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

Besonders relevant für die theologische Anschauung vom Leben ist das dichte Wiederaufgreifen des Gedankens von der „Fülle“ (plenitudo), der im Kapitel 4.1 besonders als Attribut von Gott in Überschneidung mit den Eigenschaften von Leben und integritas zu beobachten war. In der vorliegenden Visio ist das Bedeutungsspektrum von plenitudo ausgeweitet, beginnend von der ursprünglich perfekten Anlage der Schöpfung²⁷⁴ über die Menschwerdung als Frucht der Fülle²⁷⁵ bis hin zu Evangelium²⁷⁶ und Verkündigung und kirchlicher Lehre²⁷⁷ als Medien, um die Wiederherstellung der Fülle vorzubereiten. Dabei fällt die häufigere Erwähnung der Rolle des Evangeliums²⁷⁸ auf, das wie im Liber Scivias als cibus vitae bezeichnet wird.²⁷⁹ Überdies ist evangelium dem Bildkreis des Wassers des Lebens assoziiert.²⁸⁰ Durch jene beiden johanneischen Symbolkreise von Speise und Wasser ist die soteriologische Funktion des Evangeliums für das Leben in Gott ausgedrückt.

4.3.1.3 Prophetia prophetarum Bemerkenswert häufig ist in der Visio II,1 von der prophetia die Rede. Entgegen der heutigen landläufigen Klassifizierung von Hildegard als „Prophetin“²⁸¹ lässt dies

 , Cap. , Z  – : Superiora et inferiora elementa cum omnibus sibi adiacentibus viribus tanta plenitudine et perfectione perfecta sunt, ut omnia penuria ablata in habundantia convenientis utilitatis gauderent. Hier wird der Gedanke der Fülle sprachlich nicht nur durch die Stilmittel von Alliteration und Anapher ausgedrückt. Sondern zudem wird diese Bedeutung in einem angefügten Nebensatz durch die Erwähnung der abundantia und den Ablativus Absolutus omni penuria ablata verdreifacht und durch das Verb gaudere in eine affektive Dimension erhoben. So kann es als Charakteristikum für den Stil Hildegards gelten, einen Kerngedanken pleonastisch zu verstärken, wobei jener Pleonasmus eben der Inhaltsaussage der Fülle korrespondiert. Da zu Beginn des Satzes die Dimensionen von Höhe und Tiefe benannt sind, entsteht vor dem Auge des Lesers das Bild einer Fülle, die in organischer Dicht alles „ausfüllt“. Vgl. ähnlich , Cap. , Z  f: quoniam omnes creaturas in plena perfectione absque omni defectione creaverat. Die Vorstellung der Fülle wird also nicht philosophisch abstrakt auf dem Weg der Übersteigerung entwickelt, sondern als Gegenbegriff zu den menschlichen, innerweltlichen Erfahrungen von Mangel.  , Cap. , Z : plenum fructum per humanitatem suam protulit; , Cap. , Z : ego in filio meo die septimo, id est in plenitudine totius boni.  , Cap. , Z  – : usque ad plenum tempus evangelii, in quo omnis plenitudo verae et iustae constitutionis adversus antiquuum serpentem surrexit.  , Cap. , Z  f: cum discipulos suos ad ecclesiasticam doctrinam pleniter instruxit.  , Cap. , Z ; , Cap. , Z ; , Cap. , Z : observationibus evangelii; , Cap. , Z ; .  , Cap. , Z  – : quia verba Dei et virtutes in Christiano populo cibus vitae in ecclesia factae sunt.  , Cap. ,  f: qui rivulos scripturae Dei per scientiam suam in ecclesia, quae vitreum et igneum mare est, producant.  So etwa bei Michael Zöller, „Aufschein des Neuen im Versuch, die Tradition zu wahren. Zur theologiegeschichtlichen Einordnung des Buchs „Scivias“ der Hildegard von Bingen,“ Meditation  (): , sowie bei Beate Beckmann-Zöller, Frauen bewegen die Päpste. Hildegard von Bingen. Birgitta

4.3 Die ekklesiologische Auslegung von Gen 1

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aufhorchen, da im Liber Scivias dieses Stichwort höchst selten und erst am Schluss des Werkes fällt.²⁸² Jene Beobachtung soll im Kontext unserer Untersuchung unter der Frage stehen, in welcher Beziehung das Verständnis von Prophetie in dieser Visio mit dem Kernsymbolen vom „lebendigen Wasser“ und von Kirche als „Land des Lebens“ steht. Während die Autorin den Zusammenhang dieser Fragestellung mit der Pneumatologie erwähnt, geht sie leider keineswegs auf die inhaltlich an sich unverzichtbaren Bezüge zur Gnadenlehre ein, zum Beispiel hinsichtlich der Prophetie als Gnadengabe. Hierin zeigt sich eine durch den Mangel an einer fachtheologischen Ausbildung bedingte Inkonsistenz. Hierbei wird der Begriffsinhalt von prophetia zu einer Art Schnittmenge, die je nach Fundort einmal mehr die Offenbarungstätigkeit Gottes betont, das andere Mal mehr den vom Heiligen Geist ermöglichten Erkenntnismodus des Menschen, der zuweilen fast identisch mit dem Glaubensakt als eines inneren Sehens erscheint.²⁸³ Diese Bedeutungsspanne ist hineingestellt in ein Gegensatzfeld von Erkenntnispessimismus hinsichtlich der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten und Erkenntnisoptimismus hinsichtlich der prophetischen Erkenntnis. Ersterer nähert sich dem Symbolkreis der „Leere“ und des „Abgrundes“ (abyssus) an,²⁸⁴ auf das wir unten im Abschnitt 4.3.2.1 noch einmal eingehen werden. Letzerer wird harmonisch einer Kombination von alltagspraktischen und religiösen Erkenntnissen dienlich gemacht, in der der Nächste als Abbild Gottes erkannt und an ihm die Verehrung des inkarnierten Sohnes Gottes im Alltagsleben unter Beweis gestellt werden kann.²⁸⁵ Wie stets, wenn die Autorin erkenntnistheoretische Reflexionen einfließen lässt, werden jene durch verwandte Strukturen im Text der Visio selbst gespiegelt und verstärkt:²⁸⁶ Die Ich-Sprecherin beansprucht für ihre Aussagen über die Kirche den visionären Innenblick, der zwar aus systematischen Gesichtspunkt von der prophetischen Schau unterschieden ist,²⁸⁷ doch als ihr benachbart angesehen werden kann.

von Schweden. Caterina von Siena. Mary Ward. Elena Guerra. Edith Stein. Leben und Briefe (Augsburg: Sankt Ulrich, ), .  Hildegardis Bingensis Scivias, CCM , Pars Tertia, Visio , : prophetiam istam. Durch die Selbstaussage mystica verba huius libri (a.a.O., Z ) ergibt sich ein Hinweis, dass prophetia hier eher in einem weiteren Sinn gemeint ist.  , Cap. , Z  – : Quia homo Deum exterioribus oculis videre non potest, sed eum per fidem in anima interius tangit.  , Cap. , Z  – : Et sic super terram, quae facies abyssi est, tenebrae infidelitatis erant, in qua homines Deum non cognoscentes quasi caeci vivebant.  , Cap. , Z  f: dilectionem sanctae incarnationis in imagine Dei ad proximum suum habeat.  , Cap. ,  f: Unde et haec enarrant miracula Dei, quae per ipsum in firmamento velut in speculo signata sunt.  , Cap. ,  f: Ego, cui secreta Dei demonstrata sunt, vidi interioribus oculis ecclesiam. Freilich bleibt vom Textzusammenhang her in der Schwebe, ob Hildegard hier den zuvor zitierten Seher der Apokalypse oder in einer Art „Stimmverschmelzung“ mit jenem sich selbst mit „ego“ meint.

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

Der innere affektiv liebevolle Blick auf Gott ist dem einzelnen Gläubigen durch die inspiratio des Heiligen Geistes ermöglicht.²⁸⁸ So scheint Hildegard die prophetische Erkenntnis in einem eher allgemeinen, pneumatologischen Sinn einer Inspiration aufzufassen:²⁸⁹ Denn sie ist die einzige Möglichkeit einer Gotteserkenntnis, mithin keine Spezialgnade. Sie ist ein von Gott durch seine Offenbarung gewährter Erkenntnismodus. Sie öffnet nur einen Spalt auf schattenhafte Erkenntnis. Erinnerung an die Heilstaten Gottes, speziell an die Menschwerdung, meint Beherzigung (re-cordatio) dessen, wie durch diesen Blickwinkel Distanz zu innerweltlichen Dingen gewonnen werden kann.²⁹⁰ Religiöse Erkenntnis ist also, wie in vielen anderen Einzelaussagen bei Hildegard, auf die konkrete Lebensführung des Einzelnen bezogen. Hingegen ist die spezielle Prophetengabe der Propheten, die prophetia prophetarum, als eine Gabe, die auf die Verkündigung und Deutung für Dritte hingeordnet ist, in ihren Wirkmodi an die jeweiligen Stadien der Heilsgeschichte angepasst. Hierzu ist die Inkarnation der Wendepunkt vom Schweigen zum Aussprechen.²⁹¹ Anders als man es vermuten würde, hätten also die alttestamentlichen Propheten nur einen begrenzten Einblick in den Tiefensinn ihrer Aussprüche gehabt.²⁹² Die heilsgeschichtliche Wende, die nach Menschwerdung, Kreuz und Auferstehung eine tiefere religiöse Einsicht per inspirationem ermöglicht, wird narrativ auf der räumlichen Ebene als „Öffnung“ geschildert.²⁹³ Mithin ist festzuhalten, dass die Autorin den Begriff der Prophetie differenziert durchdacht hat. Sie verwendet ihn neben dem klassischen Gebrauch der Schultheologie für die prophetische Gabe im engeren Sinn auf eine ihr eigentümliche Weise in einem recht weiten Sinn: Für die geistgewirkte, mit den herkömmlichen Theologumena von inspiratio und illuminatio gekennzeichnete religiöse Erkenntnis, die dem konkreten Leben dient.

 , Cap. , Z  – : Facit Deus in homine per inspirationem Spiritus Sancti ut totis viribus ipsum amando inspiciat.  , Cap. , Z  – : homo…scilicet dum mortalis est, Deum non videbit, nisi quantum ipse in umbra prophetiae se hominibus ut sibi placet ostendit.  , Cap. , Z  f: ut recordatio incarnationis Domini cum contemptu huius saeculi in hominibus fiat.  , Cap. , Z  f. : Ego prophetia prophetarum Spiritu Sancto imbuta tacui in patientia.  , Cap. , Z  – : O o o pleniter non videmus quae loquimur; scimus tamen quod Deus illa temporibus suis manifestabit. Die Autorin gestaltet diese Einsichten als Dialog zwischen einer speziellen Prophetengabe als gratia gratis data und Propheten, die nicht reine Objekte göttlichen Handelns, sondern Subjekte ihres Erkennens und Sprechens sind.  , Cap. , Z  – : Qui statim Spiritu Sancto accensi clausuram, in qua inclusi errant, aperientes lumen unum facti sunt, in mundum cum doctrinis suis ita fulgentes.

4.3 Die ekklesiologische Auslegung von Gen 1

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4.3.2 Symbolischer Antagonismus von Leere und unterscheidender Befestigung 4.3.2.1 Ontologische und theologische Präzisierungen des Bildsinnes der Leere Bereits bei zwei der bislang untersuchten Visiones – in Visio SV III,8 und in Visio LDO I,4 – war das Bildfeld der Leere zu beobachten. In der Visio LDO II,1 werden weitere Bestimmungen der mangelnden Seinsqualität und der heilsgeschichtlichen Bedeutung des Attributes vacuus vorgenommen. Dabei wird jene durch Nachbarsemantiken wie abyssus, ²⁹⁴ loca inhabitalia, umbra, ²⁹⁵ nichil, ²⁹⁶ inanitas, ²⁹⁷ fragilitas, instabilitas präzisiert. Daher sei hier zum dritten Mal in unserem Untersuchungsgang darauf eingegangen. Unverzichtbar ist dies zudem deswegen, weil so der Heilsoptimismus der Autorin vor dem Hintergrund ihrer realistischen Tiefensicht auf Abgründigkeiten des Daseins erscheint. Die Räumlichkeit der Visionsbeschreibung von unbehausten Orten (loca inhabitalia) in bestimmten Regionen des Erdkreises wird der inneren Unbehaustheit von Menschen zugeordnet, die sich gegen das Wort Gottes auflehnen.²⁹⁸ Was von Hildegard als Schaubild vorgestellt wurde, dient also zur Bezeichnung des innerseelischen Habitus. Analog wird auf einer narrativen Ebene der Fürst des Bösen als jemand geschildert, der freiwillig seinen Wohnsitz am Ort der Leere nahm.²⁹⁹ Leere ist im Anschluss an Gen 1,2 als Mangel an Form und Gestaltung verstanden.³⁰⁰ Dunkle Orte repräsentieren die mangelnde Glaubenssicht von Menschen.³⁰¹ Leere meint hier also weniger ein absolutes Nichtsein, denn Mangel an innerer Ausgestaltung, Mangel an religiöser Wahrheitserkenntnis und Mangel an Rezeptivität

 , Cap. , Z  – : Et corpus quasi facies abyssi,anima autem velut abyssus est; quia corpus visibile et palpabile sicut facies abyssi, anima vero invisibilis et inpalpabilis sicut abyssus terrae existit.  , Cap. , Z  f – , Cap. , Z  – : Ubi fideles per Spiritum Sanctum accensi vivum Deum in vera fide congnoscebant et inspiciebant; quia fides velut umbra divinitatis est, quam mortalis homo perfecte videre non potest. Et umbra formam quae non videtur demonstrat, sicut et circinus formam nondum formatam signat.  , Cap. , Z  f: ad nichilum deducetur.  , Cap. , Z  – : 〈Gen ,〉 Terra autem erat inanis et vacua, et tenebrae erant super faciem abyssi. Homo, qui in moribus suis numquam stabilis esse potest, magna inanitas est et quasi fluctuatio maris semper inundat. Sed sicut in creatione mundi creatura post creaturam de prima material ordinate processit, …“  , Cap. , Z  – : inhabitabilia autem 〈loca〉 infideles designant, qui verbis Dei resistere et repugnare conantes …se inhabitabiles faciunt. Ähnlich: , Cap. , Z  – : quatuor angulares fines mortalis homo non inhabitat, quoniam prae inmutabilitate caloris seu frigoris seu prae aliis incommoditatibus illarum in eis vivere non posset; quemadmodum etiam, si homo supra modum se exaltaverit aut si in desperationem ceciderit, vel si dextram negligens ad sinistram declinaverit, Spiritum Sanctum in habitaculum cordis sui non recipit.  , Cap. , Z  f: sed ille in vacuum locum respexit, ubi et sedem suam ponere voluit.  , Cap. , Z : quoniam terra fuit inanis, scilicet forma carens.  , Cap. , Z  – : Et sic super terram, quae facies abyssi est, tenebrae infidelitatis erant, in qua homines Deum non cognoscentes quasi caeci vivebant.

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

gegenüber der Offenbarung. Jene Mängel führen zu Defiziten im ethischen Entscheiden und Verhalten.³⁰² Gegenmittel wäre also eine Geordnetheit durch innere Struktur.

4.3.2.2 Firmamentum als Bild für Ordnung und Unterscheidung Eine Gegenvorstellung zur Leere wird in dieser Visio anhand des Bildwortes vom firmamentum entwickelt. Hierbei wird von einer wörtlichen naturalen Bedeutung ausgegangen: Das firmamentum befestigt zum einen das Himmelsgewölbe.³⁰³ Zum anderen dient es der Abgrenzung und Unterscheidung (discretio). Diese doppelte Bedeutung der Befestigung und der Unterscheidung wird auf religiöse Sachverhalte übertragen. Dabei ist ein Spiel mit den verschiedenen Ebenen von Deutung und Übertragung zu beobachten: Einerseits markiert die Abgrenzung zwischen Himmel und Erde die Unterscheidung von geistlich und weltlich.³⁰⁴ Andererseits eignet dem firmamentum die Symbolbedeutung eines Spiegels, insofern die einzelnen Gestirne in christologischer Hinsicht einen unterschiedlichen Verweisungssinn haben.³⁰⁵ Als drittes kommt zu den Symbolfunktionen von Unterscheidung und Bekräftigung jene der Ermöglichung von religiöser Einsicht hinzu. So verweist firmamentum dann innerhalb der ekklesiologischen Auslegung von Gen 1 auf unterschiedliche religiöse und anthropologische Gegebenheiten: Auf Christus,³⁰⁶ auf die Apostelpredigt,³⁰⁷ auf die Tugenden,³⁰⁸ allem voran die Tugend der discretio,³⁰⁹ auf die Seele und die Verherrlichung Gottes in der Schöpfung, die Doxologie.³¹⁰ Diese Vielfalt der Anwendung auf der Symbolebene resultiert aus einer doppelten räumlichen Bezugsmöglichkeit auf der Sachebene: Aufgrund der damaligen kosmo-

 Zum Zusammenhang zwischen Kosmologie und Ethik bereits in der sokratischen Philosophie vgl. Rémi Brague, Die Weisheit der Welt. Kosmos und Welterfahrung im westlichen Denken, Übers. Gennaro Ghiradelli (München: C.H. Beck, ), .  , Cap. , Z  – : firmamentum…tegant: quoniam sicut superna defensio haec quae in caelestia sunt defendit.  , Cap. , Z  – : Dicente igitur Deo fit firmamentum, quod discretio est in diversitate spiritalium et carnalium hominum.  , Cap. , Z  – : Unde et haec enarrant miracula Dei, quae per ipsum in firmamento velut in speculo signata sunt, ita ut sol divinitatem, luna vero humanitatem filii Dei ostendant et stellae reliqua secreta ipsius demonstrent.  , Cap. , Z  f: sub firmamento caeli, quod Christus est.  , Cap. , Z  f: Fiat firmamentum fidei in medio infidelium populorum, qui intelligant praedicationem apostolorum; , Cap. , Z  f: Deus firmamentum fidelium auditorum in praedicatione apostolorum fecit.  , Cap. , Z  f: Omnes namque virtutes per caelestia et per terrestria discerni possunt.  , Cap. , Z  ff-, Cap. , Z: Et Deus per inspirationem Spiritus Sancti in homine discretionem caelum vocat, quae certissima significatio caeli est; quia ut firmamentum omnia ornamenta, quae mundum illuminant et regunt atque continent, in se habet, ita discretio omnia instrumenta virtutum, quae a Deo procedunt, quibus corpus et anima regitur, obtinet.  , Cap. , Z  f: Per divinam iussionem illuminatio firmamenti opus Dei pulchrum et gloriosum ostendebat, ut etiam anima corpus pulchrum et gloriosum faciet.

4.3 Die ekklesiologische Auslegung von Gen 1

225

logischen Vorstellungen kann firmamentum einerseits oben als Abstützung des Himmels wie unten im heutigen Sinn von Firmament gemeint sein. Dies ist ein Beispiel, wie es der Autorin gelingt, theologische Bezüge durch ein Bildsymbol mit einem weiten Aktionsradius herzustellen. Aber es ist auch ein Beispiel dafür, wie dadurch Aussagen des Textes und Imaginationen des Lesers unscharf werden. Für den ekklesiologischen Zusammenhang lässt sich auf jeden Fall festhalten, dass Vorgänge der Verankerung, der Stabilisierung und der Unterscheidung in der religiösen Lehre und in der Einschätzung der Lebenswelt in Hinblick auf religiöse Anforderungen essentiell für das Leben in der Kirche und für eine lebendige Kirche sind.

4.3.3 Eine ekklesiale und spirituelle Theologie des Lebens 4.3.3.1 Gott als Leben und Licht Wie bereits in der Visio LDO I,4 sind Gott die johanneischen Attribute von Leben³¹¹ und Licht zugeschrieben, die durch den Bedeutungssinn des Lichtes als eines Ursymboles in einem inneren Zusammenhang stehen.³¹² Durch die Bilder von Licht und Feuer soll illustriert werden, wie Leben von Gott an die Kreaturen und speziell an den Menschen mitgeteilt wird.³¹³ Hierbei gelingt es der Autorin, auf kürzestem Raum innerhalb eines Abschnittes die Bildlichkeit aus der Elemententheorie auszugestalten, sie mit dem seit der Antike geläufigen philosophischen Ternar von Leben, Bewegung und Denken zu verbinden und sie in die johanneisch-augustinische Theologie vom Wort³¹⁴ überzuführen: Gott ist durchaus ein lebendiges Licht (vivens lumen), von dem her alle Lichter leuchten. Daher bleibt auch der Mensch durch dieses lebende Licht (vitale lumen) im Sein.³¹⁵ Auch ist er 〈Gott〉

 , Cap. , Z  f: Deus itaque, qui omnia quae praedicta sunt, fecit, unica vita est, qua omnis vita spirat.  Dieser Zusammenhang zwischen „Leben“ und „Licht“, die als Attribute Gottes mit ihm selbst identisch sind, wird ähnlich formuliert direkt am Beginn des medizinischen Werkes Causae et Curae (Beate Hildegardis Cause et Cure, Rarissima mediaevalia Opera Latina Volumen , edidit Laurence Moulinier, recognovit Rainer Berndt (Berlin: Akademie, ), liber I,): Deus ante creationem mundi absque initio fuit et est, et ipse lux et splendor fuit et est et vita fuit. Hier ist die Wendung fuit et est als sprachliches Ausdrucksmittel eingesetzt, um die zeitlose Gegenwart Gottes und sein Von-Je-Her-Sein nach den menschlichen Zeitkategorien anzudeuten.  Ähnlich in , Cap. , Z  f: Deus enim vita illa est, per quam multitudo angelorum accensa est, quemadmodum scintillae ab igne procedunt.  So auch in , Cap. , Z  f: quoniam Deus vita est, et verbum suum non dormit, sed vita apparet. Die Offenbarung des Logos in der Menschwerdung ist also Offenbarung des Lebens.  , Cap. , Z : unde et homo per ipsum vitale lumen manet. Grammatikalisch ist auch folgender Sinn möglich, da vitale lumen entweder zu per ipsum dazu gehören kann, oder als selbstständiges Prädikatsnomen gewertet werden könnte: „Daher bleibt der Mensch durch es 〈das lebens-

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

selbst wie ein Feuer. Daher kocht er den Menschen mit Feuer und durchtränkt ihn mit Wasser. Wegen der allzu großen Hitze schimmert das Wasser im Fleisch des Menschen rötlich und fließt 〈durch den Körper〉. Wie wäre es angebracht (conveniens), dass der Mensch dunkel bleibt, der vom empfangenen Licht her leuchtet? Wie wäre es angebracht, dass er sich nicht bewegt, wenn er vom Feuer her belebt wird? Wenn der Mensch ohne Werk wäre und keine Wohnstätte hätte, würde er leer (vacuus) bleiben. Denn Gott, der als das Licht und Feuer selbst existiert (ignis et lux existens) belebt durch die Seele den Menschen und bewegt ihn durch die Rationalitas. So hat er auch im Klang des Wortes (in sono verbi) den ganzen Kosmos (mundum) geschaffen, der die Wohnstätte des Menschen ist. Denn der Mensch wirkt mit all diesen geschaffenen Dingen, so wie ihn auch Gott in allen Dingen vollkommen (perfectum) geschaffen hat.³¹⁶

Die beiden Teilabschnitte dieses Zitates sind wie Frage und Antwort einander zugeordnet. Das von uns bereits analysierte Gegensatzpaar von „leer“ und „vollkommen“ strukturiert den Gedankengang.³¹⁷ Schöpfung, Lebensmitteilung und kunstvolle Ausstattung von Kosmos und Welt sind Gegenakte gegen eine denkmögliche Leere und Unerfülltheit des Menschen. Hierbei geht es vorerst um die naturalen, und noch nicht um die religiösen Bedürfnisse des Menschen. Jedoch bedient sich Gott für die Lebensmitteilung an den Menschen nicht nur der Grundkräfte der vier Elemente, von denen hier Feuer und Wasser erwähnt sind. Sondern Seele und Geist des Menschen sind die Vermögen, durch die Gott den Menschen verlebendigt. Dabei ist die Rationalitas des Menschen das ebenbildliche Gegenstück zum „Klang des Wortes“, zum schöpferischen Logos. Wirken und Wohnen, also das ebenbildliche schöpferische Tätigsein und die Bewegung in einem geschützten, geordneten Raum, werden als existentielle Lebensbedürfnisse des Menschen angemahnt. Hierfür wird auf der Ebene der Konvenienz argumentiert.³¹⁸ Das Stichwort „conveniens“³¹⁹ weist wiederum auf das Bedürfnis der Autorin hin, Argumentationsformen einer akademischen Theologie zu benützen, während zugleich von existentiellen Anfragen her gedacht wird. Innerhalb weniger Sätze wird sowohl von „oben“, von den Eigenschaften Gottes, die er seinen

schaffende Licht〉, ein lebensfähiges Licht.“ Für diese zweite Übersetzungsvariante spräche, dass im vorausgehenden Hauptsatz vom vivens lumen gesprochen wird, und hier vom vitale lumen, also möglicherweise ein Unterschiede zwischen Leben, das Leben schafft und weitergibt und empfangenen Leben markiert werden soll.  , Cap. , Z  – .  Dementsprechend stehen vacuus und perfectus jeweils als vorletztes Wort in den Satzgefügen der Teilabschnitte (vacuus foret – perfectum fecit).  , Cap. , Z  – : Et quomodo conveniens esset…?  Ähnliche Beweisgänge von der Konvenienz her in , Cap. , Z  – : Et quomodo conveniens esset ut huic vitae nichil vitale adhaereret et ignis iste nullam rem calefaceret nec illuminaret? sowie , Cap. ,  f: Unde et indecens esset ut vita haec non claresceret. Die parallelen Argumentationsfiguren von Leben und Licht als Gegenbegriff gegen das Nichtleben (mors in , Cap. , Z ) belegen, welche Bedeutung Hildegard diesen Grundaussagen zumisst.

4.3 Die ekklesiologische Auslegung von Gen 1

227

Geschöpfen mitteilt, geschlussfolgert, als auch von „unten“, von der Beängstigung angesichts der Möglichkeit einer inneren und äußeren Leere im Dasein des Menschen. Jene Besorgtheiten, die Leere, Chaos, Dunkelheit als die Alternative eines Daseins ohne die Belebung, Erleuchtung, Bewegung durch Gott anklingen lassen, sind in diesem Abschnitt von den Worten „Deus“ am Anfang und „perfectum fecit“ am Ende umschlossen. So spiegelt Hildegard in der Wortstellung, wie „Leere“ als ungeordnete Lebensdefizienz bei Gott als dem vollkommenen Leben selbst eingeborgen ist. Die Lebensqualität des Menschen ist gesichert, wenn die Geborgenheit eines habitaculum selbstständige aktive Leistungen ermöglicht. Also trifft die Autorin neben abstrakteren philosophischen und theologischen Grundaussagen zum Leben und naturtheologischen Seitenbemerkungen zu seiner biologischen Verfasstheit aus den vier Elementen lebenspraktische Äußerungen zu den Existenzbedingungen, die die Selbsttätigkeit des Menschen als dynamischen Existenzvollzug garantieren.

4.3.3.2 Das Partizip vivens als häufiges Attribut für Lebendig-Sein Auffallend häufig tritt in dieser Visio das Partizip Präsens vivens auf. Dadurch soll das dynamische Lebendigsein als ens in actu gekennzeichnet werden: Partizip Präsens vivens & Nomen: dynamisches Lebendigsein als ens in actu

Anhand der Synopse von Textstellen mit dem Attribut vivens entfaltet sich eine Landkarte des Lebensbegriffes: Gott ist lebendig³²⁰ und, wie wir oben gesehen haben, das lebendige Licht. Der Logos Christus ist das lebendige Wort (vivens verbum).³²¹ Während dem Heiligen Geist die Bildlichkeit des lebendigen, fließenden Wassers (vivens aqua)³²² zugeordnet ist, wird die Kirche als lebendiges Land (vivens terra) symbolisiert. Ebenso sind die Kräfte des Menschen als virentes vires ³²³ qualifiziert, und zwar als vivens anima,³²⁴ als vivens mens,³²⁵ als vivens virtus ³²⁶ und als vivens scientia. ³²⁷

 , Cap. , Z  f: quia per gratiam viventis Dei rationales creati estis.  , Cap. , Z  f: ac per vivens verbum suum praecepit.  , Cap. , Z : ut ipsi fluens aqua de vivente aqua Spiritus Sancti fluant.  , Cap. , Z  f: in quibus viventes vires de plantatione Spiritus Sancti sunt.  , Cap. , Z  f: Per pisces autem Deus designavit quod homo per viventem animam mobilis est; ähnlich in , Cap. , Z : viventem animam.  , Cap. , Z  f: Deus etiam omnem vitam virtutum creavit, quae in viventibus mentibus hominum, qui se de terra elevant, manent.  , Cap. , Z : Et hae sunt viventes virtutes animae, quae agnum secuntur; , Cap. ,  f: cum volantibus atque viventibus virtutibus.  , Cap. , Z  viventem scientiam. A.a.O. Z  wird vivens durch die affektive Bestimmung laetam ergänzt: laetam scientiam. Aus dieser Parallelisierung kann abgeleitet werden, dass zum Lebendigsein die Eigenschaften „frohmachend“, „heiter“ dazu gehören.

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

Folglich sind der dreifaltige Gott, die Kirche als Raum des Lebens und insbesondere die geistigen und seelischen Kapazitäten des Menschen als dynamische, sich aktual intensivierende und spontan wirkende Größen charakterisiert.

4.3.3.3 „Ströme des Heiligen Geistes“ für das „Land der Lebenden“: Kirche und Leben Wie der ganze dritte Teil des Liber Scivias ist ebenso der dritte Teil des Liber Divinorum Operum der Ausdeutung von Schaubildern über die Kirche gewidmet. Nachdem bereits im Prologus des letzteren Werkes im Stichwort der pressura ³²⁸ auf erschwerte Umstände für die Kirche hingewiesen wird, nennt die Tertia Pars des Liber Divinorum Operum noch stärker als die Tertia Pars des Liber Scivias innere und äußere Beschwerlichkeiten für das Leben der Kirche in der Gegenwartszeit des Textes³²⁹ und projiziert sie in Auseinandersetzungen der Endzeit hinein. Gerade jene Äußerungen fanden im Spätmittelalter und im Frühprotestantismus ein verstärktes Rezeptionsinteresse.³³⁰ Dies belegt, dass in jenen Texten zwar indirekt ekklesiale Gegebenheiten während der Lebenszeit der Autorin kritisiert werden. Aber sie sind von vornherein so entworfen, dass in ihnen spätere Leser kirchliche Verhältnisse ihrer jeweiligen Gegenwartszeiten wiederfinden können. Wie wir schon öfters im Verlauf dieser Arbeit beobachten konnten, ist die Jetztzeit des Textes keineswegs nur als die der Autorin, sondern stets auch als die der Rezipienten konstruiert. Allerdings müssen jene im Stande sein, die ekklesialen Aussagen der Tertia Pars des Liber Divinorum Operum im Licht der vorgeschalteten Visio II,1 als Mitte des Visionswerkes zu lesen. Der Blickwinkel aus der Visio II,1 ist der auf eine Kirche, die durch die einander zugeordneten Metaphoriken vom „lebendigen Wasser“ und vom „Land der Lebenden“ beleuchtet ist. Kirche wird von Hildegard als eine überzeitliche Größe gezeichnet, die im Vorauswissen Gottes geplant³³¹ ist und als Abbild des himmlischen Jerusalem auf Ewigkeit hin ausgerichtet ist, also nicht nur eine rein transitorische Größe. Daher kann durch sie

 LDO Prologus, , Z .  Innerhalb der untersuchten Visio werden die Spaltung durch das Papstschisma (, Cap. , Z  – : divisio sparsionis Christiani populi) sowie die Schwächung der Kirche durch moralische Missstände in allen kirchlichen Ständen beklagt, die sie wie zu einer „Witwe“ (vidua) werden lassen (, Cap. , Z : ecclesiaque quasi vidua concutietur). Deutlichere Klagen finden sich in der Visio LDO III,  (, Cap. , Z  – : ut omnia ecclesiastica instituta, sive saecularia sive spiritalia sint, in deterius descendant et nunc in alio modo quam apostoli seu ceteri antiqui patres ea constituerint consistant).  So bei frühen protestantischen Autoren wie Flacius Illyricus und Andreas Osiander.Vgl. Friedhelm Jürgensmeier, „St. Hildegard, ‘Prophetissa teutonica‘ „, in Hildegard von Bingen ( – ). Festschrift zum . Todestag der Heiligen, Hg. Anton Ph. Brück, Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte  (Mainz: Selbstverlag der Gesellschaft für mittelrheinische Kirchengeschichte, ): .  , Cap. ,  f: Similiter Deus in creatione ecclesiae fecit antequam eam construeret.

4.3 Die ekklesiologische Auslegung von Gen 1

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der Beginn des Buches Genesis als Werk über die Schöpfung, Ausgestaltung und heilsdramatische Gefährdung der Kirche gelesen werden. Kirche kommt zwar, nach einem geläufigen Bild patristischer Autoren,³³² aus der Seitenwunde Christi,³³³ ist aber in der Anschauung Hildegards nicht nur vom Gott-Menschen, sondern vom dreifaltigen Gott selbst intendiert. In der Heilszeit des Alten Bundes ist sie verheißen, wiederum im Bild des „Landes“, eine Landes, in dem Milch und Honig fließt (Ex 3,8),³³⁴ und schattenhaft als ecclesia ab Abel zu erkennen.³³⁵ Die Symbolik des „Lands“ ergibt sich fast zwingend aus der Bildlogik, die der Visionstrilogie Hildegards zugrund liegt und findet im Text von Gen 1,1– 2,3 reichhaltige Anhaltspunkte. Denn anhand der Analyse von Visiones aus dem Liber Scivias wurde die den Begriff des Lebens repräsentierende Vorstellung von der „Quelle des lebendigen Wassers“ (fons vitae) als Tiefenschicht des ersten Visionswerkes erkenntlich. Dies prägt, nun in sehr dichter bildlicher Zuordnung speziell zum Wirken des Heiligen Geistes,³³⁶ die vorliegende Visio aus dem Liber Divinorum Operum. Dafür lassen sich etliche Textbelege anführen, die das Wasser als Lebensprinzip benennen.³³⁷ Allerdings weicht die Autorin hier keineswegs der Ambivalenz der Symbolkraft des Wassers aus: Hierbei werden die aquae, die Wasserfluten, einerseits zum das Chaos versinnbildenden Gegenbegriff ³³⁸ gegenüber dem Land, das Sicherheit und Ordnung verheißt. Daher sei Kirche – in der Übersetzung der griechischen Grundbedeutung von ekklesia – eine Zusammensammlung (congregatio) aus den Wassermassen.³³⁹ Weil andererseits gemäß Ps 28,3 die schöpfende, offenbarende Stimme Gottes über den Wassern schwebe,³⁴⁰ weist das Wasser, das für diesen Dienst der Signifikation durch den Heiligen Geist geheiligt wurde,³⁴¹ besonders auf die bewahrenden und

 So z. B. bei Augustinus, tract. in ev. Ioh. ,.  , Cap. ,  f: quae de latere Christi in sanguine eius orta est.  , Cap. ,  f: Itaque Deus Israel ecclesiam promissam terram fluentem lac et mel nominavit.  , Cap. ,  f: ab Abel…iustitia umbra ecclesiae fuit.  , Cap. , : ut ipsi 〈prophetae〉 fluens aqua de vivente aqua Spiritus Sancti fluant. Zur Semantik des „Fließens“ als Bild für die Weitergabe des Lebens im . Jahrhundert bei Bonaventura vgl. Romano Guardini, Systembildende Elemente in der Theologie Bonaventuras. Die Lehren vom Lumen Mentis, von der Gradatio Entium und der Influentia Sensus et Motus, Studia et Documenta Franciscana, Hg. Werner Dettloff (Leiden: E. J. Brill, ): .  , Cap. ,  f: Nam spiritus Dei vita est, et vita haec aquas ad manandum movit.  So dienen chaotische Wassermassen als Vergleichsbild zur moralischen Instabilität des Menschen: , Cap. , Z  f; Homo, qui in moribus suis numquam stabilis esse potest, magna inantitas est et quasi fluctuatio maris semper inundat.  , Cap. , . –  〈Gen ,〉 Congregentur aquae…Hoc considerandum sic est: Deus populos Christianorum congregavit, … et eos in unam ecclesiam tulit.  , Cap. ,  Zitat von Ps ,: Vox domini super aquas.  , Cap.  f: quia Spiritus Sanctus aquas prae ceteris elementis sanctificavit.

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

aufbauenden Aspekte der Verkündigung und Lehre hin.³⁴² Daher bezieht sich die Symbolkraft von lebendigen Wasserströmen auf Heilige, Propheten und auf die Lehrer der Kirche, die also durch Vermittlung der Offenbarungslehre der Kirche Lebenskraft vermitteln. Ferner gleichen die Textwirkungen der Bibel belebenden „Bächen“,³⁴³ die sozusagen das Landgebiet der Kirche durchziehen können. Während so der Dienst all dieser Größen, der Heiligen Schrift sowie der kirchlichen Stände von Aposteln,³⁴⁴ Heiligen, Propheten und Lehrern der Kirche der Verlebendigung eher als Stabilisierung charakterisiert ist, schwingt zugleich der Aspekt der Dynamik mit im „Getränkt-Werden“³⁴⁵ mit dem Heiligen Geist,³⁴⁶ in einer Analogie zur kreatürlichen viriditas. ³⁴⁷ Die positive Aussagekraft der Wassersymbolik wird überhöht zur Antithese, dass das Wasser geistliche Sachverhalte bezeichne und das Land die körperlichen.³⁴⁸ Dies steht in einem gewissen Widerspruch zur Kirche als terra viventium, insofern sie Raum des Heiligen Geistes ist. An diesem Einzelbeispiel kann man erkennen, wie die Ausdifferenzierung der Bildsprache bei Hildegard an Grenzen der Präzision gerät und sich in Widersprüchen verfängt. Ähnliches lässt sich für die Metaphorik von terra konstatieren, die sowohl „Land“ als auch „Erde“ bedeuten kann. Sie ist ein Grundsymbol der Menschheit. Daher kommt ihr auch auf metaphorologischer Ebene eine besondere Bedeutung zu.³⁴⁹ Standen in der Visio SV III,10 vor allem die Aspekte von Fruchtbarkeit und von der Verinnerlichung in agro cordis im Vordergrund, so wird terra in dieser Visio weitaus häufiger in der stereotypen Attributverbindung terra vivens als Bildfigur für Kirche eingesetzt. Gleichwohl baut sich dieser Verweisungssinn auf der naturalen Grund-

 , Cap. , Z  – : conceptus de Spiritu Sancto, de quo viventes aquae fluunt, multum fructum sanctitatis dans cum discipulos suos ad ecclesiasticam doctrinam pleniter instruxit.  , Cap. ,: rivulos scripturae Dei.  , Cap. , Z  – : sic etiam apostoli primi doctores prae aliis doctoribus eccelsiae fuerunt. Et ut etiam ab aquis illis, quae in creatione mundi ortae sunt, omnes aquae profluunt, sic ab apostolis primis doctoribus omnes doctores ecclesiae propagate sunt; ferner , Cap. ,  f unter dem „Titelbild“ des Meeres für die Kirche. Dieses Bild auch in , Cap. ,: Ista enim ecclesia ab aquis, scilicet apostolis, congregate mare nominatur. Ähnlich , Cap ,  sowie , Cap. ,  f. Zu der literarischen Symbolwelt der Meerfahrt in der heidnischen Antike und bei christlichen Autoren vgl. Hugo Rahner, Griechische Mythen in christlicher Deutung (Freiburg im Breisgau: Herder, ),  – .  Auch auf der Bildebene bedeutet „Wasser“ nicht nur Chaos und Bedrohung, sondern ebenso stärkende Bewässerung: , Cap. , Z  f: Et vita haec aquas ad manandum movit, quatinus terra per illas firmaretur ne per ventum velut cinis spargeretur. Es ist recht geschickt, wie die Autorin hier die Ambivalenzen der Wassersymbolik nutzt und für ihre Aussageziele nutzbar macht.  , Cap. ,  f: Spiritu Sancto imbuta.  , Cap. , Z : terraque cum viriditate sua per aquam subsistit.  , Cap. , Z : in aqua spiritalia, et in terra corporalia significavit.  Olaf Briese, „Erde, Grund,“ in Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Hg. Ralf Konersmann (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ): : „Erde ist ein Metapherngenerator ersten Ranges.“

4.3 Die ekklesiologische Auslegung von Gen 1

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bedeutung des Erdreiches auf, dem der Mensch entstammt und von dem aus er sich nach dem Himmel sehnt.³⁵⁰ So sind die ebenfalls schon aus weiteren Visiones bekannten Grundworte von altitudo ³⁵¹ und elevari deswegen der Symbolik der „Erde“ entgegengesetzt, weil auch der Mensch sich im aufrechten Gang vom Erdboden erhebt. Da die Erde als turbulenta materia einen Gegensatz zur lucida materia des räumlichen Himmels bildet,³⁵² verfällt die Autorin sogar in die platonische Diktion von Welt und Körper als Kerker,³⁵³ die vom Himmlischen fernhalten. Dies hindert sie aber nicht daran, die übertragene Bedeutung von terra viventium für Kirche dann ein weiteres Mal, sozusagen als dritte Potenz der Symbolisierung, auf das himmlische Jerusalem als Land der Seligen auszudehnen.³⁵⁴ Während so das Bedeutungsspektrum von terra in dem Großtext der Visio zwischen einem „mütterlichem Urgrund“³⁵⁵ für blühendes kreatürliches Leben in viriditas,³⁵⁶ erschwerender Gravitationskraft beim spirituellen Aufstieg zum geistlichen Leben und analoger Räumlichkeit nach der Auferstehung³⁵⁷ ausgedehnt ist, erfährt es gleichzeitig eine starke Konzentration auf seinen Gebrauch für eine dynamische Ekklesiologie hin: Achtmal findet sich das Stichwort der terra vivens oder der terra viventium. Sechs mal wird das Nomen ausdrücklich mit ecclesia identifiziert,³⁵⁸ ein siebtes Mal werden die christlichen Völker, die populi Christianorum, die in einer Kirche zusammengeführt werden, als „Land der Lebenden“ bezeichnet.³⁵⁹ Die einzige Passage, bei der keine explizite Gleichsetzung mit dem Begriff der ecclesia erfolgt, beschreibt das gemeinsame Wirken von Logos und Heiligem Geist, die durch die Offenbarung und durch die Gaben und Früchte des Heiligen Geistes einen Erkenntnisraum für eine tiefere Sicht im Glauben ermöglichen:

 , Cap. , Z : homo de terra factus; , Cap. Z  f: in viventibus mentibus hominum, qui se de terra elevant.  , Cap. , Z  – : terrenus homo, qui de terra est, in altitudinem illam in qua Deus est in fide aspiciat.  , Cap. , Z f: celum, id est lucidam materiam, et terram, videlicet turbulentam materiam.  , Cap. ,  f: quibus praesens terra dum in corporibus suis essent, quasi carcer ob amorem caelestium fuit.  , Cap. , : in terra illa in qua beati vivunt.  , Cap. , Z  – : ac 〈Deus〉 per vivens verbum suum praecepit, ut ad germinandum florentem herbam materna terra viresceret.  , Cap. , Z  f: terram cum viriditate sua.  , Cap. , Z  – : Cum enim homo in plenum numerum sicut Deus eum constituit perficietur, ad terram illam, quae ex terrenis hominibus terra viventium nominatur, perveniet, et deinde societatem cum agno in caelis habet.  , Cap. , : Vivens terra eccelsia est; , Cap. ,  f: Ecclesia, quae est terra viventium; , Cap. , Z  f: ecclesiam terram viventium; , Cap. , Z : viventi terrae, id est ecclesiae; , Cap. , : Terra, scilicet ecclesia mea; , Cap. , Z  f: promissam terram scilicet ecclesiam.  , Cap. ,  f: et eos in unam ecclesiam tulit; et sic ipsi terra viventium apparuerunt.

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

Das Wort Gottes weckt auch das schlafende Bewusstsein (dormientes mentes) der Menschen und lässt sie in einer wahrhaftigen Schauung des Glaubens (in vera visione fidei) sehen. So, dass er die, die zuvor im Unglauben wie ein ungepflügtes Erdreich (inarata terra) waren, durch die Gnade des Heiligen Geistes mit den Pflug des Glaubens auflockert. Er macht sie zum Land der Lebenden, das mit aller fruchtbringenden Grünkraft (viriditate) eine volle, blühende Frucht hervorbringt. So sprachen auch die Propheten davon, dass eine Jungfrau den Sohn Gottes gebären würde, der das schlafende Land mit dem Pflug des wahren Glaubens in seinen Heiligen auferweckt, so dass sie selbst wie ein fließendes Wasser vom lebendigen Wasser des Heiligen Geistes her fließen.³⁶⁰

Folgerichtig wird dann der einzelne „Mensch in der Kirche“³⁶¹, der in der Kirche als Raum des Heiligen Geistes durch das Wort der Lehre gestärkt wird,³⁶² und so Tugenden wirkt,³⁶³ wiederum als terra bezeichnet werden. Dies ist dadurch auf der Ebene der Bildlogik möglich, da terra zugleich „Land“ als Wohnstätte und Entfaltungsraum wie „Erdreich“ als nährender Grundstoff für das Wachsen bedeuten kann. Trotzdem begründet Hildegard den Bildzusammenhang, der durch die lexikalische Breite des Grundwortes ermöglicht ist, noch tiefer von einer theologischen Prämisse her: Der Mensch sei von vornherein als Bild und Gleichnis Gottes dazu erschaffen, der Auferbauung der Kirche zu dienen.³⁶⁴ Der Mensch wird von der Schöpfung her auf Kirche hin gedacht. Dies ist der anthropologisch-ekklesiale Ansatzpunkt, um den ganzen Schöpfungsbericht auf die Kirche hin zu deuten. Allerdings birgt jener schöpfungstheologische Grundansatz für die Lehre der Kirche die Gefahr in sich, dass so alle kirchlichen Strukturen zur Abfassungszeit des Textes als iure divino eingestuft werden. Andererseits wird durch diese Sicht die Bedeutung des einzelnen Menschen in der Kirche aufgewertet. Möglicherweise erfolgt die Betonung seiner ekklesialen Rolle – noch vor einer Differenzierung in Pflichten einzelner kirchlicher Stände –, um den Leser zu entsprechendem Verhalten zu motivieren. Der einzelne christliche Mensch, der sich gleichsam eucharistisch am Wort Gottes und den Tugendkräften nährt,³⁶⁵ ist in

 , Cap. ,  f-, Cap. ,  – .  , Cap. , : homo in ecclesia.  , Cap. , Z  – : Semen verborum doctrinae Spiritus Sancti in terram seminatur, quatinus homo per illud in anima pascatur.  , Cap. , Z  f: Nunc haec terra, id est homo, viventes virtutes animae producat; ähnlich für Menschen, die sich durch das Tugendbeispiel eines anderen Menschen zu guten Taten bewegen lassen: , Cap. , Z : illa terra, scilicet ceteri homines.  , Cap. , Z  – : Nunc faciamus hominem ad imaginem et similitudinem nostram ad aedificationem ecclesiae. Quomodo? Faciamus eum ad instructionem ecclesiae, ut ipsa cum homine ad omnem aedificationem eius erigatur. Auf kürzestem Raum steht zweimal ad aedificationem und umrahmt so ad instructionem. Kirchliche Strukturen, geistliches Wachstum der Kirche und kirchliche Lehre greifen so ineinander und werden als Zielraum für die Schöpfung des Menschen bestimmt.  , Cap. ,  – : quia verba Dei et virtutes in Christiano populo cibus vitae in ecclesia factae sunt. Die eucharistische Qualität des Wortes Gottes, der Heiligen Schrift wird ebenso angesprochen in Visio SV I, (vgl. Kapitel .).

4.3 Die ekklesiologische Auslegung von Gen 1

233

sich eine Auferbauung (aedificatio)³⁶⁶ für die Kirche.³⁶⁷ Der gnadentheologische Grund hierfür ist darin gegeben, dass die menschlichen Tugendbemühungen, in denen der Mensch sich dem Sohn Gottes als Abbild Gottes verähnlicht, durch das Wirken Gottes unterstützt werden und dadurch die Kirche vollendet werden kann.³⁶⁸ In der Genitivkonstruktion einer doctrina Spiritus Sancti ³⁶⁹ versucht die Autorin einen inneren Ausgleich zwischen bewahrender Lehre und verlebendigendem Wirken des Heiligen Geistes auszudrücken. Es wurde bereits in der Einleitung dieses Kapitels angesprochen, dass die Analyse der ekklesiologischen Bildmuster und Grundvorstellungen dieser Vision die Frage aufwirft, ob Hildegard die kirchliche Lehre und kirchliche Ämterstrukturen harmonisch mit dem aktuellen Wirken des Geistes im Raum der Kirche verbindet. Oder nennt sie die doktrinalen und institutionellen Aspekte nur als rhetorische Schutzmaßnahme, um nicht in den Verdacht zu kommen, Teilmomente der Anliegen heterodoxer Strömungen während ihrer letzten Lebensjahre zu unterstützen? Oder wird letztlich sogar das lebendige Wirken des Heiligen Geistes als Autorität beschworen, um kirchenrechtliche Verfestigungen im Zuge spätgregorianischer Maßnahmen sozusagen mit höchster Autorität zu legitimieren?³⁷⁰ Sicherlich hätte die Entscheidung jener Anfragen Auswirkungen auf die Interpretation des Begriffs vom Leben bei Hildegard: Geht es ihr eher um eine Stärkung dieses theologischen Begriffes, um aufblühendes Leben in der Praxis von Alltagswelt³⁷¹ und kirchlichen Vollzügen zu befördern?³⁷² Dann hätte die theoretische Ausformulierung des theologischen Begriffs des Lebens eine Dienstfunktion für die Praxis in Kirche und einzelmenschlicher Erfahrung. Oder handelt es sich, unterstützt von umrankenden, ansprechenden Bildmotiven

 Das ekklesiologische Grundwort der aedificatio – das sich ja in den dritten Teilen des Liber Scivias und Liber Divinorum Operum zu ausgefalteten Bauallegorien ausweitetet – könnte in einer eigenen Monographie genauer untersucht werden.  , Cap. , Z : Christianus homo, qui aedificatio ecclesiae est. Die Relevanz der singularis vita und der in ihr geübten Tugendwerke für die aedificatio ecclesiae ist ähnlich benannt in , Cap. , Z  – .  , Cap. , Z  – : Creavit eum 〈hominem〉 etiam ad imaginem Dei, quae filius est, ut cum ardenti amore circumdatus sit, omnia bona…cum excellentioribus virtutibus perficiendo, et ut ecclesia Dei cum operibus Dei perficiatur.  , Cap. ,  f: Semen verborum doctrinae Spiritus Sanctae in terram seminatur, quatinus homo per illud in anima pascatur.  So zum Beispiel in , Cap. , Z  – : Similiter homines in illam subiectionem magistrorum secundum speciem sanctae humilitatis computantur, mancipati oboedientiae in forma iumentorum. Dies könnte aber ebenso als rhetorische Schutzbehauptung gelesen werden, wie sie bei mittelalterlichen Autoren nicht unüblich war, um dahinter subkutan eine abweichende Meinung zu äußern.  , Cap. , Z  – : Et homo in ecclesia cum scientia sua terrenis rebus, cum observationisbus evangelii, quod Deus dedit, et cum virtutibus ad bonum volantibus praesit.  Gerade der Begriff des Lebens verheißt eine engere Beziehung von Theorie und Praxis:Vgl. Martin Gessmann, Zur Zukunft der Hermeneutik (München: Wilhelm Fink, ), ; sowie Dieter Henrich, Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten (München: C.H. Beck, ), , .

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

als Symbole für Leben, um die Verzweckung des Lebensbegriffes als Werbung für die Stärkung kirchlicher Strukturen? Bei der Suche nach Antworten auf diese Fragen sei größte Behutsamkeit und Sachlichkeit empfohlen, damit nicht die Deutungswünsche der heutigen Rezipienten entsprechende Textsignale übersehen lassen. So geht die Autorin selbst von der erkenntnistheoretischen Ebene aus. Dies gelingt ihr, in dem sie sich auf ein ekklesiologische Grundmuster von Dionysius Areopagita zur Deutung von „Hierachie“ als heiligem Ursprung beruft: Gott hat es in seinem Wohlgefallen so angeordnet, dass in der Kirche, die durch unterschiedliche Grade innerlich gegliedert ist, auch die einfacheren durch die Lehre der Weisen erleuchtet werden (illuminarentur).³⁷³

Freilich wird jene Sicht von Kirche als eines geordneten Erkenntnisraumes funktionalisiert auf die stabilisierende Rolle der Priester und Lehrer (doctores),³⁷⁴ aber auch der weltlichen Vorgesetzten.³⁷⁵ Die Metaphorik von Licht und Finsternis ist zwar in den entsprechenden Textabschnitten von der Illuminationslehre des Areopagiten inspiriert. Doch wird sie aus dem erkenntnistheoretischen Bedeutungsbereich übertragen in einen kirchenpraktischen geordneter Strukturen, innerhalb derer sich Glaube und praktisches Tugendleben entfalten können.³⁷⁶ Die Lichtstrukturen³⁷⁷ der Schöpfungszeiträume des biblischen Schöpfungsberichtes, insbesondere des vierten Schöpfungs-„Tages“ werden auf die zunehmende Institutionalisierung kirchlicher Organe bezogen, die auch in ihrer Geschichtlichkeit als Ordnungswirken Gottes (ordinante Deo)³⁷⁸ zu gelten hätten. Jener Prozess wird durch die Autorin von einer Frühzeit der Kirchengeschichte berichtet. Jedoch könnte sich hinter der geschilderten confusio, als noch zu bemängeln war

 , Cap. , Z  – : 〈Deus〉 in beneplacito suo disposuit ut in ecclesia diversis distincta gradibus et simplices sapientium doctrina illuminarentur. Die Autorin verschweigt die Begründung,wie genau dieses areopagitische Kirchenbild einer illuminatio, die von oben nach unten jeweils über die verschiedenen Grade der hierachia weitergegeben wird, aus dem auszulegenden Satz Gen ,: Et vidit Deus quod esset bonum abzuleiten ist. Ist das bonum auf die göttliche Anordnung bezogen oder auf die Tatsache der illuminatio, die auch die untersten Stufen erreicht oder lediglich auf den innergöttlichen Akt des beneplacitum?  , Cap. , Z  f: Fiant sacerdotes et doctores in filio meo, qui ecclesiam…illuminent.  , Cap. , Z : saeculares rectores.  , Cap. , Z  – : quasi quarto die ab obscuritate confusionis illius se declinare coepit ad ortum stabilitatis diei, qui in eadem ecclesia refulsit, cum in vere fidei et ceterarum virtutum luce sanctae operationis studio confirmata est.  Im vorausgegangene Zitat markiert durch die Worte: obscuritas – dies – refulsit – luce.  , Cap. , Z : ordinante Deo.

4.3 Die ekklesiologische Auslegung von Gen 1

235

…jene mangelnde Stabilität (instabilitas illa), …als die Christen noch keine geistlichen Hirten und weltlichen Vorgesetzten hatten³⁷⁹

eine Replik auf Durchsetzungswünsche spätgregorianischer Reformparteien und auf religiöse Unruheherde zur Abfassungszeit des Textes verbergen. Damals belasteten mehrere Papstschismen die Kirche.³⁸⁰ Denn mag auch durch die Konjunktion quando jener Zustand in die Vergangenheit verlegt sein, so gibt Hildegard doch keinen Zeitpunkt und keine Zeitdauer eines solchen Zustandes an, der nur kurz gewesen sein könnte, wenn ihrer Meinung nach schon die Jünger eine Inspiration über die Gestaltungswünsche Gottes für die Kirche erhalten hätten.³⁸¹ Umso enger erschienen Erleuchtung, Lehre und kirchliche Struktur miteinander verbunden. Eindeutiger fallen ihre Hinweise darauf aus, in welcher Hinsicht Kirche religiösen Erkenntnissen Raum bietet. Im folgenden Zitat fällt auf, dass zwar Gott durch seinen Sohn in der Kirche Erkenntnismittel und Erkenntnisgegenstände gewährt, jedoch gleichermaßen die Rezeptionsaktivitäten des „Kirchenvolkes“ (ecclesiasticus populus) herausgefordert werden: Ich habe in meinem Sohn am siebten Tag, das ist, in der Erfüllung (plenitudo) alles Guten meine Wirkweise so festgelegt (definivi), dass das ganze Kirchenvolk im Sehen, Hören und Erforschen (scrutando) der Lehre gut verstehen kann, was es im Rahmen meiner Weisungen zu tun hätte.³⁸²

Vor der Erkenntnis von Handlungsanweisungen steht die Erkenntnis Gottes: Gerade dadurch, dass die Menschheit Christi Grundlage für den Bau der Kirche ist,³⁸³ ist die Möglichkeit gegeben, dass der Mensch in ihr die Gottheit Gottes erahnt, ein Er-

 , Cap. , Z  f: instabilitas illa, quae in ea 〈ecclesia〉 erat quando Christiani spiritales pastores et saeculares rectores non habebant.  Agostino Paravicini Bagliani, „Die römische Kirche vom ersten Laterankonzil bis zum Ende des . Jahrhunderts,“ in Machtfülle des Papsttums ( – ), Bd. , Die Geschichte des Christentums. Religion, Politik, Kultur, Hg. André Vauchez, deutsche Ausgabe bearbeitet und herausgegeben von Odilo Engels, und Mitarbeit von Georgios Makris und Luwig Vones (Freiburg im Breisgau: Herder, ): .  , Cap. , Z f: Deus per Spiritum Sanctum in cordibus discipulorum suorum dixit.  , Cap. , Z  – : Ego in filio meo die septimo, id est in plenitudine totius boni, omnem operationem meam sic definivi, ut omnis ecclesiasticus populus videndo, audiendo et per doctrinam scrutando bene noverit quid sibi in praeceptis meis faciendum sit. In dem Ternar von videndo, audiendo et per doctrinam scrutando spiegeln sich wiederum Textstrukturen und Werkanspruch der Visionstrilogie. Sie ist im Genus von Visionen und Auditionen gestaltet ist. Dadurch will sie Eckdaten der christlichen Lehre vermitteln, um den Rezipienten dann zum eigenen Sehen, Hören und Durchdenken anregen will. Zum dichten Ursprungszusammenhang von Sehen und Hören bei Augustinus, auf den Hildegard immer wieder anspielt, vgl. Erwin Dirscherl, „Die Frage nach der Zeit bei Augustinus als Frage nach der Glaubwürdigkeit. Theophanie und Sprache zwischen Hören und Sehen,“ in Glaubensverantwortung im Horizont der „Zeichen der Zeit“, Quaestiones Disputatae , Hg. Christoph Böttigheimer and Florian Bruckmann (Freiburg: Herder, ): .  , Cap. , Z  f: in humanitate sua principium omnis aedificationis sanctae ecclesiae est.

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

kenntnisprozess, auf den hin er geschaffen ist.³⁸⁴ Allerdings sieht Hildegard solche Erkenntnisbezüge auf die praktische Lebensführung in Tugenden hingeordnet, die ihrerseits wieder zum Schmuck der Kirche werden.³⁸⁵ Kirche ist also deswegen das „Land der Lebenden“, weil die Vertiefung religiöser Erkenntnisse Auswirkungen auf das praktische Leben haben soll.

4.3.3.4 „Recta genitura spiritalis vitae“³⁸⁶: Lehre vom geistlichen Leben Vor dem Hintergrund der Betonung von Leben, Lebendigkeit und Lebensnähe entfaltet sich in dieser Visio eine Lehre vom geistlichen Leben. Dies soll hier erstens anhand der dementsprechenden Zuspitzung des Lebensbegriffes gezeigt werden, zweitens anhand von Aussagen zum Heiligen Geist, drittens anhand der Aufreihung von im Textbereich genannten Kernbegriffen der geistlichen Theologie und abschließend anhand der Zielvorstellung vom frohen Leben. Eigentliches, höheres Leben³⁸⁷ ereignet sich im ewigen Leben (aeterna vita).³⁸⁸ Das gegenwärtige, weltliche Leben (saecularis vita)³⁸⁹ ist von Instabilität³⁹⁰ geprägt. Doch schon hier kann anfanghaft von Gott verheißenes, neues Leben (aliena vita)³⁹¹ entstehen. Daher verspricht das geistliche Leben, in dem man in der Grünkraft der Seele Gott anhangen will,³⁹² schon hier Freude.³⁹³ Das geistliche Leben, das auch mit dem antiken Topos des engelgleichen Lebens (vita angelica) bezeichnet wird, ist gemäß der Sichtweise der benediktinischen Autorin von Gott³⁹⁴ in den zwei Modi der vita activa und der vita contemplativa geschaffen.³⁹⁵

 , Cap. , Z  f: Deus hominem in ecclesia ad agnitionem divinitatis suae creavit.  Der in der vorherigen Anmerkung zitierte Satz wird weitergeführt: , Cap. , Z  – : …ut in anima sua caelestes virtutes operari cum suspiriis animae possit, cum quibus ecclesia gemmis virtutum ornata est.  , Cap. , Z  – : Filius namque Dei, . . .rectam genituram spiritalis vitae docuit, ita ut homo seipsum constringat et sanctificet, et sic vivendo angelicam conversationem habeat; quia idem filius Dei humanitate sua hominem liberavit et ad superna gaudia reduxit.  , Cap. , Z  f: qui divinam legem semper ruminantes et se totos ad supernam vitam erigentes.  , Cap. , Z  f: in amore aeternae vitae factus est fides; , Cap. , Z  f: vitam quoque aeternam in beatitudine indeficientem possidebit; , Cap. , Z  f: Filius Dei fidelibus suis vitam aeternam promittens.  , Cap. , Z : in angustia animae in saeculari vita.  , Cap. , Z  f: et omnes virtutes viventes animae, quae instabili vita persistunt.  , Cap. , Z  f: cum iubilatione laudis ipsi cantant, quia etiam ad alienam vitam cum suspirio animae semper anhelant.  , Cap. , Z  f: Tota viriditate animae 〈homo〉 ad Deum firmiter anhelet.  , Cap. ,  f: qui cum delectatione spiritalis vitae bona opera operantur.  , Cap. , Z : quia ipse constitutor utriusque vitae est.  Wieder im Bild der Unterscheidung durch das firmamentum: , Cap. , Z  – : Sic discretio firmamentum est, terrena, id est activam vitam, sub se, caelestia autem, id est contemplativam vitam, super se habens.

4.3 Die ekklesiologische Auslegung von Gen 1

237

Geistliches Leben entfaltet sich in der Aufnahme des Heiligen Geistes, bei der die innere Bereitschaft des Menschen eine Rolle spielt.³⁹⁶ Nur dann kann sich eine Art innerer Ansprache durch den Heiligen Geist entwickeln.³⁹⁷ Vor diesem Grundverständnis der Einwohnung Gottes im Heiligen Geist gemäß der inneren Disposition des Menschen werden verstreut über die Visio mittels entsprechender Kernwörter aus der geistlichen Theologie Hinweise für zumeist affektive Erfahrungsformen des geistlichen Lebens gegeben. Gemäß einer Stileigentümlichkeit Hildegards sind sie zuweilen in einer Kombination durch Attributverbindungen übereinander geschichtet. Jene Kernworte seien hier im engeren Kontext aufgereiht: amplexus: beatitudo:

in amplexu verae dilectionis (, Cap. , Z ) munimenta beatitudinis, scilicet celeste desiderium et salvatio animarum (, Cap., Z  f) desiderium: in semetipsis recto desiderio bonum semen generis suo in verbo meo habentes (, Cap. ,  f.); quantam possiblitatem homo desideria animae operari habeat (, Cap. , Z  f) dulcedo: in dulcedine Spiritus Sancti, quia in homine ipso locus domus suae fulget. (, Cap. ,  f.) gustus: gustum verae fidei (, Cap. , Z ) imitatio: in coelesti militia imitatoribus Christi effectis (, Cap. , Z ) suspirare: suspirare, orare, flere ad Deum, et Spiritum Sanctum in adiutorum suum advocare (, cap. , Z  f) virtus: de virtute in virtutem ascendendo (nach Ps , : , Cap. , Z  f; , Z )

Geistliches Leben soll in die Freude münden: Dies gilt für Hildegard sowohl für den Ausblick auf das ewige Leben³⁹⁸ als auch für das hiesige religiöse Leben,³⁹⁹ das in der Aufnahme des Heiligen Geistes in Heiterkeit (in hilaritate mentis) geführt werden kann.⁴⁰⁰

 , Cap. , Z  f: quia Spiritui Sancto habitaculum in semetipsis non concedunt; , Cap. , Z  f: Spiritum Sanctum in habitaculum cordis sui non recipit; , Cap. , Z : necnon Sancti Spiritus dona sibi non dissentiunt.  , Cap. , Z  – : Deus in dilatatione cordis homini interdum loquitur. Quomodo? In dulcedine Spiritus Sancti, quia in homine ipso locus domus suae fulget. Die Wendung dilatatione cordis spielt auf die Regula Benedicti an (Regula Benedicti. Die Benediktsregel, lateinisch/deutsch, Hg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz (Beuron: Beuroner Kunstverlag, ), Prologus , ), ist aber von Hildegard noch stärker in einen pneumatologischen Kontext gerückt.  , Cap. , Z : Et ad caelestia gaudia tandem transibit; , Cap. , Z : in quibus etiam viventibus cytharis gaudebit; , Cap. , Z : in coelesti gaudio.  , Cap. , Z  f: quemadmodum cum servus laeto animo praecepta domini sui perficit; , Cap. , Z  f: felicitatem illam, quam per eandem fidem consequentur.  , Cap. , Z  – : Et sic in homine omnia haec per admonitionem Spiritus Sancti fiunt, quam ipse in hilaritate mentis suscepit.

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

4.4 „Im Lebensbuch des Lammes“:⁴⁰¹ Die irdische Kirche zwischen Schmerz und prophetischer Verheißung über die Heilung des Lebens in der Visio LDO III,5 4.4.1 Formale und inhaltliche Strukturen 4.4.1.1 Kirche in Leid und Verheißung durch das Buch des Lebens Die Visio LDO III,5 wurde zur Analyse unter dem Aspekt der Anschauung vom Leben ausgewählt, weil sie die letzte Visio der Visionstrilogie darstellt, ehe ein Epilogus das Werk beschließt. In jenem wird noch einmal auf die Entstehungssituation und die Produktionsbedingungen eingegangen. Sein letztes Wort, und somit der letzte Ausruf der ganzen Visionstrilogie ist das Verb „freuen“ (gaudeant), näherhin die Freude im himmlischen Jerusalem.⁴⁰² Anhand dieser Visio kann gezeigt werden, wie der Begriff des Lebens das Visionswerk abrundet, indem er Kerngedanken einer pneumatologischen Erkenntnistheorie und der Kirchenkritik durch die Metaphern vom „Kreuzesbaum des Lebens“ (lignum vitae) und vom „Buch des Lebens“ (liber vitae) zusammen fasst. Diese Bezüge auf symbolischer und inhaltlicher Ebene sollen in diesem Kapitel entfaltet werden. Zur Anmahnung einer Reform der Kirche beschwört die Autorin zudem wieder das Ideal einer regeneratio spiritus et aquae (Joh 3,15). Die Metaphorik vom „Wasser des Lebens“ identifizierten wir bereits für den Liber Scivias als eine Art „Grundwasserspiegel“ des Werkes:⁴⁰³ Zwar verwendet Hildegard diese Sprachformel für die Erzählung vom Ursprung der Kirche von Gott her. Im Kontext der in dieser Visio verstärkt geäußerten Klagen über den Zustand der Kirche zu ihrer Zeit und gegebenenfalls in der Jetztzeit des Lesers kann aus ihr die Forderung nach einer Reform abgelesen werden. Obwohl in dieser Visio etliche Sprachformeln und Theologumena wiederholt werden, die wir in früheren Kapiteln untersuchten, fällt dennoch ein neuer Ton in einem fast frühgotischen Klang auf: Im Vergleich der ekklesiologischen Visiones aus der Tertia Pars des Liber Scivias und des Liber Divinorum Operum wird eine unterschiedliche Aussagerichtung deutlich: Im Liber Scivias werden entlang der Symbolwelt des Bauens Möglichkeitsweisen eines noch ausstehenden Wiederaufbaues der Kirche empfohlen. Wege dazu repräsentieren die imagines der Tugendfiguren. Hingegen ereignet sich gemäß der abschließenden Visio des Liber Divinorum Operum die Vollendung des Leibes Christi durch das Leid seiner Glieder (Kol 1,24).

 Hildegardis Bingensis Liber Divinorum Operum, CCM , Pars Tertia, Visio Quinta, , Z : in libro vitae agni (nach Ps , ; Apk ,).  , Prologus, Z  f: mercedem etaerne claritatis in coelesti Jerusalem dones, ita quod per te sine fine in te gaudeant. Vgl. den Epilog dieser Arbeit.  Vgl. Kapitel . dieser Arbeit.

4.4 Die irdische Kirche zwischen Schmerz und prophetischer Verheißung

239

Allerdings bezieht sich die Autorin explizit auf die anhand von Tiersymbolen gegliederten ekklesiologischen Aussagen aus dem Liber Scivias. ⁴⁰⁴ Dadurch sollen die Ereignisphasen in der Geschichte der Kirche, die in beiden Werken – im bewussten Verzicht auf eine explizite zeitliche Strukturierung – geschildert werden, in ihren je nach dem Werkkontext unterschiedlichen Sinnspitzen verknüpft werden. Vom Leser wird also eine eigenständige Zusammenschau jener intertextuellen Bezüge erwartet. Gleichwohl liegt der Schwerpunkt im Liber Divinorum Operum auf einer „passiologischen Ekklesiologie“, deren Charakteristika wir noch genauer ausfalten werden und auf einer „prophetischen Passiologie.“ Für letztere dient im letzten Capitulum der Visio die Autorin selbst als Beispiel. Über das Motiv des Leides stehen so Prophetie und Anschauung von der Kirche, die ebenso das Prophetenschicksal ereilt, in einem inneren Zusammenhang.⁴⁰⁵ In der Darstellung durch Hildegard führen sowohl die Kirche als auch Gott-Sohn Klage an Gott-Vater über die Nöte der Kirche. Dadurch erscheint der Gott-Mensch im Vergleich zum Liber Scivias in einer größeren Nähe zur Kirche und zu den Menschen, jedoch in einem gewissen Gegenüber zu Gott-Vater. Die immer wieder im Liber Scivias und im Liber Divinorum Operum beobachtbare Renarratisierung von Grunddimensionen anselmischer Soteriologie – wie iustitia, honor, rectitudo – wird in dem Kontext des Heilsdramas einer leidenden Kirche weitergeführt. So kann es als eigenständigs Theologumenon der Schriftstellerin gewertet werden, soteriologische Signalworte aus der Hochtheologie auf die Heilung der Kirche zu beziehen. Dies wird in den Unterkapiteln 4.4.1.2 und 4.4.2 dargestellt werden. Denn zwei Symbolkreise illustrieren besonders die Gefährdungen der Kirche: Im Kontext der in unserer Arbeit schon öfter angesprochenen Indumentenchristologie zeigt das Symbol des „Kleides“ sowohl die Ausstattung mit der Gnade als auch die Zerissenheit durch innere und äußere Beschwernisse für die Kirche und den einzelnen Christen. Nicht in einer wörtlichen, sondern in einer übertragenen Bedeutung charakterisiert die sogenannte „weibische Epoche“, das tempus muliebre, kirchliche Verfallserscheinungen. So bietet die Analyse dieser Visio Gelegenheit, gängige heutige Vorverständnisse von einem hildegardianischen Frauenbild im Sinne eines Feminismus zu hinterfragen. In der Untersuchung der Visio zeigt sich wiederum das für die Denkweise und den Sprachstil Hildegards typische Phänomen, dass sich tragende Begriffe und der Aussagesinn zentraler Bildmotive wechselseitig überschneiden. Hier verstärkt sich dieser Sachverhalt dadurch, dass sich am Ende der Visio die Autorin selbst als lebendige

 Auf die der Visio III, des Liber Scivias in Anspielung auf Offb , wird je einzeln Bezug genommen: , Cap. , Z ; , Cap. , Z ; , Cap. , Z ; , Cap. , Z .  Vgl. Yves Congar, Die Lehre von der Kirche. Von Augustinus bis zum Abendländischen Schisma, Handbuch der Dogmengeschichte III,c (Freiburg im Breisgau: Herder, ): : „…Hildegard kündigt eine prophetische Epoche an…“, mit einer „charismatischen Kirche“.

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

Figuration der elementaren Aussagen einer prophetischen, geistgetragenen Passiologie darstellt: Die Produktionsbedingungen des Werkes spiegeln die Kerngedanken der Visionsdeutung.

Dadurch ist erklärbar, warum die ganze Visionstrilogie mehrfach von Reflexionen über die Autorsituation umrahmt ist. Wie in Kapitel 2 dargestellt, umschießen nicht nur der Prologus am Beginn des Scivias und der Epilogus am Ende des Liber Divinorum Operum das Werk. Sondern sozusagen als zweite „innere Hülle“ des gesamten Visionswerkes gehen sowohl die erste Visio des Liber Scivias an deren Anfang als auch die letzte Visio des Liber Divinorum Operum an deren Ende noch einmal auf die Art des behaupteten Sehens, Hörens und Schreibens ein. Die dichte innere Verknüpfung von den zuerst entfalteten ekklesiologischen Stellungnahmen mit dem individuellen Autorenschicksal soll durch die Gestaltung von Authentizität als einer im 12. Jahrhundert verfeinerten literarischen Strategie⁴⁰⁶ die Klage über das aktuelle Leid⁴⁰⁷ der Kirche verstärken und umgekehrt die von Hildegard selbst erlebten innerkirchlichen Auseinandersetzungen⁴⁰⁸ deuten.Während Hildegard die damalige Situation einer durch mehrere Papstschismen in sich zerrissenen Kirche mit dem passivischen Ausdruck des Schmerzes belegt, entwickelt der Hildegard-Leser Johannes von Salisbury den Ausdruck einer aktiv mit dem Schmerz ringenden ecclesia militans.⁴⁰⁹ Auch wenn es sich um eine durchaus übliche literarische Strategie handelt,⁴¹⁰ so ist dennoch zu würdigen, wie gut es der Schriftstellerin gelingt, in der Sorge um den Zustand der Kirche sowohl die gemeinschaftlichen Belange als auch das Einzelschicksal von Menschen zu berücksichtigen und hierzu die Wertung aus der Sicht des Gott-Menschen als Haupt der Kirche zu imaginieren.

 Vgl. zu dieser Strategie das Kapitel  dieser Arbeit.  Der kritische Apparat, LDO , weist auf die Interpretation in einem handschriftlichen Fragment hin, dass hier die Verhältnisse unter Heinrich IV. gemeint sein könnten.  Hildegard selbst spricht in einer autobiographischen Passage summarisch von plurima iniuria, freilich topologisch gedeutet als Anlass für ein stärkeres Vertrauen auf Gottes Verheißungen und sein Einschreiten gegen die Gegner der Wahrheit (Vita Sanctae Hildegardis II, , FC , lateinisch und deutsch, Übers. und eingeleitet von Monika Klaes (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ), .)  Johannes von Salisbury, Polycraticus I, (PL ,  B = Joannis Saresberiensis Opera Omnia Vol.III, ed. John Allen, Nachdruck der Originalsausgabe  (Leipzig: Zentralantiquriat der Deutschen Demokratischen Republik, ), ). Vgl. Yves Congar, Die Lehre von der Kirche. Von Augustinus bis zum Abendländischen Schisma, Handbuch der Dogmengeschichte III,c (Freiburg im Breisgau: Herder, ), .  Literarische Muster für die Beschreibung des Schmerzes der Kirche bieten die Moralia in Iob von Gregor dem Großen (Vgl. Michael Fiedrowicz, Das Kirchenverständnis Gregors des Großen. Eine Untersuchung seiner exegetischen und homiletischen Werke, Römische Quartalsschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, . Supplementheft (Freiburg: Herder, ), ).

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Ein Charakteristikum jener letzten Visio der Visionstrilogie ist, dass anhand der Apostel als tragenden Säulen der Kirche Strukturen der religiösen, geistgewirkten Erkenntnis und des Lebens in der Kirche verdeutlicht werden. Es wird eine Art „Apostelallegorie“ vorgeführt. Dementsprechend finden sich gehäuft Aussagen zum Wirken des Heiligen Geistes und zur prophetischen Erkenntnis. Jene Dichte an Äußerungen zur Prophetie gerade in der letzten Visio war wohl eine von mehreren Ursachen, dass Hildegard schon in den ersten Phasen ihrer Wirkungsgeschichte als sogenannte Prophetin missverstanden wurde.⁴¹¹ Dies bezeugt die Auswahl von Passagen aus der Visio, die Gebeno von Eberbach für sein Pentachronon ⁴¹² berücksichtigte. In einer recht geschickten Kompilation von Abschnitten aus den Capitula 8, sowie 10 – 12 der Visio III,5, die von Gebeno mittels der Stichworte der iustitia und des spiritus sanctus ausgewählt wurden,⁴¹³ entstand eine Textcollage, die das Pentachronon in eine neue Textumgebung aus Briefen Hildegards mit eschatologischen Themen stellt. Jenes Kompilationswerk, das im hohen und späten Mittelalter breiter überliefert, kopiert und ausgewertet wurde als der Grundtext,⁴¹⁴ setzt schon am Beginn mit Textzusammenschichtungen aus dem Liber Scivias III,10 und dem Liber Divinorum Operum III,5 ein. Jenes Kompilationsverfahren wirkt wie eine Ausführung der Leseanleitung seitens der expliziten intertextuellen Bezüge Hildegards. Die Kompilation, die sich auf rund 80 Druckseiten auf Texte Hildegards stützt, entstammt also schon auf den ersten Blick einer recht schmalen Textbasis aus dem Gesamtwerk von Visionstrilogie und Briefcorpus. Ineinander verflochtene Textausschnitte aus je einer Vision des Liber Scivias und des Liber Divinorum Operum werden mit etwa 12 Ausschnitten von Texten in Briefform abgerundet.⁴¹⁵ Leitworte für die Auswahl der Textstellen, die in den kompilierten Texten entweder an erster Stelle stehen, oder als semantisches Kernwort fungieren, sind neben iustitia und spiritus sanctus vor allem antichristus und prophetia. Für die Zuspitzung auf einen  Vgl. Michael Embach, „Beobachtungen zur Überlieferungsgeschichte Hildegards von Bingen im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Mit einem Blick auf die Editio princeps des ‚Scivias‘“, in „Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst“. Hildegard von Bingen ( – ), Hg. Rainer Berndt (Berlin: Akademie, ): ; Friedhelm Jürgensmeier, „St. Hildegard, ‘Prophetissa teutonica‘,“ in Hildegard von Bingen ( – ). Festschrift zum . Todestag der Heiligen, Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte , Hg. Anton Ph. Brück (Mainz: Selbstverlag der Gesellschaft für mittelrheinische Kirchengeschichte, ): .  La obra de Gebenón de Eberbach, Edición crítica de José Carlos Santos Paz (Firenze: Sismel. Edzioni del Galluzo, ). Die von dem Editor unter der Universitätsbibliothek Graz verzeichnete Hss. Ms.  (a.a.O., ) entstammt dem Kloster Seckau und entstand im . Jahrhundert. Sie bietet ein Beispiel, wie sich ein Bild von Hildegard als Apokalyptikerin und Prophetin regional, hier in der Steiermark, verfestigen konnte.  Weitere Passagen im Pentachronon bündeln sich um das Stichwort des filius perditionis.  Embach, Beobachtungen zur Überlieferungsgeschichte, .  Vgl. Elisabeth Stein, „Das ‚pentrachronon‘ Gebenos von Eberbach. Das Fortleben der Visionstexte Hildegards von Bingen bis ins . Jahrhundert,“ in „Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst“. Hildegard von Bingen ( – )“, Hg. Rainer Berndt (Berlin: Akademie, ): .

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apokalyptischen Skopos geht Gebeno gekonnt vor, so etwa, wenn er aus den Klagen der Kirche in der Visio LDO III,5 drei sukzessiv hintereinander folgende Wehereden herausschneidet.⁴¹⁶ Hierbei geraten jedoch die Tiefenschichten des Ursprungstextes hinsichtlich des Begriffes des Lebens in johanneischen Bildern aus dem Blickfeld des Lesers des Pentachronon. Folglich kann aus den frühen Rezeptionsstufen gerade dieser Visio ersichtlich werden, wie das differenzierte Gefüge von semantischen Bezügen, in denen Hildegard ihre Anschauung vom Leben ausgestaltet, aus dem Gleichgewicht gerät durch eine selektive Wahrnehmung und durch die stichwortbezogene Eingrenzung von Textpassagen.

4.4.1.2 Bekannte Strukturelemente Bedingt durch den inhaltlichen Schwerpunkt auf Verfallserscheinungen der Kirche und ihrer Revidierung erscheinen wie im Liber Scivias Visio III,10 wieder Wortstrukturen mit der Präposition -re ⁴¹⁷ und der Präpositionalausdruck ad vitam. ⁴¹⁸ Ebenso ist wieder eine Wendungen mit philosophischen Fachtermini über die Aseität Gottes zu beobachten.⁴¹⁹ Insbesondere die von der Aseität und Fülle Gottes ausgehende Zielvorstellung einer ebenso innerweltlichen wie eschatologischen plenitudo, die uns schon aus mehreren Visiones bekannt ist, verdichtet sich, oft ergänzt durch den Nachbarbegriff der perfectio. ⁴²⁰ Die johanneische Metaphorik des Lichtes und daraus resultierend das Symbol des Spiegels (speculum)⁴²¹ ist ebenfalls wieder zu verzeichnen, sei es bezogen auf Christus, dessen Liebe die Welt erleuchtet⁴²² oder bezogen auf den Menschen als Glanz des

 Vgl. die Kapitelüberschriften in La obra de Gebenón de Eberbach,, Z ; , Z ; , Z .  , Cap. , Z  f: illi dies fuerunt, in quibus homines respectum reperationis omnium dolorum habebant; , Cap. , Z : recolligo; a.a.O. Z : recollige.  , Cap. , Z  f: ea quae a transitorio saeculo ad vitam sunt …in melius commutans.  , Cap. , Z : per seipsum aeternaliter subsistens.Vgl. LDO Visio II, , Cap. , dargestellt im Kapitel . dieser Arbeit.  , Cap. , Z  – : quod perfectionis Dei plenitudinem, …, divina ordinatio, ad quaelibet bona directa…, ad omnem iustitiam paratam esse manifestat; , Cap. , Z : ad plenitudinem perfectionis suae perducetur. Im Zusammenhang mit dem weiteren Zielbegriff des gaudium: , Cap. ,  f: plenum gaudium non habentium, cum adhuc in peregrinatione sunt.  Hildegard lässt den Sohn Gott-Vater als paternum speculum anrufen (, Cap. , Z  f: paternum speculum, quod claritas divinitatis est). Zur Spiegelmetaphorik in der theologischen Erkenntnislehre vgl. Kristina Kuhn, „Spiegel,“ in Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Hg. Ralf Konersmann (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ): .  , Cap. , Z  – : ex antiquo consilio Deus homo factus est, in quo caritas ita ardebat, ut totum mundum illuminaret.

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ewigen Lebens, der sich auch in den Märtyrern spiegelt,⁴²³ begründet durch das allen zugängliche Licht des Glaubens.⁴²⁴ Gemäß des zentralen Anliegens eines Einspruches gegen die Verwundungen der Kirche intensiviert sich die Renarratisierung und die konkrete Kontextualisierung in die Lebensverhältnisse der Kirche anhand der anselmischen Zentralkategorien von iustitia, honor und rectitudo. Jene sind schon in der Visio I,2 des Liber Scivias zu beobachten gewesen.⁴²⁵ Hierbei lässt sich die rectitudo dem Motiv des Weges innerhalb des Ternars von Weg,Wahrheit und Leben (Joh 14,6) zuordnen. Rectitudo wird nicht als abstrakter Begriff eingeführt, sondern als das gute Beispiel der Menschen, die ihrerseits dem Beispiel, metaphorisch ausgedrückte den Spuren (vestigia) Christi folgen.⁴²⁶ Fragwürdig ist jedoch, wie sich die Autorin vom soteriologischen Ursprungssinn jener Grundworte entfernt, indem sie jene zur Rechtfertigung sozialer Schranken zwischen freien und Unfreien verwendet.⁴²⁷ Schlüssiger ist es, wenn sie Gerechtigkeit und Rechtheit als Kriterium für kirchliche Regelungen anführt,⁴²⁸ die die Rechte der Kirche schützen sollen.⁴²⁹ Die Wahrung der Gerechtigkeit, sei es durch weltliche oder geistliche Häupter, dient dem ethischen Ideal des honeste vivere. ⁴³⁰ Der Intention der Autorin nach stelle die Ausrichtung an diesem Ideal so etwas wie ein Gewaltenkontrolle dar. In der Formulierung des honeste vivere wird zudem deutlich, wie Hildegard die anselmischen Dimension des honor, der zunächst Gott gebührt und dann deswegen die Strukturen der geschaffenen Welt prägen sollte, ethisierend auf den konkreten Lebensvollzug zurück führt. Für die Analyse des Begriffes vom Leben bei Hildegard folgt daraus, dass unter idealem „Leben“ vor allem der konkrete Existenzvollzug gemäß religiös geprägten moralischen Leitlinien verstanden wird. Trotz einer mitunter einfließenden philosophischen Fachterminologie⁴³¹ wird „Leben“ weniger als spekulativer Begriff denn appellativ als Zielvorstellung für tugendhafte Handlungsweisen gebraucht.  , Cap. , Z  – : sed splendor divinitatis eis resplendet, ita ut in eodem divinitatis splendore innumerabilem multitudinem futuram praevideant. Nam claritas aeternae vitae illis datur, in quo cognoscunt responsum quod ipsis ostenditur.  , Cap. , Z : cum lux verae fidei corda fidelium illustrabit.  Siehe das Kapitel . dieser Arbeit.  , Cap. , Z  – : quatinus omnia itinera hominis in lumine veritatis sint et ut homo vestigia Christi sequens aliis exempla rectitudinis fideliter praebeat.  , Cap. , Z  – : ita scilicet ut quisque ordo in rectitudine sua consistat et etiam liberi ad honorem libertatis suae, et famuli ad debitam servitutem subiectionis suae redeant.  , Cap. , Z  – : iustitiam in cunctis ecclesiasticis constitutionibus, quae Deo placitae sunt.  , Cap. , Z  – : cum eos a rectitudine viarum suarum averterint et omnia iura ecclesiarum per destructionem ad nichilum redegerint.  , Cap. , Z  – : Sed etiam tunc unusquisque rex et princeps ac episcopus ecclesiasticae dignitatis seipsum in alio castigabit, cum alium iustitiam observare et honeste vivere videbit.  Zu dem obigen Beispiel der Umschreibung von der Aseität Gottes ist noch ein weiteres zur inneren Einheit Gottes anzuführen: , Cap. , Z  – : quoniam ipse illa unitas est, quae nullum sibi similem habet, alioquin unitas nominari non posset. Durch das Verfahren einer parallelen Durchsicht mehrer

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

4.4.1.3 Erkenntnis durch Prophetie und Lehre Das erkenntnistheoretische Interesse Hildegards tritt in jeder untersuchten Visio als ein bedeutendes Strukturmerkmal zu Tage. Stets rahmt es inhaltliche theologische Aussagen als Formalobjekt und beleuchtet sie. Jedoch sind die Ebenen von Formalobjekt und Materialobjekt nicht deutlich getrennt, sondern bewusst ineinander verzahnt. Dies ist eines der Beispiele, wie das theologische Gebäude Hildegards zugleich eine Größe im vernetzten Denken und eine Schwäche in der argumentativen Ausgestaltung offenbart: Wenn in der vorliegenden Visio die Erkenntniswege durch Heiligen Geist, Prophetie, Glaube und kirchliche Lehre betont werden, sind dies nicht nur Empfehlungen zur inneren Einsicht in die sich daran anschließenden ekklesiologischen Konzeptionen. Sondern zugleich handelt es sich bei diesen vier Erkenntnisquellen um Theorieelemente der Ekklesiologie, insofern die Autorin alle vier als relevant zum Aufbau der Kirche klassifiziert. Zudem stehen jene vier Größen von spiritus sanctus, prophetia, fides und doctrina in einem inneren Bedingungszusammenhang. Gemeinsam vermitteln sie die Gehalte der Offenbarung, die wiederum in Gott als Wahrheit gründen: Spiritus Sanctus

veritas: prophetia

Filius Dei

fides

Pater: verus Salomon doctrina

Darum fällt in der abschließenden Visio des Liber Divinorum Operum immer wieder das Stichwort der veritas. ⁴³² In einer gewissen, für Hildegard, wie wir anhand von Visio II,2 des Liber Scivias gesehen haben, eigentümlichen Vermischung von immanenter und ökumenischer Trinität beruft sich in der Schilderung der Autorin Gott-Sohn auf seine

Visionen auf wiederkehrende Gesichtpunkte hin ergibt sich also, dass philosophische Begrifflichkeiten und Definitionsmuster auf bestimmte, im Opus Hildegardianum immer wiederkehrende Aussageziele eingeschränkt sind: Aus paränetischen Motiven soll dem Menschen die Übermacht Gottes und seine unüberbietbare innere Geschlossenheit vorgeführt werden.  , Cap. , Z  f: iustitia Deus est, qui veritatem ostendit. Hier ist der Begriff der Wahrheit mit dem der Gerechtigkeit verbunden.

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Rolle gegenüber Gott-Vater, der ein wahrer Salomon (verus Salomon)⁴³³ genannt wird, die Wahrheit darzustellen⁴³⁴ und den Menschen durch den Heiligen Geist⁴³⁵ nahezubringen. Die johanneische Identifizierung von Christus mit der Wahrheit selbst (Joh 14,6) wird hier von der Schriftstellerin prosopographisch redramatisiert: Gott-Sohn als Fürsprecher der Menschen beruft sich auf seinen Vermittlerdienst für die Wahrheit des Vaters, um für die leidende Kirche einzutreten. Obwohl dies in einem narrativen Spannungsbogen vorgeführt wird, handelt es sich hier auf gedanklicher Ebene um eine fundamentaltheologische Verankerung der Lehre von der Kirche, deren Kriteriologie von der Suche nach der Wahrheit Gottes, soweit sie dem Menschen fasslich ist, gewonnen wird. Interessanterweise fallen hier nicht mehr wie in ähnlichen Kontexten des Liber Scivias einschränkende Äußerungen über die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis, sei es auf der naturalen oder der religiösen Ebene. Vielmehr werden eher positiv die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen auf der Ebene der Gnade und auf dem Boden der kirchlichen Lehre hervorgehoben. Denn von diesen Voraussetzungen her können dann Urteile über den Zustand der Kirche und Schlussfolgerungen für ihre Reform gefällt werden. Also wird durch unsere Methode, einzelne Visiones zunächst für sich als Texteinheit zu untersuchen, statt Theorieteile vorschnell in eine visionsübergreifende Synopse überzuführen, ersichtlich, welche Spannbreite von divergenten Wirkungsgraden und unterschiedlichen Wirkungsformen Hildegard der menschlichen Erkenntnis zuschreibt. Man wird neugierig, wie sie jene systematisiert hätte, wenn ihr eine entsprechende philosophische Ausbildung zuteil geworden wäre. Die Einleitung dieses Abschnittes deutete unter 4.4.1.1 bereits an, wie das miteinander verknüpfte Aussagefeld von Erkenntnistheorie und Ekklesiologie mit weiteren Aussageebenen verzahnt ist, die sich nicht immer klar voneinander abzugrenzen: Kirche als Raum des Lebens verhilft, dauerhaft im Buch des Lebens zu stehen. Das Leid der Kirche vervollkommnet das noch ausstehende Leid des Lammes, das gemäß der Bildlichkeit der biblischen Apokalypse (Offb 5,1.6) das Buch des Lebens offenbart. Dies wiederum spiegelt die Autorin mit den Hinweisen auf die Entstehungsbedingungen ihres als geistgewirkt dargestellten Werkes als einer behaupteten Art von pneumatologischer Skripturalität ähnlich der der Bibel.⁴³⁶ Als Urheber, Autor, jener

 , Cap. , Z : omnipotens namque Deus, qui verus Salomon est. Entsprechend werden nicht nur der inkarnierte Logos, sondern der dreifaltige Gott als Subjekte des johanneischen Ternares von Weg, Wahrheit und Leben (Joh ,) markiert: , Cap. , Z  f: Deus, qui via et veritas est.  , Cap. , Z : quia veritas tua sum.  , Cap. , Z  f: claritas flammae Spiritus Sancti sonus verbi est. Hier überlappen sich in der Metaphorik die verbal-akustische und die optische Symbolik.  , Cap. , Z : Scriptura autem quam Spiritus Sanctus dedit non pertransibit. So, wie sie sich hinsichtlich der Geistgewirktheit ihrer Werke andernorts fast schon auf eine Stufe mit dem von ihr als inspiriert angesehen Evangelisten Johannes stellt, so wird die textliche Sicherung des Liber Divinorum

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literarisch niedergelegten Skripturalität wird außerdem im übertragenen Sinn – in Analogie zum Topos vom Buch der Natur⁴³⁷ – die „Schrift“ der Schöpfung, hervorgebracht vom Wort Gottes, identifiziert. Jene Schöpfungsschrift soll dann ins Buch des Lebens (liber vitae) münden.⁴³⁸ Indirekt schwingen so bei allen Stellungnahmen über die geistbedingten Erkenntnisweisen im Erkenntnisraum der Kirche die Erkenntnisbedingungen für einen christlichen Begriff von Leben mit. Im Folgenden seien nun grundlegende Äußerungen über die Rolle des Heiligen Geistes zur religiösen Erkenntnis und über die Prophetie als einer heilsgeschichtlich verankerten und die Deutungstiefen der Bibel prägenden Erkenntnisweise zusammengefasst: Die Weisheitserkenntnis der Menschen vertieft sich nämlich durch den Heiligen Geist.⁴³⁹ So wird Gott zum Lehrer, der die Menschen von innen her weiser macht als die Weisen, die jenen die Weisheit nur äußerlich durch Schrift oder Wort nahe bringen.⁴⁴⁰ Von jener inneren Belehrung durch den Heiligen Geist erwächst das Verständnis, wie die Bibel die Kirche auferbaut, ein Geschehen, das Hildegard mit dem Bild einer Mauer illustriert.⁴⁴¹ Der geistgewirkten prophetischen Erkenntnis kommt je nach dem heilsgeschichtlichen Zeitraum eine unterschiedliche Funktion zu.⁴⁴² Jedoch ist es ein Spezifikum Hildegards, jene nicht als voneinander getrennte Epochen des Heiligen Geistes zu definieren,⁴⁴³ sondern auf die Zusammenhänge aufmerksam zu machen, die im Heilswillen Gottes vorausgeplant sind und durch den Geist den Lesern der Jetztzeit des hildegardianischen Textes als Spannungsbögen der biblischen Heilsgeschichte aufgedeckt werden können. So gelingt es der Autorin, innerhalb eines Satzes die Berufung

Operum von ihr als Bedingung für das Bleiben im Buch des Lebens gefordert: , Cap. , Z  – , Cap. , Z : Unde nullus hominum tam audax sit, ut verbis huius scripturae aliquid augendo apponat vel minuendo auferat, ne de liber vitae…deleatur.  Vgl. Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt (Frankfurt am Main: Suhrkamp, ), .  , Cap. , Z  – : Sed liber vitae qui scriptura verbi Dei est, per quod omnis creatura apparuit et quod omnium vitam secundaum voluntatem aeterni patris, …exspiravit, hanc scripturam …per simplicem et indoctam femineam formam ut sibi placuit mirabiliter edidit.  , Cap. , Z  – , Cap. , Z : ita etiam scientia hominum in sapientia per Spiritum Sanctum accensa proficiebat.  , Cap. , Z  – : Nam in misterio meo eos doceo …, ita ut…sapientoresque scriptis et sermonibus sapientium sint.  , Cap. , Z  – : scientiam aedificationis scripturarum, quas Spiritus Sanctus ad instructionem ecclesiae proposuit et que velut murus magnae civitatis sunt.  Vgl. die Bedeutung der Zeit der alttestamentlichen Propheten für die Erstarkung der Tugenden in , Cap. , Z  f: usque ad dies prophetarum, qui illas 〈dignitates virtutum〉 ita corroboraverunt, ut maximum splendorem usque ad filium Dei darent.  Wie die linear aufeinander folgenden Stufen bei Joachim von Fiore (vgl. Andres Speer, „Joachim von Fiore,“ in LthK  : , sowie Claude Carozzi, Weltuntergang und Seelenheil. Apokalyptische Visionen im Mittelalter, Übers. Eva Moldenhauer (Frankfurt am Main: Fischer, ), ). Zwar lebt Joachim zur gleichen Zeit wie Hildegard. Doch die Wirkungsgeschichte seiner Apokalypseauslegung und Ordensneugründung entfaltet sich erst nach ihrem Tod.

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Adams und die prophetische Voraussicht auf den Gott-Menschen als Erlöser der Menschen als Kausalzusammenhang vor Augen zu stellen: Darstellung verschiedener, miteinander verbundener Heilsmomente und differenzierterer Spannungsbögen der biblischen Heilsgeschichte in einem Satz.

In unserem Beispiel heißt es: Denn der Heilige Geist legte seinem Volk durch prophetische Erkenntnis vor, was in der ersten Berufung, durch die Adam berufen worden war, vorgebildet (praefiguratum) war: Dass der Befreier (liberator) der Menschen kommen würde.⁴⁴⁴

Doch mit der Ankunft des Sohnes ist noch nicht die volle Erkenntnis seiner Göttlichkeit garantiert. Ansatzpunkt zum Nachsinnen, was ihn anders als normale Menschen erscheinen lässt, ist seine sündlose Lebensweise.⁴⁴⁵ Hier kommt also der Begriff des Lebens als Lebensform ins Spiel, durch deren Anschauung prophetische Erkenntnis vertieft und religiöse geistgewirkte Erkenntnis befördert wird. Die innere Verknüpfung verschiedener heilsgeschichtlicher Stadien wird gleichfalls als Linie auf die Zukunft hin ausgezogen: Die Propheten des Alten Bundes künden von der prophetischen Kraft, die später post Christum nach der Beseitigung von innerkirchlichen Fehlhaltungen aufkommen wird.⁴⁴⁶ Diese spätere Zeit ist von Frieden, Gerechtigkeit und Erstarken des Glaubens geprägt.⁴⁴⁷ Es ist also Merkmal prophetischer Erkenntnis, vor dem Hintergrund gegenwärtiger Zeitverhältnisse die zuvor verborgenen Tiefenschichten von Textpassagen der biblischen Propheten zu deuten. Dies entspricht der Aufgabe, die sich die Autorin in der Visionstrilogie stellt.⁴⁴⁸ Bemerkenswert ist, dass sich Hildegard hier auf den durch die Zitation in der Apostelgeschichte pneumatologisch fundierten Vers aus Joel (Joel 2,2) beruft, um, zumindest in der literarischen Projektion auf eine spätere Epoche, das Vermögen zur

 , Cap. , Z  – .  , Cap. , Z  – : Tunc filius Dei humanitate indutus venit, cuius claritatem divinitatis homines videre non poterant, cum eum quasi alium hominem inspicerent; sed tamen ipse in alia via quam homines viverent, scilicet sine gustu peccati, eis se ostendebat.  , Cap. , Z  – : Pax enim illa, quae adventum incarnationis filii mei praecesserat, illis diebus pleniter perficietur, quoniam fortes viri in magna prophetia tunc surgent.  , Cap. , Z : omnem iustitiam in catholica fide.  Hildegardis Liber Scivias, CCM / A, Protestificatio , Z  – : intellectum expositionis librorum, videlicet psalterii evangelii et aliorum catholicorum tam veteris quam novi Testamenti voluminum.

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prophetischen Erkenntnis auf einen größeren Kreis von Gläubigen auszuweiten, statt es nur als gratia gratis data für Einzelne zu werten.⁴⁴⁹ Wie im vorherigen Kapitel unserer Untersuchung blitzt hier unter der Textoberfläche durch, dass sich die Autorin mit heterodoxen Spiritualen-Bewegungen ihrer Lebenszeit auseinandersetzt und daher durchaus dafür Anlass bot, dass sich spätere heterodoxe geistkirchliche Strömungen im Spätmittelalter und in der Neuzeit auf das Opus Hildegardianum beriefen. Für diese Deutung spricht, dass Hildegard darauf verweist,wie die biblischen Propheten, die nachchristlichen geistbewegten, gleichsam „prophetischen“ Deuter der Schriftprophetie und die kirchliche Lehre auf dem Fundament der Apostel zugleich in ein- und demselbem Heiligen Geist wurzeln. Daher ist die nachpfingstliche Prophetie ihrerseits an die kirchliche Lehre zurück gebunden.⁴⁵⁰ Gleichwohl benennt die Autorin ebenso die Bedrohung der religiösen Erkenntnis aus Glaube und Lehre in inskünftigen Epochen der Kirche, die mit jenen einer stärkeren prophetischen Inspiration alternieren: Es werden ein solcher Zweifel (dubietas) und eine solche Unsicherheit (incertitudo) im Glauben der Christen sein, dass die Menschen in Zweifel ziehen, welchen Gott sie anbeten.⁴⁵¹

Auch wenn es sich hier auf der literarischen Darstellungsebene ebenso wie in der Beschreibung von Zeiträumen, die mit prophetischen Geisterfahrungen beschenkt sind, um eine Projektion in die Zukunft handelt, so können hier doch Erfahrungen von Glaubensunsicherheit im 12. Jahrhundert mitschwingen.⁴⁵² Wie in den Symbolbildern von Orten der Leere treffen wir hier auf eine theologische Sichtweise, die den Schwierigkeiten und verschatteten Seiten der christlichen Existenz nicht ausweicht. Trotz aller Betonung der eschatologischen Freude (gaudium) als Zielpunkt des Daseins werden die Kümmernisse und Bedrohungen des Pilgerstandes nicht verharmlost. Gerade in der letzten Visio der ganzen Visionstrilogie nimmt ihre Schilderung breiten Raum ein. Dadurch geben sie einen Blickwinkel auf das Gesamtwerk, der Nüchternheit und deutliche Klage über Missstände nicht ausspart. Die Affektivität, die aus dieser Visio spricht, ist in einem intensiveren Ton gehalten als in den schöpfungstheologischen Visiones der Prima Pars des Liber Divinorum Operum. Sie artikuliert sich als Klage über das Leid der Kirche.

 , Cap. , Z  – : In ipsis etiam diebus multae prophetiae ac plurimi sapientes erunt, ita ut etiam occulta prophetarum et aliarum scripturarum sapientibus tunc ad plenum pateant et filii et filiae eorum prophetent, velut ante multa tempora praedictum est.  , Cap. , Z  – : In eodem quoque spiritu illi prophetabunt, quo prophetae secreta Dei olim annuntiaverunt, et in similitudine doctrinae apostolorum, quorum doctrina supra omnem humanum intellectum fuit.  , Cap. , Z  – : tantaque dubietas et incertitudo in catholica fide Christianorum erit, ut homines in dubio habeant quem deum invocent.  Vgl. Sabina Flanagan, Doubt in an age of faith. Uncertainity in the long twelfth century, Disputatio  (Turnhout: Brepols, ),  sowie die Analyse des Briefes der Mönche von Villers an Hildegard a.a.O.,  – .

4.4 Die irdische Kirche zwischen Schmerz und prophetischer Verheißung

249

4.4.2 Bildsprache Aus der heutigen interdisziplinären Schmerzforschung ist der Begriff eines allumfassenden, „totalen Schmerzes“ jenseits⁴⁵³ der Unterscheidung körperlicher, seelischer und religiöser Verletzungen⁴⁵⁴ bekannt. Ausgehend von den Verwundungen der Kirche als Leib Christi beleuchtet auch Hildegard das Phänomen des Schmerzes (dolor) multidimensional, freilich in religiöser Hinsicht. Diese Fokussierung, die in jener Stärke noch nicht in der benediktinischen Spiritualität angelegt ist,⁴⁵⁵ weist schon in Frühformen gotischer Religiosität hinein. Hierbei nähert sie sich den Sprachformen negativer Theologie in anderen Visiones an, die wir im Zusammenhang mit den Semantiken von Leere, Unsicherheit und Zweifel kennen gelernt haben. Da es um den Schmerz der Kirche⁴⁵⁶ und um den Schmerz Christi als des Hauptes der Kirche geht, versucht die Autorin, ihn unter der doppelten Perspektive des GottMenschen darzustellen, und so gleichzeitig aus einer Sicht von der Ewigkeit her und vom menschlichen Empfinden her. Indem Hildegard den Gott-Menschen gegenüber Gott-Vater Wehklagen über den status ecclesiae aussprechen lässt,⁴⁵⁷ bietet sie, wenn auch im strikten Ausgang von Sachfragen um die Wahrung kirchlicher Ordnungen, einen indirekten Antwortversuch,⁴⁵⁸ wie das Leid der Menschen durch die Doppelperspektive des Gott-Menschen,⁴⁵⁹ der stellvertretend gelitten hat,⁴⁶⁰ bei Gott aufgehoben ist und so auch mit Verwundungen der Weg zum ewigen Leben offen steht.

 Vgl. Manfred Zimmermann, „Schmerz,“ in LThK  : .  Zu verschiedenen Arten und Ebenen des Schmerzes vgl. Adolf Heimler, „Schmerz,“ in Praktisches Lexikon der Spiritualität, Hg. Christian Schütz (Freiburg im Breisgau: Herder, ): .  Jene erwähnt jedoch Formen geistlicher Heilung und thematisiert so das Thema geistlicher Verletzungen und Fehlentwicklungen, so etwa über die Leitidee einer umfassenden cura in der Regula Benedicti ,; ,  , Cap. , Z  – : Ego ecclesia, quae sponsa filii tui, o coelestis pater, esse debui, quamvis modo debilitata sim, ad te, pater omnium, vociferor petens ne differas mihi auxiliari, quoniam membra mea, qui membra filii tui sunt, in destructionem et dispersionem vadunt.  So wird Hildegard also durchaus dem heutigen Votum für eine „theodizee-empfindliche Christologie“ gerecht, wie sie angemahnt wird von Johann Baptist Metz, Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft (Freiburg im Breisgau: Herder, ), . Hierbei kritisiert sie auch weltliche Herrscher (, Cap. , Z  f: a populo quidem honorari volent, sed prosperitatem populi non quaerent) und fordert sie eine Umverteilung kirchlicher Besitztümer an die Armen: pallium subtrahatur et indigentibus detur, ne per inopiam consumantur (, Cap. , Z  f).  , Cap. , Z  f: attendite quod ego, filius Dei et hominis, patri meo vulnera mea ostendo pro vobis. In jenem Capitulum  ist ein fiktiver Trialog entworfen, wie ihn der Gott-Mensch gleichzeitig mit den Menschen und mit Gott-Vater führen könnte.  Jene Doppelperspektive wird an die Menschen durch mehrere Erfahrungsebenen der Offenbarung vermittelt: Neben die Lehre des Sohnes Gottes (doctrina filii Dei in , Cap. , Z ) trat die Anwesenheit in seiner menschlichen Körperlichkeit (praesentia humanitatis corporis in , Cap. , Z ). Jene setzt sich in der aus Menschen gebildeten acies ordinata der verschiedenen geistlichen Stände in der Kirche als seinem Leib fort (, Cap. , Z  – ).

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

Zwar ist die Schriftstellerin zumeist bestrebt, die Darstellung von Hemmnissen für das innere Gnadenleben der Kirche losgelöst von dem Verweis auf konkrete Vorkommnisse während der Abfassungszeit zu gestalten.⁴⁶¹ Doch da es in ihren späteren Lebensjahrzehnten zu einer Verdichtung von Schwierigkeiten für ihre Gemeinschaften kam, zusätzlich zu den äußeren kirchlichen und politischen Wirren,⁴⁶² ist doch zu vermuten, dass jene die textliche Atmosphäre dieser letzten Visio des Visionswerkes mit beeinflussten. Allerdings hebt die Autorin sie bewusst auf eine Ebene von Objektivität, bestrebt, Erfahrungen der Verletzung ekklesialer Rechte und Lebensideale als typische Anzeichen soteriologisch erklärbarer heilsgeschichtlicher Durchgangsstadien zu deuten. Eine ähnliche Verobjektivierung von äußeren Geschehnissen, die Schreibanlässe ihrer Korrespondenten gewesen sein mögen, lässt sich für das Briefcorpus konstatieren.⁴⁶³ Die Schilderung von Beschwernissen für die Kirche⁴⁶⁴ drückt sich in der vorliegenden Visio insbesondere in zwei Sprachbildern aus, dem Metaphernkreis der Bekleidung (vestis) und dem Qualitätsurteil einer „weibischen Zeit“ (tempus muliebre). Jene sind zwar keine direkten Sinnbilder für die Anschauung Hildegards vom Leben, aber ex negativo für dessen Fehlformen. Daher seien sie im Folgenden kurz erläutert.

4.4.2.1 Kirche in Verfallsepochen einer „weibischen Schwäche“ (muliebris debilitatis) Freilich wäre es ein Missverständnis, die Charakterisierung einer Epoche kirchlicher Verfallserscheinungen als muliebris debilitas ⁴⁶⁵ unzutreffend wörtlich zu verstehen im

 , Cap. , Z  f: Pater vide: vulnera mea tibi ostendo; , Cap. , Z  – : Pater, quoniam ego filius tuus sum, vide ea caritate qua me in mundum misisti et considera vulnera mea, quibus praecepto tuo hominem redemi; , Cap. , Z  – : Quotienscumque enim omnipotens pater pravis operibus hominum irritator, filius eius ipsi vulnera sua ostendit, videlicet ut propter illa hominibus parcat.  In einem eher allgemeinen Ton ist von einer Verletzung kirchlicher Rechte und Ordnungen innerhalb einer hinfälligen Welt (cadux mundus in , Cap. , Z ) die Rede: , Cap. ; Z  f: Raptores etiam ecclesiarum sunt; , Cap. , Z  f: Ecclesiasticas quoque disciplinas quampluribus vanitatibus et inmundiciis polluent; , Cap. , Z : omnia ecclesiastica instituta conturbans.  Vgl. den Überblick bei Gaston Castella, Von Petrus bis zur Wiedererneuerung der katholischen Kirche, Bd., Papstgeschichte, aktualisierte und erweiterte Ausgabe (Frechen: Komet, ),  – . In die Endphase der Konzeption des Liber Divinorum Operum fallen zum Beispiel Ermordung und Heiligsprechung von Thomas Becket.  Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen. Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Erudiri Sapientia IV (Berlin: Akademie, ), .  Im Bild der schwankenden Arche Noach: , Cap. , Z  – : Quod bene per archam Noae insinuare videtur. Significat enim ecclesiam in praesenti saeculo temptationum variarum impulsibus fluctuantem.  , Cap. , Z  – : ad dies istos, qui quasi in muliebri debilitate a fortitudine sua descenderunt; , Cap. , : Ante finem autem dierum horum, muliebris scilicet debilitatis; , Cap. , Z  f: dies isti muliebris debilitatis. Bei allen Textbelegen ist also die muliebris debilitas bestimmten Zeiträumen (dies) zugeordnet.

4.4 Die irdische Kirche zwischen Schmerz und prophetischer Verheißung

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Sinne einer Diskriminierung von Frauen. Ist doch ebenso die Kirche selbst, um deren Würde und Wiederauferbauung es geht, als weibliche Person figuriert, die im tempus debilitatis in Gefahr ist, zu einer Witwe (vidua) zu werden.⁴⁶⁶ Jene Äußerung spielt zugleich auf die Metaphorik von der Kirche als Braut Christi an wie auf die Mahnung der alttestamtentlichen Propheten zum Schutz der Witwen und Waisen (Jes 1,17; Jer 7,6). Gleichwohl finden sich gerade im textlichen Umfeld jener nur im übertragenen Sinn zu verstehenden Aussagen Hinweise auf Hildegards Verständnis von Mann und Frau auf der naturalen Ebene. Jene werden speziell als Bilder für das Verhältnis der Seele zu Gott verwendet: Einerseits sei die verheiratete Frau dem Mann klar untergeordnet, so wie die Menschen Gott zu gehorchen hätten.⁴⁶⁷ Andererseits ist die Frau, die sich für ihren Mann schmückt, ein Symbol für den Menschen, der sich bemüht, sich in seiner Seele mit der caritas zu bekleiden.⁴⁶⁸ In diesem Textbeispiel überschneiden sich die beiden Motivkreise von tempus muliebre und vestis.

4.4.2.2 Zur Kleidsymbolik Die Bekleidung dient deswegen zum symbolischen Ausdruck sowohl von Gottesnähe durch Begnadung und Ausübung der Tugend als auch des Zerissen-Werdens im Leid, weil durch ihren jeweiligen Zustand verschiedene heilsgeschichtliche Ereignisse und individuelle religiöse Verfasstheiten vorgestellt werden können. An imagines von Tugenden und Lastern im Liber Scivias und im Liber meritorum Vitae entwickelte sich jener Symbolkreis zu einer differenzierten Bekleidungsallegorese. Hier gebraucht Hildegard sie nun in vereinfachter Weise, konzentriert auf das Grundsymbol des Kleides, ergänzt durch die Explizierung des Symbolwertes einiger weiterer Bekleidungsstücke. Wie bereits angedeutet vertiefen sich jene Symbolisierungsverfahren durch ihre christologische Ableitung aus der Indumentenchristologie.⁴⁶⁹ Jenseits eines theologischen Verweisungssinnes könnte die Symbolwelt der Kleidung als Symbol des Symboles auf literarische Verfahrensweisen einer Einkleidung in bestimmte Wortbilder hindeuten.⁴⁷⁰ Hildegard jedoch verwendet sie eingegrenzter,

 , Cap. , Z : in eis ecclesia desolata est quemadmodum vidua.  , Cap. , Z  – : Quemadmodum enim mulier viro subdita est…sic etiam homines praecepta Dei per me deberent audire eisque oboedire. Derartige Textbefunde werden völlig übersehen seitens einer feministischen Hildegardauslegung, so z. B. bei Claudia Kolletzki, „,Wehest Weisheit in ihn und mit der Weisheit die Freude‘. Hildegard von Bingen in der Praxis von feministischer Frauenbildungsarbeit und Liturgie,“ Meditiation  (): .  , Cap. , Z  – : Mulier quoque ad honorem et ad gloriam mariti sui se ornat et ut ipsi tanto puchrior esse videatur. Et per hoc homo cognoscat qualiter animam suam coram summon rege ornare debeat, quia cum homo caritatem habuerit, vestem auream sibi induit.  , Cap. ,  – : ita et ipse indumentum suum sine omni sudore peccati a virginitate tulit.  Vgl. Julia Bertschick, „Kleidung,“ in Metzler Lexikon literarischer Symbole, Hg. Günter Butzer and Joachim Jacob (Stuttgart: J.B. Metzler, ): .

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

hinsichtlich der Menschheit Christi als Gewand seiner Gottheit,⁴⁷¹ hinsichtlich seines letzten historischen Gewands als Bild für Kirche, die Spaltungen und Häresien ausgesetzt ist,⁴⁷² hinsichtlich den im übertragenen Sinn als Gerechtigkeit⁴⁷³ zu verstehenden „Sandalen“ Pauli und seiner Anhänger, mit denen er die Straßen der frühen Kirche durcheilt habe⁴⁷⁴ und hinsichtlich des geistlichen Gewandes innerhalb der Ordnungen der Kirche. Auch mit dem Bekleidungsstück der tunica wird die in der Sprecherzeit des Textes bedrohte iustitia für die Kirche symbolisiert.⁴⁷⁵

4.4.3 Geheiltes Leben in dauerhafter, freudiger Zugehörigkeit zu Gott 4.4.3.1 Der Begriff des Lebens in der abschließende Visio der Visionstrilogie Zwar wird in der letzten Visio der Visionstrilogie durchgehend auf den Begriff des Lebens angespielt. Doch erscheint er, obwohl er mit den ekklesiologischen Grundanliegen dieses Textes innerlich zusammenhängt, nur noch in kurzen Seitenbemerkungen. Er wird nicht mehr ausführlicher entfaltet. Hierbei artikulieren sich etliche systematisch-theologischen Bezüge, die aus den anderen untersuchten Visiones bekannt sind. Sie erweitern sich um einen passiologischen Akzent in der Erwähnung des lebensspendenden Kreuzesholzes⁴⁷⁶ und seiner Fortführung im lebendigen Opfer.⁴⁷⁷ Sie münden in die Heilszusage des Bewahrtwerdens im Buch des Lebens, die wir im nächsten Abschnitt (4.4.3.2) darstellen werden. So überwiegt neben der Kennzeichnung von Leben als mit Gott identischen Attribut⁴⁷⁸ eine soteriologische Zuspitzung⁴⁷⁹ im Stichwort der Heilung⁴⁸⁰ (curatio) und

 Aus der Rede von Gott-Sohn zu Gott-Vater: , Cap. , Z : carne vestiens me.  Im Anschluss an das Zitat von Ps , aus der literarischen Perspektive von Gott-Sohn: , Cap. , Z – : Increduli per multam stragem infidelitatis divident secundum voluntates suas ordinationes saecularium dignitatum et operationum, quibus velut vestimentis in ecclesia indutus fueram; atque super hos, qui quasi vestis mea in spiritali vita mihi viciniores erant, mittem quamplurimas vanitates.  , Cap. , Z  f: Tali modo iustitia ab apostolis vestita erat.  , Cap. , Z  – : ipse quoque calciamenta iustitiae ex purpureo serico faciebat…cum plus omnibus condiscipulis suis per vias ecclesiarum discurrendo laboraret.  Aus der Mahnrede der Gerechtigkeit, , Cap. , Z : Tunica quoque mea pulvere terrae aspersa est; , Cap. , Z : Quapropter et tunicam meam pulvere peccatorum maculant.  , Cap. , Z : Viride quoque lignum illi dies fuerunt, in quibus homines respectum reparationis omnium dolorum habebant.  , Cap. ,  f: Nobis autem ut vivum et spiritale sacrificium offeremus indixit (nach  Petr ,).  , Cap. ,  f: Nam Deus solus vita est omnisque anhelitus et omne quod vivit per illum movetur. (Ähnlich in , Cap. , Z : Deum vivum.) Auch das Bild von Gott als „lebendigem Feuer“ wird wiederholt: , Cap. , Z : ipseque Deus ille vivens ignis est. , Cap. , Z  f: Et Deus ignis et vivens spiritus est.

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Wiederherstellung (regeneratio), im uns schon aus mehreren Visiones bekannten Sprachbild der „Erfrischung in Geist und Wasser“ (regeneratio spiritus et aquae).⁴⁸¹ Daher wird für eine neue Lebensweise entsprechend eines geheilten neuen Lebens, entsprechend der aliena vita ⁴⁸² geworben, in der ein „Appetit“⁴⁸³ am geistlichen Leben (vita spiritalis)⁴⁸⁴ gewonnen werden kann. Jenes ist geprägt von den inneren Grundhaltungen der Ausrichtung auf Gott⁴⁸⁵ und der Offenheit für die Einwohnung Gottes in der Seele durch den Heiligen Geist.⁴⁸⁶

4.4.3.2 Die Metaphorik vom Buch des Lebens Geschickt verbindet Hildegard in der Metaphorik vom „Buch des Lebens“ eine Antwort auf die klagende Frage wegen der Leiden der irdischen Kirche mit einem Hinweis, auf welcher Ebene die Intention ihrer Visionswerke anzusiedeln wäre. So mündet die Visionstrilogie dann abschließend in eine Verdeutlichung ihrer Auffassung eines christlichen Lebensbegriffes.  Ausgedrückt im Signalwort der salus vitae (, Cap. , Z  f: salutem vitae consequuntur, quam nemo praeter Deum dare potest).  , Cap. , Z : et ut tempus curationis tempus casus ad meliora perduxit.  , Cap. , Z : ecclesia per regenerationem spiritus et aquae de me orta est.  , Cap. , Z  – : Sed cum homo alienam vitam desiderat, quae contra concupiscentiam carnis est, anima celeri itinere illam apprehendit et perficit, quia toto desiderio illam in semetipsa gustat. Hier begegnen zwei weitere bekannte Elemente der hildegardianischen Sprach- und Denkwelt: Dualismus, demzufolge die Körperlichkeit vom eigentlichen Leben wegführe, sowie das Grundwort des desiderium.  In Anspielung auf die hildegardianischen Metaphoriken von cibus und gustus vitae: , Cap. , Z  f: cum ardenti fide velut ad convivium properantes.  , Cap. , Z .  , Cap. , Z  f: ut homo omnem intentionem cordis sui in verum solem figat.  „Leben“ und „Wohnen“ im äußerlichen Sinn des Sich-in-der-Welt-Verhaltens und im innerlichen einer wechselseitigen Immanenzformel werden hier parallelisiert, wobei sich das pneumatologische Grundverständnis von „habitare“ durch den weiteren Kontext ergibt: , Cap.  – : Deus meus es tu, illud igne Sancti Spiritus laudes suas ad multiplicandum accenderet…homo autem per fidem cum Deo habitat. Die Passagen von dieser und der vorherigen Anmerkung geben Aufschlüsse auf das Verständnis von Spiritualität bei Hildegard, von einer Verinnerlichung, die geistgewirkt ist. Jene drückt sich hier in einer schlichten Formel vom „Wohnen des Menschen mit Gott“ aus, die, ausgehend vom anthropologischen Grundvollzug des „Wohnens“ einem weiteren Leserkreis veranschaulichen kann, wie sich geistliches Leben quer durch alle kirchlichen Stände verwirklichen kann. Daher kann entschieden der These widersprochen werden von Axel Beelmann, „Wohnen,“ in Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Hg. Ralf Konersmann (Darmstadt3: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011): 553, dass das christliche Denken „…der Wohnmetapher keine Chance…“ gelassen hätte. Dogmatische Denkmöglichkeiten und Begründungsgänge für das Theologumenon einer Einwohnung Gottes im Menschen entfaltet Michael Schmaus, Vom Geheimnis des in uns wohnenden Gottes (Wiesbaden: Credo, 1953). Er leitet aus ihr angesichts der Gegebenheiten der Nachkriegszeit das Tiefenfundament einer tragfähigen „gesellschaftlichen Zukunftsordnung“ ab. (a.a.O., 62).

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Die Symbolik vom „Buch des Lebens“⁴⁸⁷ entnimmt Hildegard der biblischen Apokalypse.⁴⁸⁸ Zugleich ist sie ein Ursymbol der universalen Schriftkultur,⁴⁸⁹ entfaltet in allen Religionen, die sich auf heilige Schriften beziehen.⁴⁹⁰ Auch im Liber Scivias wird der Bildkreis vom Buch des Lebens erwähnt.⁴⁹¹ Im Liber Divinorum Operum finden sich solche Hinweise vor allem in den Schlusskapiteln der letzten Visio. In ihnen überlappt sich die Visionsdeutung mit einer letzten Schilderung der Entstehungssituation des Werkes, die an der biographischen Situation der Autorin personalisiert wird: Aber das Buch des Lebens (liber vitae), das die Schrift (scriptura) des Wortes Gottes ist, durch das alle Kreatur erschienen ist, und das das Leben von allem gehaucht hat gemäß dem Willen des ewigen Vaters, wie er es in sich im Voraus angeordnet hat (praeordinaverat), hat diese Visionsschrift hervorgebracht (edidit), nach seinem Wohlgefallen, auf wunderbare Weise, nicht nach einer Lehre des menschlichen Wissens, sondern durch eine schlichte und ungelehrte weibliche Gestalt (per simplicem et indoctam femineam formam).⁴⁹²

Das Buch Hildegards wird also in das biblische Bild des „Buch des Lebens“ eingeordnet. Jenes wird mit dem Text des Logos identifiziert. Menschliches Schöpfertum ist als Ausfluss des trinitarischen Schöpfungswirkens gesehen, in dem die Vorsehung des Vaters, das Schöpfungswirken ad extra des Sohnes und die hauchende Inspiration des Geistes⁴⁹³ zusammen klingen. In den endzeitlichen Auseinandersetzungen besiege daher – nach dem Muster der biblischen Apokalypse (Offb 13,16; 19,20) – die unzerstörbare Schrift des Heiligen Geistes⁴⁹⁴ jene Gegen-Schrift, die sich Lucifer als Signatur seiner Anhänger hatte

 Im . Jahrhundert widmet Thomas von Aquin der Symbolik vom „Buch des Lebens“ eine Abhandlung in seinen Quaestiones de Veritate I, q, indem er die Bildlichkeit des Buches auf der Sachebene nach allen Richtungen hin durchdenkt und sie dann konzin auf wenigen Seiten in der Übertragung auf das Gesamtgefüge der Theologie hin durchspielt. In q wird jene Symbolik als repraesentatio des Lebens selbst erklärt, das letztendlich Christus ist, und zwar als exemplum für das Leben der Menschen. Insofern stellt es etwas Ungeschaffenes dar, das das Leben der geschaffenen Wesen trägt. Daher hängt es mit der Erkenntnismetapher von Gott als Spiegel zusammen.  Allusionen an die Synoptiker werden vermieden (z. B. gemäß Lk ,  – ; vgl. hierzu: Peter Müller, „Verstehst du auch, was du liest?“. Lesen und Verstehen im Neuen Testament (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), ).  Vgl. zur Buchsymbolik im . Jahrhundert den Klassiker von Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter (Tübingen/Basel: Francke, ),  – .  Zum Beispiel im Islam. Darauf macht aufmerksam Annemarie Schimmel, „The Book of LifeMetaphors connected with the Book in Islamic Literatures,“ in The Book in the Islamic World. The Written Word and Communication in the Middle East, Hg. Georges Nicholas Atiyeh (New York: Suny Press, ): .  Hildegardis Bingensis Liber Scivias, Pars Tertia, Visio , , Z  f nach Off ,.  , Cap. , Z  – .  Vgl. die Ausdrücke vivens spiramen (, Cap., Z : eumque viventi spiramine illuminavit) und spiraculum vitae (, Cap. , Z ).  , Cap. , Z : scriptura autem quam Spiritus Sanctus dedit non pertransibit.

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ausdenken wollen.⁴⁹⁵ Dieser Antagonismus auf der Ebene der Skripturalität steht für den diametralen Gegensatz von Leben und Tod.⁴⁹⁶ Denn kreatürliches Leben soll übergeführt werden in das ewige Leben⁴⁹⁷ nach dem Vorbild der Ewigkeit des Wahrheit versprechenden, nicht täuschenden Gottes.⁴⁹⁸ So kann in einem kühnen Oxymeron die Auferstehung das neue „Leben der Toten“⁴⁹⁹ genannt werden. Wie stets im Liber Scivias und im Liber Divinorum Operum wird ewiges Leben als Leben in Freude qualifiziert.⁵⁰⁰ Eine verstärkte Bedeutung gewinnt jene Betonung der Freude im eigentlichen, ewigen Leben nach Schmerz und Leid in der irdischen Kirche dadurch, dass auch das allerletzte, durch die Endstellung betonte Wort des Epilogus, das die gesamte Visionstrilogie von rund 1400 Seiten in den gegenwärtigen kritischen Editionen abschließt, um Freude im himmlischen Jerusalem bittet: Schenke ihnen die Freude der ewigen Klarheit in himmlischen Jerusalem, auf dass sie sich durch dich ohne Ende in dir erfreuen!⁵⁰¹

So ansprechend jene Schlusswendung klingt, so lässt sich dennoch konstatieren, dass die letzte Visio der Visionstrilogie zwar von einer emotiven Affektivität zwischen Klage und Vorfreude auf das Eschaton geprägt ist, aber weniger an systematisch-theologischer Stringenz hinsichtlich des Begriffes vom Leben und von durchkomponierter Sprachkunst aufweist, als die anderen in unserer Untersuchung analysierten Visionen. Die Gründe hierfür mögen vielfältig sein: Innere, durch eigene Erfahrungen begründete Bewegung durch das Thema der Klage der Kirche vor Gott; Erschöpfung als oft kranke 75-jährige gegen Ende des literarischen Lebenswerkes, das dem monastischen Tagwerk abgerungen war;⁵⁰² textliche Einflüsse durch die Mitarbeiter und Redaktoren, die zum Teil sogar namentlich erwähnt werden.⁵⁰³

 , Cap. , Z  – : scripturam in frontibus sequentium se scribi faciet, … atque per eandem scripturam contra baptismum et contra Christianum nomen magica arte eos … infundet, …Hanc autem scripturam Lucifer in se diu habuit.  , Cap. , Z  – : Unde et mors nominatus est, quia vitam fugit, in qua nulla mortalitas invenitur, sed quae omnia vivificat.  , Cap. , Z : tibi…aeternae vitae beatitudinem, quae omne bonum est, ostendam.  , Cap. , Z  f: in aeternitate vitae illius, in cuius ore dolus inventus non est. Bereits im Liber Scivias wird darauf hingewiesen, dass das Leben nur durch die Erkenntnishilfe des Lebens selbst, also Gott, durch lebendige Wesen erkannt werden kann: Hildegardis Bingensis Liber Scivias, CCM / A (Turnhout: Brepols, ), Pars Secunda,Visio , Capitulum , , Z  f:Vita quoque probatur per vitam.  , Cap. , Z  f: resurrectio et vita mortuorum.  , Cap. , Z  f: et gaudium illis qui de praeterita tribulatione malorum liberati erant; Formulierung ex negativo aus der Perspektive des status viatorum: , Cap. , Z  f: plenum gaudium non habentium, cum adhuc in peregrinatione sunt; , Cap. , Z : unde gaudete.  , Epilogus,  f: mercedem aeternae claritatis in coelesti Jerusalem dones, ita quod per te sine fine in te gaudeant.  , Epilogus,  – : quin die et nocte in his quae mihi in eadem visione ostenderentur scribendo laborarem.

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4 Visiones aus dem Liber Divinorum Operum

Mithin besteht ein theologisches und stilistisches Gefälle zwischen dem Liber Scivias und dem ersten Teil des Liber Divinorum Operum einerseits und dieser Endvision andererseits. Freilich wirft deren Schwerpunktsetzung im ekklesialem Leid und in der Klage Christi in Leib und Haupt ein wichtiges Schlaglicht auf einen christlichen Begriff des Lebens, der für das irdische Leben nicht die Probleme übersehen darf, die durch eine Entstellung des inneren Sinnes kirchlicher Ordnungen als Schutzraum einer christlichen Lebensführung entstehen würden.

 u. a. Ludwig, Abt von St. Eucharius in Trier und Wezzelius, Propst von St. Andreas in Köln (, Epilogus, Z . ). Hinter der zweimaligen Wendung per alios sapientes (a.a.O., Z . ) könnten sich durchaus theologisch ausgebildete Berater verbergen, die dann aber eher nur einzelne Formulierungen hätten einfließen lassen, statt den Gesamttext stärker argumentativ durchzustrukturieren. Insofern kann die These von einer „Dynamisierung des Autorbegriffs“ seitens Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen. Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Erudiri Sapientia IV (Berlin: Akademie, ),  nicht uneingeschränkt gelten.

II Auswertungen

5 Linguistische Fazit: Hildegard und ihre Sprache der Theologie 5.1 Sprache und Theologie bei Augustinus und Alanus von Lille In den Analysekapiteln dieser Untersuchung war es ein leitender Gesichtspunkt, wie sich Hildegards Gedankenwelt im Schnittpunkt von Theologie und Sprache analysieren lässt. Die Einzelergebnisse aus der Untersuchung ausgewählter Visiones werden nun zusammen gefasst und an historischen und zeitgenössischen Grundpositionen der Sprachtheorie gemessen. Unbeschadet eines Dialogs mit der modernen Linguistik und Sprachphilosophie gibt es gegenwärtig noch keine „durchbuchstabierte“ theologische Sprachlehre, die auf sämtliche Felder der heutigen systematischen Theologie angewendet wäre.¹ Ferner steht eine gleichberechtigte interdisziplinäre Zusammenarbeit von Theologen und Sprachwissenschaftlern in einer Religiolinguistik oder Theolinguistik erst noch am Anfang.² Dies könnte auch daran liegen, dass die Eigenart religiöser Sprache zu verallgemeinernd von liturgischen Sprachformen abgeleitet wird, wobei menschliche religiöse Rede vor allem als „Makrostruktur des Antwortens“³ charakterisiert wird. Diese Sichtweise würde nur einigen Ausschnitten aus dem Schaffen der Autorin gerecht. Sie verfehlt deren eigentliches Projekt, religiöse Ansichten in der Form einer Gottesrede als genuiner Theo-Logie vorzustellen. Daher ist es lohnend, aus der Theologiegeschichte Bausteine für das „Unternehmen einer theologischen Sprachlehre“⁴ auszuwerten. Jedoch können im Rahmen dieser Arbeit reduktionistisch nur einige Grundtendenzen der historischen Rhetorik und Poetologie genannt werden, die für eine Interpretation des Werkes von Hildegard relevant sind. Eignet der Sprache in sich ein transzendentales Moment, insofern sie dazu dient, sich auf einen anderen hin zu bewegen,⁵ so nimmt Hildegard in ihrer Symbolik Züge einer Transzendentalpoesie vorweg, wie sie später im 18. Jahrhundert intensiviert wurde.⁶ Dies lässt sich weniger an ihren Gedichten in der Sammlung der Symphonia nachweisen, denn an den Symboliken in den Schaubildern und Ausdeutungen der  So das Urteil bei: Thomas Schärtl, Theo-Grammatik. Zur Logik der Rede vom trinitarischen Gott, ratio fidei. Beiträge zur philosophischen Rechenschaft der Theologie  (Regensburg: Friedrich Pustet, ), .  Vgl. Holger Kuße, Kulturwissenschaftliche Linguistik. Eine Einführung (Göttingen: Vandenhoek& Ruprecht, ), .  Vgl. Holger Kuße, Kulturwissenschaftliche Linguistik. Eine Einführung, .  Thomas Schärtl, Theo-Grammatik. Zur Logik der Rede vom trinitarischen Gott, .  Wolfgang Wildgen, Kognitive Grammatik. Klassische Paradigmen und neue Perspektiven (Berlin/New York: de Gruyter, ), .  Albert Meier, „Poetik,“ in Grundzüge der Literaturwissenschaft, Hg. Heinz Ludwig Arnold and Heinrich Detering (München: dtv, ), .

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5 Linguistische Fazit: Hildegard und ihre Sprache der Theologie

Visiones. Sie bergen, wie wir im Analyseteil dieser Arbeit gesehen haben, stets auch einen poetologischen metasprachlichen Sinn. Das Schnittfeld von Grammatik, Rhetorik, Poetologie, Semiotik und Ethymologie, das Hildegard in ihrer klösterlichen Ausbildung vermittelt worden sein mag, wird von etlichen Bezugsgrößen aus Antike und Mittelalter geprägt gewesen sein, wie Cassiodor, Isidor von Sevilla, Donatus, Martianus Capellus. Jedoch ist zu vermuten, dass es eher über kompilatorische Schriften und als Allgemeingut in der mündlichen Unterweisung dargeboten wurde.⁷ Dabei wurde neben theoretischen Stillehren auch der Bibel ein eigener stilistischer Wert als literarisches Vorbild zuerkannt. Dies betonte zum Beispiel Abälard. ⁸ Hier werden wir uns auf zwei christliche Autoren beschränken, die maßgebliches zur Entwicklung und Erprobung einer theologischen Sprachlehre beigetragen haben, die aus der Analyse von Phänomenen der Sprache Theologumena ausdeutet. Daher werden wir zum einen kurz auf die Zeichentheorie von Augustinus eingehen. Zum anderen erfolgen einige Anmerkungen zum Umriss einer Theologiegrammatik bei Alanus von Lille (1125/30 – 1203). Die mittelalterliche Sprachphilosophie versuchte, aus Gesetzmäßigkeiten der Sprache Strukturen der von ihr bezeichneten Wirklichkeit abzuleiten.⁹ Daher spiegelt sich im Verständnis von Sprache bei einem Autor des 12. Jahrhunderts auch sein Verständnis des Seins, so dass Sprache und Theologie in einem dichten Bezugsfeld stehen. Dieser Zusammenhang entstand aus einem augustinischen Kerngedanken: Durch das ganze Lebenswerk Augustins zieht sich die Doppelstruktur von Sache und Zeichen, res et signum. Sie wurde dem aristotelischen Grundlagenwerk De interpretatione (Peri Hermeneias) entnommen und insbesondere in De Magistro und in De Doctrina Christiana ausgefaltet.¹⁰ Dabei stehen Wortzeichen (signa) nicht nur ersatzweise für die Sache (res), die sie vertreten. Sondern in der freien Kombination mit anderen Wortzeichen produzieren sie einen „erkenntniskonstitutiven Sinn.“¹¹ Jedoch bewirken sie nur insofern Erkenntnis,

 Ein Beispiel erwähnt Peter Dronke, „Medieval Rhetoric,“ in Peter Dronke, The medieval Poet and his World, Storia e Letteratura  (Roma: Edizoni di Storia e Letteratura, ),  und , Anm. : Das Breviarum de dictamine des Alberic von Monte Cassino.  Vgl. Elisabeth Gössmann, Antiqui und Moderni im Mittelalter. Eine geschichtliche Standortbestimmung, Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes  (München/Paderborn/Wien: Ferdinand Schöningh, ), .  Vgl. Karl-Otto Apel, „Sprache und Wahrheit in der gegenwärtigen Situation der Philosophie,“ PhR  (): .  Vgl. Jürgen Trabant, Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein (München: C.H. Beck, ), .  Christoph Horn, „Augustinus – Zeichentheorie der Sprache,“ in Klassiker der Philosophie heute, Hg. Ansgar Beckermann and Dominik Perler (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ): , .

5.1 Sprache und Theologie bei Augustinus und Alanus von Lille

261

als sie dem Adressaten zur Wiedererinnerung an den Bedeutungssinn verhelfen, der ihm bereits durch Christus als dem inneren Lehrer (magister interior) innerlich ist.¹² So ist es eigentlich Christus selbst, der vermittels äußerer Zeichen den Menschen zur Verinnerlichung und zur inneren Hinkehr zu ihm bewegen will. Diese Auffassung kann durchaus als Programm für das Opus Hildegardianum verstanden werden.¹³ Er selbst lehrt. Von ihm werden wir auch durch Menschen mit Wortzeichen (signis) äußerlich ermahnt (admonemur), damit wir, innerlich zum ihm bekehrt, belehrt werden.¹⁴

Mithin dient die äußere Sprache der inneren Sprache des Herzens, der lingua cordis. Denn aus einem erkenntnistheoretischem Ansatz einerseits und aus einem heilsgeschichtlichen andererseits unterscheidet Augustinus verschiedene Arten der Sprache jenseits der durch Konvention unter den Menschen vereinbarten Einzelsprachen:¹⁵ Eine mögliche biblische Ursprache, eine Sprache der Wahrheit durch Christus als das innere Wort, eine Herzenssprache¹⁶ und eine Sprache des Geistes, eine Mentalsprache.¹⁷ Auch in der gegenwärtigen Analyse von Sprache seitens der kognitiven Grammatik erhellt sich die konstitutive Bedeutung des mentalen Innenraums: Die „innere subjektive Welt“¹⁸ als „mentale Realität“ ist die tragende Mitte, um auch in der Außenwelt über das Medium der Sprache wirken zu können. Es mag gerade an einer Verschüttung jener inneren Sprache liegen, wenn für die heutige Zeit durch Soziologen wie Hartmut Rosa eine „Angst vor dem Verstummen der Welt“¹⁹ diagnostiziert wird. Welt und Gott können nur von außen her zum Menschen „sprechen“, wenn hierzu das innere Gehör geübt wird. Die Suche nach einer Widergewinnung jenes Dreiklanges von Sprache des Herzinnenraums, der Welt und Gottes könnte eines von mehreren Motiven sein, die die Faszination des Werkes von Hildegard von Bingen für unsere Zeit ausmachen. Für die Deutung des Sprachverständnisses Hildegards ist dies insofern von Belang, als sie durch das Konzept einer christologisch und pneumatologisch vermittelten präverbalen Kernsprache angeregt worden sein könnte, ihre eigene Sprachkraft in den

 Vgl. Jürgen Trabant, Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein, , in Anlehnung an De Magistro : Ille autem, qui consulitur, docet, qui in interiore homine habitare dictus est Christus.  Vgl. Jürgen Trabant, Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein, .  De Magistro .  Vgl. hierzu Christoph Horn, „Augustinus – Zeichentheorie der Sprache,“:  – .  De Trinitate XV, , .  De Trinitate XV, , .  Wolfgang Wildgen, Kognitive Grammatik. Klassische Paradigmen und neue Perspektiven, .  Hartmut Rosa, „Interview mit Svenja Flaßpöhler: Menschen brauchen Extrazeit,“ in Philosophie Magazin  (): .

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5 Linguistische Fazit: Hildegard und ihre Sprache der Theologie

Dienst einer religiösen Verinnerlichung²⁰ des Adressaten zu stellen. Daher werden wir im Abschnitt 5.2 und 5.3 dieses Kapitels aufzeigen, wie die Dichterin stilistische und inhaltliche Entscheidungen getroffen hat, um die Bewegung in eine solche Verinnerlichung hinein in expliziten und impliziten Sprachstrukturen abzubilden. Im 12. Jahrhundert blühten die Poesie und die praktische Dichtkunst auf.²¹ Dies kann aus dem kulturellen Hintergrund erklärt werden, in dem ein symbolistisches Denken mannigfaltige kulturelle Äußerungen prägt. So erläutert Marie-Dominique Chenu: The same men read the Grail story and the homilies of St. Bernhard, carved the capitals of Chartres and composed the bestiaries, allegorized Ovid and scrutinized the typological senses of the Bible, or enriched their Christological analyses of the sacraments with naturalistic symbols of water, light, eating, marriage.“²²

Daher konnte damals die Poetik wissenschaftstheoretisch ebenso der Grammatik wie der Rhetorik zugeordnet werden.²³ Ebenso dürfen die Grammatiklehren dieser Zeit nicht einfach auf ein Grundsystem reduziert werden.²⁴ Gerade das Erlernen stilistischer Muster diente dazu, die dichterische Kreativität anzuspornen.²⁵ Die Bedeutung des Alanus von Lille als eines „Dichterphilosophen“²⁶ für die Poetologie seiner Zeit²⁷ entstand aus seinem Versuch, Philosophie, Theologie und Dichtung zu verbinden.²⁸ Diese Brückenschläge werden gerade durch die Einsicht in den prinzipiellen Unterschied des axiomatischen Anspruches in jenen Disziplinen ermöglicht: Die

 Die anagogische Förderung des christlichen Innenlebens bestimmt Chenu als prinzipielle Intention jeglicher Art einer christlichen Zeichentheorie: „In any Christian conception of „signs“, therefore, the interior life of man, and above all faith, were primary.“ (Marie-Dominique Chenu, „The Symbolist Mentality,“ in: Marie-Dominique Chenu, Nature, Man and Society in the Twelfth Century. Essays on new Theological Perspectives in the Latin West, selected, edited and translated by Jerome Taylor and Lester K. Little (Chicago: The University of Chicago Press, ): ).  Charles Stephen Jaeger, „The Stature of the Learned Poet in the Eleventh Century,“ in Norm und Krise von Kommunikation. Inszenierung von literarischer und sozialer Interaktion im Mittelalter. Festschrift für Peter von Moos, Hg. Alois Hahn, Gert Melville, and Werner Röcke (Münster: Lit, ), .  Marie-Dominique Chenu, „The Symbolist Mentality,“: .  So Elisabeth Gössmann, Antiqui und Moderni im Mittelalter. Eine geschichtliche Standortbestimmung, Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes  (München/Paderborn/Wien: Ferdinand Schöningh, ), ; ferner Max Wehrli, Literatur im deutschen Mittelalter. Eine poetologische Einführung (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ), .  Peter Dronke, „Medieval Rhetoric,“ in: Peter Dronke, The medieval Poet and his World. Storia e Letteratura  (Roma: Edizoni di Storia e Letteratura, ), .  Peter Dronke, „Medieval Rhetoric,“: .  Elisabeth Gössmann, Antiqui und Moderni im Mittelalter. Eine geschichtliche Standortbestimmung, .  Peter Dronke, „Medieval Rhetoric,“: .  Elisabeth Gössmann, Antiqui und Moderni im Mittelalter , .

5.1 Sprache und Theologie bei Augustinus und Alanus von Lille

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Grammatik spielt nach konventionellen, kontingenten menschlichen Regeln, die Theologie gründet auf Grundsätzen mit dem Geltungsanspruch der Notwendigkeit.²⁹ In dem Gedicht De incarnatione Christi ³⁰ führt Alanus von Lille gleichzeitig vor, wie die artes liberales einerseits auf das Christusereignis bezogen sind und wie jenes andererseits ihre jeweiligen Erkenntniszugänge bei Weitem übersteigt. So überbietet es jeweils ihre fachspezifischen Aussageregeln. Dementsprechend prägt der Begriff der regula das Unternehmen von Alanus einer axiomatischen Theologie in den Regulae Theologiae. ³¹ Ihre Leitsätze werden weitgehend aus sprachlichen Distinktionen gewonnen: Wie können Relationen zwischen Schöpfer und Geschöpf zutreffend ausgedrückt werden (Regulae 10)? Welche Prädikationen über Gott sind angemessen (Regulae 18,21,23)? Was kann der Einheit in der Trinität, was kann den einzelnen Personen der Dreifaltigkeit zugeschrieben werden (Regulae 24,48)? Welche Unterschiede gibt es hierbei hinsichtlich unterschiedlicher Wortarten (Regulae 25 – 45)? Hierbei ist unter den Einzelbestimmungen eine Metaregel versteckt: Theologische Rede (sermo theologicus) müsse mit dem katholischen Glauben übereinstimmen, allgemein nachvollziehbar, möglichst eindeutig, unverhüllt und sachangemessen sein (Regula 34).³² Hier handelt es sich um Wahrheitskriterien, um intersubjektiv nachvollziehbar argumentieren zu können. Hingegen stellen die Distinctiones dictionum theologicarum (nach 1179)³³ des Alanus weniger ein theologiegrammatisches, denn ein semantisches Werk dar. Wesentliche biblische Grundbegriffe werden anhand biblischer Zitate knapp nach verschiedenen Bedeutungsebenen aufgeschlüsselt. Als Beispiel für eine Präposition sei hier „ad“ herausgegriffen. Jene Präposition begegnet bei Hildegard immer wieder in der Wendung ad vitam. Dies wäre nach ihrem Zeitgenossen Alanus als eine geistige und auf die Zielursache Gott hingerichtete existentielle Bewegung zu verstehen.³⁴

 Alain von Lille, Regulae theologiae, Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters , lateinisch, deutsch, Übers. und eingeleitet von Andreas Niederberger und Miriam Pahlsmeier (Freiburg: Herder, ),  f, Regeln der Theologie  & : Omnis scientia suis nititur regulis velut propriis fundamentis et, ut de grammatica taceamus quae tota es in hominum beneplacitis….Supercaelestis vero scientia i.e. theologia suis non fraudatur maximis… Et cum ceterarum regularum tota necessitas nutet, quia in consuetudine sola est consistens penes consuetum naturae decursum, necessitas theologicarum maximarum absoluta est et irrefragabilis.  Alanus von Lille, Rhythmus de Incarnatione Christi, PL :  – .  Alain von Lille, Regulae theologiae, .  Alain von Lille, Regulae Theologiae , : Omnis sermo theologicus debet esse katholicus, generalis, usitatus, ab intellectu non dissonus, rei de qua loquitur consonus.  Siehe die Einleitung von Andreas Niederberger und Miriam Pahlsmeier zu: Alain von Lille, Regulae theologiae. Regeln der Theologie, .  Alanus ab Insulis, Distinctiones dictionum theologicarum, PL :  BC: quandoque 〈notat〉 motum mentalem,… quandoque motum finalem.

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5 Linguistische Fazit: Hildegard und ihre Sprache der Theologie

Auf das Aufblühen der Poesie und Poetologie zu Lebzeiten Hildegards folgt bald eine Marginalisierung der Dichtkunst im Bildungsverständnis;³⁵ einerseits, um nicht beides zu vermischen, andererseits weil die Grammatik zunehmend von der Logik bestimmt wird.³⁶ Für eine Annäherung an die Sprachtheologie Hildegards kann man zwei Richtungen wechselseitiger Prägung berücksichtigen: Es geht nicht nur darum, wie theologische Gedankenkerne in eine ihnen adäquate Sprache gekleidet werden, sondern umgekehrt darum, ob sprachliche Mittel Einfluss auf inhaltliche Schwerpunktsetzungen nehmen. Dies ist auch bei anderen Autoren noch ein Manko der Forschung, wie der Literaturwissenschaftler George Steiner anmahnt: Der beständige prägende Druck von Sprachformen, von Stil auf philosophische und metaphysische Konzeptionen ist weniger erhellt worden.³⁷

5.2 Sprachtheologie bei Hildegard 5.2.1 Die unbekannte Sprache Gottes und die Musik des Himmels Hildegard stilisiert ihr Werk als Rede Gottes. Hierbei geht sie nicht naiv vor. Sondern sie markiert die Differenzen zwischen der originären Rede Gottes und ihren mehrfachen Abbildungsstufen in die Menschensprache hin. Darauf weist die Wendung lingua desuper tibi ostensa ³⁸ hin. Der Übersetzungsvorgang von Gottessprache in Menschensprache verläuft in mehreren Etappen:³⁹ Die Rede Gottes wird über bildliche und sprachliche Zeichen

 Elisabeth Gössmann, Antiqui und Moderni im Mittelalter. Eine geschichtliche Standortbestimmung, . So findet zum Beispiel die Poesie im Didascalion des Hugo von St. Victor nur wenig Beachtung (siehe a.a.O., ).  Elisabeth Gössmann, Antiqui und Moderni im Mittelalter, und .  George Steiner, Gedanken dichten, Übers. Nicolaus Bornhorn (Berlin: Suhrkamp, ), .  Ep. , CCM , , zwischen  – : Sed ille, qui sine defectione magnus est, modum parvum habitaculum tetigit, ut illud miracula videret et ignotas litteras formaret, ac ignotam linguam sonaret. Et dictum est illi: Hoc quod in lingua desuper tibi ostensa non secundum formam humanae consuetudinis protuleris, quoniam consuetudo haec tibi data est, ille qui limam habet, ad aptum sonum hominum expolire non negligat.  Jene werden in der Sekundärliteratur oft nur verkürzt dargestellt, weil ihre Schwerpunkte anhand der Illustrationen des Rupertsberger Codex, des Salemer Codex oder des Codex von Lucca interpretiert werden, z. B. bei Anja Lempges and Claudia Sticher, „Wach für die Zeichen der Zeit. Die Visionen der Hildegard von Bingen,“ in Heilige Hildegard von Bingen. Sage und schreibe, was du siehst und hörst! Einblicke in ihr visionäres Werk, Publikationen des Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums Mainz , Hg.Winfried Wilhelmy (Bad Kreuznach: Matthias Ess, ), . Jedoch handelt es sich bei der Dualität von Notizen durch den Autor auf Wachstafeln, die dann Gehilfen auf Pergament ins Reine schreiben, um ein selbstverständliches Verfahren in Antike und Mittelalter. Jene Darstellungen wurden nach dem ikonographischen Muster des schreibenden Evangelisten entworfen (vgl. Andreas Fingernagel, „Das

5.2 Sprachtheologie bei Hildegard

265

vermittelt, die sich von den durch Konvention vereinbarten Zeichen der Menschen abheben. Daher wird sie so, wie sie von Hildegard auf die Schau hin gebildet werden, als lingua ignota ⁴⁰ bezeichnet. Hildegard schreibt über sich als Autorensubjekt in der dritten Person, dass sie diese Sprache als eigenständige Abbildung der in der Schau gezeigten und gehörten Gottesrede selbstständig bildet (formaret, sonaret). Bereits auf der Stufe der lingua ignota handelt es sich also um eine Transformation! Jene bedarf dann einer weiteren Umwandlung in die konventionelle Sprachwelt (ad aptum sonum hominum) hinein. Erst auf einer dritten Stufe würde es um eine Anpassung an rhetorische und poetologische Stilideale im Sinne der grammatici,⁴¹ von denen sie sich zunächst abgrenzt, gehen: () Ursprache Gottes – innertrinitarisch: Christus als vox – (offenbarungstheologische These einer fundamentalen Uroffenbarung) ()* Ursprache Adams im Paradies (die möglicher Weise in einer Art klösterlicher Geheimsprache nachgeahmt wurde)⁴² () Jene wird in einer Audiovision von Gott als Autor gezeigt. ()* Dies lässt eine Art Anamnesis der Autorin in der locutio cordis anklingen. () Um das Erfahrene wiederzugeben und in seiner Alterität als Gottessprache herauszustellen, formuliert es die Autorin in einer Lingua Ignota, die ihr Freiraum für ihre Sprachkreativität als Rezipientin der Audiovision lässt. Unbeschadet ihrer Fremdheit gegenüber dem normalen Sprachgebrauch ist die Lingua Ignota bereits das Ergebnis eines ersten Übersetzungsprozesses. () Jene wird an den konventionellen Sprachgebrauch angepasst ()* Hildegard selbst oder ihre Sekretäre feilen gemäß der Stilkriterien⁴³ ihrer Zeit am Text. Sie fügen theologische Fachbegriffe ein.

Auf den oberen Stufen jenes Transformationsprozesses spielt die eigengestalterische Sprachkreativität eine größere Rolle. Auf den unteren wird jene dann zugunsten der Anpassung an Sprachkonventionen zurückgenommen. Je näher die Autorin also der Ursprache Gottes steht, umso mehr ist sie zu eigenem Sprachschaffen aufgerufen. Daher wird sie gewarnt, sich zu früh an die humana consuetudo anzupassen.⁴⁴ Die

Skriptorium. Schreiben und Malen im . Jahrhundert,“ in Romanik, Bd. /, Geschichte der Buchkultur, hg.v. Andreas Fingernagel (Graz: Akademische Druck- u. Verlagsanstalt, ), ).  Zu dem Projekt der lingua ignota bei Hildegard vgl. die Ausführungen im Kapitel ...., Anmerkung .  Protestificatio , Z  – .  Vgl. Das Kapitel ...., Anmerkung .  Allerdings werden die Schriften Hildegards nicht dem in ihrer Zeit aktualisierten Ideal der brevitas gerecht, wie es etwa in der Ars versificatoria des Matthäus von Vendôme angemahnt wird. (Zu diesem Stilideal siehe Elisabeth Gössmann, Antiqui und Moderni im Mittelalter,  f).  Ep. : non secundum formam humanae consuetudinis protuleris.

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5 Linguistische Fazit: Hildegard und ihre Sprache der Theologie

Audiovision ist so nicht als ein rein passives Geschehen geschildert, sondern als Ermächtigung zur eigenen Sprachgestalt, in der die Verschriftlichung ein Hilfsmittel zur Promulgation im Klang ist. Die Reserve gegenüber der Konventionalität der menschlichen Sprachzeichen ist nicht nur sprachkritisch motiviert. Sondern der Leser und Hörer soll durch die Fremdheitserfahrung dem Inhalt mehr Aufmerksamkeit zuwenden.⁴⁵ Diese Erklärung Hildegards an den Rezipienten kann zugleich als Metareflexion der Autorin gelesen werden, wie sie bewusst – unter Ausschöpfung aller konventionellen Stilmittel – ein „Sprachdesign“ in Form einer Gottesrede kreieren möchte. Es bedarf nicht nur der Sprachkraft, sondern eines sehr entschiedenen Gestaltungswillens und literarischer Energie, dieses Sprachdesign über ein ganzes Lebenswerk hindurch durchzuhalten. In dieser Hinsicht handelt es sich beim Opus Hildegardianum tatsächlich um ein literaturgeschichtlich und theologiegeschichtlich singuläres Phänomen! Freilich sind die theologischen Voraussetzungen für dieses Vorhaben schon bei Augustinus gegeben: Er unterscheidet in De Trinitate ⁴⁶ zwischen einer zeitgebundenen Menschensprache und einer göttlichen Sprache im ewigen Wort. In De Doctrina Christiana erwähnt Augustinus die Möglichkeit einer „nicht-konventionellen Ursprache“⁴⁷ der biblischen Offenbarung. Dabei muss geprüft werden, ob es sich um eine Menschenursprache (lingua adamica)⁴⁸ oder um eine Art Ursprache Gottes handelt. In Antike und Mittelalter entfalteten sich sprachtheoretische Reflexionen zur oben angesprochen Herzenssprache, einer locutio interior, anhand der Diskussion über die Kommunikation der Engel untereinander, über die sogenannte Engelssprache (locutio angelica).⁴⁹ Sie wird zum denkerischen Hintergrund, um dann strikt menschliche Erkenntnisvorgänge im verbum internum davon abzugrenzen. Augustinus nähert sie dem Konzept einer visio mentalis an.⁵⁰ In jener vorsprachlichen und vorikonischen Ebene von geistiger Wahrnehmung gibt es also einen Einheitspunkt, in dem eine von außen

 Vgl. zu diesem Prozess: Peter Rusterholz, „Grundfragen der Textanalyse. I. Hermeneutische Modelle,“ in Grundzüge der Literaturwissenschaft, Hg. Heinz Ludwig Arnold and Heinrich Detering (München: dtv, ): .  De Trinitate , , : simul ac sempiterne omnia. Vgl. hierzu: Josef Wohlmuth, „Sprache. V. Systematisch-theologisch,“ in LThK  : .  Christoph Horn, „Augustinus – Zeichentheorie der Sprache,“ in Klassiker der Philosophie heute, Hg. Ansgar Beckermann and Dominik Perler (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ): .  Vgl. hierzu: Jürgen Trabant, Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein (München: C.H. Beck, ),  – .  Bernd Roling, Locutio angelica. Die Diskussion der Engelssprache als Antizipation einer Sprechakttheorie im Mittelalter und Früher Neuzeit, Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters  (Leiden: Brill, ), .  Bernd Roling, Locutio angelica, .

5.2 Sprachtheologie bei Hildegard

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bewirkte und für den Leser auf einer zweiten Stufe verschriftlichte Audiovision⁵¹ einheitlich erfasst werden kann. Auch Autoren des 20. Jahrhunderts gehen diesen Fragestellungen nach: Romano Guardini führt aus, wie im lyrischen Werk eines Dichters als Seher „eine göttliche Stimme hörbar“⁵² werde. Im Rahmen einer analogen Anwendung strukturalistischer Deutungsweisen in der Theologie⁵³ stellt Günther Schiwy die Frage nach der Möglichkeit einer übersprachlichen „Fundamentaloffenbarung“, die dann in die jeweilige Einzelsprache ausbuchstabiert werden müsste.⁵⁴ Der Auffassung von einer Ursprache Gottes, die ihre geschaffene Abbildung in einer vermuteten paradiesischen Ursprache gehabt haben könnte, korrespondiert die Zielvorstellung des eschatologischen Zusammenklanges. Hier stehen nicht mehr bildliche und sprachliche Zeichen im Vordergrund, sondern musikalische Vorgänge: Jene sind nicht mehr Zeichen mit Verweischarakter auf Offenbarung, wie man auch innerweltliche Musik deuten könnte, sondern echter Vollzug dessen, Realsymbol, was Sprachzeichen und Bilder nur hinweisend und schattenhaft andeuten. Jene Zielvorstellung spielt sich also auf einer anderen Ebene von Realitätsanspruch ab. Da die Sprachschöpfungen in den Liedern Hildegards für den liturgischen Vollzug gedacht waren, teilen sie zwar die Semantik und Metaphorik der Visionsschriften. Sie wollen jedoch als Sprachkunstwerke verstanden werden, die im musikalischen Klang bereits der liturgischen Vergegenwärtigung der gefeierten Heilsereignisse Raum geben. Wenn in den Carmina die schöpferische und heilende vox Christi gepriesen wird, erheben sie den Anspruch, dass sich durch das Erklingen eines solchen Carmen im liturgischen Kontext die beschriebene Wirklichkeit schon anamnetisch oder vorwegnehmend ereignet. Diese Zusammenhänge hatte bereits Origines erläutert: Das stoische Ideal des symphonein to logo kann christologisch als ein Zusammenklingen im Gebet (Mth 18,19) interpretiert werden.⁵⁵ Es ereignet sich, wie auch Augustinus schreibt, im Resonanzraum der Kirche.⁵⁶

 Den Begriff der „Audiovision“ verwendet auch Stefanie Rinke, Das „Genießen Gottes“: Medialität und Geschlechterkodierungen bei Bernhard von Clairvaux und Hildegard von Bingen, Berliner Kulturwissenschaft  (Freiburg im Breisgau/Berlin: Rombach, ), . Allerdings wird er von der Autorin nicht näher erläutert.  Georg Langenhorst, Theologie und Literatur. Ein Handbuch (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), .  Für jene plädiert ähnlich Eugen Biser, Theologische Sprachlehre und Hermeneutik (München: Kösel, ), .  Günther Schiwy, „Strukturalismus und Theologie,“ ThPh  (): .  Origines, comm. in Mth ,  f, PG ,  ff; Vgl. Eugen Biser, Theologische Sprachtheorie und Hermeneutik (München: Kösel, ), .  Origines, comm. in Mth , PG ,  f; Augustinus, in Ps , , PL , . Vgl. Eugen Biser, Theologische Sprachtheorie und Hermeneutik (München: Kösel, ), .

268

5 Linguistische Fazit: Hildegard und ihre Sprache der Theologie

Die patristische Sprachtheologie, die im Hintergrund des literarischen Vorhabens Hildegards steht, nimmt mithin ihren Ausgang in Christologie und Trinitätslehre.

5.2.2 Christus, das innere Wort Im vorchristlichen griechischen Denken wird das Sprachgeschehen phänomenologisch als „Geben und Nehmen des Logos“⁵⁷ untersucht, sei es als Dialog im Familienkreis oder in der Polis. Die christliche Logosmystik, die aus der Exegese des Johannesprologes herauswächst, entfaltet auch eine sprachtheoretische Wirkungsgeschichte.⁵⁸ Kommunikation zwischen Gott und Mensch und unter den Menschen wird ermöglicht, weil Christus als Wort und Stimme, verbum und vox, sowohl aus der Trinität heraus von außen als auch in der illuminatio von innen auf den Menschen wirkt. Die Schöpfungsakte durch Christus werden mit Wort und Klang verglichen.⁵⁹ Hierbei ist es, wie wir weiter unten anhand von Einwürfen von Seiten Ulrich H.J. Körtners sehen werden, diskutabel, ob es sich nur um eine übertragene Redeweise handelt. Denn in der Regula Benedicti und bei Hildegard wird die vox Gottes nicht explizit als Stimme Christi identifiziert, aber mit der Wahrnehmung des göttlichen Lichtes in einen Kontext gestellt.⁶⁰ Zugleich folgt sie jedoch der augustinische Linie von der inneren Ansprache durch Christus als Verbum. Nur jene ermöglicht es, von außen angesprochen zu werden: Das Wort, das außen erklingt ist, ein Zeichen des Wortes, das von innen her leuchtet.⁶¹

Die Dualität von foris und intus, sei es im Erkenntnisvollzug oder in der innerseelischen Christusbegegnung, durchzieht das Lebenswerk Augustins und „…wird zum dominierenden Doppelbegriff in den Confessiones.“⁶² Hugo von St. Viktor greift im Didascalion diesen Grundsatz auf:

 Franz K. Mayr, „Sprache, Sprachphilosophie,“ in Sacramentum Mundi IV: .  Franz K. Mayr, „Sprache, Sprachphilosophie,“ in Sacramentum Mundi IV: .  Dieter Nestle, „Sprache,“ in Praktisches Lexikon der Spiritualität, Hg. Christian Schütz (Freiburg im Breisgau: Herder, ): .  Regula Benedicti, Prolog , lateinisch/deutsch, Hg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz (Beuron: Beuroner Kunstverlag, ), : et apertis oculis nostris ad deificum lumen adtonitis auribus audiamus, divina cotidie clamans quid nos admonet vox dicens. Das hildegardianische Darstellungskonzept ihrer Audiovisionen ist also durchaus aus dem Prolog der Regula Benedicti ableitbar.  Augustinus, De Trinitate XV, , :Verbum quod foris sonat signum est verbi quod intus lucet. Den Hinweis auf diese Passage verdanke ich: Helmut Schnelle, „Sprache. I. Philosophisch u. linguistisch,“ in LThK  : .  Franz Wiedmann, „Die Grundlagen der augustinischen Ontologie,“ PhR  (): . Vgl. Augustinus, conf. VII, , ; ver.rel. , .

5.2 Sprachtheologie bei Hildegard

269

Der geistige Vollzug (ratio mentis) ist das innerliche Wort, das euch durch Klang, das bedeutet, durch das äußerliche Wort, offenbar gemacht wird.⁶³

Das verbum internum begründet also den inneren geistigen Vollzug sowohl auf Seiten des Senders als auch des Empfängers einer Sprachbotschaft. Wenn Hildegard sich in der Protestificatio des Scivias auf die Belehrung durch die „Stimme des lebendigen Lichtes beruft“, die von einer akademischen Schulung zu unterscheiden sei, folgt sie damit einer Beteuerung von Augustinus in den Confessiones: Da würde die Wahrheit zu mir innen sprechen, innen in der Wohnstatt der Gedanken, nicht auf Hebräisch, Griechisch, Lateinisch oder in einem volkssprachlichen Dialekt, ohne das Organ von Ohr und Zunge, ohne das Geräusch der Silben.⁶⁴

Nicht die äußere Welt oder der akademische Diskurs, sondern Christus als das innere Wort wird in der augustinischen Konzeption zum Referenzort des Wissens.⁶⁵ Auch Isaak von Stella (~ 1110 – 1167/69), ein Zeitgenosse Hildegards von Bingen, der mit dem Hildegardkenner Johannes von Salisbury befreundet war,⁶⁶ greift das augustinische Konzept einer Herzenssprache (lingua cordis) auf. In ihr ereignet sich eine innere Erkenntnis, die der äußeren körperlichen Verbalisierung vorausgeht: Was wir nämlich wahrgenommen haben und schon Wissen nennen, ist uns entweder im Mund unseres Herzens (in ore cordis) gegenwärtig, so dass wir mit uns sozusagen gegenwärtig verfügbar sprechen, das heißt nachdenken (cogitemus) oder, besser ausgedrückt, denkend betrachten (meditemur). Wir sehen es innerlich also als etwas geistig Gegenwärtiges… Im Mund des Herzens wird das gegenwärtige Wort geformt, das dann im Mund des Körpers Klang nach außen bringt.⁶⁷

Wo es aufgrund der Komplexität und Überragendheit des Gegenstandes Schwierigkeiten macht, das rechte Wort zu finden, hilft Christus als das Wort, gerade dann, wenn es um die Lehre über ihn als Wort geht: Wenn wir über die unaussprechliche Übernatur (supernatura) oder über das Wort 〈Verbum Christus〉 sprechen, …so gibt es doch kein Wort (verbum), dass zutreffend das bezeichnen kann,

 Hugo von St.Viktor, Didascalion V, : Ratio mentis intrinsecum verbum est, quod sono vobis, id est verbo extrinseco manifestatur.  Augustinus, conf. , , lateinischer Text nach: Augustinus, Bekenntnisse, lateinisch und deutsch, eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart, mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasmück (München: Insel, ), . Übersetzung von mir.  Vgl. Jürgen Trabant, Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein (München: C.H. Beck, ), .  Vgl. Matthias Laarmann, „Isaak von Stella,“ in LThK  : .  Isaak von Stella, Sermo ,, Z  – , in: Isaak von Stella, Predigten II, FC /, eingeleitet von Wolfgang Gottfried Buchmüller, übersetzt von Wolfgang Gottfried Buchmüller und Bernhard KohoutBerghammer (Freiburg im Breisgau: Herder, ), . Übersetzung des lateinischen Textes, der nach SC  abgedruckt ist, von mir.

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5 Linguistische Fazit: Hildegard und ihre Sprache der Theologie

was über ihn zutreffend ausgesagt werden müsste. Doch wenn wir dem Wort 〈Christus〉 selbst folgen, das wie eine Leuchte für unsere Füße wurde,wird er uns in das Haus seines Vaters führen.⁶⁸

Der Autor spielt also bewusst mit dem sprachtheoretischen und christologischen Doppelsinn von Verbum. Ähnlich deutet Bernhard von Clairvaux einen „Advent“ von Christus als Wort in der Seele an,⁶⁹ das sich ohne äußeren Klang ereignet.⁷⁰ Seine Wirkmächtigkeit⁷¹ wird an der Bewegung des Herzinnenraumes des Erzählers erkannt.⁷² Inhaltlich geht es um ein Zurückgerufenwerden, eine revocatio. ⁷³ Von diesen theologiegeschichtlichen Denkzusammenhängen her kann man hinsichtlich der Christologie und Sprachtheologie Hildegards dem folgenden Urteil von Ulrich H.J.Körtner nicht zustimmen: Bei der Redeweise der Wort-Gottes-Theologie von Christus oder dem Christusereignis als Wortgeschehen handelt es sich zweifellos um eine metaphorische Ausdrucksweise. Mit der Interpretation dieses Wortgeschehens als Selbstoffenbarung Gottes wird jedoch gegenüber dem Prolog des Johannesevangeliums nicht nur der Übergang vom Mythos zur Metapher, sondern auch eine theologische Umdeutung bzw. Anreicherung vollzogen.⁷⁴

Körtner behauptet also eine überfremdende Umdeutung des Begriffs vom Logos,wobei unter einer Metapher implizit eine übertragene Redeweise verstanden wird. Das Fazit von Körtner führt zu Anfragen an den Modus des Menschenwortes im Gotteswort in der biblischen Offenbarung: Wenn von Jesus mit einer absoluten Metapher als Wort Gottes gesprochen wird, ist freilich das Verhältnis dieses metaphorischen Wortes zu buchstäblicher Rede im Namen Gottes zu klären.⁷⁵

Bei Augustinus jedoch „…soll es … Christus als das innere Wort sein, der den Menschen von der ‚Knechtschaft‘ seitens der Zeichen zur Wahrheit selbst führt.“⁷⁶ Jedoch verschiebt sich jene Ansicht vom verbum internum im Spätwerk Augustins: ⁷⁷ Nun ist das innere Wort als verbum mentis der Inhalt dessen, was Christus als der innere Lehrer

 Isaak von Stella, Sermo , f, Z  – .  Bernhard von Clairvaux, Sermo , II., in: Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke lateinisch/ deutsch VI, Hg. Gerhard B. Winkler (Innsbruck: Tyrolia, ), , Z  f: Fateor et mihi adventasse Verbum.  Bernhard von Clairvaux, Sermo , II., , Z  f: sed neque per aures 〈intravit〉.  Bernhard von Clairvaux, Sermo , II., , Z : Vivum et efficax est.  Bernhard von Clairvaux, Sermo , II.., , Z  f: ex motu cordis, sicut praefatus sum, intellexi praesentiam eius.  Bernhard von Clairvaux, Sermo , I.., , Z  – : revertere inquit…intempestiva revocatio.  Ulrich Heinz Jürgen Körtner, Gottes Wort in Person. Rezeptionsästhetische und metapherntheoretische Zugänge zur Christologie (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, ), .  Ulrich Heinz Jürgen Körtner, Gottes Wort in Person, .  Christoph Horn, „Augustinus – Zeichentheorie der Sprache,“ in Klassiker der Philosophie heute, Hg. Ansgar Beckermann and Dominik Perler (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ): .  Christoph Horn, „Augustinus – Zeichentheorie der Sprache,“: .

5.3 Hildegards Sprache für eine Theologie des Lebens

271

vermittelt. Unter diesem Aspekt wurde es später „zu einem zentralen Terminus der scholastischen Theorien der […] mentalen Repräsentation“⁷⁸ von Erkenntnisgegenständen. In diesen Theorien, die das innere, präverbale Wort der äußeren Rede vorordnen,⁷⁹ kann eine Relativierung der gleichwohl intensiv geübten Künste von Rhetorik und Poetik gesehen werden. Zur rezeptiven geistigen Durchdringung und zur schöpferischen literarischen Ausgestaltung ihrer Auffassung von Leben bewegt sich Hildegard in einem Dreieck von Wort, Bild und Klang: Das Wort der erklärende Stimme der Audiovisionen dient als das „schaubare Wort“,⁸⁰ nachgebildet dem ähnlichen literarischen Strukturphänomen in der Apokalypse. Umgekehrt äußern sich die Einzelzüge der Visiones als das „sprechende Bild“.⁸¹ Gemäß des Werktitels einer Symphonia deutet Hildegard in ihren Liedern den Zusammenhang zwischen Christus als Wort und Stimme und der menschlichen Sprache in der Form des Erklingens anhand des Stichwortes der vox an. Hier wird, eindeutiger als in den Visiones, Christus als Schöpfer im ersten Schöpfungsruf, der prima vox,⁸² angerufen. Die Carmina, für die der Werktitel der Symphonia gewählt wurde, um ihre eschatologischen Zielbilder eines ewigen Lebens in der Schlussvision des Liber Scivias (Pars III, Visio 13) anklingen zu lassen, nehmen den Vollklang des erlösten Lebens vorweg. In diesem Sinn urteilt der Literaturwissenschaftler George Steiner über den lyrischen Schöpfungsprozess als signum eines neuen Lebens: Ein gutes Gedicht vermittelt einen Neubeginn, die vita nova des Un-Erhörten, Noch-nie-Dagewesenen.⁸³

5.3 Hildegards Sprache für eine Theologie des Lebens 5.3.1 Sprache als Lebenssprache Sprache lebt aus den konkreten Lebensvollzügen heraus. Sie formt sich als Lebenssprache. Daher hängen Sprachformen mit entsprechenden Lebensformen zusam-

 Stephan Meier-Oeser, „Wort, inneres; Rede, innere,“ in HWP : .  Stephan Meier-Oeser, „Wort, inneres; Rede, innere,“ in HWP : .  Eugen Biser, Theologische Sprachlehre und Hermeneutik (München: Kösel, ): .  Eugen Biser, Theologische Sprachlehre und Hermeneutik (München: Kösel, ): .  Hildegard von Bingen, Symphonia. Gedichte und Gesänge, lateinisch und deutsch, Hg. Walter Berschin und Heinrich Schipperges (Gerlingen: Lambert Schneider, ), : O pastor animarum/ et o prima vox/ per quam omnes creati sumus.  George Steiner, Gedanken dichten, Übers. aus dem Englischen von Nicolaus Bornhorn (Berlin: Suhrkamp, ), .

272

5 Linguistische Fazit: Hildegard und ihre Sprache der Theologie

men.⁸⁴ Also gibt es bereits vor den theoretischen Metaebenen von Sprachlehre und Lebenstheologie einen ursprünglichen Zusammenhang von Sprache und Leben. Im faktischen Vorhandensein von Sprache kann nach Eugen Biser bereits ein Akt der Zustimmung erkannt werden: Denn Sprache ist, ganz unabhängig vom jeweils Gesprochenen, von ihrem Wesen her Zusage zum Sein. ⁸⁵

Die Bedeutung einer Theologie des Lebens im Denken Hildegards wird aus der dichten Frequenz von Stichwörtern aus dem Wortfeld von vita, vivus, vivens, vivere und des Neologismus der viriditas ersichtlich. Darauf machte bereits Heinrich Schipperges aufmerksam.⁸⁶ Jenes Wortfeld wird von einem dichten Feld von benachbarten Begleitsemantiken verstärkt: amplexus apparitio curatio dulcedo floriditas gaudium integritas honestas medicus/medicina misericorida mysterium ordo perfectio plenitudo pulchritudo rationalitas regeneratio suavitas veritas

So bilden sich die Konturen eines hildegardianischen Grundwortschatzes zur theologischen Bestimmung von Leben. Noch vor einer theologischen Analyse verdichten sich die Hinweise, dass man hinsichtlich ihrer Lebenstheologie durchaus von einer „doctrina eminens“⁸⁷ sprechen kann.

5.3.2 Grammatikalische Strukturen im Umfeld des Lebensbegriffes Bei der Untersuchung der Anschauung von „vita“ bei Hildegard sind spezifische grammatikalische Strukturen zu beobachten, die regelmäßig wiederkehren. Es lohnt sich, jene im Zusammenhang darzustellen, um so das sprachliche Gerüst einer „Heilsgrammatik“ zu skizzieren. In diesem Abschnitt werden nur Phänomene be-

 Vgl. hierzu Franz K. Mayr, „Sprache, Sprachphilosophie,“ in Sacramentum Mundi IV:  f, sowie Holger Kuße, Kulturwissenschaftliche Linguistik. Eine Einführung (Göttingen: Vandenhoek& Ruprecht, ), .  Eugen Biser, Theologische Sprachlehre und Hermeneutik (München: Kösel, ), .  Heinrich Schipperges, „Erläuterung“ zu: Hildegard von Bingen, Heilkunde. Das Buch von dem Grund und Wesen der Heilung der Krankheiten, Übers. nach den Quellen und erläutert von Heinrich Schipperges (Salzburg: Otto Müller, ), .  Jene ist eine der Voraussetzungen für die Erhebung zur Kirchenlehrerin. (Vgl. hierzu: Karl Lehmann, „Heiligkeit des Lebens und Tiefe der Lehre. Die hl. Hildegard von Bingen als Kirchenlehrerin,“ in Heilige Hildegard von Bingen. Sage und schreibe, was du siehst und hörst! Einblicke in ihr visionäres Werk, Publikationen des Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums Mainz , Hg. Winfried Wilhelmy (Bad Kreuznach: Matthias Ess, ), ).

5.3 Hildegards Sprache für eine Theologie des Lebens

273

rücksichtigt, die für einen theologischen Ertrag relevant sind: Welche grammatikalische Struktur gibt regelmäßig welche religiöse Aussage wieder? Durch dieses Verfahren wird ersichtlich werden, dass sich bei inhaltlichen Schwerpunkten geprägte Sprachformen auf der grammatikalischen, stilistischen und semantischen Ebene überlagern. So entsteht die dichte „Textur“ des hildegardianischen Textes. Die breite Verwendung des Lebensbegriffes bei Hildegard und seine inhaltliche theologische Relevanz kann auch durch eine Analyse der kognitiven konzeptuellen Schemata nach dem Modell von George Lakoff⁸⁸ untermauert werden: Sprachformeln, Redewendungen und Bildvergleiche zur religiösen Auffassung von Leben decken gleichzeitig das sogenannte „Behältnis-Schema“, das „Teil-Ganzes-Schema“ und das „Ursprung-Weg-Ziel-Schema“ ab: Denn im „Behältnis-Schema“ werden Dinge und Sachverhalte in ihrem Verhältnis von Außen und Innen wahrgenommen. Dies drückt Hildegard, wie wir gesehen haben, nach dem augustinischen Modell von foris-intus aus. Das „Teil-Ganzes-Schema“,wie etwa in allegorischen Vergleichen einzelner Körperteile in ihrer Bedeutung für den gesamten Organismus, kann über die lebenstheologische Metaphorik bei Hildegard hinaus als typisch für das kosmologische, das ekklesial-korporative und das politische Denken im 12. und 13. Jahrhundert gesehen werden.⁸⁹ Das „Urspung-Weg-ZielSchema“ prägt sich in der biblischen Wendung von Wegen zum Leben (Ps 15, 11/Act 2, 28) aus. In ihm findet sich eine sprachlogische Erklärung für die häufigen Präpositionalausdrücke ad vitam, die zur dynamischen Hinkehr von der vita aliena zum eigentlichen Leben aufrufen.⁹⁰ Die im Folgenden summarisch dargestellten Befunde⁹¹ von charakteristischen Sprachstrukturen repräsentieren jeweils eine bestimmte theologische Aussage. Sie bilden also ein Korrelat von sprachlichen und theologischen Zusammenhängen. Da hier sowohl Ergebnisse hinsichtlich einzelner Wortarten als auch hinsichtlich mancher eigentümlicher Satzgefüge vertreten sind, müsste für die Theologiesprache Hildegards die Frage unentschieden bleiben, ob eher einzelne Ausdrücke oder einzelne Sätze eine primäre semantische Einheit als Bedeutungsträger bilden.⁹² Möglicherweise kombiniert sie bewusst beide Formen einer Gestaltung semantischer Gravitationsfelder. Dafür sprechen die Belege einer Verdichtung des Wortfeldes von „Leben“, die in den Analyse-Kapiteln dieser Arbeit im Sinn einer Corpustextanalyse erstellt wurden.

 Vgl. die Übersicht hierzu bei: Wolfgang Wildgen, Kognitive Grammatik. Klassische Paradigmen und neue Perspektiven (Berlin/New York: de Gruyter, ),  f.  Vgl. Karl Brunner, Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters (München: C.H. Beck, ), .  Vgl.Wolfgang Wildgen, Kognitive Grammatik. Klassische Paradigmen und neue Perspektiven, , .  Diese Auflistung fasst die Beobachtungen aus den Analysekapiteln dieser Arbeit zusammen. Fundorte und Quellenbelege zu den einzelnen Sprachstrukturen sind jeweils dort zu finden.  Auf diese Frage macht im Anschluß an Lorenz B. Puntel, Grundlagen einer Theorie der Wahrheit (Berlin/New York: Walter de Gruyter, ),  – , aufmerksam Thomas Schärtl, Theo-Grammatik. Zur Logik der Rede vom trinitarischen Gott, ratio fidei. Beiträge zur philosophischen Rechenschaft der Theologie  (Regensburg: Friedrich Pustet, ), .

274

5 Linguistische Fazit: Hildegard und ihre Sprache der Theologie

In ähnlicher Weise verknüpft Hildegard metaphorische Ausdrucksweisen und narrativ ausgeschilderte Symbollandschaften mit der Einstreuung philosophischer und theologischer Begrifflichkeit. Beide Entscheidungen eines sowohl-als auch in der sprachlichen Komposition ihrer Werke können als ein impliziter Metakommentar zur Theorie einer Theologiesprache verstanden werden: Ihre implizite, an ihrem eigenen Werk in der Fiktion einer autoritativen Gottesrede beispielhaft vorgestellte Botschaft wäre, einseitige Präferenzen zu vermeiden, sondern Sprache in der ganzen Fülle ihrer Ausdrucksmöglichkeiten für religiöse Inhalte zu nützen, sachlich, bildlich, evokativ: () Lautlichkeit in der Sprache des Lebens: C-Worte verdichten das Wortfeld des Lebens: compassio consortium compunctio cor cogitare cibus coniungere comprehensio colligere V-Worte im Umfeld des johanneischen Ternars via, vita, veritas: vita viriditas virtus vis visio Formel, die gegebenenfalls modalistisch missverstanden werden kann: vita una in tribus viribus () Attributverbindungen zur Spezifierung der Lebensqualität: Verknüpfungen von vita mit einem Genitivattribut spezifizieren die soteriologischen und eschatologischen Zielvorstellungen: remuneratio vitae; cibus vitae; salus vitae; spiraculum vitae; candor et decor vitae; liber vitae; lignum vitae; vita vitae nominales Attribut mit „Gott“ im Genitiv: Unermesslichkeit einer Eigenschaft Gottes, die sich in einer Heilstat an dem Menschen auswirkt. Dadurch Zusammenhang von Gotteslehre und Soteriologie. vivens & Nomen als Partizip: dynamisches Lebendigsein als ens in actu: viventia opera, spiritus vivificans, vivens mens, vivens virtus, vivens anima, vivens scientia Die innerweltliche Lebensbedingungen und die Verheißung eines Lebens in Fülle werden in Gegensatzpaaren kontrastiert, deren Antipoden jeweils durch die Kombination von vita mit einem Adjektiv vertreten werden: vita caduca vita laeta vita saecularis vita integra vita aliena vita aeterna vita deficiens vita indificiens vita carnalis vita immutabilis vita activa vita spiritualis vita contemplativa vita alia ignea vita vita unica

5.3 Hildegards Sprache für eine Theologie des Lebens

275

() Präpositionen als Ausdruck für die Fülle des Lebens: ad & vitam (& Verb): Abkehr von defizitären Formen vorläufiger, todverfallener Existenz hin zum wahren Leben cum & Nomen/ Verb: Zusammenwirken von Gott und Mensch (in mehrfacher Staffelung) in & Ablativ (Wortfeld des Heilshandeln Gottes) & Verb: grammatikalische Struktur für kreatürliches Tun in der Ermöglichung durch das Heilshandeln Gottes Existenz der geschaffenen Dinge, speziell der Naturphänomene, in Qualitäten, die vita inhaltlich füllen: vivere in re & Nomen/ Verb: für Erlösung, Rückführung sowohl in Akten des erlösenden Gottes (reponere, revocare) als auch des umkehrenden Menschen (recordatio, reviviscere) sub & Verb/Nomen: grammatikalische Struktur für das Heilshandeln Gottes als Auffangen und Stützen von unten her () Konjunktionen für die lebendige Interaktion von Gott und Mensch: Satzgefüge mit den Konjunktionen dum – tunc: Zeitkontinuum, in dem Gnade und Mensch simultan einen Anfang setzen si& suchende/ bittende, vertrauende Handlung des Menschen: Zusage im Futur der Unterstützung durch Gott unde leitet einen konsekutiv-kausalen Appell ein: Gott handelt auf die Weise x ⇨ folglich (daher/ also) sollte der Mensch auf die Weise y reagieren () Satzkonstruktionen für Gott als Ausgang und Ziel des Lebens: Nomen des Schutzes/ Beistands & sum: Selbstaussage des Menschensohnes oder von Gott-Vater (als viva vox) dreimalige Ausformulierung der innertrinitarischen Relationen und Prozessionen jeweils von Vater, Sohn und Geist aus als sprachliches Abbild der komplexen wechselseitigen innertrinitarischen Spiegelungen Abhängigkeit von lebendigen Kreaturen von der Belebung durch Gott als Leben: ego & Apposition (inhaltlich: Gottesattribut) & Objekt (inhaltlich: geschaffene, verlebendigte Kreatur) & Verb in betonter Schlussstellung (inhaltlich: spezielle Art des verlebendigenden Wirkens in Schöpfung und creatio continua) Darstellung verschiedener, miteinander verbundener Heilsmomente und differenzierter Spannungsbögen der biblischen Heilsgeschichte in einem Satz

276

5 Linguistische Fazit: Hildegard und ihre Sprache der Theologie

5.3.3 Sprachbilder strukturieren die Anschauung von der Fülle des Lebens Die inhaltlichen Energien, die durch bestimmte grammatikalische Verknüpfungen von Einzelbegriffen für Leben entstehen, können bildlich, z. B. vektoriell, dargestellt werden. So gibt es bereits auf der Ebene der grammatikalischen Analyse einen Zusammenhang zur Bildlichkeit, die deren Unumgänglichkeit im Schnittfeld von Denken und Sprache erhellt: Die kognitive Grammatik […] hat den Beweis erbracht, dass hinter den relativ abstrakt scheinenden lexikalischen und grammatischen Strukturen viel mehr Bildhaftigkeit gefunden werden kann, als man sich dies in der Tradition der rationalistischen Grammatik hätte erträumen lassen.⁹³

Die Dichte einerseits und die Konstanz andererseits, die sich im Opus Hildegardianum für idiosynkratische lebenstheologische Sprachformeln nachweisen lassen, beruhen nicht nur darauf, dass die Autorin intuitiv sprachliche Energiefelder und Sprachdynamiken aus grammatikalischen Konstruktionen für die Betonung von Kernaussagen zu benutzen wusste. Sondern dadurch lässt sich auch auf linguistischer Ebene nachweisen, dass sie sich recht stabiler mentaler Konzepte in der dichten Synthese theologischer Grundaussagen bediente, die untereinander intensiv durch Knotenpunkte auf unterschiedlichen Ebenen vernetzt sind. Dies weist auf eine hohe Begabung im kreativen theologischen Denken hin, das sich selbst mit rhetorischen und poetischen Denkmustern zu organisieren versuchte. Im 12. Jahrhundert wurden die seit der Patristik geübten, tradierten und immer mehr verfeinerten Symbollandschaften und Bedeutungsnetze in Gesamtsystemen zusammengestellt.⁹⁴ „Weltausschnitte als mentale Karten (mental maps)“⁹⁵ überlagern und verknüpfen sich so in vielfältigster Weise. Es wäre eine Untersuchung wert, inwieweit dadurch – über die neuen dialektischen, logischen und ontologischen Analysen hinaus – die Werkkathedralen der augustinischen Linie der Hochscholastik ermöglicht wurden.⁹⁶ Diese Systematisie-

 Wolfgang Wildgen, Kognitive Grammatik. Klassische Paradigmen und neue Perspektiven (Berlin/ New York: de Gruyter, ), .  Marie-Dominique Chenu, „The Symbolist Mentality,“ in Marie-Dominique Chenu, Nature, Man and Society in the Twelfth Century. Essays on new Theological Perspectives in the Latin West, selected, edited and translated by Jerome Taylor and Lester K. Little (Chicago: The University of Chicago Press, ):  f.  Wolfgang Wildgen, Kognitive Grammatik. Klassische Paradigmen und neue Perspektiven (Berlin/ New York: de Gruyter, ), .  So etwa die ausdifferenzierten und zusammenhängenden Dreierstrukturen in der Anordnung von Symbolen und Deutungen in verschiedenen Deutungsebenen bei Gerhoch von Reichersberg, die als Vorform des Systembaus der Triplex Via des Bonaventura untersucht werden könnten (Vgl. Wolfgang Jungschaffer, „Gerhoch von Reichersberg und seine Zeit ( bis ),“ in  Jahre Augustiner Chorherrenstift Reichersberg, Hg. Augustinerchorherrenstift Reichersberg (Linz: OLV, ), ).

5.3 Hildegards Sprache für eine Theologie des Lebens

277

rungen erfolgten sowohl aus literaturdidaktischer wie aus theologiedidaktischer Motivation heraus. So gelangt Eugen Biser zu dem Urteil: So wenig sich der Übergang von der schauenden zur begrifflich-diskursiven Denkweise nach Art eines plötzlichen Umschwungs vollzog, führte er in seiner Konsequenz zur völligen Verdrängung des Bildelements, noch nicht einmal bei den entschiedensten Vertretern der rationalen Methode. Demgemäß lassen sich für die gesamte Dauer der Scholastik, bei ihren Initiatoren und Propagandisten ebenso wie bei ihren Vollendern und Überwindern, bildhafte Denkstrukturen nachweisen.⁹⁷

Gerade in der Metapher ereignet sich eine bemerkenswerte Brücke zwischen Denken und Sprache. Denn sie lässt sich als Denkprozess einer wechselseitigen Übertragung von Bedeutungsbereichen zweier unterschiedlicher semantischer Felder verstehen.⁹⁸ Sobald jene wechselseitig hinsichtlich bestimmter „Organisationskerne“⁹⁹ in der Sprachverwendung erprobt ist, können von ihr aus bildliche und verbale Programme von mit ihnen vernetzten weiteren Bildwörtern entwickelt werden. Dies erklärt, warum sich bestimmte Bildmotive, wie die „Säule“ als Bild des innerlichen Aufstiegs zu Gott und die „Quelle des lebendigen Wassers“, stabil in Visionen aus unterschiedlichen Werkepochen Hildegards finden, und schlüssig mit weiteren Symbolen verbunden sind. Hierbei ist die die Corpustextanalyse als Hilfsmittel für die Analyse für die internen Beziehungen in solchen Metaphernfelder weiter entwickelt worden.¹⁰⁰ Von der philosophischen und theologischen Warte aus kann Einwänden gegen eine mangelnde Wissenschaftlichkeit und Präzision von Sprachbildern entgegnet werden mit der offenbarungstheologischen Erfordernis, das Geschehen der Epiphanie auch sprachlich abzubilden. So fragt der Literaturwissenschaftler George Steiner an, ob solche Einwände nicht „eher den Verfall ursprünglichen, epiphanischen Erkennens enthüllen“.¹⁰¹ Symbolische und metaphorische Ausdrucksformen müssen nicht als uneigentliche, übertragene Redeweise gedeutet werden. Vielmehr dienen sie einer „Verdichtung“,¹⁰² insofern sie einer „provokativen Nähe“¹⁰³ von Sachverhalten das Wort geben, die ohne diese Sprachleistung nicht in ihrem inneren Zusammenhang erkannt würden. So geht von ihnen eine „besondere epistemische Qualität“¹⁰⁴ aus:

 Eugen Biser, Theologische Sprachtheorie und Hermeneutik (München: Kösel, ), .  Vgl. hierzu Wolfgang Wildgen, Kognitive Grammatik. Klassische Paradigmen und neue Perspektiven (Berlin/New York: Walter de Gruyter, ), .  Wolfgang Wildgen, Kognitive Grammatik. Klassische Paradigmen und neue Perspektiven, .  Wolfgang Wildgen, Kognitive Grammatik , Anm.  und Anatol Stefanowitsch, „Corpus–based approaches to metaphor and metonymy,“ in Corpus-Based Approaches to Metaphor and Metonymy, Hg. Anatol Stefanowitsch and Stefan Th. Gries (Berlin/ New York: Walter de Gruyter, ): .  George Steiner, Gedanken dichten, Übers. aus dem Englischen von Nicolaus Bornhorn (Berlin: Suhrkamp, ), .  Thomas Schärtl, Theo-Grammatik. Zur Logik der Rede vom trinitarischen Gott, ratio fidei. Beiträge zur philosophischen Rechenschaft der Theologie  (Regensburg: Friedrich Pustet, ), .  Thomas Schärtl, Theo-Grammatik. Zur Logik der Rede vom trinitarischen Gott, .  Thomas Schärtl, Theo-Grammatik. Zur Logik der Rede vom trinitarischen Gott, .

278

5 Linguistische Fazit: Hildegard und ihre Sprache der Theologie

Gerade im Blick auf die Sprache von Metaphysik und spekulativer Theologie lässt sich das heuristische Element der Metapher nicht leugnen; ihr Innovationspotential stößt den spekulativphilosophischen Diskurs an.¹⁰⁵

Allerdings wird der so erreichte Erkenntniszuwachs im Opus Hildegardianum oftmals nicht stringent in explizite Ausführungen übersetzt und in seiner Implikationen argumentativ durchdacht.¹⁰⁶ Vielmehr kann der damalige und heutige Leser durch einen intensiven Umgang mit dem Text zwar etliche Rückschlüsse auf Sinngehalte jenseits der Textoberfläche gewinnen. Doch wird er dabei alleine gelassen, daraus weitere Konsequenzen zu ziehen. Dies trifft gerade auf das über Jahrzehnte konstante Leitmotiv der „Quelle des lebendigen Wassers“ und der „regeneratio spiritus et aquae“ zu. Es bleibt den Mutmaßungen des Lesers überlassen, welche geistlichen und kirchenstrukturellen Veränderungen Hildegard zusätzlich zu ihren expliziten, aber eher allgemeinen Umkehrforderungen vorschweben. Wenn die Farblichkeit der Bildtheologie Hildegards zu naiv gepriesen wird,¹⁰⁷ während ihr durch ihre Ernennung zur Kirchenlehrerin eine normative Funktion zuerkannt wird, darf nicht unterschätzt werden, welche negativen Auswirkungen solche nur impliziten, und teilweise ambivalent, wenn nicht sogar heterodox deutbaren Bildbotschaften gerade in heterogenen postmodernen Diskussionswelten für die Sicherung einer „Diskursfähigkeit der christlichen Rede von Gott“¹⁰⁸ haben können! So mahnte bereits Anselm von Canterbury, dass bildtheologische Äußerungen auf die begriffliche Theologie wie die Farbe des Malers auf einen soliden Untergrund angewiesen sei, auf den Untergrund der begrifflich fassbaren Wahrheit (veritatis soliditas rationabilis).¹⁰⁹ Bei der nun folgenden Aufreihung der einzelnen in dieser Arbeit untersuchten Symbole für Leben wird zu fragen sein, ob hierbei von einem „symbolischen System“¹¹⁰ für den theologischen Begriff von Leben bei Hildegard gesprochen werden kann.

 Thomas Schärtl, Theo-Grammatik. Zur Logik der Rede vom trinitarischen Gott, .  Dies kann gerade auch an einer Rücknahme der subjektiven Reflexivität des Schauenden liegen, durch die die objektivierende Distanz aufgelöst wird, die eine argumentative Durchdringung in der Anschlusskommunikation an die Schau hätte ermöglichen können. Dies lässt sich nach Eugen Biser bereits anhand der Consolatio Philosophiae des Boethius diagnostizieren: „Während es bei PseudoDionysius und Maximus Confessor das Aktbewusstsein des Sehens ist, das die Bildgehalte in sich aufzehrt, versinkt in der Eingangsszene der Consolatio der Blick so sehr in das – gestalthaft aufscheinende – Medium der Schau, dass er darüber…alle differenten und differenzierenden Momente aus dem Gesichtskreis verliert. (Eugen Biser, Theologische Sprachtheorie und Hermeneutik, ).  So etwa bei Christine Büchner, Hildegard von Bingen. Eine Lebensgeschichte (Frankfurt am Main und Leipzig: Insel, ), , die von „Anschaulichkeit“ (ibd.) spricht, und bei Josef Sudbrack, „Wie Hildegard Gott und die Welt erfährt. Ein Versuch über ihre Mystik,“ Meditation  (): .  So die Warnung bei Thomas Schärtl, Theo-Grammatik. Zur Logik der Rede vom trinitarischen Gott, .  Vgl. Eugen Biser, Theologische Sprachtheorie und Hermeneutik, .  Günther Schiwy, „Strukturalismus und Theologie,“ ThPh  (): .

5.3 Hildegards Sprache für eine Theologie des Lebens

279

Die zentralen Symbole, die in dieser Arbeit analysiert wurden, können von zwei Ebenen her kategorisiert werden: Zum einen von der auf der Bildebene dargestellten Materialität, zum anderen bezüglich ihres Verweisungssinnes, ihrer significatio ¹¹¹ für eine Theologie des Lebens: () Anordnung zentraler Symbole hinsichtlich der Materialität auf der Bildebene: a) vormenschliche Natur: b) vom Menschen gestaltete Natur: c) Baumetaphorik: d) kulturelle Bedürfnisse des Menschen:

Firmament, Licht/Sonne/Tag, Stein, Erde, Wasser, Hirsch Garten, (innerer) Acker Säule, Fenster Speise, Kleid, Herz

() Anordnung zentraler Symbole gemäß ihrer Bedeutung für eine Theologie des Lebens: a) Ordnung des Lebens in Raum und Zeit: b) Leben in Dynamik und innerem Aufschwung: c) Leben in Verinnerlichung: d) Leben in Lebensaustausch:

Firmament, Licht/Sonne/Tag, Erde, Stein, Kleid* Säule, Hirsch Garten, innerer Acker, Fenster, Kleid*, Herz Kleid*, Speise, Wasser

Im Verweisungssinn jener Symbole gibt es einerseits Gemeinsamkeiten: Sie bedeuten, wie in dieser Arbeit schon mehrfach beschrieben, ebenso „Leben“ wie eine metasprachliche Reflexion. Andererseits lassen sich Unterschiede beobachten: Das Symbol des Kleides lässt sich mehreren Zügen der hildegardianischen Bildes von Leben zuordnen. Auf der Bildebene dominieren Elemente der vormenschlichen, einer direkten kulturellen Beeinflussung nicht zugänglichen Natur. So prägt das Naturerleben der Autorin auf der Ebene des Symbolgebrauchs¹¹² ihre Deutung nicht nur der schöpfungstheologischen, sondern auch der soteriologischen und

 Bei der significatio handelt es sich nicht nur um eine sprachtheoretische Verfahrensweise der Eruierung des Bedeutungssinnes von dinglichen und sprachlichen Zeichen, sondern um eine im . Jahrhundert allgemein verbreitete Sicht auf Wirklichkeit: „Masters in the schools, mystics, exegetes, students of nature, seculars, writers, and artists – these men of the twelfth century had in common with all other men of the Middle Ages the conviction that all natural or historical reality possessed a signification which transcended its crude reality and which a certain symbolic dimension of that reality would reveal to man’s mind.“ (Marie-Dominique Chenu, „The Symbolist Mentality,“ in: Marie-Dominique Chenu, Nature, Man and Society in the Twelfth Century. Essays on new Theological Perspectives in the Latin West, selected, edited and translated by Jerome Taylor and Lester K. Little (Chicago: The University of Chicago Press, ): ).  Die Einflüsse des Naturerlebens Hildegards auf ihre Bildsprache, aber auch deren Überbietung auf den theologischen Verweisungssinn hin zeichnen anhand des Symbols des Berges (mons) nach Maura Zátony and Stefan Albrecht, „Die Visionen Hildegards von Bingen und der Disibodenberg. Bergdarstellungen in Vita S. Disibodi und Scivias,“ in Als Hildegard noch nicht in Bingen war. Der Disibodenberg – Archäologie und Geschichte, Hg. Falko Daim and Antje Kluge-Pinsker (Regensburg/Mainz: Schnell&Steiner, ):  f.

280

5 Linguistische Fazit: Hildegard und ihre Sprache der Theologie

eschatologischen Aussagen über Leben. Die Natursymbole können alle zu einer imaginativen Bildlandschaft mit dem Zentrum einer „Quelle des lebendigen Wassers“ gruppiert werden.¹¹³ Die durch die Symbole evozierte Ausweitung des inneren Raumes in der Gleichzeitigkeit von innerem Aufstieg und innerer Vertiefung unterstreicht das Stilmittel des Oymerons bei den Nomina, die die betreffenden Symbole ausdeuten: Die alta profunditas des Bildraumes korrespondiert dem Aufstieg der Demut, der ascensio humilitatis, der celsitudo triumphantis subiectionis. Die Über-Kreuz-Struktur jener Oxymera bildet so auf stilistischer Ebene die Grundaussage ab, dass der innere geistliche Aufstieg zum eigentlichen Leben nur durch einen kenotischen Abstieg erreicht werden kann. So sehr Hildegard in diesem Fall mit äußerster sprachlicher Präzision arbeitet, so ist es doch gerade ihre Symbolsprache, die sie mitunter zu theologisch missverständlichen Äußerungen verleitet. Dies wurde in dieser Arbeit unter anderem anhand folgender Beobachtung angemahnt: Remetaphorisierung von theologischen Fachausdrücken in die Bildlichkeit zurück: göttliche Tätigkeit auf der Sachebene einer in der theologischen Fachsprache „erstarrten“ Metapher (z.b. fluere, accendere) ⇨ Rückführung auf die Bildebene (Remetaphorisierung) ⇨ jedoch so, dass konkrete Auswirkungen in der außerliterarischen, physischen Welt behauptet werden (Z. B. „lebendige Funken werden angezündet, die in der Natur aufleuchten“) ⇨ Eindruck des Pantheismus, Trennlinien zwischen Immanenz und Transzendenz verschwinden

5.3.4 Fazit: Originelle Sprachpoesie aus einem lebenstheologischen Impetus heraus Hildegards Theologiesprache kann als Poesie bezeichnet werden, insofern sie ein breites Spektrum sowohl von syntaktischen Möglichkeiten als auch von Bedeutungserweiterungen des Wortschatzes und von kreativen Neuschöpfungen auslotet.¹¹⁴

 Wenn man die Darstellung des Lebensbrunnens in der Miniatur aus dem sogenannten Evangeliar von Soissons (Bibliothèque Nationale Paris) um  heranzieht, passt auch das Motiv der Säule zu dieser Bildlandschaft.  Fabio Chávez Alvarez, „Die brennende Vernunft“. Studien zur Semantik der „rationalitas“ bei Hildegard von Bingen, Mystik in Geschichte und Gegenwart I,  (Stuttgart: Frommann-Holzboog, ), .

5.3 Hildegards Sprache für eine Theologie des Lebens

281

Dass sich eine Korrespondenz zwischen der „inhaltlichen Vielfalt“ und einem breit ausgefächertem Ausdrucksvermögen ergibt, beobachtete auch Vicki Ranff ¹¹⁵ anhand der Kernbegriffe von scientia und sapientia. Neben einer Stilkonstanz sind hierbei auch eine Stilentwicklung, etwa in der Frequenz des Gebrauchs von Fachtermini, sowie eine Stilglättung in den handschriftlichen Gesamtausgaben eines Werkes zu beobachten, das über Jahrzehnte entstand. Auf jeden Fall lässt sich dem Opus Hildegardianum die von Augustinus beschworene vis verbi ¹¹⁶ zuerkennen. Ein Desiderat für die rezeptionsgeschichtliche Forschung hinsichtlich der dichterischen Sprachkraft Hildegards ist es, zu überprüfen, ob ihr Name in Autorenkatalogen von Dichtern im späten 12. und im 13. Jahrhundert genannt wird, zum Beispiel im Laborinthus des Eberhard des Deutschen (1220 – 1280)¹¹⁷ und bei Konrad von Hirsau. ¹¹⁸

 Vicki Ranff, Wege zu Wissen und Weisheit. Eine verborgene Philosophie bei Hildegard von Bingen, Mystik in Geschichte und Gegenwart Abteilung I: Christliche Mystik (Stuttgart: Frommann-Holzboog, ), .  Augustinus, De Dialectica  – .  Elisabeth Gössmann, Antiqui und Moderni im Mittelalter. Eine geschichtliche Standortbestimmung, Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes  (München/Paderborn/Wien: Ferdinand Schöningh, ), .  Vgl. Elisabeth Gössmann, Antiqui und Moderni im Mittelalter. Eine geschichtliche Standortbestimmung, Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes  (München/Paderborn/Wien: Ferdinand Schöningh, ), .

6 Anmerkungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Opus Hildegardianum aufgrund der vorausgegangenen Textanalysen 6.1 Zu Reichweite und Zielsetzung dieses Abschnittes der Auswertung Zur Einordnung Hildegards, ausgehend von den Ergebnissen der Analyse von einzelnen Visiones, müssen etliche Eckdaten der literaturgeschichtlichen und theologiegeschichtlichen Forschung herangezogen werden. Jene werden reflektiert eingesetzt, unter Berücksichtigung ihrer Validität. Freilich können nicht alle Forschungsfragen, die sich angesichts jener Eckdaten stellen, benannt, geschweige denn geklärt werden. Ebenso kann die Sekundärliteratur zu jenen Einzelfragen lediglich anhand ausgewählter Beispiele analysiert werden. Daher präsentieren sich die in sich tragfähigen Ergebnisse aus den Textanalysen im zweiten Teil dieser Untersuchung vor dem Hintergrund eines Gesamtbildes von theologischen Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, das noch nicht durchgängig konturiert ist und sich möglicherweise durch Einzelforschungen in der Zukunft noch stark verändern wird.¹ Hierbei sind unsere heutigen Konstruktionen von der theologischen und literarischen Landschaft im 12. Jahrhundert zu unterscheiden von den Selbstdeutungen aus dieser Epoche. So könnten zum Beispiel hinter einer Gegenüberstellung einer monastischen Theologie gegenüber einer akademischen der Kathedralschulen und Dialektiker Erkenntnisinteressen des 20. Jahrhunderts stehen, neben einer akademischen Theologie wieder eine spirituelle Theologie zu gewichten.² Dabei werden jedoch vorwärtsgewandte Impulse der monastischen Theologie des 12. Jahrhunderts übersehen,³ wie etwa die der Rückkoppelung der theologischen Anthropologie an medi-

 So mahnte Artur Michael Landgraf schon : „Eine solche umfassende Kenntnis der Materialien ist auch deswegen nötig, weil es gilt, jeweils die Eigenmeinung und die Eigenarbeit und damit die Eigenbedeutung eines Gelehrten zu erfassen und zu würdigen, was eben nur möglich ist, wenn man weiß, was eigentlich Allgemeingut einer bestimmten Periode war. Auch dann erst kann man es wagen, bestimmte Schulen gegeneinander abzugrenzen. Wo immer man sich ausschließlich mit einem einzelnen Gelehrten …begnügt und allein auf Grund seiner Werke ein Urteil über seine Bedeutung abgegeben hat, wird es notwendig sein, dieses Urteil zu revidieren.“ (Artur Michael Landgraf, Einführung in die Geschichte der theologischen Literatur der Frühscholastik unter dem Gesichtspunkt der Schulenbildung (Regensburg: Gregorius, ), ).  Etwa fordert Balthasar „…vom Wort der Theologie die Gestalt…, die zu tieferer Anbetung, zu besserem Lebensgehorsam führt.“ (Hans Urs von Balthasar, „Der Ort der Theologie,“ in Hans Urs von Balthasar, Verbum Caro. Skizzen zur Theologie I (Einsiedeln: Johannes, ): ).  Zu Recht wendet Michael Zöller, Gott weist seinem Volk seine Wege. Die theologische Konzeption des „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen ( – ), Tübinger Studien zur Theologie und Philo-

6.1 Zu Reichweite und Zielsetzung dieses Abschnittes der Auswertung

283

zinische Erkenntnisse aus damals gerade ins Lateinische übersetzten arabischen Schriften.⁴ Die Etikettierung von Hildegard als Verfechterin einer „Spätgregorianik“⁵ überspielt, dass sie als Hochaltrige selbst mit dem Interdikt belegt wurde.⁶ Ihre ekklesialen Reformanliegen sind keineswegs rein retrospektiv. Es wäre also zu fragen, auf welchen Wegen und mit welchen Anliegen das heutige Bild der Theologien des 12. Jahrhunderts rekonstruiert wird.Welche Interferenzen gibt es zwischen der theologiegeschichtlichen Forschung und Anfragen der heutigen systematischen Theologie? Anhand bekannter Forscher des 20. Jahrhunderts lässt sich zeigen, wie der prinzipielle theologische Gesamtansatz den Blick auf Hildegard färbt: Die Grundoption von Hans Urs von Balthasar für eine objektive Spiritualität als Antwort auf eine Offenbarung in offenkundigen, klaren Konturen lässt ihn auch Hildegard als Vertreterin einer objektiven Mystik sehen.⁷ Ratzingers Schau des Zusammenhangs von Glaubenswahrheiten empfiehlt ihm den hildegardianischen Grundbegriff einer symphonia,⁸ der schon bei Irenäus zum Symbolwort des vollendeten Zusammenklangs der Heilsereignisse diente.⁹ Martin Grabmann als herausragender Erforscher der systematischen Quaestionenliteratur des Mittelalters identifiziert die theologische Güte des Werkes von Hil-

sophie  (Tübingen: Francke ), , ein, dass die monastische Theologie selbst im . Jahrhundert in einer Spannung zwischen patristischer Tradition und monastischem Neuaufbruch steht.  In seiner anthropologischen Schrift De natura corporis et animae (ed. Michel Lemoine (Paris: Les Belles Lettres, ) kompiliert Wilhelm von St. Thierry auch Texte der arabischen Medizin.  So etwa in einem pauschalen und unbegründeten Urteil bei: Josef Sudbrack, „Einschätzung von Visionen auf der Basis der katholischen Theologie und mit Blick auf Hildegard von Bingen,“ in Hildegard von Bingen in ihrem Umfeld – Mystik und Visionsformen in Mittelalter und früher Neuzeit. Katholizismus und Protestantismus im Dialog, Hg. Änne Bäumer-Schleinkofer (Würzburg: Religion & Kultur Verlag, ): .  Zum Interdikt nach der Darstellung Hildegards in ihrem Brief an die Mainzer Prälaten (ep. ) siehe Barbara Stühlmeyer, Die Gesänge der Hildegard von Bingen. Eine musikologische, theologische und kulturhistorische Untersuchung (Hildesheim/Zürich/ New York: Olms, ),  – . Hildegard argumentiert, indem sie Worte der visio als Autorität gegenüber der kirchlichen Exekutive geltend macht.  Nach Balthasar läge der „Wertakzent“ der christlichen Mystik nicht auf den „…subjektiven Formen, in denen der entgegennehmende Glaube auftreten kann…“. (Hans Urs von Balthasar, „Zur Ortsbestimmung christlicher Mystik,“ in Grundfragen der Mystik, Kriterien , Hg. Werner Beierwaltes, Hans Urs von Balthasar and Alois Maria Haas (Einsiedeln: Johannes, ), ). Daher gelänge es Hildegard, sich dem „Begriffsnetz“ einer durch die antike Philosophie geprägten Mystographie zu entziehen (a.a.O., ). In unserer Untersuchung konnten wir allerdings zeigen, dass sich Hildegard in etlichen Bereichen durchaus auf den Areopagiten und auf Eriugena bezieht und so doch in dieser Tradition steht!  Josef Ratzinger, Wesen und Auftrag der Theologie. Versuche zu ihrer Ortsbestimmung im Disput der Gegenwart (Einsiedeln: Johannes, ),  f.  Irenäus von Lyon, haer. , ,  unter Hinweis auf Lk ,.

284

6 Anmerkungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Opus Hildegardianum

degard in ihren „dogmatisch-prophetischen Visionen“.¹⁰ Das Attribut des Prophetischen für Hildegard ist bei ihm also als Blick in „großen Perspektiven“ auf die Lehrinhalte des Glaubens umgemünzt. Jene Eingrenzung des Begriffs von Prophetie entspricht, wie wir unter dem Abschnitt 6.2.2 dieses Kapitels sehen werden, durchaus dem Textbefund. Heinrich Schipperges, bedeutender Nestor der Hildegardforschung im 20. Jahrhundert, entdeckt infolge seiner medizingeschichtlichen Forschungen Hildegard als Gewährsautorin für eine Humanisierung der Medizin in unserer Zeit. Daher legt er einen Deutungsschwerpunkt auf ihre anthropologischen und kosmologischen Aussagen.¹¹ Elisabeth Gössmann, eine der ersten Promovendinnen von Michael Schmaus, untersuchte die Rolle des Weiblichen in der Theologie Hildegards vor dem Hintergrund der selbst erfahrenen Erschwernisse auf dem Weg in eine Professorenlaufbahn als Theologin.¹² Gendertheoretische Vorurteile verengen mitunter die freie Sicht auf theologische Gestaltungsspielräume für Frauen in früheren Epochen. So könnte zum Beispiel angefragt werden, ob sich unser Bild einer scientific community überhaupt auf die Stauferzeit übertragen lässt.¹³ Jene könnte theologische Spielfelder und akademische Diskursformen geboten haben, die das intellektuelle Niveau nicht von einer formellen Campus-Umgebung abhängig machten.¹⁴ Dass dies aus der Sichtweise der Quellen nicht unmöglich ist,

 Martin Grabmann, Die Geschichte der katholischen Theologie seit dem Ausgang der Väterzeit, mit Benützung von M.J. Scheebens Grundriss dargestellt, unveränderter Nachdruck der . Auflage  (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), .  Den entscheidenden Beitrag Hildegards zur medizinischen Tradition des Abendlandes markiert er in ihrem Menschenbild und in ihrer Zielvorstellung eines heilen, gesunden Lebens (Heinrich Schipperges, Die Welt der Hildegard von Bingen. Panorama eines außergewöhnlichen Lebens (Freiburg im Breisgau: Herder, ), ; sowie Heinrich Schipperges, Hildegard von Bingen (München: C.H. Beck, ), ).  Anhand von Einzelanalysen anthropologischer Nebenbemerkungen bei Hildegard gelangt sie zu dem Urteil: „Hildegards Unterwanderung frauenfeindlicher Lehren findet sich nie in Form von offenem Widerspruch, sondern in Form von über ihr ganzes Werk verstreuter Einzelkorrekturen.“ (Elisabeth Gössmann, „Die Makro-Mikrokosmik als umfassendes Denkmodell Hildegards von Bingen,“ in Hildegard von Bingen. Versuche einer Annäherung, Archiv für philosophie-und theologiegeschichtliche Frauenforschung. Sonderband (München: Iudicium, ), ).  So der Einwand bei Peter Dinzelbacher, Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters. Ein Studienbuch (Berlin/Boston: Walter de Gruyter, ), .  Ein Beispiel für jene Spielräume bietet die volkssprachliche Übersetzung der pseudoaristotelischen Schrift Secretum Secretorum durch eine Zisterziensernonne im Jahr  (Steven J. Williams, „The Vernacular Tradition of the Pseudo-Aristotelian ‚Secret of Secrets‘ in the middle ages: Translations, Manusscripts, Readers,“ in Filosofia in vulgare nel medioevo. Atti del convegno della società italiana per lo studio del pensiero medievale, Hg. Nadia Bray and Loris Sturlese (Louvain-la Neuve: Presses Universitaires de Louvain, ): ).

6.1 Zu Reichweite und Zielsetzung dieses Abschnittes der Auswertung

285

zeigen gerade die Bestrebungen der Vitenautoren und Befragten in der Canonisatio, den Eindruck eines expliziten Dialoges Hildegards mit der Hochtheologie ihrer Zeit herzustellen. Der Versuch Hildegards und ihrer Unterstützerkreise, sich schon während des Entstehungsprozesses ihres ersten Werkes als kirchlich approbierte Autorin zu lancieren, kann nicht nur als kirchenpolitischer Schachzug gedeutet werden, sondern ebenso als Implantierung eines öffentlichen Forums für eine öffentliche Theologie. Das wissenschaftliche Bestreben, Hildegards Ort in den theologischen Bewegungen ihrer Zeit zu markieren, spiegelt also Suchbewegungen unserer Zeit nach der Form und Reichweite heutiger Theologie. Die theologische Landschaft des 12. Jahrhunderts ist äußerst vielfältig¹⁵ hinsichtlich der Zielsetzung von Traktaten, und hinsichtlich ihrer Entstehungszusammenhänge und ihrer jeweiligen theologischen Argumentationsebenen. Zwischen den einzelnen theologischen Bewegungen und spirituellen Lagern kam es zu einem lebhaften intellektuellen Austausch. Ein monastischer Theologe konnte an Domschulen studiert haben, ein einstiger überzeugter Kanoniker sein Leben in monastischer Klausur beenden. Geistige Mobilität¹⁶ und „Zickzacklebensläufe“ zwischen verschiedenen Lebensständen, Ordensobservanzen und theologischen Lern- und Lehrformen waren durchaus üblich. Daher ist es wenig zielführend, die geistige Situation der Theologie im 12. Jahrhundert lediglich durch einen ab den 40/50iger Jahren des 20. Jahrhunderts konstruierten Gegensatz¹⁷ zwischen Dialektikern und Antidialektikern, zwischen monastischer Theologie und vorscholastischer Theologie der Kathedralschulen zu charakterisieren.¹⁸ Ebenso wenig ist es legitim, diese Dualität mit Wertungen einer „warmherzigen“ Theologie aus der eigenen inneren geistlichen Erfahrung heraus und einer „unterkühlten“ aus der Metareflexion von Texten zu überlagern.¹⁹ Also muss man nicht Zöllers Klassifikation einer scharfen Absetzung²⁰ der monastischen Theologie von der der Kleriker an den Kathedralschulen teilen. Das Bei-

 Vgl. Paul Lehmann, „Die Vielgestalt des zwölften Jahrhunderts,“ in Erforschung des Mittelalters. Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze Bd. III, Hg. Paul Lehmann (Stuttgart: Anton Hiersemann, ): .  Vgl. Jacques Leclercq, „Naming the Theologies of the Early Twelfth Century,“ MS  (): .  Zur Entstehungsgeschichte des Forschungsschemas einer „monastischen Theologie“ vgl. Jacques Leclercq, „Naming the Theologies of the Early Twelfth Century,“ MS  ():  f, insbesondere , Anm. .  Da diese Kontrastierung der Komplexität der Quellenbefunde nicht gerecht wird, entwickelte sie Leclercq zu einem Dreierschema von kontemplativer, pastoraler und spekulativer Theologie fort (Jacques Leclercq, „Naming the Theologies of the Early Twelfth Century,“: .) Hildegard könnte Anteil an allen drei Formen von Theologie zuerkannt werden.  Diese Werturteile hätte nach dem Bericht von Leclerq der vor allem durch seine Forschungen zu Anselm bekannte Autor Richard Southern gefällt (nach Jacques Leclerq, a.a.O.).  Michael Zöller, „Aufschein des Neuen im Versuch, die Tradition zu bewahren. Zur theologiegeschichtlichen Einordnung des Buchs „Scivias“ der Hildegard von Bingen,“ Meditation  (): .

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6 Anmerkungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Opus Hildegardianum

spiel Hildegards zeigt ferner, wie wir im Analyseteil dieser Arbeit gesehen haben, dass die monastische Theologie keineswegs auf theologische Begriffe verzichtet, die nicht der Bibel entstammen.²¹ Ähnliche Sichterweiterungen könnten sich in der Frage nach der theologischen Gattung ergeben. Im Rahmen dieser Arbeit werden Gattungsfragen in der Forschung nur darauf hin erörtert, was sie zur Rekonstruktion einer Theologie des Lebens bei Hildegard beitragen. Ehe man Schriften Hildegards einzelnen Gattungen zuordnet, ist also zu überprüfen, inwieweit eine solche Zuordnung zur Bestimmung des theologischen Stellenwertes beiträgt. Hierzu ist zu beachten, wie die Gattung den Inhalt vorprägt und Aussagen hinsichtlich Formal- und Materialobjekt vorweg nimmt. Umgekehrt jedoch verschafft eine Einschätzung über den methodischen Weg der Bestimmung der theologischen Schriftgattung auch Vorteile. So können Vorurteile über inhaltliche Tendenzen vermieden werden, die entstehen würden, wenn man das Opus Hildegardianum bereits in einem ersten Arbeitsschritt in Bezug zu einer theologischen Schule ihrer Zeit setzt.²² Denn divergierende theologische Bewegungen bedienten sich ähnlicher Schriftgattungen und Darstellungsformen. Gerade durch einen Vergleich mit damaligen Gattungen religiöser und theologischer Literatur, den wir in diesem Untersuchungsabschnitt durchführen werden, ist schnell ersichtlich, dass sich die Werke Hildegards keiner bestimmten Schriftgattung zuordnen lassen.²³ Im Gestaltungsrahmen eines Visionsberichtes fließen bei Hildegard weitere Gattungstypen mit ein. Dabei verbinden sich einerseits die Großgenera fiktiver Literatur von Lyrik, Drama und Epik. Andererseits sind verschiedene Textformen religiöser Literatur aufeinander hin komponiert: Der Lehrdialog, die Predigt, die Exempelerzählung, die allegorische Psychomachie, die Autobiographie als stilisiertes Zeugnis konkretisierter Heilsgeschichte gehen innerhalb der Visionswerke ineinander über. Dazu gesellen sich die Kommentierungen neutestamentlicher Schriften, zumeist in parallelen Interpretationsgängen gemäß mehrerer verschiedener Schriftsinne sowie Spuren einer Quaestionenliteratur innerhalb des Briefcorpus. Seitenlange Exkurse

 So zu Unrecht behauptet bei Michael Zöller, „Aufschein des Neuen im Versuch, die Tradition zu bewahren. Zur theologiegeschichtlichen Einordnung des Buchs „Scivias“ der Hildegard von Bingen,“ Meditation  (): .  Etwa will Rainer Berndt sie auf Grund der beiderseitigen Methode allegorischer Schriftauslegung der Schule um Hugo von St. Victor zu ordnen, obwohl es hierzu kaum personale Bezüge oder Assonanzen in ähnlichen Werkpassagen gibt und auf sehr unterschiedlichen Ebenen argumentiert wird (Vgl. das Interview mit Rainer Berndt durch R. Einig und S. Wiegand in Die Tagespost  (. . ): .) Gleichwohl benennt er methodische und inhaltliche Unterschiede zwischen beiden Autoren, so in: Rainer Berndt and Maura Zátonyi, Glaubensheil. Wegweisung ins Christentum gemäss der Lehre Hildegards von Bingen, Erudiri Sapientia X (Münster: Aschendorff, ),  f.  So das Urteil bei Fabio Chávez Alvarez, „Die brennende Vernunft“. Studien zur Semantik der „rationalitas“ bei Hildegard von Bingen, Mystik in Geschichte und Gegenwart I,  (Stuttgart: FrommannHolzboog, ), .

6.1 Zu Reichweite und Zielsetzung dieses Abschnittes der Auswertung

287

innerhalb der einzelnen Visiones können als Monographie zu einem Einzelthema gewertet werden. Das literarische und theologische Verfahren ist also insofern als originell zu qualifizieren, als die Autorin verschiedene Schriftgattungen organisch miteinander verbindet. Dies könnte fast als impliziter Metakommentar zu unterschiedlichen Möglichkeiten des Theologisierens gesehen werden, die in der literarischen Komposition eines einzigen Textes zusammenfließen. Das Einflechten von theologischen Fachbegriffen²⁴ könnte hierbei als nonchalantes understatement gedeutet werden: Man lässt durchblicken, dass man mitreden kann. Zugleich jedoch will man eine gewisse überlegene Virtuosität demonstrieren: Dass man in der Lage sei, abstrakte Theologie in eine künstlerische Form zurück zu führen. Die literarische Vielfalt Hildegards entspricht dem theologischen Thema einer Theologie des Lebens: Denn der Begriff des Lebens fächert sich aus in eine Breite an Begriffsschattierungen von der Naturphilosophie bis hin zur Eschatologie. Daher ist es angemessen, jene Differenzierungen durch eine Vielfalt an Darstellungsformen auszudrücken. Da Hildegard gleichzeitig einen ausgeprägten Eigenkosmos an religiöser Begrifflichkeit entwickelt, erreicht sie eine gewisse Einheitlichkeit des Stils trotz des Spiels mit verschiedenen Stilformen. Allerdings offenbaren jene einführenden Andeutungen bereits, dass das analytische Instrumentarium für eine literarische und theologische Einordnung des Schaffens von Hildegard noch schärfer in den Blick genommen werden muss: Wie wir in dem Kapitel zur Forschungslage und Methodik dieser Untersuchung gesehen haben, werden manche wissenschaftlichen Einordnungsversuche vorgenommen, ohne dass die Methodik hierfür ausreichend offen gelegt würde. Bei Äußerungen zur geistesgeschichtlichen Einordnung Hildegards fällt auf, dass sich literaturwissenschaftliche und theologische Argumentationsformen oft überlagern. Die genannten Gattungen werden nicht genau definiert oder es werden hierfür Definitionen aus der Forschung unhinterfragt übernommen. Es wird nicht immer angegeben, ob Autoren, mit denen Hildegard in Bezug gesetzt wird, nur grosso modo anhand bestimmter Leitideen mit ihr verglichen werden, oder ob Ausschnitte aus Einzelwerken, also in ihrer Auswahl begründete Textcorpora nach bestimmten Kriterien miteinander verglichen werden.²⁵ Hinsichtlich der Vorbildung Hildegards wird zuweilen mit Mutmaßungen operiert.²⁶

 Vgl. die Beobachtung bei Fabio Chávez Alvarez, „Die brennende Vernunft“. Studien zur Semantik der „rationalitas“ bei Hildegard von Bingen, Mystik in Geschichte und Gegenwart I,  (Stuttgart: FrommannHolzboog, ), , über ein „…lebendiges Zeugnis ihrer Vertrautheit mit Begriffen und Disputen des Jahrhunderts.“  Ein Beispiel für eine solche vergleichende Analyse bietet: Stefanie Rinke, Das „Genießen Gottes“. Medialität und Geschlechtercodierungen bei Bernhard von Clairvaux und Hildegard von Bingen, Berliner Kulturwissenschaft , Freiburg/Berlin: Rombach, . Allerdings geht sie (a.a.O. , ) von einem

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6 Anmerkungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Opus Hildegardianum

6.2 Heutige Einordnungen nach Gattungen religiöser Literatur im 12. Jahrhundert 6.2.1 Visionsliteratur Wenn man nach Gattungen religiöser Literatur im Mittelalter fragt, sind zwei verschiedene Blickwinkel zu unterscheiden: Zum einen der literaturwissenschaftliche, der die Zugehörigkeit eines Textes zu einer Gattung nach Kriterien mittelalterlicher, auf der Antike fußenden Rhetorik und der mittelalterlichen Literaturtheorien beurteilen würde. Deren Kenntnis wurde im Studium der artes vermittelt. Zum anderen der theologische, inwiefern ein bestimmtes Verständnis von Theologie mit der Favorisierung bestimmter Gattungen und der Entwicklung neuer Gattungen zusammenhängt. Auf diese Unterscheidung muss aufmerksam gemacht werden, um nicht zu schnell von der literarischen Gattung eines theologischen Werkes auf dessen Inhalt und Anspruch zu schließen. So kann etwa in der Gattung des Dialoges ebenso ein Gegenstand klösterlicher Disziplin verhandelt werden wie eine interreligiöse Diskussion oder eine theologische Detailfrage. Da die Theologiegeschichtsschreibung entweder den Ertrag von Einzelschriften und theologischen Auseinandersetzungen für die dogmatische Lehrentwicklung ansteuert, oder personen- und regionalgeschichtlich²⁷ gegliedert wird, gibt es meinem Wissen nach noch keine Gesamtdarstellung unter dem Gesichtspunkt theologischer Gattungen. Als Einzelgattung sind vor allem die scholastische Quaestionenliteratur sowie exegetische Kommentare zu einzelnen biblischen Büchern, wie den Hoheliedkommentaren, in historischen Querschnitten dargestellt. Hierbei besteht die Gefahr, jeweils von zwei Vorannahmen auszugehen: Erstens, dass das Werk x von vornherein der Gattung y zuzuschreiben sei. Zweitens die Vorannahme von Trennungslinien zwischen im eigentlichen Sinn akademischer theologischer Literatur und von religiöser Literatur im weiteren Sinne. Wenn das Adjektiv „theologisch“ ein Qualitätsurteil darstellt, muss freilich ab einem gewissen Punkt eine Unterscheidungslinie gezogen werden. Dabei sollte jedoch das jeweilige Theologieverständnis in seiner Bedingtheit aus modernen Anliegen des Forschers einerseits und

engerem intellektuellem Kontakt zwischen Bernhard von Clairvaux und Hildegard von Bingen aus, als es von der Quellenlage her zu rechtfertigen ist.  Rainer Berndt, „Interview durch R. Einig und S.Wiegand,“ Die Tagespost  (. . ): : „Über die Ausbildung an mittelalterlichen Frauenklöstern wissen wir nichts […]. Die Bibliotheken, die wir von Frauenklöstern haben, sind schwach bis mittelmäßig bestückt.“  So der „biographisch-mentalitätsgeschichtliche Ansatz“ bei: Manfred Gerwing, Theologie im Mittelalter. Personen und Stationen theologisch-spiritueller Suchbewegungen im mittelalterlichen Deutschland (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ), . Dabei solle exemplarisch der Zusammenhang zwischen Lehre und Leben bei den einzelnen Autoren deutlich werden sowie das Gesamtbild aus verschiedenen Autoren „in regionaler Perspektive“ dargestellt werden.

6.2 Heutige Einordnungen nach Gattungen religiöser Literatur im 12. Jahrhundert

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dem Selbstverständnis der akademischen Theologie zur Entstehungszeit des Textes andererseits offen gelegt werden. Dabei entsteht gerade das Opus Hildegardianum in einer Umbruchszeit, in der das, was Theologie alles sein kann, neu ausgelotet wird. Wegen des oftmals experimentellen Charakters des Theologieverständnisses in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts führen daher theologiegeschichtliche Modelle nicht weiter, die die Entwicklungen in verschiedene oppositionelle Lager gliedern wollen, wie etwa Dialektiker und Antidialektiker. Bereits in der Wahl einer theologischen Gattung ist, noch vor jeder theologischen Einzeläußerung, implizit eine theologische Grundaussage enthalten. Daher kann eine theologische Gattung als theologischer Fundort, als locus theologicus, gedeutet werden.²⁸ Zum Beispiel bekräftigt die Wahl der Gattungsform einer Visionsschrift, dass sich Gott²⁹ durch Bilder verständlich macht, die freilich der Deutung bedürfen. Dabei sind die dargestellten Bildsymbole Bilder des Lebens.³⁰ Denn auch außerhalb einer Visionsliteratur im engeren Sinn wird der Kommunikationszusammenhang zwischen Gott und Mensch als Bildgabe durch Gott und als Einübung in religiöses Sehen durch den Menschen aufgefasst. Die biblische narratio versteht sich nach Lk 1,17 als Wiedergabe der gesehenen Heilsereignisse:³¹ Schon viele haben es unternommen, die Erzählung in eine Reihenfolge zu bringen (ordinare narrationem) über die Dinge, die sich in uns erfüllt haben. So haben sie überliefert, was sie von Anfang an selbst gesehen haben.³²

 Dieser Schlussfolgerung zieht für das Beispiel des anselmischen Briefcorpus: Christian Alejandro Almada, Il genere epistolare, un „locus theologicus“ monastico-sapienzale (Rom: CreateSpace Independent Publishing Platform, ), .  Dies ist positiv an dem Deutungsansatz Zöllers hervorzuheben: Er spricht die Theologie Hildegards als Rede Gottes nach, in dem er seine Deutungen mit „Gott“ plus Prädikat beginnen lässt, aus der Deutung des Titels heraus. Vielleicht liegt hier eine der Ursachen der Faszinationskraft Hildegards für die heutige Zeit. (Vgl. Michael Zöller, Gott weist seinem Volk seine Wege. Die theologische Konzeption des „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen ( – ), Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie  (Tübingen und Basel: Francke, ), VII-XVII. Dementsprechend ausführlich fallen seine Darlegungen zur Einordnung in den theologischen Kontext ihrer Zeit aus (a.a.O.  – ).  Gerade der Sprachanalytiker Ludwig Wittgenstein wies darauf hin, dass Menschen anhand von Bildern über ihr Leben nachdenken und dies in einer Bildsprache artikulieren (Vgl. hierzu Keith Ward, Gott. Ein Kursbuch für Zweifler (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), ).  Mithin bietet Hildegard ein mittelalterliches Beispiel für die „Visualität der Literatur“, die ihrerseits die Wahrnehmung des Lesers in der außertextualen Realität bereichern soll (Friedmar Apel, Das Auge liest mit. Zur Visualität der Literatur (München: Carl Hanser, ), ).  Lk , f: Quoniam quidem multi conati sunt ordinare narrationem quae in nobis conpletae sunt rerum/ sicut tradiderunt nobis qui ab initio ipsi viderunt.

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6 Anmerkungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Opus Hildegardianum

Die lukanische Schilderung dieser Heilsbilder dient der Einsicht in die Worte der christlichen Unterweisung.³³ Ebenso verwendet Hildegard das Wort visio in einem grundsätzlicheren Sinn für die Sichtweise vom Glauben aus.³⁴ Zwar bezeichnet Zöller den Liber Scivias als „allegorische Visionsschrift“. Jedoch widerspricht er seiner eigenen Klassifikation, wenn er behauptet, dass sich Hildegard „weitgehend vom Text der Schrift“³⁵ löse. Als „visionärer Symbolismus“ wird das Opus Hildegardianum von Peter Dinzelbacher abgehandelt.³⁶ Hierbei wird jener als allgemeines Kennzeichen der theologischen Grundsicht ihrer Zeit angedeutet: Sie entwirft eine visionäre Theologie, der vorscholastischen Weltdeutung des Symbolismus verpflichtet, für den alles Existierende einen zu erforschenden religiösen Sinn enthielt.³⁷

„Visio“ dient Hildegard jahrzehntelang als übergeordnete Gattungsform für ihr gesamtes schriftliches Schaffen. Dies ist dadurch ermöglicht, dass sie die Strukturmerkmale jener Gattung in der Kombination mit verschiedenen anderen Gattungen wie Brief, Gedicht und Lied, Drama, Monographie, Quaestionenliteratur verändert. Dabei ist die stete Bezugnahme auf eine als erlebt geschilderte Schau das einheitsstiftende Moment. Der literarische Standpunkt von dem Erleben des Seherichs aus erklärt, warum das Opus Hildegardianum gleichzeitig Merkmale der Visionsliteratur, der Prophetie und der Mystik zeigt. So trifft die Autorin bereits vor aller Inhaltlichkeit eine offenbarungstheoretische Aussage, indem sie durch die literarische Form auf den inneren Erlebenszusammenhang von Vision, Prophetie und Mystik hinweist. Umgekehrt ist daraus für die Arbeit des modernen Interpreten zu folgern, dass Fragen der literaturtheoretischen Einordnung Hildegards nicht unabhängig von fundamentaltheologischen Sachfragen gelöst werden können. Zugleich überschreitet Hildegard durch ihren populartheologisch ausgeweiteten Adressatenkreis das klösterliche Wirkungsmilieu einer rein monastischen sapientalen Theologie. Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass sie, ungeachtet ihres eigenen Standesbewusstseins als Nonne im Hochadel,³⁸ eine Theologie konzipierte, die ein

 Lk ,: ut cognoscas eorum verborum de quibus eruditus es veritatem.  Vgl. LDO Visio II, , , Cap. , Z  f: Verbum…mentes hominum…in vera visione fidei videre facit.  Michael Zöller, „Aufschein des Neuen im Versuch, die Tradition zu bewahren. Zur theologiegeschichtlichen Einordnung des Buchs „Scivias“ der Hildegard von Bingen,“ Meditation  (): .  Peter Dinzelbacher, Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters. Ein Studienbuch (Berlin/ Boston: Walter de Gruyter, ) ; ähnlich in seinem grundlegendem Werk: Peter Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, Monographien zur Geschichte des Mittelalters  (Stuttgart: Anton Hiersemann, ), .  Peter Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, Monographien zur Geschichte des Mittelalters  (Stuttgart: Anton Hiersemann, ), .  Siehe hierzu: Tilo Altenburg, Soziale Ordnungsvorstelllungen bei Hildegard von Bingen, Monographien zur Geschichte des Mittelalters  (Stuttgart: Anton Hiersemann, ), .

6.2 Heutige Einordnungen nach Gattungen religiöser Literatur im 12. Jahrhundert

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einheitliches religiöses Grundverständnis stiftet. Dieses soll breiteren Kreisen des Volkes Gottes intersubjektiv vermittelbar sein.³⁹ Dafür sprechen Textsignale, in denen die Autorin während der Schau stellvertretend für alle möglichen Leser mit „o homo“ angesprochen wird. Die Visio gestaltet sich nicht einseitig als passives Erleben des Sehers, sondern wird als das Erscheinen von Bildfiguren (apparitio) ausgeschildert. Die literarische Darstellung der dynamischen, gleichsam filmisch wiedergegebenen Aktivität der Symbolfiguren evoziert eine entsprechende innere Aktivität des Lesers in ihrer Nachdeutung. Dies drückt Hildegard in der Kurzformel „spiritus elevat spiritum“ aus.⁴⁰ So schwankt auch die Niederschrift der Schau zwischen dem Anspruch, 1:1 direkt eine Gottesrede wiederzugeben, und so ein areopagitisches Verständnis von Theologie als Gottesrede zu reaktivieren, und dem Versuch der Autorin, eine Art „Übersetzungstätigkeit“ von der Gottesrede in Menschenwort auszuüben. Im Unterabschnitt 6.3.3 werden wir ausführlicher den Zusammenhang zwischen einer inhaltlichen Theologie des Lebens und der Wahl der Gattungsform eines Visionswerkes behandeln. Hildegard versucht sozusagen, Inhalte einer Theologie des Lebens im „Scheinwerfer“ des lebendigen Erkenntnislichtes aufzuzeichnen, das von Gott als Leben selbst ausgeht.

6.2.2 Prophetie und Apokalyptik Entgegen der verzeichnenden Kompilation im Pentachronon des Gebeno von Eberbach anhand einer Aufreihung von Passagen mit dem Stichwort des „antichristus“ nehmen apokalyptische Aussageformen im Visionswerk Hildegards nur einen schmalen Raum ein. Sie bewegen sich im Rahmen eschatologischer Aussagen, die aus den Schaubildern des biblischen Buches der Offenbarung abgeleitet werden. Hierbei warnt Hildegard selbst davor, aus ihren Ausdeutungen Mutmaßungen über konkrete kirchliche Geschehnisse in der Zukunft herauslesen zu wollen: Wann der jüngste Tag zur Errettung der Welt kommen wird, danach soll der sterbliche Mensch nicht fragen!⁴¹

 Dies kann mitunter in modernen Suchbewegungen nach einer milieusensiblen Theologie zu sehr übersehen werden. Dadurch würde die Theologie möglicherweise Dissoziationsentwicklungen in der postmodernen Gesellschaft beschleunigen.  Hildegardis Bingensis Liber Scivias, Pars Tertia,Visio , Z  f. Vgl. Liber Scivias III,, Z  f; ut possit volare in visione oculorum Spiritus illius qui interiora vidit.  Hildegardis Bingensis Liber Scivias, CCM , Pars Tertia,Visio , Cap. , , Z  f. Auch in der Sicht der hochmittelalterlichen Theologie dient die Prophetie eher dazu, „…die Geschichte mit den Augen Gottes zu sehen, um dementsprechend zu handeln.“ (Marianne Schlosser, Lucerna in caliginoso loco. Aspekte des Prophetie-Begriffes in der scholastischen Theologie,Veröffentlichungen des GrabmannInstitutes  (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ), ).

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6 Anmerkungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Opus Hildegardianum

In der wissenschaftlichen Sekundärliteratur ist es nicht unüblich, den prophetischen Charakter des Werkes Hildegards hervorzuheben: Eine „prophetische Bußpredigt“⁴² identifiziert Zöller. Gerwing nennt die Autorin „prophetisch begabt“.⁴³ Chávez Alvarez präzisiert, dass sie nicht deswegen eine Prophetin genannt werden kann, weil sie etwas über die Zukunft sagt, sondern weil sie die Wahrheit aus der Schrift bezeugt.⁴⁴ Auch die Hildegardforscherin Christel Meier-Staubach spricht von Hildegard als einer „Prophetin“.⁴⁵ Doch konkretisiert Hildegard das Nomen „prophetia“ auf einen spezifischen Verständnisradius, der ihrer Auffassung von „visio“ entspricht. Sie berührt mit diesem Nomen die Bereiche der Erkenntnistheorie und der Pneumatologie. Jene symbolisieren sich in Metaphoriken einer „pneumatologischen Skripturalität“.⁴⁶ Das Stichwort der Prophetie fällt im Liber Scivias erst spät.⁴⁷ Im Alterswerk Liber Divinorum Operum wird es als Schnittmenge zwischen einer Erkenntnishilfe Gottes für den Menschen⁴⁸ und einer inhaltlichen Erkenntnis für Erfordernisse einer Kirchenreform verwendet. Hildegard weitet die geistliche Rolle des Propheten aus zu einer „prophetischen Passiologie“.⁴⁹ Insofern „prophetische“ Erkenntnisse zur Deutung der Tiefenschichten der Schrift verhelfen, vermittelt durch den selben Geist, der die Lehre der Apostel (doctrina apostolorum) formierte, sind sie nicht als Spezialgnade, sondern gemäß Joel 3,1– 5 als Gabe für einen weiteren Kreis von Christen gegeben.⁵⁰

 Michael Zöller, „Aufschein des Neuen im Versuch, die Tradition zu bewahren. Zur theologiegeschichtlichen Einordnung des Buchs „Scivias“ der Hildegard von Bingen,“ Meditation  (): .Vgl. Michael Zöller, Gott weist seinem Volk seine Wege. Die theologische Konzeption des „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen ( – ), Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie  (Tübingen und Basel: Francke, ), .  Manfred Gerwing, Theologie im Mittelalter. Personen und Stationen theologisch-spiritueller Suchbewegungen im mittelalterlichen Deutschland (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ), .  Fabio Chávez Alvarez, „Die brennende Vernunft“. Studien zur Semantik der „rationalitas“ bei Hildegard von Bingen, Mystik in Geschichte und Gegenwart I,  (Stuttgart: Frommann-Holzboog, ),  f; ähnlich .  Christel Meier-Staubach, „Hildegard von Bingen,“ in RGG   (): .  Dieser Fachausdruck wurde von mir geprägt. (Vgl. das Kapitel ... dieser Arbeit).  Hildegardis Bingensis Liber Scivias, CCM , Pars Tertia, Visio , Cap. , , Z .  Vita Sanctae Hildegardis, FC , Liber , , übersetzt und eingeleitet von Monika Klaes (Freiburg/ Basel/Wien: Herder, ),  : cum Deus Spiritum suum per prophetiam et sapientiam vel per miracula in hominem mittit.  Auch dieser Terminus wurde von mir in dieser Arbeit geprägt, vgl. Kapitel .....  Vgl. LDO III, , , Cap. , Z  – : In ipsis etiam diebus multae prophetiae ac plurimi sapientes erunt, ita ut etiam occulta prophetarum et aliarum scripturarum sapientibus tunc ad plenum pateant et filii et filiae eorum prophetent.

6.2 Heutige Einordnungen nach Gattungen religiöser Literatur im 12. Jahrhundert

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Möglicherweise bezieht sich Hildegard hier auf die Auffassung ihres Zeitgenossen Peter von Cava, dessen Auslegung zum ersten Buch der Könige unter dem Namen Gregors des Großen zirkulierte: Die Verkündiger der heiligen Kirche aber üben das Prophetenamt aus, wenn sie alle im Herzen verborgenen Fehlhaltungen aufdecken, wenn sie die Geheimnisse geistlicher Vollkommenheit erschließen, wenn sie den verborgenen Sinn der Heiligen Schriften allen zur Kenntnis bringen.⁵¹

Ähnlich, wie wir es im folgenden Kapitel hinsichtlich der Andeutung mystischer Erfahrungsqualitäten für jeden Christen feststellen werden, zeichnet Hildegard die Kommunikation Gottes mit dem Menschen in Vision, Prophetie und Mystik nicht als Sondererlebnis für wenige Auserwählte. Gerade die Verschriftlichung und Verbreitung ihrer Visiones soll der allgemeinen kirchlichen Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. In dieser Hinsicht kann ihr Werk auch einer Populartheologie zugeordnet werden.Was in unserer Analyse literarischer und theologischer Werkkategorien zunächst als Manko in der Eindeutigkeit einer einlinearen Zuordnung erscheint, erweist sich bei dem sukzessiven Vergleich mit verschiedenen Einordnungsmöglichkeiten als eine innere Geschlossenheit der Werkintentionen Hildegards.

6.2.3 Wortschatz der Mystik Es ist eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Untersuchung, dass Codeworte der Mystik von Hildegard gehäuft verwendet werden. Zwar berichtet sie nicht von mystischen Erlebnissen im engeren Sinn. Ebenso wenig bietet sie eine Lehre eines geistlichen Lebens, das mystische Erlebnisse befördert. Jedoch stellt sie eine vertiefte Gottesbeziehung, in der die wechselseitige Begegnung von Gott und Mensch auch affektiv erfahrbar ist, als Grundzug eines jedem Menschen angebotenen christlichen Lebens heraus. So wird Mystik als mögliches Ereignis in der Subjektivität des Lesers angedeutet. Unser heutiger Fachterminus Mystik findet sich noch kaum im Mittellatein, abgesehen vom Beiwort einer theologia mystica bei Dionysius Areopagita. ⁵² Peter Dinzelbacher bestimmt den Kern der Mystik gemäß den Formulierungen von Bonaventura und Gerson als erkennende Begegnung mit Gott in der Erfahrung, als „cognitio Dei experimentalis.“⁵³ Jene sei von ihrer Natur her eher eine seltene „Aus-

 Peter von Cava, In  Reg , , CCL , ,  – , , hier in der Übersetzung unter dem Namen Gregors: Gregor der Grosse, Von der Sehnsucht der Kirche, Christliche Meister , Übers. und ausgewählt von Michael Fiedrowicz (Einsiedeln: Johannes, ), .  Vgl. Peter Dinzelbacher, Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters. Ein Studienbuch (Berlin: Walter de Gruyter, ), ; vgl. Areopagita, De mystica theologia I,.  Peter Dinzelbacher, Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters, .

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6 Anmerkungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Opus Hildegardianum

nahmeerfahrung“ der innerseelischen Vereinigung mit Gott,⁵⁴ die in Metaphern von Minne und Bräutlichkeit angedeutet wird.⁵⁵ Jener Erfahrung eigne ein emotionales⁵⁶ „Evidenzgefühl“.⁵⁷ Es liegt mit an der unpräzisen Fassung der Begriffe von Mystik und mystischer Theologie,⁵⁸ dass Hildegard in der Forschung oft nicht der Mystik eingeordnet wird. Chávez Alvarez meint, dass bei ihr die Themen der Mystik, wie das mystische Leiden, weniger betont seien.⁵⁹ Zöller formuliert das dezidierte Urteil, dass sich Hildegard „bewusst nicht als Mystikerin“⁶⁰ verstanden habe. Jedoch argumentiert er seinerseits nur aus der Sekundärliteratur.⁶¹ Er liefert keine Erklärung für den Befund eines mystischen Wortschatzes bei Hildegard.⁶² So wie Kurt Ruh ⁶³ will auch Ute Störmer-Caysa die Schriften und die Person Hildegards nicht der Mystik zuordnen: Hildegard hat keine im engeren Sinne mystische Theologie. Sie beruft sich auf Offenbarungen, aber ihr Handeln ist eminent politisch.⁶⁴

Hildegard verwendet das Adjektiv „mysticus“ für Prozesse der Einsichtgabe in Sachverhalte des Glaubens. „Mystisch“ rückt so auf die Seite Gottes, um den übernatürlichen Charakter seiner Erkenntnishilfe an den Menschen anzudeuten in einer „mystischen Darlegung“ (mystica ostensio)⁶⁵ und einer „mystischen Unterweisung“ (mystica eruditio)⁶⁶ des Menschen. Davon abgeleitet wird das Glaubensgeheimnis selbst als „mysterium mysticum“ bezeichnet.

 Peter Dinzelbacher, Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters, ; dieses Kriterium auch bei Uta Störmer-Caysa, Einführung in die mittelalterliche Mystik (Stuttgart: Phlipp Reclam jun., ), .  Vgl. Peter Dinzelbacher, Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters, .  Vgl. Peter Dinzelbacher, Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters, .  Peter Dinzelbacher, Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters, .  Vgl. Karl-Heinz Steinmetz, Mystische Erfahrung und mystisches Wissen in den mittelenglischen Cloudtexten, Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes Band  (Berlin: Akademie, ), .  Fabio Chávez Alvarez, „Die brennende Vernunft“. Studien zur Semantik der „rationalitas“ bei Hildegard von Bingen, Mystik in Geschichte und Gegenwart I,  (Stuttgart: Frommann-Holzboog, ): .  Vgl. Michael Zöller, Gott weist seinem Volk seine Wege. Die theologische Konzeption des „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen ( – ), Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie  (Tübingen und Basel: Francke, ), , Anmerkung .  Michael Zöller, Gott weist seinem Volk seine Wege,  – .  Michael Zöller, Gott weist seinem Volk seine Wege, .  Kurt Ruh, Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des . Jahrhunderts, Bd. , Geschichte der abendländischen Mystik (München: C.H. Beck, ),  f.  Uta Störmer-Caysa, Einführung in die mittelalterliche Mystik (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ), , Anm. .  Hildegardis Bingensis Liber Scivias, CCM , Pars III,Visio , , Z  f: mihi in mystica ostensione mysterium…demonstratum fuerat.  Liber Scivias, Pars I, Visio Prima, , Z .

6.3 Einordnung nach heutigen Stilkategorien des Theologisierens

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Im Zusammenhang mit einer Theologie des Lebens begegnen im Liber Scivias und im Liber Divinorum Operum folgende Grundworte der Mystik, die entweder wie „amplexus“⁶⁷ Signalworte der zisterziensischen Mystik sind oder insbesondere der literarischen Tradition der mystischen Sinne geläufig sind: Beispiele für einen Wortschatz der Mystik bei Hildegard: amplexus/amplexio/ consensus/ consortium/ cor/ gaudium/ gustus/ felicitas/ imitatio/ sensus/ suavitas/ suspirare/ tactus

desiderium/ illuminare/

dulcedo/ inspiratio/

6.3 Einordnung nach heutigen Stilkategorien des Theologisierens 6.3.1 Symboltheologie Auch in der Anwendung auf mittelalterliche Schriften ist die Rede von der Symboltheologie eine Sichtweise von heutiger Forschung auf mittelalterliche theologische Texte. Jene findet ihre Berechtigung, indem sie aus poetologischen und erkenntnistheoretischen Werken einerseits wie aus methodologischen Bemerkungen der Primärautoren und aus der Beobachtung der Verfahrensweisen durch moderne Interpreten andererseits aus einem weiteren Kreis von Schriften zusammen gestellt wird. Hierbei zeigt sich, wie es Chenu als Altmeister der theologiegeschichtlichen Forschung vorführt, dass Symboltheologie nicht als Spezifikum einer bestimmten theologischen Schulrichtung, wie vermeintlich etwa der monastischen Theologie, einzugrenzen ist. Vielmehr ist sie ein autoren- und schulübergreifendes Charakteristikum der ganzen Theologie des 12. Jahrhunderts: Le moyen âge est l’âge du symbol. ⁶⁸

Deswegen beschreibt Chenu die theologische Eigenart des Werkes Hildegards als „symbolisme sotériologique“.⁶⁹

 So der Titel der Monographie von: Kai G. Sander, Amplexus. Die Begegnung des Menschen mit dem dreieinen Gott in der Lehre des seligen Wilhelm von St. Thierry, Quellen und Studien zur Zisterzienserliteratur  (Langwaden: Bernardus, ). Auch bei den Victorinern ist „amplecti“ ein mystischer Zentralbegriff (Siehe hierzu Martin Schniertshauser, Consummatio Caritatis. Eine Untersuchung zu Richard von St. Victors De Trinitate, Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie  (Mainz: Grünewald, ),  f).  Marie-Dominique Chenu, La théologie au douzieme siècle, Études de philosophie médiévale  (Paris: J. Vrin, ), .  Marie-Dominique Chenu, La théologie au douzieme siècle, .

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6 Anmerkungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Opus Hildegardianum

Literarische Symbole repräsentieren mentale „Verdichtungen von unüberschaubaren, komplexen Zusammenhängen.“⁷⁰ In der begriffsgeschichtlichen Entwicklung kann das Symbol ebenso als Erkennungszeichen einer vereinbarten Zusammengehörigkeit gedeutet werden wie als rätselhafte Allegorie, die zur Entschlüsselung einlädt.⁷¹ Jene Ambivalenz in der antiken heidnischen Begriffsspanne erklärt den weiten Begriffsumfang von Symbol in der mittelalterlichen Exegese und Theologie: So wird es zum Überbegriff für den grundsätzlichen ontologischen „Zusammenhang des Diesseits und des Jenseits“,⁷² der sich wiederum in den Glaubensbekenntnissen als Symbola in der Zusammenfassung entscheidender Glaubensinhalte ausdrückt. Hildegard entwirft nicht eine rein sprachtheoretische Metareflexion zur significatio. ⁷³ Sondern sie verwurzelt sie in ontologische Tiefengründe, in dem sie jene mit der Mikrokosmos-Makrokosmos-Struktur verbindet.⁷⁴ Die Bezeichnung religiöser Sachverhalte durch sprachliche Symbolbilder und ihre Ausdeutung sind dadurch ermöglicht, dass der Mensch in seinen Betrachtungen Gott wie in einem Siegelbild (sigillum) erblickt.⁷⁵ Deshalb ist, wie C.S. Lewis zu Bedenken gibt, die symbolische Ausdrucksweise eine anthropologische Grundkonstante.⁷⁶ Der Heilige Geist kann nach Hildegard als authentischer Interpret den Menschen über die in der Schöpfung angelegte praefiguratio von Schöpfungsdingen auf religiöse Deutungsmöglichkeiten hin belehren.⁷⁷ Es wäre lohnend, die neueren Forschungen zum exegetischen Schaffen Hildegards⁷⁸ in die Untersuchung ihrer symboltheologischen Arbeitsweisen mit einzubeziehen. Gerade aus ihren exegetischen Arbeitsproben in den Opera Minora kann man

 Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol (Göttingen: Vandenhoek&Ruprecht, ), .  Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, .  Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, .  Zu Theorien der (con‐)significatio im . Jahrhundert vgl. Luisa Valente, „Iustus et misericors, L’usage théologique des notions de consignificatio et connotatio dans la seconde moitié du XIIe siècle,“ in Vestigia, Imagines, verba. Semiotics and logic in medieval theological texts (XIIth-XIVth Century), Semiotic and cognitive studies IV, Hg. Costantino Marmo (Turnhout: Brepols, ), , .  Siehe zu diesem Zusammenhang zwischen der ontologischen Makrokosmos/Mikrokosmos-Struktur und einem literarischen Symbolismus: Gerhart B. Ladner, „Medieval and modern understanding of symbolism,“ Spec  (): .  Liber Divinorum Operum, CCM , Pars Prima,Visio , Cap. , , Z  f: In his cogitationibus homo omnipotentem Deum sicut sigillum inspiciat. Dieser Zusammenhang wird erläutert bei: Stephan Otto, Der Bildbegriff in der Theologie des . Jahrhunderts, Beiträge zur Philosophie und Theologie des Mittelalters Bd. /I (Münster in Westfalen: Aschendorff, ), .  Clive Staples Lewis, The Allegory of Love. A Study in Medieval Tradition (London: Oxford University Press, ), .  Liber divinorum Operum, Pars Tertia,Visio , , Cap. , Z  – : Nam Spiritus Sanctus in populo suo prophetando protulit quod per primam vocationem, qua Adam vocatus est, praefiguratum erat: quod liberator hominum venturus esset.  Zum Beispiel Beverly Mayne Kienzle, Fortifications of the World: Hildegard of Bingen as Preacher and Exeget (Turnhout: Brepols, ).

6.3 Einordnung nach heutigen Stilkategorien des Theologisierens

297

wertvolle Aufschlüsse über ihr Methodenbewusstsein in allegorischen und symbolischen Darstellungs- und Auslegungsverfahren gewinnen. Aus heutigen Erkenntnisinteressen einer vorrangig visuellen Kultur heraus wird Symboltheologie zuweilen in den weiteren Fragenkreis einer Bildtheologie gestellt. Im Blick auf das 12. Jahrhundert soll es hier jedoch um die Bildlichkeit der Sprache und um die tiefer gelagerten Fragen nach Deutungsebenen der Bibel gehen. So wurde in dieser Dissertation der hildegardianische Text weitgehend unabhängig von den Illustrationen in den Sammelhandschriften untersucht. Einerseits sollte so eine Vermengung mit Problemen einer wechselseitigen Bild-Text-Inferenz vermieden werden. Andererseits zielt die mittelalterliche Symboltheologie weniger auf einen Ansatz beim konkreten gegenständlichen Denken des Menschen. Sondern es geht um Darstellungsmittel, um tiefere Sachzusammenhänge aufzudecken, die sich hinter dem wörtlichen Sinn (Literalsinn) eines Wortes oder einer Aussage verbergen. Die aus der Patristik übernommene Lehre von drei bzw. vier Schriftsinnen⁷⁹ dient nicht nur der Exegese biblischer Schriften im engeren Sinn. Nachdem symbolische und allegorische Auslegungen bereits in der heidnischen Antike geübt wurden, weitet sich dieses Verfahren nun zu einem Gesamtbild⁸⁰ und zu einer literarischen Abbildung von gestufter Wirklichkeit. Nicht nur eine weiterführende Deutungsweise bei dunklen Stellen, zur der Augustinus riet,⁸¹ ist intendiert. Vielmehr bauen symbolische Darstellungskünste und Auslegungsverfahren eine prinzipielle Sicht auf das Sein auf. Sie werden zur Struktur (fabrica spiritualis)⁸² von Theologie, die den Anspruch erhebt, in  Die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn war nicht nur eine methodische Orientierung für die Exegese, sondern diente im . Jahrhundert auch als Organisationschema für die systematische Anordnung theologischer Einzelgebiete. Siehe hierzu Henri de Lubac, Typologie, Allegorie, Geistiger Sinn. Studien zur Geschichte der christlichen Schriftauslegung, Übers. und eingeleitet von Rudolf Voderholzer (Einsiedeln/Freiburg: Johannes, ), ; zur Dienstlichkeit des Auslegungsverfahrens in mehreren Schriftsinnen für das Bild des lebendigen Wassers im Kommentar zum Johannesevangelium des Rupert von Deutz: Reventlow, Henri Graf von, Von der Spätantike bis zum Ausgang des Mittelalters, Bd. , Epochen der Bibelauslegung (München: C.H. Beck, ), .  Die Architektur der Arche Noach wird etwa bei Hugo von St. Victor in De Arca Noe mystica (PL ) zu einem Spiegel für Strukturen der Kirche einerseits und für die Heilsgeschichte andererseits (vgl. Reventlow, Epochen der Bibelauslegung,  – ). Diese Auslegung wurzelt in der mnemotechnischen Didaktik in Antike und Mittelalter, sich anhand eines „Gedächtnispalastes“ komplexere Sachverhalte einzuprägen (Vgl. Ivan Illich, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand (München: C.H. Beck, ), ; sowie: Claudia Brinker-von der Heyde, Die literarische Welt des Mittelalters (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ),  f).  Augustinus, De Doctrina Christiana II, XVI, . Vgl. hierzu Gisela Seitschek, Schöne Lüge und verhüllte Wahrheit. Theologische und poetische Allegorie in mittelalterlichen Dichtungen, Schriften zur Literaturwissenschaft  (Berlin: Duncker&Humblot, ), . Ibd., Anm.  macht die Autorin darauf aufmerksam, dass im Mittelalter die augustinische Konzeption von einer Notwendigkeit dunkler Stellen in der Bibel, die den Leser zum demutsvollen Weiterfragen nach ihrem Tiefensinn anregen, mit der areopagitischen von einer Verschattung der menschlichen Erkenntnis im Gegenüber zur göttlichen Überhelle verbunden wurde.  Vgl. Marie-Dominique Chenu, La théologie au douzieme siècle, Études de philosophie médiévale  (Paris: J. Vrin, ), .

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6 Anmerkungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Opus Hildegardianum

Einzelerklärungen das Gesamt der Daseinsverhältnisse im Bezug auf Gott ins Feld zu führen. So konnte Chenu in den 60iger Jahren mittels einer Synopse grundsätzlicher Äußerungen etlicher theologischer Schulen des 12. Jahrhunderts zeigen, wie symbolische Verfahren der Darstellung und Deutung, die sich mitunter als Symbolik der Symbolik aufschichten, wesentliche Grundelemente eines theologischen Systems nach sich ziehen, die ihrerseits untereinander in Zusammenhang stehen: Symbolische Argumentationsformen⁸³ in der Theologie bedienen sich der Deutungsweise von Analogie und Anagogie. Insofern die Dinge der Welt wie ein Spiegel (speculum) etwas von Gott zeigen, erscheint in ihnen etwas von Gott. In ihnen ist nicht Gott selbst, sondern sie zeigen etwas von Gott, insofern sie Anteil (participatio) an ihm haben. Symboltheologie wird so zu einem theologischen Programm, das bereits etliche inhaltliche Grundaussagen nach sich zieht. Dies begründet dann den Anspruch einerseits, und den – ungeachtet aller apophatischen Einzelaussagen und aller allgemeinen epistemischen Vorbehalte⁸⁴ gegenüber der Unergründlichkeit des Mysteriums – grundsätzlichen Erkenntnisoptimismus andererseits, dass es theologische Untersuchungswege und Sprachformen geben kann, die etwas Zutreffendes aussagen und dabei stets alle Einzelerkenntnisse in ein stimmiges Ganzes einbergen. Von dieser grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Zuversicht her, die eine gewisse Zugänglichkeit der Hintergründigkeit des Seins durch analoge Muster des Erkennens und Aussagens ermöglicht sieht, erklärt sich die mittelalterliche Auffassung des Realitätsbezuges von Symbol und Metapher: Le symbole est l’expression vraie de la réalité.⁸⁵

Hier ist ein grundlegender Unterschied zu modernen Theorien zu Symbol und Metapher zu konstatieren: Anders als in manch modernen Darstellungen wird eine Metapher eben nicht als uneigentliche, nur im übertragenen Sinn gültige Redeweise qualifiziert: Sondern der Modus des Überganges wird im Gebrauch von etwas Sichtbaren für unsichtbare, aber reale Zusammenhänge gesehen.⁸⁶ Erst recht ist ein Symbol nicht nur ein gegenständliches Zeichen, sondern Türöffner für die nicht auf den ersten Blick offen stehenden Seinsverhältnisse, die das tragen, was konkret augenfällig in Erscheinung tritt. Die antiken Äthiologien erklären

 Der folgende Absatz bietet eine Zusammenfassung von Kerngedanken bei Marie-Dominique Chenu, La théologie au douzieme siècle,  – .  Dass die Theologie nicht um eine Bildersprache herumkommt, auch wenn es ihr Amt ist, sie kritisch zu hinterfragen, und dass so gerade eine Bildtheologie die Unaufgebbarkeit der theologischen Reflexion bedingt, erläutert Otto Hermann Pesch, Die Geschichte der Menschen mit Gott. Teilband /, Bd. , Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung (Ostfildern: Matthias-Grünewald, ), .  Marie-Dominique Chenu, La théologie au douzieme siècle, .  Marie-Dominique Chenu, La théologie au douzieme siècle, .

6.3 Einordnung nach heutigen Stilkategorien des Theologisierens

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das Symbol als Unterpfand einer größeren Realität. Ein Symbol soll eben nicht „nur symbolisch“ aufgefasst werden, sondern als Andeutung der eigentlichen Wahrheit. Daher sollen schriftliche Schilderungen einer Symbolik nicht nur über etwas berichten, sondern die hinter ihn stehende Wirklichkeit verdichtet im Wahrnehmungsraum des Lesers wirksam werden lassen. Daraus ergeben sich für die Interpretation des Opus Hildegardianum und ihre Einordnung in die zeitgenössischen theologischen Kontexte mehrere Folgerungen: 1. Moderne Symboltheorien wie die von Ricouer und Cassirer können zwar in ergänzender Kontrastierung zur Deutung herangezogen werden, um den Verständnishorizont des modernen Lesers zu erhellen, der heute zu den Schriften Hildegards greift. Manche impliziten Grundannahmen der Autorin würden aber übersehen, wenn man Symbolismus in der Theologie auf die Eigenheiten einer Mönchstheologie eingrenzt, statt in ihnen den übergeordneten Rahmen eines theologischen Konzeptes zu erkennen. 2. Indem Hildegard Symbole beschreibt, Symbolwelten kombiniert und Symbole durch Symbole erklärt, lässt sie dadurch bereits etliche indirekte Aussagen über das geschaffene Leben als sinnhaft entworfenen ordo einfließen. Dazu gehört auch die implizite Grundaussage, dass jene Sinnhaftigkeit nur durch geistige Einblicke (intellectus) entdeckt und als bergend nachvollzogen werden kann, wobei der Mensch auf Erkenntnishilfen durch das sich offenbarende Gegenüber Gottes angewiesen ist. Wort und Ding sind kein Gegensatz, sondern im offenbarenden Logos aufeinander bezogen. Darauf gründet sich, wie im vorherigen Kapitel gezeigt wurde, der dichte Bezug von Sprache und Theologie. Die experimentellen theoretischen Programme einer theologischen Grammatik wie etwa bei Alanus von Lille ⁸⁷ führt Hildegard in literarischer Ausgestaltung praktisch durch. Als Gedankenexperiment könnte man sich folgendes Modell vorstellen: Ein Filmregisseur greift zu einem theoretischen Werk eines zeitgenössischen Philosophen. ⁸⁸ Er dreht jedoch hierzu keinen Lehrfilm, oder eine Dokumentation, in dem Autor und Werk mit zentralen Thesen genannt werden. Sondern er entwickelt einen Spielfilm, zum Beispiel eine Komödie für das Sommerkino, in dem die dargestellte Welt dem Weltbild des theoretischen Werkes entspricht. Ab und an ist in den Dialog der konkreten,

 Zur Unternehmung einer theologische Grammatik bei Alanus von Lille siehe Marie-Dominique Chenu, La théologie au douzieme siècle, .  Dieser Vergleichspunkt findet ihre Abstützung in dem Forschungsergebnis von Vicki Ranff, Wege zu Wissen und Weisheit. Eine verborgene Philosophie bei Hildegard von Bingen, Mystik in Geschichte und Gegenwart Abteilung I: Christliche Mystik  (Stuttgart-Bad Canstatt: Frommann-Holzboog, ), : Es kann nämlich auch bei Hildegard eine „verborgene Philosophie“ entdeckt werden: „Der genau hinschauende Leser kann hinter einer formal unphilosophischen Darstellungsweise der intuitiv-visionären Bilder in der satten, farbigen und semantisch reichen Sprache sowie den Wissens- und Weisheitsbegriffen mit bewusst eingesetzten, unterschiedlichsten Epitheta eine verborgene Philosophie entdecken, …“.

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6 Anmerkungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Opus Hildegardianum

fiktiven Filmpersonen ein einzelner Fachbegriff oder eine kurze Sentenz aus dem theoretischen Werk eingeflochten. Es wird aber nicht mehr als theoretisches Wort, sondern als Beschreibung der Erlebnisse der Filmfiguren verwendet. Zu den Filmfiguren gehört auch das literarische Ich des Filmautors, das jedoch durch übergeordnete Deutungen einer Stimme aus dem Off relativiert wird. Gespielt wird also nach den Regeln des theoretischen Werkes, ohne dass jene explizit in der Filmhandlung ausgesprochen werden. Durch eine solche Analogie kann man das Verhältnis von Originalität⁸⁹ und Referentialität des Werkes Hildegards ermessen: Ohne Bezugnahmen auf Werke im Hintergrund, wie die epiphanische Lebenstheologie im Periphyseon Eriugenas, die Gerechtigkeitskonzeption Anselms ⁹⁰ oder den exegetischen Kernbegriff der medulla als Tiefensinn der Bibel bei Petrus Damiani ⁹¹ hätten die Schriften Hildegards nicht entstehen können. Aber ihre künstlerische und ebenso ihre theologische Leistung liegt nicht nur in der Verdichtung von Bezugswerken, die zuweilen um den Preis von Ungenauigkeiten in dogmatischer Hinsicht bewerkstelligt wird. Ihre theologische Originalität ist nicht nur aus der Verwendung eines breitgefächerten Lebensbegriffes als einem von mehreren Einheitspunkten ihrer theologischen Gesamtsicht ersichtlich. Sondern ihre theologische Einzigartigkeit entsteht gerade aus jenem im Gewand von Visionsliteratur vorgetragen Transformierungsprozess von theoretischen Programmen in bewegte Visionsräume, deren Symbolgehalte in multiperspektivischen Dialogen gedeutet werden. Dabei sind Deutungsräume für den Leser offen gehalten, um ihn in den Tiefengrund des als (ein‐)sehbar Geschilderten hineinzuziehen.

 Die Frage nach der Originalität Hildegards ist gut gesehen bei Michael Zöller, „Aufschein des Neuen im Versuch, die Tradition zu bewahren. Zur theologiegeschichtlichen Einordnung des Buchs „Scivias“ der Hildegard von Bingen,“ Meditation  (): : „So sehr deutlich wird, dass „Scivias“ mit den theologischen Diskussionen seiner Zeit in Berührung steht, so geht die Schrift dennoch in keiner der Gattungen des geistlichen Schrifttums des . Jahrhunderts völlig auf. Hildegard stellt ihnen etwas Neues zur Seite.“  Daher ist die Schlussfolgerung von Barbara Stühlmeyer, Die Gesänge der Hildegard von Bingen. Eine musikalische, theologische und kulturhistorische Untersuchung (Hildesheim/Zürich/New York: Olms, ), , unzutreffend, dass die anselmische Hochtheologie keine Spuren im Werk Hildegards hinterlassen hätte.  Petrus Damiani, Ep. , PL : Qui nimirum intra litteralis paleaethecam, dulcem intelligentiae spiritalis ambiunt enucleare medullam. Hic certe quid est hoc veraciter vescitur, qui in assidua scripturae sacrae sollerter inquisitione versatur. Vgl. Zu diesem Sprachbild von dem Knochenmark (medulla) der Schrift: Thomas Wünsch, Spiritalis intelligentia. Zur allegorischen Bibelinterpretation des Petrus Damiani, Theorie und Forschung / Philosophie und Theologie  (Regensburg: S. Roderer, ), . Hildegard flicht das Stichwort der medulla litterarum zu Beginn des Liber Scivias ein (Hildegardis Bingensis Liber Scivias, Pars Prima, Visio Prima, , Z ). Dem Wortbild der medulla, der Freilegung des inneren Kerns der Schrift, also einer Ausweitung nach innen, korrespondieren die zahlreichen Symboliken von einer geistlichen Bereicherung des Menschen. Bei der Analyse von einzelnen Visiones haben wir festgestellt, dass sie gleichzeitig Symbolbilder für das Leben sind.

6.3 Einordnung nach heutigen Stilkategorien des Theologisierens

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Während Eriugena im Widerhall des Bilderstreites⁹² von Theophanie spricht, will Hildegard eine solche in concreto vorführen. Die in den Analysen der Einzelvisionen immer wieder angesprochenen Verfahren einer Renarratisierung sind mithin als ein Teilverfahren innerhalb jenes umgreifenden literarischen Transformierungsprozesses einzuordnen. Der Symbolismus Hildegards lässt sich so als allgemeines Merkmal des Theologisierens im 12. Jahrhundert beschreiben. Er wäre also nicht in heutigen Interpretationen als Besonderheit hervorzuheben. Er ist jedoch insofern besonders, als Hildegard eine literarische Bauform gewählt hat, die ihrerseits ein Symbol für symbolische Theologie ist, ein lebendiges Diorama für Bildtheologie. Daher ist die Wahl der Gattung der Visionsschrift vom inneren theologischen Anliegen her zwingend, um Symboltheologie nicht nur als theologische Methode, sondern als inhaltliches Programm einer diaphanen Wirklichkeitssicht abzubilden.

6.3.2 Populartheologie Bereits Martin Grabmann wies auf eine „positiv-praktische Richtung“⁹³ in der Theologie der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts hin. Er zählt hierzu Autoren wie Petrus Comestor, Petrus Cantor, Liebhard von Prüfening und Wilhelm de Montibus. ⁹⁴ Gleichwohl steht die Erforschung einer Populartheologie noch in ihren Anfängen.⁹⁵ Erste Anstöße zur Rekonstruktion einer Popularphilosophie⁹⁶ erfolgten 1989 durch Ruedi Imbach. ⁹⁷

 Zur Rolle der Ikonenverehrung im . und . Jahrhundert für die hairesis biou, für die Wahl und Vertiefung der rechten christlichen Lebensführung siehe Aidan Nichols, Redeeming Beauty. Soundings in Sacral Aestetics (Aldershot: Ashgate, ), . Zur differenzierten Verteidigung eines Bilderkultes, der durch die Inkarnation zu rechtfertigen ist, jedoch die innere Kontemplation nicht überdecken darf, in der monastischen Theologie des . Jahrhunderts vgl. Jean Wirth, „Die Bestreitung des Bildes vom Jahr  bis zum Vorabend der Reformation,“ in Bild-Konflikte, Bd. , Handbuch der Bildtheologie (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ),  f.  Martin Grabmann, Die Geschichte der katholischen Theologie seit dem Ausgang der Väterzeit, unveränderter Nachdruck der ersten Auflage  (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), .  Martin Grabmann, Die Geschichte der katholischen Theologie seit dem Ausgang der Väterzeit, .  Vgl. die Bemerkungen bei Rolf Schönberger, Was ist Scholastik?, Philosophie und Religion: Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Philosophie Hannover , mit einem Geleitwort von Peter Koslowski (Hildesheim: Bernward, ), . Auf die Forschungen von Aaron J. Gurjewitsch zur religiösen Volkskultur im Spiegel schriftlicher Zeugnisse weist hin: Ludolf Kuchenbuch, Reflexive Mediävistik. Textus – Opus – Feudalismus, Campus Historische Studien  (Frankfurt: Campus, ), .  Der Ausdruck einer „Popularphilosophie“ wurde schon im . Jahrhundert geprägt, und von den Aufklärern zu einem bildungstheoretischen Programm erhoben. (Vgl. Hubertus Busche, „Popularphilosophie,“ in LThK  : ).

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6 Anmerkungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Opus Hildegardianum

Unter Populartheologie wird in theologiegeschichtlicher Hinsicht vor allem eine Theologie verstanden, die sich an weitere Adressatenkreise richtet.⁹⁸ Durch Auswahl, Vereinfachungen und Verkürzungen sollen Schriften angeboten werden, deren Lektüre das christliche Alltagsleben fördert. Neben einer solchen Theologie für eine breitere Öffentlichkeit ist eine Theologie vom Volk aus⁹⁹ weniger berücksichtigt, was vor allem an mangelnder Schreibfähigkeit und mangelnder Überlieferung liegt.¹⁰⁰ Manche Hinweise zu diesem Themenfeld könnten gegebenenfalls aus dem „Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum“¹⁰¹ gewonnen werden, das wir in dieser Arbeit für einige Detailfragen herangezogen haben. Wenngleich es sich bei dem Opus Hildegardianum um eine Theologie nicht vom Volk, sondern für das Volk handelt, so spiegelt sich in ihm doch ihre Anteilnahme an aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und Problemen. Wie Tilo Altenburg analysiert hat, geht Hildegard im Liber Divinorum Operum auf die „gesellschaftliche Unruhe“¹⁰² ihrer Zeit ein, in der viele Gesellschaftsschichten um ihre Positionierung ringen. Im Spätwerk erhebt sie nicht nur die Option für die Armen, sondern stellt sie jene als geistliches Vorbild heraus.¹⁰³

 Imbach, Ruedi, Laien in der Philosophie des Mittelalters. Hinweise und Anregungen zu einem vernachlässigtem Thema (Amsterdam: B.R. Grüner, ).  Spuren von Metareflexionen für eine Populartheologie aus der Tradition der Regula Pastoralis finden sich in mittelalterlichen Anleitungen zur Predigt, zum Beispiel bei Hrabanus Maurus, De institutione clericorum. Über die Unterweisung der Geistlichen Bd. , Fontes Christiani /, Übers. und eingeleitet von Detlev Zimpel (Turnhout: Brepols, ), Liber Tertius, Cap. , – . Das einfache Volk (vulgus; a.a.O., , Z ) ist wissenssüchtig (avida multitudo; a.a.O., , Z ). Daher dürfe man gerade bei diesem Adressatenkreis nicht zu tief ansetzten und ihn mit längst Bekannten langweilen (a.a.O., , Z ). Hingegen muss man ihn durch die varietas dicendi gewinnen. (, Z ). Jedoch beurteilt es André Vauchez eher als ein strategisch motiviertes Unterfangen, wenn Honorius von Autun seine Predigten auf die jeweiligen Hörergruppen abstimmen will. (So André Vauchez, „Der Einstieg der Laien in das religiöse Leben,“ in Machtfülle des Papsttums ( – ), Bd., Die Geschichte des Christentums. Religion, Politik, Kultur, Hg. André Vauchez, deutsche Ausgabe bearbeitet und herausgegeben von Odilo Engels, und Mitarbeit von Georgios Makris und Luwig Vones (Freiburg im Breisgau: Herder, ), ).  Als wenn auch oft nicht textlich fixierte religiöse Stellungnahme breiterer Bevölkerungskreise könnten die im . Jahrhundert zunehmend erstarkenden Laienbewegungen gewertet werden. (Vgl. Ulrike Stölting, Christliche Frauenmystik im Mittelalter. Historisch-theologische Analyse (Mainz: Matthias-Grünewald, ),  f). Allerdings rekrutierten sich jene oft, zumal in der sogenannten Armutsbewegung, gerade aus den höheren Bevölkerungsschichten.  Gewissen Spuren könnten zum Beispiel aus den Viten von Volksheiligen aus einfachen Ständen erhoben werden oder aus Befragungsprotokollen in Kanonisationsakten.  Peter Dinzelbacher, Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum in  Bänden, insbesondere Band : Hoch- und Spätmittelalter (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ).  Tilo Altenburg, Soziale Ordnungsvorstellungen bei Hildegard von Bingen, Monographien zur Geschichte des Mittelalters  (Stuttgart: Anton Hiersemann, ), .  Tilo Altenburg, Soziale Ordnungsvorstellungen bei Hildegard von Bingen, .

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Von der Literaturgeschichtsschreibung kann die Theologiegeschichte auf folgende zwei Problemfelder aufmerksam gemacht werden: a) Das Verhältnis von volkssprachlicher und lateinischer Literatur. Gerade den Schriften von Nonnen kommt hier oft die Funktion eines übersetzenden und vermittelnden Überganges zu.¹⁰⁴ Für die historische Einbettung und die Wirkungsgeschichte Hildegards wäre hier unter anderem das Verhältnis des Elucidarium von Honorius von Autun zum volkssprachlichen Lucidarius zur berücksichtigen.¹⁰⁵ b) Das Verhältnis von schriftlicher und mündlicher Kultur. Dies ist auch für die Theologie von Belang, da etliche ihrer Schriften in dialogischen Lehrkontexten, sei es an den Domschulen und Frühformen der Universitäten, oder in den verschiedenen klösterlichen Bereichen von Ausbildung, Fortbildung und lectio continua entstanden. So ist auch in der akademischen Theologie „…das mittelalterliche Wort primär als ein gehörtes zu denken…“.¹⁰⁶ Anhand dieser beiden Problemfelder wird schon ersichtlich, dass für das 12. Jahrhundert eine akademische und eine populare Theologie nicht trennscharf unterschieden werden können, weder hinsichtlich der Entstehungsbedingungen, noch hinsichtlich der Fachsprachlichkeit, der Adressaten oder der Themenkreise. So warnt Zöller, ungeachtet aller Inkonzinitäten und dogmatischen Ungenauigkeiten Hildegards, wie sie uns in den Analysen des zweiten Kapitels dieser Arbeit begegnet sind: Gerade wegen seinem Bemühen um Systematik sollte Hildegards Werk nicht allzu sehr von der scholastischen Theologie ihrer Zeit abgegrenzt werden.¹⁰⁷

Denn der Zug des Systematisierenden und Enzyklopädischen können durchaus beiden Spielarten von Theologie zugeschrieben werden. Zur Recht spricht Zöller das Bestreben nach einer „systematisierenden Gesamtschau“¹⁰⁸ Hildegards in einer „Enzyklopädie des Glaubens“ ¹⁰⁹ an. Jene solle im Liber Scivias sowohl Glaubenswissen vermitteln wie

 Dies hebt hervor Kurt Ruh, Die Grundlegung der Theologie der Kirchenväter und die Mönchstheologie des . Jahrhunderts, Bd., Geschichte der abendländischen Mystik (München: C.H. Beck, ), .  Hierzu: Dagmar Gottschall, Das ‚Elucidarium‘ des Honorius Augustodunensis. Untersuchungen zu seiner Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte im deutschsprachigen Raum mit Ausgabe der niederdeutschen Übersetzung. Texte und Textgeschichte (Berlin: Walter de Gruyter, ).  Max Wehrli, Literatur im deutschen Mittelalter. Eine poetologische Einführung (Stuttgart: Philipp Reclam jun., ), .  Vgl. Michael Zöller, Gott weist seinem Volk seine Wege. Die theologische Konzeption des „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen ( – ), Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie  (Tübingen und Basel: Francke, ), , Anmerkung .  Michael Zöller, Gott weist seinem Volk seine Wege, .  Michael Zöller, Gott weist seinem Volk seine Wege, ; einem enzyklopädischen Charakter widerspricht Fabio Chávez Alvarez, „Die brennende Vernunft“. Studien zur Semantik der „rationalitas“ bei

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6 Anmerkungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Opus Hildegardianum

tiefer in das Glaubensleben einführen, so dass ihm die Intention einer „mystagogischen Katechese“¹¹⁰ zugesprochen werden könne. Aus heutigem Blickwinkel sucht die theologiegeschichtliche Forschung, für die populären Summen der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und für das Visionswerk Hildegards, insofern es auch eine Art theologischer Summa bietet, nach Einheitsprinzipien, wie zum Beispiel das neuplatonische exitus-reditus Schema.¹¹¹ Ein Kristallisationspunkt, auf den die innere Systematik der Visionstrilogie zuläuft, ist hierbei der mit zahlreichen theologischen Einzelthemen vernetzte Begriff des Lebens. In unterschiedlichen theologischen Zusammenhängen wird er anhand des Sprachbildes von der „Quelle des lebendigen Wassers“ vor Augen gestellt. Jenes spannt schon von seinen biblischen Bezügen her (Gen 1,10; Offb 22, 1.17) Paradies und Himmel, Protologie und Eschatologie zusammen.

6.3.3 Literarische Darstellungskunst für eine Lebenstheologie Eine Theologie des Lebens ist im Mittelalter weder ein explizites theologisches Organisationsprinzip noch eine anerkannte Stilform des Theologisierens. Wie die Lebenstheologie auch in unserer Zeit nach ihrer Gestalt sucht, wird im nächsten Kapitel dieser Untersuchung angesprochen werden. Dass es dennoch um eine für manche Werke bestimmende Tiefenströmung geht, erhellt sich alleine schon aus den oben erwähnten Diskussionen einer Umschreibung der monastischen Theologie.¹¹² Denn man erhofft von jener, sich auf eine Denkform vor der zunehmenden Trennung der wissenschaftlichen Theologie vom kirchlichen Leben berufen zu können.¹¹³

Hildegard von Bingen, Mystik in Geschichte und Gegenwart I,  (Stuttgart: Frommann-Holzboog, ), . Dennoch attestiert ihr Alvarez a.a.O.  f. ein enzyklopädisches Wissen.  Michael Zöller, „Aufschein des Neuen im Versuch, die Tradition zu bewahren. Zur theologiegeschichtlichen Einordnung des Buchs „Scivias“ der Hildegard von Bingen,“ Meditation  (): .  Vgl. Michael Zöller, Gott weist seinem Volk seine Wege, . Zu diesem Schema in der Summenliteratur der Zeitgenossen Hildegards vgl. Henri Cloes, „La Systématisation théologique pendant la première moitié du XIIe siècle,“ EThL  (): .  Aber gerade die akademische Theologie der städtischen Kathedralschulen forcierte ihre praktische Zielbestimmung: Winthrop Wetherbee, „Philosophy, Cosmology, and the Twelfth –Century Renaissance,“ in A History of Twelfth-Century Western Philosophy, Hg. Peter Dronke (Cambridge: Cambridge University Press, ), , konstatiert „…a new awerness of the practical importance of systematic thought“.  Vgl. Joseph Ratzinger, Wesen und Auftrag der Theologie. Versuche zu ihrer Ortsbestimmung im Disput der Gegenwart (Einsiedeln: Johannes, ),  f. Hierbei erwähnt Ratzinger (a.a.O., ), dass man monastische Theologie durchaus auch als eine kontextuelle Theologie verstehen kann, die vom Entstehungsort in einem geistlichen Zentrum geprägt ist. Als solche würde sie Gefahren einer Überabstraktivität vermeiden.

6.3 Einordnung nach heutigen Stilkategorien des Theologisierens

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Es bezeugt die Originalität Hildegards, dass ihre Reflexion auf den Begriff des Lebens so dicht ausfällt wie bei kaum einem Zeitgenossen.¹¹⁴ So zeigt das Opus Hildegardianum eine Nähe zu theologischen Suchbewegungen unserer Zeit, die hoffen, die Vermittlungschancen in einer größeren Nähe zu den Erkenntnisbedürfnissen und Wahrnehmungsmodalitäten der postmodernen Gesellschaft zu erhöhen: Eine Bildtheologie käme dem visuellen Zeitalter entgegen, eine popularwissenschaftliche Lebenstheologie den konkreten Anfragen an eine therapeutische Theologie zur Lebensbewältigung. Dabei droht jedoch eine Unterbewertung der Stringenz sachlicher Argumentationen, die gerade auf dem Weg in die Vorscholastik zum Kerngeschäft der wissenschaftlichen Theologie wurden. Jene ist jedoch, zusammen mit einem zuweilen unscharfen Schwanken bei der Deutung der ambivalenten Pole von Symbolgehalten und zusammen mit pantheisierenden Äußerungen, die gegen das Dogma missverstanden werden könnten, ein Schwachpunkt des theologischen Stils Hildegards. Die folgende Tabelle (S. 306) soll zeigen, wie in ihren Schriften verschiedene Stilarten von Theologie, mehrere Gattungsformen und literarische Strategien zusammenspielen, um ihr theologisches Grundanliegen abzubilden. Gemäß der augustinischen Grundbewegung von außen nach innen nach oben ¹¹⁵ lotet sie die Tiefenperspektivik der Schrift aus. Dadurch will sie den Adressaten appellativ zu einer Vertiefung der geistlichen Lebensführung ermuntern. Es besteht also eine hohe Kongruenz der sich überlappenden Merkmale verschiedener Gattungen theologischer Literatur, der Darstellungsstrategien, Wirkungsabsichten und theologischen Inhalte. Sie alle bedingen einander und stimmen überein. Jene Geschlossenheit zeigt von einer hohen dichterischen Kunst Hildegards. Für ihre Lebenstheologie wählte sie erzählende, dialogische und symbolische Darstellungsformen, die widerspiegeln, wie sich das Leben des Adressaten mit Gott intensivieren kann. Ein Beispiel für ein „Symbol im Symbol“ ist die Metaphorik des Kleides, die Hildegard sowohl für den Bereich der Integumenten-Lehre als auch für den der Indumenten-Christologie anwendet. Auch das Emblem des springenden Hirschen über dem Fenster kann als Bild für die angestrebten literarischen Tiefendimensionen des Textes angesehen werden, die wiederum in einen Vorstellungsraum von den Tiefendimensionen der Schrift führen sollen, die von Christus als Offenbarer im Heiligen Geist eröffnet werden. Dies kann die benachbarte Symbolik von den „Gitterfenstern“ illustrieren. Dem lateinische Wort für Gitterfenster, cancelli, eignet sowohl der Sinn der

 Darauf machte bereits Heinrich Schipperges aufmerksam. (Vgl. Heinrich Schipperges, „Erläuterung“ zu: Hildegard von Bingen, Heilkunde. Das Buch von dem Grund und Wesen und der Heilung der Krankheiten, Übers. nach den Quellen und erläutert von Heinrich Schipperges (Salzburg : Otto Müller, ),  f, , ). Ähnlich urteilt Bardo Weiß, Die deutschen Mystikerinnen und ihr Gottesbild. Das Gottesbild der deutschen Mystikerinnen auf dem Hintergrund der Mönchstheologie. Bd.  (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ), .  Augustinus, conf. III, , / X, , , CCSL , ,  f und ,  – .

306

6 Anmerkungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Opus Hildegardianum

Die Berührung von Theologie und Leben spiegelt sich in einem kunstvollem Spektrum literarischer Darstellungswege: Ausweitung und Verinnerlichung (ascensio, homo interior) """"" zu einem Tiefensinn

Spielarten ##### von THEOLOGIE !!!!!

#####

!!!!!

Strukturen und Dynamik im geschaffenen und begnadeten LEBEN

-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------visio als geistgewirkte Anleitung

prophetia

als geistgewirkte Erkenntnisweise für die Darstellungsform in einer Symboltheologie

Daher ist die Gattungsform der visio zwingend und bereits eine erste theologische Aussage!

zur Interpretation in mehrfachen Schriftsinnen ֳֳֳֳֳ zeigt das „Knochenmark“ der Schrift = MEDULLA

significatio, designatio literarische Darstellungsfiguren für Tiefenperspektiven:

Stimme in der Stimme Bild im Bild Spiegel im Spiegel Symbol im Symbol Buch im Buch

Populartheologie als Lebenstheologie

hermeneutischer und fundamentaltheologischer Bedingungszusammenhang von spiritus sanctus, fides, prophetia und doctrina apostolorum praesignatio von Schöpfungsdingen und literarischen Symbolen durch den Schöpfer auf bestimmte Verweisungssinne ֳֳֳֳֳ mystica ostensio mystica eruditio Bild Gottes im sigillum

Wortschatz der Affektivität, Immanenz, Mystik

breite multiple literarische Strategien:

(1) „Renarratisierung“ und prosographische „Redramatisierung“

(2) Selbststilisierung der Autorin als authentischer Beispielfigur für das, was inhaltlich dargestellt wird (3) Vermarktungstaktik in Andeutungen einer Anschlussfähigkeit an den akademischen theologische Diskurs in der Entstehungszeit des Textes (4) Dialog mit dem Leser in seiner Jetztzeit appellativ = admonitio # individuelle Umkehr als vivificatio # Kirchenreform (regeneratio spiritus et aquae) jenseits der damaligen Fronten in Theologie und Kirchenpolitik

Abb. 2: Darstellungsformen für die Berührung von Theologie und Leben

6.3 Einordnung nach heutigen Stilkategorien des Theologisierens

307

Schranke als auch der Durchsichtigkeit des Gitters. So sind sowohl der Erkenntnisabstand des Menschen als auch die Möglichkeit zu partiellen Einblicken angedeutet: Daneben zeigte 〈die Mauer im Schaubild〉 eine Einrichtung von Gitterfenstern, die eine typologische Vorausbildung (typica praefiguratio) des Heiligen Geistes ist. Jener durchlöchert in der Menschwerdung des Sohnes die harten Schriften, um so denen, die danach bitten, den Blick wie durch Gitterfenster zu seiner Barmherzigkeit zu zeigen. In der Durchlöcherung durch den Heiligen Geistes als eines Türöffners (ostiarii) wurden sie noch nicht geöffnet, um die geistliche Einsicht (spiritalem intellectum) in das Alte Testament nicht zu entblößen, wie es dann geschah in den Gitterfenstern der Barmherzigkeit im Fleisch des offenbar gewordenen Sohnes des Allerhöchsten… , als sie durch den Heiligen Geist in der Quelle des lebendigen Wassers erhellt wurden (in fonte aquae vivae elucidata).¹¹⁶

Im Bild des Gitterfensters wird der Heilige Geist nicht nur als Einheitsprinzip der Komposition der Schrift in verschiedenen heilsgeschichtlichen Epochen geschildert, sondern ebenso als Erkenntnisprinzip, der die Offenbarungskraft des Menschgewordenen verstärkt. Dabei arbeitet die Menschheit Christi als Erkenntnisweg mit dem Heiligen Geist als Erkenntnislicht zur Einsicht in die biblischen Schriften zusammen. Hierbei wird die Metaphorik des Gitterfensters durch die der Wasserquelle als Erkenntnisspiegel verstärkt. In der literarischen Technik Hildegards spiegeln die einzelnen Metaphoriken einander, um so dem Leser einen anschaulichen Hinweis zu geben auf die Unendlichkeit von Vertiefungen einer Einsicht in den Sinn der biblischen Schriften. Dieser Einsicht will das Werk Hildegards dienen. Dabei ist das Bild von der erkenntnisspiegelnden „Quelle des lebendigen Wassers“ als Hinweis darauf eingesetzt, wie durch Tiefenblicke in die Bibel durch den Heiligen Geist Erneuerung im konkreten Leben möglich wird.

 Hildegardis Bingensis Liber Scivias, Pars Tertia, Visio , Capitulum , , Z  – .

7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard 7.1 „Trinkt den Frohsinn“:¹ Aspekte der Ideengeschichte 7.1.1 Die Funktion dieser begriffsgeschichtlichen Untersuchung für die Auswertung der Textbefunde bei Hildegard Bevor eine Synopse der Anschauungen von Leben in den untersuchten Textcorpora bei Hildegard entfaltet wird, erfolgen hier einige Beobachtungen zu Entwicklungslinien des Lebensbegriffes von der Antike bis zur Hochscholastik. Dazu soll keine umfassende Begriffsgeschichte geleistet werden. Dies bleibt einer umfassenden Monographie vorbehalten. Einige theologische und philosophische Suchbewegungen zum Lebensbegriff wurden bereits im Prolog dieser Arbeit angedeutet. Daher werden nur jene markante Stationen der Entwicklung der Theorien über „Leben“ berücksichtigt, die entweder Hildegard beeinflussten oder eine Gegenposition zu ihren Auffassungen darstellen. Dabei wird über die Frühscholastik hinaus der Horizont zu Thomas von Aquin ausgezogen, um von jener Kontrastierung zusätzliche Maßstäbe zu Beurteilung der theologischen Eigenleistung und Qualität ihrer Lehre von „Leben“ zu gewinnen. Auch für den Zeitraum der Vorscholastik sind nur ausgewählte Autoren berücksichtigt, an denen sich entscheidende Schwerpunktverlagerungen in der Theoriebildung zum Lebensbegriff identifizieren lassen. Zum einen soll dabei beobachtet werden, wie sich naturkundliche, philosophische, exegetische und theologische Thesen gegenseitig beeinflussten. Zum anderen sollen bei den jeweiligen Autoren besonders die Bildkreise von der „Quelle des Lebens“ als Sprachbild für Erneuerung und von „Weg“² als Metapher der theoretischen und praktischen Entwicklung zur Wahrheit hin analysiert werden. Christliche Autoren denken den Begriff des Lebens von vornherein nicht nur expansiv auf den eines ewigen Lebens hin.Vielmehr prägt umgekehrt die Verheißung des ewigen Lebens den Blickwinkel für das Leben in statu viatoris.³ So wird hier schon

 Bibite laetitiam! (Jes ,), in: Iohannis Scoti seu Erivgenae Periphyseon, Liber Secundus, CCM , Editionem novam a suppositiciis quidem additamentis purgatam, ditatam vero appendice in qua vicissitudines operis synoptice exhibentur, curavit Eduardus A. Jeauneau (Turnhout: Brepols, ),  A, S. , Z  f nach Gregor von Nyssa, De imagine , PG , c-B.  Vgl. das Programm einer Theologie des Weges bei Gottlieb Söhngen, Der Weg der abendländischen Theologie. Grundgedanken zu einer Theologie des „Weges“ (München: Pustet, ).  Daher weist Christoph Theobald, „‚Der Herr und Lebensspender‘. Zum Ansatz einer Theologie des Lebens,“ Concilium  ():  f, mit Ricœur auf die narrative „Gestaltungsdimension“ eines christlichen Lebensbegriffes hin, der von der eschatologischen Vollform her gedacht wird.

7.1 „Trinkt den Frohsinn“: Aspekte der Ideengeschichte

309

ersichtlich, dass die christliche Vorstellung von Zeit und Ewigkeit einerseits und von der Qualität erlösten Lebens andererseits den christlichen Lebensbegriff konturiert. Um die theologiegeschichtlichen Befunde zielgerichtet auf einen Vergleich mit den Positionen Hildegards anwenden zu können, werden sie hier gesichtet nach Einzelfragen präsentiert. Hierbei ist weniger der Nachweis möglicher literarischer Abhängigkeiten angestrebt, als die Andeutung eines ideengeschichtlichen Panoramas, vor dessen Hintergrund das Opus Hildegardianum von heute aus gelesen werden kann. Es sei darauf hingewiesen, dass keiner der hier zitierten antiken und mittelalterlichen Autoren eine zusammenhängende Lehre oder Monographie zur philosophischen und theologischen Lehre über das Leben vorgelegt hat! Die diesbezüglichen Äußerungen stammen aus unterschiedlichen Textgattungen. Ein Gesamtbild rekonstruiert sich jeweils aus der Optik moderner Interpreten. Die folgende Skizze von mir macht auf einige Kernthemen in der philosophischen und theologischen Lehrentwicklung zur Auffassung von Leben aufmerksam: Naturphilosophie Bewegung (motus) & Ontologie: – physisch – intellektuell Entelechie Teilhabe (participatio) ‣ analoger Lebensbegriff bios theoretikos (‣ Unterscheidung der vita vera, perfecta, beata von der vita aliena) Theologie:

Theophanie (apparitio) ← Inkarnation Immanenz ← Verinnerlichung (homo interior) Gabe ‣ Selbstgabe im Schnittpunkt von Heilsgeschichte und individueller Biographie Fülle ‣ ewiges Leben

7.1.2 Philosophische Grundlagen des Lebensbegriffes 7.1.2.1 Erkenntnistheoretische Anfragen Heutzutage wird der Begriff des Lebens von unterschiedlichen Disziplinen aus den Bereichen der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft untersucht. Dies geschieht entweder von strikt gegensätzlichen wissenschaftstheoretischen Standpunkten aus⁴ oder im Versuch nach einem multiperspektivischen, interdisziplinären Verbund der Erkenntnisse.⁵

 So urteilt Jürgen Habermas, „Von den Weltbildern zur Lebenswelt,“ in Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, von Jürgen Habermas (Berlin: Suhrkamp, ), , dass sich Naturwis-

310

7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

Gegenwärtige theologische Versuche einer Annäherung zwischen dem naturwissenschaftlichen und theologischem Reden von „Leben“, z. B. ausgehend von der Prozesstheologie Whiteheads, von Teilhard de Chardin und von Moltmann können bezeichnet werden als „Konvergenzmodell“, „Integrationsmodell“ oder „perichoretisches Modell“ auf der einen Seite und als Forderung nach einem „kritischen Verknüfungsmodell“ auf der anderen Seite.⁶ Allerdings besteht dabei die Gefahr von „Begriffsverschiebungen“,⁷ gegen die von theologischer Seite zu wenig streng argumentativ vorgegangen wird.⁸ Die ideengeschichtlichen Befunde, die in diesen Kapitel exemplarisch vorgestellt werden, widersprechen der Behauptung, dass Leben erst in der Neuzeit stärker als Forschungsobjekt berücksichtigt worden sei.⁹ Doch muss berücksichtigt werden, dass die Konzepte aus Antike und Mittelalter nur in ihrem Eigenwert verstanden und gewürdigt werden können, wenn man sie in ihrem Zusammenhang mit der klassischen Metaphysik sieht. Erklärungsmodelle, die von „Substanz“, „Form“, „Kausalität“,¹⁰ „Finalität“ sprechen, würden gründlich missverstanden, wenn man diese Begriffe in einem nachmetaphysischen Sinne auffassen würde. Umgekehrt schränkt sich der Blickwinkel philosophischer und theologischer Untersuchungen zum Lebensbegriff ein, wenn sie vom Fundament des gegenwärtigen biologischen Forschungsstands aus argumentieren¹¹ oder unter der Intention von Lebenshilfe durch philosophische Therapie.¹² Hingegen machen Philosophen wie Habermas auf ein Erklärungsdefizit in nachmetaphysischen Theorien zu Leben und

senschaften und Geisteswissenschaften jeweils einer völlig inkompatiblen Sprachwelt bedienen würden.  So das Anliegen bei: Hans Jonas, Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie (Frankfurt am Main: Suhrkamp, ), .  Diese drei Bezeichnungen werden referiert von Christoph Theobald, „‚Der Herr und Lebensspender‘. Zum Ansatz einer Theologie des Lebens,“ Concilium  ():  f.  Christoph Theobald, „‚Der Herr und Lebensspender‘. Zum Ansatz einer Theologie des Lebens,“: .  Allerdings verschweigt Christoph Theobald selbst, dass der von ihm vorgeschlagene „Narrativdiskurs“ (Christoph Theobald, „‚Der Herr und Lebensspender‘. Zum Ansatz einer Theologie des Lebens,“: ) auf einer strengen argumentativ vorgehenden Theologie aufruhen müsste, um als Sinnangebot gegenüber der Naturwissenschaft tragfähig zu sein. Der Begriff des „Narrativen“ wird von ihm eingeführt, ohne ihn selbst in seiner Reichweite und seinen Grenzen näher zu bestimmen.  So die Behauptung von Lothar Schäfer, „Leben, II. Philosophisch,“ in LThK  : .  Vgl. den Hinweis bei Christoph Theobald, „‚Der Herr und Lebensspender‘. Zum Ansatz einer Theologie des Lebens,“: .  So bei Jens Ried, „Theologie – eine Lebenswissenschaft. Zu den Möglichkeitsbedingungen einer Theologie der Zoë,“ in „Auf der Suche nach der Formel des Lebens“. Theologie im Gespräch mit den Naturwissenschaften (TTN Essay-Preis ), Hg. Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften (München: Selbstverlag, ), .  Vgl.Wilhelm Schmid, Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst (Frankfurt am Main: Suhrkamp, ), .

7.1 „Trinkt den Frohsinn“: Aspekte der Ideengeschichte

311

Lebenswelt aufmerksam. Man dürfe „vor dem schwarzen Loch der ontologischen Frage nach Herkunft und Existenz der Lebenswelt nicht kapitulieren.“¹³ Daher erfasst Kristian Köchy 2003 die Kategorien des Lebendigen in abendländischer Philosophie und Biologie äußerst umfassend und differenziert.¹⁴ Denn der Autor widerstreitet in seiner interdisziplinären Untersuchung der Versuchung, Leben in der Vielfalt seiner Lebensäußerungen lediglich monistisch oder „holistisch“¹⁵ auf ein einziges Lebensprinzip zurück zu führen.¹⁶ Auch die in Biologiebüchern oft genannten drei Kerneigenschaften von Stoffwechsel, Selbstreproduktion und Veränderlichkeit erscheinen ihm zu undifferenziert, um Lebewesen zu identifizieren.¹⁷ Jene könnten auch auf eine ontologische Kurzformel für den Zusammenhang von Geist und Materie zurückgeführt werden, dass Leben die Anreicherung von Materie durch „Information“¹⁸ sei. Eine versuchte „denkökonomische Kondensation der Kennzeichen des Lebendigen“,¹⁹ etwa als Gestalthaftigkeit, Komplexität, Zellularität, Organisation, Autoplastik, Einheit allen Lebens, Stoffwechsel, Spontaneität, Wechselwirkung, Evolution greife zu kurz. Das liegt auch daran, dass zwischen den einzelnen vielfältig differenzierten Kennzeichen innere Abhängigkeiten bestehen.²⁰ Ferner sei aus sprachtheoretischer Sicht zu prüfen, ob es sich bei jenen Begriffen nicht um metaphorische Redeweisen der Biowissenschaften handle.²¹ Wie oben bereits angedeutet, ist also wiederum die Frage zu stellen, ob die Auffassung von „Leben“ nicht zunächst aus der Erfahrung des Menschen gewonnen wird und dann auch in modernen wissenschaftlichen Kontexten mittels modellhafter Sprachbilder auf die außermenschliche Wirklichkeit angewendet wird. So präsentiert ein aktuelles Lehrbuch der Biologie seinen Stoff unter den Überschriften: Leben ist konzentriert und verpackt/ Leben ist geformt und geschützt/ Leben tauscht aus/ Leben transportiert/ Leben wandelt um/ Leben ist energiegeladen/ Leben sammelt Informationen/ Le-

 Jürgen Habermas, „Von den Weltbildern zur Lebenswelt,“ in Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, von Jürgen Habermas (Berlin: Suhrkamp, ), .  Vgl. die Tabelle bei Kristian Köchy, Perspektiven des Organischen. Biophilosophie zwischen Naturund Wissenschaftsphilosophie (Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh, ),  – .  Vgl. Kristian Köchy, Perspektiven des Organischen. Biophilosophie zwischen Natur- und Wissenschaftsphilosophie, .  Vgl. Kristian Köchy, Perspektiven des Organischen, .  Vgl. Kristian Köchy, Perspektiven des Organischen, .  So referiert bei Kristian Köchy, Perspektiven des Organischen, .  Kristian Köchy, Perspektiven des Organischen, .  So benennt Kristian Köchy, Perspektiven des Organischen, , die Interdependenz zwischen Spontaneität und Entelechie.  Vgl. Kristian Köchy, Perspektiven des Organischen, ; ferner Christoph Theobald, „‚Der Herr und Lebensspender‘. Zum Ansatz einer Theologie des Lebens,“: . Z. B. wird von einem genetischen „Programm“ oder „Drehbuch“ gesprochen.

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

ben schreitet voran/ Leben greift an und verteidigt sich/ Leben speichert Wissen/ Leben pflanzt sich fort/ Leben entwickelt sich/ Leben breitet sich aus. ²²

An diesem Beispiel wird sichtbar, wie von aktuellen Forschungsdaten und Deutungsmodellen aus ein Übergang zu geisteswissenschaftlichen Sprachformen gefunden werden könnte, sofern die jeweils gegenläufige Bildsprache sowohl auf Seiten der Lebenswissenschaften wie auf Seite der Theologie und Metaphysik beachtet würde: Biologie und Naturphilosophie beschreiben Naturphänomene in Sprachbildern des Geistes und des menschlichen Handelns. Ontologie deutet Sein in Sprachbildern des naturalen Lebens. Theologie deutet entweder induktiv und korrelativ Erfahrungen von Gnade und das Wachstum des Reiches Gottes in Redeformen aus dem Naturerleben an. Oder sie setzt, wie wir noch sehen werden, deduktiv einen eigentlichen Begriff von Leben als göttliches Leben, an dem geschaffenes Leben in abgeschatteter Weise teilhat. Philosophiegeschichtliche und theologiegeschichtliche Anmerkungen zur Begriffsgeschichte stehen so vor der Schwierigkeit, den Begriff des Lebens bei einem Autor nicht zu grobflächig mit seinem Verständnis von Sein oder von Natur zu vermischen. Zudem kann jenes seinerseits zwiespältig als Korrelat von „Wesensnatur“ oder von nichtgeistiger Schöpfung gemeint sein. Dennoch muss der Lebensbegriff zugleich jeweils in seiner Bezüglichkeit zur Problemgeschichte des Seinsbegriffes und des Naturbegriffes gesehen werden. Während wir oben ein Beispiel eines Lebensbegriffes herausgegriffen haben, das von dem wissenschaftsdidaktischen Bestreben nach Anschaulichkeit aus Verständigungsbrücken zur Geisteswissenschaft eröffnet, wurde jener Dialog lange Zeit dadurch verengt, dass der Lebensbegriff in den Einführungskapiteln wissenschaftlicher Biologielehrbücher erstaunlich starr und thetisch als Kanon bestimmter Merkmalsketten von Leben umrissen wurde.²³ Auf der einen Seite wird hierbei übersehen, dass ein solcher Lebensbegriff sozusagen wie ein Puzzle aus beobachtbaren Ausschnitten²⁴ aus dem Prozess des faktischen Lebens in konkret lebendigen Wesen zusammen gesetzt ist. Auf der anderen Seite werden hierbei Kriterien ins Spiel gebracht wie „Bewegung“ oder „Wahrnehmung“, ohne ihre Implikationen eines ontologischen Tiefensinnes in den Blick zu nehmen.

 Vgl. das Inhaltsverzeichnis zu Olaf Fritsche, Biologie für Einsteiger. Prinzipien des Lebens verstehen (Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag, ), V-IX.  Darauf macht aufmerksam Michael Thompson, Life and Action. Elementary Structures of Practice and Practical Thought (Havard: Havard University Press, ),  – .  Vgl. Markus Mühling, „Leben,“ in Taschenlexikon Religion und Theologie , fünfte, völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Hg. Friedrich Wilhelm Horn and Friederike Nüssel (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, ), .

7.1 „Trinkt den Frohsinn“: Aspekte der Ideengeschichte

313

Denn jene Kriterienkataloge lassen sich bis auf Aristoteles ²⁵ zurückführen, der sich in seinen naturphilosophischen Äußerungen auf seine lebensweltlichen Erfahrungen aus dem antiken Mittelmeerraum stützte. Selbst wenn man Subphänomene von „Lebendigkeit“ nur unverbunden hintereinander aufreiht, würde man dadurch unausgesprochen schon theoretische Gesamtdeutungen des übergeordneten Phänomens von „Leben“ vornehmen. Aristoteles wies hierzu auf drei Dimensionen von Vorannahmen hin: Aus der Sammlung von Merkmalen des Lebendigen wird erstens schon deutlich, dass es verschiede Ebenen von Lebendigkeit gibt. Daher müsse man für jede Ebene eine eigene, jeweils adäquate Methode zu seiner Bestimmung festlegen.²⁶ Zweitens geht die Bestimmung, wo Leben beginnt, beziehungsweise die Grundsatzoption, ob Leben an einem festen Punkt, sei es in erdgeschichtlicher oder in biochemischer Hinsicht,²⁷ anfängt oder in einem allmählichen Übergang, bereits von einer Vortheorie aus, was Leben denn sei.²⁸ Auf diese Frage werden wir im nächsten Unterabschnitt noch einmal zurück kommen. Drittens werden Theorien über das Leben aus der Teilnehmerperspektive eines selbst lebendigen Menschen entworfen. Dieser Teilnehmerperspektive entspricht die Wertung, dass das Eigengefühl der Lebendigkeit etwas Angenehmes und daher Gutes ist.²⁹ Sie prägt dann die Beobachterperspektive auf dritte Objekte. Dies geschieht bereits aus der Subjektivität des Erkennenden heraus, ehe auf einer ontologischen Ebene über die Konvertibilität von Sein, Leben und Gutheit reflektiert wird. Mit der methodologischen, ethisch konsequenzenreichen³⁰ Forderung der Einnahme einer „Teilnehmerperspektive“³¹ wird zwar, wie man früh in der humanwissenschaflichen Feldforschung erkannte, eine größere Genauigkeit erreicht als in der nur scheinbar objektiveren Beobachterperspektive. Doch sie ist wiederum mit gravierenden Vorentscheidungen bezüglich des Verhältnisses von menschlichem Geist und Leben verbunden. Diese fallen ungeachtet der zunächst gleichlautenden Forde Etwa in Aristoteles, De Anima II,,  a und De Anima III,,  b.  Aristoteles, De Anima I,,  a.  So nennt Eberhard Schockenhoff, Ethik des Lebens. Grundlagen und neue Herausforderungen (Freiburg im Breisgau: Herder, ), , „Eiweißverbindungen“ als Kriterium, ohne auf den vorurteilenden nomologischen Charakter dieses Kriteriums hinzuweisen.  Aristoteles, Die Lehrschriften. Tierkunde VIII, , b. Die Kenntnis dieser Stelle verdanke ich Regine Kather, Was ist Leben? Philosophische Positionen und Perspektiven (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), .  Aristoteles, Eth.Nic. IX, , b. Vgl. hierzu Pierre Hadot, „Leben. I. Antike,“ in HWP : .  So im Motto einer Lebensethik bei Albert Schweitzer: „Ich bin das Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ (Albert Schweitzer, Kultur und Ethik, Bd. , Gesammelte Werke in fünf Bänden, Hg. Rudolf Grabs (München: C.H. Beck, ), ). Zu Anfragen an die begründungstheoretische Stichhaltigkeit dieses Diktums vgl. Ulrich Heinz Jürgen Körtner, „Ehrfurcht vor dem Leben – Verantwortung für das Leben. Bedeutung und Problematik der Ethik Albert Schweitzers,“ in Solange die Erde steht. Schöpfungsglaube in der Risikogesellschaft, Bd. , Mensch-Natur-Technik, von Ulrich Heinz Jürgen Körtner (Hannover: Lutherisches Verlagshaus, ),  f.  Vgl. Eberhard Schockenhoff, Ethik des Lebens. Grundlagen und neue Herausforderungen, .

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

rung nach der Identifikation mit der Teilnehmerperspektive völlig gegensätzlich aus. Es handelt sich hier um einen grundsätzlichen Streitpunkt quer durch die Geistesgeschichte. Hierbei entwickeln sich Aporien durch Überkreuzungen verschiedener Anfragen: Sobald lebendige Wesen sich als lebendig erfahren, stellen sich die beiden Fragen nach der Identitätserkenntnis von lebendigen Wesen in ihrer Selbstlebendigkeit³² und nach der Rolle des Geistes im Vollzug der Lebendigkeit. Andererseits entfernt sich der Geist, der eigentlich im Vollzug abstraktiver Erkenntnis höchste Stufen von Lebendigkeit erreichen könnte, durch abstrakte Definitionen über das Leben von dem Erkenntnisgegenstand,³³ der sich nur in konkreten einzelnen Lebewesen verwirklicht, zumal wenn es um die konkret einzelne Person des Erkenntnissubjektes geht. So fordern dann Lebensphilosophen im Schnittpunkt zwischen Romantik und Idealismus wie zum Beispiel Schelling eine „lebendige Methode“ zur Erforschung des Lebens, die zugleich in intellektueller Redlichkeit auf die biographischen Gegebenheiten des jeweiligen Autors zum Thema Leben abgestimmt sein müssten.³⁴ Gleichzeitig identifizieren moderne Genetik und Evolutionstheorie informative, quasi „geistige“ Gehalte als Merkmale von Leben, selbst wenn sie genetische Codes oder intersubjektive „Meme“ nur auf die Funktion der temporären Sicherung von Überlebensvorteilen beschränken. Wie wir bereits im Kapitel zum literarischen Selbstverständnis Hildegards gesehen haben, versucht sie recht geschickt, jenem Dilemma auszuweichen, indem sie ihre literarische Perspektive zwischen verschiedenen Positionen wechseln lässt: Sie präsentiert sich in ihrer Autorensubjektivität als vulnerable Teilnehmerin an dem Leben, das sie aus der Perspektive der göttlichen Stimme als des ungeschaffenen Lebens Selbst in Identität mit der rationalitas Selbst beschreiben lässt. Zugleich lässt sie dabei die untergeistige Natur selbst mit wertenden Äußerungen zu Wort kommen, wie in der querela elementorum: ³⁵

 Vgl.Traugott Koch, „Die Naturwissenschaft, die Lebenswelt und das Wunder des Lebens,“ Theologie und Philosophie  (): .  Diese Anfrage bei: Ferdinand Ulrich, Leben in der Einheit von Leben und Tod, Sammlung Horizonte. Neue Folge  (Einsiedeln/Freiburg: Johannes, ), .  Vgl. Robert Josef Kozljanič, Lebensphilosphie. Eine Einführung (Stuttgart: W. Kohlhammer, ),  f.  Dieser feste Terminus in der Hildegard-Interpretation (etwa bei Heinrich Schipperges, Hildegard von Bingen (München: C.H. Beck, ), ) geht zurück auf deren eigene Visiondeutung in Hildegardis Bingensis Liber Vitae Meritorum, CCM , Pars Tertia, Cap. , edidit Angela Carlevaris (Turnhout: Brepols, ), , Z  – : hoc est quod querelas velut maximas vociferationes elementa ad creatorem suum proferunt, non ita quod ipsa humano more loquantur, sed quod quasdam significationes pressurarum suarum ostendunt. Indirekt bietet Hildegard hier einen Hinweis zur Reflexivität ihrer literarischen Technik in den Visionsbeschreibungen.

7.1 „Trinkt den Frohsinn“: Aspekte der Ideengeschichte

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Und ich hörte eine große Stimme aus den Elementen der Welt zu dem Mann selbst sprechen: Wir können nicht laufen und unseren Lauf so vollenden, wie wir von unserem Begründer (praeceptor) eingesetzt worden sind. Denn die Menschen bringen uns wie eine Mühle durcheinander.³⁶

Dabei wird Hildegard auch der Mahnung moderner Autoren gerecht, intellektuelle Theorien über das Leben nicht von dem Erleben der eigenen Leiblichkeit als „menschenleibliches Leben“³⁷ abzukoppeln: Gerade der kranke Leib wird in der literarischen Stilisierung zum „Gefäß“ der Mitteilung von Lehren über das Leben. Daher wird anhand einer anthropinen Körpermethaphorik der organische Schichtenbau des Lebens entfaltet.³⁸ Gerade aus der Geschichte der Rezeption des Johannesprologes leitet sich die Kongruenz eines solchen Denkansatzes von Leben aus der Erfahrung der eigenen Leiblichkeit mit der christlichen Lebensanschauung ab:³⁹ Ist doch Christus als Leben selbst, als Lehrer über die Lebensführung und als Retter des Lebens in einem lebendigen Körper inkarniert.⁴⁰ So findet sich die These von Hans Jonas „Leben kann nur von Leben erkannt werden“⁴¹ fast gleichlautend schon bei Hildegard von Bingen: Das Leben wird durch das Leben prüfend erkannt!⁴²

Dieser Grundsatz steht jedoch nicht nur mit der Involviertheit des Erkenntnissubjektes im Zusammenhang, sondern ebenso mit dem Erkenntnisverfahren, einen Gegenstand

 Hildegardis Bingensis Liber Vitae Meritorum, CCM , Pars Tertia, Cap. , , Z  – .  So bei Robert Josef Kozljanič, Lebensphilosphie. Eine Einführung , . Ähnlich argumentiert Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte (Berlin: Suhrkamp, ),  im Anschluss an William James.  Zur Körpermetaphorik im Mittelalter vgl. Karl Brunner, Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters (München: C.H. Beck, ),  – . Siehe ferner das Kapitel . dieser Arbeit.  Vgl. die Hinweise des Verfechters einer Lebensphänomenologie, Rolf Kühn, „Eine phänomenologische Perspektive,“ in „Im Anfang war der Logos“. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart, Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte , Hg. Markus Enders and Rolf Kühn, mit einem Beitrag von Christoph Bruns (Freiburg im Breisgau: Herder, ), .  Vgl. zu diesen „lebensgenerativen, christ(olog)ischen Implikationen“, die induktiv aus jeder menschlichen Person ablesbar sind, Rolf Kühn, Gottes Selbstoffenbarung als Leben. Religionsphilosophie und Lebensphänomenologie (Würzburg: Echter, ), .  Hans Jonas, Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie (Frankfurt am Main: Suhrkamp, ), . Bereits die aristotelische Zielbestimmung des Lebendigen in seiner inneren Zweckmäßigkeit, Entelechie, ruhe auf der Grundannahme auf, das Leben nur von Leben verstanden werden kann, so Kristian Köchy, Perspektiven des Organischen. Biophilosophie zwischen Natur- und Wissenschaftsphilosophie (Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh, ), .  Hildegards Bingensis Liber Scivias, Pars Secunda, Visio , Capitulum , , Z  f: Vita quoque probatur per vitam.

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

aus der Gegenüberstellung mit seinem Gegenteil zu bestimmen,⁴³ hier aus der Opposition des Lebens zum Tod.⁴⁴ Ebenso kann Leben jedoch nicht nur von seinen Gegensätzen von Tod und Lüge als Unwahrhaftigkeit, die zum Tod führt, bestimmt werden, sondern auch als Prinzip, das jenseits aller Gegensätzlichkeit steht, in dem es sie in sich vereint. Dies führte Heraklit anhand des Wortspiels der nur verschieden akzentuierten Homonyme von βιός (Pfeilbogen) und βίος (Leben) vor.⁴⁵ Nicht nur die Solidarität menschlichen Lebens mit anderen Lebewesen kann aus der Analyse von einer „Teilnehmerperspektive“⁴⁶ am Leben abgeleitet werden, sondern ebenso seine Selbsttranszendenz in dem Wunsch nach einem „Mehr-Leben“.⁴⁷ Doch obwohl die hermeneutische Positionierung von der Teilnehmerperspektive aus gewährleisten will, nicht von vornherein die Perspektivik nicht-rationaler Lebewesen zu überformen, so entkommt sie dennoch nicht den Verengungen der Sichtführung eines anthropinen Prinzipes.⁴⁸ Sozusagen von einem noch höheren „Stockwerk“ aus beansprucht Plotin in der Wahrnehmung der Teilnehmerperspektive aus der Introspektion der eigenen, lebendigen Innerlichkeit, dass der Mensch schon in sich selbst die Wirksamkeit des göttlichen Lebens erkennen könne.⁴⁹ Aber an diesem Punkt wird deutlich, dass der Begriff des Lebens nur analog auf verschiedene Seinsbereiche angewendet werden kann. Alle denkerischen Vorsichts-

 So bestimmt Thomas von Aquin die Merkmale der lebendigen res im ihrem Unterschied zu den nichtlebendigen res: STh I q  a: quod ex his quae manifestae vivunt, accipere possumus quorum sit vivere, et quorum non sit vivere.Vgl. hierzu Martin Grabmann, Die Idee des Lebens in der Theologie des hl. Thomas von Aquin (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ), .  Vgl. Regine Kather, Was ist Leben? Philosophische Positionen und Perspektiven (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), .  Vgl. hierzu Felix Philipp Ingold, „Unheilige Wortmagie. Zeitgenössisches Sprachdesign und die Tradition des Hermetismus,“ in Heilige versus unheilige Schrift, Hg. Martin A. Hainz (Wien: Passagen Verlag, ),  f.  Die Medizin des . Jahrhunderts belebte in der Diskussion um die „Zönästhesie“ als einer Art innerer Tastsinn die aristotelische Frage nach einem möglichen, über den Einzelsinnen stehenden allgemeinen Sinn wieder, mit der lebende Wesen, und so auch der Mensch, sich als lebendige Wesen wahrnehmen. Siehe hierzu: Daniel Heller-Roazen, Der innere Sinn. Archäologie eines Gefühls, Übers. Horst Brühmann (Frankfurt am Main: S. Fischer, ),  – . Hildegard von Bingen hingegen hatte entschieden, dass eine rein natürliche Erkenntnisebene keinerlei Ursache angeben könne, wodurch ein offenkundig lebendiger Körper denn eigentlich lebendig ist (Hildegardis Bingensis Liber Divinorum Operum, CCM , Pars Prima, Visio Quarta, C. , , Z  f,  – .)  Ausgeführt anhand von Gedankengängen Georg Simmels bei Robert Josef Kozljanič, Lebensphilosphie. Eine Einführung (Stuttgart: W. Kohlhammer, ),  – .  Prinzipiell kann in heutiger Bioethik ein „…physiozentrisches, biozentrisches oder anthropozentrisches Lebensmodell…“ als Ausgangspunkt gewählt werden (vgl. hierzu Eberhard Schockenhoff, Ethik des Lebens. Grundlagen und neue Herausforderungen (Freiburg im Breisgau: Herder, ), .) In praxi wird jedoch ein „Konvergenzpunkt“ der Betrachtung im Menschen favorisiert, etwa bei Regine Kather, Was ist Leben? Philosophische Positionen und Perspektiven, .  Plotin, Enneade VI,,.

7.1 „Trinkt den Frohsinn“: Aspekte der Ideengeschichte

317

maßnahmen zur Vermeidung eines zu vereinfachenden univoken Seinbegriffes, der in Wirklichkeit nur durch Verschweigung seiner äquivoken Begriffsanwendung zustande kommt, müssen ebenso auf den Lebensbegriff angewendet werden.

7.1.2.2 Der philosophische Ternar esse, vivere, intelligere Wie bereits angedeutet, gilt es zu vermeiden, den Begriff des Lebens in der philosophiegeschichtlichen Untersuchung zu stark an den des Seins anzunähern. Andererseits steht er mit etlichen Diskussionsfeldern des Seinsbegriffes in einem dichten inneren Zusammenhang. So teilt er mit ihm etliche Besonderheiten eines ontologischen Allgemeinbegriffes: Sowohl Sein als auch Leben werden für unterschiedliche Seiende oder Lebewesen in verschiedener Hinsicht ausgesagt. Dies sei hier nur kurz angedeutet, ohne intensiver auf die Fragenkreise des Universalienproblems, der Individuation und der Person einzugehen. Hier sollen zunächst die Grundmodelle von Aristoteles und Plotin gegenüber gestellt werden. Hierauf wird anhand von Eriugena und Thomas von Aquin gezeigt, wie jene beiden Grundmodelle, die bei aller Gegensätzlichkeit durchaus Berührungspunkte aufweisen – z. B. durch den Ansatzpunkt im bios theoretikos -, in Früh- und Hochmittelalter in umfassendere Denkschemata übergeführt werden, in denen eine Synthese zwischen einem ontologischen und theologischen Lebensbegriff versucht wird. Alle vier Autoren verwenden den Grundgedanken, dass Leben bei verschiedenen Lebewesen durch jeweils verschiedene von ihnen ausgeübte Tätigkeiten beobachtbar ist. Jene werden seit Aristoteles metaphorisch als Bewegung (motus) bezeichnet, insofern sie Potentialität in Aktualität überführen. Dabei integrieren die jeweils höher organisierten Lebenwesen die Vermögen zu lebendigen Akten der unteren Ebenen. Guardini machte 1940 darauf aufmerksam, dass jener Prozess als ein naturales Analogat zur Offenbarung verstanden werden kann, so dass Lebenstheologie hierin an lebensphilosphische Beobachtungen anknüpfen kann: Aus dem Verborgenheitszustand der Anlage in die Offenheit der Verwirklichung hinaus zu treten, ist die Art, wie Leben besteht; diese Art kann man in einem hinweisenden Sinn „Offenbarung“ nennen.⁵⁰

 Romano Guardini, „Offenbarung“ als Form des Lebensvollzugs, Bd. , Unterscheidung des Christlichen. Gesammelte Studien  – . Aus dem Bereich der Theologie (Mainz/ Paderborn: Grünewald/Schöningh, ), .

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

Jener Grundgedanke wird jedoch in sehr unterschiedlichen Denkbewegungen verschieden weiterentwickelt. Daher verwehrte sich in der Moderne Paul Tillich gegen den Begriff einer „Schichtung“ wie in der Regionalontologie Nicolai Hartmanns. ⁵¹ Die Unterschiede ergeben sich zum einen, wie im letzten Unterkapitel schon angedeutet, durch den unterschiedlichen Blickwinkel, ob Ebenen des Lebens von unten nach oben oder von oben nach unten analysiert werden. Zum anderen entstammen sie der jeweiligen Rolle des Geistes, dessen Leben gleichermaßen bei Aristoteles wie Plotin als höchste Stufe gedacht wird. Auch das Leben auf der untersten Stufe kann bei beiden nicht frei von Aspekten sein, die dem Geist oder einer formierenden anima zugeschrieben werden können. Nach Plotin denkt das Eine aus sich selbst heraus. Die Bewegung des göttlichen Geistes (nous) ist die Bewegung des Aus-Sich-Hervorgehens (exitus) und Zu-Sich-Zurückkehrenes (reditus).⁵² So wird das Leben ein „integrales Moment“⁵³ seines Seins. Im Einen fallen Sein, Geist, Leben in eins.⁵⁴ Weil Plotin den emmanativen Durchgang von oben nach unten betrachtet, ist bei ihm das Dasein auf den untersten Stufen so weit vom Leben entfernt, dass es ihm schon kaum mehr zugesprochen werden kann.⁵⁵ Zwar ermöglicht der Geist vielfältige Lebensformen, weil bei seiner Emmanation die abstrakten Grundkategorien wie Sein, Bewegung, Ständigkeit, Identität, Andersheit zustande kommen.⁵⁶ Da dieser Prozess als ein ewiger gedacht wird, durchwaltet alles Leben im Kosmos eine Dynamik. Durch jene Grundkategorien stehen alle lebendigen Wesen in einer Relationalität. Die Formgestalten der materielle Einzeldinge gehen jedoch nicht mehr direkt auf den Geist zurück, sondern auf das Zwischenwesen einer natura naturans.⁵⁷ In jeder Theorie von Leben spielen also Fragen nach der inneren Struktur eine Rolle, zumal Nicht-Leben durch die Auflösung solcher Strukturen bestimmt ist. Hierbei geht es einerseits um Strukturen nach innen: Je höher die Verinnerlichung, Verdichtung, Komplexität, desto höher der Grad an Leben. Dieser Annahme stimmen Lebenstheorien sowohl mit induktivem als auch mit deduktivem Ansatz zu. Andererseits geht es um die Strukturen im Verhältnis der Einzellebewesen zueinander und zur ganzen Lebenswirklichkeit, also um ihre Relationalität. Hier unterscheiden sich verschiedene Lebenslehren in der Ausdeutung von Bezogenheit:

 Vgl. Paul Tillich, Das Leben und der Geist. Die Geschichte und das Reich Gottes, Bd. , Systematische Theologie  (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, ),  f.  Regine Kather, Was ist Leben? Philosophische Positionen und Perspektiven (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), .  Ibd.  Plotin, Enneade V,,: Geist ist das gesamte, klare, vollendete Leben. Vgl. hierzu: Regine Kather, Was ist Leben?, .  Plotin, Enneade II, ,; II, , ; III, , .  Vgl. Jan Decorte, Eine kurze Geschichte der mittelalterlichen Philosophie, übers. v. Inigo Bocken und Matthias Laarmann (Paderborn/München/Wien/Zürich: Ferdinand Schöningh, ), .  Plotin, Enneade III, ,.

7.1 „Trinkt den Frohsinn“: Aspekte der Ideengeschichte

319

Bei Aristoteles entsteht jene, insofern jedes Einzellebewesen seiner eigenen Zielbestimmung, Entelechie, nachkommt, so dass das Gesamt der Lebenswirklichkeit teleologisch geordnet erscheint. Hierin erblickt Jürgen Habermas Anknüpfungspunkte für eine denkmögliche religiöse Deutung von Leben,⁵⁸ deren Bedeutung gerade in der Aufwertung des konkreten Lebens des je einzelnen liegt. Bei Eriugena wird Relationalität von oben erschaffen, insofern die Geschöpfe in einer substantiellen Relation zu Gott als Schöpfer stehen. Zugleich jedoch lassen sich manche Passagen bei ihm im pantheistischen Sinne deuten,⁵⁹ so dass der in sich strukturierte Bezug aller lebendigen Einzelwesen eher durch ihren identifikatorischen Zusammenfall in Gott garantiert zu sein scheint. Auf diese beiden Aspekte bei Eriugena werde ich unter dem Abschnitt 7.1.2.3 dieses Kapitels ausführlicher eingehen. So missverständlich solche Äußerungen Eriugenas auch sein mögen, so liegt ihre Leistung doch darin, den zusätzlichen Denkproblemen nicht auszuweichen, die entstehen, wenn man philosophischen Grundgedanken über das Leben mit Anliegen der Schöpfungstheologie harmonisieren will. Hierbei wird neben der Genesis insbesondere der Johannesprolog als normativer schöpfungstheologischer Text ausgelegt. So argumentiert Anselm von Canterbury anhand von Joh 1,3 f, dass letztlich allen geschaffenen Dingen Leben zugesprochen werden muss, insofern sie als geschaffene Dinge im Logos sind.⁶⁰ Neben der Ausweitung des Lebensbegriffes durch schöpfungstheologische Aspekte wirken trinitätstheologische Sichtmuster auf die ontologische Durchdenkung von Leben zurück. Entsprechende Dreierstrukturen in der trinitas nostrae naturae ⁶¹ nach Eriugena seien in einer Tabelle dargestellt:⁶²

 Jürgen Habermas, „Von den Weltbildern zur Lebenswelt,“ in Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, von Jürgen Habermas (Berlin: Suhrkamp, ), : „Die teleologisch angelegte Ontologie des Aristoteles enthält noch ein Sinnpotential, das für den soteriologisch gedeuteten Praxisbezug offen ist.“  Z. B. Iohannis Scotti seu Eriugenae Periphyseon, Liber Tertius, curavit Eduardus A. Jeauneau (Turnhout: Brepols, ), Liber III, C-D. S. , Z  – , vgl. hierzu Dirk Ansorge, „Johannes Scotus Eriugena (vor  – nach ),“ in Arbeitsbuch Theologiegeschichte. Diskurse. Akteure. Wissensformen, Band : .–. Jahrhundert, Hg. Gregor Maria Hoff and Ulrich Heinz Jürgen Körtner (Stuttgart: W. Kohlhammer, ), .  Anselm von Canterbury, Monologion, in: S. Anselmi Cantuariensis Archiepiscopi, Opera Omnia, Tomus Primus, ad fidem recensuit Franciscus Salesius Schmitt (Stuttgart-Bad Canstatt: FrommannHolzboog, ), cap. . Vgl. Joachim Vennebusch, „Leben III. Im Mittelalter,“ in HWP : .  Eriugena, Peri Physeon  D.  Die Tabelle wurde von mir erstellt anhand von Hinweisen bei Dirk Ansorge, „Johannes Scotus Eriugena (vor  – nach ),“: .

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

Lebenswirklichkeit:

Existenz

Ordnung

Bewegtheit

Ontologische Struktur Substanz (essentia) des Lebenden:

Vermögen (virtus)

Wirken (operatio)

trinitarische Struktur: Sein (esse, ousia)

Weisheit (nous, sapientia)

Leben (zoé, vita)

Die Differenzierung in verschiedene Ebenen der Intensität von Lebendigkeit prägt seit Aristoteles ebenso die abendländische Seelenlehre. Ausgehend von dem Dreierschema der anima vegetativa, sensitiva, intellectiva ⁶³ entfaltete die Hochscholastik eine präzise Aufgabenteilung und Zusammenarbeit der einzelnen Seelenteile hinsichtlich ihrer Funktionen in Erkenntnis und Wille.⁶⁴ Thomas von Aquin erweist sich als ein Denker, der das Phänomen des Lebens multiperspektivisch untersucht: Innerhalb der Summa Theologiae wird die Frage, wem Leben zukommt und was es sei, innerhalb der Gotteslehre behandelt, also eingeordnet in einen Ansatz von oben. Dennoch beginnt er mit einer Analyse des Lebensbegriffes von unten her, beim Leben der geschaffenen Dinge. Hierbei wird nicht bereits einführend ein Schichtenbau des Lebens entworfen. Sondern er beginnt empirisch: Wie lässt sich Lebendigsein vermittels der äußeren Wahrnehmung beobachten? Durch Wahrnehmung der Selbstbewegung einer res: Denn die Bezeichnung Leben wird von etwas genommen, das äußerlich an der Sache (res) wahrnehmbar ist, und zwar von seiner Selbstbewegung (movere seipsum).⁶⁵

Leben ist daher ein Abstraktbegriff, der lebendige Tätigkeiten eines lebendigen Wesens zusammen fasst.⁶⁶ So kann es in einer übertragenen, uneigentlichen Redeweise (minus proprie) wie schon bei Aristoteles (EN IX) auf Fühlen und Denken (sentire et intelligere) angewandt werden.⁶⁷ Anhand der Lehre vom Leben macht Thomas also darauf aufmerksam, dass der ontologische Zentralbegriff der Bewegung (motus) auf dem Realsinn der Selbst-Bewegung lebendiger Wesen aufruht. Ein Vorteil dieses Zugangs über das Zusammenspiel von der empirischen Beobachtung von Bewegung als Merkmal des Lebens und von der Untersuchung ihrer Begriffsreichweite beim abstraktiven Denken ist, dass der Aquinate so nicht mit Vorannahmen über die Hierachie der lebendigen Lebewesen ansetzen muss. Ausgehend

 Aristoteles, De anima II, , a-a. Der innere Aufbau der Lebewesen entsteht aus der aktualisierenden Formgebung der Materia durch die Form. Hierbei bestimmt die formierende anima die Seinstufe des Lebewesens.  Vgl. Peter King, „The Inner Cathedral: Mental Architecture in High Scholasticism,“ Vivarium  (): .  Thomas von Aquin, STh I q , a.  STh I q  a .  Ibd.

7.1 „Trinkt den Frohsinn“: Aspekte der Ideengeschichte

321

von dieser Mitte kann er dann zugleich von unten und oben her denken. Die lebendigen Tiere (animalia) sind die Wesen, die dieser denkerischen Mitte zugeordnet sind. Von ihnen her wird die Abgrenzung nach unten gesucht, ab wo von Leben gesprochen werden kann, nämlich ab den Pflanzen, insofern ihrem Leben eine Art uneigentlicher Bewegung im Wachstum zugesprochen werden kann. Anderseits muss von dieser Mitte im Terminus der Bewegung Gott gerade in nicht metaphorischer, sondern in eigentümlicher Sprechweise Leben im Höchstsinn zugeschrieben werden, da sein Vollzug von intelligere die Höchstform von Selbstbewegung darstellt. Damit nimmt Thomas klar Stellung zu der Anfrage aus der platonischen Tradition,⁶⁸ ob Gott als Höchstform von Leben mit Beweglichkeit vereinbar sei, oder ob Bewegung nur auf niederen Seinsstufen von Lebendigkeit denkbar sei. Ebenso positioniert er sich von diesem Grundentscheid her in der oben anhand von Eriugena und Anselm angesprochenen Frage, wie denn das Lebendig-Sein aller Geschöpfe in Gott zu denken sei: Allem Geschaffenen eignet Leben in Gott, insofern es von Gott erkannt wird und sein Erkennen mit seinem Leben identisch ist.⁶⁹ Allerdings bezieht sich Thomas hier nicht auf Joh 1,3 f sondern auf den Ternar von Sein, Bewegung, Leben in Apg 17,28a. In seinem Kommentar zum Johannesevangelium referiert er zunächst die Ausdeutungen zu Joh 1,3 f in ihrer jeweilige Abhängigkeit der Abgrenzung der Verseinteilung von Eriugena,⁷⁰ Augustinus, Origines, und Hilarius von Poitiers. Er beschließt die Passage, in dem er der Interpunktion von Chrysostomus folgt, wobei er dessen Autorität bei den Griechen betont. In Joh 1,3 f solle nicht nur die Schöpfermacht des Logos bezüglich der bereits geschaffenen Dinge hervorgehoben werden, sondern nach dem Sprachbild der Quelle in Ps 35(36),10 die „…Unerschöpflichkeit der Ursächlichkeit […] für die noch hervorzubringenden…“⁷¹ Dinge und die Lenkung alles Geschaffenen durch den Logos.

7.1.2.3 Participatio als Schlüsselgedanke in der ontologischen Betrachtung des Lebens Es wurde oben schon deutlich, dass sich Leben in verschiedenen Lebewesen in unterschiedlicher Intensität verwirklicht. Daher ist kontingentes Leben auf eine vollkommene Quelle des Lebens bezogen. Jener Bezug wird bei platonischen Denkern als partielle Anteilhabe, als Partizipation am vollen Leben gedacht. Relationalität entsteht also durch Teilhabe, wobei insbesondere der Geist Anteil am höchsten Seienden ha-

 Platon, Timaios d: Die ewige Natur des Lebens (tou zoou physis) hat in den lebendigen Dingen nur ein unvollkommenes, weil stets bewegtes Abbild. Andererseits versucht jenes gerade in seiner steten Bewegung, dem Urbild nachzueifern (Timaios e).  STh I q  a  ad .  Allerdings ohne Namensnennung, nur unter dem Verweis auf das Incipit „vox spiritualis“ (Thomas von Aquin, Kommentar zum Johannesevangelium Cap I, lectio III, ).  Thomas von Aquins Kommentar zum Johannesevangelium, Teil , Hg. herausgegeben von Paul Weingartner, Michael Ernst and Wolfgang Schöner (Stuttgart: Vandenhoeck & Ruprecht, ), .

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

be.⁷² Durch die Partizipation wird nicht nur eine Erklärung für die Vermittlung zwischen der Einheit Gottes und der Vielheit der lebendigen Dinge gefunden. Sondern dieses Grundmodell eröffnet auch eine Denkform, wie die Rückkehr der zerstreuten Einzellebewesen zu Gott möglich ist. Nach Plato vollzieht sich participatio (methexis) indirekt, insofern alle Seelen von Einzelwesen in einer Weltseele eingeschlossen seien, die dem Weltganzen ein göttliches Leben sichert.⁷³ Da der Dialog Timaios in der lateinischen Teilübersetzung von Chalcidius um 400 bis ins 12. Jahrhundert hinein⁷⁴ ein wichtiges Referenzwerk für die Naturphilosophie war, wurde diese These, wenn auch meist in Negation, in den frühund hochmittelalterlichen Theorien zu Leben weiterhin diskutiert. Dies hängt auch mit einer gewissen Scheu zusammen, das höchste Seiende mit dem Leben selbst zu identifizieren.⁷⁵ Ein Beispiel hierfür ist Johannes Scotus Eriugena (~ 810 – 877). Seine Übersetzung des Corpus Dionysiacum, der Werke des Areopagita, ist ein Beispiel für den Kulturaustausch mit Byzanz im neunten Jahrhundert. Der griechische Text hierzu war 827 als Geschenk des byzantinischen Kaisers an Karl den Kahlen geschickt worden,⁷⁶ in dessen Auftrag Eriugena viele Werke verfasste.⁷⁷ Die heutige Interpretation seines Hauptwerkes Periphyseon (De Divisione Naturae), kreist zumeist um die Interpretation der Einteilungsschemata für einen vierfachen Naturbegriff.⁷⁸ Hier sollen nur einige Anmerkungen zu seinem Verständnis von Leben im Zusammenhang mit dem Kernthema der Teilhabe erfolgen. Für die ideengeschichtliche Einordnung der Auffassung von Leben bei Hildegard empfiehlt sich ein Augenmerk auf die Lebenskonzeption von Eriugena, da Hildegard vermutlich einige Grundzüge seiner Formulierungen bekannt gewesen sind und sich hieraus einige missverständliche pantheisierende Formulierungen von ihr in Schöpfungstheologie und Christologie erklären lassen.⁷⁹  Vgl. Wolfgang Wehrmann and Wolfang Lehmann, „Der Weg des Heiles zu Wahrheit und Leben als neue korrelative Verifikation zwischen Theologie und Naturwissenschaft,“ in Denken und Glauben. Perspektiven zu „Fides et Ratio“, Hg. Karl Josef Wallner (Heiligenkreuz: Be&Be Verlag, ), .  Plato, Timaios  e.  Nach: Ewald Könsgen, „Calcidius,“ in LThK  : .  Vgl. Joachim Vennebusch. „Leben. III. Im Mittelalter.“ In HWP : .  Vgl. Dirk Ansorge, „Johannes Scotus Eriugena (vor  – nach ),“ in Arbeitsbuch Theologiegeschichte. Diskurse. Akteure. Wissensformen, Band : .–. Jahrhundert, Hg. Gregor Maria Hoff and Ulrich Heinz Jürgen Körtner (Stuttgart: W. Kohlhammer, ), .  Dirk Ansorge, „Johannes Scotus Eriugena (vor  – nach ),“: .  Vgl. Dirk Ansorge, „Johannes Scotus Eriugena (vor  – nach ),“: ; sowie: Gangolf Schrimpf, „Die systematische Bedeutung der beiden logischen Einteilungen (divisiones) zu Beginn von Periphyseon,“ in Giovanni scoto nel suo tempo. L’organizzazione del sapere in età carolinga. Atti del XXIV Convegno storico internazionale, Hg. Claudio Leonardi and Enrico Menestò (Spoleto: Centro di studi sull’alto medioevo, ):  f.  Hierzu werde ich weiter unten auf die entsprechenden programmatische Aufsätze von Christel Meier eingehen, die von ihr im Jahr  in Vorträgen vorgestellt wurden. Im Rahmen dieser Arbeit kann zwar

7.1 „Trinkt den Frohsinn“: Aspekte der Ideengeschichte

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Jedoch wird sich zeigen lassen, dass Hildegard Grundgedanken Eriugenas völlig losgelöst von den komplexen begründungstheoretischen Zusammenhängen in seinem Hauptwerk und in den Schriften zur Exegese des Johannesprologes übernimmt. Entsprechend ihrer allgemeinen Tendenz zur „Renarratisierung“⁸⁰ theoretischer Kernbegriffe übersetzt sie jene in narrative heilsgeschichtliche Kontexte zurück. Möglicherweise, das ist meine eigene These, lag ihr hierzu das vierte Buch von Periphyseon in Auszügen vor. Leider werden die stärker theologisch-heilsgeschichtlich ausgerichteten Bücher 4 und 5 von Periphyseon von modernen Interpreten weniger berücksichtigt. Im Unterkapitel 7.2.4 werde ich auf die Ausdeutung von Lebenssymbolen aus der Paradiesesgeschichte, auf den Baum des Lebens und auf die Quelle des Lebens im Liber IV des Periphyseon zurück kommen. Bei der Diskussion um eine mögliche Eriguena-Rezeption Hildegards sei in Erinnerung gerufen, dass Eriugena erst in den Jahren 1210 und 1250 wegen seiner pantheisierenden Tendenzen verurteilt wurde,⁸¹ nachdem seine Grundgedanken im 12. Jahrhundert eine verstärkte Wirkung entfalteten, so im Clavis Physicae des Honorius Augustodunensis. ⁸² Zur sachgerechten Beurteilung der Sichtweisen Eriugenas muss bedacht werden, dass er jene nicht als fertige Thesen präsentiert, sondern im Verlauf eines LehrerSchüler-Dialoges weiterentwickelt. Hierbei weist der Lehrer als Vertreter der Philosophie auf die tastende Vorläufigkeit in der Entwicklung seiner Argumentationsgänge hin.⁸³ Dem Schüler hingegen kommt die literarische Funktion zu, als Identifikationsfigur für mögliche Deutungswege des Textes zu dienen.⁸⁴ Dadurch wird der Leser in den Dialog und letztlich in den inhaltlichen Gedankenverlauf mit einbezogen.⁸⁵ Zugleich wird dadurch der jeweils eingeschränkte Gesichtskreis des Erkenntnissubjektes angedeutet.⁸⁶

keine umfassende Auseinandersetzung mit den Thesen von Christel Meier stattfinden. Meine Befunde zum Begriff des Lebens bei Hildegard und Eriugena unterstützen jedoch den grundsätzlichen Ansatz Meiers.  Vgl. meine These der „Renarratisierung“ im Kapitel . dieser Arbeit.  Bei den kirchlichen Vorbehalten gegenüber Eriugena im . Jahrhundert ging es um sein Gutachten im damaligen Prädestinationsstreit um die Thesen des Mönchs Gottschalk. Vgl. Mischa von Perger, „Deliberativa theoria. Eriugenas dialogische Kunst der Erwägung,“ in Gespräche lesen. Philosophische Dialoge im Mittelalter, ScriptOralia , Hg. Klaus Jacobi (Tübingen: Narr, ), .  Richard Heinzmann, Philosophie des Mittelalters, Grundkurs Philosophie  (Stuttgart: W. Kohlhammer, ), .  Vgl. Mischa von Perger, „Deliberativa theoria. Eriugenas dialogische Kunst der Erwägung,“: , .  Vgl. Mischa von Perger, „Deliberativa theoria. Eriugenas dialogische Kunst der Erwägung,“: .  Vgl. Mischa von Perger, „Deliberativa theoria. Eriugenas dialogische Kunst der Erwägung,“ in Gespräche lesen. Philosophische Dialoge im Mittelalter, ScriptOralia , Hg. Klaus Jacobi (Tübingen: Narr, ),  – .  Vgl. Gangolf Schrimpf, „Die systematische Bedeutung der beiden logischen Einteilungen (divisiones) zu Beginn von Periphyseon,“ in Giovanni scoto nel suo tempo. L’organizzazione del sapere in età carolinga. Atti del XXIV Convegno storico internazionale, Hg. Claudio Leonardi and Enrico Menestò (Spoleto: Centro di studi sull’alto medioevo, ), .

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Teilhabe, die mit der „Ableitung von der Herkunft“ (derivatio), als Synonym gleichgesetzt wird,⁸⁷ wird zum Fluchtpunkt der ganzen philosophischen und theologischen Betrachtungsweise im Hauptwerk Eriugenas. Er entwickelt die verschiedenen Lebensstufen gemäß des unterschiedlichen Grades von participatio zunächst nach den Redeformen von Plato und seinen Anhängern. Jedes Einzelseiende hat Anteil an dem allgemeinen Sein, der generalissima vita: Mit Notwendigkeit muss jede Gattung von Leben (species vitae), die jeweils eine Vielzahl von verschiedenen Körperdingen enthält, auf ein gewisses allgemeines Leben (vita generalissima) zurücklaufen (recurrere), wobei es durch seine Teilhabe daran zu der jeweiligen Gattung spezifiziert wird (cuius participatio specficatur).⁸⁸

Aufgrund ihrer Funktion, die Lebewesen, die an ihr Anteil habe, zu verschiedenen Gattungen zu spezifizieren, kann die vita generalissima als Einteilung (divisio) bezeichnet werden.⁸⁹ Diese Bezeichnung muss auf den Beginn des Werkes einer angekündigten Einteilung des Naturbegriffes und seine durchlaufende Grundstruktur von divisiones rückbezogen werden. Es geht also nicht nur um logische, didaktisch vorteilhafte Lehrunterscheidungen, sondern um den denkerischen Nachvollzug der Lebensbewegung vom Einen zum Vielen und dessen Rückkehr zum Einen.⁹⁰ Die geschaffenen Lebewesen fächern sich in vier Spezies von Lebendigkeit auf: Es lassen sich also vier Unterscheidungen des geschaffenen Lebens in vier Spezies zusammen denken (colliguntur). Eine vita intellectualis in den Engeln, eine vita rationalis in den Menschen, eine vita sensualis in den Tieren, eine vita insensualis in den Keimen und anderen Körpern, in denen nur die Zugehörigkeit zur Spezies eine Spur von Leben aufweist, so zum Beispiel in den vier Elementen des Kosmos…So kann man nicht unverdienterweise sagen, dass der Mensch die Werkstätte (officina) aller Geschöpfe ist, da in ihm die ganze Kreatur enthalten ist.⁹¹

Bei der näheren Bestimmung einer generalissima vita kündigt sich jedoch das Problem an, dass die schaffende Ursache aller Geschöpfe (causa creatrix) einerseits wie bei

 Eriugena, Periphyseon III,  B, .  – : Nihil aliud esse participationem nisi ex superiori essentia secundae (post eam) essentiae derivationem et ab ea quae primum habet esse secundae ut sit distributio.  Eriugena, Periphyseon III,  B, S. , Z  – . Übersetzung dieser und der folgenden Passagen aus Periphyseon von mir.  Eriugena, Periphyseon III,  C, S. , Z  – .Vgl. hierzu Periphyseon I, CCM ,  B, S. , Z  f: Similiter plus quam vita est.  So kann divisio sogar als Synonym einer collectio um schrieben werden, wie in Eriugena, Periphyseon III, C, S. , Z  – .  Eriugena, Periphyseon III,  A- B, S. , Z  – .

7.1 „Trinkt den Frohsinn“: Aspekte der Ideengeschichte

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Dionysius Areopagita ⁹² als Leben aus sich Selbst, als Selbstleben (autozoé, per se ipsam a se ipsa in se ipsa vita) beschrieben wird,⁹³ und andererseits hinsichtlich ihrer Ursächlichkeit über allem Leben steht (super omnem vitam) und es umfasst.⁹⁴ Jene Schwierigkeit versucht Eriugena im Überstieg von einer rein philosophischen zu einer theologischen Argumentation hinsichtlich der „vorrangigen, alles zuerst ordnenden Ursachen“ (causae primordiales)⁹⁵ zu lösen. Sie wirft christologische und trinitätstheologische Fragen auf. Bevor ich auf die Forschungslage hierzu eingehe, skizziere ich im Folgenden einen kurzen Überblick über meine eigene Deutung. Leben wird von Eriugena nicht einfach mit Gott identifiziert, sondern im Anschluss an Dionysius Areopagita als eine der causae primordiales bestimmt. Es handelt sich um eine ontologische Größe, die zwar geschaffen, aber ewig ist.⁹⁶ Sie existiert in sich, was durch ihre eigene Partizipation an ihr selbst erklärt wird,⁹⁷ ohne dass ihr genauer Status gegenüber der vita generalissima erklärt würde. Die causae primordiales sind also nicht mit Gott identisch. Um ihr Verhältnis zu Gott anzudeuten, werden sie trinitätstheologisch erklärt: Der Vater wirke im Sohn durch die causae primordiales: Es gibt also die causae primordiales, die von den Weisen die Wirkprinzipien aller Dinge genannt werden, so die Gutheit durch sich selbst, die Wesensexistenz durch sich selbst, das Leben in sich selbst, …und alle Tugendkräfte (virtutes) und Beweggründe (rationes), durch die der Vater auf einmal und zugleich im Sohn wirkt, und durch die der Ordnungszusammenhang (ordo) aller Dinge von oben bis nach unten gewebt wird (texitur), das bedeutet, von der vernünftigen Kreatur (intellectuali creatura), die Gott nach Gott am nächsten ist, bis zur äußersten Aufreihung aller Dinge, in denen die Körperwesen enthalten sind.⁹⁸

Im eriugenistischen Konzept der causae primordiales könnte also eine von mehreren Ursachen für die ikonologische Hypostasierung von Tugendfiguren in den Visiones Hildegards gesehen werden. Hildegard gestaltet so ein abstraktives Konzept literarisch in bildlicher Anschaulichkeit aus.

 Areopagita, De divinis nominibus, in: Dionysiaca, Faksimile – Neudruck der zweibändigen Ausgabe Brügge  in vier Bänden, Band  mit einem Nachwort von Martin Bauer (Stuttgart-Bad Canstatt: Frommann-Holzboog, ), .  Eriugena, Periphyseon III,  B, S. , Z  – : Ea natura, quae per se ipsam a se ipsa in se ipsa vere et immutabiliter essentia est et vita.  Eriugena, Periphyseon III,  D, S.  f., Z  – .  Der Übersetzungsvorschlag, die primordiales causae als „vorrangige, alles zuerst ordnende Ursachen“ widerzugeben, stammt von mir. Er lässt bewusst ihr Verhältnis zu Gott als erster Ursache noch offen.  Vgl. Mischa von Perger, „Deliberativa theoria. Eriugenas dialogische Kunst der Erwägung,“ in Gespräche lesen. Philosophische Dialoge im Mittelalter, ScriptOralia , Hg. Klaus Jacobi (Tübingen: Narr, ), .  Eriugena, Periphyseon III, C/D, S. , Z  – . Vgl. Areopagita, De Divinis Nominibus , .  Eriugena, Periphyseon II,  C, S. , Z  – .

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

Dabei kann die von ihr gewählte Gattung einer Visio als ein literarischer Widerschein des von Eriugena aufgespannten Sinnbogens zwischen Leben als causa primordialis und der Theophanie, der apparitio von Gott in den lebendigen Geschöpfen gedeutet werden. Denn sowohl die Engel und Seligen als auch heiligmäßige Menschen im Diesseits⁹⁹ könnten bestimmte geschaffene Dinge als Ausdruck, apparitio, Gottes erkennen.¹⁰⁰ Im Kontext des Werkes von Eriugena stellen sich jedoch Fragen nach dem ontologischen Status von Leben als causa primordialis, wenn sich Christus wie in Joh 14,6 als Leben bezeichnet. Sei es als präexistenter Logos, was die Frage nach dem innertrinitarischen Verhältnis zu Gott-Vater aufwerfen würde, wenn eine causa primordialis nicht mit Gott identisch ist.¹⁰¹ Oder sei es als inkarnierter Logos, der sich für die Menschen opfert, um ihnen das Leben neu zu schenken: Er selbst sagt nämlich: Ich bin das Leben. Ein Leben, das niemals stirbt, sondern das gekommen ist, um neues Leben zu schenken, indem es den Tod auf sich nimmt. Denn das Leben war für uns nicht durch einen Menschen da.¹⁰²

Weitere Aufschlüsse, inwieweit Eriugena selbst jene Schwierigkeiten gesehen hat, kann der Blick in die Kommentierung von Joh 1,3 f (im Unterkapitel 7.2.2) und die Ausdeutung des Bildes von der Lebensquelle (im Unterkapitel 7.2.4) geben. Zur Einordnung meiner eigenen Deutung von Eriugenas Lehre über die Primordialursachen und von ihrem Einfluss auf die Konzeption Hildegards in die Forschungsdiskussion seien im Folgenden einige Hinweise gegeben: Hierzu soll einführend auf die Forschungsthese von Christel Meier-Staubach zu einer möglichen Eriugena-Rezeption bei Hildegard eingegangen werden. Danach werde ich die gegensätzlichen Interpretationen der Eriugena-Forscher Gangolf Schrimpf und Werner Beierwaltes zum ontologischen Status und der heilsgeschichtlichen Funktion der primordiales causae rekapitulieren. Abschließend werde ich zu meinem eigenen, oben dargestellten Votum einer ikonologischen Funktion der primordiales causae zurückkehren, die Hildegard in der Anschaulichkeit der Tugendfiguren (ima-

 Eriugena, Periphyseon I,  B, S. , Z  – .  Vgl. Gangolf Schrimpf, „Die systematische Bedeutung der beiden logischen Einteilungen (divisiones) zu Beginn von Periphyseon,“ in Giovanni scoto nel suo tempo. L’organizzazione del sapere in età carolinga. Atti del XXIV Convegno storico internazionale, Hg. Claudio Leonardi and Enrico Menestò (Spoleto: Centro di studi sull’alto medioevo, ), . Zwischen der Transzendenz Gottes, seiner Identität mit dem Leben und seinem Sich-Zeigen gegenüber dem Menschen besteht ein innerer Zusammenhang, nämlich „…dass Gott radikal transzendent ist in seiner Wesenheit, aber sich in seiner Existenz als Lebender darstellen wollte und konnte.“ (Joseph Ratzinger, Der Geist der Liturgie. Eine Einführung (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ), .)  Zu den Vorbehalten Eriugenas, Gott mit dem Leben zu identifizieren, siehe das Unterkapitel ...  Eriugena, Periphyseon IV, S. , Z  – .

7.1 „Trinkt den Frohsinn“: Aspekte der Ideengeschichte

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gines) vorführt.¹⁰³ Dafür werde ich auf die Kongruenz von meinen eigenen obigen Textbeobachtungen mit den Argumenten von Christel Meier hinweisen. In den Jahren 1984/1985 trat Christel Meier mit drei Forschungsvorträgen¹⁰⁴ hervor, in denen sie mögliche Argumente für eine Eriugena-Rezeption bei Hildegard skizzierte. Sie wollte jene in einem Grundlagenwerk zusammenfassen, das meinem Wissen nach zwar von ihr angekündigt war, dann jedoch nicht erschien.¹⁰⁵ Zur Erhärtung ihrer These legt sie keine Vergleichsstudie zu Textpassagen bei beiden Autoren vor.¹⁰⁶ Stattdessen geht sie auf Ähnlichkeiten in der systematischen Darstellung kosmologischer und heilsgeschichtlicher Zusammenhänge bei beiden Autoren ein. Dabei spielen neben trinitätstheologischen Fragen¹⁰⁷ und dem reditus, konkret ausgedeutet als geistliche Umkehr zurück zu Gott in endzeitlichen Gegenwartsauffassungen im Mittelalter,¹⁰⁸ gerade die Primordialursachen eine wichtige Rolle in der Analyse durch Meier. Die Auffassung dieser drei Systempunkte durchdringt sich bei Eriugena wechselseitig. Das werde ich weiter unten darstellen. Christel Meier regt dazu an, neben den Großwerken Eriugenas (Periphyseon, Caelestis Hierachia) seinen Johanneskommentar zu berücksichtigen.¹⁰⁹ Als mögliche Indizien für eine Kenntnisnahme von Grundaussagen Eriugenas durch Hildegard weist sie auf zwei äußere Fakten hin: Erstens hielt sich Hildegard bei einer ihrer Predigtreisen in einem Kloster auf, das damals nachweislich über Abschriften des Periphyseon und des Clavis Physicae des durch Eriugena beeinflussten Honorius von Autun verfügte.¹¹⁰ Zweitens verfasste schon im elften Jahrhundert im St. Eucharius-Kloster in

 Vgl. Christel Meier, „Scientia Divinorum Operum. Zu Hildegards von Bingen visionär-künstlerischer Rezeption Eriugenas,“ in Eriugena Redivivus. Zur Wirkungsgeschichte seines Denkens im Mittelalter und im Übergang zur Neuzeit. Vorträge des V. Internationalen Eriugena-Colloquiums der WernerReimers-Stiftung Band Homburg .–. August , Hg. v.Werner Beierwaltes (Heidelberg: C.Winter, ), .  Christel Meier, „Scientia Divinorum Operum,“:  – ; Dies., „Eriugena Im Nonnenkloster? Überlegungen zum Verhältnis von Prophetentum und Werkgestalt in den figmenta prophetica Hildegards von Bingen,“ FMSt  ():  – ; Dies., „Virtus und operatio als Kernbegriffe einer Konzeption der Mystik bei Hildegard von Bingen,“ in Grundfragen christlicher Mystik. Wissenschaftliche Studientagung Theologia mystica in Weingarten vom .–. November , Hg. Margot Schmidt and Dieter Bauer (Stuttgart-Bad Canstatt: Frommann-Holzboog, ),  – .  Christel Meier, „Scientia Divinorum Operum,“: , Anm.; sowie Christel Meier, „Eriugena im Nonnenkloster?,“: , Anm.. Der angekündigte Titel sollte heißen: Christel Meier, Prophetischer Geist und literarische Form. Untersuchungen zur Ästhetik der mittelalterlichen Vision (Studien zu Hildegard von Bingen, Band ).  Christel Meier, „Scientia Divinorum Operum,“: : „Der Nachweis von Eriugena-Zitaten kann also hier nicht erwartet werden.“ Eine ähnliche Bemerkung ebd., . Dass die nötigen „…komplizierten Beweisgänge…“ nur im Rahmen des von ihr geplanten Grundlagenwerkes erbracht werden könnte, ist ebenso angedeutet in Christel Meier, „Eriugena im Nonnenkloster?,“: .  Vgl. Christel Meier, „Eriugena im Nonnenkloster?,“:  – .  Christel Meier, „Scientia Divinorum Operum,“: .  Christel Meier, „Scientia Divinorum Operum,“: ; ähnlich .  Christel Meier, „Scientia Divinorum Operum,“: .

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

Trier, mit dem Hildegard in wechselseitigem geistigem Austausch stand, ein nicht namentlich bekannter Autor ein Lehrgedicht über das Gedankengebäude von Peri Physeon. ¹¹¹ Soweit es mir ersichtlich ist, konnte die von Christel Meier intendierte¹¹² Edition jener Schrift, deren Einsicht durch Hildegard nicht unwahrscheinlich ist, bislang noch nicht realisiert werden. Gangolf Schrimpf betrachtet die heilsontologische Funktion der primordiales causae von zwei Grundfragen aus:¹¹³ Erstens von der Frage her, wie ihre Ursächlichkeit zu verstehen sei.¹¹⁴ Zweitens von der Unterscheidung der jeweiligen Seins- und Erkenntnisebenen, hinsichtlich derer von den Primordialursachen zu sprechen ist. Hier ist einerseits zu differenzieren, dass sie nach Eriugena auf andere Weise von Gott und dem Menschen erkannt werden können. Der Mensch erkenne sie nur hinsichtlich ihrer Existenz und in ihrer Funktion, als Theophanie Gottes in der Welt¹¹⁵ exemplarursächlich¹¹⁶ und finalursächlich¹¹⁷ auf Einzeldinge zu wirken. Zum anderen muss bei der zweiten Frage unterschieden werden, ob von den primordiales causae in sich zu sprechen sei, – ein Zustand, der der menschlichen Erkenntnis nicht einsehbar ist -, oder von ihrer Funktion zur Konstitution der Idee reines individuellen Einzeldinges. Auf die letztere Alternative werde ich noch einmal zurück kommen, da meiner Meinung nach hier das tragende Hauptargument von Schrimpf zu identifizieren ist, warum die primordiales causae nicht mit den augustinischen rationes aeternae gleichgesetzt werden dürfen, sondern einen zwar abstrakteren Charakter haben, als die ewigen Ideen in Gott für ein Einzelding, aber ontologisch unterhalb von ihnen stehen. Zuvor ein kurzer Blick auf die Arten der Ursächlichkeit der Primordialursachen: Sie haben ein Doppelamt zur Entfaltung der Schöpfung und zur deren Rückführung zu Gott.¹¹⁸ Bezüglich der Schöpfungsdinge haben sie einerseits eine kosmologische und andererseits eine eschatologische Funktion. In Hinblick auf den Menschen nehmen sie eine gnoseologische und eine soteriologische Aufgabe wahr. Das heißt, sie helfen dem Menschen, Wahrheitsgehalte zu erkennen und durch ihre Anerkenntnis und Übung das Heil in Gott zu erlangen. Das veranschaulichen bei Hildegard, wie wir in den Einzelanalysen von visiones gesehen haben, in konkreter Renarratisierung die perso-

 Christel Meier, „Scientia Divinorum Operum,“: .  Ibd.  Diese Zusammenfassung des Untersuchungsganges von Schrimpf wurde von mir entworfen. Sie dient als Grundlage dafür, um zu zeigen, wie Beierwaltes und Schrimpf von divergenten Ansatzpunkten aus innerhalb des Gesamtsystems von Eriugena auf verschiedenen Ebenen argumentieren.  Gangolf Schrimpf, Das Werk des Johannes Scotus Eriugena im Rahmen des Wissenschaftsverständnisses seiner Zeit. Eine Hinführung zur Periphyseon, Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittealters NF  (Münster in Westfalen: Aschendorff, ), .  Gangolf Schrimpf, „Idee II.,“ in HWP : .  Gangolf Schrimpf, Das Werk des Johannes Scotus Eriugena, .  Gangolf Schrimpf, „Idee II.,“: .  Die Aufreihung dieser vier Funktionen (kosmologisch, eschatologisch, gnoseologisch, soteriologisch) im Folgenden aus Gangolf Schrimpf, Das Werk des Johannes Scotus Eriugena, . Die Ausdeutung stammt von mir.

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nifizierten Tugendfiguren ihrer Visionsbilder. So übernehmen die Primordialursachen in beiden Richtungen eine ontologische und heilsgeschichtliche Brückenfunktion zwischen Einheit und Vielheit. Dies muss aber in dreierlei Hinsicht noch komplexer gedacht werden: Zum einen bezüglich ihres Changierens zwischen ihrer ideellen Ewigkeit und ihrer zeitlichen Verwirklichung im Einzelding, dem dann durch ihre Mittlerfunktion eine Art „Ewigkeit“ in den Schöpfungsgedanken Gottes eignet.¹¹⁹ Zum zweiten hinsichtlich ihrer Existenz in einem Konsortium von unter sich gleichrangigen, in ihrer Anzahl potentiell unendlichen primordiales causae. ¹²⁰ Die Idee eines Einzeldinges als ewiger Gedanke in Gott konstituiert sich aus der jeweils individuellen Kombination einer Vielzahl von Primordialursachen.¹²¹ Wenn man von der Idee des Einzeldings her denkt, unterscheiden sie sich also von den rationes aeternae, so die Deutung von Gangolf Schrimpf. ¹²² Dabei sind sie auch finalursächlich wirksam, da sie jedes Einzelding hin zu der Identität vervollkommnen, die ihm in der ratio aeterna in Gott-Vater schon ewigkeitlich eignet.¹²³ Das Vermögen hierzu haben sie dadurch, dass sie durch das Wort des Vaters geformt werden und so auf es, also auf Christus als ihrer Formursache und Finalursache ausgerichtet sind.¹²⁴ Man würde also drittens das Konzept Eriugenas von den primordiales causae nicht in seiner Vielschichtigkeit erfassen, wenn man nicht ihr Verhältnis zu Christus als Wort bedenken würde. Christus ist die Exemplarursache aller Exemplarursachen, das principale exemplar. ¹²⁵ In der Deutung von Gangolf Schrimpf ¹²⁶  Diese Art der „Ewigkeit“ kann ihnen aber nur hinsichtlich ihres Dienstauftrags am Einzelgeschöpf zugesprochen werden, nicht in sich. Das betont Gangolf Schrimpf, Das Werk des Johannes Scotus Eriugena,  und .  Eriugena, Periphyseon II, CCM , S. , Z.  – : „nam in eis est ineffabilis unitas inseperabilisque incompositaque armonia universaliter differentium seu similium partium copulationem supergrediens.“  So Gangolf Schrimpf, Das Werk des Johannes Scotus Eriugena, .  Vgl. Gangolf Schrimpf, Das Werk des Johannes Scotus Eriugena, .  Nach Gangolf Schrimpf, „Idee II.,“: .  Gangolf Schrimpf, „Idee II.,“: .  Eriugena Periphyseon III,,  B, S.  f., Z-  – : „Vel: in principio est causa: Quodcunque enim horum quis dixerit, ex veritate von deviabit. Nam unigenitus dei filius et verbum est, et ratio, et causa…Ratio vero, quoniam ipse est omnium visibilium et invisibilium principale exemplar; ideoque a graecis ΙΔΕΑ (id est species vel forma) dicitur.“. Vgl. Gangolf Schrimpf, „Idee II.,“: .  Vgl. Gangolf Schrimpf, „Die systematische Bedeutung der beiden logischen Einteilungen (divisiones) zu Beginn von Periphyseon,“:  f. Prägnant hat Schrimpf seine Auffassung dieses doppelten Einteilungsschemas zusammengefasst in: Gangolf Schrimpf, „Johannes Scotus Eriugena,“ in LThK  : : natura als Begriff von Gesamtwirklichkeit wird entsprechend der Offenbarungsaussage in Gen  unterschieden in schaffende und erschaffene. Anhand des Prädikatsbegriffs est kann ausgesagt werden, in welcher Hinsicht ein Einzelding Ausdruck der Gesamtwirklichkeit ist. Dadurch gelang es Eriugena, für die Bildungserfordernisse der karolingischen Renaissance ein Denksystem zu konzipieren, in das später weiter Erkenntnisfortschritte, etwa aus den artes und den Naturwissenschaften, hinsichtlich eines Einzeldinges eingeordnet werden könnten, ohne dass die Gesamtsysstematik gesprengt wird (hierzu: Gangolf Schrimpf, „Die Sinnmitte von ‚Periphyseon‘,“ in Jean Scot Érigène et

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stehen die Primordialursachen in der Unterscheidung der Ebenen von natura, die das Werk Peri Physeon einleiten, auf der dritten Ebene,¹²⁷ als Natur, die erschaffen wird und erschafft.¹²⁸ Dies wirft die Nachfrage auf, wie sich ihre Erschaffung zu der ewigen Zeugung des Wortes in Gott verhält. Die primordiales causae sind gleichewiglich (coaeternae filio), aber nicht gleichwesentlich (coessentiales) mit dem Sohn erschaffen,¹²⁹ in einem ontologischen prius gegenüber den Ideen der Einzeldinge.¹³⁰ Daher besteht der unaufhebbare Unterschied zwischen den rationes aeternae im augustinischen Sinn und den Primordialursachen nicht nur unter dem Aspekt ihrer verschiedenen Funktionen für die Konstituierung eines Einzeldinges, sondern er muss bereits innerhalb der schöpferischen Erkenntnis in Gott angenommen werden. Ehe ich die gegenteilige Deutung von Werner Beierwaltes referiere, sollen die Konsequenzen dieser Umschreibung von primordiales causae auf den Lebensbegriff bei Eriugena bedacht werden: Leben als eine Primordialursache wirkt also nur im Verbund mit weiteren Primordialursachen im Einzellebewesen. In seiner von Gott derivierenden, in den Schöpfungsdingen aber eigenständig schöpferisch wirkenden Kraft ist es exemplarursächlich, formursächlich und finalursächlich wirksam. Eine Theologie des Lebens müsste also entsprechend der oben genannten vier Funktionen von primordiales causae nach Gangolf Schrimpf in den Bereichen von Schöpfung, Vollendung, Erkenntnistheorie und Erlösungslehre durchdacht werden. Probleme in der systematischen Stringenz wirft die Benennung von Christus als Leben selbst auf, sowie die Frage, inwiefern Gott das Leben schlechthin ist. Hierzu wären Denkmittel der Analogie und der negativen Theologie anzuwenden. Positiv ist anzumerken, dass mit der Qualifikation von vita als Primordialursache eine systematische Theologie nicht vom Themenbereich einer Theologie des Lebens absehen kann. Hinsichtlich einer Adaption von Grundgedanken Eriugenas durch Hildegard müsste erklärt werden, warum andere Primordialursachen wie caritas oder sapientia durch Personifikationen in ihrer ikonologischen Rolle dargestellt werden, nicht aber „Leben“, obwohl es, wie wir im Analyseteil dieser Arbeit gesehen haben, einen tragenden Baustein in der theologischen Systematik Hildegards vertritt. Werner Beierwaltes betrachtet die Rolle der Primordialursachen im Hinblick auf die Selbsterkenntnis Gottes. Nur durch sie als Gedanken in Gott könne sich Gott selbst uneingeschränkt erkennen, da er nur durch sie seine Schöpfungsgedanken, die ja auf

l’histoire de la Philosphie. Laon  –  juillet . Colloques internationaux du centre national de la recherche scientifique , Hg. Marie René Rocques (Paris: Éditions du C.N.R.S., ), .)  Gangolf Schrimpf, „Idee II.,“: .  Eriugena, Periphyseon II,  B, S. , Z.  – : „…et creatur et creat et in primordialibus causis conditarum rerum intellegitur…“.  Eriugena, Periphyseon II,  C, S. , Z.  f.: „Sed haec coaeterna sibi esse arbitror, …“. Vgl. Gangolf Schrimpf, „Idee II.,“: ; ferner Dirk Ansorge, Johannes Scotus Eriugena: Wahrheit als Prozeß. Eine theologische Interpretation von „Periphyseon“, Innsbrucker theologische Studien  (Innsbruck/ Wien: Tyrolia, ),  f.  So Gangolf Schrimpf, „Johannes Scotus Eriugena,“: .

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konkret existierende Geschöpfe hinzielen, einsehen kann.¹³¹ Daher repräsentieren sie im Modus der Teilhabe „…Seinsstrukturen des göttlichen Ursprungs…“,¹³² da sie selbst von Ewigkeit her konstituiert sind.¹³³ So kann man sie als „urspungshafte Ursachen“,¹³⁴ als „Entstehungsgründe“¹³⁵ übersetzen. Von der Ansicht Schrimpfs, dass die primordiales causae nicht mit dem augustinischen Konzept der rationes aeternae in De Genesi ad litteram VI gleichgesetzt werden dürfen, distanziert er sich im Rahmen einer längeren Fußnote in einem Überblickskapitel zum Denken Eriugenas. ¹³⁶ Hierbei geht er allerdings nicht auf das Hauptargument von Schrimpf zur unterschiedlichen Aufgabe von Ideen (rationes aeternae) und Entstehungsgründen im schöpferischen Denken Gottes zur Konstitution eines Einzeldinges ein. Vielmehr will er eine Nähe von Schrimpf’s Position zu seiner eigenen aufzeigen, indem er seine eigene Ansicht verfeinert¹³⁷ und Schrimpf eine Annäherung von dessen Diktion an sein Votum unterstellt.¹³⁸ Desweiteren zitiert er zwei Textstellen, nach denen einmal die primordiales causae in den rationes gründen, das andere Mal umgekehrt die rationes in den primordiales causae. ¹³⁹ Allerdings ließe sich angesichts der Bedeutungsvielfalt von ratio einwenden, ob mit rationes rerum, auch wenn sie unveränderlich (immutabiles) sind, die rationes aeternae im engeren Sinn gemeint sind, oder eine Art der Wesensbestimmtheit als Oberbegriff von Primordialursachen und Ideen. Ebenso ist nicht einsichtig, ob das von Beierwaltes beigebrachte Ambrosius-Zitat dafür spricht,¹⁴⁰ dass es sich bei den Entstehungsgründen um eine untergeordnete Ausdeutung des Schöpfungseffektes der rationes aeternae handle.¹⁴¹ Möglicherweise fußt die Option von

 Werner Beierwaltes, „Absolutes Selbstbewusstsein. Divina ignorantia summa ac vera est sapientia,“ in Ders., Eriugena. Grundzüge seines Denkens (Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, ):  f.  Werner Beierwaltes, „Duplex theoria,“ in Ders., Eriugena. Grundzüge seines Denkens (Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, ): .  Wener Beierwaltes, „Negati Affirmatio:Welt als Metapher. Zur Grundlegung einer mittelalterlichen Ästhetik,“ in Ders., Eriugena. Grundzüge seines Denkens (Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, ): .  Werner Beierwaltes, „Duplex theoria,“: .  Ibd.  Werner Beierwaltes, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte (Frankfurt: Vittorio Klostermann, ),  – , Anm. .  Werner Beierwaltes, Denken des Einen, , Anm. : „Zwar wird man von einer unmittelbaren Identifizierung vielleicht absehen müssen, eine intensive Zusammengehörigkeit der beiden aber scheint mir evident.“  Werner Beierwaltes, Eriugena. Gründzüge seines Denkens, , Anm. : „Manche Formulierungen Schrimpfs tendieren ohnehin zur „Einheit“ von ,rationes‘ und ,causae‘,…“.  Werner Beierwaltes, Denken des Einen, , Anm. .  Werner Beierwaltes, Denken des Einen, , Anm. , zitiert Periphyseon III, ,  – :“…quod autem primordiales causae rerum omnium substantiae sint in divina sapientia substitutae testis est S. Ambrosius in Exemero suo [I ,] dicens…“.  Werner Beierwaltes, Denken des Einen,  f, Anm. .

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

Beierwaltes mit darauf, dass er Ps. Dionysius Areopagita als eine mögliche Quelle für Eriugenas Konzept der Primordialursachen heranzieht.¹⁴² Der ontologische Status und die soteriologische Funktion der primordiales causae müssen im Zusammenhang mit einem weiteren tragenden Systempunkt bei Eriugena gesehen werden, dem der Theophanie.¹⁴³ Unter den Metaphern von Licht, Dunkelheit, Wolke und Schatten deutet er an, wie Gott in den Dingen der Welt Aspekte seiner Wahrheit zeigt, zugleich aber nur in verschleierter und verschatteter Weise. Durch den ontologischen Zwischenstatus der Primordialursachen als mit dem Wort gleichewig in den Gedanken Gottes erschaffen und als formgebende Ursache für zeitliche Einzeldingen wirkend, existieren sie im Überschneidungsbereich von Verborgenheit und Offenbarung, von Dunkelheit und Licht.¹⁴⁴ Jener Metaphernkreis und das durch ihn ausgedrückte gedankliche Konzept geht auf Ps. Dionysius Areopagita ¹⁴⁵ und auf Gregor von Nyssa ¹⁴⁶ zurück. Die Art ihrer Verborgenheit bei Gott drückt Eriugena mit dem biblischen Terminus des abyssus (Gen 1,2)¹⁴⁷ aus,¹⁴⁸ dem wir ebenso in den Analysen der Visiones SV III,8,

 Werner Beierwaltes, Denken des Einen, , Anm.  unter Nennung von De divinis nominibus V, , PG ,  C. Hier geht es in einem eher allgemeinen Sinn um die Ursprungsnähe von Exemplarursachen. So muss zwar die Kenntnis dieser Passage des Areopagiten durch Eriugena angenommen werden, jedoch kann sie in ihrer indirekten und vagen Diktion nicht als Argument im Interpretationsstreit zwischen Schrimpf und Beierwaltes dienen.  Eriugena, Periphyseon III, CCM ,  A, S. , Z. f: „Omne enim quod intellegitur et sentitur nihil aliud est nisi non apperentis apparitio, …“.  Vgl. Deirdre Carabine, „Eriugena’s Use of the Symbolism of Light, Cloude, and Darkness in the Periphyseon,“ in Eriugena: East and West. Papers oft he Eights International Colloqium oft he Society for the Promotion of Eriugenan Studies, Chicago and Notre Dame, .–.. , Notre Dame Conferences in Medieval Studies V, Hg. Berhard McGinn and Willemien Otten (Notre Dame/London: University of Notre Dame Press, ): .  Nach Deirdre Carabine, „Eriugena’s Use of the Symbolism of Light, Cloude, and Darkness in the Periphyseon,“:  ist jedoch in De Divinis Nominibus eher die Metaphorik des Lichts, und in De Mystica Theologia eher die der Dunkelheit betont; vgl. ähnlich Martin Laird, „Darkness,“ in The Brill Dictionary of Gregory of Nyssa (Supplements to Vigiliae Christianae ), Hg. Lucas Francisco Mateo-Seco and Giulio Maspero (Leiden: Brill, ): .  Deirdre Carabine, „Eriugena’s Use of the Symbolism of Light, Cloude, and Darkness in the Periphyseon,“:  f. verweist auf Greg.Nyss., v.Mos. ; in Eccles., sermo ; in Cant. .  Gen ,: terra autem erat inanis et vacua et tenebrae super faciem abyssi.  Eriugena, Periphyseon II,  C, S. , Z.  – : „Nonne congruentissime tenebrosae abyssi vocabulo a spiritu sancto appellatae sunt? Abyssus enim dicuntur propter earum incomprehensibilem altitudinem infinitamque sui per omnia diffusionem, quae nullo percipitur sensu, nullo comprehendiur intellectu, praeque ineffabili suae puritatis excellentia tenebrarum nomine appelari meruerunt.“ Vgl. Deirdre Carabine, „Eriugena’s Use of the Symbolism of Light, Cloude, and Darkness in the Periphyseon,“: . Peter Dronke fasst das Wortfeld zusammen, mit dem Eriugena das Überscheidungsfeld von anabatischen und katabatischen Denkbewegungen ausdrückt: umbra/obumbrare/nihil/abyssus/inane/vacuum/nox/tenebrositas/obscuritas/informitas (Vgl. Peter Dronke, „Theologia veluti quaedam poetria. Quelques observations sur la fonction des images poétiques chez Jean Scot,“ in Jean Scot Érigène et l’histoire de la Philosphie. Laon 7 – 12 juillet 1975,

7.1 „Trinkt den Frohsinn“: Aspekte der Ideengeschichte

333

sowie LDO I,4 und LDO II,1 bei Hildegard begegnet sind. Dies ist ein Indiz für eine mögliche Eriugena-Rezeption Hildegards. Das weitere Bild der Wolke bedeutet nicht einfach Verdunklung, sondern eine Möglichkeit des Zugangs zum unzugänglichen Licht (lux inaccessabilis).¹⁴⁹ Dieses Vorstellungsbild, das Eriugena aus einem Brief des Areopagita zitiert, setzt Hildegard in einer praktischen Durchführung des offenbarungstheoretischen Grundverständnisses von Eriugena renarratisierend in ein anschauliches Landschaftsbild der Spiegelung der Wolke im Wasser um.¹⁵⁰ Es erweist sich dadurch die Konvergenz unserer Deutung der literarischen Ausdrucksstragtegien Hildegards, die wir oben zusammengefasst haben, und der für Hildegard maßgeblichen Ideengeschichte zur einer Theologie des Lebens in vita als einer Primordialursache. Denn die Offenbarung der Ideen Gottes in der Welt zeigt sich bei Eriugena auf zwei Ebenen: Zum einen im theophanischen Charakter der Primordialursachen, die zwischen Gott und Welt vermitteln. Dies gilt auch für „Leben“ als Primordialursache. Zum anderen in den symbolischen Anschauungsbildern (prophetica figmenta/symbola),¹⁵¹ derer sich die Theologen bedienen, um dies zu beschreiben. Theologie arbeitet so wie eine Art von Poesie: „Theologia, veluti quaedam poetria.“¹⁵² Sie hat aber deswegen einen höheren Wahrheitsanspruch als dichterische Fiktion, weil Spiegelfiguren wie die Primordialursachen auf Grund ihres ontologischen Vermittlungsstatus zwischen Gott und Schöpfung, zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Einheit und Vielheit einen erkenntnistheoretischen Wert besitzen. Symbol des Symboles für diese erkenntnistheoretische Dignität ist nach Meier das Bild der Wolke, das sich im Wasser spiegelt. Während sie sich hierzu nur auf einige Textstellen bezieht,¹⁵³ konnten wir im Analyseteil dieser Arbeit zeigen, dass sich dieses Grundmotiv im Zusammenhang mit Hildegards Theologie des Lebens im Symbol der fons vitae sowohl in Visiones des Liber Scivias als auch des Liber Divinorum Operum und in autobiographischen Passagen findet.

Colloques internationaux du centre national de la recherche scientifique 561, hg.v. Marie René Rocques (Paris: Éditions du C.R.S.N., 1977): 249).  Eriugena, Periphyseon V, CCM ,  A, S. , Z.  – : „Ipsa est caligo, de qua Dionysius Ariopagita Dorotheo sribens ait: Divina caligo et inaccessabile lumen, in quo habitare Deus dicitur, …“. Vgl. Deirdre Carabine, „Eriugena’s Use of the Symbolism of Light, Cloude, and Darkness in the Periphyseon,“: .  Vgl. Hildegard, ep. r, , Z  –  und meine Interpretation dieser Passage im zweiten Kapitel I.C.  Iohannis scoti eriugenae expositiones in ierarchiam coelestem, CCM , ed. Jeanne Barbet (Turnhout: Brepols, ), Cap. II, S. , Z .Vgl. Christel Meier, „Scientia Divinorum Operum,“: .  Iohannis scoti eriugenae expositiones in ierarchiam coelestem, CCM , Cap. II, S. , Z.  – : „ita theologia, veluti quaedam poetria, sanctam scripturam fictis imaginationibus ad consultum nostri animi et reductionem a corporalis sensibus exterioribus,veluti ex quadam imperfecta pueritia, in rerum intelligibilium perfectam cognitionem, tanquam in quamdam interioris hominis grandevitatem conformet.“  Christel Meier, „Scientia Divinorum Operum,“: .

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

7.1.2.4 Die philosophischen Anleitung (Diatribe) für das gute Leben In der heidnischen und in der neutestamentlichen Sprachwelt sind zwar bios als Äquivalent für das konkrete biographische Leben und zoe als Allgemeinbegriff für das Lebendigsein unterschiedlicher Lebewesen getrennte Lexeme. Gleichwohl kommt es nicht nur zu Überschneidungen hinsichtlich der Begriffsverwendung, sondern auch in der ontologischen Bestimmung der beiden termini.¹⁵⁴ Wenn kontingentes Leben von Einzellebewesen Teilhabe an dem eigentlichem Leben ist, das mit dem Sein und dem Guten konvertibel ist, ist so auch das menschliche Leben auf die Verwirklichung des Guten ausgerichtet. Da das eigentliche Leben sich als geistige Bewegung verwirklicht, gilt die Lebensform als die günstigste, die sich dem intellektiven Selbstvollzug des Lebens selbst annähert, nämlich der bios theoretikos. ¹⁵⁵ Damit sind bereits wesentliche gemeinsame Grundzüge der Lehre über das gute Leben bei Philosophen verschiedener Schulrichtungen der Antike umrissen. Bis hin zur popularphilosophischen Diatribe wurzelt sie im Grundkonzept vom Philosophieren als Lebensweise bei Sokrates,¹⁵⁶ bei Platon im Symposion und bei Philo von Alexandria. ¹⁵⁷ Die zahlreichen Werktitel „De vita beata“, zum Beispiel von Seneca, werden in der christlichen Patristik aufgenommen und mit neuem Gehalt als Schriften über das von Christus eröffnete ewige Leben gefüllt, wobei sich die Problemfelder einer intellektiven Schau (visio beatifica) durchhalten.¹⁵⁸ Die Anregungen der Stoa zur Introspektion und zum Umgang mit den Affekten gelangen im 12. Jahrhundert zu neuer Blüte in der Aufnahme des Mottos des delphischen Orakels „Scito te ipsum“.¹⁵⁹ Im Folgenden sollen weniger vertiefte inhaltliche Antworten referiert werden, was das gute Leben ausmache, als kurz einige allgemeine Stellungnahmen hierzu in ihrem Zusammenhang mit dem Lebensbegriff angedeutet werden: Das aristotelische Votum, dass der Mensch im bios theoretikos Glück erreicht, weil er hier das Vermögen betätige, das ihm am meisten entspricht,¹⁶⁰ erhält dadurch eine realistische Komponente, dass der Mensch nach Aristoteles zur Erkenntnis auf die  Vgl. Regine Kather, Was ist Leben? Philosophische Positionen und Perspektiven (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), . Zu bios im Begriffsradius von „Lebensform“ oder „Lebensweise“ vgl. Maria Schwarz, Der philosophische bios bei Platon. Zur Einheit von philosophischem und gutem Leben, Symposion  (Freiburg/München: Karl Alber, ),  – .  Aristoteles, MPh XII , b f, b  und EN X , b – ; Protreptikos B .  Vgl. Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike (Berlin: Gatza, ),  f.  Vgl. Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, .  Die Schrift De Beata Vita von Augustinus fällt in die Umbruchszeit seiner Taufvorbereitung in Cassiciacum im Jahr  (siehe Heinrich Fries, „Augustinus,“ in Von Irenäus bis Martin Luther, Bd. ., Klassiker der Theologie, Hg. von Heinrich Fries and Georg Kretschmar (München: C.H. Beck, ): ). Zwar ist die Philosophie noch der Ausgangsort, um nach der vita beata zu fahnden (De Beata Vita I,), doch Ziel ist Gott als Quell der Wahrheit (De Beata Vita IV, ).  Dargestellt bei Jean-Marie Déchanet, „Seneca Noster. Des lettres à Lucilius à la Lettre aux Frères du Mont-Dieu,“ in Mélanges Joseph de Ghellink SJ Tome : Moyen age, époques moderne et contemporaine (Gembloux: Éditions J. Duculot, ):  – .  Aristoteles, EN I, , a.

7.1 „Trinkt den Frohsinn“: Aspekte der Ideengeschichte

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Außenwelt angewiesen ist. Daher könne sich das bios theoretikos nicht ohne Teilnahme an der Bürgerschaft der polis verwirklichen.¹⁶¹ Hingegen mahnt Seneca, dass Hinweise für eine gute Lebensform (ad bene vivendum)¹⁶² nicht nur aus der theoretischen Betrachung abgeleitet werden könnten. Vielmehr müssten sie aus dem Leben selbst gewonnen werden.¹⁶³ Dieser Einwand wird später ebenso von der phyrronischen Skepsis gegen mittelplatonische Systeme ins Feld geführt werden.¹⁶⁴ Die Frage nach der Kunst des guten Lebens (techne peri bion) deutet Plutarch als Bedürfnis nach Kohärenz.¹⁶⁵ Was muss gegeben sein, damit jemand sein Leben als in sich stimmig empfindet und so zum Lebenskünstler, artifex vitae ¹⁶⁶ wird? Unbeschadet der völlig unterschiedlichen ontologischen Denksysteme, in denen einmal induktiv unter Würdigung des Wertes des Einzellebewesens und einmal deduktiv ausgehend vom Einen als dem eigentlichen Leben argumentiert wird, bestimmt Plotin das gelingende, glückselige Leben ähnlich wie Aristoteles: Nur im Streben nach allgemeingültiger und so gleichsam „ewiger“ Erkenntnis könne das Leben mit Glück identisch werden.¹⁶⁷ Dies begründet er ähnlich wie Aristoteles dadurch, dass der Mensch wie jedes Lebewesen darin sein Glück erreiche, wenn er seiner Natur gemäß lebe, was für ihn die Suche nach Weisheit bedeute.¹⁶⁸ Jene Grundposition wird theologiegeschichtlich wirksam, da sowohl Origenes als auch Augustinus von einer Vermittelbarkeit zwischen der Ansicht Plotins und der christlichen Vorstellung eines gelungenen Lebens ausgehen.¹⁶⁹ Dieser Vermittlungsversuch ist folgenreich und wirft Anfragen nach einer möglichen hellenisierenden Umformung eines genuin christlichen Lebensbegriffes auf, durch die die Aspekte von Dynamik und Spontaneität verschleiert würden. Freilich gewichten Origenes und Augustinus in ihren eigenen Entwürfen die christlichen Schwerpunkte einer Vorstellung vom guten Leben gebührend. Leider  Vgl. Stephan Herzberg, „Theoretische Lebensform und Natur des Menschen bei Aristoteles,“ Theologie und Philosophie  (): .  Seneca, benf. , , .  Seneca, ep. , . Vgl. Manfred Lang, Die Kunst des christlichen Lebens. Rezeptionsästhetische Studien zum lukanischen Paulusbild, Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte  (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, ), .  Vgl. Katja M.Vogt, Skepsis und Lebenspraxis. Das pyrrhonische Leben ohne Meinungen, Symposion  (Freiburg/ München: Karl Alber, ),  f. Ähnlich der Einwand in der modernen Lebensphilosophie, vgl. Robert Josef Kozljanič, Lebensphilosophie. Eine Einführung (Stuttgart: W. Kohlhammer, ), .  Vgl. Manfred Lang, Die Kunst des christlichen Lebens. Rezeptionsästhetische Studien zum lukanischen Paulusbild, unter Hinweis auf Plutarch, mor. b.  Plutarch, MaxTyr , a-d.  Vgl. Regine Kather, Was ist Leben? Philosophische Positionen und Perspektiven (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), .  Vgl. Pierre Hadot, „Leben, I. Antike,“ in HWP ,  unter Bezug auf Plotin, Enneade I,,, .  Vgl. Pierre Hadot, „Leben, I. Antike,“ in HWP ,  unter Verweis auf Origines, comm. in Joh II §  –  und Augustinus, conf. ,,.

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

bewertet Ralf Miggelbrink den Beitrag von Augustinus zur Lebenstheologie zu oberflächlich. Denn er zielt nur auf dessen Abwertung der Materie ab, ohne auf seine offenbarungstheologischen Hinweise im Johanneskommentar und seine biographietheologischen Reflexionen in den Confessiones einzugehen.¹⁷⁰ Gemäß der johanneischen Diktion zeichnet Origenes Christus als den „lebendigen Weg“ zum guten Leben.¹⁷¹ Ein „lebendiger Weg“ ist er nach Origenes deswegen, weil er nicht Lehren äußerlich vorgibt, sondern in einer dichten „Lebenskommunikation“¹⁷² das Leben im je Einzelnen gemäß seiner jeweiligen Lebensverhältnisse ist.¹⁷³ So stellt Christus selbst den Konnex zwischen theoretischer Schau und gelebter Praxis her. Je mehr ein Mensch in umso größerer Intensität Anteil am Leben Christi hat, umso mehr verwirklicht Christus in ihm die Fülle, das Pleroma des Lebens.¹⁷⁴ Das zehnte Buch der Confessiones Augustins als einer Verdichtung dieses Werkes¹⁷⁵ lässt sich auch als lebenstheologisches Kapitel lesen.¹⁷⁶ Wahres Leben (vera vita) als ein wirklich lebendiges Leben (vita viva) entfaltet sich erst voll im ewigen Leben, in der vita beata. Gleichwohl gibt es auch schon im hiesigen Leben eine Art vorausgreifender Wiedererinnerung, Anamnesis, durch die die Bezeichnung eines seligen Lebens mit einem bestimmten Vorstellungsgehalt gefüllt ist: Alle stimmen darin überein, dass sie glückselig sein wollen. Ebenso würden alle übereinstimmen, wenn sie danach gefragt würden, ob sie sich freuen wollen. Und sie würden jene Freude (gaudium) das glückselige Leben (vitam beatam) nennen. Auch wenn dieses Ziel der eine von hier und der andere von dort erreichen will, so ist es doch ein Ziel, an das alle gelangen wollen, nämlich sich zu freuen. Da sich das so verhält, kann niemand sagen, er sei frei von dieser Erfahrung (se expertum non esse) des seligen Lebens. Wann immer er also die Bezeichnung des glückseligen Lebens (beatae vitae nomen) hört, findet er etwas von eigener Erfahrung im Gedächtnis.¹⁷⁷

Obwohl die volle Verwirklichung des Lebensglückes im Jenseits angesiedelt ist, spielen die individuellen hiesigen Lebenserfahrungen eine wichtige Rolle. Sie ermöglichen eine anfanghafte, vorausweisende Erkenntnis über das Ziel der Lebenshoffnung. Dies geschieht in einer Gerechtigkeit, wie sie nur in einem Lebensbezug auf Gott hin möglich ist: Die Vorauserinnerung des glückseligen Lebens aus Mosaikstü-

 Ralf Miggelbrink, Lebensfülle. Für die Wiederentdeckung einer theologischen Kategorie, Quaestiones Disputatae  (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ), .  Nach Eberhard Schockenhoff, Zum Fest der Freiheit. Theologie des christlichen Handelns bei Origenes, Tübinger Theologische Studien  (Mainz: Matthias-Grünewald, ),  unter Bezug auf Comm. In Joh ,  (IV ); Comm. In Joh ,  (IV ).  Eberhard Schockenhoff, Zum Fest der Freiheit, .  Eberhard Schockenhoff, Zum Fest der Freiheit, .  Eberhard Schockenhoff, Zum Fest der Freiheit, .  Fischer, Norbert. „Einleitung“ zu: Aurelius Augustinus, Suche nach dem wahren Leben (Confessiones X / Bekenntnisse ), eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Norbert Fischer (Hamburg: Meiner, ): XIX.  Fischer, Norbert. „Einleitung“ zu: Aurelius Augustinus, Suche nach dem wahren Leben, XVIII.  Augustinus, conf. X, . Übersetzung von mir.

7.2 Theologische Impulse für die Weiterentwicklung des Lebensbegriffes

337

cken eigener Lebenserfahrung wird nämlich durch ungünstige Lebenserfahrungen nicht verhindert. Zum einen ist der Wunsch nach Freude entscheidend für die Initiierung der Vorauserinnerung an die ewige Glückseligkeit, so dass letztlich das Gerechtigkeitsempfinden entscheidend ist, dass man Freude verdient hätte: Denn der Freude erinnere ich mich auch als Trauriger, und des glückseligen Lebens, auch wenn ich mich elend fühle.¹⁷⁸

Zum anderen ermöglicht gerade jene Vorauserinnerung sub specie aeternitatis eine distanzierende, vom Druck vergangener Ereignisse heilende Umdeutung des eigenen biographischen Skriptes: Freude von früher kann unter den Werten der Ewigkeit als Schmach erscheinen, Trauer von früher als Anlass für spätere Freude: Einst wurde ich von eigentlich schändlichen Dingen mit Freude durchtränkt, die ich nun in der Erinnerung quälend verachte.¹⁷⁹

So kann das antike Christentum seine geistlichen Betrachtungen, bei denen es nie nur um bloß erlebtes Leben geht, sondern um dessen Reflexion, als philosophia bezeichnen.¹⁸⁰ Diese Redeweise lässt sich auch bei Zeitgenossen Hildegards nachweisen.¹⁸¹ Allerdings droht hierbei die Gefahr, dass christliche geistliche Übungen, die auf Konzepten des bios theoretikos aus der Antike aufruhen, in einer semipelaginanischen Versuchung die Rolle der Gnade unterbelichten. Eine systematische Lebenstheologie aus dogmatischer Warte müsste also sowohl Detailfragen der Gnadenlehre als auch der Möglichkeitsbedingungen der visio beatifica mit einbeziehen. Eine Neukonzeption der Theologie aus den Anliegen der Lebensphänomenologie heraus könnte man also nur fordern, wenn man zugleich gewillt ist, sich entscheidenden Diskussionspunkten der dogmatischen Tradition zu stellen.

7.2 Theologische Impulse für die Weiterentwicklung des Lebensbegriffes 7.2.1 Gott, das Leben selbst Im Mittelalter wird der Begriff des Lebens „…zum Sammelbecken verschiedenster philosophischer Motive, deren Einigung als Aufgabe empfunden wird.“¹⁸² Jene Einigung wird oft vom Gottesbegriff aus unternommen. Daher kann trotz einer zu-

 Augustinus, conf. X, , ; Übersetzung von mir.  Ibd.  Vgl. Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike,  f unter Verweis auf Clemens von Alexandrien.  Vgl. Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, .  Vgl. Joachim Vennebusch, „Leben III. Im Mittelalter,“ in HWP : .

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

nehmenden Emanzipierung der Naturphilosophie von der Theologie, die sich ab dem 12. Jahrhundert beobachten lässt, vom Übergewicht eines theologischen Lebensbegriffes gesprochen werden. Dieses Übergewicht der theologischen Betrachtungsweise ergibt sich dadurch, dass die Dualität eines naturphilosophischen und eines theologischen Naturbegriffes an den heilsgeschichtlichen binären Code von irdischer Vorläufigkeit und himmlischer Ewigkeit gekoppelt wird. Zum Beispiel definiert Hugo von St. Victor: Es gibt zwei Arten von Leben: Ein irdisches und ein himmlisches; ein körperliches und ein geistliches; eines, in dem der Körper durch die Seele lebt und eines, in dem die Seele von Gott her lebt.¹⁸³

Im Gegensatz hierzu fallen jedoch in begriffsgeschichtlichen Abrissen die Ausführungen zum theologischen Lebensbegriff im Mittelalter oft recht kurz aus. Ausführlichere Quellenbelege aus dem Bereich der geistlichen Theologie im 12. Jahrhundert bietet Bardo Weiß: Bernhard von Clairvaux und Wilhelm von St. Thierry bezeichnen Gott als Leben, insofern in den Menschen das Leben der Gnade wirkt.¹⁸⁴ In der Bibel finden sich drei Begriffskreise zu Leben:¹⁸⁵ 1. Leben im Gegensatz zu Tod (zoe/chajim) 2. Leben als Lebenskraft des Individuums in der Seele (phsyche/nefesch) 3. Das biographische Leben, die Lebensdauer und der Lebenswandel, wahrnehmbar in der äußeren Erscheinung (bios, jamin) Jedoch ist es umstritten, ob im neutestamentlichen Sprachgebrauch das seltenere Lexem¹⁸⁶ bios und das häufige von zoe klar von einander getrennte Bedeutungskreise haben,¹⁸⁷ oder ob sich jene nicht doch überschneiden. Zu letzterem trug auch die Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte bei, da die beiden griechischen Begriffe von bios und zoe beide mit dem lateinischen Äquivalent der vita übersetzt werden.¹⁸⁸

 Hugonis de Sancto victore De sacramentis Christianae Fidei, cura et studio Rainer Berndt, Corpus Victorinum, Textus historici Volumen I (Münster in Westfalen: Aschendorff, ), Seite , II, pars II, Cap. , Z  f. Vgl. Joachim Vennebusch,“Leben III. Im Mittelalter,“ in HWP : .  Nach Bardo Weiß, Die deutschen Mystikerinnen und ihr Gottesbild. Das Gottesbild der deutschen Mystikerinnen auf dem Hintergrund der Mönchstheologie. Bd.  (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ), .  Im Folgenden nach: Gerhard Dautzenberg, „Leben. IV. Biblisch-theologisch,“ in LThK  : .  Hans-GeorgLink, „βίος,“ in Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament, neubearbeitete Ausgabe, herausgegeben von Lothar Coenen and Klaus Haacker (Wuppertal: R. Brockhaus/Neukirchener, ), .  So Gerhard Dautzenberg, „Leben. IV. Biblisch-theologisch,“ in LThK  : . Ähnlich urteilt Hubert Ritt, „Ewiges Leben. II. Neues Testament,“ in LThK  : .  Vgl. Jürgen Hübner, „Leben V. Historisch/Systematisch, „ in TRE : .

7.2 Theologische Impulse für die Weiterentwicklung des Lebensbegriffes

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Gott wird an zahlreichen Stellen des Alten und Neuen Testamentes mit Leben identifiziert, etwa in Dtn 32,40; Num 14,28; Mth 16,16; Mth 26,23; Joh 5,26; Röm 9,26; Röm 14,11; Offb 4,9 f; Offb 10,6; Offb 15,6. Nur Gott kann der Vollsinn von „Lebensqualität“¹⁸⁹ zugeschrieben werden. Dabei meint das Attribut „der lebendige Gott“ nicht nur das Leben Gottes in sich, sondern sein Eingreifen und Wirken¹⁹⁰ gegenüber der geschaffenen Welt. In besonders dichter Weise wird zoe im Johannesevangelium verwendet. Es begegnet dort mehr als 30ig mal.¹⁹¹ Patristische Autoren, so zum Beispiel die Kappadozier, entwickelten aus den Passagen, in denen im Zuspruch der zoe Menschen Anteil am göttlichen Leben versprochen wird, eine Theologie der Vergöttlichung, der Theiosis.¹⁹² So kann das Johannesevangelium ausgehend von der Rede vom Leben als Evangelium des Lebens, der Bezeugung, der Erfüllung wie in Speise und Trank, des Glaubens, der Freue und der Fülle verstanden werden. ¹⁹³ Anhand des Lebensbegriffes stellt Franz Mußner die johanneische Theologie in ihrem Gesamtzusammenhang dar.¹⁹⁴ Dem johanneischen Konzept von Leben erkennt er also eine systematisierende Funktion zu. Dazu geht er von christologischen Zusammenhängen aus. Zugleich betrachtet er den Begriff in seiner Frontstellung gegen die frühe Gnosis.¹⁹⁵ Durch dieses Vorgehen erhellt Mußner Systemstellen, die eine christliche Lebenstheologie bis heute prägen: Der Gegensatz zu innerweltlichen Formen des Nicht-Lebens, die Öffnung zum ewigen Leben durch die Lebenshingabe Jesu, die Eucharistie als Lebensspeise, die

 Hubert Ritt, „Ewiges Leben. II. Neues Testament,“ in LThK  : . Vgl. Dtn ,;  Sam ,;  Kön ,.; Ps , ; ,; Jer ,; , ; Hos ,.  Gerhard Dautzenberg, „Leben. IV. Biblisch-theologisch,“ in LThK  : . Das biblische Epitheton der Lebendigkeit Gottes betone besonders seine Liebe, aber auch sein Eifern für die Gerechtigkeit, so Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (München: C.H. Beck, ),  f.  Vgl. Marcel Viller and Karl Rahner, Aszese und Mystik in der Väterzeit. Ein Abriß der frühchristlichen Spiritualität, unveränderte Neuausgabe mit einem Vorwort von Karl Heinz Neufeld (Freiburg/Basel/ Wien: Herder, ), .  Vgl. Marcel Viller and Karl Rahner, Aszese und Mystik in der Väterzeit, .  Dies ergibt sich aus dem Konnex der Kernwörter von vita, veritas/testimonium, credere, gaudium, plenitudo, abundantius im Johannesevangelium (Z. B. Joh ,  – ; ,  – ; , ; ,  – , ; ,  – ; , ; , ; ,  – ; ,  f.; , ,  f.; , ; ,  f., , ; ,  f., , ; ,  – ; ,  f., ,  – ; ,  f., ,  f., ,  f., , ; ,  – ; ,  – ; , ; ,  – ; , – ; , ; , ; , ; , ; ,  – ; , ; , ).  Franz Mußner, ΖΩΗ. Die Anschauung vom „Leben“ im vierten Evangelium unter Berücksichtigung der Johannesbriefe. Ein Beitrag zur biblischen Theologie, Münchner Theologische Studien I.. (München: Karl Zink, ), V.  Franz Mußner, ΖΩΗ. Die Anschauung vom „Leben“ im vierten Evangelium unter Berücksichtigung der Johannesbriefe,  f und .

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

Gegenwärtigkeit des Lebens, die zu einer Art „Lebensmystik“ führt,¹⁹⁶ die aus jener abgeleitete¹⁹⁷ erkenntnistheoretische Funktion des neuen Lebens in Jesus. Hierbei ist es für die Konzeption einer Theologie des Lebens entscheidend, dass in der Sichtweise des Johannesevangeliums „Leben“ nicht eines von mehreren Heilsgütern ist, sondern dass in seiner Fülle (Joh 10,10) alle Inhalte sowie Erlebnisformen von Heil, sei es in statu viatoris oder in statu gloriae, schon eingeschlossen sind.¹⁹⁸ All jene johanneischen Grundaussagen übernimmt Hildegard und bereichert sie durch zusätzliche Aspekte, wie den Ruf zu einer Rückkehr zum Leben. Diese Erweiterungen basieren zum einen darauf, dass sie Soteriologie nicht nur von den Heilstaten Jesu her denkt, sondern von den Entwicklungsmöglichkeiten des mit der Gnade kooperierenden Menschen. Zum anderen entfaltet sie eine Ekklesiologie von der Kirche als Hort, der die Rückkehr zum Leben ermöglicht mit Unterstützung der Tugendkräfte. Daher kann auch ohne stets ausgesprochenen Bezug zum Lebensbegriff der Mittelband der Visionstrilogie, der Liber Vitae Meritorum, als lebenstheologisches Werk gedeutet werden. Die johanneische Rede vom Leben in Gott verdichtet sich in zwei Textsegmenten: im Johannesprolog und in den Ich-bin-Worten Jesu. Hinsichtlich der Ich-Bin-Worte stellt sich die Frage nach dem überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen den Ich-Bin-Sprüchen des Johannesevangeliums und der Apokalypse (z. B. Offb 1,17 f).¹⁹⁹ Als Ausdrucksformen einer johanneischen „Hochchristologie“²⁰⁰ leiten sie sich möglicherweise von der Offenbarungsaussage in Ex 3,14 ab.²⁰¹ Sie werden in soteriologischer Intention verwendet.²⁰² Dem Johannesprolog liegen vorjohanneische Teiltexte zugrunde.²⁰³ In seiner jetzigen Form kann er als „Konzentrat urchristlicher Theologie“²⁰⁴ gelten. Im Rahmen dieser Arbeit sei nur auf drei markante Passagen des Johannesevangeliums zum Begriff des Lebens näher eingegangen: Im Folgenden werden weitere Auslegungslinien der oben schon angedeuteten Brisanz der Sätze Joh 1,3 f, die aus unterschiedlichen Abgrenzungsmöglichkeiten der

 Franz Mußner, ΖΩΗ, .  Franz Mußner, ΖΩΗ, .  Franz Mußner, ΖΩΗ,  f.  Diese Frage wird aufgeworfen bei Michael Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, Herders Biblische Studien  (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ), .  Michael Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, .  Vgl. Michael Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, .  Vgl. Michael Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, . Allerdings ist der Deutung von Theobald (a.a.O., ) zu widersprechen, dass hier nicht Leben paränetisch zugesprochen werden soll, sondern durch diese Formulierung von Herrenworten im Stil einer Gemeindeprophetie eine kognitive Vergewisserung im Jesus-Glauben erleichtert werden solle.  Vgl. Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. . Teilband: Kapitel  – ,Theologischer Kommentar zum Neuen Testament Band , (Stuttgart: Kohlhammer, ), , .  Klaus Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, Herders biblische Studien  (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ), .

7.2 Theologische Impulse für die Weiterentwicklung des Lebensbegriffes

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Verseinteilung beruhen, vorgestellt werden. Das nächste Unterkapitel 7.2.2 beleuchtet den Ternar von Weg, Wahrheit, Leben in Joh 14,6. Danach mündet unser begriffsgeschichtlicher Abriss unter 7.2.4 in Anmerkungen zur Ausdeutung des Sprachbildes von Joh 7,37 f zum lebendigen Wasser als Quelle des Lebens. Auch in der heutigen Exegese wird um die Deutung der Verse Joh 1,3 f gerungen. Je nach der syntaktischen Abgrenzung der Verse Joh 1,3c und Joh 1,4a kann gegebenenfalls eine Immanenz des geschaffenen Lebens im Logos konstatiert werden. Andere Deutungsmöglichkeiten sehen den Bezug entweder nur auf die Schöpfung, oder auf eine schöpferische Immanenz des Logos in den geschaffenen Dingen im Sinne einer creatio continua, die aber auch pantheistisch missdeutet werden kann, oder auf den inkarnierten Logos.²⁰⁵ Manche Autoren hingegen messen den Attributen von Licht und Leben eine solch starke christologische Aussagekraft zu, dass sie gar keine Notwendigkeit sehen, ein Urteil zu fällen, ob jene eher dem präexistenten oder dem inkarnierten Logos zuzuschreiben seien.²⁰⁶ Denn indem der Logos als Licht in die Welt kommt, das jeden Menschen erleuchtet (Joh 1,9), wird der Mensch zur Teilhabe an der immanenten zoe eingeladen.²⁰⁷ Dabei geht es nicht nur um die physische Existenz alles Geschaffenen, sondern um die erhellte Lebensqualität des menschlichen Lebens.²⁰⁸ Dafür gibt der Menschgewordene gemäß Joh 6,51 seine Sarx als sein Leben für das Leben der Menschen hin.²⁰⁹ Bereits Augustinus warnte vor der Gefahr eines Pantheismus, wenn man die Stelle wiedergibt als „Quod factum est in illo, vita est“.²¹⁰ Dieser Gefahr ist, wie wir oben unter 7.1.2.3 schon untersucht haben, möglicherweise Eriugena erlegen. Daher sollen die Ausführungen des vorrausgehenden Unterkapitels 7.1.2.3 dieser Arbeit noch einmal aufgegriffen und weitergeführt werden. Denn Formulierungen wie „Im Wort Gottes ist alles zugleich ewig und geschaffen“ können im pantheisierendem Sinn missverstanden werden.²¹¹ Dass Eriugena selbst die Problematik einer solchen Spitzenaussage bewusst war, erhellen seine Beteuerungen, dass dies aus der Schrift entnommen werden könnte und hier Vernunft und Glaubensautorität im Einklang stünden: Keiner der Gläubigen, die glaubenstreu die heilige Schrift erforschen, dürfte an folgendem zweifeln: Im Wort Gottes ist alles zugleich ewig und geschaffen (omnia in deo verbo et aeterna simul

 Nach Klaus Scholtissek, In ihm sein und bleiben, .  So Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, Handbuch zum Neuen Testament Buch  (Tübingen: Mohr Siebeck, ), .  Vgl. Klaus Scholtissek, In ihm sein und bleiben,  f.  So Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. . Teilband: Kapitel  – , Theologischer Kommentar zum Neuen Testament Band , (Stuttgart: Kohlhammer, ), .  Auf den Konnex zu Joh ,  weist hin: Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, .  Augustinus, conf. VII, ,  und tract. in ev. Joh I,  f.  So die Deutung von Dirk Ansorge, „Johannes Scotus Eriugena (vor  – nach ),“ in Arbeitsbuch Theologiegeschichte. Diskurse. Akteure. Wissensformen, Band : .–. Jahrhundert, Hg. Gregor Maria Hoff and Ulrich Heinz Jürgen Körtner (Stuttgart: W. Kohlhammer, ): .

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

et facta sunt). Denn die wahrhaftige Vernunft und die Autorität der Heiligen Schrift stimmen in diesem einmütig zusammen (unanimiter consentiunt), dass es nichts Verschiedenes ist, was ewig 〈im Wort Gottes〉 und was geschaffen ist. Sondern das Ewige und das Geschaffene sind genau das Gleiche…Freilich scheint es dir nicht der Vernunfterkenntnis zuzukommen (convenire), dass ein und dasselbe als ewiges und geschaffenes seinen Seinstand hat (subsistere). Vielleicht durchschaue nicht einmal ich selbst so ganz (nondum…ad purum dinosco), wie man das in der Vernunfterkenntnis begründen könnte.²¹²

Um seine Ansicht zu legitimieren, versucht Eriugena, sich zunächst auf Augustinus zu stützen,²¹³ bevor er eine Erklärung nachliefert: Was durch Hervorbringung in ihm so geschaffen wurde, dass es an einem bestimmen Ort/ZeitIndex (temporaliter et localiter) existiert, ist in ihm ewigkeitlich das Leben, ermöglicht durch die Begründung (conditionem) von allem in Erkenntnis und Hervorbringung vermittels der causae primordiales. ²¹⁴

Dieser Erklärungsversuch würde die Ansicht moderner Interpreten unterstützen, dass causae primordiales wie Güte, Sein, Leben in einem abgeschwächten Sinn ähnlich den rationes aeternae bei Augustinus verstanden werden könnten.²¹⁵ Bei einer solchen Deutung bliebe jedoch die Frage offen, wie sich die Primordialursachen zum Logos verhalten.²¹⁶ Sonst müsste – wie wir oben unter Punkt 7.1.2.3 ausführlicher diskutiert haben – eine äquivoke Begriffsverwendung für Leben als causa primordialis, sowie für das Leben des Logos als „Erst-Lebendigen“,²¹⁷ der inkarniert in die Welt eintritt, und für Gott als Leben angenommen werden. Gegen eine solche abschwächende Deutung spricht zum Einen die Mischung aus Emphase und Umsicht, die Eriugena auf sein Konzept der Simultanität von Ewigkeit und Geschaffen-Sein aller lebenden Wesen in Gott in seiner Homilie zum Johannesprolog über die Kapitel VII bis X hinweg legt. Jene wurde gegen Ende seines Lebens verfasst und war für die Liturgie der Tagesmesse des Weihnachtsfestes bestimmt.²¹⁸ Anonym oder unter dem Namen von patristischen Autoren wie Origenes, Chrysostomus

 Eriugena, Periphyseon III, C/D, S. , Z  – , Übersetzung von mir.  Eriugena, Periphyseon III,  A/B, S. , Z  ff.  Eriugena, Periphyseon III,  C, S. , Z  – .  Vgl. Dirk Ansorge, „Johannes Scotus Eriugena (vor  – nach ),“: ; sowie Markus Enders, „Das Wort Gottes als Schöpfungsmittler, Erkenntnisprinzip und Erlöser der Menschen. Augustinus’ Auslegung des Johannesprologs,“ in „Im Anfang war der Logos“. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart, Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte , hg. von Markus Enders and Rolf Kühn, mit einem Beitrag von Christoph Bruns (Freiburg im Breisgau: Herder, ): .  Vgl. Dirk Ansorge, „Johannes Scotus Eriugena (vor  – nach ),“: .  Rolf Kühn, Gottes Selbstoffenbarung als Leben. Religionsphilosophie und Lebensphänomenologie (Würzburg: Echter, ), .  Vgl. Christopher Bamford, „Einführung: Johannes Scotus Eriugena und seine Homilie,“ in: Johannes Scotus Eriugena, Die Stimme des Adlers. Homilie zum Prolog des Johannesevangeliums, Übers. und kommentiert von Christopher Bamford und Martin van Ditzhuyzen (Zürich: Chalice, ): .

7.2 Theologische Impulse für die Weiterentwicklung des Lebensbegriffes

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und Gregor von Nazianz wurde sie in über 70 oft benediktinischen oder zisterzienzischen Handschriften überliefert.²¹⁹ Man kann also mit hoher Wahrscheinlichkeit ihre Kenntnis durch Hildegard annehmen! Entsprechend der Textgattung einer Homilie zur liturgischen Verwendung zieht sich Eriugena hier auf die erkenntnistheoretische Begründung einer Offenbarung an den Evangelisten Johannes zurück.²²⁰ Zugleich lässt er die Vorsicht walten, auch andere Möglichkeiten der Verseinteilung und Interpretation von Joh 1,3 f anklingen zu lassen, wobei er sie als verschiedene Zugänge zu einer Kontemplation der Textstelle darstellt, die in die Betrachtung der Einheit aller lebenden Dinge münden könnten.²²¹ Entscheidend für unsere Untersuchung sind weniger die Vorsichtsmaßnahmen Eriugenas, heterodoxe Schlussfolgerungen abzuschwächen, denn die in dieser Homilie eindeutig vorgenommene Ausweitung des Lebensbegriffes, die den antiken naturphilosophischen Denkrahmen bei Weitem übersteigt: Im Wort des Logos sind auch Dinge im Leben gehalten, die bei phänomenaler Betrachtung nicht als lebendig erkennbar sind. Eine Sprachkonvention von einer Erkenntnis eines lebendigen Dinges in sich wäre also deswegen nicht redlich, weil nicht nur die Subsistenz eines Dinges als aktuales Lebendig-Sein erkannt werden muss, sondern seine außerzeitliche Existenz im Logos: Was uns jeder lebendigen Bewegung zu entbehren scheint, lebt im Wort.²²²

Trotz dieser offenbarungstheologisch fundierten Ausweitung des Lebensbegriffes, die mit einem Erkenntnisvorbehalt gegenüber einer rein phänomenalen Lebenstheorie einhergeht, empfiehlt der Autor für das Erahnen der Einheit alles Lebendigen im Logos Analogien aus der Naturerfahrung und aus der Selbsterfahrung des Intellektuellen:

 Vgl. Markus Enders, „Die unmittelbare Gottesschau des Evangelisten Johannes und sein Abstieg in das ‚Tal der Geschichte.‘ Johannes Scottus Eriugenas Auslegung des Johannesprologs in seine Homilie „Vox Spiritualis“ und in seinem Kommentar zum Johannesevangelium,“ in „Im Anfang war der Logos“. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart , hg.v. Markus Enders and Rolf Kühn. Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte , mit einem Beitrag von Christoph Bruns (Freiburg im Breisgau: Herder, ): .  Iohannius Scotti seu Eriugenae Homilia super ‚In principio erat Verbum‘ et Commentarius in evangelium Iohannis, editiones novas curavit Èdouard A. Jeauneau adiuvante Andrew J. Hicks, CCM  (Turnhout: Brepols, ), Cap.VII. S.  f. Z  – : Audi divinum et ineffabile paradoxum, irreserabile secretum, invisibile profundum, incomprehensibile mysterium. Ähnlich schon in Homilia V, insofern Johannes als Gott-sehender Theologe (Homilia IV, S. , Z  f: deividum Iohannem dico theologum) dem Leser den Himmel der innertrinitarischen Geheimnisse öffne: „Intuere caelum apertum, hoc est summae et sancta trinitatis et unitatis revelatum mundo mysterium.“ (Homilia V, S. , Z  f).  Eriugena, Homilia IX, S. , Z  f: ut sit sensus: Omnia, quae per ipsum facta sunt, in ipso vita sunt et unum sunt.  Eriugena, Homilia X, S. , Z  f.

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

Betrachte mit den inneren Augen, wie vielfältige Regeln in der Kunstfertigkeit des Künstlers eine Einheit sind und wie sie im Geist dessen, der sich anordnet, leben.²²³

Zum anderen spricht gegen die verharmlosende Deutung von der Primordialursache „Leben“ hin zu einer bloßen ratio aeterna die Differenzierung²²⁴ seitens Eriugenas in drei verschiedene Möglichkeiten, ob man von Gott Leben aussagen kann: Votum 1: Gott ist das wahre, eigentliche Leben, das dem Menschen in dessen zukünftigem Leben erscheinen wird.²²⁵ Diese Identifikation von Gott und Leben ist also aus dem Blickwinkel der individuellen Glaubenshoffnung gültig. Votum 2: Gott als das höchste Seiende kann man nicht einfach mit Leben identifizieren. Gemäß der Scheu der theologia negativa, Attribute aus der Welterfahrung in einfachen Vergleichen auf Gott zu übertragen, wäre es eine sprachtheoretisch präzisere Aussage, Gott als Nicht-Leben zu identifizieren.²²⁶ Votum 3: Um auf der via supereminentiae der binären Opposition von Leben oder Tod zu entkommen, wird Gott ein „mehr als Leben“²²⁷ zuerkannt.²²⁸ Zum dritten widerstreitet eine trinitätstheologische Nebenbemerkung solch einer verharmlosenden Deutung: Denn die Schöpfung der lebendigen Geschöpfe wird mit dem permanenten überzeitlichen Hevorganges des Vaters aus dem Sohn identifiziert: Denn alles wurde erschaffen durch den Hervorgang (per generationem) von Gott-Wort (dei verbi) durch Gott, den Anfang (ex deo principio).²²⁹

 Eriugena, Homilia X, S. , Z  – .  Vgl. Dirk Ansorge, „Johannes Scotus Eriugena (vor  – nach ),“: , der allerdings nur die zweifachen Alternative zwischen der Bezeichnung von Gott als „Nicht-Leben“ und „Mehr-als-Leben“ anspricht.  Eriugena, Periphyseon I, , S. , Z  – : In hac carne mea, quae multis temptationibus affligitur, tanta gloria futura sit, ut quemadmodum nihil in ea nunc apparet nisi mors et corruptio, et in futura vita nihil in ea apparebit nisi solus deus, qui vere vita est et immortalitas et incorruptio.  Dies hängt auch mit den Unschärfen im Begriff eines vollkommenen Lebens zusammen, wenn in der analogen Übertragung des Lebensbegriffes nicht von den Unvollkommenheiten des Lebens auf anderen Stufen abstrahiert wird. Siehe hierzu: Josef de Vries, Grundbegriffe der Scholastik (Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), .  Mariele Nientied, „Begriffliche Idiolatrie und mögliche Auswege. Zur Rolle der Metapher in der negativen Theologie Eriugenas und in zeitgenössischen Psalter-Illustrationen,“: Theologische Zeitschrift  (): .  Eriugena, Periphyseon Liber I, CCM , B, S. , Z : Similiter plus quam vita est.  Eriugena, Homilia VII, S. , Z  f: Per generationem quippe dei verbi ex deo principio facta sunt omnia. Würde man ex deo principio nicht auf Gott-Vater deuten, sondern als das abstrakte, nicht personale Ursprungsprinzip in Gott, käme sogar die spätere porretanische Irrlehre von einer vierten, ursprünglichen Größe in Gott zustande.

7.2 Theologische Impulse für die Weiterentwicklung des Lebensbegriffes

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Jene missverständliche, wenn nicht sogar heterodoxe Vermengung zwischen immanenter und ökonomischer Trinität hatten wir auch bei der Untersuchung der Trinitätsstheologie von Hildegard von Bingen beobachtet. Dieses erste frühmittelalterliche Experiment, einen christlichen Lebensbegriff vom innertrinitarischen Lebensaustausch aus zu entfalten, führt also zu dogmatisch nicht haltbaren trinitätstheologischen Fehlaussagen. Dennoch ist das grundsätzliche Anliegen, eine Lebenstheologie von der Trinitätstheologie her zu entwickeln,²³⁰ zu würdigen. So empfahl Martin Grabmann eine Anreicherung der Lebenstheologie durch die Kontemplation innertrinitarischer Lebensvollzüge.²³¹ Daraus entwickelte er Vorbehalte gegen die zeitgenössische Lebensphilosophie Diltheys. ²³² Mithin böten für eine heutige Lebenstheologie trinitätstheologische Erkundungen eine lohnende Aufgabe.

7.2.2 Der theologische Ternar von Weg, Wahrheit und Leben (Joh 14,6) Also ist die Lebenstheologie keineswegs eine eher praxisbezogene Antithese zu einer dogmatischen Theologie. Denn die kirchliche Lehre darf nicht rein intellektualistisch aufgefasst werden. Die Wahrheit Gottes selbst ist in sich lebendig. Auf diese Weise dient sie der „Lebensverwirklichung“.²³³ So urteilte Martin Grabmann in seiner Schrift über „Die Idee des Lebens in der Theologie des Thomas von Aquin“: Die Theologie wird um so höheren Lebenswert besitzen,wird um so fruchtbarer für das Leben sein, je mehr ihr Inhalt sich als Leben enthüllt und so in uns wieder Leben entfacht. Und in der Tat, die spekulative Theologie hat zum Inhalt das Leben.²³⁴

Gerade ein prominenter Erforscher der Vorscholastik wie Joseph Rupert Geiselmann untersuchte jene Zusammenhänge anhand der Ekklesiologie Johann Michael Sailers. ²³⁵ Lebenstheologie verpflichtet sich gleichermaßen dem Wahrheitsbezug wie dem Praxisbezug.

 Vgl. den Versuch einer ähnlichen Grenzaussage bei Hans Urs von Balthasar, Leben aus dem Tod. Betrachtungen zum Ostermysterium, Kriterien  (Einsiedeln: Johannes, ), : „[…] so sind im innertrinitarischen Leben alle göttlichen Hypostasen einander ʻeucharistische Speiseʼ.“  Vgl. Martin Grabmann, Die Idee des Lebens in der Theologie des hl. Thomas von Aquin (Paderborn;: Ferdinand Schöningh, ), .  Vgl. Martin Grabmann, Die Idee des Lebens, .  Leo Scheffczyk, Katholische Glaubenswelt. Wahrheit und Gestalt (Paderborn/München/Wien/Zürich: Ferdinand Schöningh, ), .  Martin Grabmann, Die Idee des Lebens in der Theologie des hl. Thomas von Aquin,  f.  Josef Rupert Geiselmann, Von lebendiger Religiosität zum Leben der Kirche. Johann Michael Sailers Verständnis der Kirche geistesgeschichtlich gedeutet (Stuttgart: Schwabenverlag, ).

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

Hierbei bietet sich der theologische Begriff des Lebens an als Schanierbegriff zwischen einer Praxisreflexion, die Wege für ein sinnvolles und erfülltes Leben vermitteln will, und einer intellektuellen Einsicht in die Offenbarungswahrheit. Theologie bewegt sich also in dem Dreieck der Kernbegriffe des johanneischen Ich-Bin-Spruches (Joh 14,6) von via, vita und veritas. Daher stelle ich vorwegnehmend die These auf, dass sich dieser Ternar als trianguläres Verhältnis von drei gleichwertigen Kernthemen strukturiert. Freilich erfolgt diese Dreierformel in der literarischen Komposition des Johannesevangeliums als Antwort auf die Frage nach dem rechten Weg in Joh 14,5.²³⁶ Dabei handelt es sich wohl nicht um ein vom Verfasser bereits vorgefundenes Prophetenwort aus der Gemeindeliturgie.²³⁷ Möglicherweise lassen sich ähnliche Formulierungen aus dem weiteren geistigen Umfeld des Johannesevangeliums rekonstruieren, etwas aus den Philippusakten.²³⁸ Dennoch ist es nicht zwingend, dass die Attribute von Wahrheit und Leben nur in ausdeutender Funktion auf das Sprachbild vom Weg hingeordnet seien.²³⁹ Einer solchen These steht allein schon die dichte Semantik von zoe im Johannesevangelium entgegen. Naheliegender ist die Ausdeutung der modernen Exegese, dass Wahrheit hier auf die durch den Sohn Gottes als Selbstoffenbarer vollzogene Wahrheitsvermittlung bezogen ist.²⁴⁰ Christus ist insofern der Weg, als in ihm Wahrheit und Leben auf epiphanische Weise aufscheinen.²⁴¹ Eriugena verknüpft den Ternar mit der Ausdeutung der Metaphorik des Lebensbaumes: Was ist das für ein Weg, der zum Baum des Lebens (lignum vitae) führt? Was ist das für ein Baum, zu dem er hinführt? Ist das nicht derselbe wie der Sohn Gottes, der über sich selbst sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“? Dass er aber selbst der Baum des Lebens ist, dass kann man aus vielen Stellen der Schrift äußerst klar erkennen.²⁴²

Hierbei verbindet Eriugena das biblische Wegmotiv mit dem mittelplatonischen Motiv des Rückweges, des reditus, der Einzelwesen zu Gott. Nicht erst in der Renarratisierung des Motivs des reditus bei Hildegard, sondern schon im Hauptwerk des frühmittel-

 Vgl. Ignace de la Potterie, „Je suis la Voie, la Vérité et la Vie (Jn , ),“ NRTh  (): .  So das Urteil bei: Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, Handbuch zum Neuen Testament  (Tübingen: Mohr Siebeck, ), .  Vgl. Ignace de la Potterie, „Je suis la Voie, la Vérité et la Vie (Jn , ),“ NRTh  (): .  So urteilen Ignace de la Potterie, „Je suis la Voie, la Vérité et la Vie (Jn , ),“ NRTh  (): ; sowie: Michael Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, Herders Biblische Studien  (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ), : Wahrheit und Leben würden als Abstrakta das konkretere Bildwort vom Leben ausdeuten; und: Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, .  Vgl. Ignace de la Potterie, „Je suis la Voie, la Vérité et la Vie (Jn , ),“ NRTh  ():  sowie , .  Nach Michael Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, .  Eriugena, Periphyseon V, B. S. , Z.  – .

7.2 Theologische Impulse für die Weiterentwicklung des Lebensbegriffes

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alterlichen Autors wird jener Rückweg narrativ ausgeschildert in einer Überlagerung der Ausdeutung mehrerer biblischer Bilder. Hierbei deuten sich auch Züge einer mystischen Theologie an. Der Cherubim als Paradieseswächter wird zum Bild für Christus, der erleuchtend und tröstend zur Rückkehr zu Gott ermuntert: Denn der Cherubim und das flammende, bewegliche Schwert werden Weg und Baum des Lebens genannt. Dadurch können wir verstehen, dass das Wort Selbst niemals von den Blicken unseres Herzens weicht. Dass es uns immer ganz verlässlich beisteht. Es lässt nicht zu, dass wir irgendwann oder irgendwo die Erinnerung an die Schönheit, die wir durch Übermut verloren haben, verlieren. Es will, dass wir immer zu ihr zurückkehren. Es seufzt im Mitleid mit uns. Es stachelt uns an, durch welche vollkommenen Stufen des Wissens und des Handelns wir stückweise den Weg zurücklegen können, der dorthin führt.²⁴³

Leben auf dem Rückweg ist also erleuchtetes, getröstetes Leben. Der Logos passt seine Wegweisung den jeweiligen aktuellen Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen an. Auch bei Hildegard ist „Wahrheit“ ein existentieller Kontext, in den Gott durch das offenbarende Wort in seinem Sohn einlädt. Den Rückweg zu Gott benennt Hildegard konkret als Hinwendung (conversio) zum von Gott ermöglichten Leben: Aber derjenige ist der Gläubige, der sich zu dem Leben hinwendet (convertens), das jener, der das Leben ist, den Menschen gewährt hat.²⁴⁴

So lassen sich Grundworte der hildegardianischen Theologie dem Dreierschritt von Weg, Wahrheit und Leben zuordnen: veritas

via

vita

deus vivens lux vita integra ordo viriditas

cadere conflictus revocatio conculcare virtutes

responsialis oscultus et amplexus integritas symphonia gaudium

Auch eine Deutung der drei Schriften der Visionstrilogie nach den einzelnen Gliedern des Ternares von Joh 14,6 wäre möglich: Liber Scivias ‣ via Liber Vitae Meritorum ‣ vita Liber Divinorum Operum ‣ veritas

 Eriugena, Periphyseon V, C, S., Z  – .  Hildegardis Bingensis Liber Divinorum Operum, CCM , Pars Tertia,Visio Secunda, cura et studio Albert Derolez et Peter Dronke (Turnhout: Brepols, ), , Z  – .

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

7.2.3 Die Intensivierung der Lebensqualität im Verlauf der Heilsgeschichte Bereits im Alten Testament bedeutet „Leben“ nicht nur das reine Lebendigsein, sondern das „heile, erfüllte Leben.“²⁴⁵ Im Rahmen der präsentischen Eschatologie des Johannesevangeliums wird von der zoe als einem „gelungenem Leben“ gesprochen.²⁴⁶ In der heutigen exegetischen Diskussion um die Reichweite einer präsentischen Eschatologie im Johannesevangelium kann als gemeinsamer Nenner festgehalten werden, dass die Auffassung von der vita aeterna bei Johannes wie etwa in Joh 11,25 f auf jeden Fall als ein soteriologischer Lebensbegriff zu deuten ist.²⁴⁷ Hierbei sollten jedoch Stimmen gegen eine rein präsentische Ausdeutung des johanneischen Konzeptes von zoe nicht verschwiegen werden.²⁴⁸ In diese Diskussion spielt der Kerngedanke von der Fülle des Lebens (Joh 10,10) mit hinein, der möglicherweise gegenüber gnostischen Positionen eines rein jenseitigen Pleromas entwickelt wurde.²⁴⁹ Heutige Lebensphilosophie macht, inspiriert durch das johanneische Konzept der Fülle, darauf aufmerksam, dass in Christus²⁵⁰ vollkommenes Leben schon anfänglich präsent ist.²⁵¹ Dieser Hinweis kann gerade für Menschen, die aktuell Mangel zu erfahren haben, verheißungsvoll sein, weil von dieser Präsenz vollkommenen Lebens in Christus niemand durch faktische Lebensumstände ausgeschlossen ist.²⁵² Der Zuspruch in Joh

 Georg Dautzenberg, „Leben. IV. Biblisch-theologisch,“ in LThK  : .  So die Deutung bei Markus Mühling, „Leben,“ in Taschenlexikon Religion und Theologie , Hg. Friedrich Wilhelm Horn und Friedericke Nüssel, fünfte, völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, ), .  Vgl. hierzu Hans Urs von Balthasar, Leben aus dem Tod. Betrachtungen zum Ostermysterium, Kriterien  (Einsiedeln: Johannes, ), .  So bei Michael Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium,  und , Anmerkung .  Nach Achtner, Wolfgang. Willensfreiheit in Theologie und Neurowissenschaften. Ein historischsystematischer Wegweiser (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), .  So im Anschluss an Meister Eckhard Rolf Kühn, „,Seelengeburt‘ als ,Anfang‘ bei Meister Eckhart. Zur lebensphänomenologischen Rezeption seines Johannesprologs,“ MThZ  ():  f.  Vgl. Rolf Kühn, Gottes Selbstoffenbarung als Leben. Religionsphilosophie und Lebensphänomenologie (Würzburg: Echter, ), &. Die Lebensfülle ist in der „Lebensselbstgegebenheit“ jetzt schon anwesend (a.a.O., ), entsprechend des Gegenwartsraumes einer präsentischen Eschatologie im Johannesevangelium; ferner Ferdinand Ulrich, Leben in der Einheit von Leben und Tod, Sammlung Horizonte. Neue Folge  (Einsiedeln/Freiburg: Johannes, ), .  Vgl. den paulinischen Ausruf im Tränenbrief  Kor , f: quasi morientes et ecce vivimus, ut castigati et non mortificati; quasi tristes semper autem gaudentes; sicut egentes multos autem locupletantes; tanquam nihil habentes et omnia possidentes! Denen, die an solche Verheißungen glauben, ist schon jetzt ein „Ortswechsel“ vom Bereich des Todes in die Sphäre des Lebens zugesagt. (Vgl. Hubert Ritt, „Ewiges Leben. Neues Testament,“ in LThK  : ; ebenso Franz-Josef Nocke, „Ewiges Leben. III. Historisch-theologisch,“ in LThK  :  und Georg Dautzenberg, „Leben. IV. Biblisch-theologisch,“ in LThK  : . Ein ähnlicher Gedanke habe schon Senecas Schrift De beneficiis zu Grunde gelegen, so Karlhans Abel, „Senecas lex vitae,“ in Ders., Die Sinnfrage des Lebens. Philosophisches Denken im Vor- und Umfeld des frühen Christentums, Philosophie der Antike  (Stuttgart: Franz Steiner, ): .

7.2 Theologische Impulse für die Weiterentwicklung des Lebensbegriffes

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10,10²⁵³ kann insbesondere die biographische Lebensdeutung von Menschen, die Mangelerfahrungen erlitten haben,²⁵⁴ verändern: Denn nun ist ihnen die Einladung zu einer Ausweitung ihres Lebensgefühles hin zu einem Leben in Fülle durch das Leben Selbst in Christus geschenkt. Freilich kann dieser Zuspruch nur rezipiert werden, insofern das Christentum in einem theologischen Lebensbegriff „die Erfahrung der alles bestimmenden Wirklichkeit mit dem christlichen Gottesbegriff übereinzubringen“²⁵⁵ weiß.²⁵⁶ Dann wird die „messianischen Öffnung“²⁵⁷ des Lebens auf Zukunft und Heil hin tragfähig.²⁵⁸ Daher konnten sich auf dem Fundament ihrer exegetischen Forschungen namhafte Exegeten wie Herbert Preisker ²⁵⁹ und Helmut Thielicke ²⁶⁰ in den 30iger und 40iger Jahren des 20. Jahrhunderts gegen trügerische Konzepte einer rein innerweltlichen Lebenssteigerung verwehren. Bereits Boethius verstand das Attribut „ewig“ als Qualitätsbegriff eines vollkommenen Lebens im Sinne einer die irdische Zeitausstreckung übersteigende zunehmende Aneignung²⁶¹ des Lebens bis hin zu dessen „Besitz“: Ewigkeit ist der gleichzeitig ganze und vollkommene Besitz des unbegrenzten Lebens (aeternitas est interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio).²⁶²

Bei Augustinus eignen dem ewigen Leben als Gabe die Qualitäten von „Friede“ und „Glück“:

 Joh ,: ego veni ut vitam habeant et abundantius habeant.  Gerade einer Lebenstheologie, die auf das Ideal des Lebens in Fülle hin finalisiert ist, eignet eine besondere Sensibilität für die „Vulnerabilität“ des Lebens (vgl.Traugott Koch, „Die Naturwissenschaft, die Lebenswelt und das Wunder des Lebens,“ Theologie und Philosophie  (): ).  Thomas Ruster, Der verwechselbare Gott. Theologie nach der Entflechtung von Christentum und Religion, Quaestiones Disputatae  (Freiburg im Breisgau: Herder, ), .  Hierzu empfiehlt Ralf Miggelbrink, Lebensfülle. Für die Wiederentdeckung einer theologischen Kategorie, Quastiones Disputatae  (Freiburg/Basel/ Wien: Herder, ),  unter Verweis (ibd.) auf das Anliegen der Enzyklika „Evangelium Vitae“ von Johannes Paul II. () eine „pleromatische Kurzformel“ des Glaubens.  Christoph Theobald, „‚Der Herr und Lebensspender‘. Zum Ansatz einer Theologie des Lebens,“ Concilium  ():  f.  Vgl. Franz J. Hinkelammert, Der Schrei des Subjekts. Vom Welttheater des Johannesevangeliums zu den Hundejahren der Globalisierung (Luzern: Edition Exodus, ), .  Herbert Preisker, Geist und Leben. Das Telos-Ethos des Urchristentums (Gütersloh: Bertelsmann, ), : „Reich Gottes ist Lebensglut Gottes.“  Helmut Thielike, Tod und Leben. Studien zur christlichen Anthropologie (Tübingen: Mohr/Siebeck,):  f. Aus der johanneischen Theologie bestimmt er die Zoe als „…personhaftes Leben, das in unserer Geschichte mit Gott existiert.“ (a.a.O., ).  Vgl. Ferdinand Ulrich, Leben in der Einheit von Leben und Tod, Sammlung Horizonte. Neue Folge  (Einsiedeln/Freiburg: Johannes, ),; sowie Traugott Koch, „Die Naturwissenschaft, die Lebenswelt und das Wunder des Lebens,“ Theologie und Philosophie  (): .  Boethius, cons., CCSL , V, .

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

Da es aber …eine Gabe Gottes ist, welchem anderen Gott sollten wir uns dann weihen als dem Geber des Glücks, wenn wir in frommer Liebe nach dem ewigen Leben verlangen, das das wahre und volle Glück in sich schließt?²⁶³

Also geht der Kerngedanke heutiger Lebensphänomenologie vom Leben als Gabe²⁶⁴ auf Augustinus zurück, der von jener Lebensgabe aus die Scheingötter seiner Zeitgenossen kritisiert. Gott offenbart sich, indem er die Menschen mit der Gabe des Lebens beschenkt.²⁶⁵ Dies entspricht der neutestamentlichen Diktion, in der Leben oft metonymisch als „Heilsgabe“ verstanden wird.²⁶⁶ Die Heilsgabe des Lebens wird in aktualisierter Lebendigkeit von Christus als „Anführer zum Leben“²⁶⁷ (Apg 3,15; Hebr 5,9) und dem lebensschaffendem Geist (Röm 6, 22; Gal 6,8; 2 Kor 4,14) an den Menschen vermittelt. Der Gabecharakter des Lebens weckt die Bereitschaft des Menschen zu einer Gegengabe in der Selbsthingabe.²⁶⁸ Diesen Perspektivenwechsel formulieren die neutestamentlichen Autoren in polaren Begriffspaaren:²⁶⁹ verlieren verderben sein innerweltliches Leben im falschen Sinn lieben

– finden (Mth , ) – retten (Mk , ) – sein innerweltliches Leben im rechten Sinn hassen (Joh , )²⁷⁰

Theologiegeschichtlich folgenreich wurde der Konnex von Gerechtigkeit und Leben, den Paulus in der Aufnahme von Hab 2,4 fortgesetzt hat (Röm 1,17; Gal 3,11).²⁷¹ Jener findet sich auch bei Hildegard von Bingen.²⁷²

 Augustinus, civ., Liber VI, Cap. , hier in der Übersetzung: Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat (De Civitate Dei), Buch  – , Übers. Wilhelm Timme, eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen (München: dtv, ), .  Vgl. Ralf Miggelbink, Lebensfülle. Für die Wiederentdeckung einer theologischen Kategorie, Quastiones Disputatae  (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ), .  Vgl. Ferdinand Ulrich, Leben in der Einheit von Leben und Tod, Sammlung Horizonte. Neue Folge  (Einsiedeln/Freiburg: Johannes, ),  f.  Etwa in Mth ,, Mth ,; Apg ,. Vgl. hierzu Georg Dautzenberg, „Leben. IV. Biblischtheologisch,“ in LThK  : ; sowie Hubert Ritt, „Ewiges Leben. Neues Testament,“ in LThK  : .  Vgl. zur soteriologischen Relevanz dieses biblischen Titels den Abschluss der Monographie von Jürgen Werbick, Soteriologie. Leitfaden Theologie  (Düsseldorf: Patmos, ),  – .  Vgl. Christoph Theobald, „,Der Herr und Lebensspender‘. Zum Ansatz einer Theologie des Lebens,“ Concilium  (): .  Die folgende Übersicht nach: Michael Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, Herders Biblische Studien  (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ), .  Möglicherweise handelt es sich um überarbeitete Kernworte aus der johanneischen Gemeindeüberlieferung, so Michael Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, Herders Biblische Studien  (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ), V, .  Vgl. Hans Hübner, „Leben II. Der Lebensbegriff der Bibel,“ in HWP : .  Hildegardis Bingensis Liber Scivias, CCM / A, Pars Tertia, Visio , Capitulum , S. , Z  f: 〈opera〉 quae ipsos ad iustificationem vitae perducunt.

7.2 Theologische Impulse für die Weiterentwicklung des Lebensbegriffes

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Die geistliche Tradition²⁷³ des Verlangens (epithymia) nach Leben verdichtet sich im Prolog der Regula Benedicti. Er ist als Dialog der Stimme (vox)²⁷⁴ des Geistes Gottes, der zur Kirche spricht,²⁷⁵ mit dem Interessenten für das monastische Leben gestaltet. Der Hörer wird als Mensch auf der Suche nach dem guten Leben angesprochen.²⁷⁶ Die Antwort des Prologes bezieht sich immer wieder indirekt auf den johanneischen Ternar (Joh 14,6) von Weg,²⁷⁷ Wahrheit²⁷⁸ und Leben.²⁷⁹ Zwar geht es um den Weg zum ewigen Leben, doch tragen die bibelnahen Wegweisungen und Empfehlungen einer Vielzahl von inneren Haltungen in den Werkzeugen der geistlichen Kunst²⁸⁰ schon zur Steigerung der innerseelischen und sozialen Lebensqualität im hiesigen Leben bei. Aus dieser Grundeinstellung entwickelt Honorius von Autun ein ausführliches Gesamtpanorama zur Erkenntnis des eigentlichen Lebens, die unter dem Namen Augustins überlieferte Schrift: „De cognitione vera vitae.“²⁸¹ Hierzu entfaltet er unter dem Hinweis vom der Metapher der „Quelle“ des Lebens,²⁸² die im nächsten Unterkapitel behandelt werden wird, ein theologisches Gesamtprogramm der Lehre vom dreifaltigen Gott, den Engeln, der Seele, der Vorsehung und der Schöpfung. Hierbei ist der immer wieder angesteuerte Bezugspunkt die Schau Gottes im ewigen Leben, deren Möglichkeitsbedingungen am Schluss des Werkes breiter ausgeschildert werden. Dabei warnt der Autor im Zusammenhang mit dem erkenntnistheoretischen Grundanliegen seiner Schrift vor der Überschätzung der katechetischen Wirkungskraft der äußeren intellektuellen Belehrung über eine solche Gesamtschau des christlichen Glaubens unter dem Motiv des echten Lebens: Wenn man es recht durchdenkt, wird nichts durch einen Menschen gelernt. Die Lehrer pflanzen und bewässern nur äußerlich, indem sie den Stoff darstellen. Die Wahrheit aber, die in der Seele wohnt, gewährt innerlich das Wachstum des Lerngewinns (1 Kor 3,7).²⁸³

 Vgl. Christoph Theobald, „,Der Herr und Lebensspender‘. Zum Ansatz einer Theologie des Lebens,“ Concilium  ():  unter Anspielung auf Gregor von Nyssa, Leben des Mose, SC I, zu Ex , ..  Regula Benedicti, Prolog, , lateinisch/deutsch, Hg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz (Beuron: Beuroner Kunstverlag, ): nos admonet vox.  Regula Benedicti, Prolog, nach Off ,: Qui habet aures audiendi, audiat, quid spiritus dicat ecclesiis.  Regula Benedicti, Prolog, : Quis est homo, qui vult vitam et cupit videre dies bonos?  Regula Benedicti, Prolog, : demonstrat nobis Dominus viam vitae.  Regula Benedicti, Prolog, : qui loquitur veritatem in corde suo; Regula Benedicti, Prolog : audiamus dominum respondentem et ostendemtem nobis viam.  Regula Benedicti, Prolog,: Si vis habere veram et perpetuam vitam; Regula Benedicti, Prolog, : Nolo mortem peccatoris, sed convertatur et vivat; Regula Benedicti, Prolog, : ad vitam volumus pervenire perpetuam.  Regula Benedicti, Cap. IV.  Honorius Augustodunensis, De cognitione verae vita, PL ,  – .  Honorius Augustodunensis, De Cognitione verae vitae, PL , : fontemquae vitae a vita Patre quasi de loco voluptatis manantem, paradisum, Ecclesiam videlicet hortum deliciarum irrigantem unanimes haurite.  Honorius Augustodunensis, De Cognitione verae vitae, PL : .

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

Bei einer theologischen Lehre vom Leben geht es also immer auch um Fragen der Erkenntnistheorie und der Gotteserkenntnis. Die Würde der Subjektivität mündet in die Ermöglichung einer beseligenden Schau Gottes in der Ewigkeit (visio beatifica). Hierin wird deutlich, dass ein theologischer Lebensbegriff mehr Dimensionen umfasst als einer der modernen Biowissenschaften.²⁸⁴

7.2.4 Überfließendes Leben: Das Sprachbild von der Quelle des Lebens Das Sprachbild von der „Quelle des Lebens“ bildet nicht zufällig eine Tiefenschicht in zahlreichen Visionen Hildegards. Vielmehr bietet sich jenes Bild fast zwingend an, wenn ein christlicher Begriff vom Leben stringent theologisch durchdacht wird: Geschaffenes konkretes Einzelleben ist Teilhabe an dem umfassenden, vollkommenen Leben Gottes. Begrenztes, vulnerables Leben der Geschöpfe kann geheilt werden²⁸⁵ und zur Auferstehung geführt werden über den Tod als Widersacher des kontingenten Lebens hinaus. Das schaffende Leben Selbst, das Gott ist, ist mit dem Guten Selbst identisch und fließt so des Guten über (bonum diffusivum sui). Der Gedanke, dass das irdische Leben aus der „Quelle“ des vollkommenen göttlichen Lebens als „Seinsgrund“ entstammt, verbindet viele abendländische Denker, wie Aristoteles, Plotin, Thomas, Leibnitz. ²⁸⁶ So erklärt Augustinus: Leben kommt von Gott als Quelle des Lebens, insofern ist es gut. Von dieser Quelle her ist es vor allem eine geistige Wirklichkeit,²⁸⁷ und dadurch ewig. Dies erfordert eine Hinwendung von der materiellen zu der geistigen Welt.²⁸⁸ Daher dient die Metapherntrias des biblischen Buches der Offenbarung vom Lebensbaum (Offb 2,7; 22, 2.14; Gen 2,9), Lebensbuch (Offb 13,8; 17,8; 20,12; 21,27) und Lebenswasser (Offb 7, 17; 21,6; 22.1.17) als „Fenster zur Transzendenz“. Im Sprachbild der Quelle überlagern sich die Assonanz an das lebensspendende und lebensnötige Wasser mit dem Bild des Brunnens als zwischenmenschlicher Begegnungsstätte.²⁸⁹

 Vgl. Christoph Theobald, „,Der Herr und Lebensspender‘. Zum Ansatz einer Theologie des Lebens,“ Concilium  (): .  Daher gibt es systemimmanente Verbindungslinien zwischen einer therapeutischen Theologie und den gegenwärtigen Ansätzen einer Lebenstheologie. Vgl. hierzu die Andeutung bei Christoph Theobald, „,Der Herr und Lebensspender‘. Zum Ansatz einer Theologie des Lebens,“ Concilium  (): .  Regine Kather, Was ist Leben? Philosophische Positionen und Perspektiven (Darmstadt: Wissenschaftliceh Buchgesellschaft, ), .  Vgl. die Darstellung bei: Ralf Miggelbrink, Lebensfülle. Für die Wiederentdeckung einer theologischen Kategorie, Quaestiones Disputatae  (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ), .  Augustinus, De Vera Religione, CCSL , XI, , S. , Z  – .  Vgl. Daniela Gretz, „Wasser/Brunnen,“ in Metzler Lexikon literarischer Symbole, Hg. Günter Butzer and Joachim Jacob (Stuttgart: J.B. Metzler, ), .

7.2 Theologische Impulse für die Weiterentwicklung des Lebensbegriffes

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Gestützt auf Ps 36 (35),1 (quoniam apud te fons vitae) entfalten die johanneischen Schriften ein dichtes „Metaphernnetz“²⁹⁰ zu Durst und Wasser.²⁹¹ Manche Formeln könnten als liturgische Einladungssprüche aus Dialogen der liturgischen Rollenträger in der Gemeindeliturgie stammen.²⁹² Auch das Ich-bin-Wort von der Quelle in Offb 21,6: „ego sitienti dabo de fonte aquae vivae gratis“ hat möglicherweise seinen Sitz im Leben im Gottesdienst.²⁹³ Denn ähnlich wurzelt die Kernstelle Joh 7,37 f ²⁹⁴ im jüdischen Laubhüttenfest (sukkot):²⁹⁵ „Sukkot ist das Fest einer messianischen Zeit…Es ist das Fest, zu dem die Wasserspende gehört, die symbolisch schon die eschatologischen Heilswasser im Tempel fließen lässt.“²⁹⁶ Das Versprechen Jesu vom Trank aus der Quelle lebendigen Wassers leitet sich aus der Wasserspende her, die sieben Mal um den Altar getragen wird.²⁹⁷ Sie wurde mit einem goldenen Wasserkrug aus der Quelle des Flusses Gichon, der den Teich Siloa speist, zum Brandopferalter im Tempel getragen.²⁹⁸ Eine Vielzahl von alttestamentlichen Texten steht hinter dem Jesuswort in Joh 3,37 f.²⁹⁹ Dabei wird vor allem die endzeitliche Freude nach Sach 14,8 f evoziert. Mit dem affektiven Motiv der Freude wird das Bild vom Wasser aus dem Felsen (Jes 48,12)³⁰⁰ verbunden, wie in Jes 12,3: „Ihr werdet in Freude Wasser aus den Quellen des

 Vgl. Michael Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, Herders Biblische Studien  (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ), ; sowie Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, Handbuch zum Neuen Testament  (Tübingen: Mohr Siebeck, ), .  Z. B. in Joh ..  ff.; , d; ,; ,; ,; ,.; ,; ,  sowie in Offb ,  f; ,; ,.  So Michael Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium,  – .  Nach Michael Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, .  Joh ,  f: si quis sitit veniat ad me et bibat; qui credit in me sicut dixit scriptura flumina de ventre eius fluent aquae vivae.  Zur korrelativen Bedeutung von Sukkot vgl. Paul Spiegel, Was ist koscher? Jüdischer Glaube – jüdisches Leben (Berlin: Ullstein, ), : „Denn das Leben ist wie die Sukka: … Lebe und vertraue, freue dich am Leben….Nur durch Freude und ein Leben mit Erfüllung der Mitzwot bist du auf dem richtigen Weg.“  Dorit Felsch, Die Feste im Johannesevangelium. Jüdische Tradition und christologische Deutung, Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. . Reihe  (Tübingen: Mohr Siebeck, ), .  Vgl. Michael Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, Herders Biblische Studien  (Freiburg/Basel/Wien: Herder, ), .  Vgl. die Schilderung bei Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, Handbuch zum Neuen Testament  (Tübingen: Mohr Siebeck, ), .  Vgl. Dorit Felsch, Die Feste im Johannesevangelium. Jüdische Tradition und christologische Deutung, .  In der jüdisch-hellenistischen Weisheitstradition wurde das Wasser aus dem Felsen auf die göttliche Weisheit (choKma) hin gedeutet. Vgl. hierzu Ferdinand Hahn, „Die Worte vom lebendigen Wasser im Johannesevangelium. Eigenart und Vorgeschichte von Joh , . f.; ,./,  – ,“ in God’s Christ and His People. Studies in Honour of Nils Alsrup Dahl, Hg. Jacob Jervell and Wayne A. Meeks (Oslo/Bergen/Tromsö: Universitetsforlaget, ): .

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

Erlösers schöpfen.“³⁰¹ Daher wurde das Motiv des wasserspendenden Felsens häufig in den frühchristlichen Katakomben dargestellt.³⁰² Sowohl in der patristischen als auch in der modernen Exegese entfachte sich eine Diskussion um die Versabgrenzung in Joh 7,37 f. Strömen die lebendigen Wasser im übertragenen Sinn nur aus Jesus oder auch aus dem, der an Jesus glaubt? Hugo Rahner zitiert die christologische Deutungsrichtung³⁰³ bei Justin, Hippolyt, Tertullian, Cyprian, Irenäus. ³⁰⁴ Für sie votierte ebenso Bultmann. ³⁰⁵ Die Deutung, dass das lebensspendende Wasser ebenso aus der Gemeinschaft der Gläubigen ströme, die an Christus als Quelle glauben, vertraten Origenes ³⁰⁶ und zuvor schon der Schreiber des Papyrusfragmentes P66.³⁰⁷ Auf die pneumatologische Deutungsmöglichkeit von der Quelle des lebendigen Wassers weist Otto Böcher hin: Dem antiken Menschen aus der Mittelmeerregion war aus seiner Lebenserfahrung heraus der Zusammenhang zwischen Wasser und Wind bekannt.³⁰⁸ In dieser Metaphernkombination liegt ein „pneumatologischer Wasserritus“³⁰⁹ nicht fern. In den johanneischen Schriften symbolisiert Wasser nicht nur die Endzeit.³¹⁰ Sondern insofern der Geist als Erstlingsgabe und Unterpfand des künftigen Äons gegeben ist (Röm 8, 23; 2 Kor 1,22),³¹¹ wird Wasser zum Zeichen der Wiedergeburt aus dem Geist (Joh 3,5).³¹² Diese Deutung kann auch Joh 7,39 unterlegt werden.³¹³ Augustinus spielt das Bildmotiv von Christus als der Quelle des Lebens im Zusammenhang mit dem dreifachen Ich-bin-Wort von via-vita-veritas (Joh 14,6) durch. Es wird angewendet auf die Heiligung des im geistlichen Sinn Blinden und Lahmen.³¹⁴

 Jes ,: haurietis aquas in gaudio de fontibus salvatoris.  Vgl. Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, .  Zur christologischen Funktion des Bildbegriffes der Quelle vgl. Ferdinand Hahn, „Die Worte vom lebendigen Wasser im Johannesevangelium,“: .  So referiert bei Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, . Hugo Rahner legte  seine theologische Dissertation über das Motiv des fons vitae in den ersten drei Jahrhunderten vor.  Vgl. Dorit Felsch, Die Feste im Johannesevangelium, .  Vgl. Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, .  Dorit Felsch, Die Feste im Johannesevangelium, .  Vgl. Otto Böcher, „Wasser und Geist,“ in Verborum Veritas. Festschrift für Gustav Stählin zum . Geburtstag, Hg. Otto Böcher and Klaus Hacker (Wuppertal: R. Brockhaus, ): .  Otto Böcher, „Wasser und Geist,“: .  Vgl. Otto Böcher, „Wasser und Geist,“: .  Otto Böcher, „Wasser und Geist,“: .  Otto Böcher, „Wasser und Geist,“: .  So Otto Böcher, „πηγή,“ in Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament , neubearbeitete Ausgabe, herausgegeben von Lothar Coenen and Klaus Haacker (Wuppertal: R. Brockhaus/Neukirchener, ), .  Sancti Aurelii Augustini In Johannis evangelium Tractatus CXXIV, CCSL , post maurinos textum edendum curavit D. Radbodus Willens (Turnhout: Brepols, ), Joh , , Tractatus in Joh ,  f, S. , Z  – : Consilium vitae petiisti. Cuius vitae, nisi de qua dictum est: Apud te fons vitae? … Ego sum, inquit via. Quo via? Et veritas et vita. …Manens apud Patrem, veritas et vita; induens se carnem, factus est via. Non tibi dicitur: Labora quaerendo viam, ut pervenias ad veritatem, et vita…via ipse ad te

7.2 Theologische Impulse für die Weiterentwicklung des Lebensbegriffes

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Dies mündet in das Wortspiel der Zielaussage, dass in Christus der Weg des Menschen selbst zu ihm kommt. Eriugena verwendet die Bildlichkeit der Quelle des Lebens sowohl in einem ontologischen als auch in einem heilsgeschichtlichen Sinn. Die Quelle ist Zentralpunkt für Ausgang und Rückgang, exitus und reditus aller geschaffenen lebenden Dinge zu Gott: So fließen die göttliche Gutheit und Wesenheit und das Leben und die Weißheit und alles, was in der Quelle von allem ist, zuerst in die Primordialursachen herab und lassen sie existieren. Hierauf laufen sie auf eine unaussprechliche Weise vermittels der Primordialursachen in Ordnungsgefügen der Allgemeinheit, die ihnen entsprechen, in ihre Wirkungen herab. Dabei fließen sie vom Höheren zum Niedrigeren. Hierauf kehren sie durch ganz geheime Poren der Natur auf einem streng geheimen Flusslauf wieder zu ihrer Quelle zurück.³¹⁵

Zur Ausdeutung der heilsgeschichtlichen Erzählung vom Paradiesesfluss schaltet Eriugena ein längeres Zitat aus der Schrift De imagine von Gregor von Nyssa vor. Speise und Trank können nach Gregor von Nyssa auch in einem übertragenen, geistlichen Sinn verstanden werden. So könne die Aufforderung bei Jesaja „Trinkt die Freude“ (frei nach Jes 12,3) als Ermunterung zum Gotteslob gedeutet werden.³¹⁶ Im 12. Jahrhundert pflegen geistliche Autoren wie Wilhelm von St. Thierry,³¹⁷ Bernhard von Clairvaux,³¹⁸ Guigo der Kartäuser ³¹⁹ und der Verfasser des Speculum Virginum ³²⁰ die Apostrophierung Gottes als „Quelle des Lebens“. Hildegard jedoch gebraucht dieses Sprachbild in ihren späteren Schriften vor allem für ekklesiologische Zusammenhänge, als Chiffre für eine geistliche Reform.³²¹

venit…Sed Dei Verbum sanavit et claudos. Ecce, inquis, sanos habeo pedes, sed ipsam viam non video. Illuminavit et caecos.“  Eriugena, Periphyseon III, ,  C, Z  – , Übersetzung von mir.  Eriugena, Periphyseon IV,  A, S. , Z  f nach Gregor von Nyssa, De imagine  , PG , c-B.  Vgl. Bardo Weiß, Die deutschen Mystikerinnen und ihr Gottesbild. Das Gottesbild der deutschen Mystikerinnen auf dem Hintergrund der Mönchstheologie. Bd.  (Paderborn: Ferdinand Schöningh, ), .  Vgl. Bardo Weiß, Die deutschen Mystikerinnen und ihr Gottesbild , .  Vgl. Bardo Weiß, Die deutschen Mystikerinnen und ihr Gottesbild, .  Vgl. Bardo Weiß, Die deutschen Mystikerinnen und ihr Gottesbild, .  Auch Hugo Rahner habe angesichts seiner motivgeschichtlichen Forschung zum fons vitae in seiner Doktorarbeit eine Art einer „inneren Kirchengeschichte“ mit Dynamik zur Erneuerung aufgespürt, so Karl Heinz Neufeld, Die Brüder Rahner. Eine Biographie (Freiburg im Breisgau: Herder, ), .

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

7.3 Synopse der Anschauungen Hildegards zu einer Theologie des Lebens Die Analyse einzelner Visiones im Ersten Teil dieser Dissertation hatte ergeben, dass Hildegard ihre Anschauungen aus Grundbausteinen entwickelt, die sich durch das über Jahrzehnte erstelle Werk hindurch konstant beobachten lassen. Leider jedoch überlässt sie es dem Interpreten, jene zu einer Gesamtsicht zu systematisieren. Jene inhaltlichen Bausteine bilden sozusagen ein Wurzelgeflecht im Untergrund der Texte, das erst vom Leser ans Tageslicht gehoben werden muss. Zwar gelingt Hildegard über den Begriff des Lebens eine beachtliche Zusammenfügung unterschiedlicher heilsgeschichtlicher und systematisch-theologischer Themenbereiche. Doch jene wird immer nur anhand spezifischer Knotenpunkte verdichtet, ohne einen expliziten Bezug zu weiteren damit verbundenen Systemstellen zu nehmen. Wenn ich nun das inhaltliche Strukturfeld zur Auffassung von vita zusammenfasse, basieren diese Zusammenfassungen zwar auf den Ergebnissen der textimmanenten Analyse. Gleichwohl gehen die Kategorien für den folgenden Überblick auf die Sichtweise der Interpretin zurück. Daher seien zunächst noch einmal die Fachbegriffe rekapituliert, die ich für meine eigene Interpretation des Opus Hildegardianum geprägt habe: – pneumatische Skripturalität – passiologische Werkentstehungsformeln – prophetische Passiologie – Redramatisierung – Renarratisierung – spiritu-somatische Anthropologie – passiologische Ekklesiologie Hildegard vermengt die Schilderung der Entstehungssituation ihrer Werke mit der Inhaltlichkeit einer Theologie des Lebens. Davon zeugt die gestufte pneumatologische Skripturalität, die sie anhand der biblischen Metapher vom des Buchs des Lebens (liber vitae) entwickelt. Aus biographischen Reflexionen auf ihren individuellen Lebensgang werden Grundthesen für eine lebenstheologische Erkenntnistheorie abgeleitet. Jene erwächst aus einer prophetischen Passiologie. Die Lebendigkeit erster Ordnung, von Gott und von der Dynamik der von ihm in Gang gesetzten Heilsgeschichte, wird in der Darstellung mit einer Lebendigkeit zweiter Ordnung vermischt, insofern der lebendige Gott nicht nur Erkenntnisobjekt ist, sondern in der sogenannten „Schau des lebendigen Lichtes“ zugleich die lebendige Bedingung der Möglichkeit seiner Schau gewährt. Ähnlich wie bei Hugo von St. Victor wird durchgängig eine heilsgeschichtliche Zweistufigkeit des Lebensbegriffes favorisiert, zwischen der vita caduca und der vita futura, der vita praesens und der vita aeterna.

7.3 Synopse der Anschauungen Hildegards zu einer Theologie des Lebens

357

Da letzterer die eigentliche Lebensqualität in Fülle eignet, durchzieht das Lebenswerk Hildegards eine appellative Grundstruktur: Die Ermahnung (admonitio), zum eigentlichen ewigen Leben, der vita beata hin zu leben: Ad vitam vivere! Vor diesem Hintergrund besteht Hildegard bei aller kosmologischen, symbolistischen Ganzheitlichkeit auf einem anthropologischen Dualismus. Da sich ihre Schriften, wie wir gezeigt haben,³²² an einen weiteren Leserkreis, darunter auch an Laien und Eheleute, wenden, ist jener anthropologische Dualismus nicht nur aus ihrem Lebenskontext als Nonne motiviert. Freilich ist ihr Ideal einer integritas vitae davon gefärbt. Gott hilft der menschlichen Fragilität (fragilitas) auf, in einer Wiederherstellung des Lebens (reaedificatio, remuneratio vitae). Der Mensch ist, unabhängig von seinem Vorleben, zur Mithilfe an dieser Wiederherstellung ermutigt. Daher entwickelt Hildegard eine völlig eigenständige Theorie von der Anwesenheit der lebendigen Gnade als gratia initians. Zu Hildegards Bild des vorläufigen, noch verletzten Lebens gesellt sich die Klage der Natur (querela elementorum), dass ihre Ordnung durch die Freiheitsentscheidungen des Menschen beeinträchtigt worden ist. Es muss also die integra vita auf allen Ebenen wieder erneuert werden. In jeder der untersuchten Visiones begegneten die folgenden drei Motivkreise über Gott als Ausgangspunkt und Ziel des Lebens, als causa efficiens und causa finalis: Gott wird mit den Motiven von Licht und Wasserquelle beschrieben. Das dauerhafte Leben bei Gott ist von der Freude (laetitia, felicitas) und der Heiterkeit des Geistes (hilaritas mentis) geprägt. Die Lebenssymbole von Licht³²³ und Quelle³²⁴ repräsentieren Gott als unverlierbare Fülle (plenitudo) des Lebens. Jene infinite Lebenssteigerung wird daher oft mit pleonastischen Stilfiguren beschrieben, zum Beispiel in der Wendung „das Leben des Lebens“ (vita vitae). Allerdings treten gegenüber solchen Attributen auf dem Weg einer via supereminentiae personale Beschreibungsebenen von Gott als unversiegbarer Lebensfülle in sich und für die Geschöpfe zurück. So übernimmt Hildegard zum Beispiel nicht die augustinische Anrede Gottes als „mein Leben“ (vita mea). Nur manchmal bezieht sie sich auf die traditionelle Verbindung des Motivs von der „Quelle des lebendigen Wassers“³²⁵ mit der Christusspiritualität der Antike, näher hin  Siehe das Kapitel . und das Kapitel .. dieser Arbeit.  Vgl. zur johanneischen Lichtmetaphorik: Friedemann Richert, Platon und Christus. Antike Wurzeln des Neuen Testaments (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), .  Zahlreiche Quellenbelege zu Gott als fons in liturgischen Texten bei: Hartmut Freytag, Kommentar zur frühmittelhochdeuschen Summa Theologiae, Medium Aevum. Philologische Studien  (München: Wilhelm Fink, ), .  Zur Bedeutung des Wassers in der mittelalterlichen Alltagskultur vgl. Ernst Schubert, Alltag im Mittelalter. Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ),  – . Dem Motiv des Lebensquells in der Gralsmystik des . Jahrhunderts und den Parzifal-Dichtungen geht nach: Karl Matthäus Woschitz, Fons Vitae – Lebensquell. Sinn- und Symbolgeschichte des Wassers, Forschungen zur Europäischen Geistesgeschichte  (Freiburg im

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

der Herz-Jesu-Frömmigkeit, Bezug. Diese Verbindung hatte Hugo Rahner anhand zahlreicher patristischer Quellen in seiner Doktorarbeit nachgewiesen. Er entdeckte in jener Motivverbindung, die in exegetischen und liturgischen Texten entfaltet wurde, bestimmende Kraftströme einer „inneren Kirchengeschichte“,³²⁶ ohne sich jedoch näher zu deren spirituellen Qualität zu äußern. Möglicherweise, das ist meine eigene Vermutung, ging Hildegard hier von einem Motivzusammenhang zwischen Ekklesiologie und Pneumatologie bei Ambrosius aus: Die Kirche ist,wie Ambrosius in seinem Kommentar zum Hexaemeron anhand einer der Motivkombination aus von Gen 1,9, Ps 23,2 und Joh 7,38 entfaltet,³²⁷ über Meere und Ströme gegründet. Jene gehen ebenso von dem einzelnen Gläubigen aus, der in der Zustimmung zum Glauben den Heiligen Geist empfängt. So können die Gläubigen im Raum der Kirche zu Gott als ihrem Ursprung zurück kehren. Hildegard nutzt nicht die Chance, anhand des Leitmotivs der Quelle explizit ihr synthetisierendes Denkvermögen in der Vernetzung verschiedener dogmatischer Orte auszuspielen. Zwar zieht sie das Sprachbild der fons heran für die Gotteslehre, Trinitätstheologie, Schöpfungslehre, Christologie, Soteriologie, Ekklesiologie, Sakramentenlehre und Eschatologie. Aber es gibt keine Textpassage, in der sie all jene Verweisungssinne der Symbolik der „Quelle des Lebens“ stringent zusammen stellt. Möglicherweise bezieht sich Hildegard in der Auswahl ihrer Bildsymbole zu Leben auf die Schrift De Isaac et anima des Ambrosius. Denn neben dem Motiv der Lebensquelle³²⁸ entfaltet Ambrosius darin weitere Sprachbilder, die auch Hildegard zu einer Bildwelt komponiert: Die Bewegungssymbolik des Aufstiegs,³²⁹ die soteriologische Bewegungsfigur des wie ein Hirsch springenden Christus,³³⁰ die Gottesbegegnung im Herzen, illustriert durch die Symbolbilder von Garten³³¹ und Speise.³³² Breisgau: Herder, ),  – . M. E. kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich Hildegard auch von der christlichen Parzifaldichtung des Chrétien de Troyes dazu inspirieren ließ, den fons vitae zu einem untergründigen Zentralmotiv auszugestalten. In der Polemik gegen die Katharer, die den Gedanken der eucharistischen Wandlung ablehnten, wurde die Parzifalerzählung mit theologischen Reflexionen angereichert, zum Beispiel bei Rober de Boron (vgl. a.a.O., ). Daher formulierten ebenso die Zisterzienser die Gralslegende im Sinne ihrer asketischen Ideale um (a.a.O., ). Im späten . Jahrhundert zieht bei dem altfranzösischen Autor Robert de Boron der Gralsmythos ein egalitäres Bild von Kirche gemäß des alttestamentlichen Bildes vom Volk Gottes nach sich. (So Thomas Ollig, Elemente christlicher Spiritualität im altfranzösischen Gralskorpus, Erudiri Sapientia VIII (Münster: Aschendorff, ), ).  Hugo Rahner, Fons Vitae. Eine Untersuchung zur Geschichte der Christusfrömmigkeit in der Urkirche. .–. Jahrhundert, diss. masch. Universität Innsbruck, Innsbruck , VII.  Das folgende nach: Ambrosius, Exameron, Dies III, Sermo IV, Cap. I, (SAEMO I, ).  Mechthild Sanders, „fons vitae Christus“. Der Heilsweg des Menschen nach der Schrift De Isaac et anima des Ambrosius von Mailand, Münsteraner Theologische Abhandlungen  (Altenberge: Oros, ), . In De Isaac  (, /) repräsentiert Isaak den „fons laetitiae.“  Mechthild Sanders, „fons vitae Christus“. Der Heilsweg des Menschen , . – De Isaac  (, / ). Auch bei Gregor von Nyssa dient das Bild des „Springquells“ als Bewegungsfigur für den Aufstieg zu Gott (In canticum, hom. , PG :  ff).  Ibd. im Anschluss an Ambrosius, De Isaac  (, /).

7.3 Synopse der Anschauungen Hildegards zu einer Theologie des Lebens

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Sie vertritt das augustinische Konzept einer Lebensentwicklung durch eine zunehmende Zentrierung und Verinnerlichung. Jenes ordnet sie in die zweite, von ihr bevorzugte Interpretationslinie der „Quelle des lebendigen Wassers“ ein, die sich auf die Gemeinschaft der Gläubigen bezieht.³³³ Sie schildert die Kirche als „lebendiges Land“ (vivens terra), die den Schutzraum für ein geistliches Leben für alle kirchlichen Stände bieten sollte. Jenes illustriert sie in Sprachformen der Mystik, die sich ähnlich in der Spiritualität der Zisterzienser nachweisen lassen. Grundworte der mystischen Theologie, wie die „geistliche Umarmung“ (amplexus) erhellen, dass das Leben sich in der wechselseitigen Immanenz von Gott und Mensch intensiviert. Freilich wird die christologische Basis dieser wechselseitigen Immanenz eher indirekt vermittels augustinischer Kategorien thematisiert: Inhaltliche Offenbarung wird durch Christus als Wort und Klang (sonus et verbum) vermittelt. Dies spiegelt Hildegard auf der literarischen Ebene, indem sie eine vox, die zumeist nachträglich als Stimme Christi identifiziert wird,Worte der Ausdeutung von Symbolbildern des Lebens sprechen lässt. In der literarischen Gestaltung versteckt sie also bereits lebenstheologische Aussagen. Allerdings gelingt es ihr nicht, eine klare Stellungnahme zu den unterschiedlichen Auslegungstraditionen von Joh 1,3 – 4 zu entwickeln: Einerseits gilt ihr der Mensch Jesus als das herausragendste Schöpfungswerk Gottes. Andererseits erweckt sie den Anschein, als ob das Leben aller Dinge nicht nur durch den präexistenten Logos getragen sei, sondern durch den inkarnierten Gott-Menschen als einer Art demiurgischer Überform aller Schöpfungswerke.³³⁴ Ähnlich machen manche ihrer schöpfungstheologischen Einzelaussagen einen pantheisierenden Eindruck. Das eher königliche denn staurozentrische Christusbild der Regula Benedicti wandelt sich bei ihr zu dem eines Bruders als Schöpfungswerk hinsichtlich seiner Menschheit.³³⁵ Aber manche Aussagen über Gott-Vater oder über Christus als Logos wirken zuweilen apersonal und pantheisierend.

 Zum Weiterleben des patristischen Heilsbildes vom Garten als mystische Metapher vgl. Ursula Frühe, Das Paradies ein Garten – der Garten ein Paradies. Studien zur Literatur des Mittelalters unter Berücksichtigung der bildenden Kunst und Architektur. Europäische Hochschulschriften Reihe XVIII: Vergleichende Literaturwissenschaft  (Frankfurt am Main: Peter Lang, ),  sowie .  Mechthild Sanders, „fons vitae Christus“. Der Heilsweg des Menschen, . – De Isaac  (// ).  So bietet sie ein Beispiel für die These, die Hugo Rahner im Ausblick seiner Dissertation für den Zeitraum des Mittelalters angekündigt hatte: Die Hülle der Metaphorik von der Quelle des lebendigen Wassers füllt sich mit einem anders akzentuierten Inhalt. (Hugo Rahner, Fons Vitae, ).  Hildegard von Bingen, Symphonia. Gedichte und Gesänge, Carmen , lateinisch und deutsch, von Walter Berschin und Heinrich Schipperges (Gerlingen: Lambert Schneider, ), : Nam cum deus inspexit/ faciem hominis/ quem formavit/ omnia opera sua/ in eadem forma hominis integra aspexit.  Hildegardis Bingensis Liber Divionorum Operum, CCM , Pars Secunda, Visio Prima, Capitulum , , Z : frater meus est. Ähnlich LDO Pars Tertia, Capitulum , , Z  f: revocandus est, ne societas fraternitatis tuae in ipso periret.

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7 Theologiegeschichtliches Fazit: Der Begriff des Lebens nach Hildegard

Theologisches Vorwissen nutzt sie stets selektiv, in einzelnen Begriffen oder Denkbewegungen, um daraus völlig eigenständige Sichtweisen zu entwickeln. Also muss ihr bei aller Referentialität eine hohe Originalität zuerkannt werden.

8 Anregungen aus den Ergebnissen der Dissertation für die weitere Forschung 8.1 Studia Hildegardiana 1. Durch die Kanonisierung und Erhebung Hildegards zur Kirchenlehrerin werden Untersuchungen zu ihrem Werk als seriöses Forschungsthema ernst genommen. Die Forschergemeinde steht unter dem Erwartungsdruck der Öffentlichkeit, die Forschungssituation zu reflektieren und weiter zu entwickeln. 2. Ein dringendes Desiderat ist eine wissenschaftliche Hildegard-Biographie unter kritischer Aufbereitung der Quellenlage: Manche Dokumente zu ihrer Vita wollen einseitig Wirklichkeit setzen, statt tatsächliche Ereignisse wiederzugeben. 3. Übersetzungsprojekte sollten – möglichst in Teams – weitergeführt werden. Hierzu wäre die Entwicklung von Qualitätsstandards nötig. (Z. B. hinsichtlich der Synonymenkorrelation, der behutsamen Einführung in die lateinische Textwelt auch in der Übersetzung, der Angabe von Bibelstellen und Quellen auf wissenschaftlichem Niveau.) 4. Wünschenswert wären kritische Editionen, die im Paralleldruck die unterschiedlichen Werkstadien wiedergeben. Insbesondere für das Briefcorpus ist dies unverzichtbar. 5. Zur Ausweitung und Vertiefung einer vorrangig textimmanenten Interpretation ist die Vergabe von Abschlussarbeiten (Bachelor, Magister, Diplom) über einzelne Visiones zu empfehlen. Aufgrund der unterschiedlichen Länge und Komplexität der Visiones können hier unterschiedliche Studienniveaus berücksichtig werden. Gute Studentenarbeiten könnten durch Veröffentlichung, z. B. als E-Book, der Forschung zur Verfügung gestellt werden. 6. Ebenso bieten sich etliche Themenstellungen für umfassendere Monographien an: – Weitere Forschungen zu zisterziensischen Einflüssen bei Hildegard (Biographie, Agrarkultur, Einstellung zu Sozialgefüge, Landschaft und Ökonomie, Wortschatz der Mystik) – Umfassendere Vergleichsstudien: Z. B. Augustinus und Hildegard – Die Gnadenauffassung bei Hildegard und Luther – Das Ehekonzept bei Hildegard – Die Rolle des Laien im Heilsgeschehen – Größe und Schwäche der Christologie Hildegards (hierbei Vergleich mit der Christologie der Regula Benedicti) – Pantheisierende Äußerungen bei Hildegard? – Wertung von zentralen Anliegen Hildegards aus Sicht der orthodoxen Theologie – Entwicklung einer Hermeneutik für die seriöse Aktualisierung und Popularisierung des Opus Hildegardianum

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8 Anregungen aus den Ergebnissen der Dissertation für die weitere Forschung

8.2 Interdisziplinäre Mediävistik 7. Die Hildegardforschung könnte als Modellfall konzipiert werden für die Unverzichtbarkeit einer interdisziplinären Mediävistik, die den Status in den jeweiligen Einzelwissenschaften stärkt. 8. Ebenso sind die Studia Hildegardiana ein Modellfall dafür, dass manche Projekte nur in stabilen Forscherteams verwirklicht werden können. Gegebenenfalls können hierzu auch sachliche Hobbyforscher mit entsprechender Materialqualifikation gezielt unterstützt werden. 9. Es kann eine Rehabilitation gewagt werden von verlangsamten „altmodischen“ Studientechniken (gründliches Exzerpieren, eigene Fundstellenkartei, Ganzschriftlektüre), die der Entstehungssituation mittelalterlicher akademischer Texte auf der Basis jahrelanger repetitierender Studien entspricht. 10. Metareflexionen zu Forschungsdesigns können ausgeführt werden für Mittelalter-Themen, die in der Popularwissenschaft ihr Eigenleben führen, aber in der Form eines „aufsteigenden popularen Kulturgutes“¹ durch entsprechende Vorannahmen auf die Forschung zurück wirken. 11. Strategien für die Rekrutierung von Langzeit-Interessenten für die Mittelalterforschung können überdacht werden: Die Faszination für Hildegard könnte für Studierende ein movens werden, sich längerfristig, über konjunkturelle Pflichtmodule hinaus, in den Methoden und Inhalten der Mediävistik zu üben. 12. Man könnte zum Beispiel ein einführendes Studienbuch für die interdisziplinäre Mediävistik entwerfen, in dem verschiedenen Zugriffsebenen, Forschungsfragen und Einzeltechniken anhand des Opus Hildegardianum dargestellt werden. 13. Weiterführend sind Forschungen zur Bibliotheksausstattung und Bildung in Frauenklöstern, aber auch in der mittelalterlichen weltlichen Gesellschaft. Jene können mit Recherchen zu Spuren einer Populartheologie im Mittelalter vernetzt werden. 14. Eine Vernetzung der Hildegardforschung mit dem Forschungsbereichen zu Fälschungen bzw. zu der Konstruktivität von Geschichtsdokumenten sollte intensiviert werden. 15. Ein Fernziel ist die Entwicklung von detaillierten, auch kartographiert wiederzugebenden Wissenslandschaften durch Experten für die jeweiligen Einzelautoren, zum Beispiel für die geistigen Strömungen im 12. Jahrhundert. 16. Die Mediävistik kann am Beispiel Hildegards zur interdisziplinären Hochbegabtenforschung beitragen: Wie können anhand mittelalterlicher Lebensläufe – jenseits von postmodernen Vorurteilen – fördernde und hemmende Faktoren für die Begabungsentwicklung für alle Altersstufen nachgewiesen werden? Wie kann aus diesen Ergebnissen eine Spiritualität für Frauen je nach Religion und geistlichem

 Dieser Ausdruck wurde von mir für das postmoderne Kontrastphänomen zu einem „gesunkenen Kulturgut“ gewählt. Vgl. die Beobachtungen bei Ludolf Kuchenbuch, Reflexive Mediävistik. TextusOpus-Feudalismus, Campus Historische Studien  (Frankfurt: Campus, ),  f.

8.3 Heutige Lebenstheologie

363

Stand entwickelt werden, die die Begabungsförderung nicht um falsch verstandener religiöser Werte willen „opfert“? Denn Hildegard kann auch als Beispiel des Durchbruchs von Begabung, Kreativität und Produktivität in der Lebensmitte dienen.

8.3 Heutige Lebenstheologie 17. Die moderne Lebenstheologie befindet sich, anders als die Lebensphilosophie, in einem noch experimentellen Stadium. Davon zeugen einige programmatische Aufsätze und Monographien. 18. Tragfähig ist der Ausgangspunkt von der Fülle des Lebens nach Joh 10,10. 19. Es fehlt jedoch die durchdachte Zusammenführung jener pleromatischen Theologie mit der kenotischen. Aspekte der Staurologie und der Theodizee werden eher ausgeblendet. 20. Zum einen mangelt es an einer argumentativ überzeugenden Vernetzung mit den klassischen Traktaten der systematischen Theologie. 21. Zum anderen wird im Ausgang von modernen Ansätzen wie der Neophänomenologie und der Gabentheologie die Ideengeschichte vernachlässigt und nur in verkürzten Gegenpositionen dargeboten. 22. Eine Verknüpfung der Lebenstheologie mit der therapeutischen Theologie und der biographischen Theologie könnte angestrebt werden. 23. Unbeschadet der Verhaftung einer heutigen Lebenstheologie in der systematischen Theologie und der Exegese sollte sie unter hermeneutischen Prämissen wie der Subjektorientierung, der Korrelation, der Elementarisierung und der Allgemeinverständlichkeit aufbereitet werden. Lebenstheologie sollte innertheologisch interdisziplinär vorgehen. 24. Lebenstheologie wagt die Überprüfung spiritueller Ratschläge auf ihre Lebensdienlichkeit hin. Dabei warnt sie ebenso vor einer Apotheose innerweltlicher, transitorischer Lebenswerte in modernen Gesellschaften.

Epilog: Hildegards Preisung der vita laeta als Kronzeugin eines christlichen Optimismus Auffallend oft artikuliert Hildegard eine Zielvorstellung von Leben als vita leata. Hierbei handelt es nicht nur um einen Gebetswunsch, wie er im liturgischen Kontext der Symphonia als eschatologischer Ausblick erwartbar ist. Sondern diese Vorstellung eines dauerhaft heiteren, aus der Begegnung mit Gott heraus glückseligen Lebens, das anfanghaft schon innerweltlich möglich ist,¹ erwächst organisch aus dem theologischen Gesamtduktus der Lebenstheologie Hildegards. Möglicherweise ist sie von dem Hang zum Utopismus getragen, den das Mönchtum im 12. Jahrhundert pflegte.² Im Kapitel 5 haben wir anhand der grammatikalischen Befunde die dualistische Denkweise der Autorin zwischen den Facetten eines unvollkommenen und eines vollkommenen Lebens dargestellt. Freude als die affektive Tönung der Zustimmung des Subjektes zu einem Vollendungszustand, der sich infinit vertieft, gehören in der theologischen Tradition zum Vorstellungsbild der visio beata und vita beata. Darauf werden wir weiter unten in diesem Abschnitt zurück kommen. Ab der Zeit der Aufklärung werden theologiegeschichtliche Diskussionen um Eschatologie, Vorsehung, Theodizee unter dem Urteilspaar des Optimismus oder Pessimismus eingeordnet. So ist Hildegard nach dem Ergebnis unserer Untersuchung weniger als Apokalyptikerin zu bezeichnen. Vielmehr ist sie eine Kronzeugin für eine heilsoptimistische Sicht. Dies bestätigen ihre gnadentheologischen Ansätze und ihre paränetische Zuversicht, dass der Mensch aus jeder auch noch so verfahrenen Situation heraus noch den rechten Weg einschlagen kann. Daher kann man das Opus Hildegardianum unter dem Aspekt eines Bausteins für die noch zu schreibende Geschichte des christlichen Optimismus betrachten. Allerdings muss anhand des Beispiels der Begriffsverwendung bei Hildegard von Bingen bestritten werden, dass das Wertpaar Optimismus/Pessimismus in ähnlicher Weise wie für Autoren ab der Aufklärung auch für Texte in Antike und Mittelalter

 Beatae Hildegardis Causae et Curae, Liber , c. , Rarissima mediaevalia Opera latina Volumen I,, edidit Laurence Moulinier, recognovit Rainer Berndt (Berlin: Akademie, ), , Z  f: Homo enim…cum ceteris creaturis letam vitam habet.  Vgl. André Vauchez, „Der Einstieg der Laien in das religiöse Leben,“ in Machtfülle des Papsttums ( – ), Bd., Die Geschichte des Christentums. Religion, Politik, Kultur, Hg. André Vauchez, deutsche Ausgabe bearbeitet und herausgegeben von Odilo Engels, und Mitarbeit von Georgios Makris und Luwig Vones (Freiburg im Breisgau: Herder, ), . Dabei wurde das Kloster als Ort einer antizipierten Utopie gedeutet, das die Welt der Laien in jene hinein holen könne.

Epilog

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eingesetzt werden kann. Es ist fraglich, ob die Urteile Optimismus/Pessimismus hinsichtlich der Einstellung zu innerweltlichen Lebenswerten zu fällen wären.³ Denn man möchte dann christlichen Schriftstellern, die Welt und Leiblichkeit relativieren, einen Pessimismus unterstellen. Trotz seines anthropologischen Dualismus eignet aber dem Opus Hildegardianum, wie sich an der Untersuchung ihrer Anschauung von Leben belegen lässt, ein auffallend starker, freilich eschatologisch motivierter Optimismus. Ebenso bedeutet es bereits eine Vorentscheidung in der Begriffsverwendung, wenn man den Optimismus nur von seinem relativen Gegensatz des Pessimismus beurteilt, wie es zum Beispiel Karl Rahner formuliert: Innerhalb dieser letzten Freiheit und sogar Heiterkeit dessen, für den Nacht und Tag, Sieg und Untergang nochmals von einer überwesentlichen Wirklichkeit Gottes, der für uns ist, umfangen sind, scheint alles beim alten zu bleiben.⁴

Denn es würde dem Inhalt des Begriffes des Optimismus widerstreiten, wenn man ihn in einen absoluten Gegensatz zum Pessimismus setzt. Dies gilt bereits auf rein philosophischer Ebene. Bei seiner Anwendung in Hinblick auf religiöse Einstellungen wird die Eignung jenes binären Codes als Bewertungskriterium noch fragwürdiger. Denn die Entgegenstellung einer optimistischen und einer pessimistischen Sicht auf das Leben entstammen erst der Philosophie der Aufklärung.⁵ Damit wollten die Jesuiten den Begriff des Optimismus kritisieren,⁶ wie ihn Leibnitz in seiner Gesamtsystematik denkerisch begründete. Seit ihm stellt sich eine Metaphysik des Optimismus den Fragekreisen der Theodizee, näherhin der Freiheit Gottes und der Menschen. Dem steht Hildegard noch fern, auch wenn sie mitunter Anfragen ihrer Zeitgenossen an die Wirklichkeit des Glaubens einfließen lässt und sie die Fragilität der conditio humana mittels der Metaphoriken von Wolke, Verschattung, Abyssus in ihre Gesamtsicht mit einberechnet. Sie bezeichnet als den Grund ihrer optimistischen Weltsicht die Güte Gottes, insofern sie sich als unverbrüchliches Wohlwollen den Menschen gegenüber artikuliert.⁷ Im 18. Jahrhundert beriefen sich die Jesuiten in ihrer Kritik an Leibnitz auf Thomas von Aquin. Jener hielt wie Petrus Lombardus die Möglichkeit offen, dass Gott über die faktisch ergangene Schöpfungsordnung auch anderes und besseres hätte schaffen

 So allerdings bei: Ingvild Sœlid Gilhus, „Optimismus/Pessimismus. I. Religionsgeschichtlich,“ in RGG :  sowie bei: Georg Zenkert,“Optimismus/Pessimismus. II. Philosophisch,“ in RGG : .  Karl Rahner, „Christlicher Pessimismus,“ in Ders., Sämtliche Werke : Anstöße systematischer Theologie. Beiträge zur Fundamentaltheologie und Dogmatik, bearbeitet von Karsten Kreutzer und Albert Raffelt (Freiburg im Breisgau: Herder, ), .  Georg Zenkert,“Optimismus/Pessimismus. II. Philosophisch,“ in RGG : .  Georg Zenkert,“Optimismus/Pessimismus. II. Philosophisch,“ in RGG : .  Vgl. Hildegard, Ep.  und Ep. : Beide Seelsorgebriefe enden mit der Zusage, dass Gott der Adressatin Leben und Liebe in Freude schenkt.

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können.⁸ Damit widersprechen sie Abälard: Für Abälard ist die Beurteilung der Schöpfung als der besten aller möglichen Welten eine denknotwendige Folgerung nicht nur auf der logischen Ebene aus dem Argumentationsprinzip des zureichenden Grundes, sondern weil Gott aus seiner Fülle heraus schöpferisch wirke.⁹ Bevor die Semantik und theologische Verortung der vita laeta aus den liturgischen Liedern der Symphonia Hildegards dargestellt werden wird, seien einige Hinweise zur theologischen Tradition dieses Zielbegriffes gegeben, auf die sich Hildegard bezieht. Kernaussagen hierzu aus der Patristik wurden im siebten Jahrhundert durch den Dialog Prognosticum futuri saeculi ¹⁰ des Julian von Toledo an das Mittelalter überliefert.¹¹ Nach heutigem Kenntnisstand ist bereits in Texten aus Qumran die Parallele des Gegensatzes von Tugend und Laster sowie von Trauer und Fröhlichkeit¹² in der Metaphorik des Kleides ausgedrückt.¹³ Im Lukasevangelium wird Freude narrativ als eine „urchristliche Handlungsanweisung“¹⁴ ausgeschildert. Wie wir gesehen haben, gestalten Irenäus von Lyon, Augustinus und Hildegard von Bingen das lukanische Grundwort der symphonia (Lk 15,25) zu einem soteriologischen Knotenpunkt aus: Als geheiltes Leben im wieder hergestellten Zusammenklang aller Dinge und Wesen in der Heilsordnung. Im Hirten des Hermas ist Freude pneumatologisch als Frucht der Geistesgaben beschrieben.¹⁵ In der Bereitschaft zur Umkehr gewinnt die Kirche neues Leben und neue Freude:¹⁶ Wie nämlich ein Bekümmerter, wenn ihn eine gute Botschaft erreicht, sofort die früheren Kümmernisse vergisst und nichts anderes erwartet als die Botschaft, die er gehört hat, und fortan gestärkt wird zum Guten und sein Geist wieder jung wird um der Freude willen, die er erfahren hat, so habt auch ihr eine Verjüngung eurer Geister erfahren, als ihr dieses Gute saht.¹⁷

 Horst Günther, „Optimismus,“ in HWP :  im Anschluss an Petrus Lombardus, Sent. I, q ., PL , ; sowie an Thomas STh I, , .  Horst Günther, „Optimismus,“ in HWP : .  Sancti Iuliani Toletanae Sedis Episcopi Opera, Pars I, CCSL CXV, Sancti Iuliani Toletanae Sedis Episcopi Opera, Pars I (Turnhout: Brepols, )  – .  Vgl. Ludwig Ott, Eschatologie. In der Scholastik, HDG IV, b, aus dem Nachlass bearbeitet von Erich Naab (Freiburg im Breisgau: Herder, ), .  Otto Michel, „Freude,“ in RAC : .  Otto Michel, „Freude,“ in RAC : .  Anke Inselmann, Die Freude im Lukasevangelium. Ein Beitrag zur psychologischen Exegese, Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament . Reihe  (Tübingen: Mohr Siebeck, ), .  Otto Michel, „Freude,“ in RAC : .  Otto Michel, „Freude,“ in RAC : .  Hirt des Hermas,vis III,  f in der Übersetzung von Körtner/ Leutzsch: Schriften des Urchristentums. Dritter Teil: Papiasfragmente. Hirt des Hermas, eingeleitet, herausgegeben, übertragen und erläutert von Ulrich Heinz Jürgen Körtner und Martin Leutzsch (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ), .

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Dieses Grundprogramm aus dem Hirten des Hermas entfaltet Hildegard intensiv. In der spätantiken Philosophie, zum Beispiel bei Plotin, ist eine Lebenskunst, die nach dauerhafter Freude sucht, ontologisch verankert. Daher werden affektive Erlebnisqualitäten von eudaimonia nur indirekt angezielt. In der Lebenshaltung der Selbstsorge tröstet sich der Mensch im bios theoretikos,¹⁸ dass er trotz aktueller Leiden trotzdem nicht von dem Vollmaß der ontologisch gegebenen Glückseligkeit entfernt ist.¹⁹ Augustinus stellt Freude als existentielle Ausdrucksform der vita beata in ihrem Zusammenhang mit dem ordo amoris dar,²⁰ der zwischen den Gütern²¹ zur unvermeidlichen Nutznießung (uti) und denen, die eine gottgewollte und gottbezogene Freude schenken (frui), unterscheidet. Dabei sei echte Freude, verum gaudium, nicht innerweltlich zu erlangen.²² Denn Gott, der in sich selbst das Höchstmaß an Freude ist,²³ wird für den Menschen der Hauptgrund zur Freude.²⁴ In der Reflexion des eigenen Lebens und im Gebet wird Gott nämlich als das eigentliche Leben des Menschen erkannt, nicht nur als Spender der Lebenskraft, sondern als Lebensbegleiter und Lebensinhalt: „Vita mea“ ist in den Confessiones Augustins eine auffallend häufige Apostrophierung Gottes.²⁵ Insofern gehört es zu den Grundergebnissen dieser Dissertation, dass es lohnend wäre, noch weitaus intensiver den augustinischen Wurzelgrund des theologischen Panoramas Hildegards zu erforschen! Ihr Visionswerk könnte als eine fiktive Antwort der vox Dei aufgefasst werden, die Augustinus in den confessiones anruft. Jene Erkenntnis, die sich gegen Ende meines Untersuchungsganges verdichtete, inspiriert zu weiteren inskünftigen Studia Hildegardiana. Honorius von Autun popularisierte in seinem Elucidarium die Auffassung, dass der Himmel als geistliche Freude vorstellbar sei.²⁶ Dies wird auch in den Carmina der Symphonia Hildegards besungen:

 Vgl. Gerd van Riel, Pleasure and the Good Life. Plato, Aristotle, and the Neoplatonists, Philosophia Antiqua LXXXV (Leiden: Brill, ), .  So die Interpretation von Verena Olejniczak Lobsien, „Glückseligkeit:,Enjoy the world!‘. Poetischplatonische Lebenskunst im . Jahrhundert,“ in Pathos, Affekt, Emotion. Transformationen der Antike, Hg. Martin Harbsmeier and Sebastian Möckel (Frankfurt am Main: Suhrkamp, ), .  Otto Michel, „Freude,“ in RAC : .  Zur Auffassung Augustins vom Gut, dass Glückseligkeit verspricht, dem bonum beatificum vgl. Etienne Gilson, The Christian Philosophy of Saint Augustine, Übers. L.E.M. Lynch (London: Victor Gollancz, ), .  Otto Michel, „Freude,“ in RAC : .  Otto Michel, „Freude,“ in RAC : .  Otto Michel, „Freude,“ in RAC : .  Augustinus, conf. VII, I, , CCM , , Z : vita vitae mea. Ähnlich conf. XII, I,  et passim.  Honorius von Autun, Elucidarium III, . Vgl. Ludwig Ott, Eschatologie. In der Scholastik, HDG IV, b, aus dem Nachlass bearbeitet von Erich Naab (Freiburg im Breisgau: Herder, ), .

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Epilog

Entsprechend der zwei Grundrichtungen der Gebetssprache wird das Leben in Fülle entweder preisend als laudabilis vita ²⁷ angerufen oder von Gott erbeten.²⁸ Hierbei soll unser Augenmerk darauf liegen, durch welche Begleitsemantiken Hildegard ihr poetisches Konzept von vita laeta illustriert: aedificare vitam, ²⁹ aedificans vitam in aurea civitate, ³⁰ fons viventis aquae, ³¹ fons vivus,³² flamma vitae, ³³ vita vitae, ³⁴ lorica vita, ³⁵ alia vita, ³⁶ vita perspicua, ³⁷ dulcis vita, ³⁸ ressurectio vitae, ³⁹ sonus, vita ac creatrix, ⁴⁰ in omnibus vita, ⁴¹ fortissima vita, ⁴² gaudium vitae ⁴³

In dieser Auflistung begegnen lauter Wendungen, die uns aus der Analyse des Lebensbegriffes im Visionswerk Hildegards bekannt sind. Es lässt sich also keine Differenz ihrer lebenstheologischen Anschauungen zwischen den Visiones mit theologischem Anspruch und dem poetischen, liturgischen Textcorpus der Symphonia feststellen. Ein Aspekt ist jedoch in den Carmina weitaus stärker ausgeprägt: Die Freude. Hildegard vertont in ihren rund 73 Liedern mindestens 22 mal die Leitworte gaudium und gaudere. Freude ist also der Grundton der Symphonia und so der Grundton des Lebens, der mit den Carmina Hildegards in der Liturgie gefeiert werden soll. So konnte durch die Textanalysen in dieser Dissertation gezeigt werden, wie Hildegard jenseits der von ihr eingeforderten asketischen Konsequenz in der Umkehr zu Gott ein Bild des Lebens zeichnet, das ein „heiteres Vertrauen“⁴⁴ atmet:

 Hildegard, Carmen , in: Hildegard von Bingen, Symphonia. Gedichte und Gesänge, lateinisch und deutsch, von Walter Berschin and Heinrich Schipperges (Gerlingen: Lambert Schneider, ), .  Hildegard, Carmen , : et perduc nos in leticiam salutis.  Hildegard, Carmen , .  Hildegard, Carmen , .  Hildegard, Carmen , .  Hildegard, Carmen , .  Hildegard, Carmen , .  Hildegard, Carmen , . Zur Interpretation dieses Gedichtes unter dem Aspekt der Freude vgl. Rebecca Milena Fuchs, „Heiliger Geist. Dichtung. Lebenswelt. Überlegungen und Beispiele aus der Lyrik zu des ,Lebens Leben Geist‘,“ MThZ  ():  f.  Hildegard, Carmen , .  Hildegard, Carmen , .  Hildegard, Carmen , .  Hildegard, Carmen , .  Hildegard, Carmen , .  Hildegard, Carmen , .  Hildegard, Carmen , .  Hildegard, Carmen , .  Hildegard, Carmen , .  Emilio Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften (Tübingen: J.C.B. Mohr, ), .

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Lob der Dreieinigkeit, die der Klang und das Leben und die Schöpferin von allem in seinem Leben ist! Sie ist das Lob der Engelsschar und der wunderbare Glanz der verborgenen Geheimnisse, die den Menschen unbekannt sind. Sie ist in allem das Leben!⁴⁵

 Hildegard, Carmen , : laus trinitati/ quae sonus et vita/ ac creatrix omnium/ in vita ipsorum est/ et quae laus angelicae turbae/ et mirus splendor archanorum/ quae hominibus ignota sunt/ est, et quae in omnibus/ vita est! (Übersetzung von mir).

Literaturverzeichnis 1 Quellentexte von Hildegard S. Hildegardus abbatissae Opera Omnia. PL 197, ad optimorum librorum fidem edita, Physicae textum primus integre publici juris fecit D. Carolus Daremberg. Paris: Garnier, 1855. Hildegardis Scivias. CCM 43, edidit Adelgundis Führkötter, collaborante Angela Carlevaris. Turnhout: Brepols, 1978. Hildegardis Bingensis Liber Vitae Meritorum. CCM 90, edidit Angela Carlevaris. Turnhout: Brepols, 1995. HIldegardus Bingensis Liber Divinorum Operum. CCM 92, cura et studio Albert Derolez et Peter Dronke. Turnhout: Brepols, 1996. Beatae Hildegardis Causae et Curae. Rarissima mediaevalia Opera Latina Volumen I, edidit Laurence Moulinier, recognovit Rainer Berndt. Berlin: Akademie 2003. Hildegardis Bingensis Epistolarium. Pars Prima: I–XC. CCM 91, edidit Lieven van Acker. Turnhout: Brepols, 1991. Hildegardis Bingensis Epistolarium. Pars Secunda: XCI–CCLr. CCM 91 A, edidit Lieven van Acker. Turnhout: Brepols, 1991. Hildegardis Bingensis Epistolarium. Pars Tertia: CCLI–CCCXC. CCM 91 B, edidit Lieven van Acker, and Monika Klaes-Hachmöller. Turnhout: Brepols, 2001. Hildegardis Bingensis Opera Minora. CCM 226, edidit Peter Dronke, Christopher P. Evans, Hugh Feiss, Beverly Mayne Kienzle, Carolyn A. Muessig, and Barbara Newmann. Turnhout: Brepols, 2007. Hildegard von Bingen. Symphonia. Gedichte und Gesänge, lateinisch und deutsch, hg. v. und übers. v. Walter Berschin, and Heinrich Schipperges. Gerlingen: Lambert Schneider, 1995. Vita Sanctae Hildegardis. Canonizatio Sanctae Hildegardis. Fontes Christiani 29, übers. und eingeleitet von Monika Klaes. Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1998. Thesaurus Hildegardis Bingensis „visionis munus“: Scivias, Liber vitae meritorum, Liber divinorum operum. Corpus Christianoum. Thesaurus, curante CETEDOC, Universitas Catholica Lovanensis, Lovanii Novi. Turnhout: Brepols 1998. La obra de Gebenón de Eberbach. Edición crítica de José Carlos Santos Paz. Firenze: Sismel. Edzioni del Galluzo, 2004.

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Index Rerum abyssus 221, 223, 332, 365 amplexus 164 f, 237, 272, 295, 347, 359 Anthropodizee 81 ascensus 126, 190, 358; s.a. elevari Aufstieg s. elevari Autobiographie 33 – 45, 173, 189, 333 Ausweitung s. dilatare biographische Theologie 73, 288, 363 Bild im Bild 71, 82, 86, 112, 306 Bildtheologie 72, 305 Buch im Buch 173, 190, 213, 306 causae primordiales 325 – 331, 333, 342, 344, 355 cor s. Herz Darstellungsstrategie 35, 43, 73, 169, 240, 305; s.a. literarische Strategie dilatare 84, 89, 103, 126, 212, 306 Ehre s. honestas/honor Entgrenzung s. dilatare elevari 101, 231; s. a. ascensus fiktionaler Raum 25, 46, 56, 58, 78, 89, 91, 103, 300; s.a. innerer Raum, Verinnerlichung fragilitas 101, 223, 357 Freude (= gaudium, felicitas, laetitia, vita laeta) 64, 74, 96, 100, 103, 107, 120, 122, 140, 144, 172, 195 f., 201, 206, 227, 236 – 238, 248, 255, 272, 307 f., 336 f., 347, 349 f., 353 – 355, 357, 364, 366 – 368 felicitas s. Freude fons vitae s. Quelle Fülle (= plenitudo, superabundanter) 79, 95, 110, 137, 143 – 147, 149, 151, 170 f., 184 – 186, 205 f, 217, 220, 235, 242, 272, 309, 340, 348 f., 357, 363 f. gaudium s. Freude Gnade 80 – 92, 94, 110, 120 – 122, 127 – 144, 149, 169, 205, 217, 220, 232 f., 238, 245, 312, 337 f. gratia s. Gnade

heil s. integritas Heiliger Geist (= spiritus sanctus) 74 f., 79, 81, 91, 94, 97, 121, 129, 132, 136 f., 142 f., 149, 160, 181, 195, 217, 221 f., 229 – 233, 236, 241, 244 – 247, 253 f., 291, 306 f.; s.a. pneumatische Skripturalität; s.a. regeneratio spiritus et aquae Heilszusage s. promissio Heilung 146, 163, 190, 252, 272, 284, 366 Herz 76, 78 – 82, 87, 105, 107, 111, 122, 126, 137, 142, 148, 150 f., 172, 179, 183 f., 186, 191, 208, 222, 235, 274, 279, 295, 358; s.a. lingua/locutio cordis Herzinnenraum s. Verinnerlichung honestas/honor 98, 113, 116 f., 136, 162 f., 191, 219, 238, 243, 272 Indumentenchristologie 190, 193 – 219, 251 f., 305 innerer Raum 36, 56, 58; s.a. fiktionaler/ literarischer Raum; s.a. Verinnerlichung inneres Wort (= locutio interior, verbum internum) 261, 266, 268 – 270 Innerlichkeit s. Verinnerlichung integritas 116, 118, 122, 135, 147, 150 f., 166, 170 f., 178, 180, 185 f., 220, 272, 357 intellectus 138, 164, 194, 299, 321 laetitia s. Freude lebendiges Licht s. lux vivens Lebendigkeit 69, 313, 320, 343, 350, 356 Lebensfülle s. Fülle Lebensqualität 162, 227, 339 Lebenstheologie 304 – 306, 317, 330, 336, 339 f, 345, 363 Leere 74, 128, 137, 147, 190, 201 – 204, 221, 223, 226 f., 248 f. lingua cordis 265, 268 literarisches Selbstverständnis 69, 71, 314 locutio cordis s. lingua cordis lingua ignota 58 f., 265 literarischer Raum s. fiktionaler Raum litterae ignotae s. lingua ignota locus vacuus s. Leere locutio interior s. inneres Wort lux vivens 40, 53, 69 – 71, 74, 92, 149

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Index Rerum

medulla 62, 207, 300 mysticus 51 f., 63, 126, 294, 306 Mystik 85, 108, 141, 237, 283, 290 f., 347 ni(c)hil s. Nichts Nichts (= ni(c)hil) 202 – 205, 223, 344 nubes s. Wolke Originalität

11, 266, 300, 360

Pantheismus 167, 169, 209, 211, 280, 322 f., 341, 359, 361 participatio 298, 309, 312, 321 f., 324 f., 341 plenitudo s. Fülle pneumatische Skripturalität 245, 254 f., 292, 356 Populartheologie 293, 301 – 303, 306, 362 promissio 80, 170 f., 186 prophetia 35 – 37, 60, 66, 68, 154, 156, 217 f., 220 – 222, 230, 241, 244, 246 – 248, 284, 290 – 293, 306 prophetische Passiologie 63, 239 f., 290, 356 Quelle (des Lebens) 72, 78, 82 f., 96 f., 103, 109 – 111, 126, 142, 144 – 148, 160 f., 175, 209, 229, 277 f., 280, 304, 307 f., 333, 341, 352 – 355, 357 – 359, 368; s.a. regeneratio spiritus et aquae rectitudo 98, 113, 116 f., 119, 214, 129, 239, 243 regeneratio spiritus et aquae 72, 150, 161 – 164, 238, 253, 278; s.a. Quelle Renarratisierung 113, 139, 162, 174, 219, 239, 243, 301, 306, 323, 328, 333, 356 Schatten Schmerz

s. umbra 239 f., 242, 249, 255

Seeleninnenraum s. Verinnerlichung sigillum 191, 296, 306 significatio 60 f., 167, 174 f., 179, 185, 191 f., 224, 260 f., 279, 296 speculum 69 – 71, 82, 109, 167 f., 175 f., 179 f., 186, 195, 198 – 200, 203, 224, 242, 254, 298, 333 Spiegel/ung s. speculum Spiegel im Spiegel 72, 168, 192, 306 spiritus sanctus s. Heiliger Geist spiritu-somatisch 196, 356 Stimme s. vox superabundanter s. Fülle Symbol des Symbols 251, 298 f., 305 f., 333 Symbolismus s. Symboltheologie Symboltheologie 48 f., 54, 165, 290, 295, 297 – 299, 301, 333 tactus 102, 122, 134 Tiefenperspektive 86, 174, 305 Teilhabe s. participatio Transzendentalpoesie 259 Überfluß s. Fülle umbra 52, 70, 189, 223, 332 verbum internum s. inneres Wort Verheißung s. promissio Verinnerlichung 25, 56, 58, 79, 84, 91, 100, 111, 129, 141, 178, 214, 261 f., 279, 306, 316, 318; s.a. Herz; s.a. innerer Raum, fiktionaler/literarischer Raum vita integra s. integritas vita laeta s. Freude vox 54, 160, 167, 169, 186, 199, 265, 268, 271, 299, 306, 351, 359, 367 Wolke

52, 70, 190, 333, 365