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German Pages 388 [389] Year 1991
Zur Aneignungsfunktion der Kunst
Zur Aneignungsfunktion der Kunst Herausgegeben von Peter H. Feist, Kurt Faustmann und Michael Franz (Institut für Ästhetik und Kunstwissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR)
Akademie-Verlag Berlin 1990
Autoren: Udo Bartsch, Peter H. Feist, Michael Franz, Wolfgang Gersch, Andreas Rotte, Karl-Heinz Mauß, Thomas Meyer, Konrad Niemann, Frank Schneider, Isabella Sladek, Doris Stockmann, Gerhard Wagner, Ute Wollny
Endredaktion: Peter H. Feist, Michael Franz, Frank Schneider, Isabella Sladek
ISBN 3-05-000760-5
Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, Leipziger Str. 3-4, Berlin, DDR -1086 © Akademie-Verlag Berlin 1990 Lizenznummer: 202 100/20/90 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: VEB Druckerei »G. W. Leibniz«, Gräfenhainichen Einbandgestaltung: Ralf Michaelis (Bei der abgebildeten Plastik handelt es sich um die „Große Neeberger Figur" von Wieland Förster - Foto: Roland Dreßler) LSV 8111 Bestellnummer: 754 958 6 (9147) 02500
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
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KAPITEL I
Aneignung - Begriff und Prozeß (Michael Franz) Aneignung eines Kunstwerks. Beispiel (Peter H. Feist) 15 Vom Kunstwerk zum Kunstprozeß 21 Aneignung als Tertium comparationis des weiten Begriffs der Produktion 22 Zur Genesis des Aneignungsbegriffs 25 Die historische Dialektik von Aneignung und Entfremdung 31 Zur weltanschaulichen Dimension des Aneignungsbegriffs 33 Kunst als Organ der historischen Bildung der Sinne und als Weise humaner Sinnbildung 38 Die Aneignungsmission der Arbeiterklasse - das humanistische Programm der „Deutschen Ideologie" 41 Exkurs: Zur einzelwissenschaftlichen Differenzierung des allgemeinen Aneignungsbegriffs 50 Die Kunst im Ensemble der geistigen Aneignungsweisen 53 Exkurs: Gesichtspunkte der Aneignung im Poststrukturalismus Fallstudien zur „Wissensarchäologie" von Michel Foucault und zur Diskurs-Konzeption von Julia Kristeva 59 Der Aneignungsbegriff in der DDR-Literaturwissenschaft 68 Die Aneignungsfunktion der Künste 72 KAPITEL II
Aneignung als Gestaltung (Frank Schneider) Material und Technik - elementare Bestimmungen künstlerischer Gestaltung 81 Realität in den Formen der Kunst 90 Transfigurationen gestalteter Wirklichkeit 93 Die künstlerisch-tätige Subjektivität 103 Maßstäbe künstlerischer Wirkimg 112
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KAPITEL III
Aneignung in der Kommunikation (Doris Stockmann) Zur Problemstellung (Michael Franz) 127 Kommunikationsbegriff und Zeichenbegriff in verbaler und nichtverbaler Kommunikation 134 Sagen und Zeigen, Agieren und Reagieren als Funktionen kommunikativer Strukturen und semiotischer Prozesse in den Künsten 144 Grundtypen und Beispiele musikalischer Kommunikation
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KAPITEL I V
Aneignung und Verkehr Kunst als eine Form des menschlichen Verkehrs (Michael Franz/Konrad Niemann) 167 Die Kunstausstellung (Peter H. Feist) 174 Theatrales Handeln als Verkehrsform (Andreas Kotte) 181 Probleme einer künstlerischen Verkehrsform: Das Risiko des Neuen im Film (Wolfgang Gersch) 189 KAPITEL V
Neue Medien - neue Weisen der Aneignung Wider den ästhetischen Agnostizismus (Michael Franz) 203 „Passagen" oder Durchblicke durch das 19. Jahrhundert (Gerhard Wagner) 228 Zur topischen Aneignungsmethode des Graphic Design (Isabella Sladek) 235 Zu einigen Funktionsaspekten von Rockmusik (Thomas Meyer)
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KAPITEL V I
Dispositionen und Motive - Kunstaneignung und Lebensaneignung (Karl-Heinz Mauß) Zur Problemstellung 275 Dispositionelle Voraussetzungen individuellen Aneignungsverhaltens 276 Einflüsse auf Wahrnehmungsweisen 281 Einflüsse auf Erlebnisweisen 286 Die Subjektposition des Rezipienten 2 91 Gestaltungsfelder für den Rezipienten: „Kunstwerke in Bewegung" und künstlerische Spiele 295 Die Sinnfrage als Reflexionszentrum künstlerischer Aneignung und der Aneignung von Kunst: Einflüsse auf die Motivationsbildung (Michael Franz) 300
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Aitmatows Roman „Der Tag zieht den Jahrhundertweg" - Fragen nach inneren Antrieben verantwortlichen Handelns heute (Udo Bartsch) 311 KAPITEL V I I
Erbe - Tradition - Aneignung. Neues Nachdenken über ein altes Thema (Gerhard Wagner) Ein „traditioneller" Gegenstand 321 Aneignung von Erbe und Traditionen - Erbe und Traditionen von Aneignungen. Zur Begrifflichkeit 324 Differenzierung nach Aneignungsebenen 327 Medientheoretische Anmerkungen 332 Bündnispolitische Aspekte 336 Kunstpraktische Erbe- und Traditionsaneignung - Integration und Modifikation. Versuch einer Systematisierung 340 Produktives Erben in der Musik. Ein Gespräch über Bäume (Ute Wollny) 344 Anmerkungen 355 Personenregister 381
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Vorbemerkung
Die vorliegende Monographie ist in interdisziplinärer Zusammenarbeit von Ästhetikern, Kunstwissenschaftlern, Musikwissenschaftlern und je einem Theaterwissenschaftler, Filmwissenschaftler und Psychologen entstanden. Sie widerspiegelt die gemeinsame Suche nach einer integrativ gerichteten Gesamtkonzeption des Kunstprozesses. Viele Anregungen und Vorleistungen wurden aufgegriffen und ausgewertet. Gewagt wurde aber vor allem der Versuch, die vielfach auseinanderstrebenden Methoden und Diskurse in den kunstwissenschaftlichen Disziplinen konzeptionell zusammenzuführen: im aneignungstheoretischen Ansatz der materialistischen Dialektik. Ohne die gegenstandsbedingte Verschiedenheit besonderer Erkenntnisinteressen bestreiten zu wollen, plädieren wir für ein problembewußtes integratives Denken in Ästhetik und Kunstwissenschaften. Warum halten wir den Zeitpunkt für gekommen, nach Ansatzpunkten für integratives Denken zu suchen? Die Gründe liegen in erster Linie im historischen Entwicklungsstand des gesellschaftlichen Kunstprozesses unter den internationalen Bedingungen von Massenkommunikation und Kulturindustrie, in den veränderten Ensemblebeziehungen zwischen „klassischen" und neuartigen Kunstgattungen und -formen im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit und auch Produzierbarkeit von Kunstwerken und ästhetischen Produkten ganz verschiedener Art. Im Ergebnis sozial- und kulturhistorischer Vergesellschaftungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert haben sich auch die allgemeinen Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Kunst gewandelt. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik, die Entfaltung der industriellen Produktivkräfte, die Umgestaltung der allgemeinen Lebensbedingungen durch Urbanisierung und Massenverkehrsmittel, die Internationalisierung vielfältiger ökonomischer, sozialer und kul-
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tureller Beziehungen haben ein Gewebe von Infrastrukturen geschaffen, die nicht nur für die materielle, sondern auch für die künstlerische Produktion unerläßlich geworden sind. Hieran zeigt sich, daß die gegenstandsspezifischen Gründe für integratives Denken in Ästhetik und Kunstwissenschaften von umfassenden gesellschaftlich-geschichtlichen Gründen überlagert werden. Das bestätigt sich insbesondere angesichts der globalen politischen, wirtschaftlichen, ökologischen und humanitären Probleme, die sich in der wichtigsten menschheitsgeschichtlichen Aufgabe am Ende des 20. Jahrhunderts, der schrittweisen Abschaffung des Krieges als Mittel der Politik, unausweichlich verdichtet haben. Diese Probleme können nur gemeinsam, durch internationale Kooperation, d. h., durch rationale wechselseitige Abwägung jeweils systemimmanenter und systemübergreifender Interessen einer Lösung näher gebracht werden. Hier zeichnen sich zugleich neuartige Rahmenbedingungen und Handlungsfelder für einen friedlichen Wettstreit der Systeme ab, der die Menschheit insgesamt voranbringt. Integratives Denken wird aber auch durch spezifische Entwicklungsprobleme des Sozialismus herausgefordert. Das Konzept des entwickelten Sozialismus entwirft das Bild einer sozialistischen Gesellschaft, die sich auf eigenen Grundlagen immer reicher an Beziehungen und Bestimmungen entfaltet. Der entwickelte Sozialismus ist eine Gesellschaft mit spezifischer, unverwechselbarer Qualität, ein qualitativ bestimmter sozialer Organismus, eine konkrete gesellschaftliche Totalität. Zur Totalität bildet sich nach Marx eine Gesellschaft aber erst, wenn sie einen bestimmten Reifegrad erreicht hat. Ihre verschiedenen Strukturbereiche müssen soweit entwickelt sein, daß sie eine Wechselwirkung aufrechterhalten, in der „jedes Gesetzte zugleich Voraussetzung"1 ist. Das Werden des Sozialismus zu einer konkreten gesellschaftlichen Totalität, zu einem „organischen System" (Marx), vollzieht sich nicht automatisch. Es handelt sich vielmehr um eine gesamtgesellschaftliche Gestaltungsaufgabe im vollen begrifflichen Inhalt des Wortes.2 Als ein Prozeß „tiefgreifender politischer, ökonomischer, sozialer und geistig-kultureller Wandlungen"3 erstreckt sich die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft über einen längeren historischen Zeitraum. Diese Evolution unterliegt der Wechselwirkung von Stabilität und Dynamik, die auch bestimmte revolutionäre Entwicklungsschübe einschließt. 10
Die entwickelte sozialistische Gesellschaft ist weder eine homogene Gesellschaft, noch verlieren dialektische Widersprüche ihre Triebkraftfunktion. 4 Aus dieser übergreifenden gesellschaftspolitischen Strategie ergeben sich auch qualitativ neue Anforderungen an die Gesellschaftswissenschaften, inbegriffen Ästhetik und Kunstwissenschaften, die in dieser Hinsicht keine Sonderstellung einnehmen. Sie haben den gesellschaftlichen Auftrag, „die Forschungen zu Entwicklungstendenzen, Gesetzmäßigkeiten und Triebkräften des Sozialismus als einheitlichen sozialen Organismus noch umfassender und tiefgründiger zu betreiben".5 Hierin liegt vor allem die Aufforderung zum integrativen Denken auf der Grundlage der materialistischen Dialektik. Aus dem Werden des Sozialismus zur Totalität ist der Kunstprozeß nicht herausgenommen. Die alte Frage nach der Stellung der Künste im gesellschaftlichen Ganzen muß neu gestellt werden - mit einem nüchtern prüfenden Blick auf die vielfältigen Differenzierungsprozesse in unserer Gesellschaft, in denen sich ihr neuer Beziehungsreichtum herstellt; auf die evidenten und latenten Vermittlungsprobleme und Widersprüche im gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit Kunst, in dem das Tatsächliche nicht immer dem Erreichbaren entspricht; auf die jeweilige Spezifik künstlerischer Gestaltungsleistungen im Ensemble sehr verschiedenartiger Kunstgattungen und Kunstformen, die in ihren Wirkungsmöglichkeiten weder über- noch unterschätzt werden dürfen. Integratives Denken ist keine Alternative zum dialektischen Denken, im Gegenteil. Diesem wird vielmehr eine Integrationsleistung abverlangt, die seine analytische Leistungsfähigkeit voraussetzt. Das gilt auch für die Untersuchung des Kunstprozesses. Integratives Denken heißt nicht, die Augen zu verschließen vor den Divergenzen und Widersprüchen, die sich im Kunstprozeß unter den gegenwärtigen sozial-kulturellen Voraussetzungen ausgeprägt haben. Gerade weil in der Vergangenheit zu unbedenklich von der Einheit der verschiedenen Momente im Kunstprozeß ausgegangen wurde, hat sich ein Erkenntnisinteresse an den Unterschieden und Gegensätzen entwickelt. Es hat sich in verschiedene Forschungsrichtungen verzweigt, die am Ende selber zu divergieren begannen (Kunstanalyse, Soziologie der Bedürfnisse, die Theorie der Institutionen, Rezeptionsforschung) . In wechselnden Blickrichtungen kamen die Divergenzen und Widersprüche im Kunstprozeß zur Sprache - zwischen „Aneignung von 11
Welt in der Kunst" und „Aneignung von Kunst in der Welt"6, zwischen Wertbildung in der künstlerischen Gestaltung und im Umgang mit Kunst, zwischen künstlerischen „Texten" und kulturellen Kontexten, zwischen „ästhetisch-menschlichem Gebrauchswert" und „ökonomisch-verlegerischem Tauschwert"7, zwischen differenziertem Kunstanspruch und universellem Unterhaltungsbedürfnis. Doch so notwendig es ist, die Spezifik der einzelnen Seiten des Kunstprozesses in ihrer Verschiedenheit herauszuarbeiten, so unverzichtbar ist es zugleich, den Gesichtspunkt der Einheit festzuhalten, um in aller Differenziertheit zu erfassen, in welchem Maß der Kunstprozeß im Widerstreit seiner strukturbildenden Momente ein Ganzes bildet und ins gesellschaftliche Ganze hineinwirkt. Wir halten den Gedanken und vor allem die praktizierte Tätigkeit der Aneignung, deren materielle Grundform die gesellschaftliche Naturaneignung ist, für das Tertium comparationis, von dem aus die verschiedenartigen gesellschaftlichen Produktionen funktional miteinander verbunden sind. In diesem Sinne fragen wir nicht nur wie bisher üblich nach den Aneignungsleistungen der Künste, sondern nach ihrer Funktion im Gesamtprozeß der Aneignung der Welt durch die gesellschaftlich tätigen Individuen, d. h., wir fragen nach der Aneignungsfunktion der Künste. Hierbei handelt es sich nicht um eine Konstante, die, allen geschichtlichen Wandlungen entzogen, in gleichbleibender Weise für alle Werke aller Epochen gälte. Sie ist die Kernbestimmung des Kunstprozesses in seiner funktionalen Verflechtung mit dem gesellschaftlichen Gesamtprozeß. Ihre historische Kontinuität und Diskontinuität ergeben sich aus der Dialektik von Varianz und Invarianz. Bestimmtheit und Dynamik der Aneignungsfunktion hängen von der jeweiligen historisch-konkreten Totalität gesellschaftlicher und individüeller Lebensaneignung ab, von ihrer Einheit und Gegensätzlichkeit, von Anforderungen und Interessen, von Möglichkeiten und Grenzen. Wir haben zunächst nicht mehr vermocht, als einige allgemeine, elementare, historisch variable Grundbestimmungen und -beziehungen des Aneignungsvorgangs in den Künsten und im Umgang mit Kunst herauszuarbeiten und in systematischer Absicht aufzubereiten: Gestaltung, Kommunikation, Dispositionsentwicklung, Traditionsbeziehungen erweisen sich als zentrale Bestimmungsstücke der aneignungstheoretischen Analyse des Kunstprozesses, denen wir jeweils in unterschiedlicher Weise wertbildende und abbildende 12
Tätigkeiten zugeordnet haben. Auf Wertbildung und Abbildung haben wir uns jedoch nicht in gleicher Weise konzentriert, da hierzu in Arbeiten wie „Wahrheit in der Kunst" 8 und „Ästhetik der Kunst" 9 Beiträge vorliegen, über deren Ergebnisse wir derzeit nicht hinausgehen konnten. Wir beanspruchen daher auch nicht, bereits das Totum aller wesentlichen Bestimmungsstücke des Aneignungsvorgangs in den Künsten rekonstruiert zu haben. Wo es möglich war, haben wir versucht, in Fallstudien den konzeptionellen Ansatz am Gegenstand zu konkretisieren und zu historisieren. Dennoch sei die eigene Einschätzung nicht verschwiegen, daß wir uns noch mitten im Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten befinden. Das gilt auch für die Gattungsspezifik der Aneignungsfunktion im Ensemble der Künste. Das Fernziel historisch fundierter Durchführung des Aneignungskonzepts, d. h., beizutragen zu einer Kunst- bzw. Musik- oder Literaturgeschichte der Aneignung, konnte im vorliegenden Buch noch nicht ernsthaft in Angriff genommen werden. Der großen Herausforderung für die Ästhetik und Kunsttheorie der Gegenwart durch die Entwicklung der Medien und die Macht der populären Künste sind wir bei alledem nicht aus dem Weg gegangen; auch hierin bekunden wir unsere Auffassung von der Geschichtlichkeit der Aneignung. Wir haben die Frage nach der Aneignungsfunktion der Künste nicht nur auf gesellschaftlicher, sondern auch auf individueller Bezugsebene verfolgt. Darin sehen wir auch den praktischen Wert unserer Arbeit, die sich, direkt oder indirekt, zu persönlichkeits-psychologischen, unterrichtsmethodischen, kunstpolitischen und -kritischen Untersuchungen und Praktiken in Beziehung setzten läßt. Obwohl sicher noch viele Wünsche offenbleiben, sind wir davon überzeugt, daß unser theoretisches Angebot neue Forschungswege zu ebnen vermag, um das soziale Funktionieren der Künste in der Wechselwirkung von gesellschaftlicher und individueller Reproduktion analytisch-prognostisch zu bestimmen. Dabei sind wir uns dessen bewußt, daß unser Vorstoß nicht in jeder Hinsicht durch einen entsprechenden Forschungsvorlauf abgesichert ist. Wir haben Fragerichtungen heuristisch vorgezeichnet, ohne schon alle Antworten bereitzuhalten. Die Aneignungsfunktion der Künste weist eine große innere Vielfältigkeit auf; dies ergibt sich ebenso aus ihrer Geschichtlichkeit wie aus ihrer gattungsspezifischen Verschiedenheit, vor allem aber aus den unterschiedlichen Bezugsebenen, auf denen sie wirksam 13
wird: der individuellen, innergesellschaftlichen, anthropogenen Bezugsebene. Im weltanschaulichen Sinne ist ein allgemeiner Begriff der Aneignungsfunktion der Künste unbedingt erforderlich: er darf in keiner Weise in der Mannigfaltigkeit des Besonderen aufgelöst werden. Es ist aber durchaus überlegenswert, ob es nicht angebracht wäre, in den konkreten Analysen den Plural zu verwenden und von vielfältigen Aneignungsfunktionen zu sprechen, die von den Künsten in unterschiedlichen Zusammenhängen erfüllt werden. Das vorliegende Buch ist ein Anfang. Wir haben damit begonnen, das Aneignungskonzept der materialistischen Dialektik in seinem weltanschaulichen Reichtum zu erschließen und auf den Kunstprozeß anzuwenden. Damit ist das Aneignungskonzept in seiner integrativen kunsttheoretischen Potenz jedoch nicht im entferntesten abgegolten. Spezielle Nachfolgeprojekte sind erforderlich, damit sich die hierdurch angeregte Forschungsrichtung weiter profilieren kann. Über die Autoren und Herausgeber des Buches hinaus beteiligten sich an den vorbereitenden Diskussionen des Konzepts weitere Mitarbeiter des Instituts für Ästhetik und Kunstwissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR; einige arbeiteten Texte aus, die letztlich nicht mit aufgenommen werden konnten, um gegebene Grenzen des Umfangs nicht zu sprengen. Gedankt sei für diese Mitarbeit Dr. Kersten Glandien, Dr. sc. Ulrike Krenzlin, Dr. sc. Gisold Lammel. Besonderen Dank sagen wir Dr. sc. Karin Hirdina, Humboldt-Universität Berlin, und Prof. Dr. sc. Robert Weimann, Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften, 1. Vizepräsident der Akademie der Künste der DDR, für ihre kritischen und konstruktiven Hinweise. Die mühevollen Schreibarbeiten leisteten Ingeburg Berendt, Gabriele Hinz, Manuela Gehrke, Anita Koschmann. Um die sorgfältige Gestaltung der Anmerkungen kümmerte sich Irina Goschenhofer. Ihnen allen gilt der Dank von Autoren und Herausgebern.
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KAPITEL I
Aneignung - Begriff und Prozeß Aneignung eines Kunstwerks. Beispiel
Wir sehen: Eine Bronzeplastik, 3 Meter 22 cm hoch, eine stehende weibliche Aktfigur mit steil empor- und leicht nach vorn gereckten Armen darstellend. Der Kopf ist von einem dünnen, faltigen Stoff gleich einem darübergestreiften Hemd verhüllt. Die Plastik trägt den Titel „Große Neeberger Figur". Der in Berlin lebende Dresdener Bildhauer Wieland Förster schuf sie in den Jahren 1971 bis 1974. Zahlreiche Einzelheiten machen ersichtlich, daß der Bildhauer einen genau begriffenen und heftig erlebten wirklichen Frauenleib „abbildet": Sein festes, unverrückbares Da-Stehen, das energische Recken der Arme, das zarte, unsichere Spiel der feinen Hände, die sinnlichen, erotischen Reize der Schenkel, des Unterleibs, der festen Brüste, die dichten Falten der dünnen Verhüllung, die das Gesicht zum lockenden Geheimnis macht. Aber diese Figur ist eindeutig überlang, zu eng tailliert, und die schwellende, jugendliche Fülle einzelnder Wölbungen kontrastiert in „unverträglicher" Weise mit knochiger Härte und Abgezehrtheit. Erotische Anziehungskraft wird durch Erschrekkendes, wohlgefällige Schönheit durch Häßliches konterkariert. Überdeutlich hat die Kunstgestalt der zugrundeliegenden Naturform Gegensätze auf- und eingeprägt. Was kann sich der Betrachter aneignen, wenn er dieser Figur, von der mehrere Bronzegüsse existieren, in einem Museum oder anläßlich einer Ausstellung begegnet? Er kann auf die eigene Naturanschauung eines weiblichen Aktes zurückgreifen, und er kann die Plastik mit entsprechenden Konventionen vergleichen, die er in sich aufgenommen hat, indem er eigene Kunsterfahrungen zum Vergleich heranzieht und sich an Traditionen orientiert, die ihm geläufig sind. Wieland Försters Plastik existiert nicht voraussetzungslos. Jedes Kunstwerk kann nach der einleuchtenden Theorie des amerikanischen Kunsthistorikers George Kubler als ein Produkt aufgefaßt werden, in dem verschiedene Traditionslinien von sehr alten bis ganz neuen Aufgaben- oder Pro15
blemstellungen, vergleichbar mit Fäden von ganz unterschiedlicher Länge, gebündelt sind. Försters Plastik steht in einer ehrwürdigen und fast jedem Menschen unseres Kulturkreises einigermaßen vertrauten Tradition der plastischen Aktfigur, die mit den paläolithischen Fruchtbarkeitsidolen in Art der „Venus von Willendorf" beginnt - der denkbar längste „Traditionsfaden". Der Künstler stellt sich in diese Tradition zu einem Zeitpunkt, da weltweit und seit vielen Jahrzehnten bedeutende Künstler aus Gründen, denen hier nicht nachgegangen werden kann, mit dieser Tradition radikal gebrochen haben. Er hat seinerseits Gründe für dieses eigene Verhältnis zum „Erbe". Dabei bricht auch er mit tradierten Normen, mit klassischen und klassizistischen Auffassungen, die gerade für die Aktfigur schier übermächtige Gültigkeit behaupten wollen, ebenso mit Gestaltungsprinzipien der erscheinungsgetreuen Naturnähe, die für lange Abschnitte realistischer Kunstentwicklung verbindlich waren. Für ihn und für versierte Betrachter ist die Tatsache wichtig, daß die Überlängung und Auszehrung der Figur von Traditionsbeziehungen auf Bildhauer wie Wilhelm Lehmbruck und Alberto Giacometti - zwei andererseits sehr verschiedene Bildhauer - zeugen, während anderes einen Bezug zu Figuren Marino Marinis besitzt: beispielsweise das im Gegensatz zum Vorgenannten in der Figur enthaltene Element einer herausfordernden Präsentation von sinnlich anziehender Fülle, die Gespanntheit der Oberfläche über plastischen Volumina, aber auch das spezielle Standmotiv, in dem eine selbstsichere Standfestigkeit und das Preisgegeben-Sein an marternde Verletzungen eine eigentümliche Verbindung eingehen. Der verhüllte Kopf evoziert das Motiv „Hemdausziehende", das mindestens seit einer Plastik des Engländers Reginald Butler von 1956/57 durch viele Bildhauer variiert wurde ein kurzer Traditionsfaden. Försters Figur als Hemdausziehende zu verstehen, griffe aber offensichtlich viel zu kurz. Die Gebärde der Arme in Verbindung mit den verbundenen Augen löst viel eher die kunstgeschichtliche Erinnerung an zahlreiche Figuren von Flehenden und Gefangenen aus. Rezeptionsschwierigkeiten ergeben sich, die mitgewollt sind. Die Zugänglichkeit ist bewußt erschwert. Was kann den Betrachter motivieren, sich etwas Ungewohntes zu erschließen und sich dadurch emotionell und intellektuell bereichern zu lassen fernab bequemer Selbstbestätigung, unbeirrter Befestigung von Konventionen? Kann ein Kunstwerk ein Verhalten fördern, wie es auch das Leben verlangt: die Bereitschaft, sich offenzuhalten, auf Neues einzulassen, etwas dazuzulernen? 16
Als Ganzes entspricht Försters Plastik keiner geläufigen Tradition, wie das weit mehr bei der Darstellung etwa einer einfachen Stehenden, eines Liebespaares, eines Porträts oder eines Personendenkmals der Fall wäre. Der Titel der Plastik „Große Neeberger Figur" gibt keine Hilfe, ihren Zweck und Sinn zu verstehen. Er ist nur nach zusätzlicher Information durch den Autor verständlich: „Drei betäubend stille, heiße Sommertage lag ich auf einer Sandnarbe im Schilf, bei Neeberg, am Bodden. Aus glattem, wellenlosem Wasser stiegen sanfte Wiesenhügel... Mit der Schärfe eines Traumbildes sah ich, sobald die Hügel mir ins Blickfeld traten, eine hochragende, zwischen Erde und Himmel gespannte Skulptur stehen: als ungebrochene Gerade, die lediglich in Kopfhöhe einen horizontalen Gewandakzent besaß, der einem faserigen Wolkenzug glich. Der Eindruck war so nachhaltig in mir, daß er sich in der Großen Neeberger Figur niederschlug."1 Der Titel verweist also auf ganz Privates, Biographisches, auf die Zufälligkeit eines winzigen Ortes an der Ostseeküste, der zur Entspannung aufgesucht wurde, einer Entspannung, in der die gestaltschaffende Phantasie des Künstlers, wie im Traum, weiterarbeitete. Der Künstler unterstützt die Interpretation des Bildwerks nicht durch das Wort, wie es etwa bei Aktfiguren Aristide Maillols der Fall war, denen Bezeichnungen wie „Die Nacht", „Das Mittelmeer", „Die gefesselte Aktion", „Harmonie" oder „Der Fluß" mitgegeben wurden. Förster vertraut ausschließlich auf das Bild als Mittel der Kommunikation. Das angeführte Selbstzeugnis des Bildhauers benennt außerdem nur eine Formvorstellung: die vertikal ausgespannte, ungebrochen gerade Figur mit einer horizontalen Durchkreuzung in Kopfhöhe. Das Wort „nur" darf nicht verdecken, daß für einen Künstler der Drang, eine bestimmte Gestalt zu schaffen, eine bestimmte Gestaltungsaufgabe zu lösen, als Schaffensantrieb ungemein wichtig und zumindest in neuerer Zeit oft sogar ausschlaggebend ist. Förster führte im unmittelbaren zeitlichen Anschluß an die „Neeberger Figur" seine „Skulptur für Heinrich von Kleist" (1974-77) als die männliche Variante einer vertikal gestreckten Figur aus, hatte aber bereits 1973 mit dem absoluten Gegensatz, der kauernd zusammengefalteten Figur des „Trauernden Mannes" begonnen, die schließlich 1985 als Denkmal für die Bombenopfer Dresdens vollendet wurde. Eine bestimmte Gestalt bis zum Äußersten, das dem Künstler machbar erscheint, zu treiben, anders gesagt, den Ausdruck einer Form extrem 2
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auszuloten, kann, weil es den Künstler zur höchsten Anspannung seiner Fähigkeiten herausfordert, ein ganz wesentlicher Schaffensantrieb sein. Wenn ein Künstler mit derartiger Intensität sein Werk betreibt, können er und sein scheinbar rein privates Produkt zu ausgeprägten Zeugnissen für ein Arbeitsethos werden, das weit über den speziellen Bereich der Kunst hinaus gesellschaftliche Bedeutung erhält. Eine Voraussetzung dafür ist allerdings, daß der Rezipient so weit mit der betreffenden Kunst vertraut ist, daß er ein Gestaltungsproblem als solches erkennt, daß er über die aktuelle künstlerische Problemlage Bescheid weiß und also bemerkt, ob bis an die Grenzen gegangen oder eine bequeme Mittellage aufgesucht wird. Es gibt Kunstwerke, deren Sinn in der Lösung eines Gestaltungsproblems aufgeht, Förster hat eine andere Grundentscheidung getroffen: Er hat seine Formvision in einer figürlich gebundenen Gestalt realisiert. Das hängt mit einem früh gewählten Weg des Arbeitens zusammen, auf dem sich eine bestimmte Weltauffassung und ihr entsprechende persönliche „Symbolik" bildeten: „Arbeiten ... allein aus dem Trieb, den wirklichen Bogen des Lebens zu spannen. Sehne zwischen Lachen und Trauer, Geburt und Tod und böser Vernichtung, zwischen Triumph des Unvergänglichen: der ist gleich Fels und Meer und Weib - und dem Zerstörbaren: das sind Baum, Haus und Mann. "2 Doch nur aus der Gestalt selbst - nicht aus dem Titel oder aus dem kurzen Selbstzeugnis - kann der Betrachter deren Sinn gewinnen. Sie ist das Resultat einer intensiven, ganz bestimmten Gesetzlichkeiten folgenden, an keiner Stelle nachlässig werdenden oder den Modus wechselnden Gestaltung. So ist der Körper dieser Figur aus eiförmigen Grundbestandteilen aufgebaut. Die Eiform, absackend zum schwereren Ende nach unten und aufstrebend zur Spitze, nennt Förster „die reichste, wunderbarste Form, weil sie keine Wiederholung (außer in der genauen Halbierung) kennt. Sie ist von Kräften geradezu bestimmt ... Jeder einzelne Abschnitt ist geprägt von Kräften, die sie aufwölben, spannen, auf- und absteigen lassen. Diese Form ist am organischsten und - wenn man will - durch ihre Asymmetrie allem Wachsenden am nächsten". 3 Anschaulich und auch noch tastbar suggeriert sie damit Wachstum, Leben, ist „das Ei Brancusis, das Weltei der Mythen" (Franz Fühmann) 4 . An jeder Stelle der Plastik sind damit Aufwärts und Abwärts vorhanden, ebenso wie durch andere Gestalteigentümlichkeiten Weichheit und Härte, Fülle und Spröde, Kontur und Volumen, strahlend hervorbrechendes Fleisch des Leibes und durchscheinende Skeletthaftigkeit - Leben und Tod. Die Stabilität der 18
Figur, die pfahlhaft wirkt, vertikal eingerammt, wird gebrochen durch eine gewisse Labilität: Die wurzelhaften Füße sind auf eine schräge Plinthe gestellt - könnten sie nicht abrutschen? Die extreme Einziehung in der Leibesmitte könnte eine Bruchstelle werden. Das Emporrecken und -streben von äußerster Entschiedenheit mündet durch die Haltung der Hände in einem Tasten und Suchen, das sich vor allem in der Seitenansicht mitteilt. Die absolute und vor allem die relative Größe der Figur, die Gerecktheit, die sich aus ihren Proportionen ergibt, und die Gesamtform, das steile Emporschießen und die Frontalität, machen die Bedeutsamkeit des Inhalts signalhaft erkennbar und dringlich. Von Frontalität geht, das lehrt eine jahrtausendelange Geschichte von Kultbildern aller Art, eine bannende Wirkung aus: Der Betrachter wird auf einen Platz gegenüber dem Bildwerk beordert und dort festgehalten; das Bild herrscht über ihn hier das Bild eines Wesens, das sich nicht ganz zu erkennen gibt, dessen Entschleierung, wie in manchem Mythos, für den Betrachter vielleicht tödlich wäre (wie das legendäre Bild zu Sais.) Försters Figur untergräbt zugleich diese Herrschaft durch Frontalität: Sie muß unbedingt frei stehen, nicht vor einer Wand oder Nische, wie es für Kultbilder die Regel ist; sie muß Umschriften und in ihren verschiedenen Ansichten, die sehr unterschiedlichen Ausdruck zeigen, erfahren werden. Dann wird die Figur mit einem Male verletzlich, wie gefesselt, flehend, ihre Blindheit macht sie ungeschützt, der Körper wird preisgegeben, die Herrschende wird Opfer. Jeder Form im plastischen Gefüge ist etwas von ihrem Gegenteil eingebaut. Das Gewohnte wird fremd gemacht. Aus all dem ergibt sich eine widersprüchliche Sinneinheit. Diese Figur ist keine „Hemdausziehende", nichts an ihr ist gefällig. Förster eröffnet dem Betrachter durch den sinnlichen Reiz der erotischen Figur die Möglichkeit zur Einfühlung oder Identifikation, aber er verwehrt ihm die einfache Beglückung. Von einer erotischen Genreszene sind wir weit entfernt. Das Erotische gewinnt eine fordernde Aggressivität: Daseinsprobleme von allgemeinster Bedeutung werden verhandelt. Liebe ist auch Gewalt, Lust nicht ohne Tragik. Leben und Tod erscheinen als die extremen Ausdrucksmöglichkeiten dieser Figur. Solcherart dialektische Figuren „lesen" sich schwieriger als andere. Sie widerstreiten einem verständlichen und auf seine Weise berechtigten Streben der Betrachter nach Harmonie, gar nach bequemer Entspannung. Die Rezeptionserschwerung vergrößert sich noch dadurch, daß das Bildwerk den Betrachter gleichsam unvermutet „treffen"
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kann. Gleich den meisten Kunstwerken der neueren Zeit ist es ein frei verfügbares, nicht für einen bestimmten Ort und festgelegten Zweck geschaffenes Werk. Es begegnet dem Betrachter im Zusammenhang einer Ausstellung, eines Museums bzw. einer museumsartigen Ausstellung in einem Plastikpark, d. h. in der Nachbarschaft von anderen Skulpturen, die ihr ähnlich sind, z. B. weil sie auch Aktfiguren sind, aber u. U. auf eine gänzlich andere Wirkungsweise, z. B. zur beglückten Einfühlung in ein harmonisches Naturabbild, angelegt sind. Der Betrachter muß seine Rezeptionseinstellung und Urteilskriterien von einem Werk zum anderen wechseln. Daran scheitern manchmal selbst erfahrene, professionelle Betrachter, wie z. B. Kunstkritiker. Der Künstler hat sich auf diese Schwierigkeiten für den Erfolg seines Werkes eingelassen, und, was die historisch gewordenen Rezeptionsbedingungen in Ausstellung und Museum anbetrifft, einlassen müssen. Er äußert sich zu Fragen, die ihn bewegen und die er meint, mit anderen zu teilen. So übermittelt er eine „Botschaft", die er nicht anders als durch seine „Sprache", die der modernen Skulptur, realisieren kann und die er nicht anders als durch das Distributionsmedium Ausstellung und Museum an ein inhomogenes Publikum, an Gesellschaft, Menschheit und jedes Individuum in ihr, das sich rezeptionsbereit erweist, adressiert. Er verlangt Mitarbeit des Rezipienten an der Sinngebung des Kunstwerks; der Inhalt der Skulptur entsteht bei aller Vorgabe durch den Autor erst im Dialog mit dem jeweiligen Betrachter und wird damit unendlich variiert. Er „verkündet" dem Betrachter etwas, aber er aktiviert diesen vor allem. Die Plastik führt nicht nur ein Resultat aktiven, schöpferischen Verhaltens (des Künstlers) als anspornendes Vorbild vor, sondern ihre Rezeption übt solches Verhalten auch ein und läßt es als lustvoll erfahren. Der Betrachter prüft seine eigenen Erfahrungen an dieser besonderen Mitteilung über Eros, Leben und Tod und über das Stück Rätselhaftigkeit auch im scheinbar Einfachen, das unsere Lust zum Erkennen anspornt und ihr die Grenzen weist. Die Gestalt ermöglicht Widerspruchserfahrungen eigener Art und schärft damit den Sinn für die innere Widersprüchlichkeit unseres Daseins überhaupt. Sie signalisiert eine Gefährdetheit, die wir in einer Ära möglicher nuklearer Selbstauslöschung der Menschheit und anderer Verwüstungen doppelt stark empfinden, und formiert appellativ die Möglichkeit des Aufrecht-Bleibens, des „Triumphs des Unvergänglichen" als menschlicher Tat. Das ist tausendmal gesagt und so noch niemals gezeigt worden. 20
Dem Künstler wie dem Betrachter steht es frei, Ansprüche anzunehmen, abzulehnen, auszutauschen. In dieser schwierigen Begegnung liegt der historisch-systematische Ort der Aneignungsfunktion der Künste, die wir im folgenden erkunden wollen. Er ist ein Schauplatz von belebenden Erfahrungen und Erlebnissen, aber auch von Mißverständnissen und Enttäuschungen. Der Künstler, der Probleme des Lebens in Probleme der Gestaltung umsetzt, um sie zu bewältigen, muß sich den Anforderungen seines geschichtlichen Gegenstands stellen. Der Betrachter, der sich einem Kunstwerk zuwendet, um sich anregen oder unterhalten zu lassen, muß sich zugleich den Anforderungen des Kunstwerks unterwerfen. So treffen Anforderungen des Lebens, der Kunst, des Umgangs mit Kunst im Leben aufeinander - als Herausforderungen, die jeweils angenommen werden müssen, um bestanden werden zu können. Dies theoretisch in den Blick zu bekommen, verlangt nicht nur wiederholten Wechsel der Blickrichtung, sondern einen zusammenfassenden Begriff des komplexen Sachverhalts, der die verschiedenen Perspektiven objektiv ermöglicht. Damit wendet sich der Blick erneut: Ins Blickfeld tritt die Kunsttheorie auf ihrem historischen Entwicklungsstand .
Vom Kunstwerk zum Kunstprozeß Marxistische Kunsttheorie versteht sich heute nicht mehr nur als Theorie des Kunstwerks, seiner sozialhistorischen Entstehungsbedingungen und speziellen Widerspiegelungsbeziehungen, sondern als Theorie des Kunstprozesses. Das ist nicht völlig neu. Die historische Prozeßhaftigkeit von Kunst untersuchen seit langem wissenschaftliche Disziplinen wie Kunstgeschichte, Literaturgeschichte, Musikgeschichte, Theatergeschichte usw. Dabei wird auch jener Prozeß berücksichtigt, in dem sich Kunst als ein Ensemble von Künsten („System der Künste") jeweils auf einer bestimmten geschichtlichen Entwicklungsstufe entfaltete. Auch waren bisherige Auffassungen vom Kunstprozeß nicht rein kunstimmanent und ließen sozialkulturelle Faktoren nicht außer acht. Entscheidend ist, daß der Kunstprozeß, ob in historisch-diachronischer oder in systematisch-synchronischer Sicht, im wesentlichen auf den Prozeß des künstlerischen Schaffens beschränkt wurde. Zwar wurde diese Einseitigkeit durch die Entwicklung der Rezeptions21
ästhetik und Wirkungsforschung überwunden, aber nur um den Preis einer anderen Einseitigkeit. Aus diesem Dilemma führt die moderne marxistische Auffassung heraus, nach der der Kunstprozeß als Sonderfall des Marxschen Strukturmodells des Produktionsprozesses in seinen allgemeinen Bedingungen und Bestimmungen betrachtet wird. Das künstlerische Schaffen ist Glied einer Totalität; es treten andere Momente hinzu, Distribution, Austausch, Rezeption, die für den Gesamtprozeß keinesfalls äußerliche Momente sind Da Kunstgegenstände die Individuen in der Regel nicht unmittelbar erreichen, kann die Rezeption von Kunst nicht unabhängig von Distributions- und Zirkulationsbedingungen lediglich als individuelles Kunstverhalten untersucht werden. Produktion und Rezeption von Kunst unterliegen objektiven Produktions- und Rezeptionsbedingungen. Um diese in die kunsttheoretische Forschung einbeziehen zu können, ist der Begriff der Kunstverhältnisse bzw. Literaturverhältnisse gebildet worden, der sich weitgehend durchgesetzt hat. Kunstverhältnisse sind Verhältnisse, in denen Produktion, Distribution, Zirkulation und Rezeption von Kunstwerken auf einer bestimmten historischen Entwicklungsstufe unter konkreten sozialökonomischen Voraussetzungen gesellschaftlich geregelt werden. Diese Vorstellung vom Kunstprozeß hat nicht nur in der DDR an Boden gewonnen, sie übt auch internationalen Einfluß aus. Die Literaturlage macht eine detaillierte Darstellung an dieser Stelle nicht erforderlich. Stattdessen soll auf Probleme aufmerksam gemacht werden, die nicht gelöst werden können, wenn das auf Marx zurückgehende Produktionsmodell des Kunstprozesses nicht tiefer begründet und in seinem ganzen Beziehungsreichtum entfaltet wird.
Aneignung als Tertium comparationis des weiten Begriffs der Produktion Die neuartige Sicht des Kunstprozesses, bei der es gerade auf die Einheit verschiedener Momente in ihrer Wechselwirkung ankommt, konnte nicht verhindern, daß bekannte Dualismen der Kunsttheorie fortleben. Ein Beispiel ist die Entgegensetzung von Produktion und Kommunikation. Die alten Gegensätze von Werkinterpretation und Kunstgeschichtsschreibung, von Geschichte als „außerkünstlerischem" Prozeß und Geschichte der Kunst als „innerkünstlerischem"
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Prozeß, von Kunstsoziologie und Ästhetik der Kunst wiederholen sich. Wenn die lange Zeit vernachlässigten Distributions- und Austauschverhältnisse im Bereich der künstlerischen Kultur in die Untersuchungen einbezogen werden, geschieht dies oft auf Kosten des Kunstwerks, das aber die gegenständliche Mitte des Kunstprozesses ist. Man kann in Diskussionen hören, die einzig interessante Frage sei die, welche Funktion ein Text unter welchen Bedingungen, in welchem historischen Gebrauchszusammenhang usw. zu erfüllen vermag. Dabei wird leicht vergessen, daß ein Kunstgegenstand überhaupt nichts „vermag", wenn er nicht über ein bestimmtes Leistungs- und Wirkungsvermögen verfügt. Man kann nicht über Funktionen streiten, ohne nach künstlerischen Strukturen zu fragen. Es gibt keine Funktionen, die nicht von einer bestimmten Struktur getragen werden. Gerade in funktionaler Hinsicht muß das Kunstwerk in seinen verschiedenen Existenzformen, z. B. auch als Aufführung, ernstgenommen werden. Unserer Auffassung nach liegen viele Schwierigkeiten darin begründet, daß das verbreitete Bild vom Kunstprozeß noch nicht über eine einfache Analogiebildung hinausgekommen ist, als habe Marx selber nichts anderes getan. Die 1857 verfaßte Einleitung zu den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie" beginnt mit dem Satz: „Der vorliegende Gegenstand zunächst die materielle Produktion."5 Um zu zeigen, daß die Produktion nicht nur dem Bedürfnis ein Material, sondern dem Material auch ein Bedürfnis liefert, schreibt Marx dann aber den berühmt gewordenen, yielzitierten Satz: „Der Kunstgegenstand - ebenso jedes andre Produkt - schafft ein kunstsinniges und schönheitsgenußfähiges Publikum." 6 Wie gehen diese beiden Sätze zusammen? Aus der Formulierung geht hervor, daß Marx nichts Spezifisches über Kunst sagen wollte, als er den Kunstgegenstand als ein Exempel für die Wechselwirkung zwischen Produktion und Konsumtion einsetzte. Das Exempel ist auswechselbar. Manfred Naumann hat bereits 1974 die Warnung ausgesprochen: „Wenn Marx und Engels an diesen und anderen Stellen die Begriffe Produktion und Konsumtion in bezug auf geistige Tätigkeiten verwenden, dann handelt es sich selbstverständlich nicht um die metaphorische Übertragung ökonomischer Begriffe auf die geistige Sphäre und schon gar nicht um jene oberflächlichen ,Analogien und Beziehungen zwischen geistigem und materiellem Reichtum', die Marx auf sehr sarkastische Weise an der Methode der Vulgärökonomie kritisierte." 7 Zu bedenken ist in dieser Hinsicht bereits, daß sich in den
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Entwurf gebliebenen Teilen der gleichen Einleitung zu den „Grundrissen" die wichtige These über das „unegale Verhältnis der Entwicklung der materiellen Produktion z. B. zur künstlerischen" findet, die Marx am Beispiel der antiken griechischen Kunst erörtert.8 In den „Grundrissen" wird auch entwickelt, daß künstlerische Arbeit „nicht produktive Arbeit im ökonomischen Sinne" ist, selbst wenn sie indirekte Rückwirkungen auf die materielle Produktion haben kann, indem sie z. B. „unsre Individualität tatkräftiger, lebensvoller stimmt" oder auch „ein neues Bedürfnis erweckt, zu dessen Befriedigung mehr Fleiß in der unmittelbaren materiellen Produktion angewandt wird".9 Wenn es sich nicht um eine einfache Analogie handelt, was war dann für Marx das zugrundeliegende Dritte, das Tertium comparationis, das ihm ermöglicht hat, in der Kunst eine besondere Weise der Produktion zu erkennen, ohne der Eigenart des Künstlerischen Gewalt anzutun? Die Bestimmung der Kunst als besondere Weise der Produktion ist ein alter Gedanke von Marx, der in den „Grundrissen" in einem durchkonstruierten historisch-materialistischen Begründungszusammenhang neu aufgenommen und weiterentwickelt wird. Der Gedanke findet sich zuerst 1844 in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten", in denen sich Marx kritisch-produktiv mit Hegels Einsicht ins geschichtlich-gesellschaftliche Wesen der Arbeit als dem „Selbsterzeugungsakt des Menschen", wie Marx formuliert, auseinandersetzt. Vom Grundgedanken der „Phänomenologie des Geistes" tief beeinflußt, hat Marx versucht, diesen Gedanken neu zu fassen. Wenn er Hegel vorwirft: „Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige",10 so urteilt Marx von einem neuen weltanschaulichen Grundansatz her, der auf Feuerbach zurückgeht. Ohne Übergang zum Materialismus hätte Marx seine Hegel-Kritik nicht durchführen können; gleichzeitig geht er über Feuerbachs Hegel-Kritik und über den Feuerbachschen Materialismus weit hinaus - Feuerbach gelangte nicht zur Einsicht in Wesen und Bedeutung des praktischen Lebensprozesses der Menschen. Wenn Marx diesen Weg gehen konnte, so erklärt sich das nicht einfach daraus, daß er an Hegels Konzept der „tätigen Seite" festhielt; seine Hegel-Kritik ist zugleich radikale Gesellschaftskritik. Marx schrieb: „Hegel steht auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomen. Er erfaßt die Arbeit als das Wesen, als das sich bewährende Wesen des Menschen; er sieht nur die positive Seite der Arbeit, nicht ihre negative."11 Hinter Marx' philosophischer Auffassung von der Arbeit,
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als deren Grundform er die materielle Tätigkeit begreift, steht die Hinwendung zur Arbeiterklasse als einer neuen geschichtsmächtigen sozialen Kraft. Marx wendet den Hegeischen Gedanken von der geschichtlichen Selbsterzeugung der Menschheit durch Arbeit nicht nur auf die materielle Produktion an, die dadurch eine ganz andere philosophische Wertigkeit erhält, - er entdeckt vor allem den Widerspruch zwischen der positiven und der negativen Seite der Arbeit unter der Bedingung der kapitalistischen Trennung von Arbeit und Eigentum. Diesen Widerspruch entwickelt Marx als Dialektik von Aneignung und Entfremdung. In diese Dialektik ist auch die Bestimmung eingeordnet, in der die Produktion als „Verwirklichung des Menschen" gefaßt wird. Daran schließt der Satz an: „Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc. sind nur besondere Weisen der Produktion und fallen unter ihr allgemeines Gesetz." 12 Es dürfte kein Zufall sein, daß in den „Grundrissen" die Verbindung von Produktion und Aneignung begrifflich erneut hergestellt wird. Das gilt nicht nur für die zentrale These: „Alle Produktion ist Aneignung der Natur von Seiten des Individuums innerhalb und vermittelst einer bestimmten Gesellschaftsform",13 es betrifft auch den grundlegenden Gedanken, daß sich die Menschen als reale gesellschaftliche Subjekte die Welt in verschiedenen Weisen aneignen, wovon die Kunst als künstlerisch-geistige Aneignung dieser Welt eine Weise ist. Das Tertium comparationis, welches erlaubt, nicht nur den Begriff der materiellen, sondern auch den der geistigen Produktion zu bilden, und das darüber hinaus Wissenschaft, Kunst, Moral, Religion in ihrer jeweiligen Spezifik miteinander vergleichbar werden läßt dieses Dritte ist der Tatbestand der Aneignung. Doch was bedeutet es, Produktion als Aneignung zu fassen, wie ist Aneignung begrifflich zu bestimmen, welche Sachverhalte bildet der Begriff ab, wie hat er sich im Denken von Marx und Engels entwickelt ?
Zur Genesis des Aneignungsbegriffs Wie Peter Keiler ermittelt hat,14 ist das Wort „Aneignung" vermutlich in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts aufgekommen. Als terminologische Variante von „Zueignen" findet es sich im „Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart" (2. Aufl. 1793-1801} von Johann Christoph Adelung erstmalig lexikographisch nachgewiesen. Bereits 1832 erscheint „Aneignung" als eingeführter
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Begriff. Seine Aufnahme in das „Allgemeine Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften" (2. Aufl. 1832-38) von Wilhelm Traugott Krug verweist auf das philosophische Sinnpotential, das der Begriff inzwischen gewonnen hat. Krug unterscheidet eine rechtliche, eine physische und eine psychologische Dimension des Aneignungsbegriffs. „Aneignung in rechtlicher Hinsicht (appropriatio) ist diejenige Handlung, durch welche man eine Sache, die bisher entweder gar keinen oder einen anderen Herrn hatte, zu seinem Eigenthume macht." Aneignung in physischer Hinsicht ist zweitens die „innige Aufnahme fremder Stoffe in den organischen Körper, um sie demselben zu verähnlichen und ihn dadurch in seiner Integrität zu erhalten." Drittens spricht Krug von einer „Aneignung in psychischer Hinsicht, durch die man sich fremde Vorstellungen, Fertigkeiten und andere Vorzüge oder Fehler, selbst Tugenden und Laster, zu eigen machen kann". 15 Das Handwörterbuch von Krug sagt nichts über John Lockes Proklamation eines auf Arbeit gegründeten ursprünglichen Eigentumsrechts. Diesem von Locke geprägten Topos muß eine stimulierende Wirkung zugeschrieben werden, die sich auch in der Begriffsgeschichte von „Aneignung" verfolgen läßt. Um den Zusammenhang von Arbeit und Eigentum begrifflich darzustellen, hob Locke den Terminus „appropriation" auf die Ebene philosophischer Begrifflichkeit und Allgemeinheit: „... obwohl ursprünglich niemand ein persönliches Besitzrecht ... geltend machen kann, ... muß doch das, was dem Menschen zu seinem Gebrauch gegeben wurde, von ihm mit Notwendigkeit auf diese oder jene Weise erst einmal angeeignet werden, bevor es verwendbar oder überhaupt nutzbringend für irgendeinen bestimmten Menschen wird ... Obgleich die Erde und alle niederen Geschöpfe der Menschheit insgesamt gehören, hat doch jeder Mensch ein Eigentum an seiner Person ... Was immer er also aus dem Zustand entfernt, in dem die Natur es geschaffen und belassen hat, wird dadurch, daß er es mit seiner Arbeit vermischt und ihm etwas ihm Eigenes zugesellt hat, zu seinem Eigentum." 16 Marx wertete Lockes sozialphilosophisches Denken als „klassische(n) Ausdruck der Rechtsvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft im Gegensatz zur feudalen". 17 Arbeit erfährt eine historisch neuartige Wertschätzung, wird aber ausschließlich als Privatproduktion betrachtet. Ebenso gilt das Privateigentum als ursprüngliche und generelle Form des Eigentums. Am Anfang auf Arbeit gegründet, entfaltet sich das Privateigentum historisch durch Warenproduktion und Geld verkehr; daraus ergibt sich die Ungleichheit
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privaten Besitzes. Dadurch ist auch die Aneignung fremder Arbeit im kapitalistischen Lohnverhältnis, aufgefaßt als freies Vertragsverhältnis, ökonomisch gerechtfertigt. In dieser begrenzten bürgerlich-liberalistischen Argumentation ist zugleich ein produktiver Ansatz enthalten - Aneignung durch Arbeit - , der weiterwirkt, in welchen Wandlungen auch immer. Gegen die Nachwirkung von Lockes Aneignungsbegiff
(appro-
priation) spricht nicht, wie Keiler meint, daß Kant beispielsweise empirischen
bzw. physischen
Besitz und rein intelligiblen
bzw.
rechtlichen Besitz klar unterscheidet. Gerade das vielfältige Pro und Contra über viele Vermittlungen und Modifikationen hinweg bezeugt die lebendige Nachwirkung. Dabei ist nicht entscheidend, ob jeweils bewußt auf Locke zurückgegangen wird. Viel wichtiger ist, daß Lockes Philosophie, wie Marx schreibt, „der ganzen spätren englischen Ökonomie zur Grundlage aller ihrer Vorstellungen diente". 1 8 Wie sehr Lockes Formel von der Aneignung durch Arbeit bereits zu Kants Zeiten zu einem Topos geworden ist, zeigt Kants Polemik gegen „jene so alte und noch weit und breit herrschende M e i n u n g " , wonach die erste Bearbeitung oder überhaupt Formgebung eines Bodens ein Eigentumsrecht begründe. Kant erblickt hierin die "insgeheim obwaltende Täuschung, Sachen zu personifizieren, und, gleich als ob jemand sie sich durch an sie verwandte Arbeit verbindlich machen könne, keinem anderen als ihm zu Diensten zu stehen,
unmittelbar
gegen sie sich ein Recht zu d e n k e n " 1 9 . Indem Kant das Eigentum als ein gesellschaftliches Verhältnis begreift und seines sachlichen Scheins entkleidet, geht er in der Auffassung des Gegenstandes zugleich einen Schritt zurück: dieser ist kein durch Arbeit formierter. Manfred Buhr und Gerd Irrlitz schreiben: „Die Eliminierung der Arbeitstätigkeit aus der Rechtsauffassung, speziell aus d e m Eigentumsbegriff, ist die Voraussetzung dafür, daß Kant das Recht als gesellschaftliches Verhältnis fassen kann. Die rein intelligible Beziehung des Subjekts auf den äußeren Gegenstand ist nur möglich, weil das Subjekt in gesellschaftlicher Beziehung s t e h t . . . Robinson kann nach Kant kein Eigentum besitzen." 2 0
Recht ist für Kant eine Beziehung von
freien
Personen, Recht ist nicht, was der Staat setzt, aber auch nicht, was sich allein auf ursprüngliche Erwerbung als Bemächtigung (occupatio) eines äußeren Gegenstandes stützt: hier unterscheidet Kant die Besitznehmung (Apprehension), die Bezeichnung (declaratio) und die Zueignung (appropriatio) „als Akt eines äußerlich allgemeinen gesetzgebenden Willens (in der Idee), durch welchen jedermann zur Ein-
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Stimmung mit meiner Willkür verbunden wird".21 Dieser Rechtswille ist solange einseitig, wie er nicht der „Vereinigung des Willens aller zu einer allgemeinen Gesetzgebung", d. h. dem idealisierten „bürgerlichen Zustand" entspricht.22 Anders Fichte, der den Gedanken des durch Arbeit erworbenen Eigentums zugleich mit dem Recht auf Arbeit verteidigt. Fichtes Prinzip der „Tathandlung" beinhaltet zugleich die tätige Aneignung der äußeren Realität durch subjektive Modifikation. „Was ist er (der Mensch, d. Verf.) erst, wenn wir ihn als praktisch-tätiges Vermögen denken! ... Der Mensch gebietet der rohen Materie, sich nach seinem Ideal zu organisieren, und ihm den Stoff zu liefern, dessen er bedarf."23 Den vorläufigen Höhepunkt erlebt die Begriffsgeschichte der Aneignung in Hegels Rechtsphilosophie (1821, 1833). Aus der freien bewußten Lebenstätigkeit der Menschen leitet Hegel ein „allgemeines Zueignungsrecht des Menschen"24 gegenüber den nur relativ selbständigen Naturprodukten ab, von denen das Her schon beweise, daß sie nicht absolut selbständig sind, indem es sie aufzehre. „Aneignung" wird von Hegel insbesondere, als „Formierung" aufgefaßt: „Die Materie leistet mir Widerstand ... Immer aber ist die Materie nicht ohne wesentliche Form und nur durch diese ist sie etwas. Je mehr ich mir diese Form aneigne, desto mehr komme ich auch in den wirklichen Besitz der Sache ... Aber diese Wirklichkeit der Besitzergreifung ist verschieden von dem Eigentum, als solchem, welches durch den freien Willen vollendet ist." 25 Das Eigentum realisiert sich durch den Gebrauch und erlangt durch Vertragsverhältnisse zwischen freien Personen rechtlichen Bestand. „Der Vertrag setzt voraus, daß die darin Tretenden sich als Personen und Eigentümer anerkennen ,.." 2 6 Auch Hegel führt die Entstehung des Eigentums (als Privateigentum verstanden) auf einen wirklichen Akt gegenständlicher Besitzergreifung zurück; der körperlichen Ergreifung und der bloßen Bezeichnung ist das Formieren überlegen. Das Formieren ist nach Hegel „die der Idee angemessenste Besitznahme, weil sie das Subjektive und Objektive in sich vereinigt, übrigens nach der qualitativen Natur der Gegenstände und nach der Verschiedenheit der subjektiven Zwecke unendlich verschieden".27 Hegel nennt hier als Beispiele „Bearbeitung der Erde, Kultur der Pflanzen, Bezähmen, Füttern und Hegen der Tiere", aber auch „vermittelnde Veranstaltungen zur Benutzung elementarischer Stoffe oder Kräfte, veranstaltete Einwirkung eines Stoffes auf einen anderen usf.".
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In Hegels Weiterentwicklung des Aneignungsbegriffs drückt sich die partielle Einsicht in die ursprüngliche „Einheit der lebenden und tätigen Menschen mit den natürlichen, unorganischen Bedingungen ihres Stoffwechsels mit der Natur" (Marx) aus. Dagegen fragt Hegel nicht nach den Gründen für „die Trennung zwischen diesen unorganischen Bedingungen des menschlichen Daseins und diesem tätigen Dasein, eine Trennung, wie sie vollständig erst gesetzt ist im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital". 28 Im wirklichen Produktionsprozeß muß sich die lebendige Arbeit in jedem Falle mit ihren gegenständlichen Bedingungen vereinigen: sonst kann nicht gearbeitet werden. Dies besagt auch Marx' vielzitierte Bestimmung „Alle Produktion ist Aneignung der Natur von Seiten des Individuums innerhalb und vermittelst einer bestimmten Gesellschaftsform". Der meistens nicht mitzitierte darauffolgende Satz lautet nämlich: „In diesem Sinne ist es Tautologie zu sagen, daß Eigentum (Aneignen) eine Bedingung der Produktion sei." Die weitere Argumentation trifft Hegel nicht minder als Locke, wenn Marx fortfährt: „Lächerlich aber ist es, hiervon einen Sprung auf eine bestimmte Form des Eigentums, z.B. das Privateigentum zu machen." Die notwendige Einheit von Produktion und Eigentum, in welcher historischen Form auch immer, bringt Marx auf eine Formel, deren Pointe der stofflich-ökonomische Doppelsinn von Aneignung ist: „Eine Aneignung, die sich nichts zu eigen macht, ist contradictio in subjecto." 29 Diese Pointe läßt die Grundthese „Alle Produktion ist Aneignung" in einer doppelten Bestimmtheit erscheinen, die unbedingt mitberücksichtigt werden muß. Primär ist für Hegels Auffassung von Eigentum als Bedingung und Resultat von Aneignung das Eigentum an Produktionsmitteln, von dem sich das Eigentum an Arbeitsprodukten ableitet. Dabei fällt auf, daß er im Eigentums- und Formierungskonzept der Aneignung keinen Gebrauch von seiner grundlegenden Einsicht in die Rolle des Werkzeugs für die Formierung der Naturprodukte macht. Diese Einsicht ist vor allem im Teleologie-Kapitel der „Wissenschaft der Logik" niedergelegt : „Daß der Zweck sich aber in die mittelbare Beziehung mit dem Objekt setzt und zwischen sich und dasselbe ein anderes Objekt einschiebt, kann als die List der Vernunft angesehen werden." Auf der einen Seite stelle der Zweck „ein Objekt als Mittel hinaus, läßt dasselbe statt seiner sich äußerlich abarbeiten, gibt es der Aufreibung preis und erhält sich hinter ihm gegen die mechanische Gewalt". Auf der anderen Seite aber „ist das Mittel ein Höheres als die endlichen Zwecke der äußeren Zweckmäßigkeit; - der Pflug ist ehrenvoller, als unmittel-
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bar die Genüsse sind, welche durch ihn bereitet werden und die Zwecke sind. Das Werkzeug erhält sich, während die unmittelbaren Genüsse vergehen und vergessen werden. An seinen Werkzeugen besitzt der Mensch die Macht über die äußerliche Natur, wenn er auch nach seinen Zwecken ihr vielmehr unterworfen ist." 30 Lenin kommentierte diesen von ihm ausdrücklich hervorgehobenen Gedanken Hegels mit den Worten: „Der historische Materialismus als eine der Anwendungen und Entwicklungen der genialen Ideen, der Samenkörner, die bei Hegel im Keimzustand vorhanden sind." 31 Und Marx hatte bereits im „Kapital", im Kapitel „Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß" die entscheidende Bedeutung der Arbeitsmittel unter Hinweis auf Hegel zur Sprache gebracht. Er zitierte folgende Stelle aus der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften": „Die Vernunft ist ebenso listig als mächtig. Die List besteht überhaupt in der vermittelnden Tätigkeit, welche, indem sie die Objekte ihrer eigenen Natur gemäß auf einander einwirken und sich aneinander abarbeiten läßt, ohne sich unmittelbar in diesen Prozeß einzumischen, gleichwohl nur ihren Zweck zur Ausführung bringt." 32 Marx analysiert die Arbeitsmittel aber auch in ihrer ökonomischen Dimension, die Hegel verborgen bleibt: „Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen. Die Arbeitsmittel sind nicht nur Gradmesser der Entwicklung der menschlichen Arbeitskraft, sondern auch Anzeiger der gesellschaftlichen Verhältnisse, worin gearbeitet wird." 33 Aus Hegels Einsicht in die Rolle der Werkzeuge müßte gefolgert werden, daß die Aneignung der Natur der Vermittlung durch Werkzeuge bedarf; nicht nur als Arbeitsgegenstand, sondern auch als Arbeitsmittel muß die Natur angeeignet werden, um Naturprodukte in Arbeitsprodukte, in Gebrauchswerte, umzuschaffen. Damit wird die Aneignung der Werkzeuge zu einem Kernproblem der Eigentumsfrage. Nichts davon bei Hegel. Die Rede ist vom Acker, aber nicht vom Pflug. Die Frage nach dem Eigentum an Produktionsinstrumenten, die nicht mehr naturwüchsig, sondern selber produziert sind, umgeht Hegel, obwohl sich diese Frage durch die Entwicklung der Industrie auch ihm objektiv aufdrängt. Das zeigt sich, wenn er die bürgerliche Gesellschaft beschreibt - ein Terminus, den Hegel eingeführt hat. Er begreift die bürgerliche Gesellschaft als ein „System der Bedürfnisse", das in gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Klassengliederung gründet und sich in „der allseitigen Verschlingung der Abhängigkeit aller" 34 entfaltet. Im Zentrum der bürgerlichen Gesell-
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schaft sieht Hegel den „Stand des Gewerbes", der die „Formierung des Naturprodukts zu seinem Geschäfte" hat (untergliedert in Handwerksstand, Fabrikantenstand, Handelsstand).35 Das Entscheidende an der bürgerlichen Gesellschaft ist für Hegel, daß das „System der Bedürfnisse" durch Arbeit vermittelt ist. Ebensowenig wie die bürgerlichen Nationalökonomen durchschaut er jedoch die Durchsetzung einer Aneignungsweise, die auf die „Aneignung fremder Arbeit" (Marx) 36 beruht. Dennoch beobachtet er die Entstehung eines neuartigen Gegensatzes von Reichtum und Armut, der aus dem Wesen der bürgerlichen Gesellschaft hervorgeht, wenn sie sich selbst überlassen ist: „Wenn die bürgerliche Gesellschaft sich in ungehinderter Wirksamkeit befindet, so ist sie innerhalb ihrer selbst in fortschreitender Bevölkerung und Industrie begriffen. - Durch die Verallgemeinerung des Zusammenhangs der Menschen durch ihre Bedürfnisse, und der Weisen, die Mittel für diese zu bereiten und herbeizubringen, vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer, denn aus dieser gedoppelten Allgemeinheit wird der größte Gewinn gezogen, auf der einen Seite, wie auf der anderen Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse, womit die Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weiteren Freiheiten und besonders der geistigen Vorzüge der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt." 37 Sieht Hegel, vor allem mit Blick auf England, das „Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise, die sich von selbst als die für ein Mitglied der Gesellschaft notwendig reguliert", so bemerkt er auf der anderen Seite die „größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren". 38 Da Hegel die Polarisierung von Reichtum und Arbeit nicht auf den Widerspruch von Kapital und Arbeit zurückzuführen vermag, weiß er aus diesem Dilemma keinen anderen Ausweg als die „philosophische Auflösung und Wiederherstellung der vorhandenen Empirie" 39 (z. B, durch seine Staatsidee), wie Marx kritisch hervorhebt.
Die historische Dialektik von Aneignung und Entfremdung In Hegels Begriff der Aneignung ist die negative Seite der Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen nicht berücksichtigt. Besteht die positive Seite der Arbeit für Marx darin, daß „der Arbeiter die
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Außenwelt, die sinnliche Natur, durch seine Arbeit sich aneignet",40 so liegt ihre negative Seite darin, daß dem Arbeiter nicht gehört, was er aneignet, weil er nicht für sich selber arbeitet, sondern für den Kapitalisten. Dieser eignet sich die „ihm nicht eigene Tätigkeit" des Arbeiters an: eine Aneignung ohne Arbeit. Um beides zur Sprache zu bringen, genügt Marx der Begriff der Aneignung nicht. Er zieht Hegels Begriff der Entfremdung heran und setzt beide Begriffe in eine neuartige Beziehung. Bei Hegel folgte der Begriff der Entfremdung aus seiner idealistischen Wesenbestimmung des Menschen, der wesentlich nur „in der Gestalt des Geistes" erscheint. Entfremdung ist für Hegel eine der „Stufen, die das Bewußtsein der Menschen geschichtlich durchgemacht" (Engels).41 Unter der „Welt des sich enfremdeten Geistes" 42 versteht Hegel das sogenannte „Reich der Bildung", das er objektiv durch verselbständigte und unbegriffene gesellschaftliche Phänomene wie Staatsmacht und Reichtum, subjektiv durch eine allumfassende Glaubensbeziehung charakterisiert. „Bei dem ,Reich der Bildung' handelt es sich historisch-konkret bestimmbar um die vorbürgerliche feudale Gesellschaftsentwicklung, die ideengeschichtlich und ideologisch durch den ,Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben' bestimmt ist und unmittelbar praktisch-politisch in der französischen Revolution (,Die absolute Freiheit und der Schrecken') endete. Die hegelsche Charakterisierung des Glaubens als eines ,entfremdeten Bewußtseins' stellt einen der bedeutendsten Beiträge der klassischen deutschen Philosophie zur frühbürgerlichen, ansonsten wesentlich durch den französischen Materialismus und später durch Feuerbach getragenen Religionskritik dar. Hegels Konzeption der ,Entfremdung' und ,Verkehrung' sollte darüberhinaus zunächst Feuerbach, dann aber vor allem Marx zur Charakterisierung der gesamten bürgerlich-kapitalistischen Welt in ihren sozialökonomischen Grundlagen, einschließlich ihrer ideologisch-verkehrten Bewußtseinsformen von Religion und Idealismus, als einer ,entfremdeten' bzw.,verkehrten Welt' dienen." 43 Marx, der davon ausging, daß der Mensch „von Haus aus Natur ist" (er „schafft, setzt nur Gegenstände, weil" er „durch Gegenstände gesetzt" ist),44 bezog den Begriff der Entfremdung nicht auf die „Produktionsgeschichte des abstrakten" Denkens, 45 sondern auf die Produktionsgeschichte des Gesellschaftsmenschen. Der Begriff der Entfremdung erschien ihm insbesondere geeignet, die Naturaneignung in ihrer kapitalistischen Formbestimmtheit zu erfassen: Sofern die vergenständlichte Arbeit der lebendigen fremd und feind-
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lieh entgegentritt, erscheint „die Aneignung ... als Entfremdung" und die „Entäußerung als Aneignung", je nachdem ob dieses Verhältnis in bezug auf den Arbeiter oder in bezug auf den Kapitalisten betrachtet wird.46 Von dieser Dialektik von Aneignung und Entfremdung ausgehend, gewinnt der Begriff der Aneignung für Marx einen übergreifenden revolutionären Inhalt; Aneignung ist in ihrer konkreten geschichtlichen Bestimmtheit zugleich der Prozeß, in dem sich der Widerspruch zwischen ihrer stofflichen Seite (Naturaneignung) und ihrer ökonomischen Seite (Entfremdung) löst; negativ bestimmt als Aufhebung des kapitalistischen Privateigentums, ist sie positiv gefaßt als „Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften". 47 Doch wie gerät die Kunst in den hier skizzierten Zusammenhang? Die Frage ist nur zu beantworten, wenn wir den philosophischen Argumentationszusammenhang bedenken, in dem in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" die ökonomischen Probleme weltanschaulich verallgemeinert werden. Alles steht in Beziehung zu dem materialistisch gewendeten Grundgedanken der Hegeischen Phänomenologie, den Marx nunmehr so formuliert, daß „für den sozialistischen Menschen die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anders ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit" 48 Die materielle Produktion - die „Geschichte der Industrie und das gewordne gegenständliche Dasein der Industrie" 49 - wird nicht mehr lediglich unter dem Aspekt „einer äußern Nützlichkeitsbeziehung" betrachtet, sondern im Hinblick auf das Wesen des gesellschaftlichen Menschen - als dessen geschichtlicher Selbsterzeugungsprozeß. In dieser Sicht gewinnt der Begriff der Aneignung eine weltanschauliche Dimension.
Zur weltanschaulichen Dimension des Aneignungsbegriffs Für die weltanschauliche Dimension des Aneignungsbegriffs ist vor allem der Zusammenhang von gegenständlich gerichteter Formierung und historischer Subjektivitätsentwicklung entscheidend. Die Einsicht in die Einheit des Subjektiven und Objektiven als wesentliche Bestimmtheit von Aneignung deutet sich bereits bei Hegel in zweifacher Hinsicht an. Zum einen begreift er Formierung als bestimmtes Verhältnis zwischen der qualitativen Natur der Gegenstände und der Spezifik der Bedürfnisse, zum andern legt er den Gedanken nahe, daß die Aneignung der Außenwelt die Aneignung der menschlichen An3
Feist
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lagen durch Entwicklung körperlicher und geistiger Fähigkeiten verlangt: „Die Ausbildung meines Körpers zu Geschicklichkeiten, so wie die Bildung meines Geistes ist gleichfalls eine mehr oder weniger vollkommene Besitznahme und Durchdringung; der Geist ist es, den ich mir am vollkommensten zu eigen machen kann." 50 Peter Keiler hat kritisch verfolgt, wie der Aneignungsbegriff innerhalb der bürgerlichen Konzeptionsbildung zu einem einseitigen psychologischen Begriff verkümmerte; er verlor seine sozialökonomische Dimension (die Eigentumsfrage wurde weitgehend ausgeklammert) und wurde auf die Herausbildung psychischer Eigenschaften eingeschränkt.51 Als Stufen in diesem Prozeß nennt Keiler Fichtes Verwendung des Terminus „Zueignung" für den juristischen und den geistigen Erwerb eines Buches, Schleiermachers Vorlesungen zur Ethik (1812/13), Herbarts „Umriß pädagogischer Vorlesungen" (2. Auflage 1841). Am Ende steht der Topos „Aneignung von Kenntnissen und Fertigkeiten". O. Willmann hat für Roloffs „Lexikon der Pädagogik" (1913) das Konzept der „Aneignungsstufen" entworfen: „.,.. die Aneignung eines Wissens und Könnens geschieht durch ein der Besitzergreifung analoges Aufnehmen, durch Verstehen des Aufgenommenen und durch die Fähigkeit, über dieses zu verfügen, es anzuwenden, sich darin und damit zu betätigen". 52 Die Unterscheidung von Aneignungsstufen kann durchaus heuristischen Wert beanspruchen. Ihre Fruchtbarkeit hängt nicht zuletzt davon ab, wie Verfügungsgewalt, Anwendung und Betätigung aufgefaßt werden. Aneignung ist in jedem Falle mehr als geistiger Erwerb und immaterielle Verfügbarkeit. Sie' ist nicht auf bloße Verinnerlichung gegenständlich vorausgesetzter bzw. gespeicherter gesellschaftlicher Erfahrungen und Erkenntnisse zu reduzieren. Daraus folgt aber nicht, daß die Aneignungsproblematik keine psychologische Dimension hat. Im Gegenteil: So wenig Subjektivität in die Innenwelt des Subjekts aufzulösen ist, so untrennbar ist gesellschaftlich tätiges Aneignungsverhalten mit der Entwicklung individueller psychischer Dispositionen verknüpft. Daran hat Marx keinen Zweifel gelassen. Auf der anderen Seite ist daran zu erinnern, daß der Begriffsinhalt von Aneignung im weltanschaulichen Sinne niemals in Subjektivitätsentwicklung aufgeht, auch dann nicht, wenn Subjektivität auf gegenständliche Tätigkeit gegründet ist. Der oft zitierte kritische Haupteinwand der ersten Feuerbach-These von Marx gegen den „bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet)", „daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des
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Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv"53 - diese Kritik hebt nicht den Materialismus auf, die Erkenntnis der Einheit der Welt in ihrer Materialität. Die Wirklichkeit ausschließlich als sinnliche menschliche Tätigkeit zu fassen, hieße die Natur auf einen Aspekt der menschlichen Tätigkeit zu verkürzen; demgegenüber haben Marx und Engels stets die Priorität der Natur betont. Im Marxschen Aneignungskonzept ist nicht nur die Tätigkeit bedacht, sondern auch der materielle Weltzusammenhang, in welchem die Menschen allein tätig werden und sich entwickeln können. Wird das Aneignungskonzept von diesem weltanschaulichen Grundansatz gelöst, hört es auf, ein materialistisches Konzept zu sein. Dies gilt um so mehr angesichts der ökologischen Herausforderungen der Gegenwart. Die räuberischen Aneignungspraktiken, die der Kapitalismus eingeführt hat, haben einen historischen Typ und eine zählebige Tradition der Naturaneignung begründet, die in Widerspruch zu grundlegenden Erfordernissen der Naturerhaltung getreten sind. Auf der gegenwärtigen Evolutionsstufe gesellschaftlicher Naturaneignung ist es zur objektiven Notwendigkeit geworden, auf weite Sicht ein kooperatives Verhältnis zur Natur zu entwickeln. Um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, kommt es darauf an, Gesellschaftsdialektik und Naturdialektik nach dem Vorbild von Friedrich Engels gründlicher und umfassender als bisher in ihrem wechselseitigen Zusammenhang zu untersuchen. Das verlangt auch, die neueren Erkenntnisse über das Wesen organischer Systeme zu berücksichtigen, bilden sie doch das Tertium comparationis, um Gesellschaften mit einem bestimmten Reifegrad als organische Systeme zu begreifen, so wie es Marx später in den „Grundrissen" vorgedacht hat. In der Sache hat Marx im Rahmen des materialistischen Aneignungskonzepts der modernen, nichtklassischen Organismus-Vorstellung vorgegriffen, wonach lebende Systeme prinzipiell als offene Systeme anzusehen sind, denen die Fähigkeit der Strukturbildung und Selbstorganisation zugeschrieben werden kann. Wendet man das Aneignungskonzept in seinen materialistischmonistischen Implikationen auf die gesellschaftliche Entwicklung an, so ist es nur folgerichtig, gesellschaftliche Systeme (gerade in ihrer Qualifikation als organische Systeme) zugleich als offene Systeme der gesellschaftlichen Naturaneignung aufzufassen, als formationsspezifische Organisationsformen des anthropogenen Stoffwechsels in der Einheit und im Widerstreit von Mensch (Gesellschaft) und Natur. 3»
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Im übergreifenden Gesamtzusammenhang der gesellschaftlichen Naturaneignung, der die Priorität der Natur voraussetzt, entfaltet sich Aneignung als widersprüchliche Einheit von Vergegenständlichung („die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung") und Subjektivitätsentwicklung: „Erst durch den gegenständlich entfalteten Reichtum des menschlichen Wesens wird der Reichtum der subjektiven menschlichen Sinnlichkeit.. Z'54 Was bedeutet es, wenn in diesem weltanschaulichen Zusammenhang Kunst als besondere Weise der Produktion verstanden wird? - Kunst wird nicht als verselbständigte Bewußtseinsform, sondern als konkrete Prozeß- und Produktform menschlicher Tätigkeit in einem historischen Entwicklungszusammenhang gesehen. - Die Produktionsgeschichte der Kunst ordnet sich ein in den materiellen Gesamtprozeß der geschichtlichen Selbsterzeugung des gesellschaftlichen Menschen durch Arbeit. - Kunst ist nicht nur eine Ausdrucksform dieses Prozesses, sie ist vielmehr als ein besonderes Organ vornehmlich sinnlicher Aneignung an ihm aktiv beteiligt. Der Begriff der Aneignung, wie ihn Marx in den „Ökonomischphilosophischen Manuskripten" entwirft, fasziniert durch seine Reichhaltigkeit. Die individuelle und gesellschaftliche Lebensaneignung ist nach Marx „ebenso vielfach, wie die menschlichen Wesensbestimmungen und Tätigkeiten vielfach sind".55 Das Spektrum der Lebensaneignung ist breitgefächert. So sagt Marx vom gesellschaftlichen Individuum: „Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz alle Organe seiner Individualität, wie die Organe, welche unmittelbar in ihrer Form als gemeinschaftliche Organe sind, sind in ihrem gegenständlichen Verhalten oder in ihrem Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben."» Es könnte gefragt werden: Wenn in diesem Sinne alles Aneignung ist, was ist dann nicht Aneignung? Das Aneignungskonzept menschlicher Subjektivitätsentwicklung wird von Marx als kommunistisches Alternativkonzept zur kapitalistischen Entfremdung aller menschlichen Sinne und Eigenschaften im „Sinn des Habens", d. h. in ihrer Reduktion auf den Tauschwert, entworfen. Kommunistische Aneignung ist die Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften von ihrer Unterwerfung unter den Tauschwert. Wenn auch in den „Manuskripten" noch keine Historisierung menschlicher Subjek-
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tivitätsentwicklung geleistet wird - wie fünfzehn Jahre später in den „Grundrissen", so wird Aneignung doch geschichtlich begriffen: zur Aneignung gehört ihre Historizität. Darum wird man vergeblich ein abstraktes Gegensatzverhältnis von Aneignung und Entfremdung suchen. Entfremdung ist nicht einfach Nicht-Aneignung, sondern entfremdete Form von Aneignung, deformierte Aneignung. Daraus ergibt sich aber, daß Aneignung nicht nur nach den historischen Fortschritten der gesellschaftlichen Naturaneignung, sondern auch nach Grad und Universalität historischer Subjektivitätsentwicklung zu differenzieren ist. Individuelles Aneignungsverhalten unterscheidet sich in seiner sozialkulturellen Qualität. Als Kriterium für die Qualität von Aneignung nennt Marx ihre jeweils dem Gegenstand und den subjektiven Voraussetzungen angemessene Spezifik. So sagt er über die vom Menschen angeeigneten Gegenstände: „Wie sie ihm als seine werden, das hängt von der Natur des Gegenstandes und der Natur der ihr entsprechenden Wesenskraft ab; denn eben die Bestimmtheit dieses Verhältnisses bildet die besondere, wirkliche Weise der Bejahung" bzw. der Aneignung.57 Dieses Kriterium ist kein abstraktes Ideal, sondern aus der Natur des Arbeitsprozesses abgeleitet. Ohne qualitative Bestimmtheit des Aneignungsverhältnisses ist Natur nicht zu formieren, ist Aneignung durch Arbeit nicht möglich. Das gilt auch für die Aneignung produzierter Gegenstände im Arbeitsprozeß: anders sind Rohstoffe und Halbfabrikate nicht weiter zu verarbeiten, anders sind Produktionsinstrumente nicht sinnvoll anzuwenden. Unter dem Gesichtspunkt der Subjektivitätsentwicklung verallgemeinert Marx das aus dem Arbeitsprozeß gewonnene Kriterium zum sozialkulturellen Qualitätsmaßstab individueller Aneignung im Gesamtverhalten der Individuen. Die qualitative Bestimmtheit der Aneignung wird durch den Tauschwert, die Allmacht des Geldes als allgemeines Äquivalent aufgehoben und ins Widersinnige verkehrt. „Das was ich bin und vermag, ist ... keineswegs durch meine Individualität bestimmt. Ich bin häßlich, aber ich kann mir die schönste Frau kaufen. Also bin ich nicht häßlich, denn die Wirkung der Häßlichkeit, ihre abschreckende Kraft ist durch das Geld vernichtet ... ich bin geistlos, aber das Geld ist der wirkliche Geist aller Dinge, wie sollte sein Besitzer geistlos sein? Zudem kann er sich die geistreichen Leute kaufen, und wer die Macht über die Geistreichen hat, ist der nicht geistreicher als der Geistreiche? ... Was ich qua Mensch nicht bin, was also alle meine individuellen Wesenskräfte nicht vermögen, das vermag ich durch das Geld."58 So steht es in den „Manuskripten". In den „Grundrissen" wird die Tat-
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sache, daß „alles durch Geld aneigenbar ist" nach Seiten des Gegenstandes betrachtet: „Der selbständige Wert der Dinge, außer insofern er in . . . ihrer . . . Austauschbarkeit besteht . . . wird damit aufgelöst. Alles geopfert dem egoistischen Genuß . . . Es ist also alles aneigenbar durch alle, und es hängt vom Zufall ab, was das Individuum sich aneignen kann oder nicht, da es abhängt von dem Geld in seinem Besitz." 5 9 Werden die individuellen Wesenskräfte dadurch nivelliert, wird gleichzeitig, dem Schein nach, „das Individuum an sich als Herr von allem gesetzt". Gegen die Vorherrschaft des Tauschwerts gesetzt, wird das Aneignungskonzept zum kommunistischen Programm: „Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du die Kunst genießen willst, mußt du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn du Einfluß auf andre Menschen ausüben willst, mußt du ein wirklich anregend und fördernd auf andere Menschen wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen - und zu der Natur - muß eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußrung deines wirklichen individuellen Lebens sein." 6 0
Kunst als Organ der historischen Bildung der Sinne und als Weise humaner Sinnbildung In die historische Dialektik der Aneignung als widersprüchliche Einheit von Formierung und Subjektivitätsentwicklung wird von Marx die Kunst einbezogen. Als Aktions- und Produktform von Aneignung ist sie selber Formierung eines vorausgesetzten Materials und Betätigung menschlicher Wesenskräfte in spezifischer Bestimmtheit. In den „Manuskripten" wird die Kunst weniger als ein Organ intellektueller als vielmehr sinnlicher Aneignung behandelt, und zwar in einer der Vielseitigkeit der menschlichen Wesensbestimmungen und Tätigkeiten entsprechenden vielfachen Weise, in der auch die Gattungsspezifik der einzelnen Künste zur Geltung kommt. Doch in künstlerischen Strukturen ist nicht nur spezifisch entwickelte Sinnlichkeit vergegenständlicht, sie stellen auch besondere Anforderungen an die Sinnlichkeit derer, die Kunst gebrauchen. So haben die Künste in doppelter Hinsicht, vom Produktions- und vom Rezeptionsprozeß her betrachtet, einen besonderen Anteil an der
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Bildung der Sinne, der historischen Entwicklung der menschlichen Sinneskultur. Warum betont Marx den sinnlichen Aneignungscharakter von Kunst? Dies dürfte sich einmal aus der Hegel-Kritik erklären: Für Marx ist Kunst eben nicht eine Form und Stufe der Einverleibung der Gegenständlichkeit ins Selbstbewußtsein, also eine rein geistige Aktion. Zum andern gebraucht Marx unter dem Einfluß von Feuerbach den Terminus „Sinnlichkeit" in verallgemeinerter Weise auch als Synonym für „Wirklichkeit" und „Gegenständlichkeit". Marx erkennt in der Kunst in ihrem vergegenständlichten Dasein eine besondere Form der Gegenständlichkeit, so wie er sie aus einer besonderen gegenständlichen Aktion realer physischer Subjekte hervorgehen sieht. Hier wird die eigene sinnliche Dimension der Kunst betont, ihre spezifische, material- und gestaltgebundene Sinnlichkeit, die zu ihrer Aufnahme eine in bestimmter Weise entwickelte Wahrnehmungsfähigkeit gleichermaßen voraussetzt ,und in ihrer Entwicklung vorantreibt. Doch dieser Einfluß unterliegt zugleich nach der historisch gefaßten Bestimmung, wonach die besonderen Weisen der Produktion unter ihr allgemeines Gesetz fallen, dem Widerspruch von Aneignung und Entfremdung. Welche Entwicklungsreize auch immer durch Kunst gesetzt werden mögen: „Der sorgenvolle, bedürftige Mensch hat keinen Sinn für das schönste Schauspiel". 61 Die Bildung der Sinne erweist sich als eine Seite der menschlichen Sinnbildung, die von historischen und individuellen Handlungs- und Lebensgestaltungsmöglichkeiten abhängt. In den „Manuskripten" ist Sinnlichkeit mit Sinnbildung zusammengedacht, so wenn es heißt: „... der Mineralienkrämer sieht nur den merkantilischen Wert, aber nicht die Schönheit und eigentümliche Natur des Minerals ...; also die Vergegenständlichung des menschlichen Wesens, sowohl in theoretischer als praktischer Hinsicht, gehört dazu, sowohl um die Sinne des Menschen menschlich zu machen als um für den ganzen Reichtum des menschlichen und natürlichen Wesens entsprechenden menschlichen Sinn zu schaffen." 62 Die Kunst erscheint daher in der Doppelbestimmung, ein Organ der historischen Bildung der Sinne als auch eine Weise humaner Sinnbildung zu sein. Soweit die Kunst der Reduktion aller menschlichen Sinne und Eigenschaften auf den Sinn des Habens entgegenwirkt, kann sie die Sinnbildung der gesellschaftlich tätigen Individuen nachhaltig beeinflussen. Soweit sie selber in beliebiger Weise durch Geld aneigenbar ist, unabhängig von vorhandenen Dispositionen
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ihrer besonderen individuellen Aneignung, löst sich auch der selbständige Wert der Kunstwerke in ihren Tauschwert auf. Aus dem gesamten Argumentationszusammenhang darf gefolgert werden, daß Marx die Kunst nicht nur als eine Weise produktiver Vergegenständlichung ansieht, sondern auch als eine Weise der sozialen Selbsterkundung der Menschen in der von ihnen formierten Welt ihrer Lebensgegenstände und -Verhältnisse. Soweit die gegenständliche Welt die Welt „der zur Gegenständlichkeit herausgeborenen" gesellschaftlichen Wesenskräfte der Individuen ist, so schauen sie sich selbst daher in einer von ihnen geschaffenen Welt an -, ob sie sich erkennen oder nicht. Denn die Frage lautet: Wie schauen sie sich jeweils an? Das dürfte eine Frage sein, die in der Kunst allgegenwärtig ist, indem sie sich gleichermaßen sinnlich aufdrängt und ins Bewußtsein dringt. Daß die Menschen in einer von ihnen geschaffenen Welt sich selbst anschauen, bedeutet noch nicht, daß sie sich so sehen, wie sie wirklich sind und sich zueinander verhalten. Die Entfremdung zeigt sich auch in einer entfremdeten Selbsterkenntnis, in der die gesellschaftlich tätigen Individuen hinter ihren verselbständigten Verhältnissen und Aktionen keinesfalls sich selbst entdecken, sondern selbsttätige anonyme Mächte wahrzunehmen glauben, vor denen sie als Subjekte abzudanken haben. Marx kritisiert Hegels abstrakte Fassung und Verselbständigung des Selbstbewußtseins der gesellschaftlich tätigen Individuen als Ausdruck entfremdeten Denkens, aber er leugnet nicht den Tatbestand, daß die Menschen Bewußtsein und auch Selbstbewußtsein haben und daß diese einen großen Anteil an ihren geschichtlich wirksamen Aktionen haben. Marx bezieht vielmehr das Selbstbewußtsein auf den wirklichen praktischen Lebensprozeß. „Das Selbstbewußtsein ist vielmehr eine Qualität der menschlichen Natur ..., nicht die menschliche Natur ist eine Qualität des Selbstbewußtseins."63 Wenn Marx sagt, die Menschen machen ihre Lebenstätigkeit selbst zum Gegenstand ihres Wollens und Bewußtseins, so bezieht sich das nicht nur auf ein Bewußtsein von den Objekten und Mitteln ihrer gewollte Zwecke verfolgenden Tätigkeit, sondern auch auf ein Bewußtsein ihrer selbst. Martina Thom und Klaus Gößler schreiben hierzu: „Das Erkennen ist eine Aneignungsform der Wirklichkeit, die es dem Menschen ermöglicht, sein praktisches Verhalten in vielfältiger Weise selbst zu bestimmen ... natürlich im Rahmen objektiv gegebener Möglichkeiten. Die Funktion des Erkennens in bezug auf die Praxis erheischt nicht nur Bewußtheit über den Vorgang im engeren Sinne, über
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Arbeitsgegenstände und -mittel etwa, sondern schließt zugleich Selbstbewußtsein ein, und zwar immer in einer konkret-historischen Form. Indem die Menschen produzieren, ihre lebensnotwendigen Mittel und _damit auch Erkenntnisse über ihre Umwelt, produzieren sie gleichzeitig auch Bewußtsein über sich selbst und, da sie gesellschaftlich wirkende Subjekte sind, über ihr Verhältnis zu anderen Menschen bzw. zu gesellschaftlichen Einrichtungen, Nonnen etc." 6 4 Für Marx ist Selbstbewußtsein der gesellschaftlich tätigen Individuen nicht nur Bewußtsein der eigenen Individualität, sondern auch und vor allem der Gesellschaftlichkeit (einschließlich der Geschichtlichkeit) individueller Subjektivität. Selbstbewußtsein in diesem Sinne bleibt philosophisch gefaßt und hat eine weltanschauliche Dimension. Gerade dieser Gedanke wird mit der Einsicht in die Klassenbestimmtheit der individuellen Existenzweise in der „Deutschen Ideologie" von Marx und Engels gemeinsam weiterentwickelt, und zwar am Ideologieproblem, der Ausbildung der Gedanken einer Klasse über sich selbst. Ideologie ist als Ausdruck von Klasseninteressen wesentlich das Selbstbewußtsein einer Klasse und beeinflußt das gesamte von ihr erarbeitete Objektbewußtsein. In diesen Zusammenhang wird auch die Kunst eingeordnet - sie hat teil an den Gedankenkämpfen, „in denen die wirklichen Kämpfe der verschiednen Klassen untereinander geführt werden". 6 5
D i e A n e i g n u n g s m i s s i o n d e r Arbeiterklasse d a s h u m a n i s t i s c h e P r o g r a m m der „ D e u t s c h e n I d e o l o g i e " Die Bestimmung der Kunst als besondere Weise der Aneignung entwickelt sich in dem Maße weiter, wie sich das Aneignungskonzept weiterentwickelt. Beides muß daher im Zusammenhang dargestellt werden. Ein großer Schritt führt von den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" zur „Deutschen Ideologie". Hier wird die Naturaneignung durch Rekonstruktion der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der Entwicklung der verschiedenen Eigentumsformen in ihrer historischen Wechselwirkung konsequent historisiert. (1) Marx und Engels gehen aus von der historischen Dynamik der Bedürfnisentwicklung: Die erste geschichtliche Tat der Menschen ist nicht einfach die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse, sondern die dadurch bewirkte Erzeugung neuer Bedürfnisse. „Das Zweite ist, daß das befriedigte erste Bedürfnis 41
selbst, die Aktion der Befriedigung und das schon erworbene Instrument der Befriedigung zu neuen Bedürfnissen führt." 66 Die geschichtlich erzeugten neuen Bedürfnisse sind nicht nur vermehrte Bedürfnisse auf der Grundlage vermehrter Bevölkerung; sie erfordern gesteigerte Produktivität, und diese war nicht möglich ohne Arbeitsteilung. Damit richten sich die Bedürfnisse auch auf die Aktion und die Mittel der Befriedigung: das materielle Leben wird zum Gegenstand arbeitsteiliger Gestaltung, die schließlich zur Teilung der materiellen und geistigen Arbeit führt. (2) Das bedeutet nicht nur, daß sich Naturaneignung quantitativ und qualitativ erweitert und dadurch auch eine erweiterte Subjektivitätsentwicklung bedingt, wie immer sich diese in bezug auf die Individuen arbeitsteilig differenziert und dadurch erst zum Selbständigwerden der Individuen führt. Es bedeutet vor allem, daß sich der Aneignungsprozeß geschichtlich entfaltet und daß jede neue Generation gegenständlich gespeicherte Formen, Instrumente und Resultate der materiellen Lebensaneignung vorfindet, die sie ihrerseits sich aneignen muß, um ihr Leben zu sichern und erweitert zu gestalten. Dadurch differenziert sich der Aneignungsprozeß in gesellschaftliche und individuelle Lebensaneignung, und die individuelle Lebensaneignung beginnt notwendigerweise mit der Aneignung vergegenständlichter gesellschaftlicher Erfahrungen, ohne daß sich das Individuum bereits selber vergegenständlicht. Primär ist Vergegenständlichung eine Seite der Aneignung durch Arbeit: Formierung des Materials ist nicht möglich ohne Vergegenständlichung gesellschaftlicher Wesenskräfte. Sind diese erst einmal auf einer bestimmten historischen Entwicklungsstufe vergegenständlicht, so entfaltet sich eine historische Dialektik von Vergegenständlichung und Aneignung auf jeweils höherer Stufe. Die Naturaneignung, historisch fortgeschritten, hat die Aneignung des Angeeigneten (und daher Vergegenständlichten) zur Voraussetzung. Erst die Aneignung der überlieferten Aneignungsresultate und vor allem Aneignungsmittel setzten die jeweils nachgeborenen Individuen in die Lage, sich selber produktiv zu vergegenständlichen. (3) In den „Manuskripten" war zwar wiederholt von der Industrie und ihrer Geschichte die Rede, aber kaum von der Rolle der Werkzeuge und Instrumente im weiteren Sinne. Das ändert sich in der „Deutschen Ideologie". Die Entwicklung der Produktivkräfte im Übergang von naturwüchsigen zu zivilisierten, d. h. durch Zivilisation geschaffenen Produktionsinstrumenten, in den veränderten
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Formen der Vergesellschaftung, des in der Teilung der Arbeit bedingten Zusammenwirkens der verschiedenen Individuen, im wechselnden Umfang und Charakter individueller Fähigkeiten, steht nun im Mittelpunkt des Interesses. Es wird gezeigt, wie „jede neue Produktivkraft ... eine neue Ausbildung der Teilung der Arbeit zur Folge" hat und wie sich dadurch die Eigentumsverhältnisse verändern: „... die jedesmalige Stufe der Teilung der Arbeit bestimmt auch die Verhältnisse der Individuen zueinander in Beziehung auf das Material, Instrument und Produkt der Arbeit".67 Die Eigentumsverhältnisse bilden sich zugleich als Klassenverhältnisse zwischen den Individuen; Klassen erscheinen als Träger der Entwicklung der Arbeitsteilung in sozialantagonistischer Form. (4) Die entscheidende Frage ist die Aneignung der in bestimmter Hinsicht in „Destruktivkräfte" umschlagenden industriellen Produktivkräfte der kapitalistischen Gesellschaft durch die Arbeiterklasse. Aneignung ist doppelt gefaßt - im ökonomischen Sinn (als Eigentums- und Machtfrage) und im kulturellen Sinn (als individuelle und kooperative Subjektivitätsentwicklung). Die zunehmende Vergesellschaftung der Individuen im industriellen Arbeitsprozeß hat unter kapitalistischen Bedingungen „die Masse der Menschheit als durchaus eigentumslos erzeugt" - „zugleich im Widerspruch zu einer vorhandenen Welt des Reichtums und der Bildung". Auf „der einen Seite eine Totalität von Produktivkräften, die gleichsam eine sachliche Gestalt angenommen haben ... Auf der andern Seite steht diesen Produktivkräften die Majorität der Individuen gegenüber, von denen diese Kräfte losgerissen sind .. ," 68 Für diese Individuen ist jede noch so bornierte Einheit von Lebenssicherung und -gestaltung zerbrochen. Sie müssen sich daher die vorhandene Totalität von Produktivkräften aneignen. „Diese Aneignung ist zuerst bedingt durch den anzueignenden Gegenstand - die zu einer Totalität entwickelten und nur innerhalb eines universellen Verkehrs existierenden Produktivkräfte": dem entspricht nur eine Aneignung, die universellen Charakter hat. Was ist darunter zu verstehen? Weiter nichts, so wird gesagt, „als die Entwicklung der den materiellen Produktionsinstrumenten entsprechenden individuellen Fähigkeiten" zu einer „Totalität von Fähigkeiten".69 Diese Zielvorstellung von individueller Subjektivität liegt in der Entwicklungsrichtung der Aufhebung der Arbeitsteilung. Arbeitsteilung wurde von Marx und Engels als „Produktivkraft und Produktionsverhältnis zugleich" betrachtet. „Es ist also nur logisch, wenn 43
Marx und Engels in der »Deutschen Ideologie' die Schaffung der kommunistischen Gesellschaftsformation mit der Aufhebung der Teilung der Arbeit verbinden. Dabei verstehen sie unter Aufhebung der Arbeitsteilung in erster Linie die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln, damit ,die Menschen den Austausch, die Produktion, die Weise ihres gegenseitigen Verhaltens wieder in ihre Gewalt bekommen'. Zugleich begreifen sie die Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen körperlicher und geistiger Tätigkeit als Aufhebung der bisherigen ,Art der Tätigkeit'; als Aufhebung der Beschränktheit der Tätigkeit in ,saure Arbeit' und ,Denkgenuß'; als Beseitigung der Umstände, die die Entwicklung einer Eigenschaft des Individuums auf Kosten aller anderen bedingen; als Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land." 70 Die in den „Manuskripten" noch relativ abstrakt entworfene Alternative zur Tauschwertgesellschaft, die Allseitigkeit individueller Lebensaneignung, wird nunmehr als historische Perspektive verstanden, die durch die Produktivkraftentwicklung selbst objektiv bedingt ist, um die sachlichen Produktivkräfte nicht in Destruktivkräfte für die Mehrzahl der Individuen umschlagen zu lassen. Gottfried Stiehler sieht die historische Tendenz der universellen Entwicklung der Individuen in der kommunistischen Gesellschaftsformation in folgenden Zügen: „Erstens sind mit dem Wegfall des Klassenantagonismus erstmals alle einzelnen in einer sozialen Lage, die ihnen - im Rahmen der gesellschaftlichen Erfordernisse und Möglichkeiten - die Ausbildung aller Fähigkeiten und Talente ermöglicht und keine prinzipiellen gesellschaftlichen Schranken für die individuelle Entwicklung aufrichtet Zweitens werden im Sozialismus nicht nur vorgegebene individuelle Möglichkeiten zur Reife gebracht, sondern es werden auch Möglichkeiten neu gesetzt..." Die Individuen sind in der historischen Tendenz nicht mehr nur auf eine Detailverrichtung fixiert - obwohl dies in der beruflichen Tätigkeit nicht völlig auszuschließen ist, sondern über die berufliche Spezialisierung hinaus mit dem gesellschaftlichen Ganzen in Politik, Wissenschaft, •Kunst usw. befaßt. „Das läßt einen Komplex von Aufgaben, Verantwortungen und Beziehungen entstehen, der in der historischen Tendenz die Allseitigkeit der Entwicklung des Menschen notwendig zum Resultat hat." 71 Entscheidend ist noch etwas anderes: Die Produktivkraftentwicklung hat für Marx und Engels nicht nur eine technisch-sachliche, sondern auch eine menschlich-subjektive Seite; zur letzteren gehört
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ebenso die Entwicklung individueller Fähigkeiten wie die Art und Weise der Kooperation. In der „Deutschen Ideologie", aber auch in vielen späteren Arbeiten wird eingehend verfolgt, wie sich innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ein tiefgreifender Widerspruch zwischen der technisch-sachlichen und der menschlich-subjektiven Seite der Produktivkraftentwicklung herausbildet, in dessen Ergebnis die sachlichen Produktivkräfte außer Kontrolle geraten und die Individuen deformiert werden. Aneignung der Produktivkräfte durch die Individuen, deren Kräfte sie sind, bedeutet daher vor allem, diese gefährliche Kluft zu schließen. Es ist erforderlich, daß die Individuen eine neue Subjektivität entwickeln, um den modernen technischen Produktivkräften gewachsen zu sein; dazu gehören auch eine neue Sensibilität, eine neue Emotionalität und eine neue Rationalität, die sich aber nur in einer neuen Gemeinschaftlichkeit entwickeln können. „Es ist eben die Vereinigung der Individuen (innerhalb der Voraussetzung der jetzt entwickelten Produktivkräfte natürlich), die die Bedingungen der freien Entwicklung und Bewegung der Individuen unter ihre Kontrolle gibt.. ," 7 2 (5) Zur Aneignung der sachlichen Produktivkräfte durch die Individuen gehört daher vor allem die Aneignung ihres gesellschaftlichen Zusammenhangs, den sie im Wechselverhältnis von Arbeitsteilung und Kooperation erzeugen. „Die Produktion des Lebens, sowohl des eignen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung, erscheint nun schon sogleich als ein doppeltes Verhältnis - einerseits als natürliches, andrerseits als gesellschaftliches Verhältnis gesellschaftlich in dem Sinne, als hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen, gleichviel unter welchen Bedingungen, auf welche Weise und zu welchem Zweck, verstanden wird. Hieraus geht hervor, daß eine bestimmte Produktionsweise oder industrielle Stufe stets mit einer bestimmten Weise .des Zusammenwirkens oder gesellschaftlichen Stufe vereinigt ist, und diese Weise des Zusammenwirkens ist selbst eine,Produktivkraft'.. ." 7 3 Es handelt sich hier um einen Tatbestand, den Marx und Engels wiederholt als „Vergesellschaftung" 74 bezeichnet haben. Dazu schreibt Adolf Bauer in einem bemerkenswerten Aufsatz über „Probleme der marxistischen Vergesellschaftungskonzeption": „Wenn Marx und Engels im ganz allgemeinen Sinne von Vergesellschaftung' oder vom vergesellschafteten Menschen' sprachen, so hatten sie dabei den gesellschaftlichen Zusammenschluß der Menschen schlechthin im Auge, vor allem innerhalb der Produktion, aber, darauf aufbauend,
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auch außerhalb dieses Bereichs. Sie reflektierten damit den gesellschaftlichen Zusammenhang der Menschen, ihrer Tätigkeiten und Tätigkeitsresultate in abstrakter Form, unabhängig von der jeweiligen Formationsspezifik. In diesem abstrakt-allgemeinen Vergesellschaftungsbegriff widerspiegelt sich, daß der Mensch immer ein gesellschaftliches Wesen ist, daß die Gesellschaft nie eine Summe isolierter Individuen darstellt, sondern das Produkt vielfältig miteinander verbundener, wechselseitige Verhältnisse eingehender Individuen. Vergesellschaftung in dieser allgemeinsten Bedeutung kann als das wechselseitige ,In-Verhältnisse-Treten' der Menschen umschrieben werden, während die Gesellschaft vom System dieser Verhältnisse gebildet wird, die für den Gesamtzusammenhang der Individuen von Belang sind. Auf dieser allgemeinen Ebene sind Vergesellschaftung und Gesellschaft Begriffe gleicher Ordnung. Der gesellschaftliche Zusammenhang der Individuen, die Gesellschaft, ist stets das Resultat voraufgegangener Vergesellschaftung und gleichzeitig der Boden für deren geschichtliche Fortführung. " 7 5 Der Begriff wird konkret, wenn gefragt wird nach historischen Typen und Formationsspezifik von Vergesellschaftungsprozessen, allgemeinen und besonderen Formen von Vergesellschaftung, nach dem Zusammenhang zwischen Vergesellschaftungsprozessen und verschiedenartigen Betätigungsweisen der, Menschen, nach der Dialektik von Vergesellschaftung und individueller Subjektivitätsentwicklung. In der „Deutschen Ideologie" wird gezeigt, wie die Vergesellschaftung der Individuen im Kapitalismus eine neue, weltgeschichtliche Qualität annimmt. „Die allseitige Abhängigkeit, diese naturwüchsige Form des weltgeschichtlichen Zusammenwirkens der Individuen, wird durch diese kommunistische Revolution verwandelt in die Kontrolle und bewußte Beherrschung dieser Mächte, die, aus dem AufeinanderWirken der Menschen erzeugt, ihnen bisher als durchaus fremde Mächte imponiert und sie beherrscht haben."76 Damit verliert die Vergesellschaftung der Individuen den Schein der Naturwüchsigkeit, was soviel heißt, daß sie bisher „nicht einem Gesamtplan frei vereinigter Individuen subordiniert" war.77 (6) Als das Subjekt einer so verstandenen Aneignung kommen für Marx und Engels „nur die von aller Selbstbetätigung vollständig ausgeschlossenen Proletarier der Gegenwart"78 in Betracht, die anders keine Möglichkeit haben, ihr Leben bewußt und aktiv selber zu gestalten. Vom Charakter der Aneignung wird die Art und Weise unterschieden, „wie sie vollzogen werden muß". Die Aneignungs-
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weise wird durch die Eigentums- und Machtfrage bestimmt. Notwendig ist „eine Revolution, in der einerseits die Macht der bisherigen Produktions- und Verkehrsweise und gesellschaftlichen Gliederung gestürzt wird und andererseits der universelle Charakter und die zur Durchführung der Aneignung nötige Energie des Proletariers sich entwickelt". 79 Eine entscheidende Voraussetzung für die historische Mission der Arbeiterklasse, die sich so gesehen auch als eine Aneignungsmission darstellt, ist das neuartige Verhältnis von Individualität und Gemeinschaftlichkeit, das sich innerhalb der Arbeiterklasse im gemeinsam geführten Kampf gegen alle Ausbeutungsund Unterdrückungsverhältnisse herausbildet. „Nach der Darstellung von Marx und Engels gehören die Individuen, vor allem die der Bourgeoisie, den Klassen nur als ,Durchschnittsindividuen' an. Dies ergibt sich daraus, daß eine echte Gemeinschaft der Interessen und Bestrebungen auf der Grundlage des Privateigentums an Produktionsmitteln nicht möglich ist. Wesentlich in der Konfrontation mit anderen Klassen, vor allem mit der Arbeiterklasse, bilden die einzelnen Bourgeois eine Klasse. Das heißt, die ökonomischen Voraussetzungen, die der Klasse §ls Ganzes zugrunde liegen, machen das Klassenganze selbst wieder problematisch, indem sie eine Gemeinschaft der Individuen nur im Gegensatz gegen andere Gemeinschaften ermöglichen. Ansonsten stehen die einzelnen Bourgeois einander selbst in der Konkurrenz wieder feindlich gegenüber." 80 Das ist zunächst in der Arbeiterklasse, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, nicht anders, wie Marx und Engels ausführen: „Die Konkurrenz isoliert die Individuen, nicht nur die Bourgeois, sondern noch mehr die Proletarier gegeneinander, trotzdem daß sie sie zusammenbringt. Daher dauert es eine lange Zeit, bis diese Individuen sich vereinigen können . .." 8 1 Ist einmal eine Arbeiterbewegung entstanden, ergibt sich folgende Konsequenz für das Verhältnis von Individuum und Klasse, die Gottfried Stiehler einsichtig herausarbeitet: „Solange der einzelne Arbeiter nur Proletarier ,an sich', nicht ,für sich' ist, sich nicht bewußt am Kampf der Klasse beteiligt, sondern seine Interessen individuell sicherzustellen sucht, ist er auch als Proletarier nur Durchschnittsindividuum. Anders bei bewußter Teilnahme am revolutionären Kampf der Klasse ... An diesem Kampf nimmt der einzelne Arbeiter nicht bloß als Durchschnittsindividuum teil, so daß sein eigentliches Interesse außerhalb des Prozesses läge, sondern er beteiligt sich an ihm als konkretes Individuum, das bewußt entwickelte Beziehungen zu anderen Individuen und zur
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Klasse herstellt. Die Kontrolle über die gesellschaftlichen Lebensbedingungen, die auf dem gesellschaftlichen Eigentum an Produktionsmitteln beruhen, kann nur in wirklicher Gemeinschaft der Individuen erfolgen.. ," 8 2 Stiehler unterscheidet in überzeugender Weise zwischen „Individualität" und „individueller Subjektivität". „Individualität kommt jedem einzelnen (im Rahmen gesellschaftlich-geschichtlicher Voraussetzungen) in gleicher Weise zu, individuelle Subjektivität entfalten die einzelnen in unterschiedlichem Grade, in unterschiedlicher Qualität", 83 je nach der Fähigkeit relativ eigenständig in der Gesellschaft wirksam zu werden, einer Fähigkeit, die wiederum nur dadurch erworben werden kann, daß die individuellen Anlagen im objektiven Lebensprozeß des Individuums aktiv betätigt und dadurch wirklich angeeignet werden. Die freiwillige, in diesem Sinne nicht mehr naturwüchsige Vereinigung der Individuen in ihrem praktischen Lebensprozeß gibt auch der individuellen Subjektivitätsentwicklung qualitativ neuartige Impulse. Was folgt aus der solcherart weiterentwickelten Aneignungskonzeption für die Kunst? Zunächst einmal wird die Kunst - als Form der geistigen Produktion - sehr viel konkreter in den „praktischen Entwicklungsprozeß der Menschen" eingegliedert. Verliert sie dadurch auf der einen Seite den „Schein der Selbständigkeit" einer von der allgemeinen Gesellschaftsentwicklung unabhängigen Geschichte, so gewinnt sie auf der anderen Seite als spezifischer Ausdruck „praktischer Lebenskollisionen" einen eigenen Anteil an der Gestaltung des materiellen Lebens, indem sie dazu beiträgt, das Selbstbewußtsein der Individuen in seiner gegensätzlichen geschichtlichgesellschaftlichen Bestimmtheit zu formieren. Entscheidend dafür ist jedoch, daß der praktische Lebensprozeß der Gesellschaft als eine durch Abhängigkeits- und Wechselbeziehungen gebildete Totalität begriffen wird, in der jede Form gesellschaftlich wirksamer Tätigkeit, ausgehend von der materiellen Produktion, eine Funktion im Ganzen und für das Ganze übernimmt. Die Kunst ist also nicht nur abhängig, sondern Glied einer Wechselwirkung. Haben nach Marx und Engels alle Kollisionen der Geschichte ihren Ursprung im Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, so äußern sie sich zugleich in einer „Totalität von Kollisionen", „als Kollisionen verschiedener Klassen, als Widerspruch des Bewußtseins, Gedankenkämpf etc., politischer Kampf etc.". 84 In diese Totalität von Kollisionen verwickelt, liegt es nahe, daß die Kunst in diese Kämpfe aktiv eingreifen
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kann. Ausgeführt ist dies in der „Deutschen Ideologie" nicht, dafür aber in den gleichzeitigen Äußerungen von Marx und Engels zur Kunstentwicklung ihrer Epoche. Im „Kommunistischen Manifest" wird der Aneignungsbegriff vor allem als ökonomische Kategorie verwendet. „Aber das moderne bürgerliche Privateigentum ist der letzte und vollendetste Ausdruck der Erzeugung und Aneignung der Produkte, die auf Klassengegensätzen, auf der Ausbeutung der einen durch die andern beruht."85 Der kapitalistischen wird die kommunistische Produktions- und Aneignungsweise gegenübergestellt. „Der Kommunismus nimmt keinem die Macht, sich gesellschaftliche Produkte anzueignen, er nimmt nur die Macht, sich durch diese Aneignung fremde Arbeit zu unterjochen." 86 In dieser ökonomischen Zuspitzung auf die Eigentumsfrage ist der Begriff der Aneignung in der Arbeiterbewegung populär geworden - vor allem durch Engels („Anti-Dühring") und Lenin (Klassendefinition, Imperialismus-Schrift). Engels entwickelt die Formel vom „Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung" 87 Doch insbesondere in den „Grundrissen" und im „Kapital" wird nicht nur die den jeweiligen Eigentums- und Produktionsverhältnissen entsprechende sozialökonomische Aneignungsweise untersucht, sondern stets auch der formationsgeschichtlich sich wandelnde Aneignungscharakter der Arbeit, der auch durch die Trennung von Arbeit und Eigentum im Kapitalismus nicht aufgehoben wird. Dieser Widerspruch zwischen Aneignung im schöpferischen Sinn (Aneignung durch Arbeit) und Aneignung im ökonomischen Sinn (Aneignung fremder Arbeit ohne Austausch) wird in den „Grundrissen" wiederum in der historischen Dialektik von Aneignung und Entfremdung erörtert. Als Entfremdung wird der Tatbestand gekennzeichnet, „daß die objektiven Bedingungen der Arbeit eine immer kolossalere Selbständigkeit ... gegen die lebendige Arbeit annehmen und der gesellschaftliche Reichtum in gewaltigem Portionen als fremde und beherrschende Macht der Arbeit gegenübertritt".88 Auf der anderen Seite nimmt auch der gesellschaftliche Zusammenhang der Individuen im Tauschwert eine entfremdete sachliche Gestalt an. Doch die „äußerste Form der Entfremdung, worin im Verhältnis des Kapitals zur Lohnarbeit die Arbeit, die produktive Tätigkeit ,im Verhältnis' zu ihren eigenen Bedingungen und ihrem eigenen Produkt- erscheint", wird zugleich als ein „notwendiger Durchgangspunkt" begriffen; denn sie enthält „in verkehrter, auf den Kopf gestellter Form" bereits 4
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„die Auflösung aller bornierten Voraussetzungen der Produktion". Dadurch schafft sie die „materiellen Bedingungen für die totale, universelle Entwicklung der Produktivkräfte des Individuums" und erzeugt so die Notwendigkeit ihrer eigenen Aufhebung.89 Zugleich ist die Vergesellschaftung der Individuen soweit fortgeschritten, daß „ein System des allgemeinen gesellschaftlichen Stoffwechsels, der universalen Beziehungen, allseitigen Bedürfnisse und universellen Vermögen" entstanden ist: dies ist eine Voraussetzung für den „freien Austausch von Individuen, die assoziiert sind auf der Grundlage der gemeinsamen Aneignung und Kontrolle der Produktionsmittel". Stärker noch als in der „Deutschen Ideologie" wird die Möglichkeit universeller individueller Subjektivitätsentwicklung aus der universellen Vergesellschaftung der Individuen, wenn auch in entfremdeter Form, abgeleitet: „Der Grad und die Universalität der Entwicklung der Vermögen, worin diese Individualität möglich wird, setzt eben die Produktion auf der Basis der Tauschwerte voraus, die mit der Allgemeinheit der Entfremdung des Individuums von sich und von andren, aber auch die Allgemeinheit und Allseitigkeit seiner Beziehungen und Fähigkeiten erst produziert".90 Weltanschaulicher Kernpunkt der Aneignungskonzeption in den „Grundrissen" bleibt die widersprüchliche Einheit von objektbezogener Formierung und historischer Subjektivitätsentwicklung. Das zeigt sich an der Stellungnahme zum wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Dieser wird in den „Grundrissen" weniger in seiner destruktiven Seite unter kapitalistischen Bedingungen betrachtet als vielmehr nach den Möglichkeiten, die er unter sozialistischen Bedingungen eröffnet. Das betrifft die Verwandlung der Arbeit in „travail attractif" und das wachsende Maß an „disposable time" für alle. Beides wird für Marx zur entscheidenden Voraussetzung für die universelle Entwicklung individueller Subjektivität. Exkurs: Zur einzelwissenschaftlichen Differenzierung des allgemeinen Aneignungsbegriffs Wird die Kunst in der Einleitung zu den „Grundrissen" innerhalb eines Ensembles geistiger Aneignungsweisen als eine besondere Weise der Aneignung der Welt bestimmt, so steht hinter dieser Bestimmung der ganze inhaltliche Reichtum, den der Terminus „Aneignung" in seiner marxistischen Begriffs- und Problemgeschichte gewonnen hat. Dieser Reichtum, der sich in einer Vielfalt von Sinnaspekten und -richtungen erweist, hat dazu geführt, daß sich die
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verschiedenen Sinnaspekte in speziellen Aneignungsbegriffen vergegenständlicht haben. Überblicken wir den gegenwärtigen Sprachgebrauch, so lassen sich verschiedenartig gebrauchte Aneignungsbegriffe auffinden: - ein philosophischer Aneignungsbegriff; sein Ausgangspunkt ist die Arbeit als materielle Grundform menschlicher Lebenstätigkeit, in der die Menschen nicht nur die Natur, sondern auch ihren praktischen Lebensprozeß formieren und individuelle Subjektivität entwickeln; die Priorität der Natur ist vorausgesetzt. Den philosophischen Aneignungsbegriff hat Alfred Kosing erstmalig in ein philosophisches Wörterbuch aufgenommen. Er schreibt u. a.: „Die A. ist ein Prozeß, in dessen Verlauf erstens immer größere Bereiche dieser Welt zum Objekt menschlicher Tätigkeit werden (Engels nennt dies die Verwandlung der Dinge an sich in Dinge für uns); zweitens betätigen, bereichern und entfalten sich die menschlichen Wesenskräfte, d. h. das Subjekt entwickelt sich; drittens ist es zugleich der Prozeß, in dem sich die Individuen die gesellschaftlichen Verhältnisse und die bereits vorhandenen gesellschaftlichen Produktivkräfte aneignen und diese weiterentwickeln. Die A. der Natur in der Produktion ist die grundlegende und bestimmende Form der A. Auf dieser Grandlage sind im geschichtlichen Prozeß der Auseinandersetzung der Menschen mit der materiellen Welt weitere, differenzierte A.sweisen entstanden. Sie besitzen sowohl gemeinsame Züge als auch spezifische Merkmale."91 - ein ökonomischer Aneignungsbegriff; er erlaubt, historisch wechselnde Eigentums- und Produktionsverhältnisse als verschiedene sozialökonomische Aneignungsweisen (z. B. kapitalistische oder sozialistische Aneignungsweise) zu erfassen. So lesen wir z. B. in der Schrift „Die Produktionsverhältnisse" von Horst Friedrich: „Die Aneignung von Arbeit ist charakteristisches Merkmal der ökonomischen Verhältnisse, und Mittel zur Aneignung von Arbeit sein ist die Funktion der Produktionsmittel in den Produktionsverhältnissen, eine Funktion, die sich von denen im stofflichen Bereich der Produktion qualitativ unterscheidet und sich als ökonomische Formbestimmtheit der Produktionsmittel darstellt ... Wenn Nichtarbeiter Eigentümer der Produktionsmittel sind, spaltet sich der Aneignungsprozeß in die Aneignung des Mehrprodukts durch den Produktionsmitteleigner und des notwendigen Produkts durch den Arbeiter, der Nichteigentümer der Produktionsmittel insgesamt oder jedenfalls des Hauptproduktionsmittels (Feudalismus) ist." 92 4*
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- ein psychologischer Aneignungsbegriff, in dessen Mittelpunkt die individualgeschichtliche Subjektwerdung der Menschen steht. So formuliert Alexej Leontjew: „Der Aneignungsprozeß erfüllt die wichtigste Notwendigkeit und verkörpert das wichtigste ontogenetische Entwicklungsprinzip des Menschen: Er reproduziert die historisch gebildeten Eigenschaften und Fähigkeiten der menschlichen Art in den Eigenschaften und Fähigkeiten des Individuums, zu denen auch die Fähigkeit gehört, die Sprache zu verstehen und sich ihrer zu bedienen."" - ein kulturtheoretischer Aneignungsbegriff; er zielt darauf ab, den jeweils historisch-konkreten Zusammenhang zwischen formationsspezifischer Vergesellschaftung der Individuen und individueller Vergesellschaftung (begriffen als subjektive Seite eines objektiven Prozesses) zu untersuchen. Dieser Aneignungsbegriff findet sich etwa bei Irene Dölling: „Für die ... allgemeine Kennzeichnung der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede von gesellschaftlichem und individuellem Reproduktionsprozeß sollen zunächst folgende allgemeine Hinweise genügen: Ausbildung von Bedürfnissen und Fähigkeiten in der tätigen Aneignung vergegenständlichter gesellschaftlicher Erfahrungen heißt, daß diese individualisiert werden, individuelle Gestalt annehmen. Das geschieht dadurch, daß sich die Individuen zu den objektiven Determinanten ihres Daseins in Beziehung setzen, daß sie von sich, vom jeweiligen Entwicklungsniveau ihres subjektiven Vermögens, von ihren Wünschen und Bestrebungen ausgehend, die objektiven Gegebenheiten wahrnehmen, sie akzeptieren beziehungsweise sie ablehnen als Möglichkeiten für die Realisierung beziehungsweise Erweiterung ihres individuellen Handelns." 94 - ein pädagogischer Aneignungsbegriff; in ihm verbindet sich die allgemeine Zielstellung der Erziehung zur Selbständigkeit mit fachspezifischen Gesichtspunkten. So hat Wilfried Bütow ein einflußreiches Konzept der pädagogisch gelenkten Literaturaneignung entwickelt. „Wenn ,Literaturaneignung' gegenüber ,Werkrezeption' den Vorzug erhält, so deswegen, weil dadurch der Bildungs- und Erziehungsaspekt in einem umfassenden Sinn hervorgehoben wird: Literaturaneignung als Bestandteil der Lebensäußerungen, als eine Form von Lebensaneignung ... Aus der Mischung von natürlicher Aufnahme und gelenkter Aneignung ergeben sich entscheidende Anforderungen an ein methodisches Führungskonzept... Es muß Raum für die eigene Auseinandersetzung mit dem Gelesenen, für Ent-
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deckungen und Selbstkorrektur, für Austausch, Vergleich und Erweiterung des Aufgenommenen, für das Durchspielen und Erproben der eigenen Möglichkeiten sein. Literaturaneignung als Erlebens-, Erkenntnis- und Wertungsvorgang bedarf folglich einer variierten Struktur- und Prozeßsicht, in der die Determinanten - die pädagogischen wie die rezeptionspsychologischen - weder verkürzt noch isoliert gesehen werden dürfen."95 Es ist völlig legitim, diese verschiedenen Aneignungsbegriffe zu verwenden, um spezielle Gesichtspunkte einer wissenschaftlichen Disziplin hervorzuheben. Wichtig ist nur, daß diese Begriffe nicht bunt durcheinandergewürfelt werden, so daß beispielsweise Teilnehmer an einer Diskussion über künstlerisch-geistige Aneignung aneinander vorbeireden, weil sie unterschiedliche Aneignungsbegriffe gebrauchen und dabei etwa den ökonomischen gegen den philosophischen oder den philosophischen gegen den psychologischen usw. ausspielen. Noch wichtiger ist, daß allen bewußt bleibt, daß es sich um verschiedene Aspekte eines objektiven Zusammenhangs handelt, die auf keinen Fall wechselseitig isoliert werden dürfen, sondern vielmehr stets aufeinander bezogen werden müssen. Zweifellos handelt es sich auch um Momente eines Prozesses, die in vielfältigen widersprüchlichen, ja antagonistischen Beziehungen historisch auseinandergetreten sind; dennoch bleiben sie miteinander vermittelt, und der Prozeß selber hat die Notwendigkeit erzeugt, daß seine Momente auf höherer Stufe wieder vereinigt werden: Marx hat sie daher immer zusammengedacht.
Die Kunst im Ensemble der geistigen Aneignungsweisen Wenn die Kunst in den „Grundrissen" als eine spezifische geistige Aneignungsweise begriffen wird, so ist das im philosophischen Sinne zu verstehen, nicht im ökonomischen, schließt aber den Bezug auf sozialökonomische Aneignungsweisen, als Frage nach der Stellung der Kunst zu diesen und in diesen, notwendigerweise ein. Kunst wird nicht schlechthin als Aneignung bezeichnet, sondern als eine Weise der Aneignung, die sich von anderen Weisen unterscheidet. Als besondere Aneignungsform gliedert sie sich ein in ein Ensemble unterschiedlicher Aneignungsweisen, die bei allen Unterschieden das „reale Subjekt, die Gesellschaft," in seinem praktischen Lebensprozeß zur gemeinsamen Voraussetzung haben. Kunst gewinnt
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ihre Spezißk nur in einem Ensemble von Aneignungsweisen, die in ihre m gemeinsamen, als geistig qualifizierten Aneignungscharakter ihr internes Tertium comparationis haben: die Unvergleichlichkeit der Kunst (ihre Unersetzbarkeit) resultiert aus ihrer Vergleichbarkeit in einem bestimmten Bezugssystem. In der „Deutschen Ideologie" heißt es: „Auch die Unvergleichlichkeit ist eine Reflexionsbestimmung, welche die Tätigkeit des Vergleichens zu ihrer Voraussetzung hat." 96 Das Ensemble geistiger Aneignungsweisen, zu dem die Kunst gehört, hat aber nicht nur ein internes, sondern auch ein externes Tertium comparationis, das sich aus dem Bezug auf die praktische Lebensaneignung der Individuen in ihrer menschheits- und individualgeschichtlichen Vergesellschaftung ergibt. Dieser Bezug ist nicht nur ein vielfach vermitteltes Abhängigkeits- und Ableitungsverhältnis, sondern Wechselwirkung, d. h. auch ein Verhältnis der aktiven Rückwirkung. Vergleichbar und unvergleichlich sind die unterschiedlichen geistigen Aneignungsweisen daher auch und vor allem in ihrem Anteil am Gesamtprozeß der Aneignung der Natur und des gesellschaftlichen Zusammenhangs durch die Individuen. Die entscheidende Frage lautet, wie dieser Anteil jeweils zu bestimmen ist. Um die Bestimmimg der Kunst als spezifische geistige Aneignungsweise in ihrem ganzen Beziehungsreichtum zu erfassen, müssen alle bisher entwickelten Charakteristika eingebracht werden: - Kunst als ein Organ sinnlicher Aneignung in einer gattungsspezifisch differenzierten Allseitigkeit; - Kunst als Organ humaner Sinnbildung, die in der gegenständlichen Bestimmtheit ihres Aneignungscharakters der Reduktion aller menschlichen Sinne und Eigenschaften auf den Tauschwert (Sinn des Habens) objektiv entgegenwirkt; - Kunst als Formierungselement und -mittel des geschichtlich-gesellschaftlich bestimmten Selbstbewußtseins der Individuen, worunter auch ihr Klassenbewußtsein als Bewußtsein der weltgeschichtlichen Rolle ihrer Klasse fällt; - Kunst als spezifischer Ausdruck von praktischen Lebenskollisionen als eine der ideologischen Formen, worin sich die Menschen ihrer sozialen Konflikte bewußt werden und diese ausfechten. In den „Grundrissen" konzentrieren sich die Implikationen des Aneignungskonzepts, die die Kunst betreffen, auf folgende Hauptpunkte: (1) In der Kunst verhält sich „der denkende Kopf" nicht nur theoretisch, er verhält sich auch hochgradig emotionell, spontan, intuitiv, unbewußt, subjektzentriert, ausdruckshaft, appellierend. Der eingebürgerten Ge-
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wohnheit, Kunst - zusammen mit der Religion - der sogenannten praktisch-geistigen Aneignung zu subsumieren, hat indessen die neueste Textrevision den Boden entzogen. Die bisherige Lesart, in der die theoretische (wissenschaftliche) Aneignung unterschieden wird „von der künstlerischen, religiösen, praktisch-geistigen Aneignung dieser Welt" mußte der korrigierten Lesart weichen, wonach „von der künstlerisch-, religiös-, praktisch-geistigen Aneignung" die Rede ist.97 Dabei bleibt unklar, was Marx unter praktisch-geistiger Weise der Aneignung verstanden wissen wollte. Die gesellschaftliche Praxis ist eine materielle Aneignungsweise, trotz der vielfältigen Bewußtseinsvermittlungen, deren sie bedarf. Am sinnvollsten erscheint der Vorschlag von Jürgen Hirschmann, als praktisch-geistige Aneignung das Alltagsbewußtsein zu begreifen und einer entsprechenden Analyse zu unterziehen.98 Das künstlerisch tätige Subjekt verhält sich vor allem als sinnlich gestaltendes, in einem stofflich-energetischen Material strukturenund musterbildendes Subjekt, und es kann sich nur geistig verhalten, weil dieses Material zugleich historisch gewordenes formsprachliches Material ist, Material sinnlich fundierter Zeichenbildung: Nur darum kann es spezifisches sinnliches Medium (homogenes Medium) geistiger Aneignung des Real-Konkreten sein. Ohne eine bestimmte semantisch-pragmatische Intention jedoch wäre dieser Gestaltungsprozeß kein Aneignungsprozeß, denn er ließe sich keineswegs den Gestaltungsprozessen in der materiellen Produktion gleichstellen, die praktische oder technische Gebrauchswerte als Aneignungsresultat anstreben. In welchem Maße der im ökonomischen Sinne unproduktive Arbeitscharakter der Kunst betont wird, zeigt sich u. a. daran, daß Marx das Komponieren als ein Beispiel für „travail attractif" heranzieht. (2) Künstlerische Tätigkeit rückt in den Umkreis derjenigen Bedürfnisse, deren Bedürfnisgegenstand und Befriedigungsmittel die Arbeit in allen Formen schöpferischer Tätigkeit selber ist. Die Arbeit ist für Marx als Medium der geschichtlichen Selbsterzeugung des gesellschaftlichen Menschen nicht nur Existenzsicherung, sondern auch Gestaltung des materiellen Lebens, in diesem Sinne Selbstbetätigung der Individuen. Die Widersprüchlichkeit der Lohnarbeit für das Kapital sieht Marx nach dieser Seite darin, daß die Arbeit „allen Schein der Selbstbetätigung verloren" hat und das Leben der Arbeiter nur „erhält..., indem sie es verkümmert". Lebenssicherung und -gestaltung „fallen ... jetzt so auseinander, daß überhaupt das materielle Leben als Zweck", seine
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Erzeugung und Gestaltung dagegen als Mittel erscheint.99 In dem Bedürfnis nach Selbstbetätigung (Selbstverwirklichung) ist die Erzeugung und Gestaltung des materiellen Lebens selber der gewollte Zweck, den sich die Individuen setzen (was Marx wiederholt mit dem Terminus des Selbstzwecks bezeichnete): dies ist ein Ergebnis und Moment der historischen Entwicklung der Bedürfnisse, die sich in Lebens- und Gestaltungsbedürfnisse differenzieren. Deren widersprüchliche Einheit drückt Marx in historischer Perspektive durch die These aus, daß in der kommunistischen Gesellschaft die Arbeit - als Grundform der Lebensgestaltung - zum ersten Lebensbedürfnis wird. Schon in der „Deutschen Ideologie" wird als Ergebnis der revolutionären Aneignung der Produktivkräfte durch die frei vereinigten Individuen prognostiziert, daß „die Selbstbetätigung mit dem materiellen Leben" zusammenfällt100: Lebens- und Gestaltungsbedürfnisse würden eine neue Einheit bilden. Gestaltungsbedürfnisse sind kein abstrakter Gegensatz zu Lebensbedürfnissen, sondern eine besondere Form und Qualität, die sich daraus ergibt, daß die Lebensbedürfnisse, die zunächst Naturbedürfnisse sind, als geschichtlich erzeugte Bedürfnisse selbstreflexiv werden, d. h. sie werden zum Gegenstand des Wollens und Bewußtseins der Menschen, beziehen sich daher in Form bewußter Lebenstätigkeit auf sich selber. Gegenstand der arbeitsteilig-kooperativ ausgeübten Lebenstätigkeit der vergesellschafteten Individuen ist zuletzt „eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaß der Produzenten".101 Diese Differenzierung der Bedürfnisse reflektiert auch die Bedürfniskonzeption der kritischen Psychologie, die Unterscheidung „sinnlich-vitaler" und „produktiver" Bedürfnisse.102 Gegen diese Terminologie ist einzuwenden, daß Marx Sinnlichkeit nicht auf das organische und sexuelle Bedürfnisleben einschränkt, sondern als Kernprozeß subjektiver menschlicher Sinnlichkeit die gegenständliche Tätigkeit begriffen hat. Es ist ferner einzuwenden, daß der z. T. kontradiktorischen Gegenüberstellung von Bestimmungen eine dualistische Tendenz innewohnt: so seien die sinnlich-vitalen Bedürfnisse zirkulär und entwicklungslos, die produktiven nichtzirkulär und daher allein entwicklungsfähig usw. Entscheidend ist jedoch, daß hier, wie bereits in der Bedürfniskonzeption von Heinrich Taut,103 die menschlichen Bedürfnisse nicht nur in der Sphäre der Konsumtion, sondern auch in der Sphäre der Produktion angesiedelt werden. Daß sich Gestaltungsbedürfnisse auf die materielle Arbeit als Grundform der
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Tätigkeit beziehen, heißt für Marx nicht, daß sie sich darauf beschränken. Erstens liegt es in der historischen Dynamik des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen, daß sich die Gestaltung ihres Lebensprozesses tendenziell erweitert und differenziert: sie bildet unterschiedliche Formen, Bereiche, Strukturen, Ebenen. Zweitens wird auch die geistige Arbeit - in Form von künstlerischer oder wissenschaftlicher Arbeit - als Moment und Mittel gesellschaftlicher und individueller Lebensgestaltung gefaßt. Wenn Marx künstlerische Tätigkeit als Beispiel für „travail attractif" heranzieht, so ist sie in dieser Bestimmung zugleich ein Beispiel für Gestaltungsbedürfnisse. (3) Zur Spezifik der Kunst als geistiger Aneignungsweise gehört, daß sie gleichzeitig ein Organ sinnlicher Aneignung ist. Kunst ist gewissermaßen sinnliche Aneignung in geistiger Form bzw. geistige Aneignung in sinnlicher Form. Die Formulierung „Sinnlichkeit der Kunst" bezieht sich auf die sinnliche Gegenwärtigkeit der Kunst, nicht darauf, daß sie etwa im erkenntnistheoretischen Sinne das Real-Konkrete lediglich in sinnlichkonkreter Form abzubilden vermöge. Die in künstlerischen Strukturen vergegenständlichte und formierte Sinnlichkeit kultiviert die Sinnlichkeit der Rezipienten, die sich auf die Anforderungen der Kunst einlassen. Kunstgebrauch ist seinerseits nicht nur intellektuelle, sondern auch sinnliche Aneignung. Auch Tanzen ist eine Aneignung von Musik, soweit Musik zum Tanzen bestimmt ist. Musik hat nach Marx auch einen Aneignungseffekt, wenn sie „unsre Individualität tatkräftiger, lebensvoller stimmt, "im (4) Als geistige Aneignungsweise hat die Kunst eine bestimmte „Anschauung der Natur und der gesellschaftlichen Verhältnisse" zur Voraussetzung, die sich von wissenschaftlicher Anschauung durchaus unterscheiden kann. Marx verweist auf die griechische Mythologie als Boden und Mutterschoß der griechischen Kunst. An der Mythologie hebt Marx zwei Momente hervor: Seien in dieser „die Natur und die gesellschaftlichen Formen selbst schon in einer unbewußt künstlerischen Weise verarbeitet durch die Volksphantasie", so seien hierbei die Naturkräfte in der Einbildung und durch die Einbildung überwunden, beherrscht und gestaltet. Demgegenüber verschwinde die Mythologie mit der wirklichen Herrschaft über diese Kräfte. Obwohl die Verarbeitung der griechischen Mythologie durch die griechische Kunst zugleich einen Prozeß der Entmythologisierung darstellt, ist Marx' Feststellung richtig, daß diese frühe „Blütezeit" der
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Kunst keinesfalls eine Gesellschaftsentwicklung voraussetzt, „die alles mythologische Verhältnis zur Natur ausschließt, alles mythologisierende Verhältnis zu ihr; also vom Künstler eine von Mythologie unabhängige Phantasie verlangt".105 In einem anregenden Kommentar zu dieser Textstelle hebt Herrmann Ley den Aneignungsimpuls hervor, der in der Mythologie wirkt. „Marx beschäftigt, daß das Zeitalter der Mythologie in der Idee von dem Überwinden der Naturkräfte ausgeht und sie in den Dienst des Menschen stellt. Er sieht die Form in der Abhängigkeit von der Art der Phantasie, die sich den entgegenstehenden Schwierigkeiten stellt und Strukturen entwirft, die Natur, Gesellschaft und Himmel umfassen. Ohne ,selfactors und Eisenbahnen und Lokomotiven und elektrischen Telegraphen',,Blitzableiter', den,Credit mobilier' projiziert das damalige Epos phantastische Strukturen der menschlichen Imagination in alle Umwelt und bleibt bemüht, ein Netz willentlicher Bindungen und Mechanismen zu spannen, durch das die eigene gegenständliche und theoretische Aktivität zu einer Erklärung komme. Insofern läßt sich der Mythologie nicht absprechen, daß sie objektive Strukturen annähert, deren Resultat der Nachwelt an Bauten und Wertschmuck, an einige Jahrhunderte später entstandener Philosophie und Theorie nachvollziehbar bleiben. Als ein zweifellos nichtwissenschaftliches Verfahren sind Strukturen in Dichtung kondensiert, die als erworbene geistige Voraussetzung in die gesellschaftliche Umwelt einwirken, in materiellem Kondensat von der Effizienz der Epoche zeugen. Soweit ihre Ergebnisse hinter späteren Zeitverhältnissen zurückstehen, bleiben sie ein Dokument unentwickelter Gesellschaftsstufe. Mit dem versuchten und partiell erfolgreichen Bezwingen der Natur berührt die damalige mythologische Phantasie indes die Moderne."106 (5) Wird Kunst als geistige Aneignungsweise begriffen, so ist damit in bezug auf entwickelte Gesellschaftsverhältnisse zugleich die Frage aufgeworfen, ob es ihr, wenigstens in bestimmten Kunstformen, prinzipiell möglich ist, eine konkrete geschichtlich-gesellschaftliche Lebenstotalität nicht als, sondern durch ein geistiges Konkretum abzubilden. Auch ein Netz von Verweisen kann ein geistiges Konkretum sein. Wird der Kunst diese Fähigkeit zuerkannt, so ist weiter zu fragen, wie sie die Lebenstotalität als ihren Gegenstand bestimmt, auf welche Weise und in welcher Funktion sie ihn abbildet. Im Vergleich zur Wissenschaft ist damit zugleich gefragt, worin sich die Art geistiger Konkreta, die die Kunst zu erzeugen vermag, von den geistigen Konkreta der Wissenschaft unterscheidet.
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Exkurs: Gesichtspunkte der Aneignung im Poststrukturalismus - Fallstudien zur „Wissensarchäologie" von Michel Foucault und zur Diskurs-Konzeption von Julia Kristeva Robert Weimann hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß in verschiedenen Spielarten des Poststrukturalismus insbesondere in Frankreich der aus verschiedenen Quellen hergeleitete Gedanke der Aneignung unter wechselnden Gesichtspunkten produktiv geworden ist. Insofern ist dem aneignungstheoretischen Diskurs eine internationale Dimension zuzuerkennen, die wir uns als zeitgeschichtlichen Kontext auch der eigenen Konzeptionsbildung vergegenwärtigen müssen. In der poststrukturalistischen Diskussion geht es um Grundfragen philosophischer Erkenntnis- und Handlungstheorie, um zentrale weltanschauliche Probleme von allgemeiner Semiotik, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, Ästhetik und Kunstwissenschaften. „Aneignung" dient vorzugsweise als begrifflich-konzeptionelle Alternative zum positivistisch verkürzten Repräsentationsbegriff, darüber hinaus aber auch zur semantischen Repräsentations- bzw. Darstellungsfunktion überhaupt. Damit trifft die Polemik auch die Abbildbeziehung, die als kognitive Vermittlung aller wie immer pragmatisch eingebundenen Aneignungsvorgänge unverzichtbar ist. Doch die Auseinandersetzung mit der poststrukturalistischen Infragestellung von semantischer Repräsentation würde eine systematische Erörterung verlangen, die exkursorisch nicht zu leisten ist; dies ist auch nicht unser zentrales Thema. Wir beschränken uhs daher auf zwei Fallstudien, die in erster Linie die Aufgabe haben, das Blickfeld zu erweitern und einige besondere Erkenntnisinteressen zu beleuchten, die in der Theorienbildung wirksam geworden sind. Das ist im ersten Fall Michel Foucaults Auffassung von Aneignung als sozialer Verfügungsgewalt über historisch-konkrete Diskurstypen, im zweiten Fall Julia Kristevas Gegenüberstellung von „reinen" und „angeeigneten" Strukturen. Indem wir diese Interessenpunkte betonen, beanspruchen wir nicht, alle Seiten und Wandlungen des poststrukturalistischen Aneignungsbegriffs umrissen zu haben. Vorgesehen ist weder ein umfassendes Gruppenbild französischer Poststrukturalisten der ersten, zweiten und dritten Generation, noch ist beabsichtigt, die Gesamtentwicklung von Michel Foucault und Julia Kristeva darzustellen. Zugrundegelegt werden vielmehr in beiden Fällen die Hauptwerke einer jeweils spezifischen Entwicklungsstufe, in denen Kerngedanken
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zum-ersten Male mit größtmöglicher Klarheit ausgesprochen werden - es handelt sich u m Foucaults Buch ,,L' archéologie du savoir", Paris 1969 (deutsch: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1981) und um Kristevas Habilitationsschrift „La révolution du langage poétique", Paris 1974 (Dt. Teilübersetzung „Die Revolution der poetischen Sprache", Frankfurt a. M. 1978). Wir heben Michel Foucault heraus, da sich auf ihn, verstärkt nach seinem Tode im Jahre 1984, ein vielfältiges Interesse auch innerhalb der sozialistischen Länder konzentriert. Der sowjetische Philosoph Viktor P. Vizgin schreibt: „Zweifellos zeugt dies von der Originalität des von Foucault vorgeschlagenen Herangehens an die Analyse des Wissens im kulturellen System verschiedener historischer Epochen, speziell in der Periode zwischen Renaissance und Gegenwart. Von großem Interesse ist die von Foucault entwickelte sogenannte Archäologie des Wissens für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung, vor allem für deren methodologisches Selbstverständnis." 107 Was versteht Foucault unter der „Archäologie des Wissens"? Geben wir ihm selbst das Wort: „1. Die Archäologie versucht, nicht die Gedanken, die Vorstellungen, die Bilder, die Themen, die Heimsuchungen zu definieren, die sich in den Diskursen verbergen oder manifestieren; sondern jene Diskurse selbst, jene Diskurse als bestimmten Regeln gehorchende Praktiken. Sie behandelt den Diskurs nicht als Dokument, ... sie wendet sich an den Diskurs in seinem ihm eigenen Volumen als Monument... 2. Sie geht nicht in langsamer Progression vom konfusen Feld der Meinung zur Besonderheit des Systems oder zur definitiven Stabilität der Wissenschaft; sie ist keine ,Doxologie', sondern eine différentielle Analyse der Modalitäten des Diskurses ... ^ 3. Sie definiert Typen und Regeln von diskursiven Praktiken, die individuelle Werke durchqueren, die mitunter sie völlig bestimmen und sie beherrschen, ohne daß ihnen etwas entgeht, mitunter aber nur einen Teil davon beherrschen. Die Instanz des schöpferischen Subjekts als raison d'etre eines Werkes und Prinzip seiner Einheit ist ihr fremd... 4. Schließlich sucht die Archäologie nicht nach der Wiederherstellung dessen, was von den Menschen in dem Augenblick, da sie den Diskurs vortrugen, hat gedacht, gewollt, anvisiert, verspürt, gewünscht werden können; sie nimmt sich nicht zum Ziel, jenen flüchtigen Kern zu suchen, wo der Autor und das Werk ihre Identität austauschen .. Das ist nicht die Rückkehr zum Geheimnis des Ur-
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sprungs; es ist die systematische Beschreibung eines Diskurses als Objekt."108 Zentral ist hierbei der Begriff des Diskurses. Ein Diskurs als Artikulationsform von Aussagen, für die sich Existenzbedingungen definiere n lassen, charakterisiert sich nach Foucault nicht nur durch seine bevorzugten Objekte, sondern auch durch die Art, seine - oftmals breitgestreuten Gegenstände zu gestalten. Davon ausgehend lassen sich verschiedene Diskurstypen (als jeweils spezifische Artikulationsformen spezifischer Gesamtheiten von Aussagen) unterscheiden; umgekehrt erscheinen z. B. verschiedene wissenschaftliche Disziplinen als verschiedene Diskurse bzw. Diskurstypen, die dem individuellen Subjekt gesellschaftlich vorgegeben sind und sich historisch wandeln, gar verschwinden oder erstmals auftreten. Objekt der Foucaultschen Wissensarchäologie sind also nicht Einzeltexte, sondern der in Einzeltexten auf eine bestimmte, reguläre Weise vergenständlichte Diskurstyp in seiner historischen Bestimmtheit und Verflechtung mit anderen Diskurstypen. Aufgabe sei die Entdeckung „interdiskursiver Konfigurationen", die Ermittlung von Beziehungsfeldern, in denen verschiedene Diskurstypen strukturelle Gemeinsamkeiten, Verlagerungen, Korrelationen erkennen lassen. Einen Erklärungsansatz, der über die Deskription interner Regularitäten hinausführt, ist die der Wissensarchäologie gestellte Aufgabe, „auch Verhältnisse zwischen den diskursiven Formationen und den nichtdiskursiven Bereichen ... (Institutionen, politische Ereignisse, ökonomische Praktiken und Prozesse)" zu untersuchen.109 „Gegenüber einem Komplex von Aussagefakten fragt sich die Archäologie nicht, was ihn hat motivieren können (denn das ist die Untersuchung der Formulierungstexte); sie sucht auch nicht zu erkennen, was sich in ihnen ausdrückt (die Aufgabe einer Hermeneutik); sie versucht zu determinieren, wie die Formationsregeln, von denen er abhängt ... mit nichtdiskursiven Systemen verbunden sein können: sie sucht spezifische Artikulationsformen zu definieren."110 Durch Gegenstandsbereich und Gestaltungsweise bildet jeder Diskurs eine „diskursive Formation", die sich jeweils durch Formationsregeln kennzeichnen läßt. Foucault interessieren konkret historisch bestimmbare spezifische Regeln von Diskurstypen, „gemäß denen Objekte, Äußerungen, Begriffe, theoretische Optionen gebildet worden sind".111 Hierfür müsse ein komplexes Bündel verschiedenartiger gesellschaftlicher Beziehungen untersucht werden: primäre oder wirkliche Beziehungen, die unabhängig von jedem Diskurs oder jedem Diskursgegenstand existieren; sekundäre oder reflexive Bezie61
hungen, die auf den Diskurs bezogen sind; diskursive Beziehungen, die den Diskurs selbst als Praxis charakterisieren. „Man kann sie (die diskursive Praxis) nicht mit dem expressiven Tun verwechseln, durch das ein Individuum eine Idee, ein Verlangen, ein Bild formuliert, noch mit der rationalen Aktivität, die in einem System von Schlußfolgerungen verwandt wird; noch mit der ,Kompetenz' eines sprechenden Subjekts, wenn es grammatische Sätze bildet. Sie ist eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets in Raum und Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben." 1 1 2 Das Subjekt des Diskurses ist für Foucault ein aufs konkrete Individuum bezogener anonymer. gesellschaftlicher Status, der beliebigen Individuen das Recht einräumt, „einen solchen Diskurs hervorzubringen". Der gesellschaftliche Status wird durch entsprechende institutionelle Plätze und wechselnde Anforderungssituationen modifiziert, aus denen sich unterschiedliche, durch Tätigkeitsmerkmale charakterisierte, Subjektpositionen ergeben. In der wirklich durchgeführten Strategie werden Diskurse durch die Funktion bestimmt, die sie „in einem Feld nicht-diskursiver Praktiken ausüben". In diesem Zusammenhang führt Foucault den Begriff der Aneignung ein. Die Funktion bestimmt sich vor allem durch „das System und die Prozesse der Aneignung des Diskurses: denn in unseren Gesellschaften ... ist der Besitz des Diskurses - gleichzeitig als Recht zu sprechen, Kompetenz des Verstehens, erlaubter und unmittelbarer Zugang der bereits formulierten Aussagen, schließlich als Fähigkeit, diesen Diskurs in Entscheidungen, Institutionen oder Praktiken einzusetzen, verstanden in der Tat (manchmal auf reglementierende Weise sogar) für eine bestimmte Gruppe von Individuen reserviert; in den bürgerlichen Gesellschaften, die wir seit dem 16. Jahrhundert kennengelernt haben, ist der ökonomische Diskurs niemals ein allgemeiner Diskurs gewesen (ebensowenig der ärztliche Diskurs, der literarische Diskurs, wenn auch auf eine andere Weise)." 1 1 3 Man kann nicht so ohne weiteres sagen, daß Foucault den Aneignungsbegriff auf seine ökonomische Dimension reduziert bzw. lediglich einen ökonomischen Aneignungsbegriff verwendet. Aneignung is t durchaus komplex gefaßt (als Recht zu sprechen, Kompetenz des Verstehens, erlaubter und unmittelbarer Zugang, Fähigkeit, den Diskurs praktisch einzusetzen), aber ihre entscheidende Dimension ist die ökonomische. Die durch Eigentums- und Machtverhältnisse vermittelte arbeitsteilige
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Struktur der Gesellschaft entscheidet über die Möglichkeiten individueller Aneignung gesellschaftlich verfügbarer Diskurstypen. In bestimmter, wenn auch entscheidend verkürzter Hinsicht, paraphrasiert Foucault die marxistische Erkenntnis, daß die konkrete Möglichkeit dafür, was und wie in einer Zeit gedacht wird, wesentlich davon abhängt, wer über die Mittel der geistigen Produktion disponiert. Inwiefern dies die Klasse ist, „die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat",114 wird von Foucault freilich kaum systematisch untersucht. Seine Wissensarchäologie verhält sich merkwürdig indifferent gegenüber den historischen Klassenkämpfen, in denen sich Epochen formieren und wandeln und Diskurse als Monumente „in materiellem Kondensat von der Effizienz der Epoche zeugen" und daher zugleich als Dokumente fungieren.115 Die abstrakte Gegenüberstellung von Monument und Dokument ist einer historisch materialistisch fundierten Archäologie wesensfremd; so wenig sie eine Archäologie ohne Monumente sein kann, sowenig kann sie darauf verzichten, die Monumente in ihrer objektiven sozial- und kulturhistorischen Verweiskraft aufzuschließen, also auch zu fragen, wo sich die Eigenstruktur der Diskurse und Strukturen der die Diskurse bedingenden Welt berühren. Das von Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie" formulierte historiographische Grundprinzip, die „Ideenformationen aus der materiellen Praxis" zu erklären,116 hat sich Foucault nicht zu eigen gemacht. Zwar untersucht er nicht in erster Linie Ideenformationen, sondern diskursive Formationen. Geht man aber davon aus, daß Ideenformationen anders als in Gestalt von diskursiven Formationen gar nicht existieren können, so ergibt sich hierbei, um etliche Vermittlungsprobleme bereichert, die gleiche grundlegende Problemstellung, die Foucault allenfalls von weitem anvisiert. Die Kernform des Diskurses ist für Foucault die Aussage - aber eine sehr vielschichtig gefaßte Aussage, die sich weder auf einen Außerungstyp, noch auf ihren propositionalen Inhalt, noch auf ein einziges Korrelat, noch auf ein isoliertes Vorkommen reduzieren läßt. Die wiederholbare Materialität, die die Aussagefunktion charakterisiert, d. h. die Gebundenheit an einen materiellen Zeichenträger, „läßt die Aussage als ein spezifisches und paradoxes Objekt, als ein Objekt immerhin unter all denen erscheinen, die die Menschen produzieren, handhaben, benutzen, transformieren, tauschen, kombinieren, zerlegen und wieder zusammensetzen, eventuell zerstören. Statt etwas ein für allemal Gesagtes ... zu sein, erscheint die Aussage gleichzeitig, wie sie in ihrer Materialität auftaucht, mit einem Statut, tritt in Raster ein,
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stellt sich in Anwendungsfelder ... So zirkuliert, dient, entzieht sich die Aussage, gestattet oder verhindert sie die Erfüllung eines Wunsches, ist sie gelehrig oder rebellisch gegenüber Interessen, tritt sie in die Ordnung der Infragestellungen und der Kämpfe ein, wird sie zum Thema der Aneignung oder der Rivalität. "m Erst als Gegenstand und Produkt von Aneignung wird die Aussage, als angeeignete Aussagefunktion, gesellschaftlich wirksam. Aneignung heißt hierbei vor allem, die Macht zu haben, eine bestimmte gesellschaftliche Subjektposition einzunehmen, in der bestimmte, unter konkreten historischen Bedingungen entstandene Diskursmöglichkeiten für bestimmte Zwecke und Interessen verfügbar werden. Die historische Veränderung von Formationsregeln und damit von diskursiven Formationen interessiert Foucault zwar durchaus, aber er begreift sie nicht als Prozeß der Aneignung, indem unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen veränderte diskursive Mittel geschaffen werden, um die materielle Praxis geistig aneignen und dadurch aktiv gestalten zu können. Ebensowenig sind für Foucault die Diskurstypen selber kommunikative Aneignungsformen, in denen Bewußtseinsinhalte formiert, codiert und gespeichert bzw. geäußert werden. Insoweit trifft Weimanns Kritik, Foucault sehe den Diskurs „immer schon als angeeignet, niemals als Prozeß und Resultat von Aneignung", die entscheidende Schwachstelle dieser Aneignungskonzeption.118 Natürlich hat das Konzept der Wissensarchäologie eine Entwicklung durchlaufen. Vizgin unterscheidet drei Entwicklungsphasen. Die erste Phase beginnt in den frühen sechziger Jahren und endet mit dem Buch „Les mots et les choses. Une archéologie des science humaines", Paris 1966 (deutsch: „Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften", Frankfurt a. M. 1974). Übergreifend ist die Bestimmung synchroner Einheiten des Wissens. „Das Regime des Funktionierens von Wissen und Kultur als semiotisches System ist für Foucault im Rahmen eines ,epistemologischen Feldes' prinzipiell einheitlich."119 Den von Bachelard übernommenen, aber abgewandelten Schlüsselbegriff der „épistémè" bezeichnet Foucault als „historisches Apriori" einer gegebenen Kultur. Die zweite Phase steht im Zeichen einer entwicklungstheoretischen Fragestellung. Sie wird durch die „Archäologie des Wissens" dokumentiert. „Den zentralen methodologischen Stellenwert erhält die Analyse der Verbindung von ,nichtdiskursiven' und ,diskursiven Praktiken' erst in der Konzeption vom ,Herrschaftswissen', die Foucault in der dritten Etappe der Ausarbeitung einer »Archäologie' des Wissens entwirft."120 Vizgin be64
zieht sich vor allem auf die 1976 verfaßte Schrift „Der Wille zum Wissen". „Wissen wird hier nicht mehr als etwas Besonderes und losgelöst von politischen Verhältnissen, die Foucault außerordentlich weit, als praktisch die gesamte Gesellschaft durchdringend versteht, gedacht. Eine Generation jünger als Michel Foucault ist Julia Kristeva. Sie ist als führendes Mitglied der um die Zeitschrift „Tel Quel" gescharten gleichnamigen französischen Literaten- und Philosophengrüppe international bekannt geworden. „Tel Quel" ist aus dem politischen und kulturellen Kontext der sechziger Jahre nicht wegzudenken. Als Ausgangspunkte der Konzeptionsbildung innerhalb dieser Gruppe nennt Brigitte Burmeister: „Die theoretischen Neuansätze von Lévi-Strauss, Barthes, Foucault, Lacan, Derrida, Althusser in den sechziger Jahren namentlich die Entwürfe zu einer ,materialistischen Theorie der Sprache, des Subjekts und der symbolischen Produktion' - , die E x plosion der spontanen Kreativität der Massen' im Mai 1968, die ,sexuelle Revolution' (verstanden als Folge von Freuds Entdeckung der,Wirkungsweise des Unbewußten und der gesellschaftlichen Rolle der Sexualbeziehungen'), der Kampf ,des avantgardistischen Textes' gegen die ,saturierte Rhetorik' bourgeoiser Literatursprache - , . . " m Julia Kristeva hat, so Brigitte Burmeister, „die für Tel Quel seinerzeit programmatische Verbindung von Literatur - Wissenschaft - Politik Philosophie in ein Hoheslied der Lust" umgeschrieben.! 23 Auch in Julia Kristevas vor allem in ihrer Arbeit „Die Revolution der poetischen Sprache" entwickelten Diskurs-Konzeption ist der Aneignungsbegriff unter einem besonderen Gesichtspunkt konzeptionsbildend geworden. Jeder Diskurs ist für Julia Kristeva eine spezifische und konkrete Aneignung bestimmter struktureller Möglichkeiten und Tiefenschichten der Sprache. Doch er ist nicht nur angeeignete Sprache, sondern zugleich ein kommunikatives Mittel der praktischen Lebensaneignung. Dies kennzeichnet den Literaturbegriff von Kristeva: „Wenn es ... einen ,Diskurs' gibt, der nicht bloß Niederschlag, sprachlicher Film oder Archiv für Strukturen ist, auch nicht die Zeugenaussage eines zurückgezogenen Körpers, sondern im Gegenteil Element einer Praxis, die die Gesamtheit der unbewußten, subjektiven, gesellschaftlichen Beziehung enthält in der Form von Angriff, Aneignung, Zerstörung und Aufbau, in der Eigenschaft positiver Gewalt also, so ist es die ,Literatur'.. ,"m Der Aneignungsbegriff wird als Aspekt eines Produktionsprozesses eingeführt, der im Körperlich-Triebhaften und Unbewußten entspringt: hier ist Julia Kristeva der Freudrezeption des
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Psychologen Jaques Lacan verpflichtet. Sie tritt mit dem Anspruch auf, die Dimensionen der Arbeit zu erforschen, die Marx unter den Gesichtspunkten der politischen Ökonomie angeblich vernachlässigen mußte. Ausgehend von der Marxschen Bestimmung konkreter Arbeit als „Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in besondrer zweckbestimmter Form" 1 2 5 sucht sie einen Raum zu denken, „in dem die Arbeit unabhängig vom Wert, d. h. noch diesseits von Warenproduktion und Zirkulation im Kommunikationsnexus begriffen werden könnte. Tief unten, auf jenem Schauplatz, wo die Arbeit noch keinerlei Wert (ab-)bildet und wo sie noch nichts besagen will, folglich keinen Sinn hat - auf jenem Schauplatz handelt es sich um Beziehungen zwischen Körper und Verausgabung. Diese Produktivität, die früher ist als der Wert, diese ,vor-sinnige' Arbeit - Marx konnte und wollte nicht weiter auf sie eingehen." 126 Damit nimmt Kristeva der Arbeit die konkrete zweckbestimmte Form, in der sie Gebrauchswert produziert, sie nimmt ihr den Gegenstand, in dessen Aneignung der Körper sich verausgabt, sie entwirft das Konzept einer „Arbeit" vor der Arbeit, in der der Körper als naturwüchsiger Ausgangspunkt aller später entfalteten Subjekt-Objekt-Beziehungen verselbständigt wird. Julia Kristeva entgeht völlig die weltanschauliche Dimension des Marxschen Arbeitsbegriffs, der fundamentale Aneignungscharakter, den die Arbeit als Grundform der geschichtlichen Selbsterzeugung des gesellschaftlichen Menschen für Marx gewinnt. Was man „Arbeit" vor der Arbeit nennen müßte, nennt Kristeva eine „dem Sinn vorausliegende Sinnproduktion". Dementsprechend unterscheidet sie auf eigenwillige Weise zwischen dem Semiotischen und dem Symbolischen. Mit dem Terminus des Semiotischen will Kristeva jene „Funktionsweisen bezeichnen, die der Herausbildung des Symbolischen und dessen Subjekt logisch wie chronologisch vorausgeht; er erlaubt nämlich, jenes heterogene Funktionieren zu erfassen, das Freud ,psychosomatisch' nannte". 127 Es ist ein Vorgang unbewußter Sinngebung, der sich auf das „werdende Subjekt" bezieht. Kristeva schreibt: „Wir unterscheiden das Semiotische (die Triebe und ihre Artikulation) von der Bedeutung und deren Bereich, der immer auch einer des Satzes und des Urteils ist, anders ausgedrückt: der ein Bereich von Setzungen ist". 128 Diese Setzung hat die Bedeutung „eines Einschnittes in den Prozeß der Sinngebung, mit dem und durch den das Subjekt die Identifizierung seiner selbst und seiner Objekte vollzieht". 129 Diesen Einschnitt nennt Kristeva die „thetische Phase" - sie konstituiert das symbolische Feld.
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Kristeva hat hier die Ontogenese im Blick, wenn sie vom „werdenden Subjekt" spricht. Die geschichtliche Selbsterzeugung des gesellschaftlichen Menschen als Voraussetzung individualgeschichtlicher Subjektwerdung bleibt außer Betracht. Damit erspart sie sich die Frage, wie es evolutionsgeschichtlich zu jener Setzung gekommen ist, in der die Individuen zum Bewußtsein von SubjektObjekt-Beziehungen gelangen. Ohne den ursprünglichen Aneignungsprozeß einzubeziehen, in dem die naturwüchsigen Menschen lernten, in kooperativem Werkzeuggebrauch Gegenstände zu setzen, u m ihr materielles Leben zu sichern, bleibt die thetische Phase, zumindest im Maßstab der Menschheitsgeschichte, ein ebenso plötzlicher wie unerklärlicher Einschnitt. Kristevas Arbeitsbegriff reduziert sich schon dadurch, daß sie ihn lediglich ontogenetisch verwendet. Ebensowenig ist eine ausschließlich individualgeschichtlich orientierte Unterscheidung des Semiotischen und Symbolischen zulässig. Zu den Verdiensten von Julia Kristeva gehört, daß sie in zugespitzter Weise nach dem Anteil des Unbewußten am Prozeß der Sinn- und Bedeutungsbildung fragt und auch das Unbewußte als einen Modus von Aneignung begreift. Es ist auch nicht zu übersehen, daß sie am Nachweis einer Dialektik des Unbewußt-Semiotischen und des Semiotisch-Bewußten auf der für die menschliche Lebenstätigkeit unerläßlichen thetischen Stufe interessiert ist. Sie befürwortet eine Betrachtungsweise, „die einerseits das Thetische nicht verabsolutiert ... und die es andererseits nicht verleugnet, also dem alles verheerenden Irrationalismus im Phantasma entgeht". 130 Auf der Stufe des Thetischen ist das Semiotisch-Körperliche als das Mimetische gegenwärtig: Das Thetische und das Mimetische bilden ein neuartiges Spannungsfeld, in dem allein die diskursive Praxis der Menschen lebendig bleibt. „Die mimesis stellt weniger die Einzigkeit des Thetischen (unicité) in Frage, da ja auch der mimetische Diskurs sich die Struktur der Sprache aneignet ..." Doch die mimetischen Elemente beispielsweise der poetischen Sprache hindern das Thetische daran, sich zu verselbständigen: „... sie verhindern, daß es den semiotischen Prozeß, der es erzeugt, verdunkelt und dadurch das Subjekt zu einem transzendentalen ego verdinglicht, das sich nur in^ System der Wissenschaft oder der monotheistischen Religion entfalten kann. Denn es ist eine Sache festzustellen, daß es keine Sprache ohne die Wahrheitseröffnende thetische Phase geben kann und aus dieser Feststellung entsprechende Schlüsse zu ziehen; eine ganz andere ist 5»
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es, von einer signifikanten Praxis zu fordern, nur von dieser thetischen Phase aus zu operieren." 131 Im Lichte dieser Dialektik führt Julia Kristeva die Unterscheidung zwischen Genotext und Phänotext ein. Der Genotext „umschließt alle semiotischen Vorgänge (Triebe, ihre Dispositionen, den Zuschnitt, den sie dem Körper aufprägen, und das ökologische und gesellschaftliche System, das den Organismus umgibt: die Umweltobjekte, die präödipalen Beziehungen zu den Eltern), aber auch die Heraufkunft des Symbolischen (Auftauchen von Objekt und Subjekt, Konstituierung von Sinnkernen, die auf eine Kategorialität verweisen: semantische und kategorielle Felder)". 132 Der Genotext ist die analytisch freizulegende Grundlage des Phänotextes, worunter Kristeva jene Sprache versteht, „die der Kommunikation dient und von der Linguistik als ,Kompetenz' bzw. ,Performanz' beschrieben wird. In ihrem Verhältnis zum semiotischen Prozeß, der den Genotext betreibt, bleibt sie stets getrennt, gespalten; sie läßt sich auf ihn nicht reduzieren. Der Phänotext ist eine Struktur, die man im Sinne der generativen Grammatik generieren kann; er gehorcht den Kommunikationsregeln und setzt ein Subjekt des Aussagens bzw. einen Empfänger voraus." 133 In dieser Unterscheidung von Genotext und Phänotext erscheint das Unbewußte als Ferment der Aneignung zugleich verabsolutiert, indem es zum tiefsten Lebensgrund der Sprache erklärt wird; damit erweist sich Kristevas Aneignungskonzept als ein psychoanalytisches Konzept, das seine Analyseverfahren auch aus der Psychoanalyse ableitet. Unverkennbar ist der gesellschaftskritische Impetus. Das Konzept ist eine Antwort auf die empirisch feststellbaren gesellschaftlichen Zwangseinwirkungen auf den Prozeß individueller Sinnbildung: „ . . . sie eliminieren die Praxis, setzen sie fest in parzellierten, symbolischen Matrizen, die die sprachlichen Nachbildungen gesellschaftlicher Zwänge sind..." 1 3 4 Verdienst und Funktion der historischen Avantgarde-Kunst des 20. Jahrhunderts sieht Julia Kristeva daher vor allem im Durchbrechen solcher gesellschaftlichen Zwänge der bürgerlichen Gesellschaft in ihren „sprachlichen Nachbildungen".
Der Aneignungsbegriff in der DDR-Literaturwissenschaft Weimanns Auseinandersetzung mit dem französischen Poststrukturalismus ist durch seine eigene Adaption des Marxschen Aneignungskonzepts inspiriert, die ihm zur vertieften Einsicht in den histo-
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tischen Tatbestand verholfen hat, „daß das arbeitende Subjekt in der Literatur der Neuzeit sich in viel höherem Maße die Mittel, Normen und Wirkungen seiner Produktion aneignet und dadurch den Charakter der Produktion (beziehungsweise Rezeption) seines Diskurses mit verändert". 135 Weimann übernimmt den Diskursbegriff und definiert ihn in Anlehnung an Julia Kristeva wie folgt: „Erst das angeeignete System der sprachlichen Zeichen macht die Sprache (langue) zum Diskurs, zur mündlichen oder schriftlichen Äußerung." 136 Vehement verteidigt er „den prekären Ort des Subjekts in der Kunst als Aneignung der Sprache (der künstlerischen Mittel, Technik, Konvention) im Diskurs, als Ort von produzierten Beziehungen und Bezugsstiftungen..., in denen der Verkehrscharakter der Kunst mit dem historisch jeweils möglichen Erkenntniswert durch Abbildung zusammenfällt". 137 Der Aneignungsbegriff ist bei Weimann konzeptionsbildend für die Weiterentwicklung der Realismustheörie in der angestrebten Vereinigung von sozial-funktionalen und abbild- sowie zeichen-theoretischen Gesichtspunkten. „Der in Verklammerung von Genesis und Rezeption eingeführte Begriff der künstlerischen Aneignung bietet den weitesten Raum, innerhalb dessen die literaturbildende Potenz der Gesellschaft und die gesellschaftsbildende Potenz der Literatur in der Einheit ihrer Entstehung und Funktion gesehen werden können." 138 Dabei geht Weimann vom Aneignungscharakter der Arbeit aus, dessen Analyse dem marxistischen Aneignungskonzept zugrunde liegt. „Die Frage nach der Aneignung der Welt in der Literatur setzt voraus, daß die Produktion und die Arbeit... als zentraler vermenschlichender, ja konstituierender Faktor der gesellschaftlichen Wirklichkeit angesehen werden." 139 Weimann hat Entscheidendes geleistet, um die Geschichtlichkeit der Aneignung herauszuarbeiten. Für das unter seiner Leitung realisierte Projekt „Realismus in der Renaissance. Aneignung der Welt in der erzählenden Prosa" (1977) ist die Renaissance kein Paradigma für Aneignung schlechthin, sondern der historisch eingegrenzte Ort der Genesis eines ganz bestimmten, historisch determinierten Aneignungsverhaltens im Produzieren und Konsumieren prosaischer Texte - einer Aneignungspraxis, wie sie dann im 17. und 18. Jahrhundert abgewandelt und abgelöst wird. Die historische Herausbildung neuartiger literarischer Aneignungsstrategien und -funktionen in der Renaissance wird mit einer weltgeschichtlichen Zäsur in der Evolution der gesellschaftlichen Naturaneignung in Verbindung gebracht.
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Das für eine Geschichtsschreibung der praktisch-gesellschaftlichen Lebensaneignung richtungsweisende Kapitel Marx' „Grundrisse", der Abschnitt „Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen", verhilft Weimann dazu, im Blick auf die Renaissance Genesis und Funktion, Erkenntniswert und Verkehrscharakter von Kunst auf neue Weise zusammenzusehen: „Die Aneignung der Welt revolutioniert sich ... in dem Augenblick, wo die Reproduktion des gesellschaftlichen und individuellen Lebens über die vorausgesetzten Verhältnisse und die vorherbestimmten Formen hinausgreift." 140 In diesem Prozeß zeigen sich Gemeinsamkeiten zwischen praktischen, theoretischen und andersbeschaffenen geistigen Aneignungsweisen: „Sowohl in der materiellen Produktion wie in den Natur- und Geschichtswissenschaften wird - wie in der Erzählkunst - auf dieser Stufe die Welt der bearbeiteten, erforschten, dargestellten Gegenstände und Stoffe wesentlich erweitert. Durch diese Arbeit, Forschung und Darstellung wird die Wirklichkeit - zweitens - in weitaus höherem Maße objektiviert, aber zugleich auch in ihrer Qualität herausgestellt, wobei besonders die Literatur die quantifizierenden Maßstäbe der jungen mechanischen und der (vorab chronologischen) historischen Wissenschaften hinter sich läßt. Dies alles ist wiederum nur möglich, weil die Menschen in ihrer schaffenden, forschenden, darstellenden Subjektivität viel stärker auf ihre Gegenstände (Stoffe, Materialien) eingehen und einwirken als zuvor." 141 Zugleich aber entsteht eine spezifische Disproportion zwischen der Entwicklung der materiellen und der künstlerischen Produktion. „Während nämlich im Wirtschaftsleben die Antinomie zwischen Arbeit und Eigentum schon die gesellschaftlichen Widersprüche offenbarte, freilich noch nicht in ihrer vollen Tragweite (da ja noch weite gesellschaftliche Lebensbereiche im Zeichen der einfachen Warenproduktion standen), konnte - in dieser historischen Situation - in der Kunst und im Geistesleben die neuerrungene Einheit von Arbeit und Aneignung sich auf einmalige Weise entfalten..., die Künstler und Schriftsteller konnten die Bedingungen und Gegenstände ihrer Arbeit in einer neuen, relativ freizügigen Weise selbst mit hervorbringen und auswählen."142 Dies bedeutete eine neuartige Entfaltung individueller Subjektivität, die, „vergegenständlicht in selbst gewonnener Erkenntnis, sinnlicher Phantasie, origineller Formensprache", 143 auch die Erkenntnislust, Phantasie und Originalität der Rezipienten freisetzte und somit nicht unwesentlich zur Entwicklungsdynamik individueller Subjektivität im sozialökonomischen Formationswandel beitrug.
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Neben Robert Weimann hat vor allem Dieter Schlenstedt die Potenzen des Aneignungsbegriffs für die Bestimmung des Verhältnisses von Literatur und Wirklichkeit hervorgehoben. Aneignung bezieht sich auf Prozesse, „in denen es auf der einen Seite um das Verfügbarmachen der gegenständlichen Welt und der Wirklichkeit der Subjektivität in ideellen Produkten, auf der anderen Seite aber immer auch darum geht, wie mittels dieser Produkte der gesellschaftliche Prozeß selbst gestaltet wird".144 Der Aneignungsgedanke birgt große integrative Potenzen. Er bietet nicht nur die Chance, verschiedene Aspekte der künstlerischen Produktion (Abbildung, Wertung, Gestaltung, Kommunikation) zu vereinigen, die in der Vergangenheit häufig gegeneinander ausgespielt wurden. Er zwingt auch dazu, alternative Bestimmungen zusammenzudenken wie „Kunst als Folge historischer Bedingungen" und „Kunst als Ursache spezifischer Wirkungen", ebenso „Kunst als Aktions- und Produktform einer Tätigkeit" und „Kunst als Ausgangspunkt und Stimulans einer anderen Tätigkeit". Dennoch ist es bisher nicht gelungen, das Aneignungskonzept in seinen integrativen Potenzen zum Tragen zu bringen, im Gegenteil, es ist eher zu beobachten, daß sich neue Dualismen einschleichen, sei es der von Aneignung und Abbildung, sei es der von Aneignung und Kommunikation. In einer Bilanz der Entwicklung der Literaturwissenschaft der DDR in den 70er Jahren unterscheiden Wolfgang Thierse und Dieter Kliche drei Forschungsrichtungen: „1. Orientierung auf das literarische Werk, den Text, mjt den Wörter! Hans-Georg Werners ,die bedeutungsvolle einzelne Dichtung' ... Wir sehen diese Orientierung wirksam in einer Reihe von werkaufschließenden Aktivitäten, wie sie sich in der zunehmenden Anzahl von Interpretationen dokumentiert, ebenso im wiedererstarkten Interesse an Fragen der Poetologie und der Hermeneutik... 2. Orientierung auf die Erhellung des Prozesses künstlerischer Aneignung über die Untersuchung der künstlerischen Subjektivität, mit Walfried Hartingers Worten ,der im Kunstwerk arbeitenden Subjektivität'... Diese Orientierung ist Moment eines umfassenderen Konzepts, desjenigen der,Aneignung'... 3. Eine kommunikativ-funktionale Orientierung, in der Literatur als Verkehr zwischen Menschen aufgefaßt und in ihren Mechanismen, ihrer vielfältigen Bedingtheit und geschichtlichen Prozeßhaftigkeit untersucht werden soll..." 1 4 5 71
Hier erscheint das Aneignungskonzept als eine von verschiedenen, miteinander wetteifernden Forschungsrichtungen, die zwar einander nicht ausschließen, aber auch nicht notwendigerweise aufeinander bezogen werden müssen. Diese Richtungen, die in bestimmter Hinsicht divergieren, bringen jeweils spezielle Gesichts- und Interessenpunkte zur Geltung.
Die Aneignungsfunktion der Künste Legen wir den Aneignungsbegriff in seinem weltanschaulichen Beziehungsreichtum zugrunde, der uns erst das Tertium comparationis für die Unterscheidung von materieller und geistiger Produktion als Grundform und die besonderen Formen der Produktion liefert, so kann die Analyse des künstlerischen Aneignungsprozesses auf keinen Fall auf die Untersuchung der „im Kunstwerk arbeitenden Subjektivität" reduziert werden; das ist eine einseitige Auffassung, die die arbeitende Subjektivität ebenso von ihrem Aneignungsgegenstand trennt wie von jener besonderen Gegenständlichkeit, die das Resultat ihrer „formgebenden Tätigkeit" (Marx) ist. Künstlerische Aneignung, wie vielgestaltig auch immer, umgreift stets Gestaltung, Ausdruck, Darstellung, Evokation und läßt sich nicht auseinanderdividieren. Auch die wie immer relativierte Gegenüberstellung des aneignungstheoretischen Ansatzes und der kommunikativ-funktionalen Orientierung ist problematisch: Als besondere geistige Aneignungsweise ist Kunst in bezug auf eine Totalität aneignender Beziehungen und Tätigkeiten bestimmt, und zwar ebenso im gesamtgesellschaftlichen wie im individuellen Maßstab. Die marxistische Auffassung von der Gesellschaß als einer Totalität auf der Grundlage der materiellen Produktion ist maßgeblich für die Differenzierung von Aneignungsweisen und für die Bestimmung ihrer jeweiligen Spezifik: diese ergibt sich nicht nur aus spezifischen Aneignungsgegenständen, -mitteln, und -resultaten, sondern aus der Funktion einer Aneignungsweise im Ganzen und für das Ganze. In einer Totalität ist nach Marx „jedes Gesetzte zugleich Voraussetzung" 146 - das gilt auch für die Kunst: als besondere Aneignungsform ist sie nicht nur durch die geschichtlich entfaltete gesellschaftliche Naturaneignung gesetzt, sondern zugleich eine der subjektiven Voraussetzungen der tendenziell universellen Aneignung der Natur und des gesellschaftlichen Zusammenhangs durch die vergesellschafteten Individuen.
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Legt man konkrete gesellschaftliche Totalitäten in ihrem formationsgeschichtlichen Entwicklungsgang als Bezugsganzheit zugrunde, kann man nicht nach spezifischen Aneignungsleistungen einer besonderen Aneignungsweise, in unserem Falle der Kunst, fragen, ohne diese zugleich als potentielle Aneignungseffekte zu betrachten, die für den Gesamtprozeß gesellschaftlicher Lebensaneignung notwendig sind. Aus dieser Überlegung folgt die Problemstellung unseres Buches: Gegenstand erster theoretischer Näherung ist die Aneignungsfunktion der Künste. Diese bestimmt sich aber nicht nur im gesamtgesellschaftlichen Bezug. Die Differenzierung unterschiedlicher Aneignungsweisen durch Marx ist primär gesellschaftstheoretisch und -geschichtlich begründet: Sie bezieht sich auf den menschheits-geschichtlichen Entwicklungsprozeß der gesellschaftlich tätigen Individuen. In diesem Prozeß haben sich die unterschiedlichen Aneignungsweisen in relativ selbständigen Tätigkeitsbereichen oder Produktionszweigen objektiviert, die von den Individuen arbeitsteilig-kooperativ gestaltet werden. Auf dieser Grundlage ist die Differenzierung der Aneignungsweisen aber auch persönlichkeitspsychologisch zu interpretieren: als Notwendigkeit für das Individuum, sich die Welt mit Hilfe verschiedener und nicht nur, arbeitsteilig und vereinseitigt, vermöge einer einzigen Aneignungsweise anzueignen. Nur wenn sich das Individuum verschiedener Aneignungsweisen bedient, vermag es eine objektiv und subjektiv begrenzte Totalität von Fähigkeiten zu entwickeln. Die individuelle Totalität von Lebensäußerungen, -tätigkeiten und -beziehungen ist daher die zweite Bezugsganzheit, in der die Aneignungsfunktion der Künste zu bestimmen ist als Anteil der Kunst an der Entwicklung der Persönlichkeitsstruktur. Die Bezugsganzheit der Bildung und Entwicklung der Persönlichkeitsstruktur näher zu charakterisieren, ist insofern schwierig, als die Aussagen der Psychologie in dieser Frage sehr unterschiedlich, wenn nicht kontrovers ausfallen. „Alle bisherigen Strakturierungsversuche in der bürgerlichen Psychologie, z. B. die an Tetens und Kant angelehnte Gruppierung in intellektuelle, emotionale und volitive Eigenschaften, die schichtentheoretisch orientierten Eigenschaftsklassifizierungen und Strukturierungsversuche einschließlich tiefenpsychologischer Modelle (Rothacker, Hartmann, Lersch, Gottschaidt, Freud, Jung u. a.) wie auch empirisch orientierte, faktoren- und clusteranalytisch begründete Strukturmodelle blieben unbefriedigend, da sie bestimmte Eigenschaftsbereiche in der P. entweder aus idealistisch-philosophischen Vorstellungen über Wesen und Funktion des Menschen ableiteten oder als an mehr oder weniger umgrenzte
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Hirnbereiche gebundene, gewissermaßen substantialisierte Gebilde betrachteten."147 In der marxistischen Psychologie, insbesondere in der sowjetischen Psychologie überwogen bisher hierarchische Modelle. Kossakowski meldet gegen eine solche Struktur- bzw. Ordnungsvorstellung berechtigte Bedenken an. „Es kann zwar bei einer bestimmten Persönlichkeit die Einstellungsseite, bezogen auf bestimmte Realisierungsbereiche, besonders gut entwickelt sein, bei einer anderen die Fähigkeitsseite. Auch können sich bestimmte Seiten der Gesamtpersönlichkeit in bestimmten Tätigkeiten besonders gut äußern und entwickeln. Stets sind es sehr akzentuiert entwickelte Seiten der Gesamtpersönlichkeit und nicht irgendwelche Strukturen, die anderen über- oder untergeordnet sind. Es ist daher prinzipiell problematisch, z. B. die Grundrichtungen der Persönlichkeit (d. h. die politisch-ideologischen und sozialen Einstellungen, d. Verf.) in einer hierarchischen Strukturdarstellung als allen anderen allgemeinen psychischen Eigenschaften übergeordnet zu betrachten. Das gilt auch für jede andere Anordnung der Eigenschaftsbeziehungen. " , 4 8 Kossakowski beurteilt den Stand der Forschung in dieser Frage als „äußerst unbefriedigend". Gesellschaftliche und individuelle Bezugsganzheit der Aneignungsfunktion der Künste fallen keineswegs auseinander: Die Vergesellschaftung der Individuen bleibt nur durch individuelle Vergesellschaftung jeder neuen Generation geschichtlich lebendig. Irene Dölling schreibt : „Die Gesellschaft als historisch-konkretes System von Verhältnissen, das durch die Produktionsverhältnisse eine bestimmte Qualität aufweist, muß fortlaufend im Verhalten der Individuen reproduziert werden. Hierin besteht eine Bedingung ihrer spezifischen Existenz, ihrer Gesellschaftlichkeit. Die Realisierung dieser Reproduktionsnotwendigkeiten im Handeln der Individuen setzt die Ausbildung einer entsprechenden individuellen Handlungsfähigkeit voraus. Diese Handlungsfähigkeit hat ihre qualitative Bestimmung im Verhalten der Individuen als Produzenten. Das heißt aber nicht, daß in der individuellen Entwicklung das Verhalten als Produzenten der (individualgeschichtliche, d. Verf.) Ausgangspunkt für die Herstellung einer konkreten, gesellschaftlich bestimmten Handlungsfähigkeit der Individuen ist."149 Irene Dölling bezeichnet die Ausbildung individueller Bedürfnisse und Fähigkeiten als „individuelle Vergesellschaftung"', deren Kernprozeß ist die Aneignung vergegenständlichter gesellschaftlicher Erfahrungen. Aus der Sicht des Individuums stellt sich die individuelle Vergesellschaftung durchaus widersprüchlich dar : als „Selbstentfaltung unter
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dem Zwang der gesellschaftlich gesetzten Anforderungen", wie Manfred Vorwerg schreibt.150 Es hängt vom Charakter der Anforderungen ab, welche individuellen Entwicklungsreize und -möglichkeiten in Relation zu den objektiven und subjektiven Ausgangsbedingungen sie bieten. Die konkrete Lebenstotalität des Individuums ist keine individuelle Reduplikation der gesellschaftlichen Lebenstotalität. Individuelle Aneignungsprozesse sind nicht nur selektiv, sie sind auch objektiv und subjektiv begrenzt, ohne daß daraus allein bereits Borniertheit entspringen müßte. Solange der gesellschaftliche Lebensprozeß arbeitsteilig strukturiert ist, werden sich die Individuen die Organe der gesellschaftlichen Lebensaneignung, zu denen auch die Kunst gehört, immer nur partiell aneignen können. In individueller Hinsicht verschieben sich in der Funktionsbestimmung der Künste die Akzente. Zwar muß sich in unserer Gesellschaft jedes Individuum an der Aneignung durch Arbeit beteiligen, aber nicht jeder kann, will oder muß sich künstlerisch betätigen. Freilich, ohne daß Individuen nachwachsen, die sich die Welt auf künstlerischgeistige Weise aneignen, würde die Kunst als ein Organ gesellschaftlicher Lebensaneignung absterben. Die Aneignungsfunktion von Kunst realisiert sich im individuellen Bezug jedoch vor allem in der Aneignung von Kunst. Kunstgegenstände und -formen können auch in ihrer konsumtiv-rezeptiven Aneignung zu einem Medium der individuellen Lebensaneignung werden. Aneignungstheoretisch ist ein Kunstwerk in vier verschiedenen funktionalen Positionen zu bestimmen : - als Aneignungsleistung eines künstlerisch tätigen Subjekts ; - als Aneignungsgegenstand, der von anderen rezipiert wird (womit noch nichts über die Motive der Rezipienten feststeht) ; - als Aneignungsziel, sofern das Werk nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern als sinnträchtiges Mittelpunktsobjekt hervorgebracht und rezipiert wird ; - als Aneignungsmittel, indem das Werk zu einem Medium individueller Lebensaneignung wird: für den Rezipienten wie für den Künstler. In bezug auf das konkrete Individuum läßt sich die Aneignungsfunktion der Künste als kunsttheoretische Problemstellung durch die Frage ausdrücken: Wie, wodurch, unter welchen Voraussetzungen vermögen die Künste ganzheitliches individuelles Aneignungsverhalten anzuregen und zu fördern ? Ausschlaggebend für die solchermaßen individualisierte Aneig-
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nungsfunktion von Kunst ist, in welcher Art und Weise mit Kunstwerken umgegangen wird, ob Kunstwerke als Aneignungsmittel ins Leben der ReZipienten, wie vermittelt auch immer, hineinwirken, ob sie Verbindlichkeit für die Lebensgestaltung gewinnen, zur Daseinsund Konfliktbewältigung beitragen (Kunst und Motivationsbildung) und dafür entsprechende Verhaltensdispositionen entwickeln helfen (Kunst und Dispositionsentwicklung). Wenn wir der Kunst in dieser Weise eine Aneignungsfunktion zuerkennen, so soll ihr damit nicht etwas lediglich Transitorisches zugeschrieben werden. Es wird in keiner Weise bestritten, daß das Kunsterlebnis selber die Erfüllung von Bedürfnissen, Hoffnungen, Sehnsüchten sein kann und nicht nur die Durchgangsstation für die Befriedigung ganz anders gelagerter Bedürfnisse ist. Im Umgang mit Kunst entsteht ein eigener Lust- und Sinngewinn, der aus der Erfahrung einer spezifisch geformten Gegenständlichkeit resultiert. Insofern ist Aneignung von Kunst immer auch ein Stück Lebensaneignung. Die terminologische Entscheidung, die wir treffen, wenn wir von Lebensaneignung sprechen und nicht nur von Naturaneignung oder allgemeiner gefaßt von der Aneignung der Welt, ist von Gewicht. Alle Aneignung, wie verschiedenartig auch immer nach Gegenständen, Mitteln, Formen, Strukturen, Ebenen und Bereichen, kulminiert in der stets sich erweiternden Gestaltung des individuellen und gesellschaftlichen Lebensprozesses der Individuen: Lebenssicherung und -gestaltung ist die Grundfunktion aller Aneignungsprozesse, in welchen abgeleiteten Zusammenhängen sie sich auch immer vollziehen. Vom Menschen aus betrachtet ist auch die Naturaneignung, die die Priorität der Natur voraussetzt, ein Aspekt, und zwar der Grundaspekt, der Lebensaneignung. Dies ist aber auch ein - freilich hochgradig vermittelter - Aspekt wissenschaftlicher oder künstlerischer Aneignung der Welt. - Lebensaneignung beruht auf der Produktion und Reproduktion des" materiellen Lebens der Individuen durch ihre gesellschaftlich geregelte Kooperation im Arbeitsprozeß. - Lebensaneignung erfordert den individuellen und gesellschaftlich kombinierten und koordinierten Gebrauch der natürlichen und der geschichtlich erzeugten Organe der Aneignung (vom Werkzeuggebrauch bis zum Kunstgebrauch). - Lebensaneignung ist immer auch Ausbildung und Betätigung der subjektiven Anlagen der Menschen, Entwicklung individueller Handlungsfähigkeit in verschiedenen Formen und Dimensionen.
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- Lebensaneignung ist hineingestellt in den historischen Prozeß der Übernahme, Anwendung und Erweiterung der akkumulierten gesellschaftlichen Aneignungserfahrungen. - Lebensaneignung realisiert sich vor allem in der Aneignung des gesellschaftlichen Zusammenhangs der Individuen in individuellen und überindividuell-sozialen Vergesellschaftungsformen und -prozessen. - Individuelle Lebensaneignung ist abhängig von den Handlungsund Gestaltungsmöglichkeiten des einzelnen, seinem Anteil an „gesellschaftlicher Realitätskontrolle"151, seinen Lebens- und Arbeitsbedingungen und -inhalten, seinem Maß an „disposable time", frei verfügbarer Zeit. Gesellschaftliche und individuelle Aneignungsfunktion von Kunst wirken immer nur historisch konkret, sozialökonomisch determiniert, durc h Klasseninteressen reguliert und individuell differenziert. Wirkungsweise und sozialer Inhalt der Aneignungsfunktion der Kunst sind niemals unabhängig von der herrschenden sozialökonomischen Aneignungsweise bzw. vom Kampf zwischen verschiedenen Aneignungsweisen zu betrachten. Auch die Aneignungsfunktion der Kunst unterliegt der historischen Dialektik von Aneignung und Entfremdung. Das betrifft erstens die Stellung der künstlerischen Produktion in einer bestimmten Gesellschaftsformation. Das zeigt sich zweitens darin, daß sich auch die künstlerische Aneignung in entfremdeten Formen vollziehen kann: Sie kann Muster streitbarer Sinnentfaltung, Aneignungsmuster, oder solche der Ersatzbefriedigung, d. h. Entfremdungsmuster, anbieten - und zwar niemals nur in dem, was in der Darstellung thematisch wird, sondern im gesamten Aufbau der Form. Kunst befördert nicht immer ein Aneignungsverhalten, ganz abgesehen davon, daß es nicht nur von den Künsten abhängt, ob sie ihre Aneignungsfunktion unter jeweils gegebenen gesellschaftlichen Umständen durchsetzen können. Von den Künsten her betrachtet, ist es für ihre Aneignungsfunktion entscheidend, welche Aneignungsleistungen sie jeweils vollbringen. Was in den Künsten nicht angeeignet worden ist, kann auch nicht dazu beitragen, reales Aneignungsverhalten zu vermitteln. Drittens schließlich kann auch die individuelle Aneignung von Kunst durch vielfältige Umstände und Faktoren beeinträchtigt bzw. deformiert werden. Dabei können sich wesentliche soziale Unterschiede zeigen. Stephan Hermlin hat folgenden Widerspruch formuliert, der die Durchsetzung der Aneignungsfunktion von Kunst beeinträchtigt: „Ich habe oft daran 77
gedacht, daß in den Anforderungen, die die Kunst stellt, etwas Tragisches liegt. Jedes große Kunstwerk wendet sich an alle, ob das sein Hervorbringer nun ausdrücklich sagt oder verschweigt; die Sensibilisierung, die die Aufnahme dieser Kunst verlangt, wird aber in vielen Fällen von den realen Lebensumständen selbst verhindert. Darin liegt ein qualvoller Widerspruch." 1 5 2 Schlimmer noch war für Hermlin die Erfahrung, daß hochkultivierter und -differenzierter Kunstsinn oft einhergehen konnte mit unbekümmerter Aneignung fremder Arbeit und im Extremfall mit dem Abbau aller Humanität. „Eine der schrecklichsten Aspekte der Kunst besteht in ihrer Verwendbarkeit, die um so größer ist, je mehr wir es mit bedeutender Kunst zu tun haben. Man kann sich gegen diese Evidenz wehren, man kann von Mißverständnissen reden, leugnen kann man sie nicht." 1 5 3 Die individuelle Aneignung von Kunst ist niemals sozial indifferent. Das Problem der ambivalenten Wirkungen von Kunst ist ein zentrales Problem der Aneignung von Kunst, mit dem jeder Künstler sich auseinandersetzen muß; die Aneignung von Kunst kann durch reale Lebensumstände ebenso deformiert werden wie das Aneignungsverhalten insgesamt. Individuelles Aneignungsverhalten hängt von formationsspezifischen Aneignungsverhältnissen nicht einfach nur ab, sondern wird durch diese wesentlich strukturiert. Es steht nicht im Belieben der Individuen, in welcher Weise sie sich aneignend verhalten. Insofern verbietet der dialektisch und historisch materialistisch gefaßte Aneignungsbegriff jede lediglich moralisierende Bewertung individuellen Verhaltens im Namen eines abstrakten Ideals von Aneignung. Daraus folgt aber nicht, daß auf jede Bewertung individuellen Verhaltens verzichtet werden muß, auch nicht auf seine moralische Bewertung. Der absolute Gegensatz von Aneignung und Entfremdung ist eine ahistorische Fiktion. Entfremdung ist eine historisch bedingte und vergängliche Erscheinungsform des gesellschaßlichen Aneignungsprozesses, in der sich objektive soziale Widersprüche manifestieren. Entfremdung ist in bestimmter Hinsicht gleichbedeutend mit der Nichtbeherrschung von Aneignungsprozessen und -resultaten und der fehlenden Kontrolle über den Gesamtprozeß. Der Aneignungsbegriff verlöre jedoch seinen Sinn, würde man das Gegensatzverhältnis von Aneignung und Entfremdung völlig relativieren. Man kann nicht entfremdeter und emanzipativer Aneignung die gleiche Aneignungsqualität zuschreiben. Die Historisierung des Aneignungsbegriffs verlangt auch, verschiedene historisch-soziale Qualitäten gesellschaftlicher und individueller
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Lebensaneignung herauszuarbeiten. Eingeordnet in die Entwicklungskontinuität historischer Widerspruchsbewegung gibt der Aneignungsbegriff ein Kriterium vor - Zuwachs an Souveränität gegenüber den natürlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen - das gleichzeitig zur Bewertung, d. h. zu kritisch-vergleichender Differenzierung zwingt. Das Maß des historisch Möglichen und Notwendigen ergibt einen historisch-konkreten Maßstab, nach dem auch individuelles Verhalten in seiner Aneignungsqualität beurteilt werden kann, ohne in ein abstraktes Moralisieren zu verfallen. Dadurch wird die individuelle Aneignung von Kunst erst einer kritisch vergleichenden Analyse zugänglich.
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Kapitel II Aneignung als Gestaltung Material und Technik elementare Bestimmungen künstlerischer Gestaltung
Künstlerische Aneignung ist ein komplexes Geschehen, und die vielfältigen Vorgänge, die sie kennzeichnen, bedürfen einer entsprechend differenzierten Betrachtung. Es handelt sich um eine Grundform geistiger Aneignung, die in einem zentralen Punkt der praktischen Aneignung sehr nahe steht. In beiden Fällen vollzieht sich die verändernde Bewegung wesentlich als ein Gestaltungsprozeß: ein wie immer gearteter Gegenstand, sei er stofflicher oder geistiger, realer oder fiktionaler Natur, wird als Material mit Hilfe bestimmten Instrumentariums verändert, umgestaltet oder zu völlig neuartiger Gestalt entwickelt. Dahinter steht als Zweck, dem Material eine spezifische Form und dem Geformten eine konkrete Eignung zu geben, die vorher nicht bestand, aber nun geeignet ist, bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen. Das auf solche Weise geformte Resultat wird zugleich im engeren wie weiteren Sinn verfügbar gemacht, indem es akut gebraucht werden kann, aber nicht muß, weil es stets auch Komponenten und Aspekte enthalten dürfte, die auf potentiellen Gebrauch, latente Möglichkeiten, langfristige Nutzanwendung jenseits unmittelbar praktischer Bedürfnisse angelegt sind. Hinter den Zwecken wiederum wirken zwingende fundamentale Notwendigkeiten, Bedingungen und Möglichkeiten der Lebensgestaltung mit all ihren produktiven Widersprüchen, die sich in übergreifenden Sinnerfahrungen und Sinnansprüchen äußern. Sie bilden jenen Motivationszusammenhang, durch den überhaupt erst Ziele bestimmt, Zwecke gesetzt, Energien mobilisiert werden und ohne den. aneignendes Verhalten, gleich welcher Art, weder zustande käme noch verständlich würde. Man wird sagen dürfen, daß künstlerische Aneignung im Kern den Gestaltungsprozeß in und mit einem Material betrifft, das nach bestimmten Intentionen gestaltbildend und sinnstiftend zu verarbeiten ist. Ohne Zweifel bildet das Vorhandensein von Material eine unab6
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dingbare Voraussetzung der künstlerischen Produktion, und deshalb nimmt auch die Kategorie des Materials in der kunsttheoretischen Reflexion, namentlich einer materialistisch fundierten, einen wichtigen Platz ein. Aber es läßt sich auch nicht übersehen, daß verbindliche Definitionen eines spezifisch künstlerischen Materialbegriffs noch ausstehen. Dieses Defizit hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß es für die einzelnen Künste sehr unterschiedliche Material-Begriffe gibt. Im Bereich der Literatur wird darunter vor allem ein Konglomerat außerkünstlerischer, empirischer Lebenstatsachen oder literar-historischer Stoffe, Themen und Fabeln verstanden. Bei der bildenden Kunst hingegen ist es üblich, unter dieser Kategorie die jeweils benötigten Werkstoffe, wie etwa Marmor oder Ölfarben, zusammenzufassen. Für die Musik gibt es verschiedene, enge oder weite Materialbegriffe, die entweder bloß das physische, akustische Substrat der Töne, oder die sich geschichtlich verändernden Tonbeziehungen oder das gesamte Gefüge der Strukturen, Techniken, Intentionen, Formen, Apparate und Räume - einschließlich der materiellen Qualität und „Stimmung" der Instrumente, der Fähigkeiten und „Stimmungen" der Produzenten - betreffen. Trotz solcher Disparatheiten und Verwirrungen erscheint es dringlich, hier weiter nachzudenken und vergleichende Studien anzustrengen. Hierbei wäre der Material-Begriff in einem ersten Ansatz zumindest in folgender Hinsicht zu differenzieren: 1. Material ist zunächst das spezifische sinnliche Medium einer Kunstgattung, in welchem gestaltet und Sinn gebildet wird. Es ist das stofflich-energetische Material der Gestaltung, in dem etwas formiert wird. Hierbei ist zu bedenken, daß die Verfahrensweisen der Gestaltung in entscheidenden Momenten von den spezifischen Merkmalen des Materials und der Art und Weise, es wahrzunehmen geprägt werden. Verfahrensweisen sind dem Material gegenüber also nicht beliebig, sondern enthalten gleichsam dessen Forderung nach „materialgerechter" Behandlung, was freilich die Arbeit mit bewußt widersprechenden Prozeduren keineswegs ausschließt, sondern zu produktiven Material-Entwicklungen führen kann. So muß beispielsweise bei der Organisation sinnvoller musikalischer Zusammenhänge auf physiologische Gegebenheiten der Reizverarbeitung wie Kontrastbildung, Fortspinnung, Wiederholung oder Variation, rhythmische Gegliedertheit oder bewegten Zusammenklang Rücksicht genommen werden. Aber ohne gezielte Überreizungen, mentale Brechungen und psychologische Anspannungen solcher Gegebenheiten hätte eine 82
künstlerische Behandlung des Materials nicht einsetzen und eine derartig reiche Differenzierung der Klang-„Sprache" mit ihren Stilen, Genres und verschiedenartigen sozialen Funktionen, die Veränderung des Materials schließlich selbst inbegriffen, gar nicht erst vollzogen werden können. 2. Das sinnliche Material der Gestaltung ist zugleich kommunikatives Material, das aufgrund seiner sinnlichen Qualitäten Ausdruck implizit enthält und explizit möglich macht. Es ist nicht nur vielfältig vorgeformt, sondern auch der Umgang mit ihm vollzieht sich in vorregulierten Dispositionen. Dabei wirken weniger historisch wechselnde Gestaltungskonventionen, als vielmehr historisch geprägte, allgemein-verbindliche Formstrukturen (etwa gattungs- oder genrespezifische Normen), die durchaus veränderlich, aber auch relativ beständig sind. So gesehen, integriert das Material eben auch ein bestimmtes Instrumentarium des künstlerischen Gestaltens. Anders gesagt: Das sinnliche Material existiert nur in einem historisch vielfach besetzten, prinzipiell jedoch unerschöpflichen Möglichkeitsfeld syntaktisch geregelter Ausdrucks- und Gestaltungsformen. Material gibt es also immer zusammen mit bestimmten Regeln seiner Formierung, denn erst dieser Zusammenhang qualifiziert es vom vorgefundenen Rohstoff zum formsprachlichen Ausdrucksmedium. Wenn Adorno und Eisler bezüglich musikalischer Sachverhalte von „historischem Materialstand" reden, ist der unter konkreten geschichtlichen und sozialen Bedingungen auskristallisierte Entwicklungsstand materialgebundener Struktur- und Muster-Bildung gemeint. 3. Das künstlerische Material enthält Eigenschaften, die in besonderer Weise zur spielerisch-konstruktiven Formung herausfordern und eine „Arbeit des Geistes in geistfähigem Material" (Eduard Hanslick) stimulieren. Da aber ein Künstler ohne Aneignung von Regeln das Material nicht verarbeiten kann, erweist sich dieser aktive Prozeß als ein dialektischer Vorgang: Regeln werden zugleich befolgt und verletzt oder durch neue ersetzt. Als theoretisches Problem ergibt sich daraus, daß zwar Material und Regeln meist nur im engsten Konnex existieren, aber die Regeln nicht ohne weiteres zum Material gerechnet werden können - denn sie sind ihrer Grundfunktion nach Aneignungsmittel oder Gestaltungsverfahren und daher besser unter dem Begriff der künstlerischen Technik zusammenzufassen. Dieser Begriff steht komplementär und widerspruchsvoll zu dem des Materials, und er ist nicht minder vieldeutig und ambivalent. 6'
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Im Prozeß der künstlerischen Arbeit kommt den technischen Prozeduren erhebliche Bedeutung zu. Mit ihrer Hilfe wird nicht nur künstlerisches Material organisiert und die künstlerische Gestalt formiert, sondern sie bilden auch das entscheidende Kriterium für die theoretische Erkenntnis des ästhetischen Gehalts. Unter „Technik" läßt sich dabei, in vorläufiger Abbreviatur eines äußerst weitläufigen Sachverhalts, das Ensemble bewußter und standardisierter Verfahrensweisen verstehen, das einem Künstler zu einem gegebenen Zeitpunkt objektiv und subjektiv zugänglich wird, um ein gegebenes „Material" in die konkrete „Sprach"-Form eines künstlerischen Produkts zu verwandeln. Ohne identisch zu sein, kann es für die Begriffe Material und Technik nur fließende Grenzen geben, vor allem, weil das künstlerische Material im Zusammenspiel von naturhaft fixierten und historisch variablen, funktionell wechselnden Komponenten immer bereits technisch „formuliert" erscheint. Auch gibt es permanent Wechselwirkungen zwischen den beiden Aspekten der Gestaltung: Beispielsweise kann „landläufige" Technik zu einem bestimmten Zeitpunkt, für einen konkreten Zweck - also etwa ein System von lehrbaren Handwerksanweisungen zur Herstellung eines „wohlklingenden" vierstimmigen Chorsatzes - zu einem späteren Zeitpunkt, im Rahmen veränderter Zwecksetzungen (oder vielleicht gar mit parodierender Absicht) zum puren Material werden. Gerade im musikalischen Bereich erscheinen die akustischen und physiologischen Natur-Konstanten oder Universalien des Materials stets nur in historisch spezifizierten, technischen Konfigurationen, vermittelt durch „objektive" Techniken sozial motivierter Natur-Aneignung. Diese „objektiven" Techniken stiften die gleichsam in zweiter Instanz „natürlichen" (in Wahrheit geschichtlich geprägten) Sinnhaftigkeiten der ästhetischen Zeichen und umfassen sowohl allgemeine Kriterien der ästhetischen Wahrnehmung (also Gliederungen, Wiederholungen, Veränderungen, Gegensätze usw.), als auch spezielle Regeln der künstlerischen Formung (Tonsatz, Reimschemata, Proportionsgesetze usw.). Auf der Grundlage solcher „objektiver" Techniken erfordert aber die künstlerische Produktion auch die Aktivierung und (möglichst) virtuose Anwendung „subjektiver" Techniken, und zwar in um so stärkerem Maße, je mehr das Bedürfnis nach Individualität, Originalität oder gar Unwiederholbarkeit des einzelnen Kunstwerks bei Produzenten und Konsumenten ausgeprägt ist. In diesem Sinne umfaßt „subjektive" Technik ebenso das Vermögen und handwerkliche Können, „objektive" Technik zu beherrschen und anzuwenden,
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wie die Fähigkeit zur schöpferischen Umprägung, Weiterentwicklung und gegebenenfalls zur Verwerfung der Traditionen - nicht zuletzt, um diese selbst zu bereichern und lebendig zu halten. 4. Im formsprachlichen Material ist zugleich semantisches Material gespeichert - in Form von Motiven, Themen, Stoffen, Symbolen, Topoi des Ausdrucks, aber auch in Form komplexer Sinn- und Bedeutungsgehalte, die in Kunstwerke verschiedener Kulturkreise und Epochen eingeschrieben sind und erneuter, erneuernder Aneignung zur Verfügung stehen. Dies wird bekanntlich gerade in der Gegenwart in einem nie zuvor gekanntem Maße möglich: Nicht nur einzelne Kunstwerke können „Materialwert" haben; die ganze Kunstgeschichte im globalen Rahmen dürfte als „Material" nutzbar sein woraus freilich nur in unangemessener Weise zu folgern wäre (was zuweilen geschieht), diese Geschichte habe nur noch den Wert von beliebig verwendbarem Material. Andererseits gehört zum semantischen Material der Künste auch die Gesamtheit aller zunächst nichtkünstlerischen Gegenstände und Sachverhalte, die in geschichtlichgesellschaftlichen Lebenszusammenhängen, auf sie auch bezogen, künstlerisch angeeignet werden. Dies wiederum bedeutet aber nicht, daß alle Aneignungs-Gegenstände zum Material gerechnet werden ganz abgesehen davon, daß das Verhältnis von empirischer Wirklichkeit und künstlerischem Material in den einzelnen Künsten qualitativ unterschiedlich ist und sein muß: anders würde man schwerlich von der Spezifik und Unersetzbarkeit einer Kunst ausgehen können. Dennoch gilt in jedem Fall, daß Elemente oder Komplexe der Wirklichkeit erst Gestalt und Zeichen geworden sein müssen, ehe sie ins semantische Material künftiger Gestaltung eingehen. Besondere Bedeutung als semantisches Material erlangen die verschiedensten Bereiche der ideellen Realität, der unterschiedlichen Erkenntnisweisen und Bewußtseinsformen, die - wie etwa Philosophie, Religion, Geschichtsschreibung oder Politik - als noch nicht formsprachlich transformiertes außerkünstlerisches Quellen-Material für den Gestaltungsprozeß herangezogen werden. Auch dieses semantische Material im weiteren Sinne kann die Funktion wechseln, indem es zugleich als Bildungselement des geistigen Instrumentariums der künstlerischen Aneignung wirksam werden kann. Immer wieder ist daran zu erinnern, daß Aneignungsgegenstände und -mittel vorwiegend funktionell bestimmt sind. Dazu gehört vor allem folgende Überlegung: Der künstlerische Gestaltungsprozeß wird von Grunderlebnissen und Einstellungen,
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von weltanschaulichen Voraussetzungen und praktisch-geistigen Funktionskonzepten gesteuert und getragen. Er folgt einer Gestaltungsintention, die sich in einem von individuellen Erfahrungen und historischen Daseinsproblemen geprägten Kontext entwickelt und in einer besonderen Produkt- oder auch Aktionsform, in der Gegenständlichkeit einer ruhigen Form des Seins oder in einer unruhigen Form des Werdens realisiert. Diese kunstgemäße Gegenständlichkeit - das künstlerische Objekt - stellt eine Aneignungsleistung dar und wird zugleich ein besonderer Aneignungsgegenstand, der einer Inanspruchnahme bedarf - oder doch zumindest offensteht. Denn letzten Endes bildet das künstlerische Objekt die gegenständliche Vermittlungsform des Kunstprozesses, der ohne solche mediale Attraktion natürlich gar nicht zustande käme. Auch unter gegenwärtigen Produktions- und Rezeptionsbedingungen ist das künstlerische Objekt in der Einheit von eigener Gestaltwirklichkeit und kommunikativer Offenheit als Kunstwerk zu begreifen, wenn man das Beziehungsgeflecht berücksichtigt, in welchem künstlerische „Mittelgegenstände" (Lothar Kühne) funktionieren. In diesem Sinne erscheint Wolfgang Thierses Minimaldefinition für literarische Werke - sie seien „von Menschen geschaffene und für sie bedeutsame Gebilde, zum menschlichen Verkehr bestimmt" und also kommunikative, „semiotische Objekte" - als Modell für andere Kunstformen ebenso akzeptabel, wie seine weitere Überlegung: „Deshalb gelten als minimale formale Bestimmungen: das Werk ist ein sprachliches, d. h. strukturiertes Gebilde; es ist eine (produktive) Sprachverwendung; es ist Gegenstand und Mittel einer (rezeptiven, kommunikativen) Sprachverwendung. Daraus folgt: Werke sind weder substantialistisch, dinghaß aufzufassen noch sind sie absolut zu relativieren, als lese der Leser nur sich selbst. Unzulässig sind sowohl produktionsals auch rezeptionsästhetische Reduktionen."1 Der Hinweis darauf, daß der Kunstprozeß ohne gegenständliche Vermittlungsform nicht funktioniert, ist kein Plädoyer für „werkzentristische" Kunsttheorie. „Werkzentrierte" Betrachtungsweise würde vorliegen, wenn ein Kunstwerk „an und für sich" und als fixierter Endzweck oder als geronnene Zweckform seines objektiven wie subjektiven Bedingungsgefüges analysiert und gewertet würde; hingegen liegt sie nicht vor, wenn es als zwar zentrales, aber gleichwohl transitorisches Moment der entscheidenden Vermittlungen im Kunstprozeß figuriert und als Quelle offener, sich regenerierender, verändernder, ihm neu zugetragener Bedeutungen und nicht minder
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vielschichtiger Funktionen wirkt. Im übrigen ist dieser Begriff viel zu abstrakt, da es vom jeweils zugrunde gelegten, konkreten Werkbegriff abhängt, ob die Orientierung aufs Werk zentristisch ist oder nicht. Das Kunstwerk hat sinnliche und strukturelle Qualitäten, die zwar bestimmte Zeichenfunktionen tragen (expressive, kognitive, evokative Funktionen), die aber darin nicht aufgehen, wenn man etwa an die in der Regel auch wirksamen, selbst-reflexiven ästhetischen Funktionen denkt. Es besitzt Doppelcharakter, weil es auf der einen Seite ein besonderes, durch seine sinnlichen und strukturellen Qualitäten ausgezeichnetes Objekt darstellt, das sinnliche Reaktionen und Phantasievorstellungen auslöst; andererseits etabliert es sich zugleich als ein intendiertes Zeichengefüge, in dessen formgebundenem Sinn- und Bedeutungsgehalt immer auch Wertungen geronnen sind, ein spezifischer Erkenntniszuwachs zur Geltung kommt, bestimmte Vergnügungen und Genüsse freigesetzt werden und sogar Aufforderungen zu weiterführendem Handeln liegen können. Indem man künstlerische Aneignung vor allem als Gestaltungsprozeß faßt, ist nicht davon abgesehen, daß hierbei Abbildungs- und Wertungsbeziehungen eine entscheidende Rolle spielen. Es geht nur darum, sie nicht, wie oft in der Vergangenheit unter wechselnd dominierenden Aspekten des Gnoseologismus oder Axiologismus geschehen, wechselseitig zu verselbständigen und aus dem Gestaltungsprozeß herauszulösen. Wenn Vorgänge der Abbildung und Wertung sich verselbständigen, kann es leicht dazu führen, daß Gestaltung als „rein formale Angelegenheit" betrachtet wird. Gestaltung ist aber kein nachgeordneter technisch-formeller Umsetzungsprozeß, sondern der entscheidende, künstlerisch produktive Akt, durch den überhaupt erst die Inhalte „so und nicht anders", d. h. in einer materialgebenden Sinnbildung erzeugt werden. Daß man sie demgegenüber „so, aber auch anders" wahrnehmen und verschieden interpretieren kann, hängt mit diesen Eigenarten der Gestaltung zusammen, bei der sich stets syntaktische, semantische und pragmatische Dimensionen fest, aber flexibel, aufeinander bezogen, aber widerspruchsvoll, notwendig, aber nicht eindeutig verknüpfen. Ohne Gestaltung gewinnt künstlerische Aneignung keine eigene Gegenständlichkeit. Diese erfassen wir nicht in erster Linie, wenn wir fragen: Was ist dargestellt? Man muß wissen wollen: Was ist formiert? Wenn wir Gestaltung als Aneignung auffassen, interessieren vor allem drei Aspekte, die sich durch folgende Fragen beschreiben lassen: Was wird jeweils in welchem Material, unter welchen Anfor87
derungen, mit welchen Mitteln angeeignet? Welche Subjektivität - in ihrer individuellen Eigenart und historisch-sozialen Besonderheit bestätigt vergegenständlicht, entwickelt sich hierbei? Was wird in welcher Weise und in welcher Hinsicht für wen verfügbar gemacht? Alle drei Aspekte hängen aufs engste zusammen, bringen aber eben verschiedene Blickwinkel zur Geltung. Da künstlerisches Schaffen nicht voraussetzungslos funktioniert, verweist „Aneignung" auf das vielfach Vorausgesetzte, das sich der Künstler erst zu eigen machen muß. „Aneignung" impliziert daher immer objektiv bedingte Handlungsanforderungen, die die Entwicklung und Veränderung der eigenen Subjektivität verlangen und stimulieren. Was sich der Künstler zu eigen macht, macht er jedoch zugleich verfügbar für andere. Das ist der weiterwirkende Aneignungseffekt jeder Tätigkeit: Was einmal angeeignet wurde, ist gesellschaftlich verfügbar. Inwieweit das zu einer konkreten Möglichkeit wird, hängt von der sozialökonomischen und politisch-rechtlich geregelten Verfügungsgewalt ebenso ab wie von Faktoren, die sozialpsychologisch, ethnographisch, ideologisch oder technologisch bestimmt sind. Aneignungsvorgänge erlangen im künstlerischen Schaffen eine spezifisch materielle, formbestimmte Qualität, eine unmittelbar wirksame Ausdruckskraft und sinnfällige Handgreiflichkeit wie in keinem der sonstigen, darauf bezüglichen, davon berührten Bereiche geistiger Aneignung insgesamt. Selbstverständlich wirken bei der künstlerischen Produktion, sieht man genauer hin, „aneignende" Prozesse zusammen, die nach Wesen und Charakter, hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit und Wirkungsweise äußerst komplexer und vielfältiger, ja auch heterogener und widersprüchlicher Natur sind. Soweit sie nicht mit sehr allgemeinen und sehr grundlegenden Prinzipien zweckgerichteter menschlicher Tätigkeit überhaupt zusammenfallen, differenzieren sie sich erheblich nach der jeweiligen Wesensart der Kunst, ihrem geschichtlichen Entwicklungsniveau und ihrer sozialen Gebrauchsweise, nach dem kreativen Selbstverständnis des einzelnen Künstlers oder auch nach dem Individualisierungsgrad und dem strukturellen Gehalt eines bestimmten künstlerischen Produkts. Ein solches Produkt wiederum verschlüsselt und offenbart in beinahe jedem Fall eine kaum entwirrbare Fülle von Beziehungen, die vor und während der künstlerischen Produktion geknüpft wurden und bei denen auf den Ebenen der Planung, der Invention, der Methodenwahl oder formenden Gestaltung stets die Verwandlung von etwas Fremden in etwas Eigenes vonstatten geht, auch, wenn es sich „bloß" um die
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Aktivierung akkumulierter Erfahrungen und latenter Fähigkeiten oder um gleichsam objektive Eigenschaften oder verborgene Gehalte handelt, von denen der Produzent gar nichts zu wissen braucht. Da es aber bei den folgenden Überlegungen vor allem darum geht, an ausgewählten Modellen konkreter schöpferischer Praxis einige möglichst instruktive Konditionen, Leistungen und Konsequenzen künstlerischer Aneignungs-Akte vorzustellen, erweist sich gerade diese unendliche Vielfalt und der produzierte Reichtum künstlerischen Gestaltens selbst als das eigentlich gravierende, ja besonders irritierende Problem. Bekanntlich unterscheiden sich Gegenstände, Techniken und Funktionsweisen der einzelnen Kunstgattungen sowohl in systematischer, als auch in historischer Hinsicht - sonst könnten und dürften wir von der Eigenart oder gar Unersetzbarkeit der jeweiligen Künste nicht sprechen. Auch innerhalb des Existenzrahmens einer spezifischen Kunst begegnen sich höchst verschiedenartige, ja divergierende Produktionsweisen und Gebrauchsformen, die beispielsweise unter dem Aspekt der historischen Entfremdung zwischen „elitären" und „populären" Genres gravierendere Unterschiede zeitigen als auf der Ebene „entsprechender" Genres im Vergleich der Künste. Vergegenwärtigt man sich etwa im musikgeschichtlichen Prozeß die Aneignungsvorgänge innerhalb der Musik sowie zwischen ihr und anderen Künsten, so wird man wirklich paritätische Vermischungen zwischen Musiziersphären zu den seltenen Ausnahmen rechnen müssen, während Verbindungen der Musik zu anderen Künsten auf analogem Niveau zu den beinahe alltäglichen Selbstverständlichkeiten kompositorischer Praxis gehören. Die wechselseitigen Berührungen von Naturgedicht, Landschaftsbild und musikalischem Charakterstück einerseits und die innere Verwandtschaft von Schlager, Poster und Werbespot andererseits ermöglichen sinnvollere, effizientere Ensemble-Formen als - natürlich denkbare! - Kunstgebilde, die eine Hölderlinsche Ode im Disko-Sound verpacken und durch pompejanische Wandfresken fernseh-spezifisch visibel zu machen versuchten. Und schließlich gilt es als methodisches Erschwernis zu bedenken, daß sich die geschichtliche Entwicklung der Künste nicht als gleichförmig ausdifferenzierender, gleichmäßig sich optimierender Prozeß vollzieht, sondern in Kontinuität und Brüchen, in Windungen und Wendungen, unter zahllosen Verwerfungen und Neuansätzen, an vielen Orten unter höchst divergierenden ethnischen, nationalen, sozialen oder lokalen Bedingungen. So erschwert nicht die variative 89
Vielfalt, sondern die qualitative Verschiedenheit der Typen und Methoden künstlerischer Aneignungs-Prozesse die repräsentative und paradigmatische Demonstration. Gleichwohl soll die unvermeidliche Diskrepanz zwischen theoretisch konzeptivem Gesamtzusammenhang und singulärer analytischer Veranschaulichung anhand einiger punktueller Fall-Studien dadurch gemildert werden, daß ihnen in logisch-systematischer Hinsicht wesentlich erscheinende Aspekte zugrunde gelegt werden. Diese Aspekte des Aneignungsprozesses beziehen sich auf künstlerische Gestaltung als Auseinandersetzung mit der Realität in den Formen der Kunst, als Formieren der künstlerischen Gestalt und als funktionale Vorprägung ästhetischer Sinnlichkeit und sozialer Sinnbildung. Es geht also darum, anhand konkreter, wirklicher Schaffensprozesse und Kunstobjekte schöpferische Aneignungsvorgänge und -beziehungen aufzudecken, die das Zustandekommen von Kunstprodukten in ihrem „So-und-nicht-anders-Sein" als ihrem spezifischen Wirkungsvemögen, in ihrer dialektischen Einheit von sozialer Funktionsbestimmung und individueller Formbestimmtheit betreffen. Das herangezogene Material stammt aus dem Fundus der modernen europäischen Kunst und repräsentiert neuralgische Punkte der kunstgeschichtlichen Entwicklung in jenem Epochenumbrach, der zur Herausbildung neuartiger Kunstkonzepte sowohl unter spätbürgerlichen wie unter sozialistischen Bedingungen führte. Wenn dabei ausschließlich auf den Bereich der Musik rekurriert wird, und wenn überdies die „neue" Musik anstelle des insgesamt „Neuen" in der Musik (wozu etwa der mehr oder weniger produktive Gegensatz von „ernster" und „unterhaltender" gehört) in diesem Kapitel akzentuiert wird, müssen von vornherein gewisse Einseitigkeiten entstehen, die zum Widerspruch reizen können. Zu hoffen bleibt, daß sie den Vorzug der Deutlichkeit haben und bedeutsam genug sind, um Rückschlüsse auf andere Beispiele oder Verallgemeinerungen für andere Kunstverhältnisse zuzulassen.
Realität in den Formen der Kunst Jede Art der künstlerischen Produktion ist geprägt von dem sozialen Raum und der geschichtlichen Zeit, in der sie entsteht und wirkt. Jedes künstlerische Erzeugnis bewahrt und erzeugt Erfah90
rungen in einem Spannungsfeld, dessen Koordinaten die umgebende Realität und die künstlerische Überlieferung bilden. Doch je entwickelter „Realität" und je reicher „Überlieferung" sind, desto weniger gestalten sie sich als homogene und geschlossene Systeme, in denen „Kunst" als passiv agierendes und mechanisch reagierendes Verbindungs-Element figuriert. In dem Maße, wie sich gesellschaftliche Verhältnisse in sich differenzieren und widersprüchlich schichten, und in dem Maße, wie dabei historische Erfahrungen akkumuliert und Traditionen reflektiert werden, entwickeln sich notwendigerweise auch unterschiedliche Gebrauchsweisen für die Kunst, in denen schließlich vielfältige, sich teils ergänzende, teils widersprechende Produktions- und Funktionskonzepte, Schaffensästhetiken und Wirkungsstrategien der Künstler beschlossen liegen. Aus solcher widerspruchsvollen Differenziertheit entstehen die Triebkräfte des künstlerischen Fortschritts, indem sie Spiel-Räume der schöpferischen Subjektivität erweitern, die gestalterische Freiheit in relativer Autonomie der künstlerischen Zwecksetzungen ermöglichen und die individuelle Leistungsfähigkeit der Produzenten auf der Basis bewußter Vorentscheidungen stimulieren. Solche Funktions- und Produktions-Konzepte für die Kunst, für die einzelnen Kunstgebiete und Gattungen begegnen dem einzelnen Künstler als geschichtlich vorgeprägte Regeln und daher als gesellschaftlich akzeptierte Normen. Es sind dies allgemeine Vorstellungen und Verständigungen über die Aufgaben einer Kunst im Rahmen des sozialen Lebens, über ihre ästhetischen Möglichkeiten, ihre ethischen Pflichten oder politischen Tugenden - und damit immer auch gleichzeitig über ihre beschränkten Rechte und bestimmten Grenzen unter diesen Aspekten. In diesem Rahmen gehören dann weiter dazu: vorherrschende Programme, leitende Ideen, SchaffensAsthetiken oder Vorstellungen über das besondere Berufs-Verständnis von Künstlern, die entweder durch ihre historische Vörbildwirkung oder durch ihren jeweils gegenwärtig prägenden Einfluß orientierende Maßstäbe setzen. Schließlich wirken als beherrschende Faktoren und dirigierende Gewalt für den produzierenden Künstler die konkreten, immer aufs neue zu „bedienenden" Bedürfnisse der Gesellschaft, die sich in einem stabilen Netzwerk von Darbietungsorten, Verkehrsformen, Institutionen, Medien und organisatorischen Apparaten materialisiert haben. Inmitten eines solchen weit gefächerten Ensembles von realen Bedingungen und Anforderungen, durch das sich das gesellschaftliche Kunst-Leben organisiert und 91
reproduziert, trifft der einzelne Künstler nolens volens eine Fülle von Vorentscheidungen, die seine schöpferische Anteilnahme in vielerlei Richtung beeinflussen. Mit Blick auf die vorgefundenen Verhältnisse und je nach Realitätsbefund entwickelt er gezielte Verhaltensweisen und individuelle Schaffensstrategien, wobei er im Ergebnis solcher Aneignungs- (oder auch: Entfremdungs-)Beziehungen zwischen Harmonie- oder Konfliktstreben, Bestätigungs- oder Veränderungswillen, zwischen Vorstellungen von primär heteronom oder autonom bestimmter, auf das Bedürfnis von Massen oder Eliten zielender Kunst, seine Position festlegt und damit zugleich Entscheidungen über die Aneignung (oder auch: Negation) bestimmter künstlerischer Traditionen, Stil- und Ausdrucks-Mittel sowie über Formen und Inhalte der schöpferischen Arbeit fällt. Daß künstlerisches Schaffen sich derart in einem ebenso engen wie vielgestaltigen Wechselverhältnis zur Gesamtheit der realen Welt verwirklicht, ist kaum je ernsthaft bestritten worden. Die produktiven Abbild-Leistungen der Kunst als Sinnerkundung der Wirklichkeit in sinnlich wirksamem Material haben in Kunsttheorien und Ästhetiken vielerlei Art gebührende Würdigung gefunden. Aber einerseits konzentriert sich die Aufmerksamkeit allzu oft auf jene Künste, deren Materialbeschaffenheit und Zeichenvorrat ohnehin in enger Beziehung zur empirischen Realität entstanden ist, und andererseits wird die Arbeit der schöpferischen Subjektivität, der aus Phantasie und technischem Vermögen gespeiste Prozeß tätiger Aneignung der Wirklichkeit meist mehr behauptet als konkret untersucht. Das gilt namentlich für Musik, die anscheinend abstrakteste, ungegenständlichste aller Künste, über deren Wirklichkeitsverhältnis und Leistungsvermögen in dieser Hinsicht wenig Klarheit und noch weniger Einverständnis herrscht. Welche Bereiche können da im klingenden Material, in welcher Weise, zu welchem Zweck überhaupt abgebildet werden? Wie vollzieht sich da die Verwandlung empirischer Gegenstände und Sachverhalte in ästhetisch geformte und sinnlich bestimmte? Und wie läßt Musik solche Beziehungen als Gehalte transparent werden, wo es doch offensichtlich nicht ihre dringendste Aufgabe ist, darüber explizit Aufschluß zu geben. In der Tat suggeriert sie doch eine Welt für sich, ein reales Reich der Klänge, in dem man sich, Übung vorausgesetzt, ohne anderes Wissen recht gut orientieren und bestens amüsieren kann. Und in der Tat muß man Musik nicht bloß genießen, sondern auch „erkennen", muß man über sie etwas wissen wollen, wenn derartige Fragen überhaupt von Interesse sein sollen. 92
Das volle Verständnis entwickelter Musik erfordert allerdings ein solches Fragen, und „ernst" heißt sie nicht zuletzt deswegen, weil sie für das Hören die permanente Aufgabe mitliefert, ihre teils offenkundigen, teils rätselhaften „Betroffenheiten" von der sie umgebenden Welt zu dechiffrieren.
Transfigurationen gestalteter Wirklichkeit Tristan und Isolde. Wanderung eines Kunst-Stoffs Wenn wir nun dazu übergehen, die bisher skizzierten, allgemeinen Aspekte durch ein konkretes Beispiel künstlerischer Aneignung zu ergänzen, das einerseits die Verwandlung gegenständlicher Gestalten in gestaltete Gegenstände und andererseits die Transfigurationen eines solchen stofflich bestimmten Gegenstandes im Wandel des kunstgeschichtlichen Prozesses demonstriert, dann müssen wir wiederum von einer lapidaren Feststellung unseren Ausgang nehmen: Nichts im Leben - und also auch keine Kunst - existiert für sich allein oder nur aus sich heraus. So weiß denn jeder einigermaßen beschlagene Kunstfreund beispielsweise um die traditionell engen, substanziellen Beziehungen zwischen Wort und Ton, Sprache und Musik, Literatur und Komposition. Derartige „Zuneigungen" mit den entsprechenden, wechselweisen „Aneignungen" sind in der Praxis des musikhistorischen Prozesses immer konstitutiv gewesen, und deshalb haben sie stets auch das theoretische Interesse allgemeiner wie spezieller Wissenschaften erregt. Mit um so größerem Erstaunen muß man freilich feststellen, daß sich manchmal ganz einfache Fragen schwer beantworten lassen, weil bis heute noch systematische Recherchen und sogar die lexikalischen Grundlagen fehlen. Dies gilt insbesondere für jene externen und internen Aspekte der Kompositionsgeschichte, die einerseits im Zusammenhang mit literarisch geprägten Stoff-Traditionen und andererseits als gleichsam innermusikalische Rezeption klanglich fixierter Motive, Themen oder Strukturen untersucht werden müßten. Als kleiner Ansatz in diese Richtung, als durchaus kursorischer Beitrag zu einer bislang kaum greifbaren Stoff- und Motiv-Geschichte der Musik kann der folgende Exkurs, über seine hier illustrierende Funktion hinaus, verstanden werden. Das Motiv des Fragens kommt, wie in vielen vergleichbaren, gleich vergeblichen Fällen, aus einem
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unmittelbar praktischen Interesse, der schlichten Neugier nämlich auf eine griffige Übersicht, welcher Komponist sich mit einem bestimmten Sujet auseinandergesetzt hat, oder welche Interpretationen dieses Sujet bei verschiedenen Komponisten erfuhr. Dabei einmal an das Stichwort „Tristan und Isolde" zu denken, mag zwar zufällig erscheinen, ist aber nichtsdestoweniger naheliegend, bedenkt man den Ruhm dieser Kunst-Figuren und die reichen germanistischen Bemühungen um diesen seit dem Mittelalter lebendigen Stoff, der ja auch jedem Opernliebhaber sofort geläufig ist. Soweit es sich dabei um Vertonungen im dramatischen Bereich handelt, kann natürlich in diversen Nachschlagewerken eine Auskunft eingeholt werden. Sie lautet ziemlich eindeutig und unziemlich dürftig, daß außer Richard Wagners berühmter Oper nichts Nennenswertes zu verzeichnen sei. Wer aber wissen will, ob das Thema in anderen musikalischen Formen, gar rein instrumentalen, abgehandelt wurde, bleibt weitgehend aufs eigene, ahnungsvolle Suchen angewiesen. Und wer, auf gleichsam zweiter Ebene, im Wissen um die einzigartige, impulsive Aneignungs-Geschichte von Wagners „Tristan"-Stil, einem solchen Klang-Stoff mit wirklich thematischem Bezug in anderen Kompositionen zu begegnen hofft, muß sich fast ausschließlich auf privat-zufällige Erinnerung verlassen. Deshalb seien zunächst die wichtigsten Fakten ausgebreitet, und zwar in der für diesen „Fall" nötigen doppelten und wechselnden Optik, die uns zugleich ein wenig das geistige, soziale und kultur-politische Bedingungsgefüge des sehr komplexen Rezeptionsvorgangs plastisch vor Augen führt. Wagners „Tristan" als Kristallisationspunkt Jede beliebige Umfrage dürfte heutzutage ergeben, daß die mittelalterliche Liebesgeschichte von Tristan und Isolde vor allem durch die musikdramatische Version Wagners gegenwärtig ist. Dieses einzigartige Kunstwerk bildet in der Tat nicht nur den Auftakt zur musikalischen Aneignung des berühmten Stoffes, sondern es markiert auch - zumindest auf solcher Höhe, im Lichte derartiger Bekanntheit - zugleich deren Zentrum, weil alles Spätere von ihm mehr oder weniger beschattet wird, also direkt oder vermittelt darauf als auf einen Anfang sui generis bezogen bleibt. Jahrhundertelang geriet der Tristan-Stoff trotz reicher, immer wieder aktualisierter literarischer Überlieferung überhaupt nicht ins sujetbedürftige Interessenfeld der musikalischen Entwicklung - obwohl als Ausnahme in früher Zeit
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eine kleine instrumentale Estampie venezianischer Herkunft unter dem Titel „Lamento di Tristano" ( l 4 . Jahrhundert) überliefert ist. Diese Abstinenz dürfte im wesentlichen mit der seit der Renaissance für die gesamte europäische Musikentwicklung gleichsam obligaten Orientierung auf die klassische griechisch-römische Mythologie und im religiösen Bereich - auf den Kanon der biblischen Schriften und der Heiligenlegenden zusammenhängen. Erst die romantischen Bestrebungen, der wissenschaftliche Historismus und das nationalstaatliche politische Denken im 19. Jahrhundert öffneten den Sinn und weckten Bedürfnisse für entsprechende Quellen, so daß auch die kompositorische Neu-Gier, besonders auf dramatische Stoffe, allmählich mit der „näherliegenden" Geschichte, vor allem mit dem bisher unerschlossenen nordischen Kreis der mittelalterlichen Schöpfungsmythen, Heldenepen und Ritter-Aventüren, Kontakt suchte. Wagner kannte den Tristan-Stoff durch das großangelegte, fragmentarische Epos Gottfrieds von Strassburg; er besaß es in der neudeutschen Übertragung von Hermann Kurtz, die 1844 erschienen war, und er verwendete es als Grundlage für seine Dichtung.2 Die Idee zur Oper war nicht, wie in den anderen Fällen seiner musikdramatischen Produktion, lange vorgeplant; und auch nachträglich unterließ er es hier, eine visionäre Entstehungslegende zu konstruieren. Der Gedanke an das Werk kam ihm recht spontan im Oktober 1854 aus einer Verquickung mehrerer biographischer Motive - aus intrikaten Lebensproblemen auf geistiger, psychischer wie pragmatischer Ebene, die Wagner durch einen kreativen Kraftakt, im Sinne einer imaginären (dann auch wirklichen) Flucht ins „künstliche Paradies"3 seines Schaffens zu lösen versuchte. Zu jenen stimulierenden Motiven gehören die unmittelbar vorausgegangene Entdeckung von Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung", die heillos leidenschaftliche Liebe zu Mathilde Wesendonck, der Gattin seines benachbarten Gönners, dann ein engagiert von ihm kritisiertes Dramenprojekt zum Tristan-Stoff von seinem Freund Karl Ritter, auch Gefühle der Ermüdung und des Überdrusses an der Riesenarbeit des „Rings" und das akute Bedürfnis nach einer Unterbrechung, des weiteren merkwürdig konzentrische Lektüre Calderonscher Dramen, der „Hymnen an die Nacht" von Novalis und der Schlegelschen „Lucinde", schließlich wieder einmal bedrängende finanzielle Sorgen und die Idee einer rasch interpolierten, leichten, hohen Gewinn bringenden Oper. Doch aus dieser fast beiläufigen Affinität zum „Tristan"-Stoff (die natürlich im Rahmen von Wagners Aneignung der germanischen
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Sagen-Welt lag und insbesondere eine Parallel-Variante zu seinem liebsten Heldenpaar Siegfried/Brünnhilde darstellt) wurde eine kompositorische Passion sondergleichen, und nach knapp vier Jahren war aus der bescheidenen Anfangs-Intention etwas ganz anderes geworden: ein tragisches Ideendrama, ein unvergleichlich kühnes, vorerst unrealisierbares Musikwerk, eine Riesensymphonie für die Bühne, Wagners ehrgeizigste, engagierteste, geschlossenste Leistung, kurz in Thomas Manns Worten - das „klassische opus metaphysicum der Kunst" 4 . Die Idee der Erlösung, die Wagner mit unvermindert politischem Hintersinn darstellen wollte - nämlich die Unmöglichkeit altruistischer, unbedingt selbstloser Liebe in der wirklichen, egoistisch entfremdeten Welt seiner Zeit und ihre einzig denkbare Erfüllung durch den Tod und die symbolische Auferstehung der Liebenden in einer .„jenseitigen", zukünftig humanen - zwang ihn zu eiper völlig neuartigen, ganz eigenständigen Adaption des Stoffs. Gottfrieds episodenreiches Epos gibt ihm nur die notdürftigsten Stichworte und Anhaltspunkte zu einer kaum nennenswerten Handlung, die der zeitlichen und örtlichen Fixierung weitgehend enthoben ist, die sich ohne dekorative Details auf die knappe Linie des Todes-Liebes-Tranks, der gestörten Liebesnacht und des freiwilligen Liebestods konzentriert und die anstelle des „bewegenden", dramatisch-diskursiven Dialogs die „bewegte" Aktion des monologisierenden Gefühls, die unbedingte, keiner rationalen Begründung oder moralischen Rechtfertigung bedürfende Beredtheit des „tönenden Schweigens" (Wagner)5 entfaltet. Wagners Aneignung des Stoffs vollzog sich unter der doppelten Maxime, daß er, ohne alles historisch-philologische Interesse, seinen eigenen weltanschaulichen Uberzeugungen angepaßt werden müsse, und daß er auf eine librettistische Form zu übertragen und dabei radikal umzufunktionieren (auch radikal zu komprimieren) sei, um den nötigen Freiraum für eine musik-dramatische Interpretation zu gewinnen. Gerade im „Tristan" schrumpft die Bühnen-Realität auf ein Minimum an Aktion; dafür wird die Musik in ihre exzessivsten Rechte eingesetzt; wird sie zur eigentlich „redenden" und „handelnden" Instanz der realistischerweise unsagbaren Gedanken und uneinlösbaren Gefühle. Aber genau dafür war eben ein gleichsam unerhörter Klang vonnöten, ein spezifischer „Ton" der verzehrenden, ruhelosen Sehnsucht, der weltverachtenden Träume und dunkel rasenden Leidenschaften, der von Wagner eigens erfunden und gewissermaßen gegen alle irdisch-alltägliche, handfeste und welt96
läufige Konvention auskonstruiert werden mußte. Diese konventionalisierten Mittel, vor allem das tonal in sich geschlossene und kadenzierend ausbalancierte System der Harmonik, gelten dem Komponisten im „Tristan" nicht mehr als unbefragte, gleichsam natürliche Symbole positiver Identifikation mit der Sphäre der irdischen Realität, sondern als kritisch reflektierte, im klanglichen Ambiente der Partitur geradezu als falsch, banal und ironisch ausgestellte Marken-Zeichen für diesen nun negativ bewerteten Bereich. Aus solchem ideell motivierten Widerspruch, einer „Umwertung ¿der Werte", die freilich von anderen zeitgenössischen Komponisten wie Weber, Berlioz oder Liszt vorbereitet wurde, entwickelte Wagner die für seine Zeitgenossen schockierende Sprache des „Tristan "-Stils mit all den neuartigen Polyphonien, den subtilsten motivischen Vermittlungen und raffinierten Valeurs und vor allem mit einer die Fundamente der alten, kadenzierenden Tonalität auflösenden, unendlich chromatisierenden Harmonik. Und fast die gesamte, neuere Musik nach Wagner, die mit ähnlich transzendierenden Gedanken spekulierte und deren idealistische Sehnsucht mit bewußter Kritik am Zustand des Weltlaufs verknüpft war, nahm von den Errungenschaften des Werks ihren Ausgang. Viele technische und ästhetische Kriterien des nachromantischen Komponierens sind mit Wagners „Tristan" voll exponiert, so daß oft zu Recht behauptet werden konnte, in ihm gründe die musikalische Moderne.6 Traditionsbildung als Aneignung des Angeeigneten Sieht man von wenigen Vor-Übungen ab - wozu auch zwei als „Studien zu Tristan und Isolde" bezeichnete Lieder auf insgesamt fünf Gedichte von Mathilde Wesendonck gehören („Träume" und „Im Treibhaus"!) - so umreißen inzwischen geläufige Begriffe wie „TristanAkkord", „Tristan-Chromatik", „Tristan-Klang" oder „Tristan-Stil" eine musikalische Welt für sich, die Wagner einzig an diese Oper gebunden wissen wollte und daher nicht weiterzuentwickeln gedachte. Seine schöpferische Antwort auf diese, ihm zuweilen selbst nicht recht geheure Herausforderung gab er mit den völlig anders gearteten „Meistersingern von Nürnberg", wobei er es sich nicht nehmen ließ, in einem kleinen, sarkastisch-distanzierten Erinnerungs-Zitat den inzwischen gewonnenen Abstand zu betonen, wenn er im 3. Akt für Hans Sachs formulierte: „Mein Kind, von Tristan und Isolde / kenn' ich ein traurig Stück: / Hans Sachs war klug und wollte / nichts von 7
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Herrn Markes Glück." Um so, hemmungsloser unterlagen wenig später ganze Heerscharen von Komponisten der klanglichen Faszination dieses „traurigen Stücks" - zumeist Epigonen und talentlose Konjunktur-Spezialisten für „Erlösungs-Dramen" in der wilhelminischen Ära - zur Zeit also jenes imperialistischen Gründungs-Fiebers, das auch den Boden für die gesamteuropäische Wagner-Begeisterung der Bourgeoisie bereitete. Aber auch jene kleine, verstreute Schar der produktiven Neuerer, die kämpferische Phalanx der musikalischen Moderne, hätte ihre so facettenreiche Physiognomie kaum ohne diese beständigen Liebes-Tränke ausprägen und ohne die entwicklungsträchtigen Impulse der „Tristan"-Partitur wohl nicht annähernd so sicher ihre stilistischen Experimente fundieren können. Der Respekt der älteren Generation (stellvertretend sei an Brahms, Verdi oder Saint-Saéns erinnert) und die Liebe der unmittelbaren Adepten (erinnert sei beispielsweise an Cornelius oder Bruckner) schlug schließlich um in eine so konkrete wie problembewußte Auseinandersetzung mit Wagners Schlüsselwerk, die im Grunde kaum wesensverwandte Komponisten wie Mahler und Reger, Franck und d'Indy, Strauss und Skrjabin, Sibelius und JanáCek, Delius und Elgar nicht ganz zufällig verbindet. Zu den erstaunlichsten Kapiteln der Rezeption Wagners (und damit vor allem des „Tristan") gehört die fast frenetische Bewunderung, die er in weiten Kreisen fortschrittlicher französischer Künstler und Intellektueller erfuhr.7 Bekannt sind ebenso die spontanen Beifallsbekundungen eines Baudelaire oder Champfleury (unmittelbar nach Wagners erstem, denkwürdigem Konzert in Paris im Januar 1860) wie die appellativen Gedichte eines Verlaine oder Mallarmé oder die Theorien der Symbolisten über eine Musikalisierung der poetischen Sprachmittel, die auf Wagners sensitive Klang-Entdeckungen verweisen und ganz entschieden unter dem Einfluß des „Wagnérisme" entwickelt wurden. Auch viele Komponisten erhofften sich aus dem Geist und der aufreizenden Sinnlichkeit dieser Kunst eine Nobilitierung der französischen Musik,8 allen voran Vincent d'Indy und der germanophile César Franck, der zeitweise - am deutlichsten in der sinfonischen Dichtung „Les Eolides" (1876) - die Motivik und Harmonik des „Tristan" regelrecht kopierte. Noch der junge Claude Debussy stand leidenschaftlich im Banne Wagners, ehe er mit „Pelleas und Melisande" (1894/1901) jenen programmatisch gedachten musikdramatischen Gegenentwurf lieferte, der gleichwohl im Sujet, in so manchem Handlungselement und in wichtigen kompositionstechni98
sehen Aspekten mehr als nur geheime, auf jeden Fall schlecht verdrängte Parallelen zu „Tristan und Isolde" aufscheinen läßt. In diesem Zusammenhang wäre auch auf die prinzipielle Ähnlichkeit, vielleicht sogar Abhängigkeit zwischen Maeterlincks symbolistischer Theater-Konzeption und Wagners dramatischer Technik des dialogisierten Schweigens und Verschweigens, der kommunikativen Störungen und der Enthüllung psycho-analytischer Unter-Texte im „Tristan" zu verweisen. Jedensfalls gelang Debussy aus genauer Kenntnis die Emanzipation von Wagner und die Kreation einer alternativen musique française - die er nicht zuletzt durch ein hübsch provokantes „Tristan"-Zitat im salopp-modernen, ragtimeartigen Ambiente des letzten Satzes seiner Klavier-Suite „Childrens Corner" (1906) bescheinigt. Dabei waren gewiß auch insgeheim patriotische Regungen im Spiele und Sorgen um grassierende Überfremdung; aber er ritt in der Frage Wagners keine solchen nationalistischen Attacken wie beispielsweise Gabriel Fauré oder Emanuel Chabrier, die sich gegen den Bayreuther Einfluß und den allerdings bisweilen lächerlichen Kult um Wagner nicht besser zu wehren wußten, als durch zynisch vulgarisierende Parodien berühmter melodischer Wendungen („Souvenir de Bayreuth" für 2 Klaviere 1885, „Souvenir des Munich" für Klavier 1886 mit abschließendem ,,Tristan"-Walzer). Erst viele Jahrzehnte später, im beruhigenden Abstand, kam es in der französischen Musik zu einer wirklich vorurteilslosen und vertieften, von politischen Implikationen freien Beziehung zu Wagner und dessen „Tristan": etwa bei Henri Duttilleux (im Streichquartett „Ainsi la nuit") und vor allem unter völlig geänderten technischen und philosophischen Voraussetzungen bei Olivier Messiaen, der drei seiner wichtigsten Kompositionen - „Harawi, Chant d'amour et de mort" (1945), die gigantische „Turangalila"-Sinfonie (1946/48) und die „Cinq rechants" (1949) - als „Tristan-und-Isolde-Trilogie" (mit hörbaren Anspielungen auf Wagners Werk) bezeichnete. Selbstverständlich übte die „Tristan"-Musik ihre stärkste und nachhaltigste Wirkung auf die weitere Entwicklung im deutschsprachigen Raum aus. Enorme Bedeutung hatten die kompositions-technischen Funde, klanglichen Besonderheiten und poetisch-musikalischen Topoi der „Tristan"-Partitur für die zweite Wiener Schule um Arnold Schönberg. Die hier angestrengte „Emanzipation der Dissonanz" 9 (als technisches Korrelat zum Dissens mit der autoritären Gesellschaft), die zur freien Atonalität und dann zu dem Regelsystem der Zwölftontechnik führte, konnte dort bruchlos anknüpfen. Namentlich Schön7*
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bergs Frühwerk läßt sich in großen Teilen als entwickelnde, verdichtende, übertreibende Variation des „Tristan"-Stils verstehen, und dies ist um so naheliegender, als viele Sujets sich auch mit der stofflichen Sphäre konkret oder doch wenigstens mit ähnlichen romantischen Erlösungs-Vorstellungen berühren. Man denke etwa an das in hyperchromatischen Klängen schwelgende Streichsextett „Verklärte Nacht" nach Richard Dehmel (1899), an die Sinfonische Dichtung „Pelleas und Melisande" nach Maeterlinck (1903) oder an die oratorischen „Gurrelieder" nach Jens Peter Jacobsen (1901/11). Erst in dem Maße, wie die Thematik erotischer Stigmatisierung und Verklärung durch gegenläufige Tendenzen einer Demaskierung des Eros im Zeichen der Triebkonflikte und ideologisch geführten Geschlechterkämpfe abgebaut wurde, 10 befreite sich auch Schönbergs Musiksprache weitgehend vom tristanisierenden Dialekt. Daß 'aber die teils vordergründigen, teils unterschwelligen Beziehungen zu diesem Werk nie ganz preisgegeben werden sollten, läßt sich am deutlichsten im Œuvre Alban Bergs allerorten hören. Und wenn dieser „Wagnerianer" im letzten Satz „Largo desolato" seiner „Lyrischen Suite" für Streichquartett von 1925 die ersten Takte des „Tristan"Vorspiels zitierend einflicht, dann verweist er damit nicht nur auf eine interne sujetbezogene, sondern auch auf eine externe stilistische Verwandtschaft mit Wagners großartiger Oper zu einer Zeit, da solches Traditions-Bekenntnis inzwischen bei der nächstjüngeren Komponistengeneration im Rufe des Veralteten, gar Reaktionären stand. Wahrscheinlich läßt sich zu Recht sagen, daß mit der Wiener Schule die aktive kompositorische Wagner-Rezeption in einem relativ geschlossenen, kohärenten Traditionszusammenhang endet. Schon unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg machten fast überall in Europa und Nordamerika neue Bestrebungen entschieden Front gegen Wagner und die Wagnerianer, gegen romantischen Rausch, Illusionstheater und nordisch-mythischen Heldenkult - obwohl dem noch ein düsteres, pervertiertes und von epigonalen Dutzendkomponisten ausstaffiertes Nach-Spiel im faschistischen Deutschland beschieden sein sollte.11 Solche Abkehr und Abwehr in den frühen zwanziger Jahren hat unter anderem der junge Paul Hindemith deklariert (mit skandalösen Konsequenzen während der Uraufführung im Stuttgarter Opernhaus), als er inmitten seines leicht pornophilen Marionettenspiels „Nusch-Nuschi" von 1920 einen gehörnten orientalischen Fürsten mit einem sakrosankten Marke-Zitat aus „Tristan" (in der Posaune) karikierte: „Mir dies, dies, Tristan, mir!". Dergleichen offene oder 100
versteckte Invektiven gegen den Bayreuther Genius kann man auch bei vielen anderen Komponisten der neuen, neusachlich-antiromantischen Stilrichtungen finden, sogar bei Richard Strauss und natürlich bei Hanns Eisler („Kuppellied" aus „Rundköpfe und Spitzköpfe"). Davon wohl zu unterscheiden sind einige gelegentliche Versuche, die Tristan-Thematik wieder individuell, unbefangen und originell, jedenfalls außerhalb eines direkten Bezugs auf Wagner zu gestalten. So schrieb der polnische Komponist Karol Szymanowski 1915/16 drei virtuose Klavierstücke unter dem Titel „Masques", deren zweites, „Tantris der Narr", auf das seinerzeit bekannte, gleichnamige Theaterstück von Ernst Hardt (1908) zurückgeht. Die exzentrische, mit grotesken Klang-Übertreibungen gespickte Virtuosität des Stücks inspiriert sich an der Episode von Tristans Rückkehr an Markes Hof, wo ihn, der sich als Narr verkleidet hat, niemand mehr erkennt. Ebenfalls unabhängig von Wagner konzipierte der Schweizer Komponist Frank Martin ein großes Oratorium „Le vin herbé" für zwölf Solostimmen und Kammerensemble (1938/41). Er verwendet größere Textpassagen aus Joseph Bédiers „Roman von Tristan und Isolde", einer kunstvollschlichten Kompilation aller einschlägiger Überlieferungen. Episoden aus dieser Nacherzählung liegen auch dem Libretto der Choreographin Tatjana Gsovsky zugrunde, zu dem Boris Blacher 1965 eine abendfüllende Ballettmusik schrieb. Dieses „Tristan"-Ballett läßt spüren, wie entschieden Blacher bemüht war, dem Wagnerschen Ton zu entkommen, der ihn gleichwohl immer wieder auch hörbar „betrifft". Eine solche transformierende Bezüglichkeit strebt demgegenüber Dieter Schnebel in seinen Orchester-Kompositionen „ThanatosEros" von 1979 und 1985 an, wenn er die Tristan-Thematik Wagners kategorisch verallgemeinert und dabei von chromatischen Materialien der „Tristan"-Motivik ausgeht. Der wohl gewichtigste und bekannteste Versuch aus jüngster Zeit in dieser Richtung - also wieder stärker zu Wagner hin - stammt von Hans Werner Henze. 1972/73 komponierte er unter dem Utel „Tristan" ein ausgedehntes, fast einstündiges Werk, das er „Préludes für Klavier, Tonbänder und Orchester" nannte, das aber mit seinen sechs ineinander übergehenden, teils programmatisch gedeuteten Teilen dem Genre der sinfonischen Dichtung nahesteht oder auch als Sinfonie mit obligatem Klavier zu bezeichnen wäre. Eine gewichtige, denotative Rolle in diesem Stück spielen direkte oder indirekte Zitate, so, neben Brahms (1. Sinfonie) und Chopin (Trauermarsch aus der b-Moll-Klaviersonate), Fragmente des mittelalterlichen „Lamento di Tristano", aus 101
Wagners „Tristan" und - von einer Knabenstimme gegen Ende vom Tonband eingesprochen - die Beschreibung von Isoldes Tod in der englischen Ubersetzung des Bedier. Zwar hat Henze betont,12 daß viele Motive der alten Tristan-Sage in die Gestik seines Werks eingewandert seien, aber er beabsichtigte weder eine illustrative Darstellung noch eine symbolische Verklärung alter Geschichten. Ihm ging es um ihre gleichnishaften, unabgegoltenen Momente, um höchst moderne, zutiefst persönliche und zugleich politisch geprägte Liebesund Leid-Erfahrungen, um die Expression aller Arten tödlicher Bedrohung des Humanen in einer auch gegenwärtig noch überwiegend inhumanen Welt, um ein Plädoyer schließlich für die vielen, die für geistige und moralische Integrität, für Freiheit und Gerechtigkeit gekämpft und sich geopfert haben. Trotz erheblicher geistiger und musikalischer Differenzen zu Wagner verbindet Henze mit ihm doch letztlich ein ähnlich rigoroser Lebens- und Liebesanspruch, für den auch zu streiten oder notfalls zu leiden sich lohnt: denn er gehört zu den unbedingt positiven Momenten, die die Welt bessern könnten. Aufs neue hat damit Henze belegen wollen, daß der alte Stoff voller aktueller und zukünftiger „Lesarten" steckt, die gerade von Musikern noch zu entdecken sein werden. Bezugsfelder künstlerischer Aneignung Würde man die vorstehend erwähnten Kompositionen im Detail analysieren und unmittelbar nebeneinander hören, wäre sicher der Eindruck großer klanglicher Verschiedenheit, eines spürbaren Mangels an innerer Verbundenheit bestimmend. Das kann auch nicht anders sein, wenn man bedenkt, durch welch unterschiedliche Bedingungen der Zeit, des Ortes, der schöpferischen Interessen, der Gattungsnormen, des Stilbewußtseins oder des individuellen Leistungsvermögens sie motiviert sind. Ist es doch gerade diese Varietät, die wir genießen und goutieren, zumal wir auch wissen, daß die angezogenen Stücke sich dennoch auf einen gemeinsamen Ideenkomplex beziehen, wenn auch nie auf den genau gleichen und nie in der gleichen Weise. In allen Fällen handelt es sich um Musik, die über sich hinausweist, die etwas „bedeutet", indem sie sich mit Phänomenen außerhalb ihrer konkreten Beschaffenheit in Beziehung setzt. Das kann zunächst wiederum Musik sein, auf die sich ein Komponist bejahend oder verneinend beruft (etwa der Tristan-Stil); das kann irgendein anderes künstlerisches Gebilde, ein künstlerisch anderweitig ausgeformtes 102
Sujet sein, das den Musiker zur Gestaltung reizt (etwa Bédiers TristanRoman), das können schließlich musikalische und überhaupt künstlerische Artefakte als konkreter Bezug sein (etwa die Wagner- und Brahms-Zitate bei Henze), um auf Vorgänge, Ereignisse und Probleme der außerkünstlerischen, der im weitesten Sinne empirischen Realität im bildlichen „Vergleich" zu reagieren. Obwohl derartige AneignungsEntscheidungen ihre objektive und subjektive Seite aufweisen und natürlich von einer Reihe objektiver wie subjektiver Schaffens-Voraussetzungen abhängen, berücksichtigen die Komponisten in der Regel sehr genau diese Bezugsebenen, setzen sie individuelle Akzente und artikulieren sie ihre Individualität dadurch, daß sie die verschiedenen Realitätsbereiche immer wieder aufs neue füreinander transparent machen. Solche unterscheidbaren Interessensphären - wie im Falle der „Tristan"-Rezeption eine genuin politisch-philosophische (Wagner, Henze), eine genuin sujetorientierte (Messiaen, Martin, Blacher), eine genuin musikalisch-expressive und stilfixierte (Spätromantik, Wiener Schule) oder eine genuin anti-wagnerische (Fauré, Chabrier, Hindemith) - wählen die Künstler nie ganz aus freien Stücken, sondern stets auch in mehr oder weniger bewußter Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Schaffenskonzept, ihren ästhetischen Neigungen oder Abneigungen, ihrer Gefühlslage oder Weltsicht, die andererseits mit übergreifenden Paradigmen des gesellschaftlichen Zusammenhangs eng verflochten sind. Dadurch verschränkt sich oftmals, vor allem beim sozusagen genialen Kunstwerk, das zufällige Motiv und die subjektive Bedingtheit mit dem Moment der zwangsläufigen Handlung und dem notwendigen Impuls zu einer objektiv richtigen Entscheidung, die der vorgegebenen Richtung künstlerischer Entwicklungsprozesse entweder entspricht oder ihnen diese Richtung vorgibt. In diesem dialektischen Sinne der Entstehung und Wirkung ist gerade Wagners „Tristan und Isolde" ein musikgeschichtlich erstrangiger Kristallisationspunkt kreativer Wirklichkeitsbewältigung und produktiver Traditionsbildung geworden.
Die künstlerisch-tätige Subjektivität Wollen, Können und Müssen Im vorangegangenen Abschnitt war von allgemeinen Vorbedingungen des künstlerischen Produzierens die Rede: Noch ehe sich der 103
Künstler zu einer Arbeit entschließt oder auch nur hingezogen fühlt, trifft er auf eine komplexe Realität, die ihn in vielerlei Hinsicht schon geprägt hat und auf die er innerhalb bestimmter Spielräume zu reagieren weiß. Indem künstlerische Arbeit jedoch auf Erweiterung, Erklärung, Verschönerung, kurz: auf gegenständliche und intelligible, geistige und sinnliche Veränderung der Welt für den Menschen aus ist, verlangt sie eine erhebliche Aktivität eigener Art, über die der Künstler aus eigenem Antrieb, aus eigenen Kräften und Fähigkeiten verfügen können muß. Auch in der Kunst sind die schöpferischen Vorgänge überwiegend auf Vergegenständlichung und Entäußerung, das heißt, auf die Herstellung konkreter Objekte gerichtet - und dies muß der Künstler nicht nur wollen, sondern vor allem bewerkstelligen. Im Wirklichwerden von Kunstwerken verwirklicht sich der Künstler als Individuum und als Gattungswesen, indem er nach gattungsspezifischem und individuellem Maß tätig wird. Er muß sich die geeigneten Materialien beschaffen und prüfen; er muß sich Techniken ihrer Bearbeitung zu eigen machen und sie souverän beherrschen; er muß sie verändern, an seine Bedürfnisse anpassen, wie er seine Bedürfnisse ihnen anpassen und dabei sich verändern muß. Meist findet er, mit Begabung und Glück, ein interessantes gestalterisches Problem oder eine noch ungeborene gedankliche Lösung oder für ein altes Problem eine neue Lösung oder eine alte Lösung für ein neues Problem. Wie auch immer: er zieht Elemente der vorgefundenen Wirklichkeit - überkommene und neue Sujets, Techniken, Sprachformen, Stilmodelle und Spielformen - an sich heran, in sich hinein und formiert sie nach Maßgabe seiner inneren, gespeicherten Erfahrungen, seines Könnens, seiner Erfindungskraft und Wirkungsabsicht. Dabei kommen höchst komplizierte, auch widerspruchsvolle Überlegungen und Arbeitsvorgänge zum Tragen - in jener Black box der kreativen Umwandlungsprozesse, der unwillkürlichen Inspirationen und Imaginationen, der angestrengten Zielsuche und der konstruktiven Verwerfungen, von der wir eigentlich noch sehr wenig wissen, vor deren unerschöpflichen Resultaten wir immer wieder erstaunen. Im Zusammenspiel der kreativen Erwägungen, die zu einer vom Künstler verantworteten, durchgeformten und sinnfälligen Kunstgestalt führen sollen, lassen sich gleichwohl einige Aspekte erkennen, die für den schöpferischen Stoffwechselprozeß konstitutiv erscheinen. Das heißt aber nicht notwendigerweise, daß sie in jedem Fall dem Künstler gegenwärtig und von ihm beim gestalterischen Arbeiten re104
flektiert sein müßten: sie können bei um so größerer praktischer Erfahrung desto stärker zu unterbewußt funktionierenden Handlungsanweisungen oder standardisierten Entscheidungsmustern tendieren. Gleichwohl prägen sie, als Momente der persönlichen Handschrift, des Personalstils, den Charakter, die Form und den Gehalt der Produkte und sind demzufolge durch theoretische Analyse erschließbar. Zu diesen Aspekten gehört einmal ein je bestimmtes Verhältnis zwischen objektiver Technik - der Summe der vom Künstler angeeigneten, vorgegebenen, regelhaft normierten Materialien und Gestaltungsweisen - und subjektiver Technik - der individuellen Umprägung, Spezifizierung, Reaktivierung, oder auch Demontage solcher Regulative entsprechend den subjektiven Bedürfnissen und konkreten Erfordernissen beim Formieren. Zum zweiten spielt das Verhältnis von Emotionalität und Rationalität eine gewichtige Rolle. So, wie im fixierten Kunstwerk spontane und reflektierte Schichten ineinanderfließen, bestimmt die Wechselbeziehung zwischen Gefühl und Kalkül auch den Gestaltungsprozeß selbst. Das Problem besteht hier vor allem in der fruchtbaren, aktiven Durchdringung beider Seiten, in der sinnvollen Koordination von Allgemein-Unbewußtem und BesondersGeplantem, von dem zufälligen „Traum" eines Kunstwerkes und der Notwendigkeit, ihn effizient auskonstruieren, ihn gegenständlich entäußern zu wollen. Als dritter Aspekt wirkt das Verhältnis von Aktion und Resultat im künstlerischen Schaffensprozeß. Hierbei geht es um die technischen und ästhetischen Strategien der Anwendung vorgefundener Materialien und Methoden bzw. eigens zu erfindenden Gestaltungselemente im Hinblick auf die auszuformende End-Gestalt. Auf diesem oft verschlungenen Wege die dem Material inhärenten Möglichkeiten und die subjektiven gestalterischen Potenzen zu erproben und auszuloten, kommt es zu verschiedenen Arten und Stadien von Entscheidungsprozessen, Wahl-Vorgängen, Verwerfungen, auch zu Umpolungen im Verhältnis von Inventio und Elaboratio, schließlich zur Setzung und Brechung von Regeln der Strukturierung, teils zu dem Zweck, einer Werkgestalt die optimale Form zu geben, teils, um den anvisierten Werkgehalt zu vertiefen, konnotativ zu bereichern, auch zu verschlüsseln und die Rezeption, um erhöhter Aufmerksamkeit willen, zu erschweren. (Hierzu gab unser einleitendes Beispiel - aus einem anderen Kunstbereich - bereits erste Hinweise.) Schließlich bleibt wohl stets ein Aspekt unentbehrlich, der das Verhältnis von Konzeption („Auftrag"), Methodik der Gestaltung 105
(technische Mittel) und gesellschaftlicher Funktion betrifft. Nicht nur hängen diese drei Komponenten objektiv aufs engste voneinander ab, sondern Art und Umfang gestalterischer Intensität werden hier ebenso von der subjektiven Disposition des Künstlers wie vom Gattungstypus und Wirkungsbereich eines Kunstwerks bestimmt, weil es letztlich eine bestimmte Aufgabe erfüllen und, unter bestimmten Voraussetzungen, aufgrund latenter Bedürfnisse, später seinerseits Gegenstand rezeptiver Aneignung sein soll. Qualitative Unterschiede zwischen einer Sinfonie und einem Kinderlied ergeben sich durch qualitativ unterschiedliche Funktions-Spielräume, so daß die Gestaltungsmittel des einen Typs nicht ohne weiteres für den anderen taugen (und umgekehrt). Ein geschlossen durchkonstruiertes Musikwerk in mehreren Sätzen verlangt einen prinzipiell anderen Modus des Gestaltens als beispielsweise ein offenes, improvisierend zu vervollständigendes Werk, für das ein Komponist nur allgemeine Anweisungen gibt. Und kollektives Produzieren gebraucht nicht die Regeln des vereinzelten Vollenders. Aber im Falle hochindividualisierter, gestaltprägnanter und exklusiver Kunst bilden intentionale, gestalterische und wirkungsstrategische Faktoren in der Regel eine komplexe und widerspruchsvoll angespannte Einheit. Das Wirken solcher Faktoren, ihr Zusammenwirken beim Gestaltungsprozeß, besonders aber die Handhabung von Gestaltungsmitteln als syntaktische und semantische Sinnträger im Sinne permanenter Umfunktionierung von „Gegenstand" in „Material", von „Material" in „Sprache" und von „Sprache" in sinnerfüllte „KlangBilder" soll im folgenden an einem dafür besonders instruktiven Beispiel aus dem sinfonischen Schaffen eines Komponisten der DDR demonstriert werden. Es handelt sich um das Orchesterstück „Fanal Spanien 1936 - Ballade für großes Orchester (Hommage ä Paul Dessau)" von Friedrich Schenker (geb. 1942), das 1981 komponiert und in Leipzig uraufgeführt wurde. Konstruktion der Expressivität a) Anstoß In einem Interview anläßlich der Uraufführung resümierte der Komponist seine konzeptiven Überlegungen, die vom damaligen politischen Klima in der Welt ausgingen: „Wäre nicht ein Appell, ein gewisses Fanal-Denken nötig, um die Kämpfe für Demokratie und 106
Sozialismus, für die kommunistischen Ideale, neu zu mobilisieren? Dabei dachte ich an Spanien, wo 1936 die unterschiedlichsten fortschrittlichen Kräfte aus aller Welt zusammenkamen, um eine Republik, eine ganze Idee zu retten. Und ich dachte an Paul Dessau, dessen Tod mir noch sehr gegenwärtig war, an die Rolle, die sein berühmtes Lied ,Spaniens Himmel' gespielt hat, und an die Frage, ob es als sinnvolles Material auch für ein Orchesterstück taugen könnte, das sich ja nicht als simples Abbild geschichtlicher Kämpfe versteht." 13 Der mehrgliedrige Titel des Orchesterstücks bewahrt die Komplexität und konzentrierte Zielstellung in Anliegen und Ausführung auf. Zugleich verweist er auf die unterschiedlichen Schichten vorgegebener Realität - historisches Ereignis, musikalische Form, künstlerisches Vorbild -, die für die Konzeption des Werks entscheidend wurde. Da ist also zunächst die Erinnerung an Paul Dessau, an Schenkers wichtigsten und letzten Lehrer, der ihm entscheidend das Verständnis für das politische Engagement auch eines Komponisten und für das Komponieren als gesellschaftlich eingreifende Aktivität öffnete. Und weil Dessau dies selbst in extrem vielfältigen Formen praktizierte, äußerste Einfachheit und experimentelle Kühnheit, Massenlied und Kammermusik eingeschlossen, zitiert Schenker nicht zufällig mit der „Thälmann-Kolonne" und dem zwölftönigen Klavierstück „Guernica" polare Ausprägungen eines Themas. Dieses Thema ist der Spanische Bürgerkrieg, der damals heroische, aber verlorene Kampf um die Republik. Schenker symbolisiert ihn einerseits durch Zitate von Liedern, die damals entstanden und vor allem von den Internationalen Brigaden gesungen worden sind. Als Quelle diente ihm offensichtlich die von Ernst Busch gestaltete und edierte AuroraSchallplatte „Canciones de las Brigadas Internacionales". Andererseits rückte er auch den faschistischen Gegner „ins Bild" und schuf damit die dramaturgische Voraussetzung für eine sinfonische Konfliktstruktur, die im Sinne der historischen Situation als „Ballade des Unterliegens" (ein Begriff Adornos zu Mahlers Sinfonik)14 weniger gelöst als offen gehalten werden mußte. „Ballade" bezieht sich ja ohnehin nicht auf einen festumrissenen musikalischen Formtypus weil es, trotz berühmter Ausnahmen auf rein instrumentalem Gebiet (Chopin, Dvofák, Brahms, Dukas), keine konsistente Tradition gibt -, sondern auf einen literaturgeschichtlich in verdichteten Geschichten vorgeprägten Erzählgestus und Tonfall mit ereignisreichen Details und mit tragischer Akzentuierung. Daß Schenker darin gleichwohl die 107
musikhistorisch ursprüngliche, dazu beinahe paradoxe Bedeutung der Ballade als geselliges Tanzlied unterschwellig mit aufleben läßt, dürfte ihm kaum bewußt geworden sein - aber die Vorstellung von einem vielstimmig verschlungenen Reigen auf explosivem Boden könnte die klangliche Vision seines Stückes durchaus mitbestimmt haben. Jedenfalls steht die spanische Tragödie nach Schenkers Intention und durch die Technik der Komposition als heraufbeschworener Hintergrund auch für ähnlich bedrohliche „Gefährdung des politischen Fortschritts heute". „Man braucht", so Schenker 1981, „nur an Chile, an El Salvador, an die gegenwärtige Bedrohung Kubas oder die Labilität der heutigen spanischen Verhältnisse zu denken. Die Kämpfe bleiben hart, die Siege gefährdet. Ihnen gilt meine Sympathie wie uns meine Sorge, unser solidarisches Bewußtsein könnte nachlassen. Mein Stück ist ein Appell zur Wachsamkeit."15 Deshalb ist die Komposition zuallererst als „Fanal" gemeint, als jener akustische Denk-Anstoß, den leider noch immer große Teile des Konzertpublikums als anstößige Fehlleistung im schönen Musentempel der „absoluten Musik" mißbilligen. b) Einstieg
Wie man weiß, läßt sich Realität in Musik nicht unmittelbar, sondern nur über vielfältige ideelle Vermittlungen aneignen, die einer konstruktiven Verwandlung in Klang bedürfen. Vor allem aber bedeutet solche Realität mehr als eine Summe von Sachverhalten, auf die gleichwohl verwiesen sein kann: sie umfaßt den geschichtlich-gesellschaftlichen Lebensgrund, der den Komponisten trägt, seine historische Handlungswelt in ihren Möglichkeiten, Anforderungen und Grenzen, in ihren Widersprüchen und Spannungen, die er, vielfach gebrochen, und auch unbewußt, musikalisch transformiert. Und nicht zuletzt ist es der Weltzustand im ganzen, der hinein- und mitspielt, der ihn herausfordert und auf den er mit seinen Mitteln und Möglichkeiten reagiert. Zugleich ergeben sich aber aus diesem Zustand der Welt strukturelle Anforderungen an eine Kunst, eine ihr gemäße Ästhetik und Technik, die den Musiker, so er darauf ernsthaft und ehrgeizig abhebt, immer wieder fragen und erkunden lassen, in welchen musikalischen Strukturen sich jener Weltzustand überhaupt sinnvoll aneigenen läßt, damit er wahrheitsgemäß und eindringlich, plastisch und eingreifend vermittelt werden kann. Zu den grundlegenden musikalischen Struktur-Vorstellungen des „Fanals" gehört zum einen die Entscheidung für ein vielgestaltiges, ja 108
heterogenes Ausgangsmaterial, zum anderen seine Umprägung, Deformation, Aufspaltung und Bündelung für unterschiedlich massive Bewegungsabläufe in über- oder nacheinander kontrapunktisch montierten Klangschichten. Diese Schichten-Polyphonie, das technische Korrelat zur Idee diffus oder koordiniert, getrennt oder vereint geführter Massen, tendiert abwechselnd zur amorphen, anonymen, in ihren „Strebungen" sich durchkreuzenden Stimmen-Vielfalt und zur prägnant artikulierten, hierarchisch abgestuften, thematischen Gestaltbildung. Für den letzteren Fall nun spielen die erwähnten Zitate von Kampfliedern eine tragende Rolle - Rollen unterschiedlichsten Charakters, unter denen die geläufige Melodie von Dessau „ThälmannKolonne" entschieden dominiert. Diese Melodie erfüllt mehrere Zwecke zugleich: Einmal fungiert sie als Modell für die Gewinnung und die Entwicklung motivischen Materials, das sich auch verselbständigen und gleichsam isoliert behandelt werden kann. Zum anderen wirkt sie prägend für rhythmische Grundstrukturen, für formbildende Klangzellen und Form-Sequenzen, wobei in der Regel die rhythmischen Werte der Vorlage diminuiert, Pausen eliminiert und die metrischen Akzente so verschoben sind, daß das Original zu grellen Schlag-Zeilen reduziert und sein ursprünglich hymnischer Charakter zu tänzerischer Impulsivität verfremdet zu sein scheint. Ähnlichen Umformungen unterzieht Schenker schließlich das Lied, wenn es als mehr oder weniger vollständiges Thema vordringt oder gar als scharf profilierter Cantus firmus aufleuchtet. Durch Elision je eines Sechzehntel pro Viertelschlag verwandelt er den ursprünglichen Marschtakt in einen Dreivierteltakt: aus martialischer Schwere wird ein synkopisch-schwingender, beinahe leichtfüßiger Tanz nach Art jener brasilianischen Cariocas (einer Abart des Samba), die in den dreißiger Jahren in Europa bekannt wurden. Solche Timbre- und Charakter-Veränderungen bedienen zwar ein wenig das Moment des naturalistischen Kolorits, aber sie stellen vor allem inhaltlich bedingte Operationen dar, denn sie verhindern, daß die Lied-Modelle als vorgeprägte, dokumentarisch einmontierte Verweis-Floskeln sich gegenüber dem Klangfluß allzusehr verfestigen. Sie sollen sich vielmehr in ihn integrieren und mit ihm nahtlos verschmelzen als bloß flüchtig individualisierte Elemente in der Imagination wirklich „kämpfender Formationen, die mit-, gegen- oder durcheinander singen" (Schenker)16 und dabei einen Funktions- und Gestaltwandel in der Realität wie im Kunstwerk erfahren können. (Reines und schönes Singen ist beim Kämpfen wohl schwerlich möglich.) Für die anderen Zitate neben der 109
„Thälmann-Kolonne" gilt dies noch verstärkt, da sie, ohne wesentliche strukturelle Konsequenzen, als eher episodische Signale an der Organisation kaleidoskopischer Klangtableaus teilnehmen. c) Durchgang Nachdem wir einen der wesentlichen Codierungsvorgänge im Bereich von Material und Technik kennengelernt haben, ist die Frage nun, wie der intendierte Gegenstand im Prozeß der musikalischen Formung seine klangsymbolische Gestalt erhält. Was die äußere Form selbst anbelangt, so kann man das im Groben dreiteilige Stück als eine Barform bezeichnen, als Folge von zwei variierten, in sich wiederum dreigeteilten „Strophen" und einem „Abgesang" (A-A'-B). Betrachtet man das reale musikalische Geschehen der beiden Strophen, dann läßt sich ein doppelter Steigerungs- und Stauungsvorgang beobachten, bei dem auf antithetische Expositionsfelder als Resultat ein dramatisch geschürztes Konfliktfeld folgt, zunächst als gewaltsam angespannte Appellation, dann als niederschmetternde Katastrophe. Diesen beiden Hauptabschnitten des Stücks geht eine zurüstende Einleitung voraus, ein heftiges rhythmisches Trommelfeuer im Schlagzeug, dem als strukturierendes Modell der akustischen Orts-Beschreibung sogleich die Segmente der „Thälmann-Kolonne" zugrunde liegen. Ein Geschwindmarsch drängt weiter voran, gruppiert sich zu immer neuen Varianten, tritt aber vorerst auch wieder in den Hintergrund (im 17. Takt), wenn die Altflöte als Hauptstimme ihren breit ausgeführten, deklamierenden Monolog einbringt: wie ein imaginäres Lamento der vorgefühlten Opfer. Allmählich verdichten sich um die „vereinzelten" Laute die motivischen Partikel und hämmernden Rhythmen, und vollends sprengen die herandrängenden Zitat-Motive „Avanti populo" und „Wacht auf, Verdammte dieser Erde!" die individuelle Kontemplation. Beim 48. Takt wird endgültig die kämpferische Aufbruchs-Situation hergestellt : motivisch als Collage durcheinanderschwirrender, aber markant zu erkennender Kampflieder, die im Dröhnen schlagender Rhythmen sich wie unter Gewalt zusammenfügen. Der ganze erste Teil kulminiert in jenem schon angedeuteten Kreuzweg der verschiedenen Skalen, die, zu Kolonnen von Linien gebündelt, aufeinander zulaufen und sich verzahnen, nicht ohne Begleitschutz der Schlagbatterie, die auch dem anschwellenden Klangstrom hilft, sich geordnet zu formieren. Der zweite Teil (er beginnt bei Takt 102) ähnelt zwar dem ersten formal, entwickelt ihn aber substantiell zum dramatischen Konflikt weiter. Zunächst scheint die Ausgangssituation, mit den Dessauischen 110
Rhythmen, wieder hergestellt, aber gleich ist die Musik in eine drängendere, erregtere Atmosphäre gerückt. Wieder einmal verquickt sich ein lapidarer syntaktischer Grandsatz des Musikalischen, die Wiederholung als Variation, mit dem inhaltlichen Gedanken an eine Zuspitzung des intendierten „Geschehens". Als Pendant zum vorhergehenden Monolog der Altflöte sucht sich nun die erste Oboe einen solistischen Weg, der einerseits durch ähnlich motivierte Stimmen deutlicher markiert ist, jedoch andererseits von drastischer Kontrapunktik aus Zitatfetzen und geräuschintensivem Gestikulieren vor allem in den Streichern gestört und blockiert wird. Es etabliert sich im lärmenden Tutti eine gärende Aufbruchs-Situation. Sogar eine gewisse fröhliche Vitalität will sich gerade entfalten^ als mit blechernem Pathos ein wagnerisches C-Dur aufdröhnt und den schon beschworenen Freiheitsreigen kurz und bündig zum Ersticken bringt. Wie unter militantem Stiefelschritt bricht die widerstreitende Bewegung zusammen. Nach einem angespannten Moment der völligen Stille, wie aus schockierender Lähmung erwacht, hebt der klagende Epilog mit jenen zarten, aufseufzenden Kantilenen an, die Dessaus Klavierstück „Guernica" (komponiert 1938) entstammen. Auch hier schält sich die Solo-Oboe als führendes Instrument, als „fürsprechende" Deklamation heraus, um lange mit einem emphatischen, aber schmerzlich gebrochenen „Gesang" zu dominieren. Sie wird von seltsam schattenhaften Klängen begleitet, die wie ersterbende Reste der „Freiheit" (deren „Heimat" nun „weit" entrückt scheint) verloren umhergeistern: Seufzermotive, fahle Fanfarenstöße, einige Tanzrhythmen und gitarrenartige Arpeggios, der Klang von Maultrommeln und scharrende, zerbrechende Geräusche; dazwischen laut ausbrechendes Stöhnen, das schließlich in der ausgebrannten, verwüsteten Klang-Landschaft, nach einem letzten Fanal des „Guernica"-Motivs, in Bläsern und Streichern zu einem leidenschaftlichen, gleichsam herausgepreßten Cluster-Klang erstarrt. „Die Musik", so Schenker, „schreit sich zu Ende, und dann sollte es in den Köpfen der Leute weiter schrein: Was macht er hier mit uns?" 17 Der schockierend offene Ausgang des Stücks ist noch nicht sein Ende. Er bietet Herausforderung zum Nachdenken an, will zur Beunruhigung veranlassen, will Hörer mobilisieren, die sich mit dem „schönen Schein" der Musik hier nicht zufrieden geben. Aber was sich musikalisch „abspielt", ist deswegen keinesfalls das • simple Gegenteil, ein Abbild „häßlicher Wirklichkeit", sondern es versteht sich als ästhetisch geformter, geordneter, spannender Ausdruck von 111
Widerspruchsbewußtsein, das seine Anstöße aus den Widersprüchen der geschichtlichen, der gesellschaftlichen Realität empfängt, sich im künstlerischen Produkt autonom vergegenständlicht und auf das Publikum im Konzertsaal übertragen werden soll. Dafür taugen Schenker, weil er einen historisch konkreten politischen Vorgang als unabgegoltene Aktualität aufschließen will, nicht schlechthin die oft kryptisch verschlüsselten Symbole der modernen Klangsprache. Er öffnet das politisch-musikalische Psychogramm seines Stücks, das eigene, äußerste Betroffenheit einschließt, der objektivierenden, dokumentierenden, aufklärenden Klang-Metapher. Er integriert mit desillusionierender Absicht das konkret bezeichnende musikalische Dokument, das, weil allen bekannt, Gedanken repräsentiert, die alle verstehen und jedermann angehen müßten. Deshalb gehört das Stück trotz seiner unversöhnlichen komplexen Stilistik und provokanten Härte des Tons eindeutig zur Kategorie politisch intendierter Musik, wie sie der Komponist beispielsweise auch mit der Sinfonie „In Memoriam Martin Luther King", dem „Epitaph für Neruda", der „Missa nigra" oder der „Michelangelo-Sinfonie" geliefert hat. Mag es in Schenkers Schaffen im Rahmen der großen Konzertgenres den bisher radikalsten Versuch darstellen, so steht er gleichwohl in einer Tradition des musikalischen Fortschritts-Denkens, dessen Avanciertheit in der Verbindimg modernster Klangmittel mit gesellschaftlich bewegenden Themen besteht. Das ist produktive Aneignung einer Tradition, die unter anderem Charles Ives und Arnold Schönberg, Kurt Weill und Hanns Eisler, Luigi Nono und Hans Werner Henze und insbesondere für Schenker befruchtend - Paul Dessau gestiftet haben. Solchen Komponisten war und ist die unbequeme Einsicht in die realen Zusammenhänge der Welt als Grund des Musizierens immer wichtiger als die Produktion von Fest- und Feier-Vergnügungen. Das kritische Nachdenken und das Aufklären über die niemals nur sieghaften „Zeichen der Zeit" gehört mit zu den Aufgaben neuer Musik. Mit seinem „Fanal Spanien 1936" hat sie Schenker gewiß wahrgenommen. Maßstäbe künstlerischer Wirkung Autonome oder engagierte Kunst? Die analytische Skizze über Schenkers Orchesterstück hat neben den zahlreichen Einblicken in die Werkstatt künstlerischer Aneignungs-Vörgänge vielleicht auch deutlich gemacht, daß die 112
wichtigsten Überlegungen einer bestimmten Wirkungs-Absicht galten. Zwar bleiben langfristige Resonanzen abzuwarten und deshalb Fragen nach der Qualität des Gebrauchswerts ausgeklammert, aber zweifellos wird man sagen dürfen, daß in dem Werk ein herausfordernder Anspruch auf gesellschaftliche Verbindlichkeit Gestalt angenommen hat. Angeboten ist damit ein konkreter Lösungsvorschlag für ein generelles Problem, das tief in der Sozialgeschichte der Künste verwurzelt ist, das sich auf dem Gebiet der Musik unter antagonistischen Klassenverhältnissen als besonders scharfer Gegensatz produktiver wie rezeptiver Aneignungs-Traditionen etabliert hat und das auch im Verlauf det sozialistischen Kulturrevolution seine Brisanz kaum zu verlieren scheint. Denn hier vollzieht sich die Entwicklung der Künste nach wie vor in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzepten des gesellschaftlichen Funktionierens, die unter bürgerlichen Verhältnissen reiften und sich polarisierten, die nun teils auf neue, teils auf alte Weise „angeeignet" werden mit dem Ziel, sie umzufunktionieren, den veränderten Bedürfnissen anzupassen oder Bedürfnisse für ihre neuartigen, produktiven Synthesen zu wecken.18 Ein solcherart überkommener konzeptiver Antagonismus existiert um es stark zugespitzt zu sagen - zwischen „autonomer" und „angewandter" Kunst. Die Vertreter der einen Richtung reklamieren für sich Vorstellungen von Zweck-Emanzipation, elitären Gehalten, technischer Exklusivität, des notwendigerweise permanenten formalen Experiments, der „immanenten" Traditionskritik und der „extrovertierten" Gesellschaftskritik. Die andere Richtung pocht auf eine unbedingt zweckorientierte, dienstbare, unmittelbar nützliche Kunst, die auf die ästhetischen Alltagsbedürfnisse von Massen eingeht, also auch möglichst einfache und faßliche Inhalte transportiert, und zwar in vertrauten Struktur-Mustern, dabei Traditionen kopierend und die Gesellschaft harmonisierend. Der Streit um die sozial-funktionale Priorität der einen oder anderen Seite reicht in der Geschichte weit zurück; er klingt schon in der klassischen Debatte zwischen Schiller und Bürger an und datiert spätestens seit den Literaturkämpfen in Frankreich nach der Revolution von 1830, als die Auseinandersetzungen zwischen Verfechtern einer „Art utile" und einer „Art pur" öffentlich ausgetragen wurden.19 Verfochten jene den historisch notwendigen Eintritt revolutionärer Inhalte in die Kunst, so plädierten diese für eine nicht minder dringliche Revolutionierung der künstlerischen Gestaltungsweisen und 8
Feist
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Ausdrucksmittel. Trotz neuer, völlig andersartiger Konditionen und einer Theorie des sozialistischen Realismus, die mit solchen Widersprüchen dialektisch und historisierend zu verfahren weiß, leben in der Praxis derartig geschiedene Aneignungsweisen fort und gibt es zu wenige erstrangige Leistungen, die produktive Synthesen zwischen beiden Lagern, den beiderseits unentbehrlichen Forderungen herstellen. Wie die Erfahrung zeigt, macht es auf lange Sicht keinen Sinn, sich gegenseitig die Vernachlässigung bzw. Favorisierung der formalen oder der inhaltlichen, der funktionalen oder autonomen Aspekte vorzuwerfen. Schon - und gerade! - Heinrich Heine vertrat gegen Tendenzen einer pseudorealistischen, allzu „einfachen" Tendenzkunst einen anscheinend formalistischen Standpunkt, wenn er der Kunst die Berechtigung verweigerte, zum bloßen Transportmittel selbst richtiger und nützlicher Ideen herabzusinken. Sie solle eben weder ein „tugendhafter Karrengaul des Bürgertums, noch ein Schlachtpferd der Parteiwut, das pathetisch stampft und wiehert"20 sein. Denn die „wahrhaft großen Dichter haben immer die großen Interessen ihrer Zeit anders aufgefaßt als in gereimten Zeitungsartikeln".21 Dies zu betonen, ist auch mit Blick auf die Gegenwart angebracht, insbesondere auf das Musikgeschehen in der DDR, denn hier prägen sich Gegensätze nicht nur als Branchentrennung zwischen „ernster" und „leichter" oder „unterhaltender" Musik aus, sondern ebenso Gegensätze zwischen „alter" und „neuer", „avantgardistischer" und „realistischer", politisch engagierter und politisch desinteressierter Musik. Eislers und Dessaus Vorstellungen über das allmähliche Verschmelzen all dieser Sphären im Rahmen massenhafter intersozialer Aneignungsakte22 haben im einzelnen zwar sehr anregend gewirkt und manche neuartigen Perspektiven geöffnet, aber durchschlagende Veränderungen in dieser Richtung sind kaum zu verzeichnen. Die Gründe liegen eigentlich weniger auf Seiten der Komponisten. Nicht, daß sie es beispielsweise verachteten, aus den Versatzstücken bürgerlicher autonomer Konzertmusik leicht verwendbare, konkret in neuartigen Gebrauchszusammenhängen „angewandte" Musik zu schmieden. Die Schwierigkeiten der Vermittlung liegen bei den selber noch gar nicht wirklich „umfunktionierten" Institutionen und bei den ihnen entsprechenden Rezeptionsgewohnheiten. Dennoch hat sich in Eislers und Dessaus Sinne etwas durchaus Produktives ereignet: Gerade im gegenständlichen Reichtum der neuen Formen, Klangbilder, Gattungen und Kompositionskonzepte sind partiell alte Gegen114
sätze von „autonomer" und „angewandter" Musik im Zeichen sozialer Engagiertheit gemildert worden, und zwar aufgrund eines schöpferischen Aneignungsverhaltens, das unter sozialistischen Bedingungen eben generell Funktions-Fragen dominieren läßt und beim Produzieren das Problem der rezeptiven Aufgeschlossenheit, der Mitteilbarkeit nicht aus dem Auge verliert (schon eher manchmal noch aus dem Ohr). „Angewandte" und „autonome" Aspekte erscheinen so in beinahe allen Gattungen der Musik dialektisch aufeinander bezogen: „Angewandte" Genres wie Film- oder Bühnenmusiken, Hörspieloder Ausstellungsmusiken verzichten nicht auf artifiziell verfeinerte Ausdrucksmittel, während in den Konzert-Genres zunehmend denotativ begreifbare, unter anderem dokumentarische Materialien, verdeutlichende Bezüge auf Artefakte der Tradition, zu Elementen anderer Künste, zu visuellen, sprachlichen, literarischen, theatralischen, choreographischen Formen gleichsam mit-komponiert werden. Da entsteht bei durchaus komplizierten Fakturen etwas Einfaches und Faßliches, da gibt es eine neue Gewalt der sinnlichen Betroffenheit, da gibt es auch handfeste klangliche Provokation durch geschärfte (musikalische) Gestik und (ideell konkretisierte) Programmatik. Denn auch im Unbequemen und manchmal Unbehaglichen einer Musik kann Zuwendung zum Publikum stecken, nämlich ein rückhaltloser Mitteilungsdrang, ein unbedingter Wahrheitsanspruch und ein Wille, per Klang die Welt neu und im verändernden Sinn „problematisch" zu erfahren. Diese „realistische" Komponente der neuen Musik hätte sich ohne differenzierten Bezug auf das avancierte Musikdenken außerhalb unseres Landes schwerlich durchsetzen können. Denn, um mit Eisler zu reden, es genügt nicht, die Wahrheit zu besitzen, sondern es ist für den Künstler zugleich nötig, ihr „den zeitgemäßesten, präzisesten, farbigsten Ausdruck zu verleihen".23 Aber sind nicht die professionellen Erfinder neuer Mittel, die sogenannten Materiell-Revolutionäre - anscheinend abseits der großen gesellschaftlichen Umwälzungen tätig oft genug und sehr ausgiebig gerade deswegen von seiten der politischen Avantgarden als vorwiegend destruktive Kräfte, als TraditionsZerstörer oder wenigstens weltfremde Spezialisten und Sektierer gewertet worden? Inzwischen sehen wir genauer, haben wir zu unterscheiden gelernt, lehrt uns Dialektik ein aufgeklärtes Verständnis auch wenn die „Aneignungen" und kritischen Auseinandersetzungen noch nicht immer bis zum jüngsten Tag reichen. Denn in Wahrheit ist das, was etwa als „Neue Musik" seit Jahrhundertbeginn von genialen 8"
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Komponisten produziert wurde, auch ein Werk des Um- und Neuaufbaus musikalischer Denkmethoden unter den Vorzeichen kraß entfremdeter gesellschaftlicher Verhältnisse, die die Homogenität auch der Musikkulturen vollends zerstörten und die Idee einer dekorativ schmückenden, in Schönheit versöhnenden, „verbrüdernden" Klangkulisse für sensible Künstler zur Lüge werden ließen. Solche gesellschaftlichen Entfremdungsbeziehungen wahrheitsgemäß zu empfinden und den kompositorischen Gestalten einzuschreiben, war eine historisch notwendige Aufgabe entwickelter, das heißt auch: reflektierender Kunst und zugleich das Äußerste dessen, was von den linksbürgerlichen, kritisch-realistischen Positionen der meisten großen Komponisten aus zu leisten war. Wenn diese „Avantgardisten", in ihrer exklusiven Einengung und oft freiwilligen Reduzierung auf Fragen der „immanenten" Materialentwicklung, der bloß stilistischen oder gar grammatikalischen Innovation, sich sozialer Einbindung im Sinne bürgerlich-hedonistischer Effizienz entzogen, stellten sie doch andererseits auch ein produktionstechnisches und expressives Potential bereit, das oft genug ursprünglich über das bürgerliche Ökonomie- und Harmoniegebot hinauswies und subjektiv von subversiven Intentionen, der MarktVerweigerung, einem radikalen Willen zur Veränderung „eingebürgerter" Konventionen des Musikgebrauchs geprägt ist. Vor allem bei ihnen lebt trotz divergierender ästhetischer Standorte und künstlerischer Interessen ein kreativer Traditionsbegriff, ein emphatischer, kritisch-engagierter Gegenwartsbezug, manifestiert sich Fortschrittsgesinnung - und dies ungeachtet vieler subjektivistischer Verzerrungen und mystifizierender Selbsttäuschungen. Über den Preis solcherart resistenter Kunst - die bis zum Affront treibende Dissonanz zwischen Produzenten und Konsumenten - bestand allzuoft schmerzliche Klarheit, gepaart jedoch bei den Besten mit der Illusion, eine „avancierende" Gesellschaft könne sie auflösen. Aber die neue Gesellschaft bedurfte selber erst einer langen Zeit inneren Wachstums und Reifens, ehe sie die Vorleistungen der künstlerischen Avantgarden richtig einzuschätzen, als Möglichkeit für Bündnisse wahrzunehmen und als Bereich produktiver Aneignungen auszuwerten vermochte. Eine solche Schwierigkeit, in dieser konzeptiven Hinsicht produktiv zu erben, ergab sich musikgeschichtlich für die DDR besonders im Verhältnis zur sogenannten Wiener Schule. Ursprünglich schien es, als seien sozialistisch-realistische Kunstprogrammatik und das bürger116
lich-esoterische Kunstkonzept jener Komponistengruppe unvereinbar. Aber in dem Maße, wie durch gleichsam praktische, kompositorische Zwänge einsichtig wurde, daß fortschrittliche Gesinnungen ohne Aneignung fortgeschrittenster kompositorischer Techniken plausibel nicht gestaltet werden konnten und daß in den technisch avancierten Gebilden jener „Esoteriker" ein keineswegs privatisierender, sondern welthaltiger Wahrheitsanspruch kritisch registriert und realisiert worden war, wuchs auch die theoretische Einsicht, daß da ein offenes Angebot an produktiven Vorleistungen vorlag, an das sehr wohl mit Nutzen für realistische, sozialistische Musiziergesinnungen angeknüpft werden konnte. Die Musik Schönbergs, Weberns und Bergs - für die hier der eingebürgerte Begriff der Wiener Schule figuriert - erweist sich im Rückblick auf unser Jahrhundert als kompositionsgeschichtliches Ereignis ersten Ranges. Gleichermaßen müssen heute Adepten und Kontrahenten eingestehen, daß das Wirken dieser Musiker weltweit eingreifende Wirkungen gezeitigt, daß es ganze Klanglandschaften neu geschaffen und vollkommen neuartige akustische Perspektiven eröffnet hat. Natürlich prägen sich solche Folgen in mannigfaltiger Gestalt aus, mehr oder weniger produktiv, in unterschiedlichsten Quantitäten und Qualitäten, voller Besonderheiten je nach Ort oder Zeit, entsprechend den konkreten objektiven Gegebenheiten oder subjektiven Mentalitäten. Fragt man nun beispielsweise nach der kompositorischen Rezeption der Wiener Schule in der DDR, so wäre es ebenso leicht wie dringend nötig, die Resultate dieser AneignungsVorgänge auf der individuellen Ebene zu entfalten und im Rahmen personaler Schaffenskonzepte nachzuweisen. Dabei würde sich jedoch recht schnell zeigen, wenn auch schwerer begründen lassen, daß hinter den aspektreichen Haltungen gewisse verbindliche Strategien und gemeinsame Reaktionsweisen zutage treten, die offenkundig über den Bereich autonomer kompositorischer Entscheidungen hinausreichen und anscheinend mit komplexeren Problemen zusammenhängen könnten. So gehört zu den bemerkenswert „problematischen" Konstanten in der Entwicklung neuer Musik in der DDR ein Widerspruch zwischen allgemein-theoretischer und künstlerisch-praktischer Bestimmung ihrer geschichtlichen Quellen und fortwirkenden Traditionen. Inmitten wechselnder Formen und Inhalte dieses mehr oder weniger produktiven Dauerkonflikts bildete das von den engagierten Seiten unterschiedlich bewertete, von Zeit zu Zeit neu belichtete Verhältnis 117
zur Wiener Schule den eigentlich explosiven Kernstoff. Denn während die überwiegende Mehrzahl der Komponisten stets geneigt war, das Musikdenken Schönbergs, Weberns und Bergs als Ansatzpunkt ihres Metier-Bewußtseins wenigstens zu prüfen, erklärten viele einflußreiche Theoretiker anfänglich jenes Denken zur Wurzel aller spätbürgerlichen Dekadenz, die es zu bekämpfen, von der es sich strikt abzugrenzen galt. Vor allem in den frühen Phasen unserer Geschichte entwarf das öffentliche Nachdenken über vermeintliche lebenswichtige Traditionen ein gereinigtes Wunschbild. Was seine Flächen decken sollte, ist rasch aufgezählt: vor allem der Kanon der klassischen Meisterwerke, dann die Vorgaben der plebejischen und proletarischen Kultur als Pendant, schließlich, da beides zusammenfassend, die ganze sowjetische Musik, soweit sie bekannt werden konnte. Daneben oder wohl besser „dagegen" figurierten weitaus konkreter, greller gezeichnete Karikaturen jener vermeintlich formalistischen Musik, die im wesentlichen mit den Produktionen (oder Provokationen) der verschiedenen Avantgarden gleichgesetzt wurde. Freilich ließen sich solche starren Antithesen und namentlich die Ausgrenzung beinahe der gesamten neuen Musik aus dem klanglichen Haushalt der neuen Gesellschaft nicht auf die Dauer aufrechterhalten. Zum allmählichen theoretischen Realismus - einem für die Geschichte der DDR-Musik im übrigen höchst prägnanten und spannenden Rückzugsgefecht aus idealistischen Gefilden - zwangen, neben vielen anderen Faktoren, vor allem die kompositorischen Resultate, in denen sich zunächst verdeckt und bisweilen geradezu listig, allmählich aber zunehmend unverhüllter und offensiver die teils kritische, teils freilich auch undistanzierte Aneignung avancierter Techniken und Sprachmuster vollzog. Daß also, wie selbst Eisler meinte, im Fortgang der musikalischen Umwälzungen in der DDR vor allem die Schönberg-Schule geschlossen werden könne und die neuen Jahrgänge durchfallen müßten,24 erwies sich am Ende (oder jedenfalls bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt) nicht nur als fundamentaler, sondern auch als hemmender Irrtum. Denn die aktive Auseinandersetzung gerade der kreativen Komponisten in mehreren Generationen (Eisler eingeschlossen!) mit den Entdeckungen gerade dieser „Schule" wurde immer wieder zu einem Lern-Stoff, einem Leit-Motiv und Reife-Zeugnis für ihr schöpferisches Selbstverständnis und damit zum Fundament für musikhistorische Bezugspunkte von außerordentlicher Festigkeit und Stetigkeit. Anstelle einer allzugern unterstellten „Modetorheit" entpuppte 118
sich der so langwierige Rekurs auf das Wiener Traditionsfeld als entscheidendes Problem und als produktive Lösung für das schrittweise, unnormiert-unumgängliche Neuwerden unserer Musik. Geschlossene oder offene Aneignung? Wer Kunst macht oder über sie nachdenkt, darf nicht glauben, daß die entscheidenden Fragen ihrer Existenz sich nur auf die Produktion von künstlerischen Objekten beziehen. Ebenso wäre es eine arge Illusion, anzunehmen, im wirklichen Kunstprozeß konzentriere sich alles Interesse rezeptiver Aneignung auf das Kunstwerk, auf die Erkenntnis eines angeblich darin geronnenen Gehalts oder einer damit verbundenen, strukturierten Form. Das Leben und Nachleben, die Fähigkeit zur aktiven Regeneration von Kunstwerken ergibt sich schließlich aus der doppelten Tatsache, daß die Kunstgebilde weder eine wirklich abgeschlossene Struktur noch einen absolut eindeutigen, eindimensional erschließbaren Gehalt aufweisen und daß sie auf Grund ihrer solchermaßen „offenen" Gestalt ein handhabbares Angebot darstellen, das der mit-, aus- und umgestaltenden Tätigkeit, der interpretierenden und sinnerfüllenden Aneignung von Seiten der Adressaten bedarf. Im dabei gegebenen Spiel-Raum der Möglichkeiten, der weiter ist, als bequeme Rezipienten wahrnehmen, aber auch nicht beliebig, wie psychologistische Rezeptionsästhetiker bisweilen fordern mögen, bringen die Subjekte des künstlerischen Rezeptionsprozesses notwendigerweise ihre eigene Subjektivität, ihre Lebenserfahrung und Weltsicht, ihre individuellen Ansprüche an Kunst spielerisch zur Geltung - und dies ist eine entscheidende Quelle des Genusses und der Vergnügungen im Umgang mit der Kunst. Welche Aspekte vielseitiger Aneignungsmöglichkeiten (und praktischer wie theoretischer Probleme) sich dabei ergeben, kann wiederum am Beispiel der Musik besonders sinnfällig gezeigt werden. Abgesehen von dem recht undialektischen Streit, ob Musik sich als fixierter Notentext, als interpretierter Vorgang oder erst im Ohr des Hörers vollende, begegnet sie uns fast ausschließlich als Phänomen mit erstaunlich vielen variablen, offenen und mehrdeutigen Komponenten. In schriftlosen Kulturen, bei mündlicher Tradierung von Musik, gelten auf der Basis von kollektiv verinnerlichten Modellen (der Tonsysteme, des Melodievorrats, der Affektbereiche und Funktionsweisen) das Verändern, das Variieren und Verzieren, das Tropieren und virtuose 119
Extemporieren als Selbstverständlichkeit, und man darf mit Sicherheit annehmen, daß in der Differenz von überliefertem Modell und individualisierter Aneignung bereits in archaischen Zeiten Freiräume subjektiven Ausdrucks und schöpferischer Lust genutzt wurden. Dies ist im Falle notierter, schriftlich tradierter Musik nicht anders (wenn auch die Akzente anders gesetzt erscheinen), denn jede Partitur ist eine Handlungsanweisung für Musiker, die der Komplettierung bedarf, weil keine Partitur alle zur Realisierung von Musik nötigen Angaben enthält - mit der modernen Ausnahme der elektronischen Musik, die ein Resultat ohne Partitur und ohne Bedarf an Interpreten liefert. Bekanntlich wurde ältere Musik - je älter, desto mehr - nur in ihren wichtigsten, gestaltprägenden Parametern fixiert (Melodieverläufe, Rhythmik und Metrik, Harmonik und Kontrapunktik), die zwar die Identität einer Komposition und die Individualität einer formbestimmten Struktur garantierte, aber zugleich eine Fülle von sekundären Merkmalen offenließ (Tempo, Klangfarbe, Agogik) und die Pflicht zur Improvisation wie die Möglichkeiten permanenter Variantenbildung einschloß. Bekanntlich trieb die Entwicklung zu immer detaillierteren kompositorischen Vorentscheidungen und zur möglichst totalen Festlegung aller musikalischen Parameter, so daß es scheint, als sei dem ausübenden Musiker eigene, kreative Beteiligung verwehrt und er figuriere als willenloses Hilfsorgan kompositorischer Despotie. Aber so scheint es nur, während in Wirklichkeit das schöpferische Potentiäl der Musiker, die Musik gleichsam wirklich werden lassen, keineswegs eingeschränkt ist oder wenigstens doch Alternativen findet, um es gebührend zur Geltung zu bringen. Nehmen wir als Beispiel Wagners Oper „Tristan und Isolde" und nehmen wir an, in einem Konzert mit dem Dirigenten A spielt der Cellist B das sinfonische Vorspiel. In diesem Fall bieten sich dem Orchestermitglied kaum Möglichkeiten zur Improvisation oder zu anderen Arten individueller Selbstdarstellung, und doch löst er seine Aufgabe, die von Wagner vorgeschriebene Stimme zu realisieren, nicht ohne „aneignenden" Impuls. Zunächst muß er den Anforderungen technisch entsprechen und sich vielleicht dadurch qualifizieren; dann muß er den Sinn seines Parts, den mehr oder weniger motivierten Anteil am Ganzen und die wechselnde Relevanz der Stimme kennen; schließlich wird er Stilgefühl entwickeln müssen, um dem Willen des Komponisten einerseits, noch mehr aber dem Willen des lenkenden Dirigenten gerecht zu werden. Die individuelle Disposition der Musiker 120
und die Qualität ihres Zusammenspiels bewirkt, daß keine Aufführung einer anderen gleicht, und sei es zunächst nur dadurch, daß ihr Niveau von der Note „unerträglich" bis „exzellent" schwanken kann. Ungleich stärker allerdings bestimmt in dem Falle des „Tristan"Vorspiels - einer inzwischen höchst bekannten und vielgespielten Musik - der Dirigent mit seinen kreativen Fähigkeiten das Klangbild der Aufführung. Für ihn gibt es - bei absolut korrekter Beachtimg des Notentextes und seiner zusätzlichen Ausführungsbestimmung von seiten Wagners - eine Fülle von auslegbaren Möglichkeiten und Notwendigkeiten, die zu einer wirklich mitschöpferischen Aktivität führen. Er hat Entscheidungen über Tempi und Tempomodifikationen, über dynamische Spannungen, über den Grad der Expressivität, die Disposition und Nuancierung des Zusammenspiels der Instrumente und vieles andere mehr zu fällen, und er bestimmt dadurch einen bestimmten Aufführungsstil, der seinerseits natürlich von vielen Faktoren abhängt. Dazu gehören ebenso individuelles Können und momentane Gestimmtheit wie raumakustische Bedingungen und allgemein wirksame, aber in der Zeit wechselnde Konventionen (oder Moden) des Aufführungsstils. Es ist die gerade daraus entspringende, lebendige Vielfalt, in der ein Kunstwerk präsentiert wird, die das Interesse der Zuhörer fesselt; es ist die „Auffassung" des Dirigenten A vom „Tristan" und die Differenz zum Dirigenten C, die man genießt, beurteilt und als Erlebnis festhält. Besonders im Falle berühmter Musik will man nicht das gleiche Werk „an sich", als strukturiertes Unikat hören, sondern ein Werk in der Verschiedenheit seiner klanglichen Existenz, in der Auslegung durch die subjektive Aneignung, durch einen Interpreten, der eben jeweils „seinen" Wagner anbietet. Wie stark die reproduktiven Impulse das Musikleben beherrschen und die Kenntnis der Kunstwerke bestimmen, beweist nichts schlagender als die Allmacht von Interpreten, die ihre Namen auf Konzertplakaten oder auf Plattenhüllen meist ungleich auffälliger drucken lassen als die der Autoren. Nicht Wagners „Tristan" wird so zum entscheidenden Ereignis, sondern die „Tristans" von Furtwängler, Karajan, Boulez, Syolty usw. fesseln das Ohr. An dieser interpretativen Vielfalt der Musik, ohne die sie nicht existieren könnte (es sei denn in einem durchelektronisierten Utopia), läßt sich ermessen, welch konstitutive Bedeutung die offenen Momente von künstlerischen Werk-Strukturen haben. Das Problem, daß sich gleichsam vor den Hörern die Interpreten eine Kunstgestalt zu 121
eigen machen müssen (obwohl es ein selbstloser Dienst sein sollte), hat gerade in den letzten Jahrzehnten zu einem aufführungspraktischen Dauerstreit geführt, der um die polaren Kategorien von „Authentizität" und „Verfälschung" kreist. Besonders betroffen sind dabei Bereiche der älteren Musik, deren Klanggestalt regelrecht rekonstruiert werden muß, obwohl klangliche Eindeutigkeit den historischen Sachverhalt an sich verfehlt, so daß trotz wissenschaftlicher Ansprüche interpretatorische Verschiedenheit auch heute vorherrscht. Aber auch Bemühungen gegenüber klassischer und romantischer Musik, sie von sozusagen falschen, entweder ideologisch eingefärbten oder schlichtweg gedankenlos-schlampigen Aufführungskonventionen zu reinigen, stellen - trotz unleugbarer Verdienste - ein durchaus fragwürdiges Unterfangen dar, weil sich eine Aura des Authentischen nicht wirklich wieder herstellen läßt (zumindest fehlen die alte Luft und die alten Perücken fürs Publikum). Für all die damit verbundenen „problematischen" Aspekte gibt es bislang keine entwickelte, wissenschaftliche Theorie der Interpretation, die beispielsweise stichhaltige Kriterien für „falsch" oder „richtig" zu erarbeiten hätte, wenn sie denn überhaupt für die mannigfaltigen Aspekte interpretatorischer Angemessenheit, Wirksamkeit und Vernunft stichhaltig sein können. Eine solche Theorie hätte dann freilich auch zu befinden über einen noch ganz anderen, in der Tat bedeutsamen Vorgang, der für Musik außerordentlich charakteristisch ist: die Aneignung stabiler Werkstrukturen durch Transkription, wobei sich Kunstwerke in mehrfache Existenzweisen aufspalten. Unser Cellist beispielsweise kann sich privat das „Tristan-Vorspiel" durchaus für sein Instrument, eventuell mit Klavierbegleitung zurechtlegen, und er kann es in jeder beliebigen instrumentalen Fassung zu Gehör bringen. Auf diesem Felde des Adaptierens und Arrangierens, ja der Klangveränderung bis hin zur Parodie und zur Travestie, bis hin zur schlagermäßigen Banalisierung populärer Piecen, ist praktisch keine Grenze gesetzt, jedermanns Geschmack am Werke und theoretisch kein Kraut gewachsen. Dem „Tristan"-Vörspiel kann man ebenso in Kaffeehausmusik-Besetzung wie als virtuoser Klaviertranskription (etwa durch Franz Liszt), im Synthesizer-Sound oder von einem chinesischen Orchester, mit Volksinstrumenten gespielt, begegnen - so daß es kaum angemessen erscheint, hier Purismus zu fordern und die Elle der ästhetischen Dignität anzulegen - eben weil „praktische" Aneignung mehr zuläßt und vielfältiger „bedürftig" ist, als eine ohnehin hypo122
thetische Alternative zwischen den Vorzügen unehrerbietige Popularität und dem Verlust an „authentischen" Gehalten suggeriert. Diese Vielfalt der Bedürfnisse, denen Musik (und, wie angedeutet, jedes einigermaßen komplexe Musikstück) entspricht, indem sie dahingehend prinzipiell offene, vielfältige, ja sogar unausschöpfbare Angebote macht, differenziert sich unter dem Aspekt individueller Aneignung zu einem riesigen Spektrum kaum klassifizierbarer Möglichkeiten. Wir können dabei zwar sicher sein, daß die Wahrnehmung, die Erkenntnis von Musik und der konkrete Umgang mit ihr von einer Reihe objektiver Voraussetzungen bestimmt und begrenzt wird - durch die soziale Lage, soziale Verhaltensweisen, Bildungschancen, klassen- und gruppenspezifische ästhetische Interessen beispielsweise - , aber wir können kaum stichhaltige Aussagen darüber machen, welche Qualitäten, welche Formen und Inhalte die ganz unumgängliche subjektive Mit-Arbeit beim Rezeptionsvorgang bestimmen, kurz das, was man das eigentliche künstlerische „Erlebnis" nennt. Auch wenn man dabei die Fülle nicht-künstlerischer Faktoren und alle möglichen subjektiven Imponderabilien vernachlässigt und nur jene direkte Beziehung ins Auge faßt, die zwischen dem ästhetischen Objekt und dem rezipierenden Subjekt hergestellt werden sollte, hat man mit einer kaum entwirrbaren Vielfalt und mit mannigfaltigen qualitativen Schichtungen des Bezugsfeldes zu rechnen. Hierbei ist es nun keineswegs so, daß ein Kunstwerk eine bestimmte Summe von strukturellen oder inhaltlichen Elementen anbietet, die es für den Adressaten zu entziffern gilt, und der, je nach Bildung oder Befähigung, sich zum Gegenstand dann mehr oder weniger „adäquat" verhält, wie dies beispielsweise Adorno in seiner bekannten Typologie von Hörern fordert. Vielmehr „enthält" ein Kunstwerk trotz begrenzter Anzahl von Elementen und Verknüpfungen eine Ordnungsstruktur voller konstanter und variabler Determinierungen, die erst der Adressat, als Teilsumme aus Möglichkeiten, „endgültig", und zwar für sich, festlegt. Auf den ersten Blick will es scheinen, daß ein Hörer, der dem „Tristan"-Vorspiel lauscht und vom Klang so überwältigt, so glückvoll gefesselt ist, daß ihm die Worte fehlen und Tränen der Rührung kommen, ohne ergründen zu können, warum das so ist, ästhetisch minder kompetent sei als ein anderer, der sich von nichts überraschen oder überwältigen läßt, dafür aber über die Namen der Motive, die Bedeutungen ihrer Verknüpfung, den symbolischen Sinn des Ganzen und die Intentionen des Komponisten aufs genaueste Bescheid weiß. Auch diese Musik läßt gewissermaßen von sich aus 123
verschiedene Zugangsweisen zu, die ein Erfassen „des großen Ganzen" so sinnvoll und befriedigend macht wie ein Verfolgen feiner motivischer Details, die ein Sich-tragen-, -wiegen-, -berauschen-lassen von den narkotischen Reizen des höchst differenzierten Kolorits ebenso erlaubt wie ein aufmerksames Verfolgen und spannungsvolles Vorausdenken der thematischen, rhythmischen und kontrapunktischen Konfiguration. Besonders in der Musik gibt es ein kluges Wissen des Gefühls und eine Dummheit des analysierenden Verstandes, der den rationalen „Kern" von Musik als das Wichtigste an ihr erkennen zu müssen glaubt, während er die entscheidenden Sinngebungen und wesentlichen Wirkungen total verfehlt. Die Vorstellung, daß die Begegnung mit Kunst ein Ort des in vieler guter Hinsicht freien und zwanglosen Verkehrs sei und daß hier aufklärender Dirigismus oft unwillkommen ist, stellt die analysierende und interpretierende Kunstwissenschaft vor nicht geringe Probleme. Gerade in bezug auf Musik verkörpert sie das gleichsam andere Extrem zum dumpfen, unkonzentrierten, ziellos schweifenden Lauschen oder zu jenen halb unbewußten Berieselungseffekten, die jedem Musikkenner ein Greuel werden. Wenn dort als Resultat von Wahrnehmungen in der Regel nicht mehr artikuliert werden kann, als „gut" oder „schlecht", „schön" oder „häßlich", „lustig" oder „traurig", so setzt dem wissenschaftliche Betrachtung meist ein rationalistisches, detaillistisches und formalistisches Bildungs-Gut entgegen, das Musik zwar beschreiben, vergleichen und deuten kann (und zwar in den Aspekten, die der sprachlichen Beschreibung am ehesten zugänglich sind), aber kaum je zur Erklärung ihrer real vielfältigen Wirkungen und wirklichen Bedeutungen vordringt. Analysen geben „Lesarten", aber sie verschweigen in der Regel, daß es auch andere, nicht weniger plausible gibt und daß, wer sie nicht akzeptiert, keineswegs mit ästhetischer Blindheit geschlagen sein muß. Freilich liegen die Aufgaben bei unterschiedlicher Musik verschieden, und rationale Aufklärungsarbeit kann gerade im Falle neuer Musik manche Verwirrung beseitigen. Dennoch sollte auch sie zunächst ohne kommentierende, interpretierende Hilfe verständlich sein. Aber noch einmal: Kunst zu verstehen, ist auf vielerlei Weise möglich, und es versteht sich dabei, daß noch das einzelne Kunstwerk einen weiten Spielraum für sein Verständnis zuläßt und erfordert. Jedes Interesse wird sich seinen eigenen Weg zum Kunstwerk bahnen müssen, doch sollte es wissen, daß es nie der einzig mögliche ist und daß andere vielleicht noch interessanter sind. Ein solches selbst124
kritisches Moment ist wahrscheinlich am geeignetsten, die Empfänglichkeit für die vielseitigen Angebote künstlerischer Gegenstände ebenso zu wecken wie für ihre nicht immer auf der Hand liegenden, sofort ins Ohr fallenden Möglichkeiten. Dazu gibt es ein kleines, wahrhaft köstliches Lehrstück von Ludwig van Beethoven. 1798 komponierte er ein Menuett mit Trio, dem er die Überschrift gab: „Lustig und traurig". Der Sinn des Ganzen scheint also vorab geklärt, denn was könnte die Musik besser, als solche Affekte darzustellen oder auszudrücken. Dazu stimmt augenfällig, daß der Hauptteil in Dur, das Trio in Moll steht. Geht man aber ans Spielen der Musik, dann stellt man Unstimmigkeiten zwischen Ausdrucksvorschrift und Strukturgehalt fest: Der Hauptteil enthält alle nötigen Komponenten für einen elegischen, getragenen, ja klagenden Charakter: die kantable Melodie, das geforderte Legatospiel, den choralischen Akkordsatz. Das Trio hingegen nötigt von der Struktur her zu einem tokkatischen, kapriziösen Gestus. Unter Voraussetzung der nötigen Einheitlichkeit des Tempos für beide Teile ergeben sich immer mehr Widersprüche: Will man für den Hauptsatz einen „lustigen" Eindruck erzwingen, muß man ungebührlich das Tempo anziehen und das „traurige" Trio wird zur euphorischen Gallopade. Verlangsamt man hingegen das Trio derart, daß es der Ausdrucksvorschrift „traurig" entspricht, dann gerät der Hauptsatz zum mühselig sich dahinschleppenden Grabgesang. Man kann entweder den strukturellen Gegebenheiten folgen, dann erweisen sich Beethovens Charakterisierungen als Unsinn, oder man kann die verbale Forderung realisieren, dann verzerrt man die komponierte Struktur bis zur Unkenntlichkeit. Eine Übereinstimmung beider Komponenten erweist sich als Aporie, und das zu erkennen, war gewiß Beethovens didaktische Absicht: Der entscheidende Sinn dieser Musik, seiner Musik (aller Musik?) ist nicht, lustig oder traurig zu sein oder zu wirken oder zu stimmen. Das wäre von ihr zu wenig verlangt und auf sie zu kurz geschlossen. Sie ist offen für mancherlei Sinn, und wie und wo immer man ihn entdeckt: in der Struktur, durch die sinnliche Gestalt oder hinter ihren Prägungen: er muß gesucht und er sollte geprüft werden - entsprechend der vorgegebenen Sache und dem nachdenklichen Engagement, das man ihr zuteilt.
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KAPITEL III
Aneignung in der Kommunikation Zur Problemstellung
Im ersten Kapitel haben wir auf die Bilanz der Entwicklung der Literaturwissenschaft der DDR in den siebziger Jahren hingewiesen.' Die Autoren dieser Bestandsaufnahme, Dieter Küche und Wolfgang Thierse, hatten drei Forschungsrichtungen unterschieden: - die Orientierung auf das Werk als bedeutungsvolle einzelne Hervorbringung; - die Orientierung auf künstlerische Aneignungsleistungen und die im Kunstwerk arbeitende Subjektivität; - die kommunikativ-funktionale Orientierung, in der Kunst als Verkehr zwischen Menschen aufgefaßt wird. Wir sahen in der tendenziellen Divergenz dieser Forschungsrichtungen den Ansatz zu künstlerischen Alternativen, in deren Gefolge Einseitigkeiten einander wechselseitig bedingen könnten. Die aneignungstheoretische Betrachtungsweise verlangt demgegenüber, der Komplexität des Kunstprozesses als eines spezifischen gesellschaftlichen Verkehrsprozesses mit einer Vielfalt von Lebenstätigkeiten, von Zwecken, von Austauschweisen gerecht zu werden. Im vorangegangenen Kapitel lag der Hauptakzent auf dem Nachweis, daß es aufgrund der Wesenseinheit von Aneignung und Gestaltung mit dem Aneignungskonzept unvereinbar wäre, das Kunstwerk in etwas lediglich Transitorisches aufzulösen, in eine Funktion ohne Funktionsträger, ohne spezifisch geformte Gegenständlichkeit. Als Mittel und Mittelpunktobjekte kommunikativer Beziehungen vermögen Kunstwerke - soweit sie es jeweils vermögen - ihre Rezipienten in besonderer Weise herauszufordern, anzuregen, auch zu erfreuen, mitunter sogar zu begeistern, wie auch immer in Spannung und in eine gesteigerte, jeweils unterschiedlich akzentuierte sensorische, emotionelle und intellektuelle Aktivität zu versetzen. Diese Aktivierungspotenz von Kunstwerken ist nicht allein aus einer jeweils konkret bestimmten Zweckfunktion, sondern aus einer über127
greifenden Sinnfunktion zu erklären. Als Aneignungsmittel, die zu einer reicheren, intensiveren Lebensaneignung beitragen können, werden Kunstwerke nur wirksam, wenn sie zugleich als Aneignungsziele die Aufmerksamkeit ihrer Rezipienten erregen. Darum gehören die Positionen Aneignungsmittel und Aneignungsziel zusammen. Die Unterscheidung zwischen aneignungsorientierter und kommunikativ-funktional orientierter Forschung ist bereits in Dieter Schlenstedts „Wirkungsästhetischen Analysen" angelegt: „Es wurde bereits angemerkt, daß die literarische Tätigkeit stets in einem zweifachen Beziehungszusammenhang steht. Sie ist auf der einen Seite eine der Weisen, in denen sich die Menschen Wirklichkeit aneignen, indem sie sie gestaltbildend aufhellen, von ihren Interessen her beleuchten und die Resultate dieser Aktivität mitteilbar machen. So läßt sich Literatur als eine Sphäre ideeller Produktion ansehen, die einen bestimmten Gegenstandsbereich der Wirklichkeit mit bestimmten Verfahren und Formen unter bestimmten Zielen verfügbar macht. Sie gewinnt diesen Aspekt ihrer Funktion - ihre Aneignungsspezifik - im System der Aneignungsweisen insgesamt. Und sie ist auf der anderen Seite eine der Weisen des gesellschaftlichen Verkehrs, in dem Menschen untereinander bestimmte Beziehungen eingehen, miteinander kooperieren oder ihre Kämpfe austragen, ihre Verhältnisse bilden. Sie stellt sich dar als Sphäre der ideellen Kommunikation, in der über Produkte sui generis eine besondere Einwirkung der Menschen aufeinander stattfindet und über die auch das soziale Verhalten beeinflußt wird. Die literarische Tätigkeit gewinnt diesen Aspekt ihrer Funktion - ihre Kommunikationsspezifik - im System der Verkehrsweisen, der Organisation des sozialen Verhaltens und ihrer Institutionen."2 Schlenstedt sieht hier zwei Seiten einer Sache, die unabdingbar zusammenhängen, auch wenn sie arbeitsteilig auseinandertreten und in verschieden gearteten Kunstformen jeweils dominieren können. Aneignungsspezifik und Kommunikationsspezifik der Künste - die philosophische Substanz von Schlenstedts Überlegungen erlaubt ihre kunsttheoretische Verallgemeinerung über die Literatur hinaus - ließen sich zwar nicht unmittelbar aufeinander zurückführen, stünden aber in einem Verhältnis der Wechselwirkung. Und Schlenstedt hebt hervor: „Unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen wird die Aneignungsspezifik der Literatur, ihr ästhetischer Charakter vielmehr in einer Richtung gesucht, die es gerade mit dem Moment von Austausch zu tun hat, das sich in der Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion der Literatur, ihrer Kommunikationsspezifik durchsetzte." 3 128
Schlenstedt zweifelt nicht im geringsten daran, daß das aus Marx' Argumentationsmuster in der Einleitung zu den „Grundrissen" abgeleitete (und von uns aneignungstheoretisch rekonstruierte) Produktionsmodell des Kunstprozesses beide Seiten, die Aneignungsspezifik und die Kommunikationsspezifik von Kunst, erfaßt. Man kann jedoch in Diskussionen solche Zweifel hören. Angesichts der veränderten Produktions- und Rezeptionsbedingungen ästhetischer und künstlerischer Kultur wird immer wieder der Werkcharakter künstlerischer Hervorbringungen in die Diskussion hineingezogen. Entsprechend wird gefragt, ob nicht das Produktionsmodell des Kunstprozesses nur unter bestimmten kulturgeschichtlichen Voraussetzungen Geltung habe, die dadurch gekennzeichnet sind, daß sich alle Resultate künstlerischen Tuns gegenüber der Aktion verselbständigen und die arbeitsteilige Rollenverteilung von Künstler und Rezipient grundsätzlich unangetastet bleibt. An dieser Rollenverteilung ändert der gewohnte Hinweis auf den „letzten finish", den auch das künstlerische Produkt erst in der Konsumtion erfährt, im Kern der Sache nur wenig. So erklären sich Überlegungen, ob es nicht angemessener wäre, den Kunstprozeß in erster Linie als Kommunikationsprozeß zu begreifen und das Produktionsmodell durch ein Kommunikationsmodell zu ergänzen, wenn nicht zu ersetzen. Sollte Kunst nicht vorrangig als eine Form der Kommunikation aufgefaßt werden, die dem Wesen nach keineswegs an verselbständigte „Kunstgegenstände" gebunden ist, sondern lediglich bestimmter Medien bedarf, um Kommunikation in Gang zu bringen? Öffnet sich die Theorie durch solches Fragen in stärkerem Maße den vielfältigen Versuchen, an der erstarrten Rollenverteilung von Künstler und Rezipient zu rütteln? Es könnte so scheinen. Allerdings muß dabei unterstellt werden, Produktion und Kommunikation hätten nichts miteinander zu tun. Marx charakterisiert die bürgerliche Betrachtung der Distribution durch das groteske Bild, daß nach dieser Vorstellung die Distribution gewissermaßen als selbständige, unabhängige Sphäre neben der Produktion hause. Sollen wir uns vorstellen, daß so auch die Kommunikation neben der Produktion haust? Dagegen sprechen zwei Dinge: Erstens ist die Produktion (insbesondere in ihrer kooperativen Grundstruktur) Voraussetzung der Kommunikation in ihrer spezifisch menschlichen Form. In spezieller Hinsicht ist soziale Kommunikation der Produktions- und Distributionsprozeß von Diskursen. Auch Diskurse - als sinngesteuerte Kombination von Zeichensequenzen in der natür9
Feist
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liehen Sprache lSatzsequenzen) oder in einem sinnlich fundierten Zeichensystem (Zeigesequenzen) - sind Produkte, die nur über bestimmte Distributionsweisen in den gesellschaftlichen Verkehr gelangen, und zwar beziehen sich diese Distributionsweisen nicht erst auf die Zugänglichkeit der fertigen Diskurse, sondern auf den durch Arbeitsteilung, Eigentums- und Machtverhältnisse geregelten Anteil an der Hervorbringung von Diskursen: Das ist der zentrale Punkt, den Michel Foucault in seinen Analysen getroffen hat. Hier gilt, was Marx über den Zusammenhang von Produktion und Distribution ausgeführt hat, „daß die bestimmte Art der Teilnahme an der Produktion die besondren Formen der Distribution, die Form, worin an der Distribution teilgenommen wird, bestimmt".4 Das ist der Sinn von Heinz Kuchlings Vorschlag, diejenigen Verhältnisse, in denen die Menschen die Produktion und Distribution der Gedanken ihrer Zeit regeln, als kommunikative Verhältnisse zü begreifen.5 In diesem Sinne sind auch Kunstverhältnisse kommunikative Verhältnisse, die in einer Klassengesellschaft stets ideologische Verhältnisse sind. Die Alternative zwischen Produktions- oder Kommunikationsmodell des Kunstprozesses ist aber noch aus einem zweiten Grund gegenstandslos: Zu allen Zeiten waren in die materielle Produktion auch zeichenbildende und informationsverarbeitende Tätigkeiten eingeschlossen. Materielle Gebrauchsgegenstände sind immer auch Bedeutungsträger; in Gestaltformen und -qualitäten sind jeweils sachliche und personale Gegenstandsbedeutungen gespeichert. Praktischer Gebrauch setzt voraus, daß Gegenstände in ihren Gegenstandsbedeutungen „gelesen" und „verstanden" werden. In unseren Tagen wirkt darüber hinaus ein anderer Vorgang revolutionierend: Die Entwicklung eines universellen Informationsnetzes der Telekommunikation wird zu einer infrastrukturellen Grundtendenz des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses. Harry Nick bezeichnet die Entwicklung der informationsverarbeitenden Technik als Kernprozeß des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, als besonderes Element der Produktivkräfte.6 Aus der immer enger werdenden Verflechtung von Produktion und Kommunikation, die sich aus der zunehmenden Bedeutung informationsproduzierender Arbeit ergibt, müssen auch für den Kunstprozeß ganz andere Folgerungen gezogen werden. Wer glaubt, das Kommunikationsmodell des Kunstprozesses könnte als Alternativvorschlag zum Produktionsmodell entwickelt werden, verkennt die Zeichen der Zeit. Vielmehr kommt es darauf an, beide Modelle zu kombinieren, ohne die jeweils spezifischen Ge130
sichtspunkte preiszugeben. Dem Kunstprozeß wird nur ein kombiniertes Produktions- und Kommunikationsmodell gerecht. Dem würde Dieter Schlenstedt sicherlich zustimmen. Zu fragen bleibt allerdings, ob nicht auch seine Gegenüberstellung von Aneignungsspezifik und Kommunikationsspezifik so weit problematisiert werden müßte, daß sie letztlich gegenstandslos wird. Kann die Kommunikationsspezifik von Kunst wirklich aus ihrer Aneignungsspezifik gewissermaßen herausgenommen werden? Wenn die Aneignungsspezifik in der Wechselwirkung von Aneignungsleistung und Aneignungsfunktion begriffen wird, ist das unmöglich. Der Versuch, von einer Wesenseinheit von Aneignung und Kommunikation auszugehen, muß keineswegs, wie Schlenstedt befürchtet, entweder zu einer ahistorischen Vorstellung vom Wesen der Kunst oder, auf der anderen Seite, zur Auflösung des allgemeinen Kunstbegriffs führen. Freilich, es genügt nicht der Hinweis, daß künstlerische Aneignung ohne Formierung spezifischen kommunikativen Materials nicht möglich ist, daß auch Künstler, in welcher einzigartigen Weise auch immer, in Zeichen (Formzeichen) denken. Niemand wird bestreiten wollen, daß künstlerische Aneignungsleistungen in kommunikativen Strukturen codiert und gespeichert sind. Es läßt sich auch kaum in Abrede stellen, daß künstlerische Aneignung selber nur in einem Geflecht kommunikativer Beziehungen verschiedener Art vonstatten gehen kann. Die Unterscheidung von Aneignungs- und Kommunikationsspezifik scheint in dem Augenblick hinfällig zu werden, in dem wir die Blickrichtung wechseln und die Aneignung von Kunst in die Betrachtung einbeziehen. Aneignung von Kunst ist in dem Fall eine kommunikative Leistung (der Reizinterpretation bzw. der Decodierung von Signalstrukturen). Doch wer wird darüber hinwegsehen wollen? Der Verweis auf die Wechselbeziehungen zwischen künstlerischer Aneignung und Aneignung von Kunst ändert nichts daran, daß es sich hierbei um zwei verschiedene Blickrichtungen handelt, die sich nicht einfach durch einander ersetzen lassen. Entscheidend ist vielmehr, daß die Eigenart künstlerischer Aneignung - als Ausdrucksund Vermittlungsform individueller und gesellschaftlicher Lebensaneignung - ohne Berücksichtigung ihrer kommunikativ-sozialen Funktion, ihrer Kommunikationsspezifik, überhaupt nicht zu erfassen ist. Wir begreifen Aneignungsleistungen der Künste grundsätzlich als potentielle, in der Struktur von Kunstwerken angelegte Aneignungseffekte: dazu gehören aber auch die kommunikativen Anforderungen
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und Impulse, aus denen die Kommunikationsspezifik von Kunst herzuleiten ist. Diese Problemstellung ordnet sich in den allgemeinen aneignungstheoretischen Zusammenhang ein. Es dürfte als sicher gelten, daß Aneignungsverhalten immer auch eine kommunikative Dimension hat; darüber hinaus manifestiert es sich in verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Zeichengebrauchs als spezielles Kommunikationsverhalten. Wenn wir danach fragen, in welcher Hinsicht die Künste individuelle und gesellschaftliche Lebensaneignung zu beeinflussen vermögen, so ist auch danach gefragt, welchen Einfluß sie auf das kommunikative Verhalten der Individuen haben können. Kommunikationsfähigkeit ist eine ganz entscheidende Aneignungsfähigkeit, deren Deformation oder Verkümmerung schwerwiegende Folgen hat. Kommunikationsfähigkeit beruht zwar grundlegend auf Sprachkömpetenz, ist aber darauf nicht zu reduzieren, sondern schließt Entwicklungsmomente ein, die im Begriff der Sprachkompetenz nicht repräsentiert sind, wie historische Variabilität und soziale Differenzierung. Kommunikationsfähigkeit ist kommunikative Kompetenz, die sich in ihrer jeweiligen sozialen und historischen Qualität unterscheidet. Marx und Engels haben in der „Deutschen Ideologie" den kleinbürgerlich-anarchistischen Sprachstil Max Stirners, seine „Eskamotage" 7 , das Spiel mit Appositionen, Synonymen, Paraphrasen als Ausdruck einer Lebensform untersucht - und sie haben in dieser Hinsicht Ideologiekritik auch als Sprachkritik betrieben: „Die Einheit von Sentimentalität und Renommage ist die Empörung. In ihrer Richtung nach Außen, gegen Andre, ist sie Renommage; in ihrer Richtung nach Innen, als Knurren-in-sich, ist sie Sentimentalität. Sie ist der spezifische Ausdruck des ohnmächtigen Widerwillens des Philisters." 8 Marx und Engels haben auch im sprachlichen Verkehr der bürgerlichen Gesellschaft Entfremdungsmuster nachgewiesen. Verallgemeinernd stellten sie fest: „Die Maskerade in der Sprache hat nur dann einen Sinn, wenn sie der unbewußte oder bewußte Ausdruck einer wirklichen Maskerade ist." 9 Marx und Engels analysierten beispielsweise die philosophische Sprache der idealistischen Junghegelianer als „verdrehte Sprache der wirklichen Welt" 10 . Verdreht ist aber nicht nur die Sprache der bürgerlichen Ideologen - verdreht sind auch viele andere, ganz alltägliche, sprachliche „Äußerungen des wirklichen Lebens" 11 als Ausdrucksform der \ bürgerlich-verkehrten Welt, als Kommunikationsform des verkehrten bürgerlichen Bewußtseins. Die 132
historische Dialektik von Aneignung und Entfremdung wirkt sich auch im Kommunikationsverhalten aus - soziales Kommunikationsverhalten unterscheidet sich in seinen jeweiligen Aneignungsqualitäten; es kann auch Entfremdungsmale tragen, denn Entfremdungsmuster werden auch sprachlich reproduziert. Soziale Kommunikation kann im Reglement von Konventionen erstarren, sie kann sich in sinnentleerter Mechanik totlaufen, sie kann sich aufs pragmatisch Unerläßliche beschränken, sie kann in der Phrasenwelt bestimmter Schichten und Gruppen zu allgemeiner Heuchelei verkommen, sie kann im Austausch von Belanglosigkeiten zum grotesken Ausdruck tatsächlicher Beziehungslosigkeit werden, sie kann der Austreibung humaner Lebensansprüche und der Einübung unmenschlicher Verhaltensweisen dienen. Solche Entfremdungsformen sozialer Kommunikation in der bürgerlichen Gesellschaft sind von den Künsten vielfältig vorgeführt worden, um sie bloßzustellen, hohnlachend zu attackieren oder um auch der Verzweiflung darüber Ausdruck zu geben, ein kritisches Bewußtsein zu erzeugen, Mut zu machen, sich von der „Maskerade in der Sprache" als Ausdruck der wirklichen Maskerade zu befreien. Das gilt nicht nur für den sprachlichen Verkehr im engeren Sinne, sondern für alle Bereiche und Formen künstlerisch-kommunikativen Verhaltens. Wenn Schlenstedt die Kommunikationsspezifik der Kunst unter den gegenwärtigen Bedingungen sozialistischer Entwicklung darin erblickt, daß sich Künstler und Rezipienten im Bedürfnis nach einem Dialog zwischen gleichberechtigten Partnern treffen, so setzt die Erfüllung dieses Bedürfnisses auf beiden Seiten eine entsprechende kommunikative Kompetenz voraus, die sich nur auf der Grundlage ästhetischer Kompetenz realisieren kann. Die Kommunikationsspezifik der Kunst unter sozialistischen Bedingungen zielt also auf einen bestimmten sozial-kulturellen Entwicklungsgrad individueller Kommunikationsfähigkeit, der nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Im Blick ist eine neue Aneignungsqualität kommunikativen Verhaltens, die erst in der Entwicklung begriffen ist: In welchem Maße können die Künste durch ihre kommunikativen Anforderungen und Impulse daran mitwirken? Wieweit vermögen sie über die formbildende Kraft ihrer schöpferischen Antriebe Verkrustungen aufzubrechen, Leerlauf ad absurdum zu führen, Kommunikation zu revitalisieren? Genau diese Frage ist die Frage nach potentiellen Aneignungseffekten künstlerischer Strukturen als spezifischen Kommunikationseffekten. Es muß konkret analysiert werden,
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welcherart kommunikative Leistungen durch Kunst jeweils abverlangt werden. Das ist die zentrale Problemstellung dieses Kapitels. Sie kann freilich nur unter Berücksichtigung gattungsspezifischer Unterschiede zwischen den Künsten behandelt werden. Denn die Frage nach möglichen Kommunikationseffekten hängt aufs engste mit der anderen Frage zusammen, welcherart Aneignungsleistungen die spezifischen kommunikativen Möglichkeiten der Künste jeweils zulassen. Zu fragen ist also auch nach Eigenart und Leistungsfähigkeit kommunikativer Strukturen in den einzelnen Künsten. Damit bestätigt sich aus dieser Blickrichtung erneut, daß Aneignungsspezifik und Kommunikationsspezifik von Kunst nicht auseinanderzureißen sind.
Kommunikationsbegriff und Zeichenbegriff in verbaler und nichtverbafer Kommunikation Seit Menschen das Bedürfnis entwickelt haben, sich ästhetisch mit der Realität auseinanderzusetzen, ¡verwirklicht sich Kunst in kommunikativen Strukturen, im sozialen Miteinander und Gegenüber. Die Künste entfalten als offenbar unverzichtbares Instrument der individuellen wie kollektiven Weltaneignung und Daseinsbewältigung ihre Wirkungen am stärksten dort, wo echte Kommunikation zustande kommt, wo „Informationen" künstlerisch vermittelt, ästhetische Botschaften sinnlich erlebt und dabei psychisch verarbeitet werden. Wer den Versuch unternimmt, der Spezifik künstlerischer Kommunikation nachzuspüren, hat sich zunächst einiger kommunikationswissenschaftlicher Erkenntnisse zu versichern, die durch das Zusammenwirken von Informationstheorie, Systemtheorie/Kybernetik und Zeichentheorie/Semiotik ermöglicht wurden. Man muß wissen, welche Merkmale Kommunikationssysteme grundsätzlich kennzeichnen, wie informationelle Kopplungen im Prinzip aussehen, welche Mechanismen dabei wirksam werden, selbst wenn damit noch nicht automatisch geklärt ist, inwieweit das, was sich in den Künsten ereignet und was sie für Menschen bedeuten können, mit den klassischen Theoremen der genannten Wissenschaften vereinbar oder 'überhaupt erfaßbar ist. Aber wenigstens unter zwei Aspekten dürften die Erkenntnisse der Kommunikationswissenschaften dazu beitragen, tiefere Einsichten in die Spezifik von Kunstprozessen zu gewinnen: 134
Der eine hat mit der Struktur der kommunikativen Systeme zu tun, mit der systematischen Auseinanderfaltung ihrer Glieder oder Elemente und der Kennzeichnung der zwischen diesen Gliedern oder Elementen bestehenden Relationen (Kommunikationskette, Kanalmodell, komplexere Systembildungen) sowie ihrer Einbettung in übergeordnete Systemzusammenhänge (Umwelt, Natur und Gesellschaft, Sozialgefüge, Einfluß von Kenntnissystemen usw.). In den Kunstwissenschaften selbst sind solche Probleme nicht systematisch untersucht worden, obwohl viele der zugrundeliegenden Fakten als solche seit langem bekannt sind. Die Aufbereitung und Modifizierung der in den Kommunikationswissenschaften entwickelten Theorien, Modelle und Methoden, bei deren Ausarbeitung Kunstphänomene und Kunstprozesse kaum im Blickfeld waren, würde den Kunstwissenschaften wie der Ästhetik nützen. Der zweite Aspekt hat mit der Tatsache zu tun, daß wissenschaftliche Einsichten in die Spezifik eines Forschungsgegenstandes durch 'Vergleich mit und Abgrenzung von anderen Erkenntnisobjekten befördert werden. Für diese Art des Versuch-und-IrrtumLernens, dessen Bedeutung für das schöpferische Denken Georg Klaus herausgearbeitet hat,12 bieten die Kommunikationswissenschaften geradezu ideale Bedingungen, haben sie sich doch seit ihren nachrichtentechnisch und mathematisch-statistisch bzw. sprachwissenschaftlich orientierten Anfängen13 mehr und mehr zu dynamisch expandierenden Querschnittsdisziplinen entwickelt, deren Denkmodelle entsprechend der grundlegenden Bedeutung informationsverarbeitender Prozesse in Gesellschaft und Natur in vielen Wissensgebieten nicht nur Anwendung fanden, sondern weiter erprobt und entwickelt werden. Durch interdisziplinäre Vergleiche, wie sie damit ermöglicht werden, lassen sich manche Probleme im eigenen Forschungsfeld schärfer herausarbeiten. Nach den Theoremen der kybernetischen Systemtheorie und Informationstheorie verstehen wir unter Kommunikation den Austausch von Informationen zwischen dynamischen Systemen oder Teilsystemen, die die Fähigkeit besitzen, Informationen aufzunehmen, zu speichern, umzuformen usw.14 In diesem Sinne ist Kommunikation für alle hochorganisierte lebende Materie ebenso grundlegend wie Energieaustausch und Formwechsel. Sie dient der Aufrechterhaltung der Systemstabilität. Dieser im biologischen Bereich geltende Sachverhalt geht selbstverständlich in der menschlichen Kommunikation nicht verloren. Als 135
biologisches Wesen bleibt der Mensch Teil der Natur, als kulturelles Wesen hebt er sich von ihr ab und tritt ihr energetisch wie informationell, nicht zuletzt durch die Entwicklung leistungsfähiger Zeichensysteme und ihre hochgradige Differenzierung, aneignend, handelnd, beherrschend gegenüber - ein Grundproblem menschlicher Existenz, das von den Künsten immer wieder thematisiert wird. Das grundlegende Neue menschlicher Kommunikation tritt am sinnfälligsten in Struktur und Funktion der natürlichen Wortsprache zutage, die sich zum zentralen Instrument des Informationsaustauschs in der menschlichen Gesellschaft entwickelte und demzufolge natürlich auch im Ensemble der Künste ihren festen Platz erhielt, als eigene Kunstgattung in der gesteigerten Ausdrucksform der Literatur wie in zahlreichen anderen Funktionen. Nicht ohne Grund wird daher /
die Kommunikation von Mensch zu Mensch, die sich überwiegend als Zeichenverkehr manifestiert, in der Informationstheorie als „sprachliche Kommunikationskette" bezeichnet. Von dem hierfür entwickelten schematischen Modell ist auszugehen, wenn man prüfen will, inwieweit kommunikative Strukturen in den Künsten sich damit erfassen lassen. Informationelle Kopplung • realisiert sich nicht durch direkte Übertragung von Wirkungen vom Sender auf den Empfänger, sondern vermittelt durch physikalische Zustände eines akustischen oder optischen Mediums (informationstheoretisch als Übertragungskanal bezeichnet), dessen Signale sprachliche, musikalische, schriftliche, bildliche usw. Strukturen transportieren und damit zugleich etwas Dahinterliegendes repräsentieren - in der Wortsprache eine Aussage oder Nachricht (ablesbar aus den einzelnen Wortbedeutungen sowie der syntaktischen und semantischen Gesamtstruktur eines Satzes und beeinflußt u. U. von der pragmatischen Kontextsituati'on), in den Künsten eine wie auch immer geartete „Botschaft", um derentwillen der Produzent tätig wurde. In jedem Fälle wird den Empfängern eine mehrstufige Decodierungsleistung abverlangt: Sie müssen eintreffende'Signale zunächst als sprachliche, musikalische, schriftliche oder bildliche Strukturen erkennen, sie aufgrund ihres mehr oder minder umfangreichen Vorwissens (Kenntnis einer Sprache oder eines anderen Zeichensystems) als Bestandteile eben dieser Sprache (eines bestimmten sprachlichen Codes) oder eben dieses Zeichensystems (z. B. eines bestimmten künstlerischen Stils) identifizieren, einordnen und klassifizieren, um das durch sie Repräsentierte daraus entnehmen zu können, die Nachricht zu verstehen, die „Botschaft" zu entschlüsseln, 136
wie schwierig das letztere auch immer sein und wie unvollständig es gelingen mag. Daß in der Unvollständigkeit der Decodierungsleistung gerade etwas sehr Wesentliches künstlerisch-ästhetischer Kommunikation zum Vorschein kommt, wurde schon von Marx erkannt: Er bestaunte das Wunder der enormen Dauerhaftigkeit von Kunstwerken, das Bedürfnis, sich denselben Bildern, Dichtungen und Musikwerken immer wieder zuzuwenden. Das bisher Gesagte sei aus verschiedenen Blickwinkeln näher beleuchtet und verdeutlicht. Lassen wir zunächst einen Dichter, Christian Morgenstern, unsere Kommunikationsprobleme formulieren, auch um damit zu zeigen, wie knapp und klar eine „Botschaft", das, worauf es ankommt, ausgedrückt werden kann, zumindest im Bereich der Poesie: Der Meilenstein Tief im dunklen Wald steht er und auf ihm mit schwarzer Farbe, daß des Wanderers Geist nicht darbe: Dreiundzwanzig Kilometer. Seltsam ist und schier zum Lachen, daß es diesen Text nicht gibt, wenn es keinem Blick beliebt, ihn durch sich zu Text zu machen ... (Wir beschränken uns hier auf die Gedichtteile, die für unser Problem relevant sind.) Das poetisch verdichtete Bild in wissenschaftliche Prosa zu dolmetschen, ist ein mühseliges Geschäft, hier aber unvermeidlich, und wäre es nur, um zu zeigen, daß Morgenstern mindestens zwei auffällige „Treffer" gelungen sind: Erstens mit dem Gebrauch des Wortes „Text", das hier einen ganz kommunikationswissenschaftlich-modernen „touch" aufweist (Morgenstern starb bereits 1914!), und zweitens mit der Zeile, „ihn durch sich zu Text zu machen", womit wesentliche Momente der gesamten Aneignungsproblematik auf eine allerknappste Formel gebracht scheinen. Im übrigen beschreibt das Gedicht eine Grundsituation menschlicher Kommunikation mit Hilfe konventioneller (Vorwissen erfordernder) Zeichen, seien es gesprochene Wörter, schriftliche oder bildliche Symbole. Sie alle müssen als solche identifiziert und ihrem begrifflichen Gehalt nach kognitiv erfaßt werden (Morgenstern zitiert nicht ohne Grund „des Wanderers 137
Geist"). Durch die Schriftzeichen, die der „Wanderer" als „Text" erkennt (und nicht als zufällige schwarze Figuren, so wie er den Stein durch seine Form und Stellung als Meilenstein klassifiziert und nicht als zufällig dort liegenden Stein), kommt der kommunikative Kontakt zur Informationsquelle zustande, wobei der Sender unbekannt bleibt und durchaus komplex gedacht werden kann (der Schreiber des „Textes", ein Anstreicher vielleicht; diejenigen, die die Wegstrecke gemessen, die Setzung des Steines veranlaßt haben usw.). Für die Decodierung ist es nicht unbedingt notwendig zu wissen, aus welchen Gliedern sich der Sender im einzelnen zusammensetzte. Deutlich wird trotzdem, daß menschliche Kommunikation auf soziale Realisierung von Information hinausläuft, nicht nur dort, wo viele sich versammeln, sondern u. U. auch „tief im dunklen Walde". Kommen wir mit einem zweiten Morgenstern-Gedicht auf die Künste zu sprechen. Hier gestaltet sich die soziale Realisierung von „Information" schwieriger, selbst wenn die Sinnesorgane als Informationsempfänger voll funktionieren und ein durchaus befriedigendes Sinnenerlebnis zustande kommt: Geiß und Schleiche
Die Schleiche singt ihr Nachtgebet, die Waldgeiß staunend vor ihr steht... Sie weiß nicht, was die Schleiche singt, sie hört nur, daß es lieblich klingt. Die Schleiche fällt in Schlaf alsbald. Die Geiß geht sinnend durch den Wald. Daß die „Schleiche" alsbald „in Schlaf fällt", ist ein gutes Zeichen. Für sie hat das „Nachtgebet" die erwünschte autokommunikative Wirkung erzielt. Und daß es der „Geiß" nicht nur „lieblich" in den Ohren geklungen hat, sondern daß sie auch nachdenklich geworden ist, wollen wir ebenfalls als ein gutes Zeichen nehmen. Doch offensichtlich hat es mit der Decodierung nicht ganz geklappt: Das „Wie" der Information ist, wie oft in den Künsten, voll angekommen, der Ohrenschmaus fand statt, während das „Was", schon die Tatsache, daß es sich um ein „Nachtgebet" handelt, der Empfängerin offenbar verborgen bleibt. Vielmehr als das weiß vielleicht sogar die Sängerin nicht (es könnte sich ja z. B. um ein sehr altes Gebet aus der Schleichen-Tradition handeln, dessen Sinn den Schleichen der Gegenwart nicht mehr voll verständlich ist...). Trotzdem wollen wir weiterhin davon ausgehen, daß künstlerisch138
ästhetische Kommunikation - auf ihre Weise und mit ihren Mitteln ebenfalls auf soziale Realisierung von „Information" aus ist, vielleicht weniger als Vermittlung von Kenntnissen und Wissen als von Erfahrungen, Zusammenschau oder dergleichen, und daß dazu ein starker sinnlicher Eindruck, ein bewegendes Erlebnis die Voraussetzung bildet. Insoweit sehen wir Morgensterns „Waldgeiß" auf gutem Wege. Der zweite Blickwinkel, aus dem wir kommunikative Strukturen betrachten wollen, ist weniger amüsant. Es geht um die Frage, wie Informations- und Systemtheorie durch kybernetische Abstraktion aus den verschiedenartigsten Formen menschlicher Informationsübertragung die an einem Kommunikationsprozeß beteiligten lebenden und leblosen Glieder aussondern und in schematischen Modellen darstellen, um daran die zwischen den einzelnen Elementen und Teilsystemen bestehenden Beziehungen genauer zu untersuchen. Ausgangspunkt ist die sogenannte sprachliche Kommunikationskette (Informationsquelle - Sender - Kanal - Empfänger - Verwertung), der die Bedingungen wortsprachlicher Kommunikation zugrunde liegen. Auf dem Wege vom Sender zum Empfänger wird die Information mehrfach umcodiert, und es erscheint eher erstaunlich als selbstverständlich, daß bei all diesen Umwandlungsprozessen das Wesentliche der Information erhalten bleibt, sofern bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. Entscheidend ist zunächst, wie das intentionale Verhalten des Senders mit dem Interpretierverhalten des Empfängers in bezug auf die aktuelle Nachricht zusammenstimmen. Der objektive Bezugspunkt für diese Abstimmung steckt im Übertragungskanal, in den Signalvorgängen oder Signalkonfigurationen, die als Medium die sprachlichen Äußerungen, die mimischen und gestischen Gebärden, oder eben das Kunstwerk, transportieren bzw. enthalten. Sie sind einerseits „nur" Trägerprozesse, Vehikel kommunikativer Beziehungen, andererseits und zugleich aber auch die einzige Stelle des Übertragungsweges, an der diese „Informationen" aus den Individuen, den Subjekten, heraustreten, zu materiellen Objekten werden. Im Hinblick auf die Künste hat die französische Semiologie dafür den Terminus „niveau neutre" geprägt, im Unterschied zum „niveau poétique" der Erzeugerseite und dem „niveau esthétique" der Rezipientenseite.15 Wie immer man zu den hier gewählten Begriffen stehen mag: die Dreiteilung als solche hat ihre Berechtigung. Im Prinzip kann jeder semiotische Prozeß, jede sprachliche Kommunikation, jeder musi139
kaiische und jeder andere Kunstprozeß in diesen drei verschiedenen Phasen erfaßt werden. Die zweite wichtige Bedingung eines sprachlichen oder anderen semiotischen Kommunikationsprozesses liegt im Vorwissen des Informationsempfängers in bezug auf eine zu decodierende Signalfolge. Wie wir wissen, existiert außer der konkret-physikalischen auch eine „abstrakte" nichtphysikalische Verbindung zwischen den Kommunikationspartnern, eine gemeinsame Bezugsebene, die in verschiedene Sphären aufgeteilt werden kann. Diese Bezugsebene wird in erster Linie durch den sogenannten Zeichenvorrat, die mehr oder minder vollständige Kenntnis des Zeichen-Repertoires mit allen seinen Merkmalen konstituiert, was im Hinblick auf die für jedes „Verstehen" erforderliche Kenntnis einer Wortsprache ohne weiteres einleuchtet. Unter Zeichenvorrat wird eine strukturierte Menge von Zeichen verstanden, die in ihrer Gesamtheit ein Zeichenrepertoire ausmachen. Der Informationsgehalt eines Zeichens ist vom Repertoire abhängig. Bedeutungen haften also nicht an einzelnen Zeichen, sondern nur an einem Zeichen in seiner Eigenschaft als Bestandteil eines Repertoires mit einer bestimmten Struktur.16 Indes hat Manfred Bierwisch für die Wortsprache wie auch für die Musik zu Recht darauf hingewiesen, daß der Terminus Zeichenvorrat insofern nicht ganz zutrifft, weil in beiden Kommunikationssystemen nach bestehenden Verfahren und Regeln immer wieder neue Zeichen gebildet und verstanden werden können. Sprache und Musik seien also nicht feste Zeichenvorräte, nicht abgeschlossene Repertoires, sondern weit eher Systeme zur Zeichenbildung. Auch seien im Gedächtnis nicht alle möglichen komplexen Zeichen gespeichert, sondern nur bestimmte Grundelemente und auf sie anwendbare kombinatorische Operationen oder Regeln.17 Man kann sagen, daß solche Strukturprinzipien und Mechanismen - als explizit in einer Theorie formulierte oder implizit in einer schriftund theorielosen Praxis gegebene Ordnungs- und Regelsysteme „operative Funktionen" erfüllen, indem sie beispielsweise die Art und Weise, wie in einem Musikstück Tonfolgen und Zeitgestalten erzeugt und organisiert werden, bis zu einem gewissen Grade vorausbestimmen, ohne den schöpferischen Impuls zu lähmen. In der traditionellen europäischen Notenschrift, die ja als Answeisung für Interpreten dient, treten solche Vorausinstruktionen z. T. direkt als Vorzeichnungskomplex in Erscheinung (Notenschlüssel, Akzidentien der Tonart, Angabe der Taktart, generelle Tempo- und Vortrags140
bezeichnungen). Im übrigen können einzelne konkrete Formulierungen innerhalb eines Stückes als direktes Erkennungszeichen für zugrundeliegende Regelsysteme fungieren, z. B. melodische oder Kadenzformeln als Kennmarken eines tonalen Modus, eines MäqamTyps u. ä., für die der semiotische Terminus „operatives Zeichen" anwendbar wäre.18 Insgesamt sind Erzeugungssysteme der skizzierten Art nur für die Wortsprache ausführlich studiert worden, vor allem im Gefolge der Arbeiten zur Syntaxforschung und generativen Grammatik von Noam Chomsky.19 Für die Musik gibt es vorerst nur Ansätze.20 Das Problem des Zeichenrepertoires bzw. Zeichenvorrates, von dem wir ausgegangen waren, als eines gemeinsamen Bezugsfeldes von Kenntnissen, über die Kommunikationspartner aktiv oder passiv verfügen müssen, um sinnvoll miteinander kommunizieren zu können, erweist sich in Sprache wie Musik als hochkomplex und dürfte auch in anderen Künsten komplexer Natur sein. Das auf die Sprache bezogene Wort Wilhelm von Humboldts, „von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen", auf das sich Bierwisch, Musik einschließend, beruft, scheint ein Grundprinzip vor allem des künstlerischen Schaffens, der Produktionssphäre zu sein. Wie stark diese generative Seite der Zeichensysteme auch auf der Rezipientenseite wirksam wird und mit welcher Toleranz gegenüber Neuem (z. B. Avantgardekunst) sie in Erscheinung tritt, ist kaum erforscht. Doch dürften bedeutende individuelle wie auch kulturelle Unterschiede bestehen, die u. a. mit dem Umfang aktiver Eigenerfahrung (z. B. im Musikmachen, überhaupt im aktiven Beteiligtsein an Kunstprozessen) und mit der Struktur eines kulturellen Systems, seiner Heterogenität oder Homogenität, zu tun haben. Daß daneben zum individuellen Zeichenvorrat nicht zuletzt auch das Behalten und Wiedererkennen bereits bekannter Texte, Musikstücke, Bilder gehört, sowohl als Typen wie als individualisierte Gestalten, braucht kaum betont zu werden. Gerade in den Künsten spielt diese Art von Kenntnissen eine eminent wichtige Rolle. Alle memorialen Kunsttraditionen (z. B. in mündlicher Überlieferung existierende Völksdichtung und Volksmusik) leben davon. Aber auch in der sogenannten Hochkunst, wo es weniger um typisierte als um individualisierte Gestalten in ihrer Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit geht, werden zahlreiche Zeicheneinheiten, von einzelnen Elementen, Themen, Passagen bis zu ganzen Werken, im Gedächtnis gespeichert. Überall dort, wo einigermaßen fest umrissene Repertoires präsentiert 141
bzw. immer wieder reproduziert werden, bilden solche Zeichenvorräte eine unschätzbare Decodierungshilfe und Maßstäbe ästhetischen Vergleichens und Wertens. Der für einen Kommunikationsprozeß notwendige Grad der Übereinstimmung zwischen den Zeichenvorräten der Kommunikationspartner, dem aktiven Vorrat des Senders und dem passiven Vorrat des Empfängers, kann sehr verschieden sein. Mit annähernder Deckungsgleichheit darf nur unter ganz bestimmten Bedingungen gerechnet werden, wie sie etwa unter Angehörigen derselben Sprachgemeinschaft bei annähernd gleichem Bildungsgrad und ähnlichem Entwicklungsweg bestehen und - mit Blick auf die Künste - z. B. in Volks- oder Stammeskulturen mit stark ausgeprägter Tradition bei nur geringen Außeneinflüssen gegeben sein können. Auf die meisten heutigen Kulturen,, selbst in der dynamisch sich verändernden sogenannten dritten Welt, trifft das im allgemeinen nicht zu, am allerwenigsten auf kulturell hochdifferenzierte Industriegesellschaften. Hier ist, je nach Art des Kommunikationsaktes, eher mit teilweiser, stärkerer oder geringerer Überlappung individueller Zeichenvorräte zu rechnen, weil die Vorgänge, die in differenzierten Gesellschaften mit vielerlei Sprach- und Kulturebenen und divergierendem Kunstbetrieb zum Aufbau eines Zeichenvorrats führen, in den einzelnen Biographien gewöhnlich unterschiedlich verlaufen, abhängig vor allem vom Berufs- und Bildungsweg. Man braucht sich nur die Vielzahl von Sonder- und Fachsprachen vor Augen zu führen, die für Außenstehende immer nur partiell verstehbar sind: Sprache der Wissenschaften, Rechtssprache, Sprache der Wirtschaft, der Politik, des Militärs, des Sports usw., überhaupt Sprachen von Teil- oder Subkulturen verschiedenster Art, die Insiderjargons ausbilden. Eine unter solchen Bedingungen auftretende kommunikative Variante besagt, daß der Zeichenvorrat des Senders wesentlich umfangreicher ist als der des Empfängers (unabhängig von dessen sonstigen Kenntnissen) - eine Situation, die beim Kennenlernen von Kunstwerken, besonders bei der Erstbegegnung mit neuer Kunst oder der Kunst fremder Kulturen, die Regel sein dürfte. Hierbei kann es sogar zur Situation einander ausschließender Zeichenvorräte kommen, wie sie für die Konfrontation mit nicht erlernten Fremdsprachen typisch ist. Es fragt sich allerdings, inwieweit-man die Begegnung mit einer völlig fremden Sprache vergleichen kann mit der Situation gegenüber noch so fremd- oder neuartigen Kunstwerken, an denen direkte sinnliche Eindrücke auf ganz andere Weise erfahren werden als im wortsprachlichen Bereich. 142
Hier kommt ein Grundproblem der Zeichenebene in kommunikativen Prozessen zum Vorschein, dessen Diskussion bislang ausgespart wurde, weil die Bedingungen in der Wortsprache und in den Künsten außerordentlich stark voneinander abweichen und weil die „sprachliche Kommunikationskette", die den menschlichen Zeichenverkehr modelliert, solche Unterschiede nicht erfaßt. An diesem Punkt unserer Überlegungen geht es um den Sprachbegriff und im Kern um den Semantikbegriff. Informationstheoretischkommunikationswissenschaftlich und zeichentheoretisch orientierte Forschungen zeigen in diesem wichtigen Punkt gewisse, bis heute nicht ausgeräumte Divergenzen. Die von der Semiotik eingenommene Position (ausgehend von den Erkenntnissen Ferdinand de Saussures 1916) besagt, daß alle menschlichen Zeichensysteme, seien sie verbal oder nicht verbal, also auch alle Künste, als „Sprachen" in einem allgemeinen Sinne aufgefaßt werden können (Peirce, Morris, Eco, Lotman u. a.). Diese Position schließt ein, daß die semantische Ebene durch alle Zeichentypen - von den Indexzeichen oder Symptomen („Anzeichen") über die Ikone, deren zentrale Bedeutung für die Künste vor allem Charles W. Morris erkannte, bis zu den arbiträren, konventionell vereinbarten („echten") Zeichenarten (Signale im umgangssprachlichen Sinne, Symbole) - besetzt sein kann. Demgegenüber hat sich die Informationstheorie im wesentlichen auf die Untersuchung von Kommunikationsprozessen mit Hilfe arbiträrer Zeichen, wie sie in der Wortsprache dominieren, konzentriert. Hier umfaßt die „semantische Sphäre" der sprachlichen Kommunikationskette die zuvor erläuterten, den„Zeichenvorrat" konstituierenden Gedächtniseintragungen verschiedener Art. Ihr werden im allgemeinen nur diejenigen (wesentlich diskontinuierlichen) Signale bzw. Signalmerkmale zugeordnet, die als Träger konventionell vereinbarter Zeichen dienen. Die Zuordnung von geistig erfaßten Gegenständen und Sachverhalten zu den Signalstrukturen (z. B. wortsprachlichen Lautfolgen) ergibt sich aus einer irgendwann getroffenen und durch Gebrauch befestigtön Setzung oder Übereinkunft.21 Begriffe wie „ikonisches Zeichen" kommen in diesem Zusammenhang bezeichnenderweise überhaupt nicht oder nur am Rande vor.22 Ein verallgemeinerter Sprachbegriff liegt auch dieser von Informationstheoretikern, Kommunikationsforschern, Sprachtheoretikern und Philosophen vertretenen Konzeption zugrunde, denn nicht nur die natürliche Wortsprache, sondern alle von ihr abgeleiteten Zeichen143
systeme (wissenschaftliche Metasprachen, künstliche Sprachen usw., die Probleme der formalen Logik, philosophischen Semantik, der Algorithmentheorie, Rechentechnik, Automatisierung u. a. einschließen) sind Gegenstand der Untersuchung. Im wesentlichen ist es der Semantikbegriff, an dem sich die Geister scheiden. Während die Semiotik einen sehr weiten, alle Zeichensysteme, Zeichentypen und Zeichenprozesse einschließenden Semantikbegriff postuliert und seine theoretische Ausarbeitung betreibt (vorläufig allerdings noch weitgehend ohne den nötigen Rückhalt empirischpraktischer Forschungsergebnisse, die in den Einzelwissenschaften, nicht zuletzt in den kunstwissenschaftlichen Disziplinen, erarbeitet werden müssen), hat sich die informationstheoretisch-kommunikationswissenschaftliche Forschu'ngsrichtung in der Semantikfrage von vornherein Beschränkungen auferlegt und auferlegen müssen, um über bestimmte Grundfragen menschlicher Kommunikation, in der die Wortsprache einen ganz zentralen Platz einnimmt, Aufschluß zu erhalten. Zudem, und nicht ohne Grund, ist die wortsprachliche Semantik die bisher einzige, die hinlänglich erforscht und deskriptiv erfaßt ist. Genau dies ist der Punkt, an dem durch gezielte einzelwissenschaftliche Forschungen, namentlich im Bereich der Kunstwissenschaften, etwas geändert werden muß, wenn der theoretische Anspruch der Semiotik mit Substanz erfüllt werden soll. Dabei geht es vor allem um die verschiedenen Arten von kommunikativen Prozessen und Zeichenprozessen in den einzelnen Künsten und um das Funktionieren der unterschiedlichen Zeichentypen in diesen Prozessen.
Sagen und Zeigen, Agieren und Reagieren als Funktionen kommunikativer Strukturen und semiotischer Prozesse in den Künsten Konzentrieren wir uns im folgenden auf Musik. Da sie die abstrakteste, am wenigsten dingfest zu machende unter den Kunstgattungen ist, müssen hierbei eine Reihe äußerst kniffliger (keineswegs völlig geklärter) Probleme diskutiert werden, die auch für andere Künste erhellend sein können. Außerdem bedeutet Beschränkung auf Musik auch deshalb keine zu starke Einengung unserer Problematik, weil diese Kunstform sich durch vielfältige und durch die gesamte Ge144
schichte äußerst stabile Beziehungen zu anderen Künsten auszeichnet. Musik ist einerseits als Materialsystem hochgradig durchkonstruiert, seit langem mit eigenen Schriftsystemen unterschiedlichen Typs ausgestattet usw., insofern durchaus mit der Wortsprache vergleichbar, andererseits ist sie außerordentlich anpassungsfähig und kooperationsbereit (man denke an ihre Funktionen in kultisch-religiösen Zusammenhängen, in Theater, Film usw.). Überblickt man die historische Vielfalt musikalischer Erscheinungsformen, so schält sich heraus, daß Musik zwei, für ihre Existenz offenbar unabdingbare Partner hat: Sprache und Körperbewegung. Dazu kommt ein Drittes: Werkzeuge, Instrumente. Sprache ist auf Musik nicht angewiesen, Dichtung kann ohne sie auskommen (wenn manchmal auch schlechter), aber nicht umgekehrt. Wir wissen von keiner Musikkultur in Geschichte und Gegenwart und keinem einzigen Musizierbereich, der Sprache entbehren könnte. Ihre Einbeziehimg erfolgt ja nicht nur über gesungene Texte in der Vokalmusik, sondern in den mannigfaltigsten Formen. Der enge Zusammenhang zwischen Musik und Körperbewegung realisiert sich auf wenigstens zweierlei Art: in der Handhabung von Klangwerkzeugen und in verschiedenen Formen stilisierter Körperbewegung, deren am meisten durchgebildete Ausdrucksform der Tanz darstellt, zu denen aber auch andere Formen des kommunikativen Zeigens gehören. Musik kann auf Körperbewegung nie ganz verzichten, jedoch - ein bestimmtes Niveau kultureller Differenzierung vorausgesetzt - offensichtlich sehr wohl auf Tanz. Umgekehrt nicht: Tanz ohne Musik kommt praktisch nicht vor; selbst wenn Sänger und Instrumentalisten schweigen, erzeugen die Tänzer selbst hörbar musikalische Rhythmen. Im Vergleich mit dem Verhältnis Musik - Sprache erscheint das Abhängigkeitsverhältnis hier umgekehrt. Musik stellt sich als die emanzipiertere Kunstform dar. Genau besehen geschieht dies allerdings im wesentlichen dadurch, daß Musik das „tänzerische Element", den tänzerischen Gestus und Rhythmus in sich aufsaugt. In Verbindung mit Tanz bringt Musik einen ganz spezifischen, rückkopplungsreichen Kommunikationstypus mit zahlreichen Varianten hervor, eine besondere Art des aktiven und reaktiven Umgangs nicht nur mit der betreffenden Musik, sondern auch mit den am Kommunikationsprozeß teilhabenden Partnern, wie er in anderen Künsten kaum anzutreffen ist. Musikinstrumente oder, allgemeiner gesprochen, Klangwerkzeuge, tragen auf ihre Weise zum Bewegungskonzept der Musik bei, und sie 10
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bringen in kommunikative Strukturen und musikalische Zeichenprozesse auch noch andere Komponenten ein. Daß Musik nicht nur die menschliche Stimme nutzt, wie Sprache, sondern daneben weitere zur Schallerzeugung geeignete Körperorgane oder der Umwelt entnommene Materialien, daß sie - so früh, als es die Werkzeugentwicklung nur irgend zuläßt (Niveau der kombinierten Werkzeugtechniken und sogenannten Werkzeug-Werkzeuge seit dem Jungpaläolithikum) - spezielle „künstliche" Klangwerkzeuge schafft, Instrumente, in deren Konstruktion musikalische Vorstellungen eingehen, macht einen der grundlegenden Systemunterschiede zur Wortsprache aus (das beiden Systemen gemeinsame biokommunikative Erbe, basierend auf demselben materiellen Substrat, gleichen Wahrnehmungs- und z. T. Erzeugungsmodalitäten mit allen daraus sich ergebenden Struktureigenschaften, wird in arbeitsteiliger Differenzierung humanisiert), und es manifestiert zugleich die unauflösliche Verbindung von Musik und Körpermotorik. Am Ende des vorigen Abschnitts hatten wir gefragt, von welcher Art denn die semiotisch erfaßbaren Beziehungen zur Realität bei den nichtverbalen Kommunikationssystemen seien, wie sich durch sie „Bedeutungen" und „Mitteilungen" übermitteln. Beginnen wir mit dem Unterschied zwischen Sagen und Zeigen, den Manfred Bierwisch im Zusammenhang mit Untersuchungen zur Struktur und Funktionsweise von Sprache und Musik - ausgehend von einem Satz Wittgensteins und anderen in der sprachtheoretischen und sprachphilosophischen Literatur vorhandenen Ansätzen - herausgearbeitet hat. Danach ist Wortsprache durch ihre besondere Art der „Doppelrepräsentation" auf Benennungen (von Dingen, Eigenschaften, Relationen, Zuständen und Vorgängen) spezialisiert, und sie hat durch hochgradige Funktionsteilung ihrer grammatischen Elemente (SubjektObjekt, grammatische Personenunterscheidung, prädikative Beziehungen, attributive Zustände) den Modus des Sagens, der Aussage entwickelt. „Benennen der Gegenstände und Eigenschaften, Identifizieren oder Beschreiben des Sachverhaltes und Sagen, was es mit dem Sachverhalt auf sich hat, sind dabei keine getrennten Vorgänge, sondern werden in einem Zuge aufeinander aufbauend realisiert. Wesentlich ist dabei, daß das Benennen und das Beschreiben auf Grund konventioneller Regeln geschieht, die erworben werden ... Zeigen ist demgegenüber eine vergleichsweise elementare Form des 146
Mitteilens; sie setzt nicht notwendig ein festes erworbenes Zeichensystem voraus, und sie geschieht nicht durch mehrere aufeinander aufbauende Stufen, sondern gewissermaßen in einem Schritt."23 Von den zwei Möglichkeiten des Zeigens - erstens etwas direkt vorzeigen bzw. auf etwas zeigen (ein Buch oder ein Bild, nur optisch), oder zweitens etwas zeigend darstellen (optisch oder auch akustisch), d. h., zeigen „wie" etwas ist, war, gemacht wird usw. - ist für Musik (und andere nichtverbale Künste, wie die Pantomime) die zweite relevant: „Sie vergegenwärtigt etwas, indem die Zeigehandlung Strukturgemeinsamkeiten mit dem gezeigten Vorgang oder Sachverhalt aufweist, und nur sofern diese Gemeinsamkeiten bestehen, kann sie etwas mitteilen."24 Bierwisch geht - wenn auch durch zusätzliche Bedingungen modifiziert (z. B. „daß musikalische Zeichen stets eine inhärente Affinität zu begrifflichen oder Vorstellungsstrukturen haben") - von der Grundannahme aus, „daß die musikalische Codierung sich auf den Bereich der Emotionen bezieht ... Musikalische Zeichen ... machen emotionale Muster wahrnehmbar, indem sie deren gestische Struktur zeigen ... Was gesagt wird, wird gedanklich, d. h., auf Grund seiner logischen Struktur vergegenwärtigt. Was gezeigt wird, wird dagegen sinnlich vergegenwärtigt, insofern die codierten Eigenschaften des Signals denen des gezeigten Sachverhalts entsprechen. In diesem Sinne kann man sagen: Gezeigte Bewegung, Ruhe, Ängstlichkeit oder Freude ist zugleich Bewegung, Ruhe, Ängstlichkeit, Freude" oder genauer, da musikalische Äußerungen überwiegend im Als-ob-Modus ästhetischer Mitteilung etwas zeigen: „Gezeigte Freude ist Freude in stellvertretender Form, sie ist wie Freude. Weil Musik Gesten in kommunikativ kontrollierter Absicht zeigt, haben die in ihr codierten emotionalen Muster keinen primären, spontanen Charakter, sondern werden stellvertretend gezeigt, aber mit den echten Symptomen und Ansteckungseffekten, soweit die musikalische Codierung genau auf ihnen beruht."25 Schon vorher heißt es, im Zusammenhang mit der „Ansteckungswirkung" der Musik - ein Phänomen übrigens, das in biokommunikativen Kontexten als „PrimerEffekt" oder „Primer-Wirkung" bezeichnet und beschrieben wird - 2 6 : „Das Abklingen oder Wachsen von Aufregung, der Gestus schockhafter Angst oder gefaßter Trauer überträgt sich, weil seine Symptome gezeigt werden. Dies ist die Grundlage für die ... These, daß in der Musik, anders als in der Sprache, die außerkommunikative Wirkung des Signals eine wesentliche (wenn auch keineswegs die einzige) Komponente im Zustandekommen der Gesamtwirkung ist." 27
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Was den Primer-Effekt betrifft, der in Musik zweifellos eine große Rolle spielt, so würden wir zögern, ihn generell den außerkommunikativen Wirkungen zuzuschlagen. Eine solche Kennzeichnung ist abhängig von der Definition des Kommunikationsbegriffes, der in der von der Wortsprache geprägten Kommunikationsforschung sehr eng gefaßt wird, während für die Künste der allgemeinere Begriffsinhalt von „Kommunikation" wesentliche Sachverhalte umschreibt (s. dazu unten, S. 157). Unser Zögern hat zwei Gründe. Erstens beschreibt das Sagen-Zeigen-Konzept kommunikative Situationen im wesentlichen aus dem Blickwinkel der Produktionsseite: Der Sender sagt oder zeigt etwas; was auf der Rezipienten-Seite alles vor sich geht oder vor sich gehen kann, wird nur indirekt, im Hinblick auf die gesendeten Signale und ihre Zeicheneigenschaften anvisiert. Eben deshalb haben wir schon in die Überschrift dieses Abschnitts die Begriffe Agieren und Reagieren aufgenommen, deren Inhalte anhand verschiedener musikalischer Kommunikationstypen veranschaulicht und präzisiert werden sollen. Zweitens aber gibt das Sender-Empfänger-Modell der sprachlichen Kommunikationskette, von dem Bierwisch ausgeht, generell die in Kunstprozessen auftretenden Kommunikationsstrukturen nur außerordentlich unvollkommen wieder. Sowohl auf der Senderseite kann, gerade bei Musik, aber auch im Theater und bei allen anderen komplexen Kunstgattungen, eine hochgradige Arbeitsteilung stattfinden, die Kooperation erfordert und ganz verschiedene kommunikative Teilsysteme und Substrukturen erzeugt (Komponist-Interpret, Interpretenabstimmung in Ensembles, Rolle des Dirigenten, Regisseurs usw.) wie natürlich auch auf der Rezipienten-Seite. Hier sind ja in den Künsten gewöhnlich viele Empfänger am Werke, die auf sehr unterschiedliche Weise miteinander in Wechselwirkung treten können und dabei ebenfalls kommunikative Teilsysteme mit mannigfachen Rückkopplungseffekten erzeugen. Was nun die Ansteckungswirkung anbelangt, so finden in vielen (gewiß nicht in allen) Fällen solche kommunikativen Rückkopplungen tatsächlich statt, nämlich immer dann, wenn die Rezipienten aktiv am Kunstprozeß teilhaben, wenn also aus kommunikativen Signalen (die in ihren Zeicheneigenschaften angemessen decodiert wurden) Handlungen hervorgehen. Liegt in der Ansteckungswirkung musikalischer und anderer nichtverbaler Prozesse noch ein weites Feld für wissenschaftlich-differenzierende Untersuchungen, so gewiß auch in einer anderen (übrigens traditionsreichen) von Bierwisch aufgegriffenen und sehr stark be148
festigten These, daß es nämlich bei Musik, bei der von ihm als gestische Form bezeichneten Bedeutung musikalischer Zeichen, um die Codierung emotionaler Strukturen gehe, und zwar ausschließlich. Das war der Tenor der bürgerlichen Gefühlsästhetik im 18. und 19. Jahrhundert (Musik als „Sprache der Gefühle") und könnte, verkürzt interpretiert, zu Mißverständnissen Anlaß geben. Wie lassen sie sich vermeiden? Daß die Codierung emotionaler Aspekte, gerade in Musik, aber auch in anderen Künsten, die ja nicht zuletzt die Erfahrungen, Befindlichkeiten, Stimmungen von Subjekten ausdrücken und übermitteln, wichtig ist, steht außer Zweifel. Kaum ein Musikwissenschaftler oder Musikethnologe wird ihren zentralen Platz in musikalischen Aktivitäten aller Art leugnen wollen. Wie aber läßt sich dennoch verdeutlichen, daß „kognitiv vermittelte Umweltbezüge"28 - auch als direkte Bezugsebene für musikalische Bedeutungsbildung - keineswegs fehlen? Musik und Künste generell unter kommunikations- und zeichentheoretischen Aspekten zu betrachten, heißt: mehrere Ebenen oder Stufen des ,Verstehens' auseinanderhalten. Viel Verwirrung in der semiotischen Literatur, jedenfalls über Musik, rührt daher, daß dies nicht ausreichend beachtet wird. Vor allem ist in nichtverbalen ästhetischen Kommunikationsprozessen - im Unterschied zur Dichtung, die auf dem vorgeformten Sprachfundus aufbaut - die primäre Bedeutungsebene durchaus keine sicher funktionierende Grundlage. Die in der Musik - als strukturierte Zeit - direkt liegenden spezifischen Möglichkeiten der Bedeutungsbildung - nämlich durch musikalische Zeitgestalten Bewegungsformen der Materie nachzuzeichnen, Zustände, Beziehungen und deren Veränderungen vorzuführen - sind unter den bedeutungsbildenden Mitteln der menschlichen Ausdruckssysteme absolut einmalig. Aber sie sind natürlich in verschiedener Hinsicht auch begrenzt. Musik verschwistert sich daher nicht ohne Grund so häufig mit Texten und außermusikalischen Handlungsabläufen. Eine (durchaus noch provisorische) Unterscheidung zwischen expliziten musikalischen Zeichen, zeichenbegleitenden und zeichenähnlichen musikalischen Strukturen29 versucht dem insofern Rechnung zu tragen, als sie nicht nur verschiedene (auch in ethnologischer Sicht zu beachtende) Typen von Bedeutungsbildung in der Musik berücksichtigt, einschließlich der ganz unterschiedlichen Bedingungsgefüge, in denen sich diese Bedeutungsarten realisieren (von materiellen 149
Lebens- und Arbeitsvorgängen bis hin zu den relativ autonomen Prozessen im musikalischen Kunstwerk), sondern auch die für ästhetisch? Kommunikation wichtigen bedeutungsbildenden Potenzen von Kunstwerken ins Auge faßt (hier: musikalische Strukturen, die Möglichkeiten für künftige Bedeutungsbildung anbieten, die als potentielle Zeichenträger in Betracht kommen). Von einem expliziten musikalischen Zeichen darf man erwarten: erstens, daß es mit hinreichender Deutlichkeit in Erscheinung tritt (Rauschabstand, Abgehobensein von einem nichtmusikalischen oder musikalischen Hintergrund'), und zweitens, daß über seine Bedeutung innerhalb einer gegebenen Tradition ein intersubjektiver Konsensus besteht (oder zumindest jederzeit herstellbar ist), unabhängig davon, ob die jeweilige Bedeutung erlernt werden muß (wie bei der Instrumentensymbolik), oder ob sie aus der musikalischen Struktur ihrer charakteristischen Formung - direkt erschlossen werden kann (wie bei den zeigenden und anzeigenden Zeichen, die auf Erfahrungen mit inneren und äußeren Zuständen, Beziehungen und Prozessen verschiedener Art verweisen). Wie die einzelnen Zeichenbedeutungen zur Mitteilung des Ganzen und damit zu ästhetischen Aneignungsvorgängen beitragen, ist eine zweite Frage, die wir im Augenblick noch vernachlässigen wollen. Die zuletztgenannten - durch Ähnlichkeitsrelationen oder Kausalzusammenhänge motivierten - ikonischen und indexikalischen Arten der Bedeutungsbildung bedürfen, weil für Musik grundlegend, am dringendsten der genaueren Untersuchung und Ausarbeitung. Manfred Bierwisch in dem genannten Artikel (1979) und dann auch Christian Kaden (1984) haben dafür schon eine tragfähige Ausgangsbasis entworfen. Noch einige Anmerkungen zu den als zeichenbegleitend und zeichenähnlich bezeichneten musikalischen Strukturen. Hier sind nach unserer Auffassung die für die expliziten Zeichen erforderlichen objektiven Voraussetzungen, die den Zusammenhang und Zusammenhalt zwischen Zeichen und Bedeutung sichern (also die Ähnlichkeitsrelationen und Kausalzusammenhänge bei den motivierten Zeichen, die konventionellen Vereinbarungen bei den Symbolen und Signalen), nicht (bzw. noch nicht) oder nur so vage gegeben, daß sie nicht wirksam werden können, was ihrer Überformung oder auch Verdrängung durch andere Bedeutungssysteme (z. B. sprachliche Texte) Vorschub leistet. Das letztere ist bei den zeichenbegleitenden musikalischen Strukturen der Fall, die übrigens - wie die expliziten Zeichen - in sehr alten 150
Musikschichten wurzeln. Besonders auffällig treten zeichenbegleitende Strukturen in den weltweit verbreiteten rezitativischen und anderen absolut sprachdominanten Vokalgattungen in Erscheinung, vor allem den nichtmotivischen, streng syllabischen und stichischen Formen (vom kirchlichen Accentus, der in der mittelalterlichen Musiktheorie deshalb auch nicht als „musikalische" Gattung klassifiziert wurde, über bestimmte Formen des Kult- und Epengesanges bis hin zu entsprechenden Kinder- und Brauchtumsgesängen). Die semantische Informationsübermittlung verläuft hier primär über den Wortsinn und Handlungsinhalt; die Musik ist mehr Vortragsweise als Vertragsgegenstand. Ihre zeitliche Dauer und Form ist teilweise oder vollständig von außermusikalischen Faktoren bestimmt. Sogar die Schlußbildung erfolgt manchmal (z. B. in Kinder- oder Brauchtumsgesängen) nicht musikalisch, sondern durch Handlungselemente oder gerufene Wörter. Zugespitzt könnte man sagen, daß es sich im Grunde um sprachliche Vorgänge handelt: Lediglich die prosodischen Merkmale der phonologischen Sprachschicht (Silbendauer, Tonhöhe und Akzentgebung) einschließlich der konfigurativen Merkmale Gliederung und Intonationsverlauf - in Worten und Sätzen (die sogenannten kulminativen und demarkativen Merkmale im Sinne Roman Jakobsons)30 werden durch musikalische ersetzt, verstärkt, verändert - je nachdem. Aber das trifft die Sache nicht ganz, denn durch die Musikalisierung und Stilisierung dieser Sprachschichten wird etwas anderes als gesprochene Sprache erzeugt. Ist in den zeichenbegleitenden Strukturen die „gestische Form" der Musik wenig entwickelt, sind ihre Eigenqualitäten hier zurückgenommen und anderen Bedeutungssystemen (Textverlauf, Spieloder Brauchhandlung) untergeordnet, so trifft das für zeichenähnliche Strukturen nicht zu. Im Gegenteil: Sie zeigen gerade eine auffälligprägnante Gestalt, einen sehr ausgeprägten Gestus, der sich von weniger einprägsamen Teilen des musikalischen Zusammenhangs abhebt. Nur ist nicht ausgemacht, worauf sich dieser Gestus bezieht. Es gibt (noch) keine intersubjektiv gültige Interpretation seiner Bedeutung. Gleichwohl können solche Gestalten erkannt und wiedererkannt, gespeichert und angeeignet werden, allein aufgrund ihrer musikalischen Identifikation, die durch die Kenntnis der oben skizzierten (kulturell unterschiedlichen) Musiksysteme, ihre Materialordnungen und Regeln gewährleistet wird. Für alle hier benannten Gruppen oder Teilklassen musikalischer Strukturen - seien sie explizite Zeichen verschiedenen Typs, zeichen151
begleitende oder zeichenähnliche Gebilde - gilt das, was oben bereits angedeutet wurde: Die Grenzen zwischen ihnen sind keineswegs stabil, sondern in bestimmten Richtungen durchlässig. Durch historisch-kulturelle Entwicklungen, Veränderungen der gesellschaftlichen Bedingungen, der allgemeinen Kommunikationsumstände und individuellen Wahrnehmungssituation, können musikalische Strukturen (mit gewissen Einschränkungen) von einer Gruppe oder Teilgruppe in eine andere überführt werden. Beispielsweise können Indizes zu „abgelösten Symptomen" und zu ikonischen Zeichen, diese zu Symbolen werden; ebenso können Symbole oder auch Signale ihren semantischen Inhalt einbüßen und fortan wie andere zeichenähnliche Gestalten perzipiert werden, und umgekehrt können zeichenähnliche oder zeichenbegleitende Strukturen Bedeutungsgehalt gewinnen. Halten wir vorläufig fest, daß der Nachweis unterschiedlicher Zeichenarten in der Musik und die bisherigen Ansätze zur Kennzeichnung ihres Funktionierens in kommunikativen Aneignungsvorgängen noch keine semiotische Beschreibung von Musik darstellen, sondern lediglich deren Voraussetzungen bilden. Was Musik insgesamt - vor allem dank ihrer Fähigkeit zur ikonischen Nachzeichnung von auditiv, visuell, taktil oder affektiv erfaßbaren Phänomenen der Realität - zeigen und was durch sie aktiv mitvollzogen oder reaktiv nachvollzogen werden kann, läßt sich vorderhand nur sehr allgemein formulieren, und wie das im einzelnen geschieht, ist noch weitgehend ungeklärt, obwohl es in realen Kommunikationsprozessen immer wieder funktioniert. Wenn wir oben von „Bewegungsformen der Materie", von „Zuständen, Beziehungen und deren Veränderungen" als den durch Musik direkt zeigbaren und nachvollziehbaren Realitätsaspekten sprachen, so war das mit Absicht allgemein formuliert, aber durchaus nicht vage gemeint, sondern bestimmt in dem Sinne, daß jede Art von Beziehimg, von Zustand und Zustandsänderung, und jede Bewegungsform von Materie, also auch die höchstentwickelten - biotische und organismische, bewußtseinsmäßige, gesellschaftliche - im Prinzip in den Bedeutungszusammenhang einer musikalischen „Botschaft", die aneignend verstanden' werden soll, eingehen können. Um welchen Bereich es in einem konkreten Werk oder in einem bestimmten Werkabschnitt geht, kann nur durch einen der Partner der Musik, z. B. mit sprachlichen Mitteln, verdeutlicht werden. Andernfalls bleibt die Botschaft mehrdeutig. Jedoch scheint unstrittig, daß die qualitativ-zuständlichen, relationalen und prozessualen Realitäts152
aspekte durch die musikspezifischen Ausdrucksmittel und syntaktischen Techniken sehr viel genauer und direkter vorgeführt werden können, als dies mit sprachlichen Sätzen möglich ist. Auf diese Weise kann Musik - obzwar zu begrifflicher Aussage nicht befähigt - doch eine Art unmittelbar wirkenden „Inbegriff" des Gezeigten vermitteln, der in kommunikativen Aneignungsprozessen „durchschlägt", auch wenn Einzelheiten nicht erfaßt oder sogar fehlinterpretiert wurden.
Grundtypen und Beispiele musikalischer Kommunikation Generell sind bei kommunikativen Prozessen zwei Grundaspekte zu beachten: 1. die Struktur der übermittelten Information, einschließlich der Art des Übertragungskanals, der Codierungsform und der angesprochenen Sinnesmodalität, und 2. die Strukturebene und innere Struktur des kommunikativen Prozesses selbst, d. h., der Aufbau einer konkreten „Kommunikationskette", eines kommunikativen Systems: Art, Anzahl, Aktivitätsgrad der beteiligten Kommunikationspartner, Hauptrichtungen des Informationsflusses, Rückkopplungsstrukturen usw.31 „Strukturebene" meint auch die verschiedenen gesellschaftlichen Kommunikationsebenen, da Kommunikation als gesamtgesellschaftliches Phänomen ebenso existiert, wie als - mehr oder weniger institutionalisierte - Erscheinungsform gesellschaftlicher Teilgruppen, oder eben als Erscheinung zwischen Individuen; außerdem gibt es auch - gerade aus musikalischer Sicht nicht zu vergessen - eine Kommunikation zwischen Mensch und Her, ohne die Hirtenwesen und Viehzucht, sowie einige andere Formen der Einbeziehung von Tieren in die menschliche Gesellschaft (Haustiere, Tierdressur, Zirkus usw.) undenkbar sind. Im Bereich der Künste ist die systematische Durchleuchtung der verschiedenen Strukturebenen, obwohl für das Verstehen von Kunstpozessen wichtig, bisher kaum in Angriff genommen. Versuchen wir also aus der Sicht der Musik einige Bausteine zusammenzutragen. Dabei gehen wir davon aus, daß die verschiedenen Strukturebenen die Art und Weise, wie die übermittelten Informationen zur Kenntnis genommen, rezipiert, angeeignet werden, beeinflussen. Um der Vielfalt konkreter Formen musikalischer Kommunikation, wie sie sich historisch entwickelt haben und uns heute begegnen, einigermaßen gerecht zu werden, und eingedenk der Tatsache, daß hierbei nicht nur verschiedene Übertragungs- und Perzeptions-
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modalitäten (akustisch-auditiv, optisch-visuell, mechanisch-taktil), nichtverbale und verbale Komponenten, zeigende und aussagende Kommunikationsanteile, ästhetisches und nichtästhetisches Verhalten im Spiel sein können, sondern daß auch ganz verschiedene Kommunikationsumstände (pragmatische Gegebenheiten) diese Formen prägen oder geprägt haben, ist es erforderlich, einige Unterscheidungen zu treffen. 32 Sie bestehen zunächst darin, daß wir grundsätzlich drei (eigentlich sogar vier) Kommunikationsbereiche, die bis zu einem gewissen Grade zugleich einen historischen Differenzierungsprozeß bewußt machen, auseinanderhalten, indem wir erstens das, was man künstlerisch-ästhetische Kommunikation im engeren Sinne nennen kann (und was in etwa der Literatur als künstlerisch geformter Sprache entspricht), also Kommunikationsformen des konzerthaften Typs, die mit Musikwerken, mit der sogenannten Kunstmusik umgehen, abtrennen einerseits von der musikalischen Alltagskommunikation (musikalische Äußerungen verschiedener Art in alltäglichen materiellen Arbeitsund Lebensprozessen, beiläufiges Musikhören im Alltag usw.), andererseits aber auch von den zeremoniellen Kommunikationsformen (ritualisierte Kommunikationshandlungen mit „Überbaucharakter", wie sie in magischen, mimetischen, kultischen, kirchlichen, rechtlichen, politischen, brauchtümlichen und anderen zeremoniellen Kontexten vorkommen), weil diese in Musik (übrigens von Anfang an) eine sehr wichtige, aber durchaus eigenwertige Rolle spielen (Musik in „dienender Funktion", außermusikalischen Konzepten untergeordnet), die besser nicht mit Kommunikationsformen des konzerthaften Typs (in denen Musik um ihrer selbst willen gemacht und rezipiert wird) in einen Topf geworfen werden. Als vierter Bereich ist die musikkritisch-wissenschaftliche Kommunikation zu nennen, die an den anderen Kommunikationsformen teilhat, um über sie etwas auszusagen, z. B. in einer Rezension, aber auch eigene Kommunikationsstrukturen entwickelt: mit Gewährspersonen, Komponisten, Interpreten, Hörern, Notentexten oder klingenden Speicherformen (Tonträgern), um verbale Interpretationen, z. B. für ein Konzertprogramm oder eine Schallplatteneinführung, wissenschaftliche Analysen, Transkriptionen schriftloser Musiktraditionen usw. zu ermöglichen, und die darüber hinaus spezielle Formen metasprachlicher wissenschaftlicher Kommunikation ausbildet. Während mit der Unterscheidung der eben skizzierten Kommunikationsbereiche mehr die gesellschaftlichen Strukturebenen, die
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äußeren Kommunikationsbedingungen und Formen benannt werden, aus denen sich bestimmte inhaltliche und funktionelle Eigenschaften ergeben, zielt ein zweiter typologisch unterscheidender Zugriff mehr auf die Kommunikationsteilnehmer ab, auf ihre Anzahl, ihren raumzeitlichen Abstand, ihr Verhältnis zueinander, ihren Vertrautheits- und Aktivitätsgrad, d. h., die Art und Weise, wie sie sich am Kommunikationsprozeß beteiligen. Unterscheiden lassen sich hier, neben dem Sonderfall der Autokommunikation (der in Musik eine nicht unwichtige Rolle spielt, schon weil Übung hier den Meister macht), folgende Formen des Zusammenwirkens: erstens spezielle aktivpartnerschaftliche Kommunikationsformen sowohl im Nah- und Kontaktfeld wie im Distanzfeld, zweitens Formen interaktiver Gruppenkommunikation mit einer stets begrenzten, überschaubaren Anzahl von Teilnehmern, die eine räumlich mehr oder weniger distante, zeitlich aber stets kohärente Gemeinschaft bilden, sowie drittens die verschiedenen Formen der Darbietungskommunikation im Distanzfeld, die eine nicht begrenzte Teilnehmerzahl umfassen und vollkommen anonym sein können (Stichwort: Massenkommmunikation) und die im Zeitalter der technischen Medien auch der Gleichzeitigkeit von Sendung und Empfang nicht bedürfen (z. B. beim Schallplatten- oder Radiohören). Da die technischen Medien nicht nur die Kommunikationsstrukturen verändern („latente" Informationsübertragung statt aktueller, verstärkte Nutzung deponierter Signale), sondern auch den Produktionsbereich direkt beeinflussen, z. B. elektronische Musik hervorbringen, wurde hierfür der Begriff Übertragungsmusik vorgeschlagen;33 man könnte solche Übertragungskommunikation auch „technisch vermittelte Kommunikation" nennen, da Übertragungsvorgänge für jede Kommunikation konstitutiv sind. Kommunikationsstrukturen als Raum-Zeit-Systeme betrachtet eröffnen eine Fülle fruchbarer Aspekte, die hier nicht einmal aufgezählt werden können. Nur einige Probleme seien herausgegriffen, die für die benannten Grundtypen musikalischer Kommunikation und die späteren Beispiele von Bedeutung.sind. Zunächst muß festgehalten werden, daß ein Begriff wie Distanzfeld, der für musikalische Kommunikation besonders Gewicht hat, sowohl räumliche wie zeitliche Distanz ausdrücken, oder auch beides umfassen kann. So wird der oben beschriebene Primer-Effekt, die Ansteckungswirkung, oft im kommunikativen Nahfeld erzeugt, seine Auswirkungen aber liegen im zeitlichen Distanzfeld. Und die durch Medien übertragene, technisch vermittelte Kommunikation findet 155
überwiegend im raumzeitlichen Distanzfeld statt. Wenngleich das räumliche Distanzfeld der Ort ist, an dem akustische (musikalische, sprachliche) und auch visuelle Kommunikationen hauptsächlich ausgetragen werden, sind, gerade für Musik, Übergänge zum Nah- und Kontaktfeld (taktile Kommunikation) wichtig. Art und Formung akustischer Signale und musikalischer Parameter sind von raum-zeitlichen Ereignisfeldern in verschiedener Hinsicht abhängig. Im Kontaktfeld z. B. bilden sich spezifische Kontaktlaute („Stimmfühlungslaute") aus, die auf größere Entfernung nicht wahrnehmbar sind (z. T. gingen sie möglicherweise aus vibratorischen und rhythmischen Bewegungen hervor, die taktil übertragen wurden und der Stabilisierung des Kontaktverhältnisses dienten). Insgesamt ist das Kontaktfeld hochgradig determiniert, ein Feld mit geringer Ungewißheit, in dem sich kommunikatives Verhalten wenig entwickelt. Im Nahfeld werden stärkere Laute benutzt, Differenzierung der akustischen Signale findet statt, weil die Interaktionsmöglichkeiten zunehmen, die Ungewißheit ist noch relativ begrenzt, aber die Variablen wachsen an. Mit dem Übergang vom Nah- zum Distanzfeld, mit der Vergrößerung des Abstands nimmt schon bei einfachen akustischen und musikalischen Strukturen die Wahrscheinlichkeit des Auftretens großer Intervalle zwischen den Lautelementen zu, also größere Frequenzunterschiede/Tonhöhenabstände, größere Lautstärkeunterschiede, Erhöhung der Kontrastbildung überhaupt, um die Wahrscheinlichkeit der Wirkimg auf den weiter entfernten oder überhaupt noch nicht sichtbaren potentiellen Empfänger zu erhöhen, also insgesamt andere Arten der Musterbildung als im Nah- und Kontaktfeld und Zunahme der Prägnanz der Signale oder Gestaltbildungen. Im Distanzfeld herrscht extreme Ungewißheit, eine größere Streubreite und Vielfalt kommunikativer Elemente, natürlich auch generell eine größere Lautstärke. Klangwerkzeuge tragen dazu bei, diese Tendenzen zu unterstützen, indem sie z. B. die Reichweite und Intensität der menschlichen Stimme übertreffen und eine größere Vielfalt klanglicher Möglichkeiten bereitstellen. Doch heißt das keineswegs, daß sie nicht auch in der Nahfeldkommunikation genutzt werden, etwa bei der Erzeugung und Synchronisation emotionaler Gruppenzustände, die vor allem durch Rhythmusinstrumente günstig beeinflußt werden. Die innere Struktur der Gruppe stabilisiert sich durch gemeinsames Tun, Singen, rhythmische Bewegungen, Händeklatschen usw., und wichtigstes Ziel dieser Art interaktiver Gruppenkommunikation ist die 156
Erzeugung gemeinsamer Zustände, weil es für den Zusammenhalt der Gruppe positiv ist, sich zur gleichen Zeit im selben Status zu befinden. Gemeinsame Zustände dieser Art bilden ein eigenes Wertsystem, ermöglichen intensive Erfahrung, um nicht zu sagen Aneignung sozialer Beziehungen. Für die vom Nahfeld ausgehende interaktive Gruppenkommunikation haben wir eine stets begrenzte, überschaubare Teilnehmerzahl als Merkmal angegeben, die eine räumlich mehr oder weniger distante, zeitlich aber kohärente Gemeinschaft bilden. Obwohl vom raumzeitlichen Nahfeld geprägt, werden die Grenzen nach beiden Seiten leicht überschritten, sowohl zum räumlichen Distanzfeld wie zum Kontaktfeld, denn auch taktile Elemente sind diesem Kommunikationstyp nicht fremd. Charakteristisch sind hin- und herfließende Informationsströme und wechselnde Aktivitätsdominanzen. Sie werden in der Musik hörbar, vor allem aber im Verhalten der Beteiligten optisch sichtbar, nicht nur in den historisch älteren, schriftlosen, oft mit Handlungsabläufen und Tanzzeremonien verbundenen Formen, z. B. in vielen stammesgesellschaftlichen Musikpraktiken und Folkloretraditionen, im Kinderspiel usw., sondern auch in einer Disco-Veranstaltung unserer Tage oder einem beliebigen Tanzvergnügen. Wenn man in solchen Zusammenhängen von Kommunikation spricht, so sollte, neben der engeren (informationstheoretischen) Bedeutung des Begriffs, die ja etwas Richtiges trifft, auch seine allgemeine (umgangssprachliche) Bedeutung berücksichtigt werden. Gemeint ist das semantische Feld: „Verbindung herstellen", „Zusammenhang schaffen", „Anteil nehmen", „miteinander teilen", „gemeinsam machen". Vielleicht wäre es sinnvoll, für Musik neben der engeren auch diese breitere Bedeutung von Kommunikation fruchtbar zu machen, sie begrifflich wie sachlich genauer auszuarbeiten, schon um zu vermeiden, daß der informations- und zeichentheoretische Zugriff, der bei Musik doch offensichtlich nicht das gesamte Wirkungsgefüge erfassen kann, überstrapaziert wird. Aktiver Vollzug und Mitvollzug in einem ganz direkten, körperlichen Sinne sind für Musik, für ihr „Verstehen" und ihre Aneignung etwas so Grundlegendes, daß wir unseren Gegenstand verfehlen würden, wenn wir dieser Tatsache in unseren theoretischen Überlegungen nicht Rechnung trügen. Aneignung von Kunst ist immer auch soziale Aneignung und Aneignung von Sozialbeziehungen. Und sie kann in differenzierten Gesellschaften mit unterschiedlichen (z. B. bürgerlichen, ritterlichen, klerikalen) Kunstbereichen - etwa Musiziersphären des Hofes, der 157
Kirche, der städtisch-bürgerlichen Intelligenz, der Spielleute und weltlichen Sänger, der Volksmusik - zu besonderen, in Klassengesellschaften u. U. spannungsgeladenen Prozessen „intersozialer Aneignung" führen,34 wie z. B. im europäischen Mittelalter (Entstehung der Komposition, Rolle der Musica vulgaris, Umfunktionierung von Liedern, klassengebundenen Musikinstrumenten und Klangwerkzeugen im deutschen Bauernkrieg u. ä.)35, aber natürlich auch in anderen Epochen, vor allem der jüngeren Musikgeschichte. Die Forderung, Kunst nicht nur in ihrer eigenen Gegenständlichkeit, als Kunstwerk, Melodie, Musikstück, zu analysieren, sondern vor allem auch im Hinblick auf die erzeugenden, beteiligten, empfangenden Subjekte, wird seit langem erhoben, und sie hat ihre ganz besondere Berechtigung, wenn Vorgänge der Aneignung im Blickpunkt des Interesses stehen. Dabei müssen die ganz unterschiedlichen Beziehungen, die Subjekte, vermittelt durch Kunst, miteinander eingehen,'vorrangig untersucht werden. Die besondere Kategorie des Tuns, des Machens und Mitmachens, die für bestimmte Grundtypen musikalischer Kommunikation so wichtig ist und spezifische Bewertungsmuster erzeugt, scheint dafür jedenfalls geeignet. Doch sind solche Fragen keineswegs völlig geklärt. Direkte Informationsflüsse und Rückkopplungseffekte verschiedener Art, natürlich auch außerkommunikative Wirkungen, können in solchen Kommunikationsstrukturen auf schwer durchschaubare Weise ineinander verwoben sein, so daß genauere empirische Untersuchungen unerläßlich sind. Für eine soziologische Studie36 wurden im Verlauf mehrerer Monate rund 40 Tanzveranstaltungen einer Amateur-Beatformation nach einem standardisierten Schema protokolliert. Gegenstand war das Wechselverhältnis zwischen der Amateur-Band und ihrem Tanzpublikum und, in einer zweiten Studie,37 zwischen Disko-Moderatoren und dem jugendlichen Tanzpublikum von Diskotheken. Die Befunde unterscheiden sich deutlich. Ein Disco-Moderator kann nur durch Auswahl und Abfolge der Stücke (wobei er die für die jeweilige Publikumszusammensetzung günstigsten Hits herausfinden muß) sowie durch die Art und Weise der Präsentation (flüssige Sprechweise, witziger Jargon, massive Lichteffekte) beeindrucken; sein Publikum applaudiert kaum. Die Diskothek wird von den Jugendlichen mehr als Ort der Geselligkeit, des Zusammentreffens und Kennenlernens empfunden, wobei Musik eine notwendige Beigabe ist, weil man ja auch tanzen und evtl. neue Titel kennenlernen will. Ganz 158
anders bei einer Band. Die Musiker sind „live" zugegen, präsentieren „ihre Stücke" und versuchen nicht nur durch Auswahl und Abfolge der Nummern, sondern durch „gutes Spiel" im Sinne der Veranstaltung (also Intensität, Engagiertheit, evtl. spontane Improvisationen, durch Körperbewegungen und zusätzliche Lichteffekte) das Publikum zu befriedigen, zum Tanzen und „Mitgehen" zu animieren. Sie passen sich durch variables Verhalten (Zugaben, Verlängern oder Verkürzen der Runden und Pausen) der im Saale herrschenden Stimmung an. Das Publikum oder Teilgruppen der Tänzer reagieren mit Applaus, geringerer oder höherer Tanzbeteiligung (wobei sich die Geschlechter unterschiedlich verhalten, in der Regel sind die Mädchen aktiver, tanzen zusammen), auch verbalen Äußerungen, Rufen und anerkennenden Pfiffen, besonders bei Improvisationen, also mit ganz unterschiedlichen Arten der Rückkopplung. Bei der Analyse der Rock-Band ging es vor allem um die Frage, welche Musiktitel sich besonders dazu eignen, die aktive Tanzbeteiligung signifikant zu erhöhen. Da der Beobachter selbst der Band angehörte, konnte er genau das an Rückkopplungseffekten registrieren, was auch für die anderen Musiker von Belang war. Es stellte sich aber interessanterweise heraus, daß die Spieler selbst andere Vorstellungen über die Zugkraft ihrer Titel hatten als das Publikum bzw. der größere Teil des Publikums. Namentlich bei den sogenannten Anreißern rechneten sie damit, daß sie sozusagen immer funktionieren, was indes - wie die Analyse der Rückkopplungen zeigte nur für etwa die Hälfte der betreffenden Stücke zutraf; der Rest erzielte den gewünschten Effekt zur Überraschung der Musiker nicht. Offenbar hatten sie vor der Untersuchung die verschiedenen Publikumsreaktionen nicht differenziert genug beachtet, manches vielleicht überhaupt nicht bemerkt, was bei dem starken Einfluß der normbildenden, durch Rückkopplungsarmut geprägten Darbietungskommunikation vielleicht nicht verwunderlich ist. Erst aufgrund der Untersuchung, mit nunmehr geschärften Augen und Ohren, konnte die Band ihre Repertoireauswahl und damit ihre kommunikative Wirksamkeit optimieren. In den interaktiven Kommunikationsstrukturen der geschilderten Art, die überschaubare Gruppen von Menschen in gemeinsamen, als angenehm, positiv, wohltuend, vergnüglich, unterhaltsam, lustvoll erlebtem Tun miteinander verbinden, werden - wie schon Heinrich Besseler beschrieb38 - musikalische Strukturen und syntaktische Techniken ganz anders erfahren als in der Darbietungskommunika159
tion. Man kann die Stücke öder Teile davon z. B. beliebig verlängern, wiederholen, ohne daß Ermüdung oder Langeweile aufkommen. Die außerordentlich kurzen Formeln der Beat- und Rockmusik mit ihren unendlichen (musikalischen wie textlichen) Wiederholungen wirken nur für denjenigen enervierend, der ihnen mit sachfremden Erwartungsmustern begegnet. Von den „Fans", die sich - auch wenn sie nur Schallplatten hören - kommunikativ angemessen verhalten, wird dieses Übermaß an Redundanz keineswegs als störend empfunden. Was für manche andere Musikart zumindest nicht förderlich wäre (werutjgleich Wiederholungsstrukturen ein Grundprinzip der Musik darstellen), bildet hier das Fundament - wie ja bekanntlich auch in zahlreichen Gattungen und Stilen der Volksmusik. Generell müssen Wiederholungsstrukturen in Musik als bislang nicht ausreichend erforscht angesehen werden - so merkwürdig das klingen mag. Weder über ihre Ausprägungsgrade und deren Bedingungen, noch ihre jeweiligen Funktionen und Wirkungen stehen uns empirisch-systematisch zusammengetragene Informationen zur Verfügung. Analysen an Notentexten (zur statischen Konfiguration erstarrte Zeitabläufe) verdecken eher die dynamischen Aspekte, die dem nur scheinbar „Gleichen" von Wiederholungen innewohnen. Die im irreversiblen Zeitablauf sich unweigerlich ergebenden Veränderungen des „Gleichen" bedürfen ebenso der Untersuchung, wie die je nach der musikalischen Form oder Gattung ganz unterschiedliche Prädiktabilität von Wiederholung und Wiederkehr, die für die Entwicklung von Decodierungsstrategien, auf welcher Ebene auch immer, eine wichtige Voraussetzung bildet. Ein Formteil A ist „gleich" und zugleich „ungleich" A, nicht nur in der dreiteiligen Liedform ABA, sondern auch schon in einfacher Folge AAA ... (selbst wenn es wirklich eine genaue Wiederholung sein sollte, was in der musikalischen Praxis, z. B. in der mündlichen Überlieferung, oft nicht der Fall ist, weil geringe Variation schon dort auftritt, wo dies gar nicht beabsichtigt ist). Sogar „objektiv" (d. h. in diesem Falle: am Notentext, z. B. einer Transkription) betrachtet, sind die einzelnen A häufig eher AA' A" A'" usw. Und jeder, der Formanalysen gemacht hat, kennt das Problem, eine Entscheidung darüber zu treffen, von welchem Grad der Veränderung ab solch ein Strichlein hinzuzufügen ist, und von welchem Veränderungsgrad ab aus einem A ein B wird. Das gilt schon für relativ einfache Musikstrukturen, z. B. bei „Aufschaukelungsprozessen" in Ritualen, oder eben für den zuvor beschriebenen Fall der Rockmusik, und natürlich in viel höherem Maße für die aus160
gebauten Formen der Darbietungsmusik, in der sich vergleichbare Musterbildungen auch sonst anders präsentieren. Ein kurioses Beispiel mag dies verdeutlichen. Das Stück eines jungen finnischen Avantgarde-Komponisten - eine Suite für Bariton, Klavier und Schreibmaschine, aufgeführt bei einem vor einigen Jahren veranstalteten Musikfestival - beginnt mit einfachen gebrochenen Tonika-Dreiklängen in C-Dur, die sich wellenförmig über die Tastatur ausbreiten. Sofern nun Hörer aus dem Konzertprogramm wissen, daß das Werk in den Kontext der Avantgarde-Musik einzuordnen ist, müssen sie über diesen konventionellen Anfang überrascht sein. Wenn es sich aber um „konservative" Hörertypen handelt - dem Adorno'sehen Typ des „Bildungskonsumenten" nächstverwandt -, sind sie eher entzückt über das, was sie zu hören bekommen und erleben es als „schön". Doch fährt die Komposition in derselben Weise fort, und plötzlich verwandelt die Redundanz das Schöne in etwas Komisches. Wie mit einem Schlag wird das Stück zu schön, und dadurch unmittelbar folgend - lächerlich. Da die Arpeggien sich weiterhin fortsetzen, tritt ein neuerlicher Wandel der „Signifikation" ein: unaufhörlich wiederholt, verschwindet der komische Effekt und wird schließlich banal. Das heißt, die Hörer werden durch bloße mechanische Repetition der simplen musikalischen Strukturen - einfach durch das zeitliche Werden der Musik - in der Situation der Darbietungskommunikation dazu veranlaßt, drei verschiedene ästhetische Kategorien wahrzunehmen, das Schöne, das Komische und das Banale. Die Geschwindigkeit, mit der diese Signifikationen im Bewußtsein der Zuhörer wechseln, dürfte unmittelbar mit ihrer musikalischen Kompetenz korrelieren. Wo der „konservative" Hörer vielleicht zehn Wiederholungen benötigt, sind dem „Spezialisten" vier oder sogar drei genug.39 Dieses aufschlußreiche Beispiel zeigt nicht nur, wie Tarasti bemerkt, daß auch in diesem extrem einfachen Fall der Semiose-Prozeß von erheblicher Streubreite ist, sondern es zeigt zugleich die gravierenden Unterschiede zur interaktiven Gruppenkommunikation, bei der Semiose-Prozesse dieser Art gar nicht nötig sind und wohl auch nicht stattfinden. Das Erkundungsverhalten ist in der Darbietungskommunikation völlig anders ausgerichtet als beim körperlich-emotionalen (oder, wie man früher sagte, „leib-seelischen") Mitvollzug musikalischer Strukturen. Im Zeitalter des Folklorismus, des massenhaften Musik-Imports und -Exports mit „exotischen" Musikangeboten auf Festivals, Schallträgern 11
Feist
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und in den Massenmedien finden auf den verschiedensten Ebenen, auch durch den Massentourismus, Begegnungen mit Musik und Tanz fremder Kulturen statt. Dabei ist es keineswegs die Regel, daß solche Begegnungen von Hilflosigkeit und komplettem Nichtverstehen geprägt sind. Wenn das so wäre, fänden die Schallplatten und Kassetten keinen Absatz, würden die entsprechenden Sendungen nicht gehört und gesehen, und die Veranstaltungen blieben ohne Besucher. Die Begegnung mit etwas Neuem, Unbekanntem, die ja auch das Verhältnis des Hörers zur zeitgenössischen E-Musik der eigenen Kultur prägt, hat ihren eigenen Reiz, weil sie eine Herausforderang an den Perzipienten darstellt. Auch wenn die primären (kultureigenen) kommunikativen Normen und Zeichensysteme nicht oder nur unvollkommen bekannt sind, ermöglichen die nichtverbalen Künste gewisse Zugänge. Man kann, ausgerüstet mit genügend Neugier und genügend Motivation, jene zu befriedigen, zu erkunden versuchen, „worum" und „wie" es geht. Man kann „orientierendes Verhalten" entwickeln - um einen weiteren Begriff der Ethologie zu nutzen (d. h. „Suchverhalten", als erste Phase eines für die Aneignung von Kunst wichtigen Verhaltenskomplexes, dem als zweite Phase „orientiertes Verhalten" folgt oder folgen kann) - und Entschlüsselungsstrategien ausprobieren, die sich zunächst vor allem an den konkret hör- und sichtbaren Fakten ausrichten müssen, aber durch Ansammlung von zusätzlichen Informationen und bei genügend häufiger Begegnung mit denselben Stücken oder Stilen keineswegs oberflächlich bleiben muß. Was ein - allerdings fachlich versierter - Hörer und Zuschauer bei einem Rumba-Fest in Havanna über eine andere Form von musikalischtänzerischer interaktiver Gruppenkommunikation erfahren konnte, hat Kaden eindrucksvoll beschrieben.40 An diesem Beispiel wird deutlich, wie stark musikalisch-tänzerische Kommunikation - sei es im Ritual oder im Alltagskontext - das „soziale Band" (Konrad Lorenz) zu festigen vermag, wie sehr sie zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung sozialer Beziehungen beiträgt und deren Aneignung befördert. Eben deshalb erscheint die Rumba hier keineswegs als ein „archaischbeengtes Genre" (wozu Volksmusik unter den Bedingungen der Veranstaltungsformen des Folklorismus oft genug wird), sondern, wie Kaden formuliert, als eine Kunst „mit großem Gegenstand, nicht -zuletzt in ihren Symbolwerten und in ihrer Kraft der Verallgemeinerung (die vor den Tugenden absoluter Musik oder ,absoluten' Tanzes sich nicht zu verstecken braucht)". Und er beschließt seinen Erlebnis162
bericht ganz in unserem Sinne: „... besonders aber ist die Rumba eine demokratische Gattung, eine Gattung, bei der keiner allein bleibt, die Musiker und Hörer, Tänzer und Zuschauer auf der gleichen Ebene gelten läßt, eine Gattung, in der die Symmetrie des sozialen Rollentausches gerade nicht Beschneidung und Verarmung, sondern ästhetische Entfaltung bedeutet." 41 In ähnlicher Weise, wie es hier für die Arten und Formen der interaktiven Gruppenkommunikation versucht wurde, ließen sich die historisch unterschiedlichen Typen der Darbietungskommunikation verfolgen, indem z. B. nur ein Entwicklungsstrang herausgegriffen wird, wie etwa der Entfaltungsprozeß „narrativer Strukturen" in der Musik, die von der Sprache herkommen, zahlreiche sprachdominante Gattungen mit zeichenbegleitenden musikalischen Strukturen entwickeln - das Singen und Sagen des Mythos, der Geschichte, der großen Heldenepen mit ihren Nachfolgern in Balladen, Legenden und anderen Erzählliedern - , die aber ebenso in Musik selbst schon früh Fuß fassen und hier eine Fülle musikalischer Zeichenformen entwickeln, in instrumentalen „Erzählungen", vor allem der Hirtenkulturen seit der Antike, in balladesken Formen usw., bis hin zu den großen sinfonischen „Dichtungen" und Musikdramen des 19. und 20. Jahrhunderts (Liszt, Wagner, Glinka, Borodin, Smetana, Dvoräk, Sibelius und viele andere), wobei die Strukturen des Mythos42 mit musikalischen Strukturkomplexen unauflösliche Verbindungen eingehen und Musik die Gerichtetheit der subjektiven Einstellungen zum mythischen Geschehen organisiert.43 Das Moment der Darbietung ist diesen Formen von Beginn an immanent: Im Mittelpunkt steht ein von den übrigen abgehobener Spezialist, der Sänger und Erzähler, der in Tönen und Figuren erzählende kreative Musikant und spätere Komponist. Eine solche Entwicklung verfolgen, hieße jedoch, nicht nur deutlich zu machen, daß die Darbietungsform ein ebenso grundlegendes und unverzichtbares Kommunikationsmodell mit tiefen historischen Wurzeln ist wie die interaktive Gruppenkommunikation. Es hieße zugleich, die „Gretchenfrage" der nichtverbalen Kommunikationssysteme, das Funktionieren ihrer Semantik, besser zu begreifen und dadurch die noch offenen Probleme einer Semiotik der Musik (wie der Künste generell) genauer zu erkennen und formulieren zu können. Und es hieße nicht zuletzt, die in den narrativen Kommunikationsformen liegenden spezifischen Möglichkeiten der Aneignung von Realität durch Kunst, die zuallererst im Mythos sich manifestierten, tiefer auszuleuchten, da ir
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hier - nach einem Wort von Christa Wolf - „das modellhafte Nachgestalten von Grundtatsachen des Menschseins" sich ereignet. „Modellhaftes Nachgestalten von Grundtatsachen des Menschseins" kann als eines der zentralen Anliegen der Künste, „Kunst als modellbildendes System" 44 überhaupt verstanden werden. Dabei sind auch die Zusammenhänge von Kunst und Spiel im Blick, da beide - „im Verfolg ihrer Ziele zur Aneignung der Welt... fiktive Lösungen" ermöglichen das Spiel als „Quasi-Tätigkeit", die Kunst als „QuasiLeben" 45 Und natürlich sind alle Formen der interaktiven Gruppenkommunikation zugleich Modelle sozialer Beziehungen und ein Spielen mit solchen Beziehungen, eine dem Alltäglichen mehr oder weniger entrückte und doch mit dem Leben eng verbundene Ebene physisch-psychischer Aktivität. Alle der Aneignung dienenden Fähigkeiten werden in der kommunikativen Praxis erworben, in der aktuellen Kunstproduktion und Rezeption, in der aktiven Teilnahme und Mitwirkung an Kunstprozessen, wobei immer wieder Lernvorgänge gefordert sind und stattfinden, häufig in Form des spielerischen, lustbetonten Lernens. Nur auf diesem Wege kann sich eine menschliche Grundfähigkeit entwickeln, die man - in Analogie zur Sprachkompetenz (der Fähigkeit und Disposition zur Spracherlernung) - als „ästhetische Kompetenz" bezeichnen kann, eine Fähigkeit zum Erkennen sowie zur emotiven, motivierten Aneignung von Wirklichkeit durch ästhetisch formulierte Sinnstrukturen, in denen Aspekte der Realität, Weltbilder oder Elemente von Weltbildern, Wertsysteme, Auffassungen über Gut und Böse, über das, was der jeweiligen Gemeinschaft bzw. der Gesellschaft als Ganzem nützt oder schadet, eingeschmolzen sind und zum Ausdruck gebracht werden. Mit ziemlicher Sicherheit - Forschungen zur Ur- und Frühgeschichte der Künste geben dafür genügend Evidenz - ist diese Fähigkeit keine späte Frucht gesellschaftlicher Entwicklung, wie oft angenommen wird, sondern ein ganz grundlegendes menschliches Vermögen, ja einer der mitwirkenden Faktoren (neben Werkzeugherstellung, Arbeit und Sprache) an der Menschwerdung und Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, die nicht nur die Entfaltung intellektueller und technischer Fähigkeiten beinhalten, sondern auch die psychischemotionale Bewältigung der mit der „Selbstdomestikation", dem Heraustreten aus dem Tierreich verbundenen gewaltigen Wandlungsprozesse erforderten. Auch insofern ist ästhetische Kompetenz der Sprachkompetenz vergleichbar, wenngleich ihre Merkmale und Be164
dingungen noch ungenügend untersucht sind. An Fakten und Sachverhalten muß auf methodisch inspirierte Weise gezeigt werden, wie es zur Herausbildung dieser spezifischen Art von Kompetenz kam (die nicht auf Kennerschaft im engeren Sinne, auf „Kenner- und Liebhabertum" reduziert werden darf), aus welchen Wurzeln sie sich speist, was alles dazu gehört und wie sie sich im Laufe der historischgesellschaftlichen Entwicklung differenzierte. Vermutlich kann man aus heutiger Sicht - davon ausgehen, daß ästhetische Kompetenz die genaue Kenntnis wenigstens eines künstlerischen Codes zur Voraussetzung hat, daß sie z. B. auf poetischer, bildnerischer oder musikalischer Kompetenz basiert, die genutzt werden, um über die spezifischen Wirkungen der einzelnen Kunstmodalitäten und Kunstgattungen das dem Ensemble der Künste gemeinsame Anliegen - die ästhetische Aneignung der Welt - zu begreifen. Auf der anderen Seite muß man sich vor Augen halten, wie stark die noch rudimentär entwickelten Codes in der Frühzeit miteinander verwoben waren, und wie nahe solche protokünstlerischen Aktivitäten den frühen Formen des anschaulich-sensorischen Denkens standen, das mit motorischen Aktionen und motivationalen Bewertungen eng verbunden ist und als „archaisches Denken" bezeichnet wird. Darunter „fassen wir die frühesten Formen kognitiver, durch Symbole vermittelter Wechselwirkungen des Menschen mit der Natur wie mit den Sozialbeziehungen seines Daseins zusammen ..." Neben der Ritualisierung wesentlicher sozialer Ereignisse und der „Symbolbildung" sind „hohe emotionale Empfindsamkeit und affektive Ansprechbarkeit" sowie „hohe Bildhaftigkeit", „ikonische Erinnerungstreue des Gedächtnisses und der Vorstellungstätigkeit" wichtige Eigenschaften. „Archaisches Denken ist ganzheitlich, bildlich-ikonisch ... die Inhalte der Gedächtnisbildung sind ganz durch die Wahrnehmung bestimmt. Die Eindringlichkeit der Vorstellungen ist in starkem Maße von affektiven Begleiterscheinungen beeinflußt.. Z'46 Wenn man diese Kennzeichnungen liest, so könnte man glauben, es sei von Kunst die Rede, so genau stimmt das gesamte Merkmalssyndrom. Und es drängt sich der Gedanke auf, Kunst habe diese elementaren, für das Menschsein zentralen Denkeigenschaften und Denkfunktionen in sich aufgesogen, damit sie (im Prozeß der Entfaltung des Denkens, das zunehmend abstrakter wird) nicht verloren gehen. Viele Überlegungen, wie sie namentlich Juri Lotman angestellt hat, passen zu diesem Gedankengang. Hier nur eine Auswahl: „Kunstwerke folgen in ihrem Aufbau dem Prinzip der 165
ikonischen Zeichen. Daraus ergibt sich, daß die Information, die in einem Kunstwerk enthalten ist, nicht abgetrennt werden kann von der Sprache seiner Modellierung und von seiner Struktur ..." Während wissenschaftliche Modelle auf der Grundlage von Hypothesen gebildet werden, bildet der Künstler Hypothesen auf der Grundlage eines Modells: „Er modelliert ein unverständliches (oder nicht restlos verständliches) Objekt. Ein Modell dieser Art kann nicht streng determiniert sein. Es muß zwangsläufig flexibler sein", es muß Spielräume enthalten, und daher ist ein solches Modell „stets reichhaltiger ... als seine Interpretation", die immer nur approximativ sein kann. „Damit im Zusammenhang steht die Frage nach der bis heute ... nicht restlos erklärten hohen Beständigkeit künstlerischer Modelle. Daraus ergibt sich eine wesentliche Besonderheit des Kunstwerks als Modell": ,Es rekonstruiert nicht die „Sprache" des Objekts (wie das wissenschaftliche Modell), sondern die „Rede" des Objekts. „Die besondere Art ihrer Konstruktion macht die Kunst zu einem besonderen und geradezu vollkommenen Mittel der Informationsspeicherung. Kunstwerke zeichnen sich nicht nur aus durch ungewöhnliche Dichte und Ökonomie bei der Speicherung durchaus komplexer Information, sondern auch durch folgende Vorzüge: Sie können die Menge der in ihnen enthaltenen Informationen vergrößern ... Sie liefern dem Rezipienten gerade die Information, die er benötigt und die aufzunehmen er in der Lage ist. Während sich ein Kunstwerk dem Rezipienten anverwandelt, wird dieser zugleich auch dem Kunstwerk anverwandelt, indem es ihn auf Aneignung des noch nicht aufgenommenen Teils der Information vorbereitet ... Künstlerische Modelle stellen eine einzigartige Verbindung von wissenschaftlichem Modell und Spielmodell dar, weil sie gleichzeitig den Intellekt und das Verhalten organisieren".47 Kunst - so könnte man auch sagen - fügt durch ihre Art der Modellbildung, durch Kommunikations- und Aneignungsprozesse die getrennten Welten des homo sapiens, des homo faber und des homo ludens zu einer Welt zusammen und wendet sich an den ganzen Menschen.
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KAPITEL I V
Aneignung und Verkehr Kunst als eine Form des menschlichen Verkehrs
Die Theorie des Kunstprozesses repräsentiert auf ihrem gegenwärtigen Stand im wesentlichen eine strukturanalytische Betrachtungsweise: Produktion, Distribution, Austausch und Konsumtion von Kuristgegenständen werden als verschiedene Strukturglieder betrachtet, aus deren Wechselwirkung sich die Gesamtstruktur des Kunstprozesses ergibt. Aus dieser Betrachtungsweise folgt auch der Stellenwert des Begriffs der Kunstverhältnisse; ihm wird die begriffliche Integration der verschiedenen Strukturbereiche des Kunstprozesses abverlangt. In diesem Sinne hat Peter H. Feist dem Begriff der Kunstverhältnisse eine gesellschaftlich-integrative Funktion zugewiesen, um „die Dialektik von Kunstproduktion und Kunstgebrauch, vermittelt durch Distribution und Austausch" der Kunstgeschichtsschreibung zugänglich zu machen.1 „Die Kunstgeschichtsschreibung darf sich nicht mit der Betrachtung und Interpretation der Kunstwerke begnügen, wie sie uns heute meistens - aus ihren ursprünglichen funktionalen Zusammenhängen gerissen - in Museen und Ausstellungen begegnen. Sie darf sich nicht auf die Biographie und Psychologie der Künstler oder auf die immanente Stil- und Problemgeschichte einzelner künstlerischer Ströinungen beschränken. Sie muß den ganzen gesellschaftlichen Kunstprozeß, den Umgang mit der Kunst, den Kampf der Strömungen und besonders die öffentliche Resonanz auf Kunstwerke, diese wichtige Rückmeldung' an den Künstler, die sein nachfolgendes Schaffen beeinflußt, ins Blickfeld nehmen und in ihren Beziehungen zu den gesellschaftlichen Basisprozessen und dem Gesamtgefüge des ideologischen Überbaus verstehen lernen. Sie braucht die Untersuchung der Mechanismen und Instrumente gesellschaftlicher Verbreitung und Bewertung von Kunst (Ausstellungswesen, Kunsthandel, Auftragswesen, Reproduktionen usw.) und der Steuerung individueller Kunstrezeption durch Kunstkritik, ästhetische Lehrmeinungen, Preisbildung und andere Elemente des ideologischen Klimas."2 167
Als ein Vermittlungsbegriff für die gesellschaftlich-praktische Determiniertheit künstlerischer Aneignung trägt der Begriff der Kunstverhältnisse zugleich der Erkenntnis von Friedrich Engels Rechnung, daß „die Suprematie der ökonomischen Entwicklung" auch über die Künste dadurch vermittelt ist, daß sie nur „innerhalb der durch das einzelne Gebiet selbst vorgeschriebenen Bedingungen" 3 stattfindet. Kunstverhältnisse werden nicht als unspezifische soziologische Rahmenbedingungen betrachtet, sondern als kunstbezogene Aneignungsverhältnisse, unter denen sich die Eigenart des Künstlerischen historisch ausprägt und wandelt. Das Bemühen, den Begriff der Kunstverhältnisse in dieser Weise zu konkretisieren, ist unverkennbar. Namentlich zur Historisierung der Kunstverhältnisse haben verschiedene kunstwissenschaftliche Disziplinen (Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft, Kunstwissenschaft) Beachtliches geleistet. Es ist im Rahmen dieses Buches nicht möglich, die in der historisch-systematischen Erforschung von Kunstverhältnissen erzielten Ergebnisse zusammenzutragen, kritisch zu vergleichen und auszuwerten. Uns interessiert vielmehr ein spezieller Gesichtspunkt. Der Aneignungsgedanke zwingt uns, über die strukturelle Fassung des Kunstprozesses hinauszugehen und danach zu fragen, wie sich der Kunstprozeß als wirklicher Prozeß, als angeeignete Struktur erfassen läßt. Wie äußert sich die lebendige Wechselwirkung der objektiven Momente im Kunstprozeß als Wechselwirkung seiner -lebendigen Träger, der in verschiedener Weise gesellschaftlich tätigen Individuen? In diesem Zusammenhang vermag ein Gedanke von Brecht besonderes Interesse zu erregen. In der klassischen kunstsoziologischen Studie „Der Dreigroschenprozeß" schrieb Brecht 1931: „Kunst ist eine Form des menschlichen Verkehrs und damit abhängig von den den menschlichen Verkehr im allgemeinen bestimmenden Faktoren." 4 Es ist der Begriff des Verkehrs, der zu interessieren vermag, das Verständnis von Kunst als einer Form des menschlichen Verkehrs. Was leistet dieser Begriff? Er gibt zunächst einer bestimmten Erfahrung, die Brecht machen mußte, begrifflichen Ausdruck. Es war eine Erfahrung in der Auseinandersetzung mit Institutionen, die bürgerliche Kunstverhältnisse und darüber hinaus ideologische Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit verkörperten: Presse, Radio, Filmindustrie, Justiz. Brechts Erfahrung besagte, daß es notwendig war, den gesamten ideologischen Komplex der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur in seinem ideellen Ausruck, sondern „in seiner Praxis, also 168
arbeitend, in vollem Betrieb"5 zu beobachten und der Beobachtung zugänglich zu machen. Mit dem Begriff des Verkehrs hat Brecht einen Gesichtspunkt gewonnen, der es ihm erlaubt, den Kunstprozeß, der in den Kunstverhältnissen seine strukturelle Einheit findet, „in vollem Betrieb" zu untersuchen. Wenn wir Brechts Gedanken weiterverfolgen, handelt es sich also nicht darum, eine andere Bezeichnung für das Ganze des Kunstprozesses einzuführen. Der Verkehrsbegriff bezieht sich zwar auf den Kunstprozeß in seiner Ganzheit, aber unter einem besonderen Blickwinkel: es kommt darauf an, zu beschreiben, wie die Kunstverhältnisse im Verhalten der Menschen zueinander gestaltet und reproduziert werden. Der Verkehrsbegriff kann den Begriff der Kunstverhältnisse ergänzen, aber er ersetzt ihn nicht. Zu einem gesellschaftstheoretischen Begriff haben Marx und Engels den Terminus „Verkehr" in der grundlegenden geschichtsphilosophischen Schrift der vierziger Jahre „Die deutsche Ideologie" erhoben. Gegenwärtige Bemühungen, insbesondere in der Sowjetunion und in der DDR, den Verkehrsbegriff in dieser allgemeinen Bedeutung wieder aufzugreifen, gehen von einer Schlüsselstelle in der „Deutschen Ideologie" aus. Die Passage hat folgenden Wortlaut: „Die Individuen sind immer und unter allen Umständen ,von sich ausgegangen', aber da sie nicht einzig in dem Sinne waren, daß sie keine Beziehung zueinander nötig gehabt hätten, da ihre Bedürfnisse, also ihre Natur, und die Weise, sie zu befriedigen, sie aufeinander bezog (Geschlechtsverhältnisse, Austausch, Teilung der Arbeit), so mußten sie in Verhältnisse treten. Da sie ferner nicht als reine Ichs, sondern als Individuen auf einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer Produktivkräfte und Bedürfnisse in Verkehr traten, in einen Verkehr, der seinerseits wieder die Produktion und die Bedürfnisse bestimmte, so war es eben das persönliche, individuelle Verhalten der Individuen, ihr Verhalten als Individuen zueinander, das die bestehenden Verhältnisse schuf und täglich neu schafft."6 Verkehr ist durch die Vergesellschaftung der Individuen bedingt und zugleich die lebendige Form der Vergesellschaftung. Es dürfte nicht strittig sein, worauf sich in dieser Textstelle der Begriff des Verkehrs bezieht: auf den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und dem individuellen Verhalten. Beide Seiten fallen nicht in unvermittelte Extreme auseinander. Die Verhältnisse werden vielmehr durch das aktive, massenhafte, sich wiederholende gegenseitige Verhalten der Individuen geschaffen und reproduziert. Umgekehrt sind die Verhältnisse „nichts anderes als die 169
notwendigen Formen", in denen die „materielle und individuelle Tätigkeit" der Menschen „sich realisiert".7 Hatten Marx und Engels zunächst noch ganz abstrakt vom Widerspruch zwischen Produktivkräften und Verkehrsverhältnissen gesprochen, so wurde später der Terminus Verkehrsverhältnisse durch den Begriff der Produktionsverhältnisse ersetzt. Das macht den Begriff des Verkehrs aber nicht überflüssig, denn auch die Produktionsverhältnisse realisieren sich nur im Verhalten der Individuen zueinander. Daran hat der sowjetische Kommunikationspsychologe Alexej Alexejewitsch Leontjew angeknüpft; nach seiner Auffassung werden die Verhältnisse im Verkehr aktualisiert, „aus der virtuellen in die reale, ,tatsächliche' Form" überführt.8 Verkehr ist nicht nur interpersonelle Wechselwirkung. Er wird vor allem in gesellschaftlich-geschichtlich bedingten und geprägten Verkehrsformen vollzogen. Leontjew verweist darauf, daß der gesellschaftliche Verkehr, wie ihn Marx und Engels skizzieren, ein sehr differenziertes Bild bietet. Folgende Varianten des Verkehrs gehören in das Gesamtbild: materieller und geistiger Verkehr, direkter und indirekter Verkehr, beschränkter und universeller Verkehr. Auf diese Vielfalt bezogen, erscheint es als wenig zwingend, Verkehr und Kommunikation gleichzusetzen. Dazu neigt aber auch Leontjew. Da ihm die Schwierigkeiten bewußt sind, die das mit sich bringt, schlägt er vor, zwischen ideeller und materieller Kommunikation zu unterscheiden. Das ist wenigstens aus drei Gründen problematisch: Erstens wird das Spezifische von Kommunikation, Informationsaustausch und -Verarbeitung, verwischt; zweitens wird übersehen, daß Kommunikation in jedem Fall an materielle Trägerprozesse gebunden ist; drittens wird vernachlässigt, daß Zeichen eine materielle Existenzform, eine eigene sinnliche Qualität haben, die in bestimmten Kommunikationsformen, z. B. in künstlerischen, eine entscheidende Rolle spielt. Kommunikation hat immer auch eine materielle Dimension, eine rein ideelle Kommunikation ist eine Fiktion. So sinnvoll es sein mag, Kommunikation als eine Form des Verkehrs aufzufassen, so sehr wird der dadurch erreichte Erkenntnisfortschritt zunichte gemacht, läßt man am Ende Verkehr wieder in Kommunikation aufgehen. Das wäre eine Zirkeldefinition und zwingt zu fragen, was der Begriff des Verkehrs dann noch soll. Als Aktualisierung gesellschaftlicher Verhältnisse durch den tätigen sozialen Umgang der Individuen miteinander umfaßt der gesellschaftliche Verkehr ökonomische, politische, kulturelle Tätigkeiten, 170
die jeweils eine kommunikative Dimension haben. Alle Tätigkeiten sind letztlich in der einen oder anderen Weise mit Kommunikationshandlungen verknüpft, aber sie gehen darin nicht auf. Kommunikation ist Verkehr vermittelst informationeller Kopplungen - Zeichenaustausch zu verschiedenen Zwecken. Anders gelagert ist die Beziehung zwischen Verkehr und Austausch. „Austausch" wird in einem engeren und in einem weiteren Sinne gebraucht. Im engeren Sinne bezeichnet er den Warenaustausch in Gestalt des Handels „als arbeitsteilig von der Produktion getrennte Form und Tätigkeit der Zirkulation von Arbeitsprodukten durch Kauf und Verkauf".9 In dieser Hinsicht ist Austausch nur eine spezielle Form des Verkehrs, das Verhalten der Menschen zueinander, das sich über die Warenzirkulation realisiert. Im allgemeinen Sinne bezeichnet der Terminus „Austausch" nach Marx den Austausch von Tätigkeiten, der sich keinesfalls nur über den Austausch von Waren, sondern in der Arbeit selbst, im Wechselverhältnis von Arbeitsteilung und Kooperation vollzieht. Der allgemeine Austausch der Tätigkeiten und Produkte ist zur Lebensbedingung für jedes einzelne Individuum geworden. Insofern ist Austausch im allgemeinen Sinne eine Grundbedingung von Verkehr. Überblicken wir die hier zusammengetragenen Grundbestimmungen des gesellschaftlichen Verkehrs, so erscheint es als durchaus sinnvoll, den Kunstprozeß auch unter dem Gesichtspunkt des Verkehrs zu betrachten. Grundlegend ist Kunst eine Form der Aneignung der Welt durch den gesellschaftlichen Menschen. Aus der Lebensnotwendigkeit der Vergesellschaftung folgt jedoch, daß die Menschen weder die Welt noch die Kunst außerhalb jeglichen Verkehrs aneignen können. Der Verkehrsbegriff hat einen entscheidenden Vorzug: Er verhilft dazu, die lediglich additive Zusammenfassung von Produktion, Distribution, Zirkulation und Rezeption zu überwinden. Zugleich ermöglicht er, von einer strukturanalytischen zu einer sozial-funktionalen Betrachtungsweise überzugehen. Kunstverhältnisse in Aktion zu studieren, verlangt zu untersuchen, wie sie sich im tatsächlichen lebendigen Kunstverkehr entfalten. Im Kunstverkehr werden die Kunstverhältnisse durch verschiedenartige, jedoch stets aufeinander bezogene Tätigkeiten von Individuen in den verschiedenen Sphären des gesellschaftlichen Kunstprozesses aktualisiert. Zum Kunstverkehr gehören arbeitsteilige und kooperative Tätigkeiten im Prozeß der künstlerischen Produktion, vielfältige, auf verschiedenen Ebenen angesiedelte Aktivitäten der Verbreitung von Kunstwerken, Formen 171
ihrer Zirkulation und der so ermöglichte aktive Umgang der Individuen mit Kunst und über Kunst miteinander; Umgang mit Kunst schließt Zugang, Begegnung, Rezeption und Kommunikation ein. Die kollektiven Organisationsformen des Kunstverkehrs bezeichnen wir als Verkehrsformen des gesellschaftlichen Kunstprozesses; darauf bezogen, treten die Kunstverhältnisse als Verkehrsverhältnisse in Aktion. Der Künstler muß mit vorhandenen Verkehrsformen des Kunstprozesses rechnen, zugleich versucht er, diese zu beeinflussen. Eine große Rolle spielen Produktionsformen, die zugleich Verkehrsformen sind, da die Produkte nur in der Aktion existieren, die Künstler und Publikum vorübergehend zu einer Verkehrsgemeinschaft zusammenschließt: Theateraufführung, Konzert, Disko. Daran läßt sich zeigen, wie vielfältig die Formen des Kunstverkehrs sein können, sie können sich auch weit von der Kunst entfernen, müssen keineswegs in erster Linie von einem speziellen Kunstinteresse geleitet sein. Die Vielfalt des Verkehrs reicht hier vom stummen Zuschauen oder Anhören über Essen, Trinken, Rauchen, Sprechen, Umhergehen, Sehen und Gesehenwerden in der Pause bis zur eigenen Körpererfahrung im Tanz und zur Stimulierung erotischer Aktivitäten. In der DDR hat sich insbesondere Robert Weimann mit dem Kunstverkehr in programmatischen Überlegungen beschäftigt. Weimann begreift gesellschaftlichen Kunstverkehr als „gesellschaftlichen Akt wechselseitiger Urteilsbildung" 10 - also als Kommunikation über Kunst - , aber auch als „kollektive Lebensaktivität" 11 , die sich offenkundig in Kommunikation nicht erschöpft, und als „öffentliche Mitgestaltung" 12 nicht nur des Kunstlebens, sondern des gesamten gesellschaftlichen Lebens. Weimann setzt in bestimmter Hinsicht gesellschaftlichen Verkehr mit Öffentlichkeit gleich. Die für ihn entscheidende Frage lautet: „Wie können wir Öffentlichkeit als eine der sozialistischen Gesellschaft spezifische Verkehrsform genauer bestimmen und fördern helfen?" 13 Weimanns produktiver Ansatz soll hier nicht in Richtung auf die noch fehlende Theorie der Öffentlichkeit für den entwickelten Sozialismus weiterverfolgt werden. Wir wollen vielmehr versuchen, diesen Ansatz in seinen bisher ermittelten einfachen Bestimmungen in Fallstudien zu konkretisieren. Als allgemeine Verkehrsform wird Öffentlichkeit zugleich in besonderen Formen hergestellt - das gilt auch für den gesellschaftlichen Kunstverkehr, der sich in verschiedenen Verkehrsformen, die immer auch etwas mit der Gattungsspezifik von Kunstformen zu tun haben, konkret entfaltet. In diesem Sinne formuliert Weimann im Rückblick auf die VIII. Kimstausstellung der
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DDR in Dresden: „... die Galerie wurde zur Verkehrsform der Werktätigen ..," 1 4 Als Verkehrsformen lassen sich jedoch nicht nur die Organisationsformen des Kunstverkehrs begreifen. Es ist daran zu erinnern, daß Brecht nicht nur sozial- und kulturhistorisch bedingte Ausprägungsformen des gesellschaftlichen Kunstprozesses in seiner Gesamtheit, sondern Formen der Kunstproduktion im engeren Sinne als Formen des Verkehrs bezeichnet hat. Dem trägt Weimann insofern Rechnung als er zugleich vom Verkehrscharakter der Kunst spricht; dieser ist für Weimann dadurch gegeben, daß sich der künstlerische Diskurs als „Ort von produzierten Beziehungen und Bezugsstiftungen" erweist, die vom Produktions- zum Rezeptionsprozeß überleiten.15 Verallgemeinernd ließe sich der Verkehrscharakter von Kunst als allgemeiner Aspekt ihres Wirkungsvermögens bestimmen - als Anforderung und Anreiz an die Rezipienten, miteinander zu verkehren, in vielfältige lebendige Beziehungen zu treten, Wahrnehmungen, Ergebnisse, Entdeckungen, Tätigkeiten auszutauschen und, nicht zuletzt, -Geselligkeit zu kultivieren. Sofern sich Kunstformen in verschiedener Weise, in unterschiedlichen Graden durch einen immanenten Verkehrscharakter auszeichnen, lassen sich auch Kunstgattungen und -genres ihrerseits als spezifische künstlerische Verkehrsformen auffassen und untersuchen: Auch dafür geben wir einen Modellfall Verkehrsprobleme des Spielfilms, die mit filmischen Neuerungen zusammenhängen. Es ist also durchaus sinnvoll, neben Verkehrsformen des gesellschaftlichen Kunstprozesses auch spezifische künstlerische Verkehrsformen in die Betrachtung einzubeziehen, die sich aus dem immanenten Verkehrscharakter von Kunst in der Vielfalt ihrer Gattungen und Genres ergeben. Beide Aspekte hängen aufs engste zusammen. Die Verfügbarkeit und Inanspruchnahme einer Verkehrsform des Kunstprozesses ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dafür, daß Kunstwerke zu lebendiger Wirkung kommen: entscheidend ist ihr eigener, in künstlerischen Strukturen vergegenständlichter Verkehrscharakter. Eine Kunstform wird nicht nur aufgrund äußerer Bedingungen als Verkehrsform wirksam, dafür sind immer auch innere Bedingungen wesentlich, die im Gestaltungsprozeß selber liegen. Auf der anderen Seite kann der Verkehrscharakter von Kunst nicht umgesetzt werden, wenn nicht entsprechende Verkehrsformen des Kunstprozesses zur Verfügung stehen oder geschaffen werden. Der immanente Verkehrscharakter, der sich in künstlerischen Gestaltungs173
weisen und -strukturen ausprägt, hängt nicht allein von den subjektiven Intentionen des Künstlers ab, sondern unterliegt objektiven Produktions- und Rezeptionsbedingungen, die sich als sozialkulturelle Gestaltungsdeterminanten historisch verändern. Die Kunstausstellung In der Kunstausstellung, einem Instrument der Kunstverbreitung, sind Kunstaneignung und Weltaneignung durch Kunst eng miteinander verbunden. Heutzutage ist die Ausstellung ein wesentliches Element des Zugangs der Gesellschaft zur bildenden Kunst. Diese Bedeutung gewann sie seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Kunstausstellungen gelten in erster Linie dem jeweils neuesten Kunstschaffen. Retrospektive Ausstellungen sind eine später hinzugekommene, davon abgeleitete Sonderform, die allerdings immer wichtiger wurde. Verschiedene Interessen und Triebkräfte sind bei Ausstellungen im Spiel. Für Künstler, die vorwiegend Werke auf Vorrat produzieren, um sie in Konkurrenz mit anderen Künstlern einem Publikum und möglichen Käufern anzubieten, sind Ausstellungen der wesentliche Ort, um ihre Werke und um ihre schöpferische Eigenart bekanntzumachen, einen eigenen Platz in der Kunstszefie zu markieren und zu erkämpfen und damit auch künftigen Erfolgen vorzuarbeiten. Die Geschichte des Ausstellungswesens seit dem 18. Jahrhundert ist weitgehend eine Geschichte des Kampfes von Künstlern um die für sie lebensnotwendigen Ausstellungsmöglichkeiten. Die meisten Künstlervereinigungen und -gruppen wurden primär als Ausstellergemeinschaften gegründet, weil vorhandene Institutionen das Ausstellen jeweils neuer Kunst verwehrten. Von der anderen Seite her haben gesellschaftliche Kräfte ein Interesse daran, daß Kunst öffentlich gemacht wird: Potentielle Käufer wünschen, ein Angebot an Kunst zu erhalten, aus dem ausgewählt werden kann, verbunden mit der generellen Voraussetzung, über die Lage der Kunst und über künstlerische Werke informiert zu werden. Die gesellschaftlich herrschenden Kräfte wollen die künstlerische Leistungsfähigkeit der Gesellschaft prüfen bzw. vorführen und auf spezielle Weise zur Wirkung bringen. Generelle Voraussetzungen dafür sind, daß der Kunst eine Bedeutung im Leben zuerkannt wird, daß die Blüte der Kunst als Vorzug des eigenen gesellschaftlichen Systems, als Ruhmestitel der eigenen Nation oder Klasse gilt. Demzufolge wird öffentliche Kunstpflege als eine gesellschaftliche Verpflichtung bzw. 174
als Kriterium für den Grad von Kultiviertheit der Gesellschaft angesehen. Mittels Ausstellungen sind daher die Verbreitung und auch das Entstehen von Kunst zu fördern, das Bedürfnis nach Kunst zu stimulieren, die künstlerische Bildung und das Kunstverständnis zu erhöhen und zu verbreiten, also Wertvorstellungen und -maßstäbe auszubilden und gesellschaftlich durchzusetzen und zu stabilisieren. Im entwickelten Kapitalismus, wo nicht nur die Künstler, sondern vor allem die Kunsthändler am Verkauf von Kunst verdienen, spielt deren Interesse, eine bestimmte Kunst auf den Markt zu bringen und sie als eine iri jeder, vor allem aber in ökonomischer Hinsicht ,wertvolle' Kunst anerkannt zu bekommen, eine entscheidende Rolle. Heute gibt es eine Reihe grundsätzlicher Typen von Kunstausstellungen. Am häufigsten ist die Personalausstellung eines Künstlers, die meist ganz oder teilweise als Verkaufsausstellung angelegt ist. Die Gruppenausstellung kann dem gemeinsamen Auftreten einer in bestimmten Zielen übereinstimmenden Künstlergruppe, der gemeinsamen Präsentation von Künstlern einer Region oder etwa der Absolventen eines Kunsthochschuljahrgangs gelten. Daran schließen sich Bilanzausstellungen über einen bestimmten Zeitraum an, wie die Bezirksausstellungen des Verbandes Bildender Künstler der DDR und die Kunstausstellungen der DDR in Dresden. Verschiedene Auswahlprinzipien vermischen sich hier oder liegen im Streit miteinander: die juryfreie Ausstellung, die jurierte Ausstellung und die Regie-Ausstellung, bei der „Regisseure" das Gesamtbild aufgrund einer Konzeption akzentuieren oder korrigieren, indem sie weitere Werke anfordern, hinzufügen, oder ausschließen. Für die Durchsetzung einer kulturpolitischen Linie ist die Regie-Ausstellung die effektivste Form. Jede Art von Ausstellung führt viele, unabhängig voneinander entstandene Einzelwerke zusammen. (Ausstellungen, die sich auf eine geschlossene Werkserie eines Künstlers oder ein einzelnes Gemälde und die vorbereitenden Studien konzentrieren, sind sehr selten. Die im 19. Jahrhundert weit verbreitete Gepflogenheit, ein einzelnes großes Gemälde zu präsentieren und in der Regel auf eine Tournee zu schicken, ist aus der Mode gekommen.) Die Kombination vieler Werke hat Folgen. Die Ausstellung scheint zwar nichts anderes sein zu können, als die Addition von Einzelwerken, sie ist aber tatsächlich etwas eigenes, dessen Wirkung nicht allein der Summe der Teile entspricht. Gravierend ist, daß dem Besucher eine Art der Rezeption ermöglicht oder zugemutet wird, die einzigartig im Reich der Künste ist: Er kann 175
rasch, ja teilweise simultan eine größere Zahl einzelner Werke wahrnehmen. Um ganz deutlich zu werden: Eine Ausstellung mit 360 Exponaten zählt zu den mittelgroßen; es gibt viel umfangreichere. Zwei Stunden, 120 Minuten, machen schon fast das Maximum an Zeit aus, die Besucher für einen normalen, ununterbrochenen Ausstellungsrundgang aufbringen und die ihre Aufnahmefähigkeit erschöpft. Das bedeutet: Rein rechnerisch stehen genau 20 Sekunden für jedes Werk zur Verfügung. Gegenüber keiner anderen Kunstart ist eine vergleichbare Rezeptionssituation möglich. Die Kunstausstellung massiert die Begegnung mit Kunst und intensiviert sie in bestimmter Hinsicht, besonders in dem Maße, wie die Betrachtung durch die Ausstellungsgestaltung gesteuert, die Präsentation der Werke, aber ebenso auch das Verhalten der Betrachter inszeniert wird. Zum Beispiel kann eine gewisse Feierlichkeit oder aber eine betonte Nüchternheit erzeugt werden. Der Besucher kann und soll eine Gesamtvorstellung gewinnen. Das Einzelwerk wird dabei allerdings zum Teil eines Ganzen, unter Umständen zum bloßen Beispiel für eine Tendenz, eine ganze Strömung. Die Nachbarschaft von Werken bietet eine Gelegenheit zum Vergleichen, wie sie bei der Rezeption keiner anderen Art von Kunst gegeben ist. Die Ausstellung und das Museum zwingen geradezu zum vergleichenden Sehen, was sie tendenziell zu nützlichen Schulen der künstlerischen Empfindungsund Urteilsfähigkeit macht. In der Nachbarschaft können sich Kunstwerke wechselseitig erklären und steigern; sie können sich allerdings auch „erschlagen". Auf die Chancen eines Kunstwerks, sein Wirkungspotential zu entfalten, nehmen Kunstvermittler auch dadurch Einfluß, daß der Umstand, ob das Werk im Katalog abgebildet ist oder nicht, und vor allem, ob es in Ausstellungsrezensionen erwähnt wird oder nicht, eine wertende Selektion darstellt. Bei Gruppen- und Bilanzausstellungen, in denen ein Künstler vielleicht nur mit einem einzigen Werk vertreten ist, kann das für ihn von großer Bedeutung sein. Viele Künstler reagieren auf diese Situation damit, daß sie die Auffälligkeit ihrer Werke erhöhen: am ehesten durch große Formate, auch durch intensivere Farben und Formen, durch ungewöhnliche Motive und zumindest durch die Ausprägung und Wiederholung einer möglichst unverwechselbaren individuellen Gestaltungsweise. Die Ausstellung als ein Mittel der Kunstverbreitung wirkt also auch auf Eigentümlichkeiten der Kunstproduktion ein, und da sie das vornehmlich in Richtung auf die Erzielung stärkerer, eher oberflächlicher Effekte tut, ist das tendenziell kein kunstfördernder Einfluß. Hinzu 176
kommt der eigentümliche Zwiespalt zwischen dem individuellen wie gesellschaftlichen Streben nach möglichst vielen Ausstellungen und dem Verschleiß oder Qualitätsabfall, der dabei eintreten kann. Die zahlreichen Widersprüche, die im Zusammenhang mit dem Ausstellen von Kunst auftreten, lassen immer wieder nach Alternativen suchen. Es gibt jedoch keine, die die Funktionen der Ausstellung beim heutigen Umgang der Gesellschaft mit der bildenden Kunst in ausreichendem Maße ablösen könnte. Die Korrekturversuche zielen einmal darauf ab, die Kunst stärker in den Alltag zu integrieren, anstatt sie hauptsächlich unter den zeitweiligen herausgehobenen Sonderbedingungen der Ausstellung zu präsentieren; zum anderen streben sie direktere personale Beziehungen zwischen Produzent und Rezipient durch Auftragskunst an. Über das weitere Schicksal der Institution Kunstausstellung entscheidet zweifellos ihre Leistungsfähigkeit für die Erfüllung der Aneignungsfunktionen der Kunst, darin eingeschlossen ihre Rolle für die Aneignung von Kunst. Wir müssen sie also aus der Sicht der Betrachter befragen. Für ihn ist die Ausstellung von elementarer Bedeutung für seinen Zugang zur Kunst. Gewiß ist dieser Zugang ontogenetisch vorbereitet durch die Zeichenversuche des Kindes, durch das Bilderbuch, durch die Reproduktionen oder Originale an der Wohnoder Schulzimmerwand, durch die Abbildungen, die der Heranwachsende in Büchern oder Zeitschriften, im Kunstpostkartenangebot usw. findet. Wir vermögen noch nicht abzuschätzen, wie weit einmal die Fülle von Reproduktionen, die auf einem Video-disc gespeichert werden können, die Notwendigkeit und den Drang einschränken kann, in eine Ausstellung zu gehen. Bisherige Erfahrungen deuten aber darauf hin, daß die Reproduktion das Original nicht verdrängt und ersetzt hat, sondern eher die Neugier auf dieses erweckt. Entgegen der Annahme Walter Benjamins ist die Aura des einmaligen und besonderen Werks nicht außer Kraft gesetzt. Auf absehbare Zeit wird die Ausstellung die maßgebliche Form des Zugangs zur bildenden Kunst bleiben, weil sie den speziellen Reiz originärer Werke zur Wirkung bringt. Der Vorgang des Ausstellungsbesuches ist herausgehoben aus dem alltäglichen Tun. Die besondere Räumlichkeit und die „Inszenierung" des Kunstbetrachtens können dazu beitragen, daß die Kunstrezeption in der Ausstellung intensiver als anderswo geschieht. Das ist solchen Überlegungen entgegenzuhalten, die ausschließlich auf Kunst im Alltag setzen oder das Bildangebot in der Ausstellung dem Bildangebot 12
Feist
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durch andere Medien oder in der heterogenen Alltagsumwelt formal möglichst angleichen wollen. Die potentiell erhöhte Aufnahmebereitschaft der Ausstellungsbesucher läßt es darum auch gerechtfertigt erscheinen, ein Werk ausdrücklich im Hinblick auf eine Ausstellung zu schaffen, was manchmal abschätzig beurteilt wird, weil es nach Effekthascherei riecht. Allerdings kann nicht übersehen werden, daß die intensive sinnlich-geistige Aufnahme einzelner Werke nur mit einer gewissen Mühe der „zerstreuten" Betrachtung beim Rundgang durch die Angebotsfülle einer großen Ausstellung abzuringen ist. Walter Benjamin sah in der simultanen Betrachtung von Gemälden durch ein großes Publikum „ein frühes Symptom der Krise der Malerei", weil „die Malerei nicht imstande ist, den Gegenstand einer simultanen Kollektivrezeption darzubieten, wie es von jeher für die Architektur, wie es einst für das Epos zutraf, wie es heute für den Film zutrifft". Auch wenn man Bilder in Museen oder Ausstellungen vor die Massen bringe, ergäbe das keinen Weg, „auf welchem die Massen in solcher Rezeption sich selbst hätten organisieren und kontrollieren können". 16 Dies ist zu bezweifeln, weil sich die Massen historisch zu verändern begonnen haben bzw. weil das Verhältnis zwischen ihnen und der Kunst ein anderes wurde. Schon der erste Teil von Benjamins Aussage ist fragwürdig. Die simultane Kollektivrezeption von Kunstwerken in einer Ausstellung schließt nämlich etwas ein, was bei der Rezeption anderer Arten von Kunst, mit Ausnahme der Architektur, nicht möglich ist: den Meinungsaustausch, die verbale Kommunikation während des Rezeptionsvorganges. Es mag offen bleiben, wie adäquat oder notwendig das Sprechen über Bildkunstwerke ist; es findet statt, und es hat Anteil an der Rezeption. Das Kunstgespräch in der Ausstellung wird zu einer wesentlichen Funktion der Ausstellung; es bildet sich öffentliche Meinung sowohl über Kunst, als auch über die in der Kunst angeeignete Realität. Auf diese Weise organisiert die Ausstellung ihr Publikum und ist gerade darum ein Instrument der Kunstpolitik. Erst die Ausstellung und die Kommunikation in ihr verschafft der Kunst insgesamt, einer künstlerischen Strömung oder einem einzelnen Werk Anhänger oder Ablehner, wie es in dem berühmten „Salon der Zurückgewiesenen" 1863 in Paris, dessen erhitzte Atmosphäre Emile Zola in „Das Werk" überliefert hat, und bei den zahlreichen Ausstellungsskandalen seither der Fall war. Walter Benjamin hatte das unverträgliche Gegenüber von Ausstellungen einer herrschenden bürgerlichen Kunst, die ihr Publikum zu manipulieren versuchen, und von werktätigen Massen
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isolierter einzelner, die sich vor dieser Kunst nicht zu organisieren vermochten, vor Augen. Im Sozialismus ist nicht nur das Verhältnis der Kunst und der Künstler zu den Massen tendenziell verändert, sondern auch die Souveränität der Massen in ihrer Haltung zur Kunst. Bereits auf neue Weise organisiert - vor allem in Arbeitskollektiven - assoziieren sie sich auch in der Kunstdiskussion, die gesellschaftlich eine neuartige Dimension angenommen hat. Wenn zu Recht auch die bildende Kunst als ein Organ der Selbstverständigung der Gesellschaft über sich selbst und über die sie bewegenden Fragen begriffen wird, dann bilden Ausstellungen das bevorzugte Forum dieser geistigen Austauschprozesse. Das Verhalten der Betrachter in der Ausstellung wird damit zu einem Bewährungsfeld gesellschaftlicher Demokratie und zu einer Übung in erkundender und sachkundiger, prüfender, wertender und weiterverarbeitender gemeinschaftlicher Aneignung, sprich Beherrschung von Realität. Unsere Argumentation zur Wirkungsweise von Ausstellungen zielt in erster Linie darauf, daß die Besucher, die Betrachter zu einem den Kunstwerken angemessenen Verhalten gelangen. Generell bleibt die Aufgabe bestehen, immer mehr Menschen eine besondere Wertschätzung der Kunst - in ihrem eigenen Interesse - nahezulegen und für sie persönlich anziehend zu machen. Anderenfalls wären alle gesellschaftlichen Aufwendungen für Kunsterziehung unbegreiflich. Der übergeordnete Gesichtspunkt besteht jedoch darin, daß die Aneignungsleistungen der Kunst das Aneignungsverhalten der Menschen generell fördern. Rezipienten sollen die Kunst nicht „anbeten", dürfen ihr nicht unterworfen werden. Achtung vor der Kunst, die auf umfassende Freisetzung ihrer unersetzlichen eigenartigen Potentiale gerichtet ist, und ein souveränes Verhalten ihr gegenüber, das diese Potentiale in freier, individueller Entscheidung zur Persönlichkeitsentfaltung des Rezipienten aufgreift und nutzt, gilt es zu vermitteln. Faktisch, z. B. in einer Ausstellung, bedeutet dies allerdings auch das unvermittelte Neben- oder Nacheinander von „Ergriffenheit" durch ein Kunstwerk, kritischer Musterung, „spielerischer" Erprobung seiner Wirkung und geringschätziger Oberflächlichkeit oder schlichter Ignorierung durch Übersehen und Wegsehen. Dabei ist selbstverständlich zu berücksichtigen, daß Ausstellungen nicht isoliert existieren, sondern in einem Medienverbund stehen, der heute schon ein weitreichendes, aber noch beträchtlich erweiterungsfähiges System darstellt: Der Kontakt mit der Kunst in der Ausstellung wird beeinflußt und unterstützt (oder auch nicht) durch 12*
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Kunstpublikationen und Reproduktionen verschiedener Art, einschließlich des Ausstellungskataloges mit seinen erläuternden Texten, durch Kunstkritik und Kunstpropaganda in Presse, Rundfunk, Fernsehen. Die Werbung für und die Vorbereitung auf den Ausstellungsbesuch durch die veröffentlichten Einschätzungen der Kunstkritiker, ebenso wie der nachträgliche Vergleich des eigenen Urteils mit denen der Fachleute spielen eine erhebliche Rolle. Allein schon das Ausmaß der publizistischen Aktivitäten, zu dem sich die Medien entschließen, hat großen Einfluß darauf, welche Chancen die ausgestellte Kunst besitzt, zu einem Ereignis zu werden, hat Einfluß auf Erwartungen, Neugier, Bedürfnisse, auf das Zustandekommen von Ausstellungsbesuch. Im allgemeinen werden nur große Ausstellungen mit einem großen Aufwand an Publizität bedacht. Ihnen gegenüber entsteht damit ein verbreitetes Bedürfnis, die Ausstellung anzusehen, entsteht eine Konvention des Ausstellungsbesuchs. Derartige soziale Konventionen sind für das Funktionieren und die Stabilität einer künstlerischen Kultur unerläßlich. So ist es z. B. ein wertvolles Ergebnis der Kulturpolitik in der DDR, daß für ein sozial immer breiter gewordenes Publikum der Besuch der Kunstausstellungen der DDR, die etwa alle fünf Jahre in Dresden stattfinden, zu einer gewissen Konvention geworden ist. Immer mehr Menschen wollen in Abständen den neuesten Entwicklungsstand der bildenden Kunst kennenlernen und über die Kurist mitreden können. Da allerdings, wie wir sahen, die große Überblicksausstellung, die auch sehr Heterogenes präsentiert - z. B. das monumentale Werk für den öffentlichen Raum unmittelbar neben der intimen Schöpfung, die den einzelnen Kuristfreund in seinem Wohnraum erfreuen möchte -, die Gefahr einer allzu flüchtigen, zerstreuten Betrachtung in sich birgt, wird es wohl darauf ankommen, die großen Ausstellungen stärker als Bestandteile eines ganzen Systems zu begreifen, in dem ohnehin die vielen kleinen Ausstellungen, die ständig irgendwo stattfinden, die Mehrheit bilden. In kleinen Ausstellungen besteht mehr Aussicht, daß ein Werk oder das Schaffen eines Künstlers wirklich zum Erlebnis wird, daß ein tiefes Verständnis - und damit auch ein erweitertes Kunstbedürfnis - entsteht. Auch der Besuch von kleinen Ausstellungen muß also, um die Aneignungsfunktion der bildenden Kunst voll zu entfalten, zur gesellschaftlichen Konvention werden. Das setzt eine beharrliche diesbezügliche Kulturpolitik, die weitere gesellschaftliche Aufwertung des Ausstellungsbesuchs und eine kontinuierliche kunstpropagandistische Arbeit der Massenmedien voraus. 180
Theatrales Handeln als Verkehrsform Theatrale Erscheinungen in und außerhalb von festen Gebäuden, gegenwärtig oder längst vergangen, zu beschreiben und vergleichend zu werten, haben Joachim Fiebach und Rudolf Münz eine Theaterdefinition entwickelt, die die enorme Spannweite dessen ausweist, was einzubeziehen ist: „Theater bzw. Theaterkunst im weitesten Sinne liegt vor, wenn menschliches Zusammenleben und/oder der menschliche (gesellschaftliche wie individuelle) Bezug zur objektiven Realität oder zu eingebildeten Wesen und Dingen (Göttern usw.) mittels sinnlich-gegenwärtigen Verhaltens und Handelns lebender Menschen, das Figuren oder/und Dinge vorstellt, in einem fixierten Raum, während eines bestimmten Zeitablaufs und für eine bestimmte Gruppe von Menschen dargestellt werden."17 In ihren späteren Arbeiten heben sie immer wieder die Rolle der körperlichen Präsenz und ihr Verhältnis zur verbalsprachlichen Äußerung hervor; Joachim Fiebach führt in die Berliner Theaterwissenschaft den Theatralitäts-Begriff'ein.18 Als wichtiger Durchbruch erscheint die weite Fassung des Bereichs der theatral vermittelten Bedeutungen. Es gibt viele historische und gegenwärtige Handlungsabläufe, die wir mehr oder weniger metaphorisch als Theater bezeichnen, zum Beispiel Fürsteneinzüge, liturgische Handlungen, Umzüge, bestimmte Vorgänge bei Festen und Feiern, aber auch auffällige Selbstdarstellungen. Hier theatertheoretisch zu werten, könnten Kriterien benutzt werden, die zunächst den beschreibenden Vergleich gestatten, inklusive einer Charakterisierung des jeweiligen Aneignungsverhaltens. Ein ständig metaphorisch/nichtmetaphorischer Gebrauch des Begriffs Theater würde, besonders wenn ausdrücklich Grenzbereiche wie die genannten gemeint sind, Verwirrung stiften. Deshalb könnte für alle handlungsstrukturell dem Theater im engeren Sinne ähnlichen Phänomene der Begriff Theatralität/theatral stehen. Damit wäre der Sprachgebrauch der Theaterwissenschaft dem allgemeinen verlustlos anzunähern. Innerhalb eines umfassenden Theatralitätsbegriffes bedeutete Theater dann institutionalisiertes Theater, also Stadt- und Staatstheater, einschließlich Amateur- und Straßentheater. Theatralik und theatralisch bezeichneten als Sonderform von Theatralität eine aufdringliche, überzogene Spielweise im Theater oder ähnliche Auftritte im Alltag. Als Grundbestimmung für Theatralität/theatral wäre zunächst fest181
zuhalten, was 1974 als eine Besonderheit von Theater apostrophiert wird, nämlich „daß Individuen bzw. Gruppen direkt miteinander (...) kommunizieren". 19 Die Interaktion in diesem Sinne ist es, die die Bemühungen um begriffliche Klarheit überhaupt rechtfertigt. Denn im Zeitalter der audiovisuellen Medien, die neue Formen von Öffentlichkeit und Gemeinschaftlichkeit, aber auch von Vereinzelung schaffen, wird zwangsläufig der interpersonale Kontakt problematisiert. Überlegungen zur Theatralität sind so indirekt auch Uberlegungen zu den technischen Medien, deren Produktions- und Konsumtionsweisen sich fundamental von theatraler Interaktion unterscheiden, also keine solche sind. Heute nach der Spezifik von Theatralität zu fragen, heißt, diese nicht nur in der Geschichte; in der Kunst, sondern auch in Amateuraktivitäten, in der Fest- und Feiergestaltung und im Alltag als eine Form sinnlich-praktischer Lebenstätigkeit beschreiben zu wollen, die die Vermitteltheit der Umwelterfahrung punktuell unterläuft und widerspruchsvolle Gemeinschaftlichkeit schafft. Vor diesem Hintergrund läßt sich Theatralität unterschiedlich definieren, beispielsweise als spielerische Interaktion, die in jeweils konkret historischer Weise hervorgehoben wird. Doch ein solcher Satz besagt erst dann etwas, wenn er in der Erörterung seine integrativen Potenzen offenbaren kann. Sobald sich Menschen im interpersonellen Verkehr ihre Wirklichkeit aneignen, haben sie die Möglichkeit, sich in irgendeiner Weise zu exponieren, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, um dadurch den Gang der Dinge zu beeinflussen. Indem sie sich von den anderen abheben, wird ihr Tun hervorgehobenes Geschehen, Ereignis. Theatrales wäre also im Sozialprozeß hervorgehobenes Handeln, und, da es sich zwischen Akteuren und Publikum abspielt, Interaktion. Die Hervorhebung kann die verschiedensten Formen annehmen, mehrere können auch gleichzeitig vorkommen. Eine zeitliche Hervorhebung - etwa eine Jubiläumsfeier im Jahresablauf - zieht stets noch andere Formen von Hervorhebung nach sich; sie kann deshalb nicht als spezifisch für Theatralität angesehen werden. Immer geht es um die Hervorhebung von Körperbewegungen. Das kann direkt geschehen, wenn zum Beispiel ein Passant auf einer stark frequentierten Einkaufsstraße auf Händen läuft. Oder der Akteur erregt mittels seiner Stimme Aufmerksamkeit, wie es früher die Marktschreier und Quacksalber zu tun pflegten. Außerdem kann von vornherein der Ort des Auftritts die Bewegungsabläufe hervor-
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heben, etwa das Seil die des Seiltänzers oder die Bühne die des Schauspielers. Und natürlich können dingliche Attribute - außergewöhnliche Kleidungsstücke zum Beispiel - dieselbe Funktion erfüllen. Theatrales als hervorgehobenes Handeln enthält also die Bedingung einer - graduell unterschiedlichen - Trennung von Akteur und Publikum. Eine Prozession ist demnach solange keine theatrale Handlung, wie sie auf den Kreuzgang beschränkt bleibt, wo ihr die Zuschauer im allgemeinen fehlen. Trotzdem ist in ihr ein Keim von Theatralität schon angelegt, weil sich jeder Beteiligte als Akteur und Zuschauer zugleich empfinden kann, nur objektiv findet noch keine Hervorhebung statt. Jede Interaktion ist historisch konkret, weil sie an historisch konkrete Individuen gebunden ist, aber Theatralität wird historisch konkret in der Art und Weise der Hervorhebung. War im 11. Jahrhundert die erstmalige Verwendung einer Gabel durch eine byzantinische Prinzessin bei einem Gastmahl in Venedig theatral, weil dieses dingliche Attribut ihre Bewegungen in faszinierender Weise hervorhob, ohne daß man die Gabel als unbedingt zum Essen notwendig erachtete, so schwand die Theatralität eines solchen Vorgangs in den folgenden fünfhundert Jahren allmählich dahin, weil die Eßhilfe europäisches Allgemeingut wurde. Heute könnte man in einer Gaststätte dadurch einen theatralen Vorgang initiieren, daß man die Eßgeräte beiseite läßt. Die Kopplung der Finger mit dinglichen Attributen wie Kartoffeln, Heisch und Soße würde die Körperbewegungen in einer Weise hervorheben, die historisch konkret mit dem Verhaltenskanon der übrigen Gäste kollidiert. Nun gibt es aber eine ganze Reihe von Situationen im Alltag, denen Hervorhebung in irgendeiner Art eignet. Der Polizist, der auf einer Kreuzung den Verkehr regelt, ist hervorgehoben mindestens durch seine Bewegungen, durch den Ort und ferner durch die dinglichen Attribute Kleidung und Leuchtstab. Trotzdem ist sein Handeln nicht als theatral zu charakterisieren, sondern als einfache Präsentation, weil es sehr spürbare Konsequenzen haben kann. Handelt er falsch, prallen Autos aufeinander, überfahren ihn vielleicht. Die Einschränkung,welche von den hervorgehobenen Handlungsabläufen als theatral einzuschätzen wäre, hieße, es müßte nicht unbedingt konsequenzfreies, wohl aber konsequenzvermindertes Handeln vorliegen. Ißt man heutzutage in einer Gaststätte ohne Eßgeräte, so können die übrigen Gäste auf unterschiedliche Art und Weise reagie183
ren: mit Lachen, mit interessierten Seitenblicken, mit empörtem Wortwechsel - solange bleibt es beiderseits bei konsequenzvermindertem Handeln - oder sie erheben sich geschlossen und werfen den „Akteur" hinaus, dann wird die theatrale Situation sehr konsequent zum Erlöschen gebracht. (Der durch Gäste mit dem Hinauswurf beauftragte Kellner wäre nur ihr verlängerter Arm.) War im 11. Jahrhundert die Vermitteltheit der Umwelterfahrung das sensationelle Ereignis, so ist es heute ihr Gegenteil, die Unvermitteltheit von Umwelterfahrung. Spielerisches Handeln ist aus aktionspsychologischer Sicht „konsequenzvermindertes Probehandeln" 20 und damit keineswegs zweckfrei: Sein Zweck besteht in der Ausbildung von Fähigkeiten und Fertigkeiten. Nach Puchner gibt es zu Spiel kein Gegenwort. Kinderspiel (wie Tierspiel) als eine Ganzheit, als Realität und Spiel in einem, unterscheidet sich vom „Spiel" zivilisierter Erwachsener, das eine fiktionale Wirklichkeitsebene schafft. Spiel spaltet sich damit in „Spiel" und Realität. Erst dieses „Spiel" ist dann ein Komplementärbegriff zur Realität mit ihren Aspekten Arbeit, verantwortungsvolles Handeln, Ernst usw. Wiederum findet sich eine Fülle von Situationen mit einem Anteil konsequenzverminderten Probehandelns. Das reicht vom Ballspiel bis zum Rollenspiel. Doch die beiden Kinder oder Erwachsenen, die auf einer Wiese stehen und sich einen Ball zuwerfen, handeln nicht theatral, weil ihrem Handeln die Hervorhebung fehlt. Wagen sie sich mit ihrer Aktion auf einen Elefantenrücken und andere bewundern sie dabei, applaudieren, ist sie schon wieder anders zu bewerten. Theatralität als Interaktion kommt konsequenzvermindertes Probehandeln auf beiden Seiten zu, das heißt sowohl bei den Akteuren als auch beim Publikum. Bei einer Theatervorstellung steht das konsequenzverminderte Probehandeln der Schauspieler selbstverständlich im Vordergrund. Innerhalb der Interaktion ist es bedeutsamer, daß der Hamletdarsteller nicht wirklich stirbt, als daß ihm Zuschauer ob seiner Glanzleistung Blumen zuwerfen. Doch es gibt auch andere Gewichtungen. Der Anteil konsequenzverminderten Probehandelns auf Seiten des empirisch als Akteur erkennbaren Individuums kann geringer sein als der auf Seiten des sogenannten Zuschauers. Betrat ein Gladiator die Arena, so begann für ihn in der Regel ein Kampf auf Leben und Tod. Das heißt sein Handeln war determiniert nicht nur durch Spiel-Regeln, die das Wie des Kämpfens bestimmten, sondern auch durch die Aussichten, die 184
Freiheit zu erlangen, erneut antreten zu müssen oder zu sterben. Die Konsequenz ist existentiell bedeutsamer gar nicht denkbar. Wenn die Bevölkerung auf den Rängen durch Beifallsbekundungen oder Schmährufe für oder gegen Gladiatoren Stellung nahm, hatte das für die Rufer keine Folgen, ebensowenig für den Kaiser, der in Pattsituationen entschied - stets auf die Volksmeinung Rücksicht nehmend - und im übrigen schon bei der Zusammenstellung der Paare, bei der Auswahl der Waffen und der liere sowie bei der Festlegung der Reihenfolge eingegriffen hatte. Der Anteil konsequenzverminderten Probehandelns seinerseits war größer als der des Publikums, während er bei den eigentlichen Akteuren nahezu fehlte. Es handelt sich hier nicht um eine schöpferische Aktivität des Publikums, wie sie Boal anstrebt oder wie sie Wekwerth („Der primäre Spieler im Theater ist nicht der Schauspieler, sondern der Zuschauer.") 21 einmal postulierte. Ersterer beläßt gerade den Hauptanteil konsequenzverminderten Probehandelns auf der Seite der Schauspieler - bzw. der Laien, die anstatt ihrer agieren - 2 1 und letzterer überbewertet das Denk-Spiel der Zuschauer samt seiner gesellschaftlichen Konsequenzen. Wenn konsequenzvermindertes Probehandeln auch unschöpferisch sein kann, knechtend, dann gilt das auch für Theatralität allgemein. Man kann also den Begriff Theatralität nicht von vornherein als positiv wertend benutzen, sondern muß immer eine Wertung des Tätigkeitsmoments vornehmen. Während konsequenzvermindertes Probehandeln in einer Theatervorstellung beiden Seiten eignet, die Initiative aber stets bei den Schauspielern liegt, deren Ent-äußerungen das eigentliche Spiel für die Zuschauer ausmachen (die Einbeziehung ihres Denk-Spiels, das sie ja unabhängig von der Vorstellung immer und überall ausführen können, würde vom hier untersuchten Tätigkeitsaspekt wegführen), wird es dem Gladiator „geraubt". Der Einsatz aller körperlichen und geistigen Kräfte dient ihm zur Erhaltung seines Lebens. „Spiel" ist da kaum im Spiel. Hier neigt sich Theatralität einem Extremwert zu, in dem sie verschwindet, aufgehoben wird: Er ist gegeben zum Beispiel im öffentlichen Hinrichtungsritual, das Foucault für das 17. und 18. Jahrhundert beschreibt.23 Die Dominanzverschiebung des Hauptanteils konsequenzverminderten Probehandelns ist aber nicht nur auf Fälle beschränkt, die einen tödlichen Ausgang nehmen können. Erkennbar wird noch eine andere Richtung des Zurücktretens des Tätigkeitsmoments, nämlich 185
die Tendenz der Erstarrung im lebenden Bild: In der Beziehung Modell - Maler erlischt das Tätigkeitsmoment im Sinne von Interaktion und damit jede Theatralität, obwohl der Zuschauende im Sinne von konsequenzvermindertem Probehandeln agiert; das Modell präsentiert sich. So ist auch eine Ausstellung eine Präsentation von Bildern, zu denen man nicht im hier gebrauchten Sinn in Interaktion tritt; aber eine Ausstellung ist auch ein hervorgehobener Raum, in dem man die Bilder oder Gegenstände zum Anlaß nehmend - eventuell zu anderen Menschen in eine theatrale Beziehung treten kann, wenn man sich entsprechend verhält. Mit diesen Beispielen soll nur angedeutet werden, daß erstens nicht alle hervorgehobenen Vorgänge theatral sind, genausowenig alle, in denen konsequenzvermindertes Probehandeln zu verzeichnen ist, zweitens in der Beschreibung des theatralen Vorgangs darauf geachtet werden kann, auf welcher Seite der Hauptanteil dieses konsequenzverminderten Probehandelns zu bemerken ist, und drittens, daß es Extrempunkte gibt - den Tod oder die Ruhigstellung der einen Seite -, in denen Theatralität aufgehoben wird. Damit sollte gezeigt werden, daß dieser zweifelsohne weite Begriff nicht uferlos ist. Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein der Merkmale Hervorhebung und konsequenzvermindertes Probehandeln in den verschiedensten Vorgängen läßt sich ermitteln, außerdem kann eine graduelle Unterschiedlichkeit und die Historizität des Vorgangs beschrieben werden. Da es sich um eine Kommunikationsbeziehung handelt, muß hinzugefügt werden, welche Bedeutungen jeweils in welcher Richtung körpergebunden übermittelt werden, doch das erscheint gegenüber einer strukturellen Analyse als die geringere Schwierigkeit. Der Versuch, Theatralität als konkret historisch hervorgehobene spielerische Interaktion zu begreifen, ist sicher nur einer unter anderen, aber er könnte dazu beitragen, begrifflicher Konfusion gegenzusteuern und sozial-kommunikative Vorgänge einer genaueren, auswählend vergleichenden Beschreibung und Bewertung zuzuführen. Theater, Film und Fernsehen stimulieren praktisch-geistiges Aneignungsverhalten. Es ist allgemein bekannt, daß Denk- und Verhaltensmuster aller Couleur aus medialen wie theatralen Handlungsabläufen übernommen, das heißt der eigenen Persönlichkeitsstruktur anverwandelt werden. Doch diese Muster oder Details können niemals abgelöst von ihrer Vermittlungsebene rezipiert werden - und an dieser Stelle muß man zwischen Theater und technischen Medien differenzieren. 186
Der Unterschied zwischen Theater einerseits und Film und Fernsehen andererseits läßt sich schon aus dem Erscheinungsbild ablesen: Theater ist geprägt durch unmittelbare Interaktion, während bei Film und Fernsehen ein Medium dazwischentritt. Wenn man das Moment der „Darstellung" auf Seiten der Akteure als übergreifendes Phänomen in den Mittelpunkt rückt, bleibt der Gegensatz in der Rezeption unterbelichtet. Theater ist nämlich nicht Darstellung, sondern ein spezifisches Verhältnis zwischen Akteur und Zuschauer. Audiovisuelle Medien hingegen bestimmen sich aus dem Verhältnis zwischen dem Repräsentierten (was ehemals auch ein theatraler Vorgang gewesen sein kann) und dem Repräsentationsmedium. Innerhalb dieses Verhältnisses geschehen alle notwendigen Wechselwirkungen, die den Charakter und die Qualität des hergestellten Produktes ausmachen. Der potentielle Zuschauer, ohne den sich die Kosten und der Arbeitsaufwand nicht rentierten, hat darauf keinen unmittelbaren Einfluß mehr, während Theater ohne seine aktuelle Anwesenheit gar nicht existierte. Der technische Zugriff, der das Verhältnis zwischen Repräsentiertem und Repräsentationsmedium prägt, wird in Zukunft noch beträchtlich an Bedeutung gewinnen, wenn Computer den Schauspieler vollkommen zu imitieren vermögen. Dann entsteht eine „reine" Bildkultur, wie sie heute in Trickfilmen unvollständig vorgeahnt wird. Die audiovisuellen Medien erreichen eine hohe Differenziertheit ihrer Produkte mittels einer Unzahl möglicher technischer Bearbeitungsschritte, die der Rezipient entschlüsseln und/oder genießen kann. Er nimmt technisch produzierte Bilder der Welt entgegen, zu denen er sich mehr oder weniger intensiv in Beziehung setzt. Diese größtenteils vorgefertigte und jederzeit abrufbare Welt kann beim Zuschauer Sinnfragen verhandeln, psychisch entlasten, Wissenszuwachs bewirken usw. Ihr fehlt nur die Möglichkeit - die so wichtig ist wie der reale Eingriff - zur direkten Interaktion. In der Talk-Show möchte man durch eingestreute Fragen per Telefon die Rückkopplung simulieren, doch selbst das perfekte Bildtelefon kann keine direkte und ganzheitliche Beziehung zwischen Menschen herstellen. Abgesehen von der Tatsache, daß im Produktionsprozeß der Medien Menschen deren Technik meistern, wird alles, was vermittelt werden soll, auf das Medium hin gedacht, konzipiert und erarbeitet. Da mag man entgegenhalten, das sei nur ein Schritt, eigentlich denke man an den Rezipienten; aber ist das für den Vergleich mit theatralem Handeln nicht gerade der entscheidende Schritt, weil dabei der abzubildende 187
Mensch seinen Körper an das Bild verliert? - Auf die Entfaltungsmöglichkeiten von Medien und Theater bezogen, könnte man demnach zugespitzt formulieren: Das Maß für die Expansion der Medien ist die Technik, das Maß theatralen Handelns ist der Mensch in seiner körperlichen Präsenz. Denn im Theater wird alles auf die Direktheit der Beziehung zwischen Schauspieler und Zuschauer hin gedacht, konzipiert und erarbeitet. Was als Technik hinzukommt, unterstützt oder besitzt Eigenwirkung, es kann auch dominieren - das ist nur eine Frage, wieviel Theater das Theater bieten möchte. Des Menschen technisch verlängerter Arm und sein bewaffnetes Auge reichen heute schon weit über ihn hinaus. Wahrnehmungspsychologisch gesehen ist die Reizwirkung des Fernsehens der des Theaters überlegen. Großformat und schließlich die dritte Dimension werden ein übriges tun. Außerdem ist das Medium leichter zugänglich als die meisten Gemeinschaftserlebnisse. Allein schon dieser nichtästhetische Aspekt der Bequemlichkeit hat für ein stetiges Anwachsen des Medienkonsums gesorgt. Andererseits darf man sich die gegenwärtige Situation auch nicht als Einbahnstraße vorstellen. Es wäre falsch, eine Stabilisierung oder später eine Verminderung des für mediale Kommunikation verwendeten Freizeitbudgets (parallel zur Zunahme im Berufsleben) generell auszuschließen, weil auf lange Sicht, durch eine allgemeine Auffächerung des Freizeitverhaltens ausgelöst, eine noch stärkere soziale Differenzierung in Hinsicht auf den selektiven oder unablässigen Mediengebrauch durchaus möglich erscheint. Erste Spuren solcher Tendenzen registriert man bei den Jugendlichen der DDR schon jetzt, und das bedeutet: der Bedarf an Angeboten der Territorialkultur wächst. 24 Das Theater sollte deshalb nicht versuchen, an das Fernsehen verlorengegangenes Terrain wiederzuerobern, aber es sollte die Veränderungen in der Wahrnehmungsstruktur (zum Beispiel durch rigorose Bildschnitte hervorgerufen) für seine Zwecke nutzen. Der heutige Theaterbesucher ist an den massenhaften Konsum von Bildwelten gewöhnt; was er vermißt, ist das Gemeinschaftserlebnis, die Interaktion. Das Theater sollte seine Befreiung feiern, die es den Medien verdankt. Alles das, was diese tun und vor allem zum Teil besser können, braucht es nun nicht mehr zu leisten. Es kann, die räumlichen Einengungstendenzen der letzten Jahrhunderte überwindend, bestimmte Bildungs- und Kompensationsaufgaben abtreten und wieder Laboratorium sozialer Beziehungen werden. 188
Probleme einer künstlerischen Verkehrsform: Das Risiko des Neuen im Film Vom Film hat Brecht die schon zitierte Erkenntnis abgeleitet: „Kunst ist eine Form des menschlichen Verkehrs und damit abhängig von den den menschlichen Verkehr im allgemeinen bestimmenden Faktoren." 25 Dieses Allgemeingültige provozierte die gegenüber den tradierten Künsten extreme, weil technisch bedingte, auf Massenkommunikation gerichtete Verkehrsform des Films. Ihre Problematik soll hier nicht nach allgemeinen Gesichtspunkten erläutert werden, sondern an einer das Allgemeine implizierenden Eigenart: dem Risiko, das Innovationen beim Film bedeuten. Dem Prinzip nach unterscheiden sich Neuerungen, die der Film hervorbringt, in ihrer Bedeutung und Problematik nicht von denen der anderen Künste. Thematische Öffnungen, Stofferoberungen, ungewohnter Genregebrauch, stilistische Innovationen und was immer die Künste in Bewegung hält, geraten, wenn sie auffällig sind, in die Diskussion. Doch die Reaktionen auf ein ungewohntes Verhalten in der Kunst haben beim Film üblicherweise gravierendere Folgen als in den anderen Künsten: Bejahung oder Verneinung entscheiden über das Sein oder Nichtsein eines Werkes. Die technischen Apparaturen, die den Film als Medium konstituieren - von der Aufnahme über die Vervielfältigung bis zur Projektion - , wirken auch auf die Art und Weise ein, in der er als künstlerische Gestalt eine Form des menschlichen Verkehrs ist. Filme (und ihre elektronisch funktionierenden Weiterungen der neuen Medien) geben als bewegtes audiovisuelles Abbild die Illusion, wirklichem Geschehen konfrontiert zu sein. Darin beruht die außerordentliche filmische Wirkungskraft, die ein Massenpublikum erreichen kann. Das Bewußtsein, im Spielfilm eine fiktionale Realität zu sehen, wird von der Suggestivität überlagert, die aus der scheinbaren Gegenwärtigkeit erwächst. Diesen Effekt, der für den Verkehr zwischen Filmkunst und Filmzuschauer wichtig ist, begründet der fundamentale Dokumentwert, der nicht nur bei der direkten Abbildung von Gegenwärtigem aktiv wird, sondern auch (zum Exempel bei historischen Sujets) bei den eingebrachten Vorstellungen und den angewandten Gestaltungsmustern, und er reicht bis zu den technischen Gegebenheiten, die sich auf dem Entwicklungsstand, auf dem sie benutzt werden, selbst konservieren. Nichts davon kann bei späteren Aufführungen erneuert, neuen Gewohnheiten und Auffassungen ange189
paßt werden. Die Verkehrsform alter Filme ist eine andere; die beabsichtigte, die ursprüngliche Wirkung verfällt oder ändert sich. 26 Das Dokumentarisch-Unveränderliche des Films historisiert das einzelne Werk in einem Maße, daß die ihm mögliche, in der Reproduzierbarkeit begründete Kommunikationsfähigkeit entscheidend nur in der Entstehungszeit realisiert werden kann. In der DEFA-Geschichte belegt das am eklatantesten Konrad Wolfs Film „Sonnensucher", der Ende der fünfziger Jahre Außerordentliches bedeutet hätte, aber zur Zeit seiner Erstaufführung, 1973, vorwiegend retrospektives Interesse erregte. Substantielle Neuerungen, die mit gewohnten Abbildungs- und Sehweisen brechen, können - um die extremen Pole der Verkehrsform zu nennen - einen Film in einen unerwarteten Erfolg katapultieren oder aber dem Unverständnis ausliefern. Das Risiko ist schwer zu kalkulieren, und selbst das streng marktorientierte Hollywood ist vor Überraschungen nie sicher. Daß in diesem Kunstbereich das Risiko ein besonders hohes ist wegen der finanziellen Konditionen der Filmproduktion, darf nicht den Verzicht auf Neuerungen implizieren. Schlimmer, weil folgenreicher als der Einbruch eines einzelnen Werkes, das die Rezeptionsrealität überfordert, an ihr vorbeiexperimentiert, ist eine widerspruchsgedämpfte, bewegungsarme Allgemeinsituation. Sie erzeugt ein Desinteresse, das sich auch auf Werke ausdehnt, die qualitativ akzeptabel, solide sind, die unter anderen, bewegteren Umständen flankierend wären. „Massenwirksamkeit der Filmkunst hat mit Gewißheit auch mit ihrer Streitbarkeit, mit neuen, auch unbequemen Sichten auf Vergangenes und Heutiges zu tun", sagte Konrad Wolf,27 also auf das Grundsätzliche der Realitätsaneignung abhebend, das mehr oder minder vermittelt, aber kenntlich in seinem Neuwert vor das Publikum treten sollte. Die Wissenschaft wird keine Regeln aufstellen können, welche Innovationen zu welcher Zeit in welcher Dosierung erfolgversprechend sind. Aber sie kann die Geschichte befragen, die historischen Bedingungen sondieren, die neue künstlerische Abbildungen annahmen oder nicht. Aufschlußreich für das übergreifende Thema des künstlerischen Aneignungsgedanken ist der in der DEFA-Entwicklung durchaus harte und umstrittene Wechsel von einer dominant funktionalen, also auf argumentativen Aussagewert verengten Figurenauffassung zu einer umfassenderen, motivierenden Charakterisierung, die den Zuschauer in die Freiheit versetzt, selbständige Übertragungen des
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Figurenverhaltens vorzunehmen, eine Grundbefindlichkeit der Kunstfigur auf den eigenen Lebensprozeß zu beziehen. Das ließ in dem Film „Die Legende von Paul und Paula" ebenso erstaunen wie in dem Film „Das zweite,Leben des Friedrich Wilhelm Georg Platow". Eine reizvolle Konstellation bietet sich der Abhandlung an: Beide Filme, die 1973 herauskamen und die beide auf der Selbstbehauptung der Helden bestehen, gehören zu den schönsten und noch immer sehenswerten DEFA-Filmen der siebziger Jahre und werden entsprechend in der Geschichtsschreibung gewertet, aber während „Paul und Paula" einen sensationellen Erfolg erlebte, erlitt „Platow" eine katastrophale Niederlage, von der er sich nicht mehr erholte, während „Paul und Paula" immer wieder einmal im Kino eingesetzt wird. „Die Legende von Paul und Paula", geschrieben von Ulrich Plenzdorf, inszeniert von Heiner Carow, markierte am auffälligsten den Aufbruch des Spielfilms, der Anfang der siebziger Jahre erstaunen und das Interesse an Werken der DEFA aufleben ließ, dabei in der Bewertung durchaus nicht einhellig. Die Überraschung, die der Film damals auslöste, läßt sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre kaum mehr nachvollziehen, weder sein außergewöhnlicher Erfolg noch die Debatten um ihn, was eigentlich nicht gegen den Film, sondern für die Entwicklung spricht, die die Gesellschaft genommen hat, für die es kein Problem mehr ist, wenn ein Film, der zu den leichteren Genres sich bekennt, auf den individuellen Motiven einer Liebesbeziehung besteht. Die nacherzählbare Geschichte, wie wenig sie von den atmosphärischen Einbindungen und der vitalen Physis der Figuren auch vermitteln kann, mag dennoch die Herausforderung ahnen lassen. Auf einem Berliner Rummelplatz lernt Paula einen jungen „Typ" vom Karussel kennen und Paul die schöne Tochter aus der Schießbude. Die Beziehungen, die entstehen, taugen nichts. Als Paula nach der Entbindung - es ist ihr zweites Kind - ihren Freund mit einer Halbwüchsigen erwischt, jagt sie ihn davon; als Paul, aus der Armee entlassen, einen anderen Mann im Ehebett findet, verhaut er ihn und bleibt bei Frau und Kind. Während sich Paula an einem Haufen Kohlen abschleppt, die ihr auf die Straße geschüttet wurden, langweilt sich Paul mit Frau und Schwiegereltern, die schlimme Spießer sind. Paul flüchtet in eine Tanzbar, in die es auch Paula zieht, um noch einmal ein „Faß aufzumachen", bevor sie, dreiundzwanzigjährig, den ältlichen Kleinunternehmer Saft nehmen will, der freundlich um sie wirbt. Zwischen Paul und Paula „springen die Funken über". Sie 191
verbringen die Nacht in Pauls Garage. „Wir lassen es dauern, solange es dauert. Wir machen nichts dagegen und nichts dafür. Und wir fragen uns nicht nach allerhand Zeugs. Bloß die Namen. Ich bin Paula." Paula strahlt ihr Liebesglück aus, auf der Straße, in der Kaufhalle, in der sie an der Flaschenabnahme, manchmal auch an der Kasse arbeitet. Sinnlich ist dieses Glück, sehr sinnlich, und es öffnet ihre Empfindungswelt. Aber Paul ist eingeklemmt in Konventionen, die ihn binden. „Ich kann mir keine Scheidungsgeschichte leisten in meiner Funktion." Als er sich zurückzieht, geht Paula auf einen Empfang, den seine Dienststelle, ein Außenhandelsunternehmen, für Ausländer gibt. Paul demonstriert Feigheit, und Paula scheint aufzugeben. Als ihr kleiner Junge vor dem Haus überfahren wird, verschließt sie sich ganz, glaubt sie, ihren Anspruch auf Glück preisgeben zu müssen. Herr Saft führt sein feines Landhaus vor. Das alles fordert Paul heraus. Er belagert Paulas Wohnung, zieht in die Garage, wird von zwei Kollegen zur Dienststelle gebracht, dort offenbar zurechtgestutzt, denn im Gegenschnitt marschiert er fein gestriegelt auf seinen Wohnblock zu, um sich mit seiner Frau zu versöhnen und danach im Schrank ihren Liebhaber zu finden. Nun hält ihn nichts mehr. Bekleidet mit einem weißen Spitzenhemd und einer engen schwarzen Hose, die seine schlacksige Gestalt unterstreicht, kommt er über die Straße wie ein Märchenprinz. Er leiht sich bei den Nachbarn eine Axt aus, schlägt Paulas Türe ein, und als sie sich umarmen, zerreißt Pauls Hemd auf dem Rücken ... Das Glück soll vollkommen sein, und obwohl ihr der Arzt sagt, sie werde die Entbindung nicht überleben, will sie das Kind von Paul. Sie überlebt es nicht. Paul liegt auf Paulas Bett, zusammen mit Paulas Tochter, seinem Jungen und ihrem gemeinsamen kleinen Kind. Und darüber hängt das Foto, das ein Nachbar geknipst hatte: Paula, wie sie Paul so umarmt, daß sein Hemd auf dem Rücken zerreißt. Die Figuren tauchen auf wie sie verschwinden: für ihr Dasein im Film, das sich nicht erklärt und das keiner Erklärung bedarf. Dieses Selbstverständliche weist als Identität mit der umgebenden Welt über den Film hinaus, dem es zugleich, eine spezifische Eigenart erfüllend, auf schöne Weise entgegenkommt. „Der Film bedarf der Motivierung beinahe überhaupt nicht", schrieb einst Viktor Schklowski: „Im Film wird nicht erzählt, sondern gezeigt. Es muß da nicht erläutert werden, wie und warum es zu dem glücklichen Zufall kam, der beispielsweise zu irgend jemandes Rettung nötig war. Die Tatsache liegt vor aller
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Augen. Wir sehen den Film und fragen nur ganz selten nach dem Wie und Wieso."28 Aber was der Stummfilm kultiviert und in Assoziationsräume gestellt hatte, die das „Wie und Wieso" erschließbar machten, hatte der Tonfilm oft zerredet; auch der sozialistische, auch der der DEFA, der es mit Überzeugung und partiell mit Notwendigkeit tat. Kompliziertere Sujets, wie sie Schklowski 1923 noch nicht reflektieren konnte und die schon lange Einzug in die Kinematographie gehalten hatten, waren einzustellen auf die politisch konkrete Situation in der DDR, deren revolutionäre Entwicklungsprozesse das Gegenüber von Altem und Neuem, von Vergangenheit und Zukunft bedingten. Das Argumentative, das vor allem in den fünfziger Jahren, als der sozialistische Film hier begründet wurde, auch die Grenzen zum Agitatorischen überschritt, bestimmte die Gangart der DEFA, die mehr dem Wort als dem aufzuschlüsselnden Bild vertraute. Und im Einklang mit den Geschichten der Filme, die zuallererst Geschichte reflektierten, brachten die Figuren ihre Geschichtserfahrungen ein: wie sie in den Klassenkämpfen der Vergangenheit gestanden hatten, was zur Lehre wurde für das Verhalten jetzt. Die Gegenwart lebte von Erinnerungen, insonders an den Widerstand, den das Proletariat gegen die Bourgeoisie, dann gegen den Faschismus geleistet hatte, und sie lebte auf die Zukunft hin, die als eine bessere, wahrscheinlich lichte Zeit in manchen Apotheosen vorweggenommen wurde. Die Figuren gingen auf sozialem Wege, vom historischen Woher und vom idealbestimmten Wohin markiert, und nur für Momente besannen sie sich auf sich selbst, aber eine Hingabe an den Augenblick, womöglich bloß ans Liebesglück wäre ihnen genußsüchtig, egoistisch, jedenfalls unstatthaft vorgekommen. Solche sozial fundierten Positionen schienen durch die „Legende von Paul und Paula" preisgegeben. Kein Film zuvor, auch keiner der „Alltagsfilme", die Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre die tatsächliche, erfahrbare Wirklichkeit zu entdecken begannen, hatte sich so konsequent ins Individuelle begeben und keiner hatte eine im Erotischen begründete Handlung in solche Extreme getrieben wie dieser Film. Professionelle Kritiker reagierten reserviert, behandelten den Film einerseits wie beiläufig und andererseits abwehrend, wenigstens mit Vorbehalt. „Erwartungen überspitzter Art können getrost begraben werden", hieß es da; Paulas Lebensanspruch würde nur für ihre Liebesbeziehung gelten, die in einen „luftleeren Raum" gerate; die 13
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Liebe erführe eine „Verabsolutierung, über die zumindest noch zu diskutieren wäre"; bereits das Buch habe die „Gestaltung der individuellen Liebesprobleme zu sehr von unseren gesellschaftlichen Beziehungen losgelöst und dabei auf eine geistige Profilierung der Figuren verzichtet"; Paula „verbohre" sich in die Liebe, eine „Treibhausliebe", und ihre Vitalität lasse für ihre Umwelt die sozialen Konturen „verschwimmen"; der Film enthalte „beeindruckende Szenen, die etwas vom inneren Reichtum dieser Frau ahnen lassen, aber im Vordergrand stehen biologische Interessen. Das Künstlerische der Hauptgestalten des Films, vor allem des Paul, ihre geistige Schönheit im ästhetischen Sinne ist qualitativ unterentwickelt. Während uns in anderen Gegenwartsfilmen Didaktisches belastete und deshalb langweilte, trägt dieser Film Zeichen der Isolation von der Gesellschaft, er führt zu einem Mangel an Persönlichkeit der Figuren, wird zum Spiel mit naiven Elementen." 29 Ästhetik und künstlerische Praxis hatten sich notwendigerweise in der DDR auf die politisch fundierte Debatte eingestellt, die ihre deutlichen Formen und oft überdeutlichen Aussagen hervorgebracht hatte. Davon setzte sich die „Legende von Paul und Paula" mit einer Deutlichkeit ab, die provozieren mußte: Der alte, aber produktive Widerspruch zwischen Innovation und Tradition brach auf, und er offenbarte die bekannte Rangfolge, nach der die künstlerischen Entdeckungen eben in der Praxis gemacht werden. Herausgefordert von dem neuen, sehr ungewohnten Erscheinungsbild des Films verteidigten Kritik und Theorie die sozial belangvolle Figurengestaltung in gesellschaftlich relevanten Strukturen, die Voraussetzung waren für den Realismus und die Funktionalität der wesentlichen DEFA-Werke, aber sie verteidigten Erbe und Anspruch gegenüber einem Film, der dieses Grundverständnis sozialistischer Kunst gar nicht in Frage gestellt, es vielmehr auf veränderte Verhältnisse in einer speziellen Kinoform angewandt hatte. Plenzdorf und Carow etablierten das große Glücksverlangen nicht gegen die Gesellschaft, sondern in ihr. Der Film zeigt eine von den Figuren gelebte Wirklichkeit, die angenommen, aber nicht hingenommen wird, die als Selbstverständliches die eigentliche Basis der individuellen Selbstbehauptung ist. Paula „trotzt" nicht „allen gesellschaftlichen Widersprüchen, Widerständen, ,Verhaltensvorschriften', Konventionen", 30 sie und der Film geben sich mit der nächstliegenden, möglicherweise üblichen Lösung nicht zufrieden. Und das wirkliche Risiko verlangt die Heldin nicht 194
den anderen ab, sie geht es selber ein, ohne dabei den Eindruck eines unerfüllten, unerfüllbaren Glücksanspruchs zu hinterlassen. Denn die Entwicklung, die Paul durch Paula nimmt, die ja nicht den verkleinbürgerlichten, in neue Konventionen verschnürten Opportunisten liebt, sondern einen Mann, der sie als Mann fasziniert und an dessen bessere Möglichkeiten sie glaubt - diese Entwicklung, die ein Freiwerden, ein Sichselberfinden ist, bildet das selbstbewußte, kompromißlose Lebensgefühl dieser jungen Frau als Übertragenes, Weitergegebenes ab. Die Exponierung einer Individualität weist über diesen Film hinaus, der als ein durchaus mittleres künstlerisches Ereignis überragende Bedeutung gewann. Paula versteht sich nirgends als Außenstehende, auch wenn sie weder über gesellschaftlichen Einfluß noch nennenswerten Besitzstand verfügt, aber sie versteht sich auch nicht als Funktionsdetail eines historischen Prozesses. Dieser kommt vermittelt zur Geltung, als sozialer Lebensraum einer vitalen Souveränität, die sich ja nicht nur den Widerständen stellt, sondern durch ihr Sein, ihr So-und-nichtanders-Sein, die Verhältnisse spiegelt. Daß das nicht verbal reflektiert wurde, vielmehr in den Bildern, im Ganzen des Films zu entschlüsseln ist, beunruhigte vermutlich die Kritik, die auf andere Abbildungen eingestellt war, ebenso wie Paulas unbändige, überbordende, leidenschaftliche Liebessehnsucht, die mit einer nun doch erstaunlichen Pedanterie ins Abseits gestellt wurde. Und es verunsicherte wohl auch, daß eine so einfach verstandene Volksfigur, der oftmals „unterentwickelte geistige Bedürfnisse und gering ausgeprägte soziale Interessen" nachgesagt wurden, 31 einen Staatsfunktionär zu seinem Besseren umkrempelt. Das geschah, wie Carow sich bewußt war, zum ersten Male. Aufgegeben wurde das Muster, wonach der „fortschrittliche, bewußte Genosse das arme Mädchen aus dem Volk moralisch, ethisch zu sich hinzieht. So haben wir bisher Geschichten erzählt ..." 3 2 . Die neue Sicht, die natürlich ein polemisches Vergnügen einschloß, wurde mit Gelassenheit, ohne Besserwisserei gegeben, und sie entsprach dem gemeinsamen Leben in diesem Lande, das die einen wie die anderen leben. Was die Kritik als Verbortheit in die Liebe und als deren Isolation von der Gesellschaft empfand, war eigentlich nichts weiter als die Ausrichtung des Films auf das Genre des Melodrams. Davon hatte die DEFA zuvor, nehmen wir die vierziger Jahre aus, wenig verstanden. Wird Realismus vornehmlich als ein Widerspiegelungsverfahren begriffen, zumafl noch kombiniert mit einseitigen Auffassungen vom 13*
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sozialistischen Realismus, haben die Genres keine Chance. Denn Forderungen nach gesellschaftlicher Totalität, nach dem Typischen, nach dem gesellschaftlichen Progreß als Gegenstand machen es schwierig, die Eingänge der Realität ins Kunstwerk nach dramaturgischen Techniken zu selektieren. Aber ohne solche Eingrenzungen kommt Aneignung in Genres nicht zustande, die seit den Anfängen des Kinos seine normalen Erfolge waren. Wie die „Legende von Paul und Paula" zeigt, wird ihr Wert in der gesellschaftlichen Kommunikation durch die Kräfte bestimmt, die der Film beim Zuschauer in Bewegung setzt, der Anfang der siebziger Jahre durchaus in der Lage war, die leidenschaftliche, traurig schöne Liebesgeschichte als Ausdruck seiner eigenen Souveränität zu begreifen. Wenngleich das „aufklärerische Moment" geringer ausgeprägt ist als das „Aufnehmen und Bestätigen von Volkserfahrungen",33 erlaubt auch die melodramatische Struktur, die mit Vereinfachungen und Emotionalisierungen arbeitet, den sozialen Raum, die Wirklichkeit DDR zu assoziieren; und wenngleich Paula nur in ihrer Liebesgeschichte erlebt wird und die umgebende Realität nur Ausbuchtungen und Spiegelungen derselben sind, ist doch ohne Schwierigkeit vorstellbar, wie sich Paula in anderen Situationen verhalten würde: spontan bestimmt, selbstbewußt wie gerecht, im solidarischen Gefühl mit ihrer Umwelt. Dafür braucht es keine besonderen Ausführungen, die einem solchen „Liebesfilm" die Suggestivität, die innere Bündigkeit genommen, also das Genre verletzt hätten. Weltgeschichtliche Dimensionen mangeln dem Film ebenso wie philosophische Höhe, und er zeigt auch nicht den „ganzen Komplex der Beziehungen der Heldin zu ihrer Welt und zu ihrer Zeit" 3 4 , aber in seiner Einschränkung erfüllt er sich auf so schöne Weise, daß die Begrenzung nicht als Mangel zu empfinden ist. Seine Strahlkraft, sein Zauber sind ohnegleichen im DEFA-Film dieses Jahrzehnts. Daran hatte die Hauptdarstellerin außerordentlichen Anteil: „Was in Angelica Domröse steckt an Leidenschaft, Klugheit, Kraft, Ausdrucksreichtum für Schmerz und ausgelassenes Glücksgefühl, das konnte sie so noch in keinem Film, keiner Rolle beweisen", schrieb damals Peter Ahrens,35 und sie konnte es wohl so in keinem Film danach beweisen. Den Spielraum für den Ausdruck des Spiels gab die Konstruktion des Films, der mit genrebetonter Verkürzung auf eine „Kunstwirklichkeit" hinführte: Die Legende war der zutreffend ungenaue Begriff für eine Spielform, die sowohl die Zuspitzung wie die Leichtigkeit der moritatenhaften Geschichte ermöglichte, das Tragische und das Un-
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tragische, das komisch konterkarierte Melodram. Die RummelplatzSequenz gibt sogleich das Wirklich-Unwirkliche vor, das sich spielerisch durch den Film zieht, sich ins Ironische wendet (Reifensaft), die Karikatur streift (Pauls Schwiegereltern), aber vor allem die Liebesgeschichte in unalltägliche Höhen und Tiefen führt, ohne sie darum einer glättenden Inszenierung auszusetzen. Das „Blumenfest", das Paula auf ihrem Bett, in ihrem Zimmer arrangiert, läßt die „biologischen Interessen" zu den schönsten werden, zu einem Traum aufsteigen, der die Seele weitet. Der emanzipatorische Gestus des Ganzen findet sich selbst in kessen Anschlüssen und Pointen, wobei auch manches dekorativ geriet (Paulas Ahnen im Traum) und Oberflächliches nicht vermieden wurde (Pauls Frau). Carow argumentierte: „Wenn man jahrelang keine wesentliche Wirkung beim Zuschauer verspürt hat, weiß man's eben nicht mehr so genau." 36 „Ideal und Wirklichkeit gehen nie übereinander. Ein Rest bleibt immer", heißt es im Film. Paula stellt sich dagegen. Poetisches Symbol für den Aufbruch des Individuums. Carow darüber: „Mich reizte es zu erzählen, wie viele sich verhalten möchten, es aber auf Grund ihrer Lebensumstände, ihrer persönlichen Ängste nicht tun. Indem ich es ihnen vorführte, es erlebbar machte, in diesem Fall eben durch die Legende, entspreche ich eigentlich den Sehnsüchten, den Emotionen der Zuschauer und damit auch ihrem möglichen Erleben."37 Die Motivation wurde zur Innovation. Die Kunst kam mit den Leuten überein wie lange nicht zuvor. Binnen eines Jahres erklärten sie sich mit einem Besucherrekord von 1840000 für den Film. Und sie diskutierten, beeindruckt von Paulas Schicksal, „Probleme ihres eigenen Lebens, tauschten Meinungen aus über die notwendige Suche nach dem Glück, über neue positive und über noch verbreitete negative Normen in den Beziehungen zwischen Mann und Frau .. ,"38 Das allen Kunstentwicklungen immanente Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität, von Aufbrüchen und Abschwüngen, ohne das Erneuerungen und Neuerungen nicht vorstellbar sind, erfuhr zu dieser Zeit, da ein überraschender Aufschwung stattfand, eine eigentlich unnötige, weil bremsende Problematisierung. Daß ihre Motive vor allem ein Mißverstehen neuer oder ungewohnter Abbildungsund Erzählformen waren, bezeugen auch die Reaktionen auf den Film „Das zweite Leben des Friedrich Wilhelm Georg Platow". Diesem von Siegfried Kühn inszenierten Film konnte ein besonderes Interesse gelten, da er sich nach einem Szenarium des bekannten Dramatikers Helmut Baierl („Frau Flinz") im komischen Genre 197
versuchte, mit dem die DEFA zumeist glücklos operierte. Doch dieses Interesse wurde für manche, die über den Film zu befinden hatten, offensichtlich so enttäuscht, daß eine eigentlich geglückte Komödie, die bis heute nichts an Originalität eingebüßt hat, zum glücklosesten Film des Jahrzehnts wurde. Nur wenig mehr als 20 000 Zuschauer sahen ihn innerhalb eines Jahres, was der absolute, selbst vom mißratensten Streifen nicht annähernd erreichte Tiefstand ist. Ohne Premiere und Werbung hin und wieder im Filmkunstkino eingesetzt, blieb „Platow" dem Publikum ziemlich verborgen, das auch nicht durch die Kritik, die unisono schwieg, auf die Sonderbarkeiten, das Experimentelle und das Schöne des Werkes aufmerksam gemacht wurde. Eine am Clownesken orientierte Gestaltungsweise wurde abgewiesen, die in sehr auffälliger, also provozierender Weise der tradierten, dem Realismus als Stil verpflichteten Darstellung widersprach. Den Widerspruch illustrierte die Ankündigung des damaligen Studiodirektors, der im Stil der Zeit, auch das Normale pathetisierend, davon sprach, „Leben und Probleme eines zeitgenössischen Helden der Arbeiterklasse" wären Gegenstand des Films.39 Wer sich daran hielt, den mochte bereits das erste Bild sehr irritieren: Ohne Blick auf die wartenden Autos sitzt Schrankenwärter Platow unter einem zerschlissenen Regenschirm an der herabgelassenen Schranke, die er auch dann nicht hochgehen läßt, als eine Dampflokomotive vorübergefahren ist, wofür es, wie wir später aus seinem Verantwortungsgefühl schließen können, bahntechnische Gründe geben dürfte; doch zunächst sieht man ihn, unberührt von allem, in Richtung der tobenden Autofahrer spucken, sich im Ohr kratzen und unter den Fingernagel gucken... Der Vorspann verspricht eine „merkwürdige Geschichte" des Eisenbahners Platow, „der Anfang der siebziger Jahre unseres Jahrhunderts von der Technik um seinen Schrankenwärterplatz gebracht wurde und entgegen allen damaligen Erfahrungswerten auf ziemlich beispiellose Weise im Alter von siebenundfünfzig Jahren das Leben lernte." Lichtreflexe wandern über die Leinwand zu einer romantischcirzensischen Kinomusik. Zwischentitel: „Lebenslauf". Black-outSzenen kontrastieren den gewöhnlichen Lebensweg des Häuslerkindes Platow mit der ihm eingegebenen clownesken Selbstbehauptung. „Das Auffällige und Unerwartete tut er gleichsam nebenbei, ob er als Knabe bei der Rede des Gutsherrn kräht, sich später dem starken Mann im Zirkus stellt, um seine Frau zu erobern, oder dem 198
für das Nazi-Winterhilfswerk sammelnden Inspektor eine Abfuhr erteilt. Dieser Protest ist der des Schwächeren gegen den Stärkeren ... Man ist auf Unerwartetes aus, auf Überraschungen, und sie kommen dann auch, und glücklicherweise so, daß unsere Phantasie, unsere Neugier auf Leben freigesetzt wird", schrieb Rolf Richter in seiner Würdigung des Films, in dem er - vierzehn Jahre nach Slatan Dudows „Verwirrung der Liebe" - wieder einen Versuch sah „in Richtung Komödie mit philosophischem Anspruch." 40 Nicht Psychologisches wird ausgespielt, sondern ein Typ wird vorgestellt, den die souveräne Willkür der Exposition aus dem Alltagsverhalten löst. Montage und Wechsel von (eingetöntem) SchwarzWeiß und Farbe tragen dazu bei, daß sich der Zuschauer nicht auf den Augenschein des Wirklichen einstellt, denn die Geschichte, wie der Film sie vorführt, ist wohl von der Realität abgenommen, aber zugleich und exzeptionell von ihr abgehoben: Als die Schranke, an der Platow seit vierunddreißig Jahren seinen Dienst tut, „elektronifiziert" wird, will man ihn auf eine Nebenstrecke versetzen. Aber just dieses Angebot, das als eine freundliche Rücksichtnahme auf sein Alter gelten könnte, treibt Platow aus der beschaulichen Zufriedenheit. Ad hoc entschließt er sich, seinem Leben noch einmal einen neuen Sinn, einen neuen Schwung zu geben. Da es der Zufall will, daß sein Sohn, ebenfalls ein Schrankenwärter, es ablehnt, einen Qualifizierungslehrgang zu besuchen, gibt er sich für den Jüngeren aus, der die gleichen Vornamen, nur in anderer Reihenfolge hat, was sogleich beim Eintritt in die Schule eine komische Nummer abwirft. Die uralte Geschichte vom ausbrechenden Mann, der, zum Risiko bereit, die gewohnten Bahnen verläßt, findet eine neue, weitreichende Wendung, die das individuelle Verlangen auf die Gesellschaft hinführt. Das unterscheidet vor allem diesen Film von den „Aussteiger"Filmen, die etwa zu gleicher Zeit im Westen aufkamen und in denen die Helden aus einer verachteten Sozietät sich fallen ließen. Daß Platow keine großen Worte macht, sein Handeln eigentlich überhaupt nicht begründet, war andererseits ein erheblicher (und irritierender) Unterschied zu den Filmen, die die DEFA zuvor gemacht hatte. Aber eben die Sturheit, mit der Platow dem äußeren Bild nach durch den Film geht, schlau und listig seinen Entschluß behauptend, führt zur komischen Konsequenz der Figur. Ihr ist die Möglichkeit und Fähigkeit des Veränderns ihrer selbst eine Selbstverständlichkeit. Das zu erkennen, setzt freilich eine andere als passive Sehbeteiligung voraus, gewissermaßen ein „Publikum von lauter Reflexologen", das sich 199
Brecht bei den amerikanischen Slapstick-Filmen vorstellte,41 mit denen der „Platow"-Film einiges gemeinsam hat: die Objektivierung des Wollens und Empfindens der Figur in ihrem gestisch forcierten Handeln; den Versuch, die Wirklichkeit nach dem Bedarf des Genres zu selektieren und zu domestizieren, also hier Dokumentares, Alltägliches oder auch Psychologisches nicht direkt zu geben, sondern im komischen Spiel zu vermitteln. „Überhöhte komödische und satirische Züge, aber auch Besinnliches, ja Tragisches" füge sich zu einem Nebeneinander der Genres, sagte damals Helmut Baierl, der die „sehr schönen eigenwilligen Bilder", die Regisseur Kühn und Kameramann Roland Dressel machten, lobte: „Bilder, die von meinen ursprünglichen Vorstellungen weit abweichen. Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist, ob die Gedanken des Autors, auch die nicht aufgeschriebenen, die wesentlichen, verwirklicht wurden, ohne daß die anderen ,Schöpfer' ihre ,Handschrift' weglassen." 42 Rechtens bemerkte Rolf Richter zu diesem freundlichen Resümee, daß die Auseinandersetzungen komplizierter waren.43 Geführt zwischen einem anerkannten Dramatiker und einem jungen Regisseur, der bis dahin nur zwei Filme mittlerer Bedeutung gedreht hatte („Im Spannungsfeld", 1969, „Zeit der Störche", 1970), mögen sie intern dem Ansehen des Films geschadet haben, in dem Kühn erstmals - und nie wieder so gut - seine Neigung zum Grotesken ausdrückte. Was als eine pointierte, verkürzende, jedoch dem Alltag verpflichtete Komödie denkbar gewesen wäre, wurde zu einer komischen Kunstwelt geformt, die ständig die Realität berührt, ohne in ihr aufzugehen. Eine Voraussetzung dafür war die Besetzung der Hauptrolle mit dem Theaterregisseur Fritz Marquardt, einem unausgebildeten Darsteller: Eine leicht verschrobene Physis bringt eine spröde Einfachheit und eine kauzige Schlauheit ins Spiel, das auf hintergründige Weise in sich ruht und die überraschenden Wendungen der Figur glaubhaft macht, das aber nie ganz zur mimetischen Darstellung wird, sondern eine fremde Eigenheit bewahrt, wie sie die Akteure der alten Filmkomödie hatten. Das Groteske, das die Platow-Figur vorgibt, vereint in den besten Szenen das Komische und Tragische, einen tiefgehenden Sinn mit einem gelösten Spiel: Wenn Platow wegen der beruflichen Zukunft zu seinem Chef (Dieter Franke) gerufen wird, betritt er, bezeichnet durch ein schloßartiges Interieur, eine „Königsebene", die sich nicht von ihm abtrennt. Die Gegensätze verlaufen innerhalb, wenn der impulsiv
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reagierende Chef über dem „trockenen Verstand" eines Mitarbeiters, der Platow abschieben will, Durst nach einem Bier bekommt. Dann bricht der „Gaul der Revolution" mit einem Herzanfall zusammen. Während die anderen nach dem Arzt rufen, legt Platow den Chef auf den riesigen, von Akten überhäuften Schreibtisch, klettert noch darauf, um den Kopf des Sterbenden auf Bücher zu betten: der mitfühlende Clown auf einer Ebene mit dem großen Mann, der die Kämpfe der Zeit und die Dinge des Lebens kennt. Sein „Testament", wie dieses Kapitel überschrieben ist, sind nicht seine letzten Worte, die Platow das Rosenzüchten empfehlen, sondern er selbst. Konsequent schließt sich ein Satyrspiel an diese, im großen Stil inszenierte Szene an: in der Kneipe. Die exzentrische Komik öffnet sich tieferen Schichten, und sie schließt weder ein verdecktes Pathos noch den Schmerz aus. Burleske und doch schon untergründige Komik leitet die wesentlichste Sequenz ein, als sich langsam der Bauzug von Platows Station entfernt, die an die automatische Streckenführung angeschlossen wurde: Lachend hieven Arbeiter den verstört neben dem Zug herlaufenden Platow in den Wagen, um ihn auf der anderen Seite wieder zu Boden zu lassen, im Übermut, fröhlich nach getaner Arbeit, ohne Ahnung von den Ängsten des Alten, der sich alleingelassen fühlt mit einer ihm unbekannten Technik. Wie ein Ungetüm ist dann die Diesellok fotografiert, die sich auf die Station zubewegt; Platow rennt zum Platz der Schranke mit unbeholfenen, weit ausholenden Schritten, einen Arm an den Rücken gedrückt; rennt dann auf der Straße den Autos entgegen, links, dann rechts, sie anhaltend mit fuchtelnden Armen; rennt dann verzweifelt die Gleise zurück, zur Weiche, stolpert vor der sich nähernden Lok, springt zur Seite ... Die Groteske läßt diese beklemmend elementare Dramatik zu, die das Verantwortungsbewußtsein eines Menschen zum großen Bild macht wie seine Furcht vor dem, was er nicht durchschauen und nicht beherrschen kann. In ihrer Kompliziertheit, Assoziationskraft und Artistik gehört diese Szene zum Besten, was bei der DEFA in jenen Jahren inszeniert worden ist. Der Film kann diese Höhe nicht halten. Nach einer locker wie dicht inszenierten Zugfahrt zum Ort der Schule flacht die Dramaturgie zeitweilig zum kabarettistischen Lustspiel ab, das sich mit der Verkehrsfachschule befaßt und mit Platows Annäherungsversuchen an eine junge Frau, die er nicht bekommt. Das ist fürs Ganze wichtig, das ja keine übliche männliche Ausbruchsgeschichte sein will, aber die Regie kann nur hin und wieder ihre Lichter setzen. 201
Doch dann schwingt sich der Film zu einer wunderschönen Apotheose auf, die in ihrer befreienden, den Menschen als Individuum feiernden Weise ihresgleichen sucht: Platows Identität ist aufgedeckt, und unter der Kapitelüberschrift „Reportage" zieht die Verkehrsfachschule bürokratische Konsequenzen, damit dergleichen Eigenwilligkeit nicht wieder passiere. Währenddessen hat sich Platow auf den Weg gemacht, um eine alte Draisine, die er auf einem Güterbahnhof entdeckte, ins Verkehrsmuseum zu transportieren. Die Fahrt durch ein Labyrinth der Gleise wird zu einem Triumph der Selbstbehauptung und der Groteske. Listig setzt Platow das automatische Programm außer Kraft. Strecken werden blockiert, Signale gehen herunter, Züge halten an. Im Stellwerk bricht das Chaos aus. Aber Platow fährt mit lächelnder Ruhe weiter, schleppt die Draisine auf ein anderes Gleis, kombiniert sein „handwerkliches Denken", das ihm in der Schule attestiert wurde, mit einer Kenntnis der Streckenelektronik, die wie im Märchen auf ihn gekommen ist. Der Sieg eines Clowns als Sinnbild kreativer Menschlichkeit. Dann blendet sich der Film ins Wirkliche ein. Leute in einem größeren Bahnhof. Unter ihnen ist Platow, der der Nebenstrecke entging und nun hier Auskunft gibt - als der „berühmte Eisenbahner", wie eine alte Dame sagt, womit der Film noch einmal sein Genre anklingen läßt. Doch dieses Genre, soweit es konsequent verfolgt wurde, hat dem Film damals keine Anerkennung gebracht. Auch nicht bei den Zuschauern, bei denen das Werk nicht wenigstens zum „Geheimtip" wurde. Die Verbindung zur Groteske war seit Jahrzehnten abgerissen. Und Platows Engagement, das in die Gesellschaft führt, aber den Zweck in sich selbst und nicht in Karriere und Gewinn sieht, mochte für die frühen siebziger Jahre ein zu weiter Vorgriff sein.
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KAPITEL V
Neue Medien - neue Weisen der Aneignung Wider den ästhetischen Agnostizismus Wege zu einer Ästhetik der Massenkultur
Ist das Aneignungskonzept ein „elitäres" Konzept? Ist es allein zugeschnitten auf avancierte Kunstleistungen, die sich durch epochemachende Entdeckungen auszeichnen, durch Innovationen, die die historischen Muster der Sinnlichkeit, der Emotionalität und der Reflexionskraft revolutionieren? Endet, um auf die modernen industriell vergesellschafteten Produktions- und Rezeptionsbedingungen ästhetisch-künstlerischer Kultur zu sprechen zu kommen, sein Geltungsbereich dort, wo das Feld der Massenkultur beginnt? In der internationalen Diskussion über Massenkultur (häufig verkürzt auf Medienkultur) wird die Frage nach dem Standort von Ästhetik und Kunstwissenschaften - unabhängig von deren jeweiligen Leitkonzepten - gewöhnlich in einer anderen Blickrichtung gestellt. Es wird gar nicht gefragt, auf welchen Wegen Ästhetik und Kunstwissenschaften einen Zugang zu den Phänomenen der Massenkultur finden könnten, sondern vielmehr, was sie auf diesem Felde überhaupt zu bestellen haben. Gefragt wird vielfach, ob nicht z. B. jedes kunstheoretische Unterfangen hier seinen Sinn verliert und die Forschung eher behindert als fördert. Fragen wir also: Kann die Erforschung der Massenkultur auf Ästhetik und Kunstwissenschaften verzichten? Ist es möglich und sinnvoll, massenkulturelle Produkt- und Aktionsformen ästhetisch bzw. kunstwissenschaftlich zu untersuchen, oder verfehlt ein solcher Versuch, wie immer er angelegt sein mag, in jedem Falle die spezifische Funktionsweise, ja den Sinn von Massenkultur? Haltungen, in denen die Notwendigkeit und Möglichkeit ästhetischer Analyse von Massenkultur bestritten oder außer acht gelassen wird, sind indirekte Formen eines „ästhetischen Agnostizismus", die vornehmlich in der bürgerlichen Medienforschung weit verbreitet sind. Den Begriff des ästhetischen Agnostizismus hat der Archäologe Wolfgang Schindler eingeführt, um bürgerliche Versuche eines be-
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wußten Verzichts auf die gesellschaftliche Ableitung und Zuordnung ästhetischer Strukturbefunde innerhalb der klassischen Archäologie zu kennzeichnen.1 Soweit der Begriff „im Hinblick auf Strukturverhalte und ihre gesellschaftliche Deutung" definiert ist, läßt er sich über den Rahmen der klassischen Archäologie hinaus verallgemeinern und auch auf die Forschungen zur Massenkultur anwenden. Wie verbreitet ein solcher ästhetischer Agnostizismus innerhalb der bürgerlichen Medienforschung ist, zeigt die von Dieter Prokop zusammengestellte repräsentative Anthologie „Medienforschung", die über alle relevanten Fakten, Probleme, Konzepte und Methoden von einem bürgerlich-humanistischen Standpunkt aus umfassend informiert.2 Die einzelnen Bände dieses dreiteiligen Standardwerkes sind nach folgenden Schwerpunkten untergliedert: „Konzepte - Macher - Kontrolleure" (Band 1), „Wünsche - Zielgruppen - Wirkungen" (Band 2), „Analysen - Kritiken - Ästhetik" (Band 3). Zur Ästhetik gibt der Herausgeber eine zusammenfassende Einschätzung: „Die Wissenschaft - von der Publizistik, der soziologischen Medienforschung bis zur Semiotik - hat sich wenig Mühe gegeben, eine Ästhetik der Kulturindustrie zu entwickeln . . . Es gibt auch konfektionierte, standardisierte Produkte, die ,gut' sind. Da hilft es nicht, wenn man sich kulturindustrielle Ästhetik als den Reizwäsche-Bereich der Manipulation von Sinnlichkeit, der Verführung durch Farben und Formen, als Bereich der Vermarktung der Frau und andere Dinge vorstellt und darüber klagt. Es gibt da interessante Eigengesetzlichkeiten . . . , Techniken der Gestaltung . . . Das Spiel mit den standardisierten Versatzstücken ist manchmal höchst witzig und kann ebensoviel Lernprozesse in Gang setzen' (das muß ja wohl sein) wie große Kunst, und zwar aus demselben Grund: Autonomie, Eigengesetzlichkeit kann entwickelt werden. Es lohnt sich, über die ästhetische Theorie der Kulturindustrie nachzudenken. Es gibt sie nicht." 3 Was es gibt, sind erste Ansätze, in denen massenkulturelle Gestaltungsstrukturen und -verfahren unvoreingenommen in ihrer widersprüchlichen geschichtlich-gesellschaftlichen Verweiskraft untersucht werden, so z. B. innerhalb der Comic-Forschung. Prokop hat auch eine Analyse der Fernseh-Live-Sendung aufgenommen, die sich in dem bekannten Buch von Umberto Eco „Das offene Kunstwerk" findet, das sich überwiegend mit Formen und Problemen avancierter Kunst beschäftigt. In konzentrierter Form hat Eco bereits Mitte der sechziger Jahre in seinem Buch „Apokalyptiker und Integrierte: Zur kritischen
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Kritik der Massenkultur" Wege zu einer Ästhetik der Massenkultur erkundet. Doch warum fordert Prokop eine Ästhetik der Massenkultur? Warum hält er ihren Aufbau für notwendig? Es sind vor allem drei Gründe, die Prokop zur Sprache bringt: 2. Ohne Ästhetik (und Kunstwissenschaften) ist die Frage nach der Objektivität, d. h. nach einem eigenen Wahrheitsgehalt von Massenprodukten in ihren spezifischen Gestaltungen nicht zu stellen. 2. Ohne Ästhetik ist die Sinnlichkeit der Massenprodukte in Relation zu massenhaften Glücksansprüchen, zur Sinnlichkeit der Rezipienten, zur Möglichkeit ästhetischen Lustgewinns nicht zu untersuchen. 3. Ohne Ästhetik sind die Widersprüche zwischen standardisierten und innovatorischen Gestaltungselementen in ihren entsprechend widersprüchlichen Sinnbezügen, d. h. insgesamt die Widersprüche in der Produktstruktur nicht zu erfassen. Daraus folgt: Ohne Ästhetik wird die Massenkultur einem pragmatisch-pluralistischen Relativismus ausgeliefert. Verzicht auf Ästhetik (und Kunstwissenschaften) heißt auch Verzicht auf die Ermittlung, Erprobung und Anwendung von Qualitäts- und Bewertungsmaßstäben. In der Überleitung vom ersten zum zweiten Band seiner Anthologie setzt sich Prokop mit der positivistischen Massenkommunikationsforschung auseinander und meldet entscheidende Vorbehalte an: „Die auf Ordnung der Phänomene beschränkte Klassifikation selektiert aus der gesellschaftlichen Realität lediglich abstrakte Variablen als abstrakte Faktizität:,Sender',,Empfänger', Präferenzen', Einstellungen', ,Rollen', ,Verhaltensmuster' etc."4 Der positivistischen Massenkommunikationsforschung genüge es, daß alles, gleichwie, „funktioniere". Sie verhält sich indifferent gegenüber der Frage, ob die Rezipienten „mangels Alternativen resigniert, gelangweilt und nervös die an ihren Interessen universalistisch vorbeisendenden Aktualitäten oder Unterhaltungsstücke verfolgen oder ob sie wirklich ein legitimes Erkenntnis* und Amüsementbedürfnis erfüllt bekommen".5 Der positivistischen Bestimmung des Gebrauchs hält Prokop entgegen: „Die Kategorie des ,Gebrauchs' ist von der gesellschaftlichen Praxis und Totalität her zu bestimmen, von der aus allein auch die Objektivität der ästhetischen Kategorien, als des Zusammenhangs von Wahrheit und ,Schönheit', zu erweisen ist." 6 Demgegenüber ersetze die positivistische Forschung die Frage nach dem Wahrheitsgehalt ästhetischer 205
bzw. künstlerischer Strukturen durch das Ordnungsschema der Zuordnung bestimmter kultureller Produkte zu jeweiligen Publika. „Soweit sich die positivistische Forschung mit dem Phänomen der Massenkultur beschäftigt, hat dieses konstitutive Moment ihrer Theorie einen obstinaten Relativismus im Bereich der Ästhetik zur Folge."7 Prokops Kontrahenten könnten auf den starken Adorno-Einfluß verweisen, dem er unterliegt. Das ist aber kein Argument dagegen, an den zentralen Fragen nach Wahrheit und Qualität, auch im Hinblick auf Massenkultur, entschieden festzuhalten. Soweit Prokop sich auf die Kritische Theorie Adornos beruft, so führt er sie zugleich mit stark veränderten Mitteln fort. Grundsätzlich teilt er Adornos Auffassung, die kapitalistische Medienindustrie mißbrauche die Rücksicht auf die Massen dazu, „ihre als gegeben und unabänderlich vorausgesetzte Mentalität zu verdoppeln, zu befestigen, zu verstärken" 8 . Er schließt sich aber keineswegs Adornos pauschaler Folgerung an: „Durchweg ist ausgeschlossen, wodurch diese Mentalität verändert werden könnte." 9 Auf der einen Seite nimmt Prokop die massenhaften Rezipientenbedürfnisse sehr viel ernster, sucht auch in entfremdeten, deformierten Formen von Lust- und Sinnbedürfnissen ihren berechtigten Lebensgrund. Auf der anderen Seite achtet er stärker auf Widersprüche in der Produktstruktur, er schlägt gewissermaßen Adorno mit dessen eigenen Waffen, wenn er z. B. argumentiert: "Wenn man den gesellschaftlichen Gehalt eines Produkts ... herausarbeiten will, dann empfiehlt es sich eher, darüber nachzudenken, ob man das Produkt von seiner Gestaltung her für fortgeschritten hält und worin; wie sich die Inhalte dazu verhalten .. ,"10 Für Prokop gilt es als erwiesen, daß sich in der Realität der Erfahrung der Medienprodukte ,gute' wie schlechte', wahre und falsche Momente scheinbar unentwirrbar miteinander mischen. Hier habe Analyse anzusetzen, deren methodologische Grundlage auf keinen Fall ahistorisch sein kann: „Zum Herausarbeiten des gesellschaftlichen Gehalts in der Produktstruktur gehört auch historisches Wissen über die Produktstruktur und deren Zustandekommen." 11 Die Widersprüche in der Produktstruktur resultieren vor allem aus innovatorischen Elementen, ohne welche die Massenkultur nicht auskommt: das ergibt sich aus ihrem Zusammenhang mit der Produktivkraftentwicklung. Als ein Beispiel dafür wird in Prokops Anthologie der Video-clip präsentiert: als Form der Werbung, kalkuliertes Produkt von Public-Relations-Spezialisten, entwickelt er sich zugleich als Kunstform, die neue Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet hat. 206
Wenn Prokop auch Massenprodukten gegenüber auf dem Zusammenhang von Wahrheit und ästhetischer Qualität besteht, so bedeutet das nicht, daß er Massenkultur auf,reinen' Erkenntniszuwachs festlegen will. Erkenntniszuwachs wird im ästhetischen Gestaltungszusammenhang ohnehin niemals ,rein', d. h. arbeitsteilig spezialisiert angestrebt und erreicht: er haftet nicht minder an der gesamten Form als der Ausdrucksgehalt, der wiederum aufgrund seiner geschichtlich-gesellschaftlichen Verweiskraft paradoxerweise in Erkenntnisgehalt umschlagen kann. Dies muß aber zur Debatte gestellt und zum Gegenstand ästhetischer Analyse gemacht werden. Wo die ,reine Information' über politische, ökonomische und soziale Angelegenheiten dem „Anspruch der Massen auf Amüsement" 12 gegenübergestellt wird, sieht Prokop vielmehr eine lediglich „abstrakt-kritische Massenkommunikationsforschung" an der Arbeit. Das darin wirksame „rationalistische Aufklärertum" belegt er durch folgende Aussage von Horst Holzer (dessen konsequent demokratischer medienpolitischer Forderung nach gewerkschaftlicher Mitbestimmung und veränderten Eigentumsverhältnissen Prokop insgesamt nicht gerecht wird): „Die unterhaltenden Elemente schleppen genau die Stereotypen, Irrationalitäten und Ideologien, Ängste und Unsicherheiten, Frustrationen und Aggressionen wieder ein, die abzubauen die informierenden, kommentierenden, kritisierenden und kontrollierenden Beiträge gerade zur Aufgabe haben sollen."13 Ist diese Alternative haltbar? Handelt es sich bei den Unterhaltungswerten der Massenkultur im Imperialismus ausschließlich um Verschleierungs- und Verführungstaktiken und -techniken? Hier wird nach Prokop die Rezeption bzw. Konsumtion von Medienprodukten auf Informationsverarbeitung reduziert: Sinnlichkeit spiele keinerlei Rolle. Prokop befragt die verschiedenartigen Konzepte der Medienforschung, die er dokumentiert, nach ihrer Stellungnahme zum Problem der Qualitäts- und Bewertungsmaßstäbe. In kritischer Einschätzung, die durchaus nicht immer zutreffend ist, sondern die kritisierte Position mitunter einseitig verzeichnet, präsentiert er: die klassifikatorische „Inhaltsanalyse"; die Semiotik, die er auf syntaktische Analysen und Ermittlung semantischer Konventionen reduziert; die wissenschaftliche Rhetorik, die sich ausschließlich für Strukturelemente und -zusammenhänge der Überredungskommunikation interessiere; die Ideologiekritik, die sich von einem „rationalistischen Aufklärungsideal" nicht befreien könne; den psychoanalytischen Ansatz, der alles aus dem Unbewußten erklären wolle. Allen Konzepten wirft Prokop 207
gleichermaßen Ignoranz vor. Der quantitativ-klassifikatorischen Inhaltsanalyse sagt er nach, daß sie sich darauf beschränke, auszuwählen, was in den Produkten an Sujets, Handlungsrollen, Formelementen usw. vorkomme. Wolfgang Fritz Haug's „Kritik der Warenästhetik" legt er zur Last, sie verfolge eine Kritik der Warenästhetik ohne Ästhetik, da sie „von ihrem rationalistischen Aufklärungsideal her alle Gestaltung eigentlich von vornherein ablehnt" 14 . An vielen ideologiekritisch-soziologischen Arbeiten beanstandet Prokop, daß sie die Analyse von Gestaltungsweisen zugunsten des Entlarvens von Vorurteilen und Wertvorstellungen zurückstellen. „Damit sind aber die in der Produktstruktur gegebenen Widersprüche und Spannungen - zwischen unterschiedlichen Formen von Erfahrung und auch zwischen innovativen Aspekten und repetitiven Aspekten - nicht analysierbar." 15 Prokop selber faßt ästhetische Gestaltung als besondere Aneignungsweise auf - als „Aneignung der Realität nicht mehr unter dem Aspekt ihrer bloßen Nützlichkeit, sondern zur Entfaltung der Sinne und der Vernunft" 16 . Diese Unterscheidung ist insofern gerechtfertigt, als auch Marx in seiner Aneignungskonzeption zwei verschiedene Weisen heraushebt, die materielle Produktion zu betrachten: einmal lediglich unter dem Aspekt „einer äußern Nützlichkeitsbeziehung", zum andern im Hinblick auf die geschichtliche Selbsterzeugung des gesellschaftlichen Menschen. 17 Beide Beziehungen sind seinerzeit in „Ästhetik heute" als Gebrauchswert und Gestaltwert unterschieden und in eine spezifische Widerspruchsbeziehung gesetzt worden. Angemessener ist es jedoch, von einer widersprüchlichen Einheit von Zweck- und Sinnfunktionen zu sprechen, wenn wir davon ausgehen, daß Sinnfunktionen stets auf historisch-sozial determinierte Motivationszusammenhänge von Tätigkeiten verweisen, in denen jeweils konkrete Zwecke gesetzt werden. So notwendig die Entwicklung einer Ästhetik der Massenkultur ist, sie kann nicht voraussetzungslos aufgebaut werden. Insofern mindert es keineswegs die Bedeutung der Ästhetik, daß ihr erst der abschließende dritte Band der Medien-Anthologie von Prokop gewidmet ist. Es ist nur folgerichtig, daß im ersten Band in technischen, ökonomischen, sozialen Basisprozessen die Ausgangspunkte aller Medienforschung gesucht werden und im zweiten Band ein breitangelegter Methodenstreit zur Wirkungsforschung entfacht wird, bevor konkrete Produktanalysen die Frage nach Maßstäben zu einer Herausforderung für die Ästhetik werden lassen.
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Massenprozesse - Massenmedien - Massenkultur. Stichworte zur Diskussion Gravierende Fragen sind es, die auf dem Weg zu einer Ästhetik der Massenkultur erörtert werden müssen: Das beginnt bereits bei den verwendeten Termini - „Massenkultur", „Massenmedien", „Massenprozesse". Wie ist der begriffliche Kern dieser Termini beschaffen, die ja unter durchaus wechselnden Sinnaspekten gebraucht werden? Welcher gesellschaftstheoretische Massenbegriff liegt ihnen zugrunde? 2. In ihren historischen Ursprüngen sind die modernen Massenprozesse eine Erscheinungsform der kapitalistischen Vergesellschaftungsstufe. Alle Produktion verlangt elementare Vergesellschaftung in produktionstechnischer Hinsicht (kooperative Anwendung von Arbeitsmitteln in dialektischer Wechselwirkung mit der Arbeitsteilung) und in sozialökonomischer Beziehung (gesellschaftliche Naturaneignung erfolgt immer in bestimmten Produktionsverhältnissen). Im Kapitalismus nimmt die Vergesellschaftung der Produktion eine historisch neuartige Dimension an. Marx nennt als Kennzeichen dieser Vergesellschaftung vor allem die Entwicklung der kooperativen Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter - die bewußte technologische Anwendung der Wissenschaft - die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel - die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit - die Verschlingung aller Völker in das Netz des Welthandels. 18 Der soziale Kernprozeß der Vergesellschaftung der Produktion ist die kombinierte Aktion der werktätigen Massen in der industriellen Produktion, die im Kapitalismus aber dem Kommando des Kapitals unterworfen ist, das „die Vereinigung der Massen von Händen und Instrumenten" 19 historisch zustande gebracht hat. Im kapitalistischen Vergesellschaftungsprozeß bildet sich das Industrieproletariat „als sozialökonomischer und später auch politisch-ideologischer Kern der Arbeiterklasse . . . Die Lohnarbeit erhält damit gewissermaßen ihr Gravitationszentrum, ihren Pol, in dessen Kraftfelder sich die übrigen Gruppen der Arbeiterklasse eingliedern". 20 Der Vergesellschaftungsprozeß prägt auch die allgemeinen Lebensbedingungen der Gesellschaft in der Entwicklung der großen Städte, des Transport- und Nachrichtenwesens, der Massenproduktion und -konsumtion materieller und immaterieller Gebrauchswerte, aber auch die Massenform sozialer und politischer Bewegungen. 14
Feist
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Auf diese Entwicklung haben bürgerliche Ideologen mit verschiedenen psychologisch oder soziologisch orientierten Vermassungskonzepten reagiert. Sollten diese Konzepte auf der einen Seite der Abwehr der Arbeiterbewegung dienen, drückten sie auf der anderen Seite die praktisch erzeugte „Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise" (Marx) 21 aus. Der bürgerliche Massenbegriff widerspiegelte den Fetischcharakter der Warenwelt. Er haftete an den „Gestaltungen des Scheins" 22 , worin sich die „Kerngestalt" des Vergesellschaftungsprozesses verbarg. Die gesellschaftlichen Massenprozesse wurden als Ausdruck eines unbegriffenen Automatismus, sei es technischer, sei es sozialer Natur, mystifiziert. Die Massenprozesse im Kapitalismus sind in der Tat voller Widersprüche, die sich zeitweilig extrem zuspitzen können; wir müssen nur an den Faschismus denken. Dahinter steht aber immer der grundlegende Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung. Dieser Widerspruch durchdringt den gesamten Vergesellschaftungsprozeß: Weist dieser in seiner technisch-ökonomischen Seite über den Kapitalismus hinaus, so bricht er sich in seiner sozialökonomischen Seite in bestimmten Formen der „deformierten Vergesellschaftung" Bahn, angefangen von ersten Formen des Gesellschaftskapitals bis hin zum staatsmonopolistischen Kapitalismus. 2. Der Massenbegriff bleibt völlig abstrakt, wenn die Massenhaftigkeit sozialer Interessen und Aktionen rein quantitativ gefaßt wird, anders gesagt, wenn die Quantität von Massenprozessen zur dominierenden qualitativen Bestimmung avanciert. Lenin schrieb: „Jedermann weiß, daß die Massen sich in Klassen teilen; daß man Massen und Klassen nur dann einander gegenüberstellen kann, wenn man die überwiegende Mehrheit schlechthin, nicht gegliedert nach der Stellung in der sozialen Ordnung der Produktion, den Kategorien gegenüberstellt, die in der sozialen Ordnung der Produktion eine besondere Stellung einnehmen .. ," 2 3 Wenn Marxisten den Massenbegriff verwenden, so ist dabei nicht gedacht „an die abstrakte unveränderliche ,Masse' der bürgerlichen Psychologen und Soziologen, sondern an die wirklichen, voneinander unterschiedenen Völksmassen der verschiedenen historischen Gesellschaftsformationen und ihre nach Form und Wirklichkeit unterschiedliche historische und kulturelle Aktivität" 24 Der Verweis auf die Massenhaftigkeit von gesellschaftlichen Lebenserscheinungen erübrigt daher nicht die konkrete soziale und historische Analyse unter Einbeziehung aller relevanten Basisprozesse.
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3. Auch die Entwicklung der Massenmedien ist nicht als technischer Automatismus zu betrachten. Die Massenmedien haben sich im Gesamtzusammenhang des Vergesellschaftungsprozesses entwickelt und sind aus ihm nicht herauszulösen - die neueste Entwicklung eines universellen Informationsnetzes der Telekommunikation ist Moment, Mittel und Resultat des historischen Ubergangs von extensiver zu intensiver Vergesellschaftung nicht nur der Produktion, sondern des gesamten gesellschaftlichen Lebensprozesses. Diesen Zusammenhang dokumentiert auch die erwähnte MedienAnthologie von Dieter Prokop. Die Entwicklung der modernen Informationstechnik bis hin zu den „Neuen Medien" der Telekommunikation (Beispiel Bildschirmtext) ist eine neue Dimension der Produktivkraftentwicklung. In unserem Land geht der Ökonom Harry Nick so weit, Information in Gestalt technischer Systeme der Sammlung, Speicherung, Übertragung und Verarbeitung von Information zu einem besonderen Element der modernen Produktivkräfte zu erklären. Nick erörtert die ihm gestellte Frage, „ob es nicht zutreffender wäre, nicht die informationsverarbeitende Technik, sondern die Automatisierung als Kernprozeß der wissenschaftlich-technischen Revolution anzusehen" und begründet seine Auffassung folgendermaßen: „Erstens reicht das Wirkungsfeld der informationsverarbeitenden Technik weit über die automatisierten Prozesse hinaus . . . Zweitens ist die (für die Zwecke der Steuerung und Regelung technologischer Prozesse eingesetzte) informationsverarbeitende Technik gerade das Element des maschinellen Systems, das es erst zum automatisierten System macht." 25 Nick steckt das Wirkungsfeld informationsverarbeitender Technik in weiten Grenzen ab: „Ein wichtiger Aspekt des Informationsproblems besteht darin, daß mit dem steigenden materiellen Lebensniveau der Menschen und bei kürzerer Arbeitszeit das Gewicht jener Bedürfniskomplexe besonders stark anwuchs, die die geistig-kulturellen Bedürfnisse, die Bedürfnisse nach Information, Unterhaltung umfaßt. Information (zu der natürlich auch Musik, gehört) und Informationstechnik mußten hier natürlich eine bedeutende Rolle spielen." 26 W. Sydow bringt diese Entwicklung vor allem mit der qualitativen Wandlung der Vergesellschaftungstendenzen aus extensiven in intensive zusammen: „Die nichtlineare Entwicklung der Produktivkräfte, die . . . in Form und Inhalt sich verändernde Arbeitsteilung, die Vielzahl der sich durchdringenden und verflechtenden Kooperationsbeziehungen . . . macht komplexes Erfassen der objektiven Realität zur
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notwendigen Voraussetzung des Handelns. Eine derartige Entwicklung schafft notwendigerweise höheren Kommunikationsbedarf, das heißt nicht nur höheren Informations-, Unterhaltungs- und Bildungsbedarf schlechthin, sondern ein Bedürfnis nach universeller Kommunikation, die dem Niveau des wechselseitigen Aufeinanderwirkens der Menschen entspricht und deren Ergebnis wiederum auf den Stand der Produktivkräfte zurückwirkt. Daraus resultiert, daß die Massenkommunikation eine notwendige Bedingung des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses ist." 27 Das ruft unter kapitalistischen Bedingungen neue soziale und kulturelle Widersprüche hervor. Nick betont: „Trugen die Gesellschaftsordnungen, die vornehmlich auf dem Privateigentum am Menschen, am Boden und an den Produktionsinstrumenten beruhten, von Anbeginn den Kern ihres Untergangs in sich, so ist das Privateigentum an Information, das heißt die Monopolisierung von Wissen, geradezu ein Unding. Die Information produzierende Arbeit ist allgemeine Arbeit, weil sie niemals das Resultat nur der Arbeit eines einzelnen ist und weil ihr Ergebnis dem Wesen der Sache nach der Allgemeinheit gehört."28 Prokops Medien-Anthologie dokumentiert reichhaltig, welche neuen sozialkulturellen Antagonismen aus der kapitalistischen Aneignung der technologischen Möglichkeiten erwachsen: so z. B. der Widerspruch zwischen den „information rieh" und den „information poor", der Widerspruch zwischen technischen Voraussetzungen zur Internationalisierung der Kommunikation und deren Reduktion auf internationalen Vertrieb „metropolitaner" Monopolprodukte; der Widerspruch zwischen sozialstruktureller Differenzierung der Massen in den kapitalistischen Ländern und der Tendenz zur kulturellen Gleichförmigkeit in der Massenkultur. Für den letztgenannten Widerspruch bietet Prokop die Erklärung an, daß Information und Unterhaltung aus Verwertungsinteressen auf universelle Tauschbarkeit zugerichtet werden: dies führe zu ihrer Entdifferenzierung, Abstraktifizierung, Formalisierung.29 Demgegenüber darf freilich nicht übersehen werden, daß das Verwertungsinteresse auch eine Gegentendenz zu der von Prokop konstatierten Entdifferenzierung hervorgebracht hat - die zunehmende Orientierung auf Zielgruppen, die sich beispielsweise in der Werbung, also auch im Graphik Design äußert. Diskussionswürdig ist auch der Begriff der Massenmedien, der im Umfeld des bürgerlichen Massenbegriffs entstanden ist. Auch wenn der Begriff sich längst endgültig durchgesetzt hat, sollte dieses Umfeld mitbedacht werden, weil der Begriff entsprechende Konnota212
tionen mit sich führt, die nicht frei von Elementen einer Fetischisierung der Apparaturen industrialisierter Kommunikation sind. Der Terminus „Medium" bezeichnet im Lateinischen die Mitte in einer mehrgliedrigen Beziehung, auch in einem zeitlichen Ablauf. So unterscheidet man in der klassischen Rhetorik Anfang, Mitte und Ende (initium, medium, finis) einer Erzählung (narratio) von Tathergängen, und die Funktion der Ordnung der Gedanken (dispositio) besteht in der zwei- oder mehrgliedrigen Aufteilung eines Ganzen: in der häufig angestrebten Dreigliedrigkeit werden wiederum Anfang, Mitte und Ende (initium, medium, finis) unterschieden. Dieser Sprachgebrauch ist verallgemeinert worden, um Mittelglieder verschiedener Art zu bezeichnen, aktive und passive. Das Extrem eines passiven Mediums ist etwa das spiritistische „Medium". Hegel macht daher durchaus einen Unterschied zwischen Medium und Werkzeug, weil er Werkzeug als Vermittlungsglied aktiven Handelns der Menschen begreift. So schreibt er in der Einleitung zur „Phänomenologie des Geistes": „Denn ist das Erkennen das Werkzeug, sich des absoluten Wesens zu bemächtigen, so fällt sogleich auf, daß die Anwendung eines Werkzeugs auf eine Sache sie vielmehr nicht läßt, wie sie für sich ist, sondern eine Formierung und Veränderung mit ihr vornimmt. Oder ist das Erkennen nicht Werkzeug unserer Tätigkeit, sondern gewissermaßen ein passives Medium, durch welches hindurch das Licht der Wahrheit an uns gelangt, so erhalten wir auch so sie nicht, wie sie an sich, sondern wie sie durch und in diesem Medium ist." 30 Hegel nimmt hier ein physikalisches Medium als Vergleichspunkt, denkt an optische Strahlenbrechung. Wenn Marshall McLuhan Medien auf Werkzeuge, technische Systeme zurückführt, so gibt er dem Begriff einen entschieden aktiven Sinn, der den von Hegel gemachten Unterschied aufhebt.31 Dennoch bleibt der Terminus ambivalent, vieldeutig, vag. Das zeigt sich auch in der durchaus nicht einheitlichen kommunikationstheoretischen Terminologie, in der beispielsweise die Grenzen zwischen „Kanal" und „Medium" verschwimmen. Einmal werden die Ausdrucksmittel als Medium bezeichnet, dann wieder lediglich ihre materiellen Signaleigenschaften. Auf diese Diskussion bezogen, erscheint es am sinnvollsten, einen dialektischen Vermittlungsvorschlag zu riskieren: Wir definieren Kommunikationsmedien als Ausdruckssysteme der sozialen Kommunikation auf der Grundlage physikalischer bzw. technischer Trägersysteme. 213
Im Begriff der Massenmedien wird die Bezeichnung Medium aber auch auf die technischen und sozialökonomischen Apparaturen industrialisierter Kommunikation ausgedehnt; der fetischisierende Zug dieser Übertragung liegt darin, daß die Apparate in Sprachröhren anonymer Mächte aufgelöst erscheinen. In Wahrheit handelt es sich um den kulturellen Kommunikationstyp der vergesellschafteten Produktion. Georg Lukäcs hat in den sechziger Jahren auch künstlerische Ausdruckssysteme in ihren materiellen Signaleigenschaften, bezogen auf die spezifischen Sinne der Menschen, als Medien, und zwar als jeweils homogene Medien bezeichnet. 32 Er hat den Terminus Medium wiederum nicht verwendet, um die ihm am Herzen liegende Funktion von Kunstwerken als potentielle Werkzeuge der Humanisierung der Menschen zu kennzeichnen. So schwankt der Sprachgebrauch insgesamt zwischen der Betonung der aktiven und der wenn auch nicht immer ausdrücklichen Hervorhebung der passiven Seite der Sache, die da als Medium figuriert. Wenn wir dem Begriff des Mediums vornehmlich einen aktiven Sinn geben, dann lassen sich Kunstwerke durchaus auch als Medien der individuellen und gesellschaftlichen Lebensaneignung auffassen. Dann sind aber auch die Massenmedien genau in diesem Sinne, d. h. als Werkzeuge der Lebensaneignung, ernst zu nehmen und kritisch zu befragen. 4. Massenkultur ist nicht auf Massenkommunikation zu reduzieren. In einer Gesprächsrunde in der Redaktion der Zeitschrift „Weimarer Beiträge" skizziert Günter Mayer einen Ansatz, den zu verfolgen sich lohnen könnte. „In traditioneller Weise wird ja Massenkultur in der Gedankenkette behandelt, daß sie an die Massenmedien gebunden ist, also an den Einfluß von Wissenschaft und Technik auf die Kultur. Und das wird dann wieder eingegrenzt auf die durch die Massenmedien verbreiteten Kunstformen und gleichgesetzt mit Unterhaltung: Massenkultur ist gleich Massenkommunikation . . . Ich glaube, man müßte doch versuchen, die Frage nach der Massenkultur von der Qualitätsseite her zu stellen, also von dem bloß Quantitativen wegzukommen. Und das kann in unserem Sinne nur heißen, daß wir als echte Massenkultur begreifen die von progressiver Erfahrung der Werktätigen, vor allem der arbeitenden Massen, aufsteigenden kulturellen Fortschritte, also die Kultur der Massen selbst ... Ich würde diesen Ansatz auch über die Kunst hinaus sehen. Wenn es allein um die Kunst geht, haben wir die Massen nur als Rezipienten und noch
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nicht das, was die Massen selber an spontanen Sachen und Initiativen hervorbringen, was aus ihrer eigenen Lebenstätigkeit hervor- und über sie hinausgeht. Wenn wir Ernst damit machen wollen, müssen wir die Frage stellen, inwieweit in der Arbeitskultur, in der Wohnkultur, in der Kultur der Sprache, in der Kultur der gesellschaftlichen Beziehungen, in der sexuellen Kultur von den Massen etwas gemacht wird, was historisch eine neue Qualität darstellt gegenüber der bürgerlichen Kultur." 33 So richtig die Frage gestellt ist, so wäre dennoch eine notwendige Vorfrage zu klären: Ist der Adressat nicht zu abstrakt skizziert? „Massenkultur" bleibt auch unter sozialistischen Verhältnissen ein vager Terminus, solange nicht klassen-, schichten-, ja selbst gruppen- und generationsspezifische Besonderheiten berücksichtigt werden. Günter Mayer betrachtet sozialistische Massenkultur vornehmlich als langwierigen und widerspruchsvollen Prozeß massenhafter individueller Subjektivitätsentwicklung. Das ist insofern ein Grundzug sozialistischer Kulturentwicklung, als Massenkultur und Individualitätsentwicklung einander nicht ausschließen, sondern in der von Mayer angedeuteten Perspektive einander vielmehr bedingen. Die Dynamik unserer Entwicklung hängt davon ab, wieweit schöpferische Individualitätsentwicklung nicht auf wenige Individuen beschränkt bleibt, sondern eine Chance für die überwiegende Mehrheit der Werktätigen darstellt. Die Frage ist jedoch, ob diese unverzichtbare Orientierung auf massenhafte Individualitätsentwicklung bereits den spezifischen Punkt trifft, auf den es ankommt, wenn von Massenkultur die Rede ist. Individualitätsentwicklung und Massenkultur sind keine abstrakten Gegensätze, aber sie sind auch nicht abstrakt identisch. Gewiß, die Massenhaftigkeit des gesellschaftlichen Lebens äußert sich nicht nur darin, daß Individuen als unmittelbare Glieder von Massenaktionen bzw. -prozessen aktiv werden; sie äußert sich auch und vor allem in einer bestimmten gesellschaftlichen Beziehungsqualität individuellen Verhaltens zur Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse. Gesellschaftliche Verhältnisse werden nicht schlechthin durch individuelles Verhalten reproduziert, sondern durch das „aktive, massenhafte, sich wiederholende gegenseitige Verhalten der Individuen im Stoffwechselprozeß mit der Natur" 34 . Massenhaftigkeit ist auch eine Verhaltensdimension; sie muß daher in wechselseitiger Vermittlung sozial- und persönlichkeitspsychologischer Gesichtspunkte begriffen werden. Massenweises Verhalten der Individuen ist stets in verschiedener Weise durch individuelle und
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kollektive Aktionen vermittelt. Auf sozialistischer Stufe setzt das massenhafte Verhalten der Individuen in bestimmter Hinsicht massenhafte Individualitätsentwicklung voraus - aber es geht darin nicht auf. Massenhaftes gegenseitiges Verhalten der Individuen im Aneignungsprozeß der gesellschaftlichen Lebenssicherung und -gestaltung ist ein Grundzug des Alltagsverhaltens, und es bleibt sich ebensowenig immer gleich wie dieses. Es unterscheidet sich vielmehr in seinen historischen Aneignungsqualitäten. Es ist daher auch ein Maßstab von Massenkultur, welche Aneignungsqualitäten massenhaften Handelns jeweils gefordert und ermöglicht werden. Sozialistische Massenkultur ist der Prozeß, in dem die in Klassen und Schichten organisierten Individuen lernen und erproben, ihr vielfach aufeinander bezogenes, sich wiederholendes, notwendiges, in diesem Sinne massenhaftes Handeln zur erweiterten Reproduktion des Gesellschaftslebens aktiv und bewußt selber zu gestalten. 5. Massenkultur ist mehr als Massenproduktion und -konsumtion von Kunst. Massenkultur muß in der ganzen Breite und Verflochtenheit des marxistischen Kulturbegriffs erfaßt werden. „Individuelle Vergesellschaftung . . . - das bleibt der übergreifende Gesichtspunkt für alle kulturwissenschaftlichen Untersuchungen. Zugleich ist er dies in einer von der jeweiligen konkreten Fragestellung abhängigen, bestimmten Weise: in Untersuchungen von gesellschaftlichen Institutionen zur Bildung und Erziehung der Individuen anders als bei der Erforschung des Entstehungsprozesses von Klassenkulturen und ihres Verhältnisses zueinander in einer konkreten Gesellschaft oder wenn es . . . um die systematische Darstellung wesentlicher, logischer Zusammenhänge zwischen Verhältnissen und Verhaltensweisen, zwischen den Erfordernissen des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses und der Herstellung individueller Handlungsfähigkeit geht." 35 Zur individuellen Handlungsfähigkeit gehört aber auch die Befähigung, sich in qualifizierter Weise, in einer bestimmten Aneignungsqualität, im Alltagsleben gewissermaßen massenhaft überindividuell zu verhalten. Objektive Kultur wird als ein System von Lebensbedingungen verstanden. Dazu werden beispielsweise gerechnet: die Arbeitsbedingungen, das Verhältnis von Arbeits- und freier Zeit, die Wohnund Siedlungsweise, die Ehe- und Familienformen, die Verkehrsbedingungen und Dienstleistungen, die Kommunikationsformen, die institutionalisierten Formen der Erziehung, der Aus- und Weiterbildung, die Formen und Angebote zur Freizeitgestaltung, die Verhaltensnormen, die Umgangsformen, die Sitten und Gebräuche zur 216
Regelung des Alltags usw. „Zu den Lebensbedingungen gehören auch die außermenschliche Natur und die biologische Konstitution der Individuen selbst."36 Im Gesamtsystem der Lebensbedingungen, die in der Lebenstätigkeit der Individuen individuell angeeignet werden und dadurch eine bestimmte individuelle Subjektivitätsentwicklung ermöglichen und erfordern (subjektive Kultur), weist Irene Dölling den sogenannten kulturellen Formen (oder auch kulturell-symbolischen Formen) besondere Bedeutung zu. Sie versteht darunter im Anschluß an Heidi Rosenbaum „relativ stabile, mehr oder weniger lang tradierte Formen", „in denen die Individuen ihre persönlichen Erfahrungen in eine Ordnung, in einen Zusammenhang bringen, der ihren Lebenstätigkeiten Regelmäßigkeit und Kontinuität verleiht: zu vorangegangenen Generationen und aktuell zu ihren Mitmenschen".37 Als Beispiel einer kulturellen Form nennt Irene Dölling historisch unterschiedliche sozialkulturelle Vermittlungsformen der Geschlechterbeziehung. Kulturelle Formen umfassen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, Normen, Werte, Symbole. Zwei Momente hebt Irene Dölling hervor: Erstens sind in kulturellen Formen gesellschaftliche Strukturen und Widersprüche in anschaulicher Weise, in Gestalten gegenwärtig, die aus der unmittelbaren individuellen Erfahrungswelt stammen. Zweitens aber sind sie in Form und Sinngehalt so allgemein, daß sie für verschiedene Situationen funktional sind. Kulturelle Formen können wir daher auch als bestimmte Vermittlungsglieder zwischen individualisiertem und massenhaftem Handeln begreifen. Gerade in der „Alltagskultur" lassen sich massenhaft wirksame kulturell-symbolische Formen ermitteln, wenn auch in sozial differenzierter, jeweils klassen-, schichten- und gruppenspezifischer Weise. Auch sind sie nicht immer so langlebig, wie Irene Dölling annimmt, anders gesagt, sie schließen durchaus auch wechselnde Verhaltensstile ein, wie etwa ein Blick auf das in sich stark differenzierte jugendspezifische sozialkulturelle Umfeld der Rockmusik zeigt, deren jeweilige Aneignung, wie Peter Wicke nachgewiesen hat, sich in ein Ensemble kultureller Formen eingliedert. In ästhetischer Blickrichtung erfassen wir Massenkultur als den im universellen Vergesellschaftungsprozeß realisierten Gesamtzusammenhang individueller und gesellschaftlicher Lebensgestaltung in der widersprüchlichen Einheit ihrer Gestaltformen und Sinnbestimmungen. Künstlerische Massenkultur (auch als Gesamtheit populärer Künste bezeichnet) ist nur ein Teilbereich ästhetischer Massenkultur. Unter ästhetisch-künstlerischen Gesichtspunkten bezieht sich Massenkultur 217
zunächst auf die Entwicklung einer ästhetischen und künstlerischen Kultur unter industriellen Bedingungen, und zwar nach dem produktiven und rezeptiven Anteil der werktätigen Massen an dieser Kultur. Die rezeptive Aneignung von Massenprodukten kann nicht einfach als bloße Konsumentenkultur abgetan werden, solange nicht geprüft wird, wieweit es sich hierbei auch um ein Stück Lebensaneignung handelt. Im internationalen Maßstab ist ästhetisch-künstlerische Massenkultur heute durch übergreifende Tendenzen gekennzeichnet, die nicht nur auf gleichartigen technisch-ökonomischen Voraussetzungen beruhen (während sich die sozial-ökonomischen Voraussetzungen unterscheiden), sondern auch auf globalen Lebensproblemen und -interessen, auf allgemeinen, von Vergesellschaftungstendenzen geprägten Lebensbedingungen, auf der Internationalisierung kultureller Kommunikation. Den formationsgeschichtlich relevanten Unterschieden wird weitere Forschung gelten müssen. Zum Kunstanspruch in der Massenkultur Da künstlerische Kultur nur lebensfähig ist, soweit sie in eine lebendige ästhetische Kultur eingebettet ist, besteht überhaupt kein Grund, für alle massenkulturellen Aktions- und Produktformen den Kunstanspruch zu reklamieren; dies wird geradezu absurd, wenn wir die sozialen und kulturellen Massenaktivitäten als Kern der Massenkultur auffassen. Es ist ein Irrtum anzunehmen, der Massenkultur sei damit gedient, daß die verschiedenartigen Aktions- und Produktformen, die sie hervorbringt, unterschiedslos als Kunstäußerungen behandelt werden, ohne daß dafür Kriterien angegeben werden, anhand derer ein solcher Anspruch überprüfbar wäre. Die Massenkultur ist das Feld eines breit gefächerten ästhetischen Verkehrs, der sich nur bedingt und partiell unter Kunstanspruch vollzieht, während er sich in weiten Teilen in Formen entwickelt, die sich einer pauschalen Kunstverpflichtung entziehen, weil sie ganz andere Zwecke verfolgen. Das bedeutet nicht, daß sie keine ästhetischen Ansprüche anmelden, wecken und befriedigen, aber eingeordnet in Funktionszusammenhänge, in denen andere Ansprüche dominieren. Wer das Ästhetische nicht anders als im Begriff der Kunst denken kann, hat den Kunstzentrismus nicht abgelegt. Der Kunstzentrismus ist nur scheinbar überwunden, wenn alle Bereiche ästhetischer Kultur ins Reich der Kunst aufgenommen werden: sie müssen sich dann nämlich unangemessene, von außen herangetragene, weil kunst-
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gemäße Maßstäbe von Gestaltung und Kommunikation anlegen lassen. Die angemessene Konsequenz der weiten Gegenstandsbestimmung der Ästhetik, die sich nicht mehr ausschließlich als Ästhetik der Kunst begreift, ist das von Lothar Kühne vertretene Konzept der Nicht-Identität des Künstlerischen und des Ästhetischen. Kühne bezieht sich zwar vor allem auf das Ästhetische der praktischen Lebenstätigkeit, in sein Konzept muß aber gleichermaßen das Ästhetische der kulturellen Massenprodukte eingeordnet werden. Kühne schreibt: „Der Kampf um die Verwirklichung des Kommunismus führt zu einer Ästhetik, welche die Kunst als ein Moment der ästhetischen gesellschaftlichen Beziehungen begreift und die Einheit des Ästhetischen in der Wechselbeziehung der unterschiedlichen ästhetischen Verhaltensweisen sieht . . . Erst wenn die faktische Gleichsetzung von Künstlerischem und Ästhetischem als unantastbare Weiheformel aufgegeben wird, wird eine nüchterne Erörterung der Beziehung von Architektur, praktischen und technischen Gegenständen und Kunst (und Massenkultur, d. Verf.) möglich . . . Es geht . . . um die Diskussion weltanschaulicher Voraussetzungen . . . Ich glaube, daß die wichtigste die theoretische Anerkennung der gegenüber der Kunst selbständigen und spezifischen ästhetischen Wertigkeit der praktischen Lebenstätigkeit der Menschen und damit auch der praktischen und technischen Gegenstände sowie der produzierten materiellen Raumbedingungen ihres Lebens ist." 38 Aufgabe der ästhetischen Analyse der Massenkultur ist es nicht, den generellen Kunstcharakter ihrer Äußerungen nachzuweisen, sondern ihre gegenüber der Kunst selbständige und spezifische ästhetische Wertigkeit; das schließt überhaupt nicht aus, daß zu den Erscheinungen der Massenkultur auch eine Vielfalt von Massenprodukten mit Kunstcharakter gehört. Auch wo es sich um massenkulturelle Kunstformen handelt, handelt es sich nicht schlechthin um Kunstwerke. So schrieb Peter Wicke über die theoretischen Schwierigkeiten, die sich aus der spezifischen ästhetischen Problematik von Rockmusik ergeben: „Sie sind . . . ein Ausdruck dafür, daß Rocksongs zwar mit einer Werk-Ästhetik überformt sein können, aber eben keine Kunstwerke sind, nicht einer auf die Werkgestalt des Songs projizierbaren Ästhetik folgen." 39 Das Grelle, Bunte und Triviale, das Rocksongs häufig zeigen, sei kein Makel, der fehlende Tiefsinn nicht künstlerische Schwäche, der offenkundige Nonsens nicht ohne Sinn. Als Bildungselemente von kulturellen Kontexten, die Freizeit, Alltag und Lebensweise umspannen, ordnen sich Rocksongs in Verhaltensstile von Jugendlichen ein, deren Gruppen-
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bildungen erhebliche soziale und kulturelle Unterschiede erkennen lassen. Vor diesem Hintergrund öffnen sich Rocksongs für verschiedene „Möglichkeiten des Gebrauchs, der Sinngebung, der Lust, der Sinnlichkeit und des Vergnügens"40. Wenn Rocksongs im allgemeinen keine Kunstwerke sind, was sind sie dann? Entweder sind sie überhaupt keine Kunstäußerungen (das will Wicke auch nicht behaupten), oder sie gehören offenbar zu nichtwerkhaften Formen von Kunst, deren klare Abgrenzung von werkhaften Formen kunsttheoretisch allerdings bisher nicht gelungen ist (Wicke bemüht sich leider erst gar nicht darum). Wicke polemisiert gegen eine musikwissenschaftliche Werk-Ästhetik, die es in seiner polemischen Vereinfachung wahrscheinlich gar nicht gibt. Der Sache nach geht es auch nicht so sehr um den Werkbegriff, als vielmehr um bestimmte, historisch verwurzelte Werktypen und -konzepte des in sich geschlossenen Kunstwerks. Wiekes Polemik trifft viel weniger, wenn man Formen des offenen Kunstwerks einbezieht, wie sie Umberto Eco beschrieben und analysiert hat. Invariante Merkmale der Werkform von Kunst bestimmt Eco dahingehend „daß man unter ,Werk' eine personale Produktion versteht, die unabhängig von der Verschiedenheit der Auffassung ihre Physiognomie eines Organismus behält und, wie sie auch verstanden oder weitergeführt werden mag, das persönliche Gepräge offenbart, kraft dessen sie besteht, gilt und sich mitteilt".41 Diese Struktur- und Gestaltmerkmale ergeben sich für Eco vor dem Hintergrund der europäischen Kunsttraditionen. Es sind Invarianzen, die historische Varianz einschließen. Sie gelten nach Eco für geschlossene und offene Kunstwerke. Dazu führt Eco aus, „daß 1. die,offenen' Kunstwerke, insoweit sie Kunstwerke in Bewegung sind, gekennzeichnet sind durch die Einladung, zusammen mit ihrem Hervorbringer das Werk zu machen; 2. jene Werke in einen umfassenderen Bereich (als Gattung zur Art Kunstwerk in Bewegung') gehören, die zwar schon physisch abgeschlossen, aber dennoch,offen' sind für ständige Neuknüpfungen von inneren Beziehungen, die der Rezipierende im Akt der Perzeption der Reiztotalität entdecken und auswählen soll; 3. jedes Kunstwerk, auch wenn es nach einer ausdrücklichen oder unausdrücklichen Poetik der Notwendigkeit produziert wurde, wesensmäßig offen ist für eine virtuell unendliche Reihe möglicher Lesarten, deren jede das Werk gemäß einer persönlichen Perspektive, Geschmacksrichtung, Ausführung neu belebt."42 Wie aber lassen sich davon nicht-werkhafte Formen von Kunst abgrenzen? Durch einfache Negation der invarianten Merkmale der
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Werkform: das Zurücktreten der personalen Produktion; die fehlende Physiognomie eines Organismus (ob er nun als geschlossenes oder offenes System betrachtet wird), allgemeiner formuliert, das Fehlen einer in der formalen Organisation angelegten Sinneinheit; die Auflösung des persönlichen Gepräges? - Wiekes Überlegungen laufen durchaus in diese Richtung, so wenn er an anderer Stelle betont: „Rock ist eine kollektive Ausdrucksform, in die sich der einzelne als Musiker immer nur im kollektiven Zusammenhang mit anderen - mit Technikern, Produzenten und selbstverständlich auch mit anderen Musikern - einbringen kann . . . Damit wird Musik zum Medium des Ausdrucks kollektiver Erfahrungen, Emotionen und Gedankenbilder. Sie gerät in Zusammenhänge, sowohl im Prozeß ihrer Produktion wie auch innerhalb der Freizeitstrukturen Jugendlicher, die kollektiver Natur sind."« Hinter der Frage nach werkhaften und nicht-werkhaften Formen von Kunst steht die arbeitsteilige Struktur des Kunstprozesses, die Trennung von Künstler und Publikum, von Aktion und Resultat, - ein Problem, das im Hinblick auf Rockmusik mitzuerörtern wäre. Wenn Wicke Rocksongs als Elemente kultureller Formen auffaßt, so will er damit sagen, daß sie sehr viel unmittelbarer in alltägliche Verhaltenskontexte einbezogen sind als andere Musik. Sie sind auch auf eine andere Aneignungsweise zugeschnitten, weniger auf die intensive sensorische, emotionelle und intellektuelle Verarbeitung ästhetischer Strukturen als vielmehr auf deren sinnliche Aneignung, oft mit dem ganzen Körper, die Umsetzung in Bewegungsmuster und -bilder, denen aus „massenhaft gelebten Alltagsstrukturen" heraus Sinnbezüge zugeordnet werden. „Das heißt freilich mitnichten, daß die Musik darin eigentlich austauschbar sei, es auf ihre klangliche Gestaltung und die Inhalte der Songtexte überhaupt nicht mehr ankomme . . . Das Wichtigste daran ist nicht mehr deren emotionaler Reichtum, deren inhaltliche Erfülltheit und die in künstlerischen Strukturen geronnene Beziehungsvielfalt, sondern deren Durchlässigkeit für jene symbolischen Bedeutungen, die sie durch ihre Hörer erhalten."44 Daraus ergibt sich freilich eine Frage, die Wicke nicht stellt: Ist Rockmusik nur ein Magnetfeld wechselnder Sinngebungen oder ist sie auch ein „Generator von Sinn" (Juri Lotman)45? Inwieweit hat Rockmusik auf kulturelle Zusammenhänge, die im Massenalltag entstanden sind, nur passiv reagiert und inwieweit hat Rockmusik diese Zusammenhänge aktiv angeeignet und dadurch auch für ihre Hörer in bestimmter Hinsicht besser aneigenbar gemacht? Können Rocksongs auch eine An221
eignungsfunktion haben? Vermögen sie auch als Medien individueller und massenhafter Lebensaneignimg wirksam zu werden? Welche Qualitäts- und Bewertungsmaßstäbe lassen sich aus dieser Problemstellung gewinnen? Wenn Wicke Rocksongs nicht länger als Kunstwerke betrachtet, so steht ihr Kunstcharakter für ihn nicht generell in Frage. (Das erfordert aber die Präzisierung von Qualitäts- und Bewertungsmaßstäben, soll nicht einem ästhetischen Relativismus gehuldigt werden.) „Rockmusik verlangt auch als Musik ernstgenommen zu werden, ist als eine legitime Form von Kunstpraxis zu akzeptieren, soll sie in ihren kulturellen Dimensionen wirklich verstanden werden." 46 Nicht-werkhafte Formen von Kunst, die nur in historisch-systematischer Analyse des gesamten gesellschaftlichen Kunstprozesses zu ermitteln sind, hören in keinem Fall auf, gegenständlich manifeste Vermittlungsformen ästhetisch-künstlerischen Verkehrs zu sein. So betont auch Wicke: „Die Bedeutungen, die sie (die Rockmusik, d. Verf.) hat, die Werte, die sie verkörpert, das Vergnügen, das sie vermittelt, sind mit ihr als ästhetisch relevanter klingender Materie verbunden." 47 Wicke redet daher auch nicht dem ästhetischen Agnostizismus das Wort, er befürwortet vielmehr (ähnlich wie Umberto Eco) eine komplexe Sicht, „für die die Ästhetik wie die Soziologie als Wissenschaftsdisziplinen ein geeignetes theoretisches Instrumentarium liefern . . . So eröffnet die Betrachtung des Rock unter soziologischen Gesichtspunkten die Möglichkeit, seine Entwicklung auch als Bestandteil des Alltags und der Freizeit seiner Fans zu sehen und darin verstehen zu lernen, wogegen das theoretische Instrumentarium der Ästhetik die lautstarken Klänge, die pittoresken Gebärden, die oft obskuren Verkleidungen entschlüsseln hilft, den Code aufspürt, nach denen persönliche und kollektive Erfahrungen zu Songs umgeschmolzen werden." 48
Suche nach Maßstäben Eine Ästhetik der Massenkultur ist notwendig, sie kann sich jedoch nicht einfach an Maßstäben orientieren, die aus der Analyse avancierter Kunstformen und -leistungen gewonnen werden. Ästhetik und Kunstwissenschaften müssen - gewissermaßen explorativ - Maßstäbe gewinnen, die den Zweck- und Sinnfunktionen der Massenprodukte und ihren strukturellen Möglichkeiten angemessen sind. Entsprechend sind geeignete Instrumentarien zu entwickeln, wobei auf traditionelle Instrumentarien wie zum Beispiel die Rhetorik, zurückgegriffen
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werden kann, wenn sie sich in erweiterten Anwendungsfeldern neu bewähren. Gleiches gilt für die Toposforschung, die sich in den letzten Jahren verstärkt auf die Funktion von Topoi nicht nur als vorgängig festgelegten Mustern (wie Eco meint) 49 , sondern als Such-und Sinnformeln sozialer Phantasie besonnen hat. Der Suche nach Maßstäben ist auch Umberto Ecos Buch „Apokalyptiker und Integrierte" verpflichtet. Der bekannte italienische Ästhetiker, Semiotiker und Romancier erweist sich darin als kühner Vordenker. Den definitorisch schwer bestimmbaren und analytisch nicht leicht zugänglichen Komplex der ästhetisch-künstlerischen Massenkultur ordnet Eco in das Ensemble technischer, ökonomischer und sozialer Basisprozesse ein, die den sozialökonomischen Vergesellschaftungsprozeß im 19. und 20. Jahrhundert charakterisieren. Zu den bürgerlichen ideologischen Reaktionen auf diesen Prozeß gehört ebenso der Behaviorismus der angestrebten systemkonformen Verhaltensregulierung (weltanschaulicher Hintergrund der „Integrierten") wie der vielfach verzweifelte Aristokratismus der verschiedenen Vermassungskonzepte (weltanschaulicher Hintergrund der „Apokalyptiker"). Als „Integrierte" bezeichnet Eco dementsprechend die skrupellosen Verteidiger der Massenkultur in ihren bürgerlichen Erscheinungsformen, als „Apokalyptiker" deren ressentimenterfüllte Gegner. Eco setzt sich insbesondere mit der elitären Geschmackskritik auseinander, auf die sich die „Apokalyptiker" zurückziehen. Zentraler Streitpunkt ist das Problem des Kitsches. Die „Apokalyptiker" unterschiedlicher Observanz neigen dazu, jegliche zielstrebige Auslösung von Effekten innerhalb der Kunst als Kitsch zu brandmarken, weil bewußt angestrebte Effekte in ihren Augen mit der Autonomie der Kunst schlechthin unvereinbar sind. Eco weist darauf hin, daß dann bereits die Poetik des Artistoteles als eine Anleitung zur Produktion von Kitsch gelesen werden müßte. Da die industriell produzierte ästhetisch-künstlerische Massenkultur ohne vorfabrizierte Effekte überhaupt nicht auskommen kann, verfällt sie automatisch dem „apokalyptischen" Verdikt: Kitsch. Kitsch in jeder Form, in jeder Richtung, auf vielen Ebenen. Demgegenüber arbeitet Eco als Charakteristikum von Kitsch eine Täuschungsabsicht heraus, die der Massenkultur seiner Ansicht nach weithin fernliegt. Kitsch sei der Versuch, dem Publikum zu suggerieren, es habe teil an einer originären ästhetischen Erfahrung. In diesem Sinne bezeichnet Eco Kitsch als „strukturelle Lüge". „Kitsch ist vielmehr das Werk, das zum Zweck der Reizstimulierung sich mit
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dem Gehalt fremder Erfahrungen brüstet und sich gleichwohl vorbehaltlos für Kunst ausgibt."50 Künstlerische Produkt- und Verkehrsformen, inbegriffen Rezeptions- oder Gebrauchsweisen, sind für Eco vornehmlich durch ihre funktionelle Position als relativ selbständige Aneignungsziele ausgezeichnet. Dabei knüpft er an Roman Jakobson an, der bereits 1919 zusätzlich zu den grundlegenden Zeichenfunktionen ihre ästhetische Funktion durch den Selbstverweis der Zeichen in ästhetischer Anordnung charakterisiert hat. In späterer Formulierung: „Die Hervorhebung der Botschaft durch sich selbst ist das, was eigentlich die poetische Funktion auszeichnet."51 Dem liegt der Sachverhalt zugrunde, daß Kunstwerke sinnliche und strukturelle Eigenschaften haben, die in ihren Zeichenfunktionen nicht aufgehen; sie lösen sinnliche Reaktionen und Phantasiereaktionen aus, die vom Material ausgehen, aus dem ihre Formzeichen bestehen. Mit anderen Worten: die eigene sinnliche Natur der Zeichen spielt in künstlerischen Botschaften eine zentrale Rolle. Eco bringt das auf die Formel, daß die künstlerische Botschaft zwar wie eine Botschaft strukturiert ist, aber in Wirklichkeit eine Quelle von Botschaften darstellt. „Sicherlich eine paradoxe Situation", schreibt Eco, „aber es ist gerade das Paradoxon der Kunst selbst, das seit Jahrhunderten dazu zwingt, ihre Eigenart zu definieren, die sich nicht auf die Parameter der gewöhnlichen Kommunikation reduzieren läßt."» Es gehört substantiell zur künstlerischen Aneignung, Quelle von Botschaften zu sein, die alles subjektiv Intendierte weit überschreiten; dennoch ist ein Kunstwerk nicht einfach nur wie eine Botschaft strukturiert, es enthält auch tatsächlich Botschaften, anders gesagt, in seiner Struktur manifestieren sich Sinn- und Bedeutungsgehalte, die von der Form gar nicht ablösbar sind. Kunstwerke sind Mittelpunktsobjekte des kommunikativen Gebrauchs, in dem sie angeeignet werden, ohne aber aufzuhören, Mittel der Kommunikation und darüber hinaus invidueller und gesellschaftlicher Lebensaneignung zu sein. Sonst wird die ästhetische Funktion in eine Formalbestimmung aufgelöst. Gewiß wird in der ästhetischen Gestaltorganisation jede Zweckbestimmung „transzendiert", überschritten, aber nicht durch einen wie immer gearteten Selbstzweck, sondern durch eine Sinnfunktion, die mit der Zweckfunktion eine widersprüchliche Einheit bildet, die auch anatagonistisch auseinandertreten kann: in den hier möglichen Spannungsverhältnissen entfaltet sich die ästhetische Funktion. In ästhetischer Gestaltorganisation werden stets auch ge-
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schichtlich-gesellschaftlich relevante Sinnansprüche, -erfahrungen, -konflikte bewußt und auch unbewußt verarbeitet, vergegenständlicht, objektiviert. So wie Eco elitäre Geschmackskritik zurückweist, setzt er sich auch mit der ästhetischen „Soziologie der Formabnutzung" auseinander. Aufgrund der ästhetischen Anordnung der Zeichen betrachtet Eco das Kunstwerk als Form einer Botschaft, „deren Dekodierung einem Abenteuer gleichkommt - es wartet mit einer Organisationsweise von Zeichen auf, die der übliche Kode nicht vorsah. Die Folge davon ist, daß der Empfänger bei der Aufgabe, den neuen Kode zu entdecken (der typisch für dieses Werk ist und gleichwohl mit dem gewohnten Kode verbunden ist, den es zum Teil verletzt und zum Teil bereichert), sich sozusagen selbst in die Botschaft einführt, indem er eine Reihe von Hypothesen darauf ansetzt." 53 Der künstlerische Typ einer Botschaft ist gekennzeichnet durch sinnliche Evokationskraft, strukturelle Originalität und semantische Offenheit. Diese Eigenschaften bewahren sie jedoch nicht vor der Abnutzung ihrer Stilmittel, und zwar aus zwei Gründen, einem rezeptions-ästhetischen und einem produktions-ästhetischen. Haben sich erst einmal bestimmte Kodes eingebürgert, mit denen sich neuartige Kunstwerke aufschließen und genießen lassen, beginnen sich ihre Stilmittel bereits abzunutzen: sie treffen auf ein mehr oder weniger vorbereitetes, auch auf Mehrdeutigkeit eingestelltes Publikum. Dennoch handelt es sich dabei meist nur um eine partielle Dekodierung mit Hilfe unvollständiger, historisch, sozial und individuell bedingter und begrenzter Kodes, Kodes der Annäherung, wie man sagen könnte, die nur bestimmte Seiten der subjektiven Intention aufzuschließen erlauben. Daraus folgt aber auch, daß die Abnutzung einer Form durch sozialen Gebrauch im Kunstverkehr weder vollständig noch unwiderruflich ist. Die künstlerische Produktion ihrerseits wird erst dadurch zu einem historisch-gesellschaftlichen Prozeß, daß bestimmte Entdeckungen übernommen, verbreitet, verarbeitet werden; erst wenn sie in breiterem Maße künstlerisch angeeignet werden, setzen sie sich als historische Stilmittel durch. Die Geschichte der Künste springt nicht von Entdeckung zu Entdeckung, wie Eco hervorhebt: „Es gibt eine Dialektik zwischen einer auf Entdeckung und einer auf geregelte Ordnung des Entdeckten gerichteten Kunst, und zwar in dem Sinne, daß es zuweilen die zweite ist, welche die Grundmerkmale der poetischen Botschaft erfüllt, während die erste lediglich den kühnen Versuch zu deren Erfüllung darstellt." 54
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Auffassungen, die nur eine „Kultur der Entdeckungen" gelten lassen und jegliche Verbreitung ästhetischer Entdeckungen als „Formabnutzung" ablehnen, richten sich gegen den Aneignungscharakter des produktiven und rezeptiven Umgangs mit Kunst. „Etwas, das anfänglich den happy fem reserviert war, büßt seinen Wert und seine Bedeutung ein, sobald (weil?) es von vielen geschätzt und erstrebt wird. Damit setzt sich der snobistische Kritiker an die Stelle des kritischen Soziologen." 55 Der snobistische Kritiker wird natürlich auch gänzlich ausschließen wollen, daß in der Massenkultur ästhetische Entdeckungen gemacht werden können, auch wenn kein exzeptioneller Kimstanspruch geltend gemacht wird. Zwischen der künstlerischen Botschaft, die entdeckt und Entwürfe macht, und dem Kitsch, der Entdeckungen und Entwürfe vortäuscht, ordnen sich nach Eco zahlreiche weitere Typen der Botschaft ein: Von „der Massenbotschaft, die von der künstlerischen deutlich verschiedene Zielsetzungen verfolgt, bis zur handwerklich korrekten Botschaft, die zwar an gewisse ästhetische Empfindungen appelliert und daher bei der Kunst (ihrer Entdeckerrolle) Verfahrensweisen und Stilmittel borgt, aber das Geborgte nicht banalisiert, sondern es in einen gemischten Kontext einsetzt, der sowohl Zerstreuung verspricht als auch für konsistente Interpretationserfahrungen offen ist . . . Daraus folgt, daß wir sehr genau auf die Abstufungen achten sollten, die innerhalb des Zirkels des Kulturkonsums sich zwischen Werken der Entdeckung, Werken der Vermittlung, Werken des unmittelbaren Gebrauchs (und Verbrauchs) einerseits und Werken andererseits ergeben, welche die Wertigkeit von Kunst vortäuschen, also die Abstufungen zwischen Avantgardekultur, Massenkultur, mittlerer Kultur und Kitsch." 56 Generell hält Eco eine kulturelle Niveau-Differenzierung für sinnvoll, um totaler Nivellierung vorzubeugen. Er hat auch nichts dagegen, verschiedene Kultur-Niveaus (avancierte Kultur, mittlere Kultur: „midcult", Massenkultur: „masscult") mit verschiedenen Anspruchsniveaus („high brow", „middle brow", „low brow") in Verbindung zu bringen, die auch mit Bildungsvoraussetzungen und Kunsterfahrungen zusammenhängen. Zugleich zeigt er aber, daß das jeweilige Anspruchsniveau nicht gleichbedeutend sein muß mit dem sozialen Rang und dem ästhetischen Wert. „Es gibt high-browProdukte, die als avantgardistisch' eingestuft werden, weil ihre Lektüre eine gewisse Bildung und Disposition (eine Neigung zu Finessen) voraussetzt, und die gleichwohl, im Rahmen der für dieses
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Niveau gültigen Bewertungen als ,schlecht' beurteilt werden müssen (ohne deswegen low brow zu sein.) Und es gibt low-brow-Produkte, dazu bestimmt, von einem riesigen Publikum gelesen zu werden, die eine beträchtliche strukturelle Originalität aufweisen .. ," 5 7 Die Aneignung ästhetischer Entdeckungen in „low-brow"-Produkten (sofern sie nicht selber bestimmte Entdeckungen machen) bezeugt und befördert „eine bedeutsame Entwicklung des kollektiven Geschmacks, der sich plötzlich Formen und Innovationen einverleibt, die vormals in hermetischen Experimenten, im Alleingang eines Künstlers entworfen waren." 58 Verschiedene Anspruchsniveaus drücken für Eco flexible Unterschiede im Nutzungsverhalten aus: Daraus ergibt sich letztlich ein funktionelles Wechselspiel, in welchem sich avancierte Kultur und Massenkultur als durchaus komplementär erweisen können. Jedermann könne zu verschiedenen Zeiten des Tages Gedichte von Paul Celan oder einen Kriminalroman lesen, „im ersten Fall auf der Suche nach einer höchst spezialisierten Anregung, im zweiten nach Zerstreuung, aus der er ein eigentümliches Vergnügen zieht und die ebenfalls bestimmte Werte vermitteln".59 Auf der anderen Seite ist es nicht unabhängig von Arbeits- und Lebensbedingungen, ob jemand die abstrakte Möglichkeit, Paul Celan und Georges Simenon zu lesen, konkret auch nutzen kann. Dabei wäre Simenon ein Beispiel für Massenprodukte mit großer struktureller Originalität, die viele „highbrow"-Produkte weit hinter sich lassen. Fassen wir zusammen: Es mag vorkommen, daß der Aneignungsgedanke auf eine Theorie avancierter Kunst verkürzt wird; im Wesen der marxistischen Aneignungskonzeption liegt eine solche Verkürzung nicht. Wir möchten im Gegenteil die Behauptung wagen, daß der Leitgedanke der Aneignungsfunktion auch neue Zugangswege zur ästhetisch-künstlerischen Massenkultur zu bahnen vermag. Dem Wesen nach ist Aneignung in der ganzen Reichhaltigkeit individueller und gesellschaftlicher Lebensaneignung zu begreifen, also auch nur in der widersprüchlichen Einheit praktischer, kognitiver und emotional-motivationeller Momente. Es kann nicht oft genug betont werden, daß wir künstlerisch-geistige Aneignung keineswegs nur als eine Form intellektueller Aneignung auffassen. Dieser Hinweis soll freilich nicht nur besagen, daß das Aneignungskonzept sinnlich-körperbezogene Aneignung nicht ausschließt, auch nicht aus den Künsten. Auch sinnliche Aneignungsweisen müssen jeweils im Gesamtbezug individueller und gesellschaftlicher Lebensaneignung analysiert und bewertet werden.
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Es gibt noch einen anderen, objektiv zwingenden Grund dafür, Problemen der Massenkultur in der Erörterung des Aneignungskonzepts einen besonderen Rang zuzuweisen: das ist der Stellenwert der Produktivkraftentwicklung und der darin gründenden Vergesellschaftung der Produktion und des gesamten Lebensprozesses der gesellschaftlich tätigen Individuen im Aneignungskonzept, wie im ersten Kapitel dargelegt. Die Frage nach den potentiellen Aneignungseffekten ästhetisch-künstlerischer Aktions- und Produktformen der Massenkultur im jeweils formationsgeschichtlich-konkreten Lebenszusammenhang ist für die Ausarbeitung des Aneignungskonzepts unerläßlich, wenn es eine Chance bieten soll, zur Entwicklung einer zeitgemäßen Ästhetik beizutragen. Wir wollen unsere Behauptung so nicht stehenlassen. In drei Modellanalysen soll versucht werden, sie zu verifizieren. In einer Studie zum sozial- und kulturhistorischen Hintergrund der „Kunstwerk"-Thesen von Walter Benjamin und vor allem ihrer Überprüfung, Problematisierung und Modifizierung im unvollendeten „Passagen"-Werk soll die gegenwärtige Debatte über veränderte allgemeine Produktionsund Rezeptionsbedingungen von Kunst ihres ahistorischen Charakters entkleidet werden, der den Disput zu unergiebiger Abstraktheit verdammt. In einer zweiten Studie zur topischen Aneignungsmethode des Graphic Design sollen Wege zur ästhetischen Analyse der Bildwerbung unter dem Leitgedanken der Aneignungsfunktion erkundet werden. In einer dritten Studie wird versucht, Aneignungsstrukturen und -effekte im Bereich der Rockmusik nach konkreten Funktionszusammenhängen zu differenzieren.
„Passagen" oder Durchblicke durch das 19. Jahrhundert 1982 wurde das unvollendete opus magnum des deutsch-jüdischen Kritikers und Übersetzers, philosophisch-literarischen Essayisten und Kunsttheoretikers Walter Benjamin, an dem er von 1927 bis 1940 arbeitete, aus dem Nachlaß veröffentlicht. In diesem gipfelte sein Bemühen, mit Hilfe eines historischen Rückgriffs auf die Pariser Kultur des Second Empire (1852-1870) wesentliche Veränderungen in Gegenständen, Methoden und Funktionen der Künste, wie sie mit der industriellen Revolution und den bürgerlichen politischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts einsetzten, komplex zu erschließen und neu zu werten. Wie die stofflich und methodisch eng angrenzenden Schriften,
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vor allem die drei Fassungen der Thesen „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" von 1935/36 und 1939 sowie die Studien über den Dichter, Kritiker und Ubersetzer Charles Baudelaire (1821-1876) aus den Jahren 1921-1939,6° verweist dieses Werk darauf, daß die theoretische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Produktivkraftentwicklung, sozialen Bedingungen und ästhetischkünstlerischer Aneignung ihre Geschichte hat und also nicht losgelöst von dieser geführt werden kann. Einigen wichtigen „perspektivischen Durchblicken"61, mit denen Benjamin auf der Grundlage einer technikund mediengeschichtlich sowie massenkommunikativ-soziologisch dimensionierten Kunstauffassung seine umfangreichen und komplizierten Materialien und Interpretationen zur Geschichte der ästhetischen Kultur im 19. Jahrhundert versah, soll daher gefolgt werden. Zu einem ersten Aufsatz „Pariser Passagen" wurde Benjamin durch Louis Aragons surrealistisches Werk „Le paysan de Paris" (Der Bauer von Paris, 1926; dt. „Pariser Landleben", 1969) angeregt, in dem die Passage de l'Opéra als Ort ständiger Assoziation fließender Bewegung erscheint.62 In einem übertragenen Sinne assoziiert auch das PassagenProjekt fließende Bewegung: Wie in den „Kunstwerk"- Thesen geht es hier permanent um „mechanische Erfindungen" und „gesellschaftliche Veränderungen", welche „die Funktion der Kunst wandeln". 63 Aber diese Entwicklungen werden hier nicht aus einem nach der abstrakten „Urzeit der Kunst" 64 folgenden, fast ebenso abstrakten „Zeitalter" der „technischen Reproduzierbarkeit", sondern aus dem „Zeitalter des Hochkapitalismus" 65 heraus erfaßt. Notwendig gilt der erste wesentliche „Durchblick" Benjamins den Vorläufern der modernen Massenmedien (zu seinen Zeiten fügte man die beiden Begriffe „Masse" und „Medium" allerdings noch nicht zusammen), jenen, wie er sie in der Studie „Über einige Motive bei Baudelaire" (1939) und in den „Kunstwerk"-Thesen nennt, „Apparaten" 66 bzw. „Apparaturen" 67 , welche schon im 19. Jahrhundert ästhetisch-künstlerische Aneignungsprozesse zunehmend technisch vermitteln und steuern. Das sind vor allem die illustrierte Boulevard- und Feuilletonpresse, die Lithographie, die Fotografie, die Reklame, die öffentlichen Panoramen und die Weltausstellungen. Entgegen fetischisierenden Deutungen individuellen künstlerischen Schaffens, mit diesen häufig verbundenen elitären Reflexionen kulturell-künstlerischer Massenprozesse und unkritischen Fixierungen auf vorindustrielle Realismustraditionen betont Benjamin diese „Apparaturen" als Grundelemente des materiellen Entstehungs- und Wirkungszusammenhangs ästhetisch-künstle229
rischer Aneignung, als Schlüsselphänomene des durch die ästhetische Kultur des kapitalistischen Industriezeitalters erreichten höheren Vergesellschaftungsgrades der Kunstentwicklung. Dabei legt Benjamin das Augenmerk aber nicht nur auf den quantitativen Aspekt des Fortschrittes der „Reproduktionstechnik",68 z. B. die durch ihn erreichte massive Bildproduktion, sondern auch auf qualitative Veränderungen - neue Wirklichkeitsentdeckungen und Gestaltmerkmale, die teilweise bereits über ihren eigenen gesellschaftlichen Horizont hinauswiesen, damit auf künftige neue Funktionen von Kunst deuteten. Diese qualitativen Neuerungen waren aber nicht allein von den „Apparaturen" her zu erschließen. Deren Geschichte ordnete Benjamin ein in die der kapitalistischen Industriekultur, der Eisen- und Glasarchitektur, des Verkehrswesens usw., der universellen Warenwelt und der in der Kommune gipfelnden politischen Bewegungen, in die Geschichte auch der alltäglichen „Sinneswahrnehmung"69 der neuen sozialen „Grundsituationen" und „Hauptmotive"70. Vor diesem Hintergrund weist er dann nach, wie diese sich u. a. in serienmäßig erscheinenden Feuilletonromanen, Gedichten Baudelaires, Lithographien von Daumier, Grafiken von Grandville und Gemälden von Delacroix, auch in der Reklamekunst, in den Sensationsberichten der Boulevardpresse und in den Revuen des Vergnügungsbetriebes thematisch und gestalterisch in neuen künstlerischen „Motiven"71 niederschlagen, wenn auch nicht immer „unmittelbar faßlich"72. So werden die Industrialisierung und die Großstadt, massenweise neue menschliche Verhaltensweisen und Erfahrungen, darunter die des „Neurasthenikers" und des „Kunden",73 künstlerisch erobert, was auch die Entwicklung neuer „künstlerischer Verfahrensweisen"74 bedeutet, darunter des Dokumentär- und Sensationsstils, der schockhaften Montage, der prozeßhaft-simultanen und panoramatischen Vergegenwärtigung unterschiedlicher Sujets. Und die neuen Tendenzen in Gegenstands- und Methodenwahl bleiben auch nicht ohne Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Gattungen und Genres, ebensowenig wie der „offne Markt"75 und die „Apparaturen": Im Ringen um „Neuheit"76 entstehen Verhältnisse der „Konkurrenz"77, z. B. zwischen Malerei und Fotografie, und die „Desorganisation"78 der Stile, aber auch Analogien in Gegenstandsbezügen und Darstellungsweisen. Ein neuartiger Prozeß intermedialer Kommunikation vollzieht sich, nicht nur in Form von Wechselbeziehungen zwischen einzelnen Gattungen und Genres, sondern zwischen Kunst und Alltag.79
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Diese komplexen Wandlungen in der bürgerlichen ästhetischen Kultur des 19. Jahrhunderts werden von Benjamin als wesentliche Erscheinungsform einer historisch neuen Dialektik von technologischem Fortschritt, gesellschaftlichen Bedingungen und künstlerischem „Ausdruckscharakter" 80 präsentiert und interpretiert, und das Kunstwerk ist ihm dafür ein geschichtliches „Kristall des Totalgeschehens"81. Aragons Beschreibungen der Passage assoziieren ständig ihren zweideutigen Charakter: Sie ist sowohl (Waren-)Haus als auch Straße, und sie ist Treffpunkt sowohl des Mythos als auch der Moderne. Das Denkmotiv der „Zweideutigkeit, die den gesellschaftlichen Verhältnissen und Erzeugnissen dieser Epoche eignet"82, steuert einen weiteren „perspektivischen Durchblick" Benjamins. Denn „zweideutig" reagieren die Künste auf die herrschende „Warenwirtschaft"83: Die Lyrik des Baudelaire, der als „poète maudit" 84 , als verachteter Dichter, auf den Feuilletonmarkt gehen und dort „marktgerechte Originalität"85 vorweisen muß, wechselt zwischen „reiner" und bizarrer Schönheit, symbolischer und allegorischer Darstellungsweise, und die letztere fußt vor allem auf der „spezifischen Entwertung der Dingwelt, die in der Ware darliegt" 86 ; „zweideutig" ist die anarchistische Opposition derer, die gegen den „Warencharakter" 87 ihrer Werke kämpfen und die „Innerlichkeit"88 mobilisieren; „zweideutig" sind auch die Vertreter der „Reklamekunst", die unmittelbar bildhaft die „Amalgamierung wichtiger Elemente der Kunst mit den Interessen des Kapitals"89, des „Traums" mit der „Industrie" 90 vollziehen. Die Reklame, ihre kultische „Inthronisierung der Ware"91, ist Benjamin ein besonders sinnfälliger „Ausdruck" für die grundlegende „Zweideutigkeit" der bürgerlichen ästhetischen Kultur des 19. Jahrhunderts. Keineswegs beginnt in ihr, wie er in den „Kunstwerk"Thesen hinsichtlich der Fotografie behauptet, der „Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen" 92 - im Gegenteil, die Reklame ist eher beider „Werte" Synthese. Und als solche reflektiert sie, wie auch andere Produkte dieser Kultur, einen widersprüchlichen Zusammenhang, den Benjamin in Anlehnung an das Marxsche „Kapital" 93 zu artikulieren versucht. Ausgehend von der im „Warenfetisch" manifestierten Tatsache, daß das 19. Jahrhundert den „neuen technischen Möglichkeiten" nicht mit einer „neuen gesellschaftlichen Ordnung" entsprochen habe,94 betont er die eigentümliche Parallelität von technischer Revolutionierung der Gesellschaft 231
und modisch-sensationéller Überblendung ihrer Privilegienstruktur und geschichtlichen Begrenztheit durch massiv „reproduzierte" bürgerlich-archaische Leitvorstellungen - „Kultwerte" oder „Phantasmagorien" - 9 5 , die Parallelität von kapitalistischer Industrialisierung und Intensivierung bürgerlicher Denkmuster zwecks Ausrichtung der Produzenten auf die Interessenlage des Kapitals. Einer thematischen Schwerpunktsetzung seines Werkes gemäß, der „Kultur der warenproduzierenden Gesellschaft als Phantasmagorie" 96 , sucht Benjamin mittels eines weiteren „perspektivischen Durchblicks" zu erschließen, wie sich diese Ausrichtung auf der Alltagsebene spontan herstellt und manifestiert. Aragons Schilderung assoziiert die Passage als Durchgang für eine (Kunden-)Masse. Wie auch an anderen Handlungs- und Erfahrungsorten der bürgerlichen Industriekultur (Boulevards, Eisenbahnwesen) werden hier, so Benjamin, „Massen formiert" 9 7 Einen spezifischen Aspekt solcher „Formierung" untersucht Benjamin innerhalb seiner soziologischen Disposition, die u. a. auf Erkenntnisse der Individualpsychologie Sigmund Freuds, wie sie sich in dessen Schrift „Zur Psychopathologie des Alltagslebens" (1904) finden, aber auch auf literarische Gestalten, „Typen", z. B. aus Romanen Honoré de Balzacs und aus Gedichten Guillaume Apollinaires, zurückgreift und sie experimentell auf die - in den „Kunstwerk"-Thesen noch weitgehend abstrakt beschworenen - „Kollektiva" bzw. „Massen" und ihr „Traumbewußtsein" 98 anwendet. Die „Typen", die Benjamins „psychische Ökonomie" (so nennt er sein Verfahren)99 zitiert Bohémien, Conspirateur, Dandy, Hasardeur, Hure, Flaneur, Müßiggänger u. a. - sind für ihn zwar letztlich „von der Industrie erzeugte psychologische Typen" 10°, aber von ihm nicht primär nach ihrer Stellung im und zum Produktionsprozeß, Klassen- und Schichtenzugehörigkeit voneinander geschieden, sondern nach alltagsrituellen Verhaltensweisen. Sie stehen allesamt für die gruppenspezifische konzentrische Sozial- und Raumerfahrung in der kapitalistischen Großstadt, die sich in einer Stereotypisierung von Verhalten äußert; sie stehen für die - von den „Apparaturen" der bürgerlichen ästhetischen Kultur assimilierte und potenzierte - „Zweideutigkeit" bürgerlicher Existenzweise, für zwei einander entsprechende, nur scheinbar widersprechende Reaktionsweisen : einerseits die spontan-aggressive Abwehr der „Dressur der Maschine" 101 und der Oberflächenreize, der „Chocks" 102 des als banal empfundenen Alltags, andererseits deren „halluzinatorische" 103 (oder „phantasmagorische") Überhöhung durch
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modisch-mythische Selbst-„Dressur", durch Verinnerlichung suggestiver Denkmuster, von Wunschbildern aus dem ideologischen und ästhetischen Potential der herrschenden Klasse. Dieses „zweideutige" Verhalten zwischen Entwicklung von Aggressivität und Aufbau von Identifikationsbereitschaft - Reflex unbewältigter „Lebensbedingungen" 104 und der „Verkümmerung von Erfahrung" 105 - sieht Benjamin als ein wesentliches Hemmnis gerade für den „Selbstbewußtwerdungsprozeß des Proletariats" 106 an, für die Aneignung ökonomisch-sozialer Bewußtseinsinhalte, für die Erkenntnis der realen Klassenlage und endlich für die praktische Bewältigung der politisch-sozialen Widersprüche. Auf die Klasse des Proletariats setzte Benjamin - gerade im antifaschistischen Exil scharfer Beobachter auch der zur „Volksgemeinschaft" degenerierten „Masse" und ihrer aggressiv-monumentalen Präsentationen - aber Zukunftshoffnung. Er gibt diesen Ursprung auch seines Erkenntnisinteresses an der Geschichte der bürgerlichen „Apparaturen" und ihrer „zweideutigen" Produkte für die stereotypisierte „Masse" daher deutlich zu erkennen, wenn er schreibt: „Die Volksgemeinschaft sucht alles aus den einzelnen Individuen auszutreiben, was ihrer restlosen Einschmelzung in eine Kundenmasse im Wege steht. Den einzig unversöhnlichen Gegner hat der Staat, der in diesem heißen Bemühen den Agenten des Monopolkapitals darstellt, dabei an dem revolutionären Proletariat. Dieses zerstreut den Schein der Masse durch die Realität der Klasse." 107 Wie in Aragons Passagenschilderungen Moderne und Mythos, so fließen in Benjamins „Passagen" Gegenwartsproblematik und Vergangenheitsrezeption ineinander. Die „Kunstwerk"-Thesen und das „Passagen-Werk" sind in hohem Maße Niederschlag der Verarbeitung von „Katastrophen". 108 Benjamins Erfahrung nicht zuletzt des Schicksals des klassischen und des avantgardistischen Kunstwerks im Zeitalter seiner faschistischen Verwertbarkeit motivierte ihn wesentlich, mit den Thesen theoretische Konsequenzen aus „mechanischen Erfindungen" und „gesellschaftlichen Veränderungen" für den Wandel der „Funktion" der Künste in den antifaschistischen kunstprogrammatischen Denkhorizont einzubringen. Aus der „Katastrophen"-Erfahrung erklären sich auch hypothetische Verkürzungen dieses wichtigen Seitenprodukts der Passagenarbeit. So reflektiert der Begriff der „technischen Reproduzierbarkeit" - den Benjamin übrigens aus elitär-kulturkritischen Gedankengängen Aldous Huxleys übernimmt und umfunktioniert - 1 0 9
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auch vereinfachende, zum Teil sogar technikfetischistische Vorstellungen vom Kunstfortschritt, die in einem eigentümlichen Gegensatz zu Benjamins Kritik an der „regressiven Auslegung der Technik"110 (sowohl in verklärender als auch in euphorischer Form) in der bürgerlichen und in der faschistischen Kultur stehen. Auch die Bestimmung der Veränderung der „Wahrnehmung" mit der Formel vom „Verfall der Aura"111 bleibt vage; „Aura" - eher eine Metapher für Benjamins persönlich-sinnendes, Bild und Begriff, Kunst und Wissenschaft, auch Traditionalität und Modernität miteinander zu verweben suchendes Kunstbewußtsein denn ein tragfähiger theoretischer Begriff - bringt nur einen Bruchteil dessen zutage, was Benjamin tatsächlich erkannte. Die „dialektischen Bilder", die im „Passagen-Werk" das „Jetzt der Erkennbarkeit" und das „Gewesene"112 ineinanderschießen lassen, führen Benjamins konzeptionelle Überlegungen einer stärkeren historisch-plastischen Materialbezogenheit und theoretischen Fundierung zu. So ist auch die - in den Thesen noch weitgehend abstrakte „Politisierung der Kunst"113 durch sie klarer umrissen: Aus kommunikativ-funktionaler, primär an der Dialektik des gesellschaftlichen Gebrauchszusammenhangs, nicht nur an „unmittelbar faßlichen" weltanschaulich-politischen Gestaltmomenten orientierter Perspektive wird gegenüber abstrakter „Volkstümlichkeit" und undifferenzierter Betrachtung der „Masse" unter Absehung „von den verschiedenen Klassen, welche sie zusammensetzen",114 die Forderung nach kollektiv verbindlichen, bewußt an Alltagsleben und -erleben anknüpfenden, technisch optimierten Kunstleistungen mit breiter, auch die Avantgarde und ihre Vorläufer (wie Baudelaire) berücksichtigender Erbeund Traditionsaneignung entwickelt. In diesem programmatischen Horizont gewinnt auch der - in den „Kunstwerk"-Thesen noch sehr Siegfried Kracauers Kulturkritik in Schriften wie „Kult der Zerstreuung" (1926) und „Die Angestellten" (1930) folgende - Begriff der „Zerstreuung"115 einen anderen Akzent. Denn das „Passagen-Werk" untersucht Vorläufer der „großen Synthesen" in der Kunstentwicklung des 20. Jahrhunderts - des Films, des Rundfunks, des epischen Theaters und der Fotomontage -, die besonders geeignet sind, den „Schein" der „Masse", bürgerliche Illusionen, ihnen entsprechende Geschichts- und Kunstdeutungen sowie Gestalturigs- und Rezeptionsgewohnheiten, wie die von tiefgreifenden Lebensproblemen ablenkende oberflächliche ästhetische „Flanerie"116, aktiv zu „zerstreuen"117. Die wesentlichen Leistungen von Benjamins Hauptwerk liegen nicht in einer systematischen, sozialökonomisch fundierten Analyse
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des Verhältnisses von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, der kapitalistischen Entfremdung, des Warenfetischismus und der realen Massenbasis der bürgerlichen Industriekultur und Kunstindustrie (als der Vorform der modernen Kulturindustrie) und infolgedessen - auch nicht in einer diffizilen Kritik der bürgerlichen Ideologie. Vielmehr bietet diese große physiognomische Montage von technik- und mediengeschichtlichen, soziologischen und sozialpsychologischen, kultur- und kunsthistorischen Materialien und Interpretationen wichtige Beiträge zur geschichtlich bewußten Konkretisierung des Verhältnisses von materiell-technischen Bedingungen, alltäglichem Lebens- und Wahrnehmungsstil sowie Kunstproduktion und -rezeption, wichtige Beiträge auch zur Erhellung des Verhältnisses von Massen- und Klassenrealität. Mit den vorwärtsweisenden Konsequenzen, welche dieses Werk für die moderne ästhetischkünstlerische Aneignung aus diesen historischen Widerspruchskonstellationen zieht, steht es manchen kunstpraktischen und -theoretischen Bemühungen von Zeitgenossen wie Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Hans Günther, Siegfried Kracauer, Lu Märten und Max Raphael näher, als an einzelnen kritisch-distanzierten Bemerkungen Benjamins z. B. zu den Aktivitäten exilierter Schriftsteller und marxistischen Kunsttheorien erkennbar ist.118 Und es beweist damit, bei allen Grenzen, wie sich die Annäherung an die den technischen Produktivkräften am nächsten stehende Arbeiterklasse und an die marxistische Methode in einer extremen Ausnahmesituation wie dem Exil in neues historisch-ästhetisches Denken umzusetzen vermochte. „Es haben ihm Leerstellen vorgeschwebt, in die er seine Gedichte eingesetzt hat",119 schrieb Benjamin über Baudelaire, in dem er als Zeuge des 20. Jahrhunderts - exakt, kritisch und ohne vordergründige Aktualisierung rekonstruierend - einen Zeugen für das 19. Jahrhundert erkannte. „Sein Werk läßt sich nicht nur als ein geschichtliches bestimmen, wie jedes andere, sondern es wollte und es verstand sich so." 120
Zur topischen Aneignungsmethode des Graphic Design Die ikonische Symbolwelt des Graphic Design Die Herausforderung der traditionellen bildenden Künste durch die Massenmedien zeigt sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders in der Entstehung neuer ikonischer Symbolwelten.
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Im rezeptivem Umgang mit Zeitschriften, Filmen, Fernsehen, Verpackungen, Fotografien, Plakaten usw. werden die Individuen im Verhältnis zur herkömmlichen Aneignung von Kunst zu modifizierten Formen der lebenspraktischen Auseinandersetzung provoziert. Obwohl sie scheinbar leichter rezipierbar sind, tragen die Medien andere Widerstände der Erschließung in sich und ermöglichen zugleich die Erkundung bisher nicht vorhandener Dimensionen im individuellen Vergesellschaftungsprozeß. In diese Gestaltungen von bildlich-„ikonischer" Art sind Bedeutungen unterschiedlichsten Typs eingeflossen. Zwar liegt im Vergleich zu den diskursiven Symbolen der „symbolische" Bedeutungsgehalt auch hier im Wahrnehmungsgegenstand selbst, „der mithin Verweisungscharakter über seine sinnlich-präsente figural-qualitative Beschaffenheit hinaus hat. Dennoch ist hier, anders als bei den diskursiven Symbolen, der Bedeutung die sinnliche Gestalt, in der sie präsent ist, nicht äußerlich. Ein bildliches Symbol ,ist' in gewissem Sinne immer auch das, worauf es verweist, in ihm sind sinnlich-emotionale Erfahrungen der gesellschaftlichen Menschheit in einer Weise verdichtet und verallgemeinert, daß sie durch die symbolvermittelte Erkenntnis in der Verdichtung und Verallgemeinerung zugleich als sinnlich-emotionale Erfahrungen unmittelbar gegeben sind." 1 2 1 Ikonische Symbolwelten als „Mittel der symbolischen Repräsentanz" von „raumzeitlich übergreifenden verselbständigten Bedeutungsstrukturen" gibt es seit dem Dominanzwechsel von der phylogenetischen zur gesellschaftlich-historischen Entwicklung. 1 2 2 Sie stehen in engem Zusammenhang mit der Herausbildung der Schrift als einem Medium von gegenständlich überdauernder Beschaffenheit. In der bildlichen Symbolik der künstlerischen Gestaltung haben sich selbständige Zeichensysteme mit einer eigenen historischen Entwicklungsdynamik herausgebildet. Durch die Entstehung und Perfektionierung neuer visueller Medien (u. a. Fotografie, Zeitschriften, Verpackung, Design, Fernsehen, Film, Video) nahm die vermittelte Weitergabe von gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen in ihrer Quantität ungeheuer zu. Gegenüber der aktuellen Kommunikation der Individuen stehen diese vermittelten Informationen auf der „Objektseite" als Teil der vom Menschen produzierten gegenständlich sozialen Verhältnisse. Die Internationalisierung dieser vermittelten Prozesse in der kulturellen Massenkommunikation führt in der Gegenwart so auch zu einer neuen Synthese des Weltbezugs der Individuen.
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Innerhalb der Wechselbeziehung der ikonischen Symbolwelten der Künste und der Massenmedien nimmt die Gebrauchsgraphik in den auf „Zeichengebrauch beruhenden kommunikativen Verhältnissen"123 unserer Epoche eine zentrale Stellung ein. Ihr Stellenwert in der „Hierarchie der kulturellen Codes" wird bestimmt durch ihre Funktion als populäre Kunstform mit besonders operativem Charakter. Im Imperialismus verkörpert die kommerzielle Gebrauchsgraphik (Graphic Design) die verbreitetste ikonische Bildwelt, die das gesamte Alltagsleben und die Medienwelt durchdringt. Werbung bildet als existenzsichernde Qualität der kapitalistischen Massenkommunikation nicht nur ein Mittel der Profitmaximierung, das die Ware-GeldBeziehungen aktivieren soll, sondern sie übt auch eine wichtige Funktion als kulturelles Deutungsschema aus. Besonders mit der Herausbildung eines entwickelten Systems kultureller Massenkommunikation entfaltete sich das Graphic Design zu einem kulturellen Verständigungsmuster mit internationalem Einfluß. Werbung bildet einen zentralen Faktor bei der Lenkung von Bedürfnissen, ideologischen Einstellungen, sozialen Verhaltensweisen und nicht zuletzt ästhetischen Wertvorstellungen. So ist sie als integrativer kultureller Stimulator auch eng verbunden mit den Existenzbedingungen in der konkret-historischen Lebensweise der Menschen, wie z. B. Ernährung, Kleidung, Wohnung, Bildung, Information, Unterhaltung, Kunst usw. In seiner Rolle als kulturelles Deutungsund Verständigungsmuster mit bestimmten wirkungsorientierten Gestaltungsverfahren übt das für die kapitalistische Werbung entwickelte Graphic Design nicht nur eine Wirkung über die Grenzen kapitalistischer Produktionsverhältnisse hinweg aus, die der kritischen Aufmerksamkeit bedarf, sondern ist als Reflex von systemübergreifenden Sachverhalten unserer Epoche und multivalent verwendbares Bildzeichensystem mit neuen Zügen auch unmittelbar interessant für die gestalterische Praxis wie ästhetische Theorie unter sozialistischen Verhältnissen. Im Gegensatz zur bildenden Kunst wurde die Semantik der ikonischen Bildwelt der kommerziellen Gebrauchsgraphik bisher kaum kunstwissenschaftlich analysiert. Eine Ursache liegt darin, daß die gebräuchlichen kunstwissenschaftlichen Methoden dafür wenig geeignet sind. Die instrumentale Kommunikation des Graphic Design erfolgt auf der Grundlage der rhetorischen Kommunikationsstruktur. Sie ist das klassische Modell einer Zeichensituation überhaupt. Die zweckbezogene 237
ästhetische Kommunikationswirkung des Graphic Design hat das Ziel, den Betrachter nicht nur zu informieren, sondern für etwas zu gewinnen, ihn zu überzeugen oder zu überreden, so daß bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen hervorgerufen werden. Die ästhetische Funktion steht hier immer im Dienst außerästhetischer, d. h. ökonomischer sowie ideologischer Interessen. Da sich der Gebrauchswert vieler Waren gleicht und besonders seit den sechziger Jahren durch Überproduktion permanent eine Übersättigung der kapitalistischen Märkte erreicht wird, strebt man über das Graphic Design eine Hervorhebung und Differenzierung der Produkte durch Zusatzversprechen in Form besonderer Vorzüge und Sondereigenschaften an, die dem Konsumenten neue Kaufmotive bieten sollen. Durch konkurrierende ästhetische Gebrauchswertversprechen erweiterte sich seit den sechziger Jahren neben dem syntaktischen immer mehr das semantische Spektrum der kommerziellen Gebrauchsgraphik. Die Vielseitigkeit ihres Bedeutungsspektrums erhöht ihre Korrespondenz zu kulturell-künstlerischen Überbauphänomenen. Sie wird zu einem stilbildenden Faktor bei der Kultivierung der Bildwahrnehmung. Wie im ästhetischen Verhalten generell so durchdringen sich auch in den sinnlich-bildhaften Gestaltungen des Graphic Design „Zweckfunktion" und „Sinnfunktion",125 v Die ökonomische Zweckfunktion ist innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse von relativer Konstanz. Demgegenüber gewinnt die Sinnfunktion entsprechend den verschiedenen historisch und sozial bedingten pragmatischen Wirkungsstrategien einen sehr variablen und vielschichtigen Charakter. So gibt es in der sinnlich fundierten Zeichenproduktion des Graphic Design durchaus Beispiele, die über den instrumentellen Gebrauch des Ästhetischen hinaus Möglichkeiten für eigene Phantasie und Reflexionsleistungen des Rezipienten eröffnen und somit auch Übergänge zwischen rhetorischer und ästhetischer Zeichensituation anbahnen. Als gesellschaftlich produzierte kulturelle Form wird die Sinnfunktion stets vom historisch konkreten Charakter der gesellschaftlichen und individuellen Lebensaneignung geprägt. In ihren ikonischen Symbolformen gibt sie Auskunft über den Charakter der individuellen Vergesellschaftung. So bilden sich übergreifende Sinnfelder heraus, die zum Gebrauchswert der einzelnen Warengruppen oft nur eine erfundene sozial und ästhetisch motivierte Beziehung haben.
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Topik als Schlüssel zur Werbung Die dem pragmatischen Wirkungsziel untergeordnete semantische Zeichenrelation läßt sich mit den traditionellen kunstwissenschaftlichen Begriffen wie Thema, Sujet, Stoff usw. nicht umfassend analysieren. Demgegenüber ermöglicht die Topik, die im Rahmen der rhetorischen inventio eine Art Findungslehre darstellt, die der Vermittlung von Argumentationsgesichtspunkten dient, eine differenzierte Analyse wirkungsbezogener Sinnbezüge der sozialen Phantasie im Graphic Design. Auf der Suche nach methodischen Voraussetzungen für das erfolgreiche Zur-Wirkung-Bringen überzeugender situationsbezogener Argumentationstypen und Ausdrucksformen gab es bereits in der antiken Rhetorik ganze Kataloge („Vorratskammern"), die aussagten, welche Topoi in bestimmten Redesituationen besonders geeignet sind. Im Verlauf der Geschichte wandelten sich auch diese Topoi-Kataloge. So beruhte die Rhetorik des Aristoteles auf den Prinzipien der Dialektik und war vorrangig auf Erkenntnisgewinn ausgerichtet. Demgegenüber diente Cicero die Rhetorik mehr unter dem Gesichtspunkt der praktischen Ausübung von Beredsamkeit. Die Erscheinungsform einzelner Topoi ist recht unterschiedlich; manche verfestigen sich nicht einmal zu einem Bild oder einem Symbol und sind doch Konstanten, die über Jahrhunderte wirksam bleiben. Wesentlich ist, daß hinter ihnen eine Haltung steht, die in unterschiedlichen historisch-konkreten Abwandlungen eine gewisse innere Stabilität aufweist. In bezug auf die Erforschung der Kunst verglich Robert Curtius die Toposforschung mit einer „Kunstgeschichte ohne Namen" im Unterschied zur Geschichte der einzelnen Meister. In den unpersönlichen Stilelementen werde eine „Schicht historischen Lebens berührt, die tiefer gelegen ist als die des individuellen Erfindens".126 Curtius sieht die vorher vielfach normative Rhetorik aus einer historischen Sicht,127 kommt aber zu einer formalistischen Definition des Topos, die über einen vermeintlichen Klischee-Charakter jede philosophische Bindung leugnet.128 Durch den weitreichenden Einfluß, den der Topos-Begriff von Curtius auch außerhalb der Literaturwissenschaft hat, werden zumeist nur verfestigte Elemente des Sprachgebrauchs, der Meinung, der Wahrnehmung usw. als „Topoi" bezeichnet. In dieser Betrachtungsweise verkümmert der Topos zum funktionslosen Requisit. Demgegenüber hat sich seit den siebziger Jahren eine neue Toposforschung herausgebildet. Sie bemüht sich, die topische Methode als
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Kunst des Erfindens im Rahmen einer Theorie der Argumentation zu erkunden. So hat u. a. Lothar Bornscheuer in einer dem Untersuchungsgegenstand angemessenen Gründlichkeit die Schriften von Aristoteles und Cicero analysiert. Sie führten ihn zu der Schlußfolgerung, daß die Topik das „Instrumentarium eines gedanklich und sprachlich schöpferischen, doch zugleich auf den allgemeinen gesellschaftlichen Meinungs-, Sprach- und Verhaltensnormen beruhenden Argumentationshabitus ist". 129 An anderer Stelle kennzeichnet Bornscheuer den Verfügungsraum der Topik im gesellschaftlichen Bewußtsein : „Er umfaßt den gesamten Bereich von Sprache, Sitte und gesellschaftlichem Selbstverständnis, des Meinens und des herrschenden Bildungswissens, sämtlicher bewußten und unbewußt-habituell verinnerlichten kollektiven Kommunikations- und Verhaltensnormen. Jeder allgemeine oder konkrete, formale oder inhaltliche Gesichtspunkt, der in einem jeweils vorliegenden Problemzusammenhang eine neue wichtige Perspektive eröffnet, darf als Topos gelten. Man könnte einen Topos auch als einen ,Argumentationsgesichtspunkt von allgemeinverständlicher Relevanz' bezeichnen." 130 Bereits an dieser Stelle zeigt sich eine enge Verbindung zu Pierre Bourdieu, der in Anlehnung an Erwin Panofsky die Bildung als „Zusammenspiel bereits im voraus assimilierter Grundmuster" 131 charakterisiert hat. In Anlehnung an Walter Veit, der den Topos als eine „Denkform" faßt, sieht Lothar Bornscheuer die Topik sowohl den Argumentationsmitteln verpflichtet, die sich aus den geselllschaftlichen Denkgewohnheiten selbst heraus anbieten, als auch in ihrer schöpferisch-argumentativen Potenz. In diesem Sinne bezeichnet er die Topik „als den Raum und das Medium der gesellschaftlichen' Einbildungs- und Urteilskraft, die gegründet ist auf das Fundament der öffentlichen Meinung bzw. auf die Normen der gebildeten uncj herrschenden Klasse". 132 Diese funktionale Einordnung der Topik, nach der sie aus dem gesellschaftlichen Bewußtsein hervorgeht und zugleich eigene Formen seiner Interpretation hervorruft, öffnet den Blick auf das dialektische Zusammenwirken von Geschichte und Gegenwart. Die Topik einer Gesellschaft verbirgt hinter ihrer äußeren Erscheinung eine Tiefenstruktur sozialer Bewußtseinsbildung, die auf den bestehenden Klassenverhältnissen und den sich in ihnen vollziehenden Sozialisationsprozessen beruht. Konstitutiv für die Aneignungsfunktion der Topik des Graphic Design ist ihr sozialer Charakter und die ihr innewohnende Potenz, lebens-
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praktisches Aneignungsverhalten zu stimulieren. Der Praxisbezug der Topik generell wird vielfach in der neueren Toposforschung betont. So schreibt z. B. Kopperschmidt: „Topik ist nicht das Ensemble sozialer Gewißheiten, sondern die Methode ihrer situativen Aktualisierung für die Lösung praktischer Problemlagen". 133 Die topischen Argumentationsmittel des Graphic Design fungieren vorrangig auf der Ebene des Alltagsbewußtseins, das eine Selbständigkeit gegenüber dem theoretischen Bewußtsein besitzt, bei gleichzeitiger Durchdringung und Ergänzung beider Ebenen. Das Alltagsbewußtsein umgreift die „alltäglichen, massenhaften, individuellen und gesellschaftlichen Erfahrungen und Erkenntnisse". 134 Somit vollzieht sich die Alltagserkenntnis im „Prozeß der spontanen geistigen Aneignung im Rahmen der täglichen praktischen Tätigkeit". 135 Die Bild-Werbung gehört als eine Qualität der Massenkommunikation im heutigen Imperialismus zu den wesentlichen Vermittlungsgliedern zwischen dem „gesellschaftlich (klassenmäßig) organisierten, mehr oder weniger institutionalisierten Wissen und den aus der alltäglichen praktischen Tätigkeit gewonnenen Erkenntnissen". 136 Da das Alltagsbewußtsein seinem Wesen nach dazu neigt, „gleichsam an der Oberfläche der Erscheinungen" zu verbleiben und seine „Verallgemeinerungen nicht in die Tiefe gehen" 137 , ist es unter kapitalistischen Bedingungen um so mehr geeignet, beeinflußbar zu sein hinsichtlich einer Verschleierung der Produktionsverhältnisse. Marx charakterisierte die spontane geistige Reproduktion der sozialen Wirklichkeit in der kapitalistischen Gesellschaft, wie sie im Alltagsbewußtsein ihren Ausdruck findet, als „unmittelbar spontan, als gang und gäbe Denkformen". 138 Diese enthalten die tradierten Wertungs- und Deutungsmuster, Normen und Regeln, nach denen die individuellen Tätigkeiten des praktischen Lebens verwirklicht und bewertet werden. Die aus der Integration der Individuen in soziale Gruppen erwachsenen Einstellungen, ihre Gewohnheiten und Traditionen und andere sozialpsychologische Formen, in denen sich die Beziehungen der Menschen und ihre Verhaltensweisen gestalten, besitzen in starkem Maße emotional-willensmäßige Triebkräfte. Die Topoi, die eng mit der Lebenspraxis und dem Alltagsbewußtsein verknüpft sind, tragen auf ihre Weise zur Kommunikation und Beziehungsrealisierung in den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen bei, indem sie zu einem Verhalten anleiten. Diese situative Handlungsaufforderung der topischen Methode gewinnt in der BildArgumentation des Graphic Design eine besondere Relevanz. Sie
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dient dazu, bei der Anpreisung von Waren entsprechend dem Interessengefüge bestimmter Zielgruppen neue Problemzugänge zu finden, die dann in ihrer Sinnfunktion ästhetische Gestalt annehmen. Im Zusammenhang mit bestimmten gruppenspezifischen Einstellungsstereotypen spielen in der Werbung solche Prozesse der Einstellungsbildung wie Ansteckung, Suggestion und Nachahmung, aber auch Faktoren wie das Wunschdenken eine wichtige Rolle. Beeinflußt durch dieses Bedingungsgefüge zeigt die sinnlich fundierte Zeichenbildung des Graphic Design einen ganz bestimmten Argumentationshabitus. Für dessen nähere Charakterisierung erweisen sich einige Eigentümlichkeiten als beachtenswert, die man in Ciceros Überwältigungsrhetorik finden kann. Das betrifft insbesondere seine betonte Herausstellung der Gebrauchsfunktion einer Allgemeintopik, der loci communes, die „die wirkungspsychologische Absicherung einer im Detail schon abgeschlossenen Sachargumentation" intendiert.139 Die „pragmatische Allgemeingültigkeit der Gemeinplatz-Topik, die nicht so sehr Anhaltspunkte für eine rational-sachliche Argumentation als vielmehr Impulse für eine psychagogische, pathoserregende Einflußnahme auf die sittlich-emotionale Willensbildung des Publikums liefert", beruht auf der „unmittelbaren Lebensbedeutsamkeit der Topoi". 140 „Diese ,Bedeutsamkeits-Topoi' (loci communes) nützen und bedürfen keiner sachlogischen Detailargumentation", sondern erwachsen aus einer ebenso spontanen wie komplexen sprachkünstlerischen Einbildungskraft. „Die sprachästhetische Kernthese ist die von der Selbsterzeugung der Worte durch die Sachen bzw. von dem Anschein einer solchen Selbsterzeugung." 141 Diese Grundaussage subsumiert die „Theorie der Variation", die als ein „Grundprinzip der Rhetorik" überhaupt angesehen werden kann. Zur Variation, im Sinne der „Ausweitung" des gedanklichen und sprachlichen Reichtums eines Themas, eignen sich nicht alle Themen, sondern nur die von einer gewissen allgemeinen Bedeutsamkeit, besonders also die loci communes. 142 In ihrer Variationsfähigkeit und allgemeinen Bedeutsamkeit weisen die loci communes eine große Ähnlichkeit mit den von Jan Biaiostocki herausgestellten „Rahmenthemen" in der bildenden Kunst auf. 143 Die Charakterisierung bestimmter Themen, die große menschliche Bedeutung in sich tragen, als „Rahmenthemen" entwickelt Biaiostocki aus dem langlebigen „Beharrungsvermögen" einiger Motive und ikonographischer Typen, ähnlich den literarischen Topoi. Diese „ikono-
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graphische Schwerkraft" erklärt Biatostocki so: „Die Vorstellung der Künstler neigte zur Rückführung des neuen Bildwerks auf die traditionelle ikonographische Formel, die ihr am nächsten kam und eine Ähnlichkeit in der Anordnung der visuellen Elemente, aber auch in bezug auf Funktion und seelische Stimmung aufwies. Ein existierendes Bild zieht wie ein Magnet neu entstandene verwandte ikonographische Formen an sich und zwingt sie zur Angleichung." 144 In diesem Zusammenhang ist die Differenzierung des Topos-Begriffs in zwei Problembereiche von Interesse, wie sie in der neueren Topos-Forschung erfolgt. 145 Es geht um den Doppelcharakter des Topos: erstens als Suchformel oder Ordnungsprinzip und zweitens seine konkrete argumentative Auslegung als Ergebnis einer gestalthaften Verwirklichung. Dies ist von besonderer Relevanz für die Allgemeintopik der loci communes, die als Gemeinplatz keine abrufbaren Wissenspeicher oder starre Muster bilden, sondern in ihrer abstrakten Form mehrdeutig sind. Als allgemeine Suchformel sind sie stets unabgeschlossen und modifizierbar. Sie unterliegen in ihrer konkreten argumentativen Verwendung historischen Wandlungen und ermöglichen so auch das Einfließen von aktuellen Schicht- oder klassenspezifischen Interessen und Bedürfnissen. Im Bevorzugen oder Vernachlässigen bestimmter Argumentationsformen und Bildtypen geben sie auch Auskunft über konkrete Herrschaftsverhältnisse und Epochenstrukturen. Die Bestimmung der Topik als Methode der schöpferischen Intuition und argumentsbezogenen Erfindung, als Argumentationsheuristik, wie Kopperschmidt sie nennt, 146 subsumiert, daß der ToposBegriff nicht in Konkurrenz zu Termini wie Thema und Motiv steht. In diesem Sinne kennzeichnet Bornscheuer den Topos-Begriff als einen feldtheoretischen Begriff, der die integrale Betrachtungsweise rhetorischästhetischer Funktionszusammenhänge einschließt.147 Aus dieser Sicht können gegebenenfalls einzelne Themen und Motive als Topoi betrachtet werden. Dies'schließt auch die Existenz von „toposhaften" Strukturelementen ein, zu denen z. B. Gattungs- und Stilmomente, Formen und Techniken und andere Ausdrucksmuster werden können. 148 Die Beachtung von solchen elementaren oder komplexen bildkonstituierenden Faktoren gewinnt im Graphic Design besonders bei der Herausbildung von „topischen Feldern" eine wichtige Rolle. Manfred Moser schreibt in diesem Zusammenhang, daß die Wirksamkeit sozialer Phantasie nirgends sonst so in Erscheinung tritt wie im topischen Feld, „doch ist sie selbst nicht dort lokalisiert, sie nimmt 16*
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die vorfindlichen Bilder und Zeichen in sich auf und ist zugleich Beweggrund dafür, daß diese immer wieder aufs Neue imaginiert und angeordnet werden können." 149 Wie Ciceros Uberwältigungsrhetorik beruhen auch die pragmatisch strukturierten Kommunikationsmechanismen der Bild-Werbung auf Wirkungsstrategien, die den Inhalt als Zielinhalt intendieren. Ähnlich den loci communes oder den Rahmenthemen gibt es auch in der Werbung in stets neuen Variationen wiederkehrende Gemeinplatz-Topoi, die sowohl hinsichtlich ihrer thematischen Auslegung als auch ihrer visuellen Gestaltung vergleichbare Grundstrukturen aufweisen. Die enge Verflochentheit der Bild-Werbung mit der gesellschaftlichen Psychologie läßt erkennen, welchen emotional-willensmäßigen Einfluß die gewählten Topoi in ihrer Lebensbedeutsamkeit auszuüben vermögen. Diese Wirkung wird erhöht durch die sinnliche Konkretheit des Alltagsbewußtseins, das in der Werbung bildlich„ikonisch" erscheint. Die Topik der Werbung, die aus dem gesellschaftlichen Bewußtsein hervorgeht und zugleich in schöpferisch argumentativer Invention eigene Formen seiner Interpretation hervorbringt, knüpft an die individuelle Subjektbezogenheit der Einstellungsbildung im Alltag an. Sie bewirkt Bilderlebnisse, deren programmiertes Ziel darin besteht, die Alltagsentscheidungen des Individuums zu beeinflussen. Charakteristisch für diese Entscheidungen ist, „daß im subjektiven Leben des Alltags ein ständiges Hinundherwechseln vorhanden ist zwischen Entscheidungen, die auf Motive augenblicklicher und fließender Wesensart begründet sind, und solchen, die auf starren wenn auch gedanklich selten fixierten Grundlagen (Tradition, Gewohnheiten) beruhen". 150 Diese Aussage von Georg Lukäcs wird in der Sozialpsychologie durch die Unterscheidung von aktueller und fixierter Einstellung differenziert. Die aktuelle Einstellung realisiert sich in einer aktuellen Handlung. Hinter dem in ihr zum Ausdruck kommenden Verhalten wird eine bestimmte Organisationsform des Einstellungssystems angenommen. Die fixierte Einstellung ermöglicht eine habituelle Reaktionsbereitschaft. Dem entspricht die Habitualität des Topos, die nach Bornscheuer eines der vier Strukturmomente 151 eines allgemeinen Topos-Begriffs bildet. Sie charakterisiert den Topos als Bestandteil eines sozio-kulturell bedingten Meinungsgefüges, das alle bewußt oder unbewußt im Gedächtnis vorhandenen Engramme von internalisierten Spielregeln und Bedeutungsgehalten der Tradition und Konvention bis hin zu Verhaltensmustern subsumiert.
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In der Potentialität des Topos zeigt sich seine vielseitige Interpretierbarkeit, die von seiner Allgemeinheit und Reichhaltigkeit abhängt. Die jeweilige Interpretation ist stets durch das historisch-konkrete gesellschaftliche Bewußtsein geprägt. Nach Cicero gewinnt die Einbildungskraft hierin eine Fülle an Ausdrucksmöglichkeiten. Im speziellen argumentativen Zuschnitt des Topos erweist sich seine Intentionalität. Sie impliziert seine Fähigkeit, innerhalb eines Problemzusammenhangs als konkreter Argumentationsgesichtspunkt zu dienen. In der kommerziellen Gebrauchsgraphik zeigt sich -das in einer den ökonomischen Zwecken angemessenen zielgruppen-spezifischen Interessen- und Sinnorientierung. Das letzte Strukturmoment des Topos, die Symbolizität, kennzeichnet seine spezifische Sprachform in bestimmten Motiven oder Bildformeln. Sie garantieren Erkennbarkeit und Einprägsamkeit. Im Zusammenspiel mit den anderen Funktionsmomenten eines Topos ist die Symbolizität von besonderem Interesse für die ästhetische Aneignung. Sie vereinigt die syntaktischen, pragmatischen und semantischen Grundmuster, die die ikonische Symbolwelt des Graphic Design im soziokulturellen System der Massenkommunikation einnimmt. Exkurs: Der „Naturmythos" - ein zentrales topisches Feld des Graphic Design Einen für die kommerzielle Gebrauchsgraphik typischen Gemeinplatz-Topos mit großer gesellschaftlicher Bedeutsamkeit und Variationsfähigkeit bildet der bereits von Roland Barthes benannte „Naturmythos".152 Er sei hier als Beispiel behandelt. Mit der Erkundung von Bildwelten, die der Mehrheit der Betrachter Identifikation ermöglichen, Zustimmung erwecken, knüpft auch das kommerzielle Graphic Design an Topoi und Motive der gesellschaftlichen Einbildungskraft an, die im menschlichen Denken und Fühlen seit Jahrtausenden verankert sind. In jeder Epoche hat sich das Verhältnis Mensch - Natur in jeweils historisch-konkreter Spezifik auch als eine Art Sozialverständnis manifestiert. Mythologisch vorgeprägte Wunschbilder einer lebendigen Einheit mit der Natur sind längst brüchig geworden, gewinnen aber wieder an Bedeutung. Sie widerspiegeln die ökologischen Probleme der Gegenwart im Alltagsbewußtsein und werden von der Bild-Werbung gezielt aufgegriffen. Bei der emotionalen Sinnaufladung der Natur als
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Erlebniswert wird vieles, was zum Selbstverständnis der Gegenwart gehört, von den Naturmythen der Werbung verdeckt, die „Realität der Welt" wird „in ein Bild der Welt, die Geschichte in Natur verwandelt". 153 Die Intentionalität des „Naturmythos" in der Werbung wird oft durch solche Argumentationsfiguren charakterisiert, wie sie Roland Barthes in der „Tautologie", der „Feststellung" und dem „Weder-Noch" benannte. 154 Sie erinnern an Grundmuster des „archaischen Denkens", wie sie Friedhart Klix beschrieben hat. Die Interpretation des Nicht-Gewußten in der Analogie zum Bekannten steht in enger Beziehung zu der hohen Bildhaftigkeit und damit ikonischen Erinnerungstreue des Gedächtnisses sowie der Vorstellungstätigkeit in'diesem Denktyp. 155 Die Analogisierung durch Ähnlichkeiten, die Bildung von Merkmalsverbindungen, die Benennung usw. lassen sich letztlich in Schlußprozesse einordnen, die auf „Wenn-dann-Beziehungen" beruhen und eine strenge Kausalität enthalten.156 Die Relevanz, die die Potentialität dieser Denkmethoden als rhetorischer Argumentationstyp für die kommerzielle Gebrauchsgraphik hat, erwächst nicht zuletzt aus der Plastizität, der Bildhaftigkeit und den starken Affekten dieser aus der Wahrnehmung abgeleiteten Zusammenhangserfassung. Das bildhafte Vereinfachen der Erfahrungsvielfalt im mythischen Denken durch gewisse Denkraster, ihr Überschaubarmachen über die Interpretation der Welt als eine Kette von sich wiederholenden Ereignissen führt zu einem ganz bestimmten Charakter der Welterklärung. Er steht in enger Beziehung zum „Deuten", das Holzkamp als „anschauliches Denken" charakterisiert. Das Deuten bleibt der „Unmittelbarkeit" verhaftet - ein Grundzug der Bildwerbung. Deutende Welterklärung und Sinnsuche hat im Graphic Design eine Tendenz, gesellschaftliche Widersprüche „nur als jeweils individuell auftauchende und individuell zu bewältigende Probleme innerhalb einer im Ganzen unbegriffenen, als naturhaft gegeben und unveränderbar hingenommenen gesellschaftlichen Umwelt erscheinen" zu lassen.157 Die mythische Strukturierung der ästhetischen Wertbeziehungen im Graphic Design zeigt sich besonders in der „Entziehung der Geschichte". 158 Das Objekt, die Ware, erscheint nicht als historischkonkretes Produkt menschlicher Tätigkeit, sondern stammt aus der „Ewigkeit". Im „Naturmythos" erhält dies besondere Evidenz. Klix charakterisiert den Mythos bei den Naturvölkern als eine Brücke, die die „Lücken des Wissens zum emotional fixierten Glauben" schließt. „Mythen interpretieren alles nach Menschenart...
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Und sie begründen darin die Magie, deren Aufgabe es ist, das Notwendige zu schaffen. Die Kraft des Zaubers entspringt dem Glauben an die Macht der Gedanken und der Worte, an die verursachende Wirkung von Vorstellungen .. ." 1 5 9 Habermas verweist darauf, daß in der mythisch gedeuteten Welt der Naturvölker eine „eigentümliche Konfusion zwischen Natur und Kultur" herrscht. Er versteht dies als eine „Vermischung von zwei Objektbereichen, eben der Bereiche der physischen Natur und der soziokulturellen Umwelt". 160 In der bürgerlichen Kultur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die „Naturalisierung" der Kultur zu einer spezifischen Methode der Ideologieproduktion, die eine „Pseudo-Natur" 161 schafft. Barthes sieht den Mythos als eine überindividuelle Instanz, die ähnlich wie die Sprache ein Zeichensystem bildet. Dieses besteht aus strukturellen Einheiten, die es erst in ihrem systemhaften Beziehungszusammenhang erschließbar machen. Der Mythos wird als „Mitteilungssystem", als „Botschaft" 162 betrachtet. In diesem Sinne wird die Mythologie zweifach eingeordnet: „Sie gehört als formale Wissenschaft zur Semiologie und zugleich zur Ideologie als historische Wissenschaft, sie untersucht Ideen - in Form." 1 6 3 Ähnlich den verschiedenen Nachrichtenarten in der „Rhetorik des Bildes" werden auch die mythologischen Motive und Themen als „sekundäres semiologisches System"164 von der Normalsprache abgehoben. Robert Weimann beschreibt diese Methode so: „Das primäre, wortsprachliche Zeichen (der Bezug von sinnlicher Bezeichnung und begrifflicher Bedeutung) wirkt im Mythos als bloße Bezeichnung, d. h. als bezeichnender Signifikant. Das Zeichen eines normalsprachlichen Systems (z. B. der Satz „es donnert") verliert seine Bedeutung als gegenständliche Information über das wirkliche Wetter und wird zum Signifikant (zum Ausdruck, zum Bild, zur Bezeichnung) einer sekundären mythologischen Bedeutung, etwa: das Grollen des Zeus. Die Sprache des Mythos umschließt damit zwei semiologische Systeme: ein wortsprachliches System der Objektsprache und ein symbolisches System der Metasprache, das eine Botschaft oder Mitteilungsform darstellt, in der die primäre Sprache einen sekundären Sinn empfängt." 1 « Über eine Erkundung typischer Mythen der Gegenwartskultur der fünfziger Jahre versucht Barthes durch die genaue Analyse der „Formen" kritikwürdige ideologische Inhalte herauszustellen. Der Mythos, der eine zweite Sprache darstellt, eine Metasprache, 166 bedient sich
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auch bildlicher „Objektsprachen": „Die Photographie, der Film, die Reportage, Schauspiele und Reklame, all das kann Träger der mythischen Aussage sein. Der Mythos kann nicht durch sein Objekt und nicht durch seine Materie definiert werden, denn jede beliebige Materie kann willkürlich mit Bedeutung ausgestattet werden, der Pfeil, der überreicht wird und Herausforderung bedeutet, ist ebenfalls eine Aussage." 167 An anderer Stelle bezeichnet Barthes den Mythos als „ideographisches System, in dem noch die Formen durch den Begriff motiviert sind, den sie darstellen, ohne sich jedoch im geringsten mit deren Darstellung zu erschöpfen. Und so wie historisch gesehen das Ideogramm sich allmählich vom Begriff getrennt hat, . . so erkennt man die Abnutzung eines Mythos an der Willkürlichkeit seiner Bedeutung. der ganze Molière in der Halskrause eines Arztes." 168 Diese Vielschichtigkeit und zugleich bildhafte Standardisierbarkeit des Mythos läßt deutlich werden, daß er in dem instrumentalen Zeichengebrauch, in den Konnotationen des Graphic Design eine spezifische Relevanz erhält. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang die Mechanismen, mit denen im Mythos das „Reale" umgewandelt wird, „es von Geschichte entleert und mit Natur angefüllt worden ist". 169 Der Naturmythos zeigt sich in der ikonischen Zeichenwelt des Graphic Design in mannigfaltigen Gewändern. So findet man exotische Landschaften vielfach variiert in scheinhafter Gegenwärtigkeit. Sie rufen z. B. die Vorstellung von üppig wachsenden Pflanzen hervor, von ursprünglichen, sonnendurchglühten Stränden und klarem, erfrischenden Meerwasser in relativer zeitlicher und geographischer Unbestimmtheit - eine Abstraktion von traumhafter Flüchtigkeit, ungenau in den Konturen, scharf nur in den Details. Wenige sinnlich wirksame Bildauslöser geben dem Betrachter die Möglichkeit, in seiner Phantasie noch Einzelheiten hinzuzufügen, seine Wünsche hineinzuprojizieren, deren letztliche Erfüllung das Produkt zu versprechen scheint. Die Natur als „verlorenes Paradies", als ursprüngliche, vollkommene Welt, taucht im Graphic Design in formelhaft wiederkehrenden Elementen immer wieder auf. So wird auf einem Plakat der italienischen Firma „Olivetti" sogar eine nüchterne Schreibmaschine mit einer naiv-traumhaften Naturlandschaft „bekunstet". Der dadurch hervorgerufene Verfremdungseffekt trägt keine inhaltlichen Verweise zum Gebrauchsgegenstand in sich, sondern soll diesem in seiner Natursymbolik einen ansprechenden Charakter verleihen.
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Diese fiktiven Bilder haben die Eindringlichkeit von Vorstellungen, die von starken affektiven Begleiterscheinungen beeinflußt sind, wie man sie schon im archaischen Denken findet. Werbung knüpft in ihrer Veranschaulichung auch an unbewußte Gedankeninhalte, Vorgänge des Fühlens und Empfindens an. Es sind Gedächtnisinhalte, über die wir vorzugsweise in Traumbildern verfügen. In diesem Sinne trägt die Symbolkraft der Bild-Werbung auch bestimmte Wesenszüge des archaischen Einteilens in sich, das Friedhart Klix als das Klassifizieren nach der Ähnlichkeit zu einem Urbild oder Muster (Prototyp) bezeichnet. „Es mag dabei erbliche Anteile geben, wie z. B. Bilder für die Eindrücke des Gewaltigen oder des Ekelerregenden. Die meisten verhaltensrelevanten Prototypen entstehen aber im Rahmen des archaischen Denkens durch Erfahrung. Das Bild eines typischen Schulanfängers oder eines schönen Pferdes, eines typischen Bauern oder Wissenschaftlers, das sind solche Prototypen, denen konkrete Figuren nur mehr oder weniger nahekommen. Prototypen sind eine Art Inbegriff für eine ganze Objektklasse. Ihre Entstehung ist eine aktive Leistung des Langzeitgedächtnisses. Sie beruht auf einer Art Durchschnittsbildung über eine Menge von Anschauungsbildern." 170 Ein wichtiger Aspekt der situationsbezogenen Überzeugungskraft des Naturmythos liegt in der Korrespondenz der Bilder zu diesem Topos untereinander, im topischen Feld. Wurde durch eine Vielzahl von Bildern erst einmal eine bestimmte Verknüpfung von Vorstellungen zu einem Prototyp im Gedächtnis des Betrachters geprägt, braucht man nach einer gewissen Zeit nur noch reduzierte Merkmale zu zeigen. Sie wirken als Auslöser für Reflexe und Gedanken, die der Betrachter in seiner Phantasie vervollkommnen kann. Hier besteht auch ein Zusammenhang zu dem von Peter H. Feist eingeführten Begriff Motivfeld. „Die innere Zusammengehörigkeit von Motiven eines Feldes kann so eng sein, daß ein Motiv bei seinem Auftreten gleichsam das andere fordert und nach sich zieht oder dem Betrachter als notwendige Ergänzung suggeriert."171 So trägt z. B. inerhalb des Naturmythos der Wassertropfen als Motiv einen hohen Symbolwert in sich. In seiner gegenständlichen Erscheinung stark betont, durch scharfes Anleuchten in seiner „Naturtreue" überhöht, wird er als rinnendes Wasser oder vereinzelter Tropfen sehr wirkungsvoll ins Spiel gebracht. Kein kühles Getränk, auf dessen Flasche nicht große Wassertropfen sitzen. Sie tragen den Verweis für „Frische" in sich. 249
Ob für eine Zigarettenmarke oder eine Whiskysorte geworben wird, eine große Rolle spielt in der Natursymbolik die gesteigerte (amplifizierende) Beschreibung von Naturstimmungen durch die Aufzählung ihrer sinnfälligen Details. Dazu gehört auch die rhetorische Beschreibung von Tageszeiten (descriptio tempori), die den Betrachter nachdrücklich zur erlebenden („emphatischen") Mitschau anregt. Das Gleichnishafte der Situation für bestimmte Abläufe im menschlichen Leben, wie Freizeit, Abend, Ruhe, wird in eine andere Welt versetzt, deren entrückter Wesenszug sich nur durch wenige Motive andeutet. Sie bilden nicht nur den Blickfang, sondern regen die Einbildungskraft an, in deren Spielraum das Produkt den Endpunkt einer Wunscherfüllung bilden soll. Je nach Produkt und Konsumentenkreis findet man Romantik in exklusiver Festlichkeit, in abenteuerhafter Naturbegegnung oder im Ausflug ins Fremdländisch-Exotische. Abendstimmungen haben ihren ganz besonderen Reiz. Sie dienen der Hervorhebung von Freizeit, Entspannung, Ruhe, Privatheit. Grunderfahrungen romantischer Motive aus der bildenden Kunst, wie die Rückenansicht von Paaren vor einem Landschaftspanorama, Lichterschein aus erleuchteten Fenstern, unergründliche Hell-Dunkel-Kontraste, lassen den Betrachter nicht ganz in alle Geheimnisse eindringen. Eine häufige Variante ist der abendliche Sonnenuntergang in weiten Landschaftsebenen mit spezifischer Charakteristik. Wenige fremdländische Umrisse deuten Western- oder Südseeromantik bzw. orientalische Gelassenheit an. Der Betrachter befindet sich oft in der Untersicht und schaut z. B. zu dem geruhsamen abendlichen Ritual der Heimkehr auf. Das Gegenlicht der Dämmerstunde schafft starke Hell-Dunkel-Kontraste, die sich scharf von den weichen Farbübergängen eines gelb-orange-rot getönten Himmels abheben. Die Sonne steht als weiße Glut über dem Horizont. Die typische vom Motiv ausgehende Art und Weise der Gestaltung solcher Szenen wiederholt sich in verschiedenen Produkten der visuellen Massenkommunikation. Dabei wird der hohe emotionale Suggestionswert einfacher Farbkontraste, wie z. B. blau - orange, mittels hoher Farbintensität voll ausgespielt. Sie sind den meisten Betrachtern in ihrer psychophysischen Wirkung nicht bekannt. Gestaltbildungen dieser Art werden nicht einer rationalen und kritischen Reflexion für notwendig befunden. Sie wirken auf das Unterbewußtsein und erreichen hier eine affektive Voreingenommenheit, die kaum durch Überlegung und Argumentation abgebaut werden 250
kann. Diese Gestaltungsmittel sind zumeist eingebunden in umfassendere Wirkungsstrategien, die z. B. Prestige- oder Bildungswerte einschließen. Goldgelbe Sonne ist in Weinreben oder Tabakblätter eingedrungen. Griechischer Wein präsentiert sich vor einer von der Sonne hell durchfluteten Ruinenkulisse klassischer Baukunst, die sich in starkem Kontrast gegen den Azurhimmel abhebt. Die Anordnung der Trauben und Weinflaschen auf einem ionischen Kapitell inmitten der architektonischen Zeugen sagenumwobener Vergangenheit assoziiert im Betrachter die Vorstellung vom „klassischen Zeitalter", die, nahezu überstrapaziert durch die Markenbezeichnung „Klassischer Grieche", auf das Produkt übertragen wird. Der Begriff „klassisch", der die Verschmelzung von Epochenbegriff und Wertbegriff einschließt, bildet in der Werbung einen eigenständigen Topos. Kunstwerke der klassischen Antike werden als Zeugen für Vollkommenheit und zeitlose Mustergültigkeit von Waren herbeigeholt. Von der Werbung vielzitierte Kunstwerke, wie z. B. der Parthenontempel, werden nicht als ästhetische Ausdrucksträger sozialer Konflikte angesehen, 172 sondern ähnlich dem Naturmythos in enthistorisierenden Zusammenhängen präsentiert. In seiner bildrhetorischen Ausdrucksweise bringt das Graphic Design dabei geläufige Interpretationen der kulturellen Bedeutungsmuster auf die einprägsamste Formel. Es stützt sich auf Ergebnisse der bürgerlichen Kunst- und Geschichtswissenschaft, die nach Hans-Ernst Mittig „ . . . durch Interpretationen und Darbietungsweisen, die die im Kunstwerk sichtbaren Widersprüche harmonisieren, die Kunstentwicklung überwiegend noch von anderen Bereichen der Geschichte trennen. Scheinbare Uberzeitlichkeit und Zugehörigkeit zu einer vom Alltag abgehobenen Sphäre empfehlen die Kunstwerke geradezu als geeignete Zeugen für die Behauptungen der Reklame; Zeugen nämlich, die keiner Interessenverstrickung verdächtig sind." 173 Durch die Einbeziehung historischer Kunst in die Werbung werden vor allem eine obere Sozialschicht und eine breite Mittelschicht angesprochen, die gewisse bildungsmäßige Voraussetzungen haben. Die kulturelle Autorität, die diese tradierten Ideale in der europäischen Erziehung und Kultur genießen, wirkt aber auch auf andere nichtakademische Schichten, weil sie ihnen das Gefühl vermittelt, an einer Bildungswelt teilzunehmen, deren Besitz früher sowohl mit geistigem Reichtum als auch mit gesellschaftlicher Überlegenheit verbunden war. Die kulturellen Modifizierungen des Naturverhältnisses im Imperia-
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lismus der Gegenwart werden im Alltag besonders durch die NaturÄsthetik der ökologischen Bewegungen beeinflußt. Sie zeigt in ihren weltanschaulichen Grundhaltungen eine große Breite und ist selbst in magisch-kultischen Ausdrucksformen ein wichtiger Beitrag gegen die überkommenen räuberischen Praktiken der Naturaneignung. Das Eintreten für die Bewahrung der natürlichen Existenzgrundlagen des Menschen als eines „biosozialen Wesens" 174 hat weltweit öffentliche Resonanz gefunden. Solche sinnträchtigen Zusammenhänge werden auch für Werbungszwecke benutzt, die hiermit wenig zu tun haben. So versinnbildlicht eine Anzeige für Sparkassen die symbolische Einheit des Mienschen mit dem Planeten Erde. Es wird die Vorstellung suggeriert, der Verbraucher sei bei der Bank wie in einer intakten Biosphäre gut aufgehoben. Ein Weltproblem wird hier genutzt für Zwecke der Geldakkumulation der Großbariken. Vielfach finden sich Merkmalskombinationen, die für die Erhaltung und Regenerierung des menschlichen Lebens von großer Bedeutung sind. Das Erlebnis von Wärme, Licht, Atemluft, Ruhe, soziale Einbettung usw. wird visuell.intensiviert und zur ästhetischen Wertbeziehung stilisiert. Die variationsreiche Visualisierung von Erholung, Entspannung, Genuß, Bewegung usw. gehören als elementare Motive zum unverzichtbaren Bestand der Werbung. Aus der Sicht des Urbanen Alltags gewinnen Bedingungen für den intakten Stoffwechsel des Menschen mit der Natur wie Wasser, Sauerstoff, Sonne, Vegetation usw. besondere Attraktivität. Als ikonische Ausdruckswerte betten sie die Waren in eine Atmosphäre ein, die Wohlbefinden im „Ökos" assoziiert. Natürlich gibt es auch im Topos „Naturmythos" Eigenheiten, die von dem nationalen Habitus bestimmt werden, wie z. B. die spezifischen bildungsmäßigen und kulturellen Traditionen sowie die originellen Gestaltungsweisen herausragender Gebrauchsgrafiker usw., die das spezifische künstlerische Milieu eines Landes formen. Sie gewinnen durch die rasanten Bildübertragungstechniken der Gegenwart aber immer schneller internationalen Einfluß und wirken stimulierend und prägend auf einen größeren Kreis von Produzenten und Rezipienten, als es je der Fall war. Erwähnt sei nur der weltweit anregende Einfluß des polnischen Plakates, aber auch die Macht der Wirkungsstrategien der großen amerikanischen Werbeagenturen im kapitalistischen Wirtschaftsbereich. Letztere verstehen es besonders, schicht- und generationsspezifische Wünsche nach gruppenbezogener Identität mit allgemein verständlichen bildrhetorischen Schemata zu bedienen.
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Wertewandel im Graphic Design Die Werbekonzerne reagieren äußerst flexibel auf ökonomische Prozesse und Veränderungen im gesellschaftlichen Bewußtsein. So haben Veränderungen in den materiellen Bedingungen, wie z. B. Basisprozessen der modernen Produktivkraftentwicklung im Imperialismus sowie damit verbundene Wandlungen im Reproduktionsbereich und der Sozialstruktur in den siebziger Jahren einen umfassenden Wertewandel bewirkt. Der betonte Konsumhedonismus der sechziger Jahre verlor in den Krisen der siebziger Jahre an Bedeutung und war besonders in der jungen Generation mit der Aufwertung von Selbstverwirklichungskonzepten sowie gesellschaftskritischen Werten verbunden. In dieser Situation reagierte die Bildproduktion der Werbung zielgruppenspezifisch mit der stärkeren Orientierung auf „individuelle Lebensqualität", die oft von ihrer Bedingtheit durch den Charakter der gesellschaftlichen Lebensweise abgelöst erscheint. Dabei gewinnt die den zeitgemäßen Bedürfnissen angepaßte Mythenbildung eine gewichtige Rolle. Sie dient u. a. dazu, das Vakuum an realen gesellschaftlichen Werten, das mit der bürgerlichen Identitätskrise einhergeht, auszufüllen. Topoi, wie z. B. der Naturmythos, ermöglichen das spielerische Ausprobieren von fiktiven Bewältigungssituationen. Sie bedienen damit Wunschvorstellungen und unklare Sehnsüchte, die aus Selbstverwirklichungsmängeln innerhalb der realen Lebensbedingungen im Kapitalismus erwachsen, und reflektieren so auf ein spezifisches Grundbedürfnis. Dominierte im Naturbild der Werbung der sechziger Jahre nur das Harmoniebedürfnis einer „heilen Welt", verweisen etliche Beispiele in den siebziger Jahren auf Widersprüchliches, auf Dissonanz und Aggression. Diese bleibt aber im Ungewissen und zeigt nicht die gesellschaftlichen Ursachen der Gefährdung der Natur. Eine typische Motivgruppe bilden in diesem Zusammenhang die „Tier-Monster". In einer auf den ersten Blick paradox erscheinenden Weise soll Sympathie für eine Ware, d. h. Kaufbereitschaft, durch deren Kopplung mit einem erschreckenden Bild erzeugt werden. Eine Rolle spielen dabei zweifellos der pure „Gag" des Ungebräuchlichen, die Aufmerksamkeitserzeugung durch Absurdes, die allgemeine Gewöhnung an schockartig starke Reize, aber eben auch das Anspielen auf eine allgemein verbreitete Gewöhnung an verschiedene Formen von Bedrohung, Beunruhigung usw. So blickt in der Ambivalenz zwischen Illusion und 253
Wirklichkeit aus diesen Bildfindungen immer die Halbwahrheit der Erfahrung, in der sich ein Zeitgefühl ausdrückt. In engem Wechselverhältnis zum übergreifenden Topos „Naturmythos" befinden sich solche Topoi wie „Jugend" und „Freiheit", auch sie sind von allgemein menschlicher Bedeutsamkeit und haben innerhalb der gesellschaftlichen Einbildungskraft eine Tradition über Jahrhunderte. „Freiheit" wird im Konzept des „American Way of Life" vorrangig außerhalb der Organisiertheit des gesellschaftlichen Handelns gesucht. Neben der „Freiheit" im Abenteuer schließt das auch den Sex-Schock ein, der in der Werbung durch die attrappenartige Direktheit von Sexualsignalen des Schocker-Pop angeregt wurde. Besonders die amerikanische Jeans-Werbung verbindet in ihrem Graphic Design den Naturmythos mit bildhaften Assoziationen von fugend und Freiheit. So wendet sich die Firma Levi's speziell an die Zielgruppe der Jugendlichen. Die weltanschauliche Reflexion der Lebenslage junger Menschen im gegenwärtigen Kapitalismus ist wie die gesellschaftliche Situation selbst recht widersprüchlich. Pessimismus, Apathie und Resignation sind genauso anzutreffen wie die Suche nach Ausweg und Alternative, dumpfe Unzufriedenheit genauso wie artikulierter Protest und politischer Wille, für fortschrittliche Veränderungen zu kämpfen. Insgesamt zeigt sich eine deutliche Zunahme von Zukunftsangst, Unsicherheit und Perspektivlosigkeit. Großes Interesse an der modernen Technik einerseits sowie Technikpessimismus bis zur radikalen Ablehnung und zum Engagement für Umkehr zu einfacher und primitiver Lebensweise existieren dicht beieinander oder vermischt.175 Die Werbebilder der Firma Levi's passen sich dieser Ambivalenz in den Lebensvorstellungen vieler Jugendlicher an, die oft verbunden sind mit der Rückkehr zum Körperlich-Natürlichen, Vitalen und sich gegen viele Verhaltensprogramme ihrer soziokulturellen Umwelt richten. Auf der Suche nach sinn- und bedeutungsträchtigen Zusammenhängen werden sowohl mythologische als auch aktualisierende Vorstellungsgehalte miteinander verquickt. Auf einer Anzeige steht ein moderner Glücksucher auf einer Anhöhe oder einem Berg. Ähnlich dem griechischen Gott Apoll ist er als Bogenschütze dargestellt. Der Pfeil bildet zugleich Levi's Markenzeichen auf spezifische Weise ab. Als Sohn des Wolkenversammlers Zeus wurde Apoll unter anderem als Gott der Jugend, des Lichtes, als Schutzgott ebenso wie als strafender Schütze bezeichnet. Wie in der ganzen Anzeigenserie demonstrieren auch hier der Habitus und die
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Körpersprache der nur mit Jeans bekleideten sportlichen Gestalt weltweit ein typisches amerikanisches Identifikationsmuster. Es vermittelt eine Erlebnis- und Motivationsbasis von persönlicher Freiheit, Kraft und dem nötigen Wagemut, mit den Problemen dieser Zeit fertig zu werden und sich gegenüber allen Kräften der Natur als widerstandsfähig zu erweisen. In seiner aktionsreichen Bewegung gilt dies auch für den Jugendlichen, der mit dem Rücken zum Betrachter im Scheinwerferlicht des Vordergrundes steht. Er hält einen Bumerang in der Hand. Das knieförmige Wurfholz ist mit dem Markenzeichen der Firma identisch. Im Hintergrund befindet sich eine Stadtsilhouette; in ihrem Zentrum tasten Scheinwerfer den Himmel ab. Suchen sie den Bumerang? Bei verfehltem Ziel kehrt dieser immer wieder zum Ausgangspunkt zurück. Die Details der Handlung irritieren den Betrachter, sie sind rätselhaft bei aller Beziehungssuche und fesseln so die Aufmerksamkeit. Widerspruchsvoll und mehrdeutig läßt diese Anzeige den Betrachter im Ungewissen und ruft zugleich recht gegenwartsbezogene Assoziationen in ihm wach. Weiterführende Analyse könnte erbringen, in welchem Maße die ästhetische Gestalt- und Symbolbildung im Graphic Design auf vermittelte Weise weltanschauliche Modelle des kulturellen Systems widerspiegelt. So kann man Verbindungen suchen zwischen der neuen Etappe in der Entwicklung der philosophischen Anthropologie seit Ende der sechziger Jahre 176 und bestimmten weltanschaulichen Prämissen des „Naturmythos" im Graphic Design. Diese Einflüsse sind aber nicht linear illustrativ, lassen sich nicht auf Schwarz-WeißKlischees reduzieren, sondern vermischen sich im konkreten Bild mit anderen Einflüssen. Die der Bild-Werbung innewohnende Virtualität, kulturelle Werte und Ideale zu vermitteln, Modelle der Lebensweise und Persönlichkeitsprofilierung affirmativ zu präsentieren, trägt in ihrem rhetorischen Überredungscharakter stets auch den Versuch der Manipulation in sich. Dies betrifft z. B. die Ausgrenzung gesellschaftlich bedeutsamer Themenbereiche oder die einseitige Problem- und Fragestellung innerhalb der gewählten fiktiven „Wirklichkeitsausschnitte". Wichtig ist in diesem Zusammenhang, den Wunsch mancher Werbestrategen nach „totaler" Manipulation nicht gleichzusetzen mit den realen Wirkungsmechanismen. Es gibt noch viele andere Einflußfaktoren, die sich unter anderem aus der Durchdringung unterschiedlicher kultureller Klassenlinien ergeben und diese Absicht unterlaufen.
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Die auf Überwältigung und Faszination ausgerichteten Bildtechniken sind nicht nur Animation zum Handeln, Verführung zum Kauf, Stabilisator sozialer Verhaltensnormen usw. Als Bestandteil der gesellschaftlichen Einbildungskraft stehen sie gleichzeitig in einem wechselvollen Verhältnis zur visuell-kommunikativen Erfahrung der Betrachter. Kommerzielle Gebrauchsgraphik erkundet die aktuellen Erscheinungsweisen des Alltagsbewußtseins der Menschen, ihre Einstellungen, Wünsche, ihr sinnlich-vitales Verhalten, reagiert auf zeitgemäße Bilderwartungen und schafft neue Formen des Bildgebrauchs. Ihre wirkungsästhetischen Gestaltungsstrategien visualisieren nicht nur Entfremdungsmuster und illusionäre Sinnverheißungen, sondern auch vielfältige ästhetische Aneignungsmuster mit Unterhaltungscharakter. Dies schließt das Spiel mit dem Komischen bis hin zum Nonsens ein. In ihrer universellen Erscheinungsweise bildet Gebrauchsgraphik im Imperialismus keine homogene Einheit. Als eine Form der Sympathielenkung geht sie auf vielfältige Ansprüche der Betrachter ein, entwickelt variierende Toleranzbereiche im fiktiven Umgang mit der Wirklichkeitserscheinung. In den Mythen, Topoi und Motiven ihrer Bildrhetorik duchdringen sich auf unterschiedliche Weise Formen der Realitätsverdunkelung mit Versuchen erlebnisbetonter Realitätsbewältigung, die sich auch zu konkret-historischen sozialen Erfahrungen der Menschen in Beziehung setzen. In diesem Sinne reagiert die topische Aneignungsmethode des Graphic Design auch auf reale Bedürfnisse, Sehnsüchte, Hoffnungen und Wünsche der Konsumenten nach sozialer Geborgenheit, Naturverbundenheit und menschlicher Sinnerfüllung, gerade deshalb vermag sie es, im Systeminteresse wirksam zu werden.
Zu einigen Funktionsaspekten von Rockmusik Die Polyfunktionalität von Rockmusik In den gegenwärtig massenwirksamsten Formen von Musik, zu denen Rockmusik gehört, lassen sich Aneignungsvorgänge unterschiedlichster Art besonders deutlich feststellen. Sie sind meist mit nicht-künstlerischen Motivationen und ebenso allgemeinen wie naheliegenden Dispositionen der Lebenstätigkeit verknüpft. Insbesondere knüpfen sie an das ästhetische Alltagsempfinden der Massen unmittelbar an, so daß sich gerade aus solcher Nähe eine spezifische Ästhe-
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tik der Aneignung bei Produzenten und Konsumenten ergibt. Daraus ergeben sich andere ästhetische Normen als im Ensemble der traditionellen Künste, die auch aus einer eigenen Tradition im Kontext der ästhetischen Alltagsbedürfnisse hervorgehen. Nichtsdestoweniger weisen viele derartige Kreationen künstlerische Qualitäten auf, die mit den Mitteln ästhetischer Reflexion und entsprechender Kriterien etwa Differenziertheit, Gestalthaftigkeit, Symbolgehalt oder Neuheit, Realitätsgehalt, Meisterschaft - beschrieben werden können. Gerade Rockmusik wird äußerst intensiv und vielgestaltig angeeignet, da sie in den Lebensprozeß und die Lebenstätigkeit Jugendlicher fest integriert ist. Man benutzt solche Musik beispielsweise als Klang-Tapete zu verschiedenen Tätigkeiten, als „Stimmungsmacher" für private Geselligkeit und öffentliche Veranstaltungen, als Tanzmusik, aber auch als Gegenstand konzentrierten Zuhörens und engagierter Diskussionen. Sie fungiert darüber hinaus als Symbol für ideologische Strömungen, deren Inhalte sie fesselnd repräsentiert. Sie kann sensuelle und habituelle Modewellen auslösen und musikalische Aktivitäten massenhaft stimulieren. Wie wird diese Polyfunktionalität möglich? Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die Verbreitung derartiger Musik durch die Medien. Radio, Fernsehen, Schallplatte, Kassette, Tonband und Videorecorder machen Rockmusik jederzeit in ihrer ganzen Vielfalt verfügbar. Der jugendliche Rezipient kann aus einem großen Spektrum von Titeln auswählen und sich dadurch selektiv wertend verhalten. Dieser Wertungsvorgang hängt mit sehr komplexen sozialen und psychischen Bedingungen zusammen. Je nachdem, wie ein Interessent in die Gesellschaft und sein soziales Umfeld integriert ist, spricht er entweder auf das Oppositions- oder das Konformitätspotential von Rockmusik an. Die Auswahl wird ebenso von der subjektiven Stimmungslage wie von Gruppennormen bestimmt, denen er unterworfen ist. Damit läßt sich aber das Phänomen der Polyfunktionalität noch keineswegs hinreichend erklären. Vielmehr bedarf es des Verweises auf allgemeine Eigenarten von musikalischen Strukturen, die auch von sich aus diese differenzierten Umgangsweisen ermöglichen. Die Stukturen sind wiederum gebunden an historische Entwicklungen dieser Musik, ihre sozialen Funktionen, Verbreitungs- und Produktionsbedingungen, auch an biographische Hintergründe, individuelle Intentionen und kreative Potenzen verschiedener Produzenten von Rockmusik. 17
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Zur historischen Entstehung von Rockmusik Anfang der fünfziger Jahre begeisterten sich viele „weiße" Jugendliche in den USA für „schwarze" Rhythm & Blues-Musik, in der sie eine alternative Ausdrucksform zu dem ihnen aufgezwungenen sozialen Konformitäts- und Leistungsdruck sahen. „Weiße" und „schwarze" Musiker griffen - manchmal auch auf Anregung von Plattenfirmen - deshalb diese Musik auf und verarbeiteten, sie mehr oder weniger kreativ zu einem neuen Typus unter dem Marken-zeichen Rock'n'Roll. Rock'n'Roll bedeutete, sehr vereinfacht gesagt, eine Verschmelzung von europäischer Melodik mit afroamerikanischer Rhythmik, wodurch - wieder einmal modisch akzentuiert „schwarze" Musik für den „weißen" Markt zugerichtet und damit gesellschaftsfähig gemacht wurde. Das Neue ergab sich durch die besondere Synthese keineswegs neuartiger Elemente, denn die Vordergründigkeit des Rhythmischen findet sich in vielen tradierten Volksmusiken ebenso wie der Formelschatz von Motiven in langen Traditionen melodisch orientierter Musik. Melodik und Rhythmik haben in den verschiedenen Spielarten der Rockmusik nicht immer die gleiche.Wertigkeit, jedoch rhythmische Spannung und Intensität fehlen fast nie. Seine Neuartigkeit und Faszination bezog der Rock'n'Roll aus den afroamerikanischen Elementen, vor allem der treibenden Rhythmik und der expressiven Gesangsweise. Er übernahm vom Blues häufig die Form, 'die Art der Phrasierung, der Tonbildung und des Ansingens der Töne sowie besondere tonale Färbungen (Blue Notes). Auch kamen die für jeden Rock'n'Roll-Sänger individuellen Bewegungen auf der Bühne hinzu, die der oftmals in Texten ausgedrückten Sexualität zuweilen eine sichtbare Dimension verliehen. Im Rock'n'Roll war neben der erotischen Animation auch die Eigentümlichkeit des Blues wiederzufinden, nur von wirklich oder scheinbar Selbsterlebtem zu singen, was zum Teil auch für das Folk- und Countrylied zutraf. Uberhaupt gibt es musikalisch intensive Wechselwirkungen und -beziehungen zwischen dem Folk- und Countrylied und dem Blues, wobei der Einfluß des Folk- und Countryliedes auf den Rock'n'Roll vor allem im melodischen Bereich dominiert. Auch wenn der Rock'n'Roll als eine Musik entstand, die von älteren Berufsmusikern für ein jüngeres Publikum gemacht wurde, auch wenn die meisten Lieder von ihnen nur interpretiert, aber nicht selbst erfunden wurden, und auch wenn die kommerzielle „Entdeckung"
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des Jugendlichen als zahlendem Konsumenten eine wichtige Triebkraft für die Künstler wie für die Plattenfirmen war, etablierte sich ein in der Tanz- und Unterhaltungsmusik vorher unbekanntes Novum: die Orientierung auf eine bisher völlig vernachlässigte gesellschaftliche Zielgruppe und der damit verbundene Anspruch, nur für sie gemacht zu sein, ihre Interessen, Gedankenwelten und Wertvorstellungen zu repräsentieren. Unter dem Aspekt solcher „Zueignung" unterzog man die Rhythmik, die Textinhalte und den Habitus des Klanges oder der Darbietung radikalen Veränderungen, die so stark ausfielen, daß Erwachsene solche Musik oft nicht mehr akzeptieren konnten. Seit Beginn der sechziger Jahre griffen Beatmusiker in England den Rock'n'Roll wieder auf - nun aber zunächst nicht als Profis, sondern als jugendliche Amateure. Einfache Skifflemusik hatte sie zum Musizieren angeregt - übrigens im gleichen sozialen Milieu wie die Masse der Jugendlichen, für die sie als gemeinsam Betroffene agierten. Ihr Rock'n'Roll klang hart und aufrührerisch durch die elektrische Verstärkung ihrer Instrumente und des Gesangs sowie den aggressiven Klang der elektronisch verzerrten Gitarren. Bekannte Titel bloß nachzuspielen, genügte ihnen bald nicht mehr, um musikalisch und verbal ihre spezifische Befindlichkeit auszudrücken, aber das Kopieren von Vorbildern erwies sich als eine wichtige Vorstufe, um Erfahrungen zu sammeln und mit Hilfe angeeigneter Spielweisen wirklich Neues und Eigenes zu schaffen. Vor allem die Suche sowohl nach neuem musikalischem Material (eingeschlossen die Nutzung der sich ständig entwickelnden Musikelektronik), aber auch die Experimente mit neuen musikalischen Ausdruckmöglichkeiten für ihre konkreten Inhalte führten zu starken stilistischen Differenzierungen. Es etablierte sich ein langlebiges musikalisches Genre, das inzwischen eigene Traditionslinien ausgeprägt hat und selbst traditionsbildend wirkt. Bei aller Differenzierung und Entwicklung wurde aber nie der grundlegende Anspruch aufgegeben, effiziente sinnliche Wirkungen (die vor allem von rhythmischen Gestaltungen ausgehen) mit einem inhaltlichen Anliegen zu verbinden (das auf konkreter Realitätserfahrung basiert). Es gab lediglich Akzentverschiebungen zwischen beiden Aspekten. Diejenigen Musiker, die zu artifiziellem Ausdruck tendierten, betonten auch den intellektuellen Anspruch, während andere, die sich eher zu körperlich-sinnlichen Wirkungen bekannten, die rhythmische Impulsivität, den motorischen Drive und häufig die bloß sequenzhafte Variation relativ einfacher Melodie- und Harmoniemodelle bevorzugten. Die musikalische Gestaltung korre17*
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lierte aber nicht automatisch mit der Bedeutsamkeit und Differenziertheit des inhaltlichen Anliegens, denn dies würde für die notwendige Polyfunktionalität solcher Musik nachteilig sein. Deswegen verwendete beispielsweise der für seine engagierten und vielschichtig verschlüsselten Texte bekannte Amerikaner Bob Dylan vorwiegend balladenhaft einfache Folk-Musik. Zur sozialen Funktion Rockmusik konnte sich als jugendspezifische Musik nur etablieren, weil sie Körper und Kopf in besonderer Weise ansprach: die Texte brachten soziale Konkretheit ein; die Rhythmik belebte die uralte Methode, mittels körperlicher Bewegungen (bis hin zur Ekstase) Ängste und Spannungen abzubauen, aber auch Begeisterung auszudrücken und auszulösen. Dies kommt der nazistischen Neigung Jugendlicher entgegen, lustvoll die eigene Körperlichkeit, überhaupt ihre sinnlichen Potenzen zu entdecken. Dem durchaus auch rituellen Charakter solcher Vorgänge entsprach oft eine expressive Gesangsweise, die höchste emotionale Beteiligung verraten und erwecken sollte. Und nur aus derartigen Zusammenhängen erklärt sich die Verwendung ähnlicher musikalischer Rhythmusmodelle sowie deren ständige Wiederholung im einzelnen Titel. Das aber bedeutet, wie bei vielen Formen archaischer Musik, keine musikalische Armut, sondern gehört zu den Voraussetzungen für das beabsichtigte spontane Funktionieren dieser Musik. Der Reggae beispielsweise erreichte seine Popularität nur auf Grund neuartiger Rhythmik. Seine im Geburtsland Jamaika wichtige sozialkritische Komponente spielte international nur eine untergeordnete Rolle, weil vor allem die gleichsam isolierte Rhythmik bald ausschließlich zu standardisierter Tanzmusik, vor allem Diskomusik, verarbeitet wurde. Doch in der Rockmusik bleiben neben der Rhythmik auch die Texte wichtig. Schon allein die Tatsache, daß Rockmusik gesungen wird und die Texte von den Musikern selbst stammen (während reine Instrumentalformen selten vorkommen), spricht für deren Bedeutsamkeit. Diese Musik kann man daher immer nur im Zusammenhang mit ihrem verbalen Inhalt, ihrer intendierten Botschaft angemessen beurteilen, obwohl dabei Differenzierungen zu beachten sind: Der Musiker stellt immer eine enge Wort-Ton-Beziehung her, gleichviel, ob der Text vor oder nach der Musik entsteht. Die Überlegung, wie man einen Text vertont, kann zum stimulierenden, tragenden Moment für 260
die Komposition und damit zu einem entscheidenden Ausgangspunkt für die besondere Gestalt eines Liedes werden. Wenn jedoch der Text später hinzukommt, wird eine Aussage gesucht, die dem Gestus der Musik entspricht. Welche Rolle hingegen die Texte in der Rezeption spielen, ist kaum schon genügend untersucht worden, so daß nur Vermutungen möglich sind. Bei englischsprachigen Titeln wissen unsere Jugendlichen in der Regel sehr wenig über die konkreten Inhalte. Es dürfte sich eher eine bestimmte adäquate Gefühlslage beim Hören der Musik herstellen wie etwa Trauer, Zorn, Freude oder Glück, wenn z. B. ein gefühlvolles Lied von unglücklicher Liebe oder ein aggressiv wirkender Titel von frustrierenden Erfahrungen handelt. Darüber hinaus läßt sich bei genauerem Zuhören der Inhalt oft grob erfassen, da die Refrains häufig allgemeinverständliche Wendungen aufgreifen. Auch wirkt erhellend, daß Titelzeilen in deutscher Sprache von Moderatoren angesagt werden oder Jugendliche sich gegenseitig Inhalte mitteilen. Im Falle deutschsprachiger Lieder kann man andererseits davon ausgehen, daß Texte zumindest bei den favorisierten Liedern rezipiert werden - wofür auch das immer wieder zu beobachtende Mitsingen spricht. Einen Text zu verfolgen, setzt konzentriertes Hören und eine besonders kommunikative Situation voraus. Im Konzert etwa kann die Zuwendung zur Musik sehr intensiv sein, während sie in der Diskothek vorwiegend nur den stimmungsvollen Background bildet. Da aber die Kommunikationssituationen ständig wechseln, finden sich auch immer Gelegenheiten zu konzentrierter Wahrnehmung. Daher erscheint die Behauptung legitim, daß die bevorzugten Titel im Zusammenhang mit ihrem jeweiligen Inhalt gehört werden, auch wenn dieser nur ganz allgemein ist. Weiterhin ist es nötig, den Aspekt der Textaussagen differenzierter zu betrachten. Das Thema „Liebe" dominiert, und zwar nicht selten in klischeehafter Weise. Daneben gibt es aber auch genügend sozial konkrete und auf individuelle Problemfelder zugespitzte Texte, die ebenso „verdichtete" poetische Bilder wie einfache Alltagssprache verwenden. Sie reflektieren vor allem die besondere Situation Jugendlicher, biologisch schon erwachsen, sozial aber noch bevormundet zu sein. Sie machen Frustrationen deutlich, die sich daraus ergeben, und thematisieren auch die Liebe aus diesem Blickwinkel. Andererseits gibt es Nonsenstexte, bei denen mehr das Klangliche der Sprache dominiert und eigentlich keine direkte Aussage vorliegt. Rockmusik wird schließlich nicht nur als Musik angeeignet, denn 261
durch ihre klangliche Gestalt transportiert und formiert sie auch soziale Verhaltensweisen und gesellschaftlichen Handlungsbedarf. Durch solche Musik werden Jugendliche aktiviert, Klubs zu gründen, zur Party zu gehen, Veranstaltungen zu organisieren - ganz abgesehen davon, daß sie generell den sozialen Umgang untereinander mitreguliert. Hier nutzt die Jugend Räume, im konkreten und übertragenen Sinn, in denen sie sich relativ frei von den Rollenerwartungen der Erwachsenen bewegen kann. Ohne Aufsicht tanzt man freizügiger und kreativer, und das erotische Experiment, die Erprobung der Geschlechterrollen wird zwangloser möglich. Der Gebrauch von Rockmusik zum Tanzen begünstigte eine Entwicklung, die sich nur auf diesen Aspekt konzentrierte und schließlich eine speziell für Diskotheken bestimmte Version hervorbrachte, deren Inhalte weitgehend belanglos blieben. Die Akzentuierung niveauvoller inhaltlicher Ansprüche brachte andererseits Typen sozial engagierter Musik wie Reggae oder Punk hervor, wobei die Musik als Multiplikator und Katalysator von engagierten Ideen und Haltungen fungiert. Besonders verbreitete sich Ende der sechziger Jahre die Flower-Power-Bewegung, die ohne entsprechende Musik niemals ihre so massive Popularität erreicht hätte. Innerhalb der gegebenen Möglichkeiten artikulieren Rockmusiker kritisch akzentuierte oder vielfach romantisch antibürgerliche, häufig auch pazifistische Haltungen. Sie zielen nicht auf prinzipielle Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auf die Beseitigung einzelner Mißstände. Es bleibt hier anzumerken, daß Beatmusik eine musikalische Laienbewegung in einem vorher nicht gekannten Ausmaß initiierte. Die leicht nachspielbaren Strukturen und kaum minder der gleichaltrige, bewunderte Rockstar gaben für viele Fans den Anstoß und Anlaß, selbst zum Instrument zu greifen. Insbesondere die Gitarre wurde zum populärsten Instrument. Dadurch entstand ein riesiger Fundus an Talenten und freigesetzter Kreativität, der einer differenzierten musikalischen Entwicklung zugute kam. Zu Verbreitungs- und Produktionsbedingungen Es wurde auf die Tatsache verwiesen, daß die Medien die Polyfunktionalität von Rockmusik begünstigen, indem sie sie jederzeit und ortsunabhängig verfügbar machen. Ob und in welcher Form sich allerdings aus den besonderen Verbreitungs- und Produktionsbedin262
gungen auch Einwirkungen auf die musikalische Struktur selbst ergeben, muß noch geklärt werden. Man kann jedoch davon ausgehen, daß sie nicht für alle Arten von Rockmusik gleich bedeutsam sind. Der vom Profitinteresse der Schallplattenkonzerne diktierte Erfolgszwang betrifft fast jede Gruppe, die Schallplatten produziert. Er trug schon oft zur Veränderung von musikalischen Konzepten bei, so beispielsweise im Fall der englischen Gruppe „Genesis", die ihre komplizierte Musik in den achtziger Jahren populärer, also einfacher gestaltete. Natürlich trägt auch der Wunsch der Musiker nach finanziell lohnenden Hits zu solchen Tendenzen bei. Es gab aber auch immer Bestrebungen, sich den Bevormundungen der Plattenkonzerne durch unabhängige Labels (Schallplattenfirmen) zu entziehen, obwohl sie in den sechziger bis Mitte der siebziger Jahre am meist fehlenden Vertriebsnetz scheiterten. Erst, als sie daraufhin Punkmusik mit starker Resonanz produzierten, erhielten sie weitreichende Bedeutung. Sie gaben musikalisch experimentierenden oder politisch engagierten Gruppen die nötigen Freiräume, auch wenn deren Publikum nur Minderheiten betraf. Aber auch große Konzerne erlauben teilweise gewisse Spielräume, indem sie „Verlustgeschäfte" mit den Gewinnen der kommerziell erfolgreichen Gruppen finanzieren. (In ähnlicher Weise wird im Bereich der „ernsten" Musik die experimentell neue durch die „klassische" Musik subventioniert). So erklärte der Produzent Rupert Hine, der u. a. die Musik von erfolgreichen Rockstars wie Tina Turner, Chris de Burgh und Phil Collins produziert, daß er es sich mit seiner eigenen Gruppe „Thinkman" leisten kann, ein intellektuell anspruchsvolles Konzept zu verfolgen. In gängiger Popmusik warnt er zudem seine Hörer vor der medialen Manipulation, die es dem einzelnen immer schwerer mache, zwischen eigenen und oktroyierten Gefühlen oder Ideen zu unterscheiden. Aber nicht nur gezielte Orientierungen auf äußeren Erfolg, sondern auch interne Produktionsbedingungen, etwa die Entwicklung der Musikelektronik und der technischen Möglichkeiten des Studios, wirken sich auf die Musik aus. Der heute massenhaft produzierte und populäre „Synthi-Pop" ist z. B. ohne das Studio, einen „cleveren" Produzenten und die die Musiker ersetzenden Geräte wie Sequenzer, Sampler und Drums-Computer nicht mehr denkbar. Allerdings muß auch vor einer Überschätzung dieses Einflusses auf die Struktur der Musik schon deshalb gewarnt werden, weil es immer noch viele Gruppen gibt, bei denen Musik außerhalb des Studios entsteht. Bei 263
DDR-Rockgruppen ist dies im übrigen fast die Regel. Solche Titel werden dann im Studio meist nur im Sound „veredelt", den Hörgewohnheiten angepaßt; alle anderen musikalischen Elemente bleiben davon unberührt. Seit den Klangexperimenten der „Beatles", vor allem auf der LP „Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" (1967), erfuhr der stets wichtige Sound eine entscheidende Aufwertung. Es entwickelten sich diesbezügliche Standards, die auch „nur" live auftretende Gruppen nicht ignorieren konnten, es sei denn, daß sie sich, wie beim Punk, ihnen bewußt entgegenstellten. Die Suche nach immer raffinierteren Sounds, einschließlich der Ausnutzung neuer elektronischer Klänge, betraf aber nicht nur die künstlerisch ambitionierten Gruppen, sondern auch Tanzmusik, wie sie z. B. das „schwarze" Label Tamla Motown mit den „Surpremes", „Jackson Five" oder „Temptation" in Detroit in den sechziger Jahren produzierte. Damit begann die Entwicklung der Diskomusik, die zum größten Teil im Studio synthetisch produziert wird und nur noch als Tonkonserve existieren bzw. im Halbplaybackverfahren (der Sänger singt live zur eingespielten Aufnahme) angeboten werden kann. In dieser Tanzmusik wurde der Rhythmusgruppe (Schlagzeug, Baß, Füllstimmen verschiedener Instrumente) außerordentliche Aufmerksamkeit geschenkt. Sie betraf die Vielschichtigkeit der Rhythmik und den immer voluminöser werdenden Klang der großen und kleinen Schlagzeugtrommel, die das metrische Grundgerüst markieren. Ende der siebziger Jahre forcierten Schlagzeugcomputer diese Tendenz zu immer ausgeklügelteren und kraftvolleren Sounds: Man vergleiche nur den Klang der großen und kleinen Trommel in einem älteren Beattitel mit irgendeinem späteren Diskohit! Letztlich ergab sich eine Intensivierung rhythmischer Reize, die offenkundig mit einer generellen Erhöhung der akustischen Reizschwelle zusammenhängt. Dennoch blieb in der Rockmusik, die diese Entwicklung mitvollzog, die Synthese von sinnlich-motorischen und rationalen Elementen weitgehend erhalten. Ein textlich anspruchsvollerer Titel von Chris de Burgh oder Herbert Grönemeyer kann ebenso in der Diskothek als Tanzmusik wie im Rockkonzert als „Kunstwerk" funktionieren. Individuelle Ausdrucksmöglichkeiten Auch in der Rockmusik verschmelzen individuelle und standardisierte Gestaltungsweisen zu einer komplizierten Einheit. Natürlich kann und muß auch hier der Musiker persönliche Leistung ein264
bringen, die sich auf Text, Melodie, Harmoniefolge usw. bezieht. Die Standards beziehen sich demgegenüber vorwiegend auf Sound-, Harmonie-, Arrangier- und Rhythmusmodelle, die sich der Musiker aneignet, die er entweder direkt oder variiert übernimmt. Die Proportionen zwischen individuellen und allgemeinen Momenten sind je nach Stilrichtung sehr verschieden. Im Blues wird beispielsweise sehr stark an einem vertrauten Vorrat von Spielfiguren, Formen und Rhythmen festgehalten, während im Avantgarde-Rock divergenteste musikalische Einflüsse zu einem möglichst originellen Produkt verarbeitet werden. Jeder Musiker ist durch musikalische Vorbilder geprägt, die regional sehr unterschiedlich sein können, die er kopiert, deren Spielund Interpretationsweisen er sich aneignet, die er je nach seinen kreativen Potenzen weiterentwickelt. Das ist in der Sphäre der „ernsten" Musik und in aller Kunst kaum prinzipiell anders. Aber in dieser Sphäre wird ein Titel nicht nur durch individuelle, sondern auch durch eine besondere kollektive Entstehungsweise (Headarrangement) geprägt, die für die meisten Rockgruppen charakteristisch ist. Eine musikalische Vorgabe (ein melodischer, harmonischer oder rhythmischer Einfall) wird von allen Musikern aufgegriffen und im gemeinsamen Spiel durch Improvisation zu einem Titel ausgebaut. Auch für die kollektive Entstehung von Texten gibt es Beispiele, obwohl in diesem Bereich das individuelle, nicht selten sogar auch biographisch geprägte Moment überwiegt. Kevin Koyne verarbeitet seine Erfahrungen als Sozialarbeiter, und bei Chris de Burgh findet man die Romantik der alten Balladen seiner irischen Heimat wieder. John Lennon schrieb immer wieder Lieder über sein einschneidendstes Kindheitserlebnis, den Verlust der Mutter. Doch nur selten bringen Rockmusiker ihre Persönlichkeit in Liedern so konsequent ein. Sie berichten eher von ihrem Standpunkt aus über verallgemeinerbare Erfahrungen, um Identifikationsmöglichkeiten zu bieten, denn eine zu persönliche Sicht birgt auch die Gefahr, nur von denen verstanden zu werden, die gleiche Erfahrungen haben. Deshalb bevorzugen viele Rocktexte eine Mischung aus allgemeinen Aussagen und subjektiven Reflexionen. Dabei erlauben besonders die sogenannten Allgemeinplätze (meist im Refrain als Schlag- und Reizwörter oder als eine Art Losung plaziert) ein spontanes Erkennen grundlegender Inhalte, denen der Rezipient dann emotional leichter zu folgen vermag. Der Musiker ist sich der ästhetischen Eigenart und der Polyfunktionalität seiner Musik durchaus
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bewußt. Entsprechend den Aneignungsmotiven, den ihn interessierenden Zugangs- und Umgangsweisen wird er seine Musik anlegen und ausgestalten. Drei Beispiele aus dem Bereich der Rock- und Popmusik sollen diesen Zusammenhang konkret verdeutlichen und Ansätze zu einer ästhetischen Wertung der dabei entstehenden Gestaltformen und Kunstansprüche demonstrieren. Bezogen auf konkrete Wirkungsmöglichkeiten lassen sich drei verschiedene Aneignungskonzepte von Rockmusik erkennen. Drei Funktionskonzepte von Rockmusik Beispiel 1: Gruppe „Silly" Die Rockgruppe „Silly" setzt die für Rockmusik wichtige, im Blues wurzelnde Tradition fort, in den Liedern auch eigene Haltungen, Sichtweisen, Befindlichkeiten zum Ausdruck zu bringen. In diesen „Bekenntnisliedern" wird reale, selbst erlebte Wirklichkeit angeeignet und künstlerisch verarbeitet. Auch wenn die Texte von einem professionellen Autor wie Jürgen Karma stammen, decken sich seine Themenwahl und -behandlung mit den Erfahrungen und dem Anliegen der Gruppe - nicht zuletzt deshalb, weil sie der gleichen Altersgruppe der 30- bis 40jährigen angehören. Die subtile Vertonung der Texte ist ein Beweis dafür, wie glücklich hier intellektuelle musikalische und sprachliche Gestaltungskonzepte verschmelzen. Zugleich offenbart sich aber darin auch das generelle Problem, daß Intellektualität den Hörerkreis ebenso einschränkt wie altersspezifische Aussagen, die jüngere Zuhörer oft nicht mitvollziehen können. „Silly" versucht deshalb vor einem Publikum zu spielen, wie man es zum Beispiel in Studentenklubs findet. Positive öffentliche Kritik rät der Gruppe, diese Richtung weiter zu verfolgen, auch wenn dadurch die Popularität begrenzt bleiben sollte. Ihre Musik zielt nicht vordergründig auf Tanzbarkeit und Geselligkeit, sondern auf ein Kommentieren und Ausleuchten der Texte, ohne rhythmische Intensität zu vernachlässigen. Aber die Gruppe verzichtet bei vielen Liedern auf gefällige Melodien, die im Ohr bleiben und für einen erfolgreichen „Hit" nötig sind. Ob es sich dabei um Unvermögen oder bewußte Absicht handelt, kann kaum entschieden werden, obwohl das letztere angenommen werden darf, berücksichtigt man die ausgeklügelte Machart der Lieder und ihrer Sounds. (Allerdings schließen sich „populäre musikalische Gestaltung" und anspruchsvolle Inhalte eben
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nicht aus, wie einige Songs von John Lennon, „Pink Floyd", „Genesis" u. v. a. zeigen.) „Silly" wendet sich vor allem an Rezipienten, die bereit sind, ein Lied aufmerksam zu verfolgen und gründlich zu verarbeiten. Wie wichtig den Musikern die Texte sind, geht allein daraus hervor, daß sie gemeinsam mit Karma Amiga überzeugen konnten, seit der LP „Mont Klamott" (1983), die Texte auf der Plattenhülle abzudrucken - was damals außer ihnen nur noch den „Puhdys" gelang. Ihr Konzept besteht offenbar darin, durch eine gewisse musikalische Sprödigkeit sowie ein raffiniert arrangiertes Klangbild das bewußte Zuhören zu provozieren. Viele ihrer Titel versuchen einen Balanceakt zwischen vertrauten und originellen, zum Teil auch konstruiert wirkenden musikalischen Mustern. Der Titel „So 'ne kleine Frau" von der LP „Liebeswalzer" (1985) ist dafür ein Beispiel. Erzählt wird von einer alleinstehenden Frau mit drei Kindern, die vergeblich nach einem Partner, nach Liebe und Glück sucht. Tamara Danz, die Sängerin der Gruppe, hat zu diesem Lied eine besonders enge Beziehung, und sie läßt spüren, wie gut sie sich in die Lage dieser Mutter versetzen kann. Dennoch vermeidet sie jede interpretatorische Sentimentalität zugunsten eines eher mit Anteilnahme berichtenden Vortragsstils. Dem entspricht die Vertonung, die dem „traurigen Text" durch eine immer kraftvollere rhythmische Begleitung eine neue zusätzliche Interpretationsebene hinzufügt. Die Musik symbolisiert den Lebenswillen der alleinstehenden Mutter, ohne die Schwere und Mühsal ihres Lebens zu verdecken. Welche Abweichungen von bekannten Mustern begegnen hier? Am prägnantesten kommen sie im rhythmisch dominierenden Schlagzeug zum Tragen. Statt einer sehr häufig verwendeten einfachen Schlagzeugfigur erklingt ein über mehrere Takte in sich gegliedertes Muster, das scheinbar unregelmäßig ist. (Die Fähigkeit, komplizierte Rhythmen zu erfinden, erwarben sich die Musiker durch das Nachspielen von Funkymusik zu Beginn ihrer Laufbahn.) Auch der Baß wird hier eher als Melodieinstrument denn als Fundament für die Rhythmik und Harmonik eingesetzt. Dem Lied fehlt der sonst übliche Refrain mit einer entsprechenden Schlagzeile sowie einer leicht faßbaren Melodik. Damit entfallen ganz wesentliche Bestimmungen, die einen „Hit" ausmachen: eine einprägsame sprachliche Formel, die mit einer eingängigen Melodik verbunden ist, sowie eine durchgehend repetierte, zum Tanzen animierende Rhythmik. Doch die „Verunsicherung" des Hörers hält sich in Grenzen: der Sound entspricht den Erwartungen. Das vordergründige Schlagzeug 267
sorgt für eine intensive Rhythmik; die verzerrte Gitarre und der Baß geben den gewohnten Rockpower; und die Klänge des Synthesizers liegen im üblichen Klangspektrum. Auch die Gliederung des Titels ist überschaubar, der instrumentale Zwischenteil leidet nicht an Überlänge, sondern erfüllt eine wichtige dramaturgische Funktion. Baß und verzerrte Gitarre spielen gemeinsam eine bogenförmige Melodielinie, die mehrmals wiederholt und in der 3. Strophe als Begleitung des Gesangs fortgeführt wird. Die Bogenform der Melodie, also das Auf- und Abbauen einer Spannung, ein „Vor und Zurück" der Bewegung und die ständigen Wiederholungen bilden entsprechende musikalische Ausdruckselemente für die vergebliche Suche dieser Frau. Beispiel 2: Gruppe „Pankow" Ein anderes Konzept von Rockmusik vertritt die Gruppe „Pankow". Die Musiker sind ebenso wie die der Gruppe „Silly" älter als ihr Publikum, sie beziehen aber Rockmusik auf Jugendliche, deren Bedürfnisse, Probleme und soziale Erfahrungen. Die Texte, die sie verwenden, bedürfen keiner tiefgründigen Interpretation, benennen die Dinge beim Namen und treffen sehr gut jugendliche Haltungen. Um ihre Adressaten zu erreichen, mußten sie sich ihren Hörgewohriheiten und der Mode anpassen. Das bedeutete unter anderem, den liedhaften Rock ihrer ehemaligen Formation „4 PS" aufzugeben und sich der Anfang der achtziger Jahre dominierenden Stilistik des „New Wave" zuzuwenden. „New Wave", als die geglättete Form der Punkmusik, eignete sich am besten für die direkte umgangssprachliche Ausdrucksweise, die „Pankow" verwendet. Der Texter, ebenfalls ein hochgebildeter Professioneller, liefert Vorlagen, die oft mit Augenzwinkern interpretiert werden. Ihr Anliegen zielt auf Ausbildung von Kritikfähigkeit, und sie ermuntern ihre Hörer, sich gegen Mißstände zu wehren, was besonders in dem Rockspektakel „Paule Panke - ein Tag im Leben eines Lehrlings" (1982) deutlich wird. Sie nehmen die Haltung der unkritischen Anpassung aufs Korn und fordern dazu auf, das Bestmögliche aus dem Leben zu machen. Die Musik der Gruppe „Pankow" ist nicht auf konzentriertes Zuhören angewiesen, sondern sie rechnet damit, daß ihre kraftvolle Motorik zum Tanzen, Mitklatschen und Mitsingen animiert. Um so deutlicher müssen die Aussagen der Lieder akzentuiert werden. Dies geschieht durch starke Reizwörter und deren häufige Wiederholung in Refrains. Die Aneignung des Textgehalts bedarf zudem einer sinnlich körperbetonten Rezeption, die nur im Live-Spiel funktioniert
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und nur in diesem Zusammenhang die Popularität von „Pankow" erklärt. Das letzte Lied des erwähnten Spektakels, in dem die Moral von „Paule Panke" zusammengefaßt wird, macht das deutlich. Es besteht aus drei großen Teilen: der Einleitung, den Strophen und dem nochmal in sich geteilten Refrain. Inhaltlich sind Einleitung und Strophen gleich, da sie immer den Wunsch zum Ausdruck bringen, sich das Leben doch leicht zu machen: „ . . . nur nicht heiße Kohlen anfassen . . . so wie's der dicke Spießer macht". Ein Synthesizer übernimmt allein die Begleitung in der Einleitung und gibt damit dem Ganzen einen verträumten Akzent. In den Strophen spielt die Band dann einen lockeren, tänzelnden Reggae-Rhythmus, wodurch der musikalische Gestus leicht und verspielt bleibt. Die Einsicht, daß diese Haltung keinen Ausweg bietet, wird im Refrain ausgedrückt, der im ersten Teil einen härteren rockigen Charakter erhält, denn „jammern machfs schlimmer, als es in Wirklichkeit ist". Wenn der Sänger alles auf die rüde umgangssprachliche Wendung „komm aus'm Arsch!" bringt, steigert sich das Spiel, die Intensität und das Tempo, zu einem Höhepunkt, bei dem Polyfunktionalität erlebbar wird: Man kann sich der Rhythmik nicht mehr entziehen, und zugleich gerät die Aussage in der verknappten Formel außerordentlich eindringlich. In der letzten Strophe macht die Gruppe deutlich, daß sie sich in einer ähnlichen Situation wie Paule Panke befindet und ihre Wirkung auf das Publikum nicht überschätzt: „Wenn ich abends auf der Bühne hier rumsteh euch hier alle so rumhängen seh möcht ich die ganze Rockerei hinschmeißen lieber solide meine Brötchen aufbeißen nicht zu eurer Langeweile beitragen mich nicht mit scharfen Texten vorwagen mein Leben als Spießer beschließen mich allmählich auf die Rente einschießen." Der sich anschließende Refrain ist nicht mehr zweigeteilt, sondern hat die zupackende Begleitung des zweiten Teils. Die treibende Rhythmik wird noch einmal unterbrochen, wenn alle Musiker von „Pankow" ihre Zuhörer auffordern: „lauf endlich gerade / das wäre doch schade / du kriegst 'nen Buckel / und hängst am Nuckel / dein Leben lang", um dann wieder den alten Gestus aufzunehmen. Eine ausgedehnte Coda, bei der sich Gesang und Soli der verzerrten Gitarre ablösen, führen zu dem typisch bombastischen Schluß einer Rockband, die sich zur ekstatischen Wirkung von Rockmusik bekennt.
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Beispiel 3: „Modern Talking" Das Münchener Duo „Modern Talking" hat in den wenigen Jahren seines Bestehens mit seiner Version von Popmusik die Herzen und Seelen von Disko-Fans in der ganzen Welt erreicht. Seine kommerziell äußerst erfolgreiche Musik als Synthese von Rockmusik und Schlager bediente in hervorragender Weise das Bedürfnis nach Tanz und Geselligkeit. Hier ist die Botschaft des Schlagers, die von Liebe und deren Begleiterscheinungen wie Trennung, Sehnsucht, Vereinigung usw. in einfachen, meist klischeehaften Bildern handelt, in ein raffiniertes Soundgewand gekleidet. Aber nicht irgendeine Botschaft, sondern das Zucken in den Beinen und das Weitersummen, wenn der Titel vorbei ist, wird zur Hauptsache. Schon die für einen internationalen Markt produzierten Lieder in englischer Sprache setzen der Verständlichkeit bei uns hohe Barrieren. Dennoch gibt es genügend Reizwörter und Sätze für die Unterscheidung, ob eine glückliche oder unglückliche Liebe besungen wird. Tanzmusik, wie sie „Modern Talking" produziert, sorgt sich nicht unbedingt um Identifikation mit dem besungenen „Schicksal", obwohl auch dies erklärte Absicht sein kann. Vielmehr geben hier die Textzeilen eine Merkhilfe und helfen dem Hörer und Tänzer aus der Verlegenheit, nur „la, la" singen zu müssen. Popmusik dieser Art dient dem „sofortigen Gebrauch", denn sie beansprucht keine lange Lebensdauer. Internationale Musikkonzerne überschwemmen den Markt ständig mit neuen Titeln. Angesichts dieser Konkurrenz ist der anhaltende Erfolg von „Modern Talking" mit sehr ähnlich klingenden Titeln geradezu erstaunlich. Ihnen gelingt es, vertraut zu klingen und doch neu zu sein. Sie knüpfen bewußt an erfolgreiche Modelle und damit an entsprechende Hörgewohnheiten an und bringen gerade soviel Neues ein, daß der Hörer aufmerksam bleibt. An ihrem ersten Hit „You're my heart, you're my soul" arbeiteten sie rund ein Jahr, bis die erfolgversprechendste Fassung gefunden wurde. Dahinter stand der versierte Komponist, Arrangeur, Produzent und Texter Dieter Bohlen, der schon mehr als 1000 Lieder, auch für Interpreten wie z. B. Roland Kaiser und Katja Ebstein, geschrieben hat und auch nach der Auflösung von „Modern Talking" das gleiche Grundkonzept modifiziert weiterverfolgt. Wie die Titel zwischen Vertrautem und Neuem balancieren, soll an einem Vergleich zweier Hits, „You're my heart, you're my soul" und „If you win, if you want", gezeigt werden. Den Titeln liegt ein sehr
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ähnliches Rhythmusmodell zugrunde, bei dem alle vier Viertel gleich stark von der Fußtrommel betont werden. Die Zeit dazwischen füllen rhythmisch-melodische Figuren (Gitarre, Synthesizer). Obwohl die Figuren bei beiden Titeln unterschiedlich sind, scheint auf den ersten Blick das Resultat gleich zu sein. Der Baß unterteilt die Viertel noch einmal in Achtelbewegungen. Dieses Rhythmusmodell ist in vielen Diskohits zu finden. Ebenso weisen beide Titel fast das gleiche Tempo auf, das zusammen mit dem rhythmischen Muster optimal tanzanregend wirkt. Doch die zunächst einfach wirkende Rhythmik ist bei genauerer Analyse äußerst komplex, denn die ausfüllenden Stimmen verschachteln sich ineinander, ergänzen sich und bilden so viele Ebenen, daß sie ohne Partitur und nur durch Abhören einer Aufnahme nur teilweise identifiziert werden können. Auch ein dramaturgisch geschickter .Einsatz der Stereophonie, ein ständiger Wechsel zwischen den linken und rechten Kanälen, erhöht den Eindruck der Komplexität. Beide Titel zeigen weiterhin große Übereinstimmung im Klangbild, bei dem die rhythmische und melodische Ebene (Gesang) in bezug auf Lautstärke gleichberechtigt behandelt werden. Durch Anhebung der Baßfrequenzen erhält der Rhythmus die nötige „rockige Kraft", während durch Hall- und Echogeräte der Gesang voluminöse Raumwirkung erreicht. Auch die verwendeten Instrumentalklänge variieren nur sehr wenig (z. B. die Kombination von Klavier- und Streicherklang) in der Instrumentation, die aus Drumcomputer, Synthesizer, Gitarre und Klavier besteht, in den Harmoniefolgen der Refrains, die sich aber gleichen wie die Tonart und das Tongeschlecht (hier das relativ selten verwendete Moll), im formalen Aufbau, bei dem auch die Länge von Vor- bzw. Zwischenspiel, Strophe und Refrain übereinstimmt und jedesmal der Refrain im Falsettgesang leicht variiert wiederholt wird. Große Ähnlichkeiten weisen im übrigen die Harmonik der Strophen (gleiche Akkorde aber unterschiedlich angeordnet), der Aufbau des instrumentalen Vorspiels und die klanglichen Effekte auf. Diese Effekte spielen eine ganz besondere Rolle, denn dafür werden neue Klänge erfunden und ästhetische Entdeckungen angestrebt. Sie bilden gewissermaßen die Würze, lösen Überraschungen aus und tragen dazu bei, die Stimmung zu intensivieren. „Modern Talking" bevorzugt Gleit- und Schwelltöne als beliebte musikalische Mittel für zärtliche, sehnsuchtsvolle Musik. Man denke nur an das Spiel des Zigeunergeigers oder der Hawaiigitarre. Hier werden Assoziationen und Gefühle in zwei Richtungen itimu271
liert: Einerseits unterstützen sie die im Text angesprochene Sehnsucht nach der Geliebten, und andererseits werben sie einschmeichelnd für den Titel selbst. Auf Grund dieser Effekte und solch geläufiger Schlüsselwörter wie „soul", „heart", „love", „dreams", „take my hands", „follow me" usw. kann sich auch der „Normalverbraucher" die Grundaussage der Titel zusammenreimen. Er weiß, es geht um Liebe, Sehnsucht und Werbung, und diese Thematik wird in beiden Liedern abgehandelt. Eine entsprechende Dramaturgie des Refrains unterstreicht den Inhalt nochmals: Seine Wiederholung im Falsettgesang sowie zusätzliche „Oh's" und „Yeah's" suggerieren eine gesteigerte emotionale Beteiligung der Sänger. Mit dem Falsett verwendet „Modern Talking" die Gesangsweise der „Bee Gees", einer in der Diskoszene ebenfalls sehr erfolgreichen Gruppe. Die musikalisch stärksten Veränderungen gibt es in melodischer Hinsicht. Hier liegt auch die besondere Stärke des Komponisten Dieter Bohlen und sicher auch ein Grund der Erfolge. Doch Melodien allein machen noch keinen Diskohit, sind doch auch derartige Lieder komplexe Gebilde, die nur im Zusammenwirken von Melodik, Rhythmik, Harmonik und Sound funktionieren und auch entsprechend rezipiert werden. Die Melodik ist rhythmisch gegen den Beat gesetzt, was die rhythmische Spannung erhöht, und durch die Führung der Melodie entstehen außerdem interessante Reibungen zwischen ihr und den akkordischen Begleitharmonien. Das Konzept von „Modern Talking", eingängige Melodien mit einfach klingenden und bewährten, in Wirklichkeit aber sehr komplexen Rhythmusmodellen zu kombinieren und in einen modernen Sound zu betten, mutet zwar simpel an, ist in Wirklichkeit aber sehr schwer zu realisieren. Es erfordert immer einen Balanceakt zwischen Simplizität und (meist versteckter) Raffinesse. Je enger sich der Nachfolgetitel an den Vorgänger anlehnt, desto mehr unterliegt er einem (hier allerdings kalkulierten) Verschleiß. Die Struktur der Titel kommt der Rezeptionssituation in der Diskothek entgegen. In dieser Veranstaltungsform spielen die Kommunikation und die Geselligkeit eine große Rolle; die Musik ist zwar notwendiger Bestandteil der Atmosphäre, steht aber nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Häufig erfüllt sie eine Backgroundfunktion; man kann sich dabei buchstäblich unterhalten. Der äußerst ökonomische Einsatz der musikalischen Mittel - nach dem Vorspiel kennt man schon die Instrumentation und die Rhythmik, Strophe und Refrain werden in der Wiederholung nur mit Effekten angereichert - und der regelmäßige 272
Wechsel zwischen Strophe, Refrain und gleichbleibendem Zwischenspiel läßt musikalisch kaum Überraschungen erwarten. Die Diskussion darüber, ob derart umfassende Standardisierung von Musik positiv oder- negativ bewertet werden muß, könnte leicht mit dem Argument beendet werden, die Musik erfüllt genau den Zweck, für den sie produziert wurde, also ist sie gut. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Natürlich ist diese Musik gut, wenn sie funktioniert; sie steht aber in einem Kontext von gleichartiger Musik, die vorwiegend in der Diskothek gehört wird. Diese Uniformität des Angebots in den meisten Diskotheken kann bei Jugendlichen, die ausschließlich dorthin gehen, durchaus zur Vereinseitigung und Verarmung im Rezeptionsverhalten und zur unbegründeten Verachtung anderer Musik führen. Ursprünglich traten unsere Diskotheken mit dem Anspruch an, vielfältige musikalische Bedürfnisse zu entwickeln, Information (Bildung) und Geselligkeit zu verbinden. Das Konzept ging nicht auf, mangelnde Fähigkeiten der Diskomoderatoren und fehlende Bereitschaft des Publikums waren schuld daran. Heute spricht man von der „Dienstleistung Diskothek", die nur vorhandene musikalische Bedürfnisse befriedigen soll. Hier müßten Untersuchungen der Ursachen angesetzt werden, wie sich z. B. Arbeitsbelastung, Reizüberflutung, Angebot der Medien u. ä. auf das Rezeptionsverhalten auswirken. Das wachsende Bedürfnis nach Geselligkeit und einer Art der Unterhaltung, die sogar Probleme des Alltags ausklammert, wäre Grund genug dafür.
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KAPITEL V I
Dispositionen und Motive Kunstaneignung und Lebensaneignung Zur Problemstellung
In kunstwissenschaftlichen und kunstpolitischen Publikationen, die sich mit der Funktion und der Wirkung von Kunst beschäftigen, finden sich vielfältige Aussagen über den Einfluß, den die Kunst auf die Rezipienten ausüben soll. Es heißt dort, Kunst wirke auf das klassenbewußte Denken, Fühlen und Verhalten, auf die sozialistische Bewußtseinsentwicklung, sie steigere die geistige Leistungsfähigkeit, sie mache schöpferischer, genuß- und erlebnisfähiger, sie verbreite moralische Werte, ethische Normen, ideologische Anschauungen und weltanschauliche Überzeugungen, sie erziehe Gefühle, vermittele Erkenntnisse und Einsichten, sie entspanne und läutere, sie entwickele die Sinnlichkeit und sie beeinflusse Einstellungen zur Wirklichkeit. Für die allgemeine Anerkennung der persönlichkeitsbildenden und verhaltensorganisierenden Effekte der Kunst sprechen ihre häufig hohe gesellschaftliche und individuelle Wertschätzung, die sich nicht nur im Starkult um einzelne Künstler oder im Preisniveau der Kunstwerke äußert, ebenso wie das Bemühen, Entwicklungstendenzen innerhalb der Kunst zu fördern, die bestimmten weltanschaulichpolitischen Konzepten entsprechen, wie andererseits Versuche, die Verbreitung einzelner Kunstwerke oder die Entwicklung bestimmter Kunstrichtungen durch unterschiedliche Maßnahmen - Verbote, Vernichtung, Gestaltungsvorschriften u. a. - zu behindern. Diesen Ansichten, die die persönlichkeitsbildende Wirkung der Kunst nicht weiter hinterfragen, sondern sie einfach als existent annehmen, muß entgegengehalten werden, daß der schlüssige, empirisch belegte Nachweis dafür, daß Kunstwerke die Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig in einer bestimmten, vorhersagbaren Richtung beeinflussen, bisher wohl noch nicht erbracht werden konnte. Im Unterschied dazu zeigen kunstgeschichtliche Untersuchungen ebenso wie Ergebnisse der Medienforschung, daß Kunstwerke zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Personen mit völlig unterschied18*
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liehen Effekten rezipiert werden. Sie besitzen offensichtlich einen sehr weiten Interpretationsspielraum, ihre Wirkung ist vielfach vermittelt und oft nur langfristig feststellbar.
Dispositionelle Voraussetzungen individuellen Aneignungsverhaltens Der Einfluß von Kunst auf die Entwicklung lebenspraktischen Aneignungsverhaltens kann sich in dem Maße stabilisieren, wie sich der Umgang mit Kunst auf die Herausbildung und Modifikation der dispositionellen Voraussetzungen des Verhaltens auswirkt. Um diesen Zusammenhang erörtern zu können, muß zunächst geklärt werden, welche psychischen Eigenschaften als Dispositionen bezeichnet werden können. Menschliche Eigenschaften oder Dispositionen sind keineswegs so selbstverständliche Tatsachen, wie oft angenommen wird. Methodologische Analysen, wie sie insbesondere von neopositivistisch und kritisch-rationalistisch orientierten Psychologen und Philosophen geleistet wurden, haben seit den sechziger Jahren den Dispositionsbegriff außerordentlich problematisiert.1 Auch marxistische Wissenschaftler haben sich gegen den unkritischen, leichtfertigen und oberflächlichen Gebrauch von Dispositionsprädikaten im wissenschaftlichen Sprachgebrauch gewandt.2 Ausgehend von der dialektischmaterialistischen Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung sowie dem Prinzip der „mittelbaren Erkennbarkeit realistisch aufgefaßter latenter Merkmale aus empirisch erfaßbaren Verhaltenseigenschaften" 3 läßt sich jedoch die Haltbarkeit des Dispositionsbegriffs zur Erklärung menschlichen Verhaltens rechtfertigen. Dispositionen sind hochgradig komplexe psychische Sachverhalte, in denen sich zeitlich und gegenüber Umwelteinflüssen relativ stabile Eigenschaften des Menschen miteinander verbinden. Sie lassen sich nur im Ergebnis eines komplizierten Rekonstruktionsprozesses theoretisch beschreiben, da sie dem äußeren Beobachter nicht unmittelbar zugänglich sind. Vom beobachtbaren Verhalten wird auf vorhandene Dispositionen geschlossen. Im Bemühen um die Strukturierung der vielfältigen psychischen Dispositionen werden verschiedene Wege beschritten. Zu den bekanntesten gehören die klassische Dreiteilung psychischer Funktionen in Kognition, Emotion und Motivation, die ihren Ursprung in Schichten276
konzeptionen der antiken griechischen Philosophie haben, und die empirisch abgeleiteten faktorenanalytischen Persönlichkeitsmodelle. Gemeinsame Mängel dieser Vorgehensweisen sind, daß sie nur geringen Bezug zur Tätigkeit des Individuums besitzen, die Verflechtung des Individuums mit der konkreten Anforderungssituation kaum berücksichtigen und vorrangig instrumentelle Operationsdispositionen erfassen. Zur Überwindung dieser Mängel entwickelt Hans-Dieter Schmidt einen Vorschlag, bei dem er die Grundkategorien Eigenaktivität, Bewußtheit und Soziabilität als implizite Klassifizierungsaspekte verwendet.4 Er unterscheidet dabei grundsätzlich zwischen Operationsund Repräsentationsdispositionen. Zu den Operationsdispositionen, die die Art und Weise, den formalen Verlauf psychischer Prozesse beschreiben sollen, zählt Schmidt die Dispositionen der Handlungsdynamik (Aktivation, Affektivität, Handlungsorganisation), Dispositionen der kognitiven Informationsverarbeitung (Wahrnehmungsund Orientierungsfähigkeiten, Intelligenz, Gedächtnis und Lernfähigkeit) und Dispositionen der sozialen Aktivität (Kommunikations- und Kooperationsfähigkeiten). Die Repräsentationsdispositionen erfassen stärker inhaltliche Momente, sie beziehen sich auf die Lebenssituation insgesamt. Sie stellen sich dar als Erkenntnisse, Einsichten, Einstellungen, Werte, Ideale, Normen oder Überzeugungen bezüglich der sachlichen und sozialen Umwelt und der eigenen Person in dieser Umwelt. Im einzelnen werden dazu Umweltkonzepte (z. B. moralische Bezugssysteme, das Gesellschafts-, Natur- und Sachweltverständnis), das Selbstbild, die individuelle Zeitperspektive und das subjektive Lebensgefühl gerechnet. Wenn wir hier von Aneignungsdispositionen sprechen, so soll damit nicht zusätzlich eine besondere Klasse von Dispositionen eingeführt werden. Der Begriff soll vielmehr die bestimmte sozial-kulturelle Qualität von Dispositionen bezeichnen, wodurch diese zu subjektiven psychischen Voraussetzungen lebenspraktischen Aneignungsverhaltens in konkreter gesellschafts- und individualgeschichtlicher Bedingtheit und Bestimmtheit werden. So wie es Aneignungsverhalten ohne dispositionelle Voraussetzungen nicht gibt, ist es nur logisch, die Entwicklung von Dispositionen danach zu beurteilen, wieweit sie das Individuum befähigen, objektive Handlungsanforderungen und -möglichkeiten sich tätig anzueignen und dadurch handlungsfähig zu werden. Wenn über mögliche Einflüsse von Kunst auf die dispositionellen
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Voraussetzungen realen Aneignungsverhaltens nachgedacht werden soll (was einschließt, nach Möglichkeiten der Veränderung vorhandener individueller Dispositionen zu fragen), dann wird damit das grundsätzliche Problem der Konstanz bzw. Variabilität von Dispositionen berührt. Mit dem Begriff „Disposition" werden relativ stabile, d. h. relativ zeit- und situationsunabhängige Persönlichkeitsmerkmale erfaßt. Diese relative Stabilität ist eine Voraussetzung, um überhaupt verschiedenartige Persönlichkeiten unterscheiden zu können. Sie wird im Sinne einer relativen Autonomie gegenüber den ständig variierenden Umgebungsbedingungen als ein wichtiges Kriterium für den Stand der Persönlichkeitsentwicklung eines Individuums benutzt und ist eine entscheidende Grundlage für eine zuverlässige Verhaltensvorhersage, die das Funktionieren der sozialen Kooperation und Interaktion gewährleistet. Die Stabilität der Dispositionen, ihre Resistenz gegenüber äußeren Einflüssen, nimmt im Verlauf der ontogenetischen Entwicklung gewöhnlich zu, bis hin zur manchmal zu beobachtenden Unfähigkeit zu notwendigen Anpassungsleistungen im höheren Alter. Nach Hans Thomae muß eine Variabilität der Dispositionen als Reaktion auf eine sinnvolle Verarbeitung von Erfahrungen angenommen werden.5 In den wenigsten Fällen läßt sich aber eine konkrete Dispositionsveränderung eindeutig auf einen einzelnen Umweltfaktor zurückführen. Nachhaltige Veränderungen von Dispositionen im Verlauf des Sozialisationsprozesses beruhen in der Regel darauf, daß ein systematisch gerichteter, längere Zeit andauernder Einfluß von allen Sozialisationsmedien einhellig ausgeübt oder wenigstens unterstützt wird. Hinsichtlich der Veränderbarkeit durch Umwelteinflüsse werden Unterschiede zwischen Operationsdispositionen und Repräsentationsdispositionen in der Richtung angenommen, daß Repräsentationen (Wissen, Vorstellungen, Überzeugungen usw.) stärker auf Umweltveränderungen ansprechen als Operationen. Dies wird damit begründet, daß Repräsentationsdispositionen den individuell erworbenen Gedächtnisbesitz über Umweltereignisse und dessen lernabhängige Veränderungen direkter widerspiegeln. Den psychischen Operationen wird wegen ihrer direkteren Abhängigkeit von neurophysiologischen Strukturen und Funktionen, die stärker biologisch vorprogrammiert sind, ein höherer Grad an Stabilität zugesprochen.6 Die Entwicklung und Veränderung von Dispositionen ist jedoch kein Prozeß, dem das Individuum passiv ausgeliefert ist. Das Verhältnis zwischen Individuum und Umwelt ist durch eine aktive Wechsel-
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Wirkung auf sich ständig entwickelndem Niveau gekennzeichnet. Die gesamte Lebensweise, wie sie sich im Umfang und in der Qualität der Interaktionen mit der Umwelt äußert, ist stets davon abhängig, welche individuellen Dispositionen zum jeweiligen Zeitpunkt bereits vorhanden sind. „Indem das Individuum seinen Lebensprozeß vollzieht, Positionen einnimmt und wechselt, sich Anforderungen aussetzt, Gestaltungen wagt und realisiert, verändern sich . . . viele psychophysische Basisdispositionen der Interaktion. Umgekehrt speist es seine im Lebensvollzug erworbenen Eigenschaften in neue Interaktionen ein, die wiederum Veränderungen des Dispositionsgefüges bewirken."7 Diese von dem Psychologen H.-D. Schmidt als „geregelter Spiralprozeß"8 gekennzeichnete allgemeine Entwicklung der Dispositionen und des Verhaltens gegenüber der gesamten Lebenswirklichkeit gilt ebenso für den Umgang mit Kunst. Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Dispositionen entscheidet mit darüber, ob das Individuum objektiv bestehende Interaktionsmöglichkeiten mit dem Kunstwerk realisiert, wie diese Interaktionen verarbeitet werden, welche Handlungsresultate daraus entstehen und in welcher Weise folglich vorhandene Dispositionen verändert werden. Aneignungsbeziehungen werden in verschiedenen Lebensbereichen entwickelt, im Bildungs- und Erziehungsprozeß, in der Arbeitstätigkeit, in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, im sozialen Mikromilieu, im Bereich der vielfältigen Freizeitaktivitäten, zu denen in der einen oder anderen Weise auch der Umgang mit Kunst gehört. In Abhängigkeit von spezifischen Bedingungen - der Art und Verbindlichkeit von Anforderungen, dem relativen Zeitanteil, dem Eröffnen von Gestaltungsfeldern für das Individuum u. a. m. - wird in den genannten Bereichen die Entwicklung von Aneignungsdispositionen ermöglicht oder auch beeinträchtigt. Kunstwerke als Teil des vom einzelnen anzueignenden vergegenständlichten menschlichen Sozialerbes sind grundsätzlich kommunikativ, d. h. darauf ausgerichtet, den Rezipienten zu beeinflussen, Verhaltensweisen zu provozieren, Emotionen auszulösen oder Denkprozesse anzuregen. Die Aneignung der Kunst unterscheidet sich von der Aneignung anderer Teile des Sozialerbes dadurch, daß das Subjekt in einem viel größeren Maß frei von äußeren Zwängen entscheiden kann, ob es sich überhaupt mit Kunstwerken konfrontiert und falls ja, welcher Art von Kunst, welchen Kunstgattungen und welchen konkreten Kunstwerken es sich zuwendet. Diese relative Entscheidungsfreiheit wird natürlich eingeschränkt durch die in einer Gesellschaft
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vorhandenen und zugänglichen Kunstwerke, sie wird modifiziert durch Praktiken der Kunstverbreitung sowie durch die auf der Grundlage der gesamten Lebensweise entwickelten Möglichkeiten des Umgangs mit Kunst. Die Anforderungen, die von Kunstwerken an den Rezipienten gestellt werden, sind insofern jedoch relativ unverbindlich, als ihre Erfüllung bzw. Nichterfüllung nur geringe gesellschaftliche Sanktionen nach sich zieht. Immerhin kann es für das Sozialprestige zumindest innerhalb einer Gruppe oder Schicht z. B. von Belang sein, ob man einer dominierenden „Mode" folgt oder nicht, ob man in der Lage ist (sich bemüht oder schlimmstenfalls nur vorgibt), gesellschaftlich stabil akzeptierte künstlerische Werte, z. B. die Musik Beethovens, positiv zu rezipieren, ob man über elementare Fertigkeiten des Umgangs mit Kunst verfügt, wie sie z. B. auch Gegenstand einer allgemeinen Schulbildung sind. Welche Dispositionen sich in welcher Weise entwickeln, ist einerseits abhängig vom Charakter der Kunst, die rezipiert wird, von den Anforderungen, die gestellt werden, und andererseits davon, in welchem Maße diese Anforderungen vom Rezipienten angenommen und realisiert werden. Aufgrund der relativen Unverbindlichkeit im Umgang mit der Kunst ist der einzelne jedoch nicht gezwungen, sich mit einer Kunst zu beschäftigen, die ungewohnte Anforderungen stellt, innere Konflikte hervorruft und Anstrengungen verlangt. Ob er dazu bereit ist, möglicherweise nach solchen Herausforderungen sucht, ob sie ihm zum Erlebnis werden und ob er solche Erlebnisse braucht, hängt von vielen Faktoren ab: von der Lebenssituation, von objektiven und subjektiven Handlungsmöglichkeiten, von Motivationslinien und Sinnansprüchen, von der Wachheit der Sinne, der Ansprechbarkeit des Gefühls, der Beweglichkeit des Geistes, von Erfahrungen und Kenntnissen im Umgang mit Kunst, von der Lust an der Setzung und Lösung gestalterischer Probleme. Der Umgang mit Kunst ist seinerseits an dispositionelle Voraussetzungen gebunden, die sich auf der einen Seite nur im Umgang mit Kunst entwickeln können, für deren Entwicklung umgekehrt aber nicht Kunst der primäre Einflußfaktor ist. Wo sich solche dispositionellen Voraussetzungen der Aneignung von Kunst nicht herausgebildet haben, wird die Tendenz vorherrschen, vorrangig mit solcher Kunst umzugehen, die keine allzu hohen Anforderungen stellt, die vorhandene Erwartungen erfüllt, vertraute Empfindungen bestätigt und bestehende Wunschvorstellungen sanktioniert. Neuartige Gestaltungsweisen werden, wie Beispiele aus der Geschichte aller Künste hinlänglich belegen, vom breiten Publikum
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häufig zunächst abgelehnt und erst nach längerer Zeit akzeptiert, bis sie schließlich zur Normalität und zuletzt durch wiederum andere verdrängt werden. Die Wirksamkeit einer Kunst mit geringem Anforderungscharakter auf die Entwicklung von Dispositionen kann nicht sehr hoch eingeschätzt werden. Ganz andere Möglichkeiten ergeben sich, wenn sich der Rezipient auf eine Kunst einläßt, die Anforderungen an ihn stellt und mit gewissen geistigen Anregungen und Anstrengungen verbunden ist. Die besondere, auf die sinnliche Wahrnehmung ausgerichtete Gestaltung des Kunstwerkes und die Abgehobenheit seiner Darbietung führen zu außerhalb der Kunst nicht erreichbaren sinnlichen Erlebnissen. Die klanglichen Strukturen und affektiven Bewegungen eines Musikstückes ebenso wie die Färb- und Formkompositionen eines Gemäldes lassen sinnliche Erfahrungen zu, die in anderen Zusammenhängen kaum gemacht werden können. Sie sensibilisieren die Sinne und verändern so die Wahrnehmung auch im außerkünstlerischen Bereich. Als gestaltwirksames kommunikatives Ereignis mit hoher emotioneller Ausstrahlung verlangt das Kunstwerk vom Rezipienten, es auch emotionell anzueignen. Nimmt er darüber hinaus das Werk als Medium „emotionaler Aneignung der Welt"9 komplementär zu ihrer kognitiven Aneignung in Anspruch, so kann er auch mit Hilfe der Kunst lernen, „in seiner komplizierten JJmwelt sich emotional zurechtzufinden, einzupassen und lebensfördernde emotionale Strategien auszuarbeiten"10. Zugleich wird der Rezipient vom formgewordenen, thematisch gebundenen, weltanschaulich relevanten Sinn- und Bedeutungspotential von Kunstwerken zur individuellen Entdeckung und Verwirklichung dieses Potentials, zur eigenen Deutung herausgefordert. Indem Kunst mehr zu denken gibt, als auf den Begriff zu bringen ist, regt si'e in starkem Maße die Reflexionstätigkeit des Individuums an.
Einflüsse auf Wahrnehmungsweisen Sicher ist eine grundlegende Voraussetzung jedes Kunstwerks seine sinnliche Wahrnehmbarkeit. Ist damit aber auch schon eine Entwicklung der Wahrnehmungsfähigkeit durch den Umgang mit Kunst postulierbar? Der Mensch verfügt neben den klassischen fünf Sinnen - dem visuellen, auditiven, haptischen, olfaktorischen und gustatorischen Sinn - über eine Reihe anderer Wahrnehmungssysteme, z. B. 281
für Temperatur, Beschleunigung, Körperlage. Über die genaue Anzahl der Sinnessysteme herrscht unter Psychologen und Sinnesphysiologen keine Einigkeit; manche Autoren geben zehn und mehr unterscheidbare Sinnesmodalitäten an. Die Kunst im engeren Sinne beschränkt sich für den Rezipienten auf lediglich zwei Wahrnehmungssysteme, das visuelle und das auditive. Als visuelle Kunstgattungen können beispielsweise die bildenden Künste (Malerei/Grafik/ Plastik/Fotografie) und die Literatur bezeichnet werden. Im Bereich der Bildhauerei lägen taktile Wahrnehmungen sehr nahe; taktile Erlebnisse werden gewöhnlich jedoch durch Verbote und ein rigoroses Aufsichtspersonal in Museen, Ausstellungen usw. weitgehend verhindert. (Wie stark der Wunsch nach dem Betasten von Skulpturen ist, wird durch eine Untersuchung von Kreitler & Kreitler nachgewiesen. Sie konnten feststellen, daß es trotz Verbot etwa 50% der Betrachter gelang, die Skulpturen zu berühren, wenn sie sich unbeobachtet glaubten. In einer Gartenausstellung ohne Berührungsverbot stieg der Anteil auf über 80%.)" Vorwiegend auditive Kunstgattungen sind die Musik und das Hörspiel; eine Kombination zwischen visueller und auditiver Wahrnehmung wird in den darstellenden Künsten - Theater, Film, Fernsehspiel - verlangt. Die gegenwärtig existierende Kunstpraxis ist also keineswegs geeignet, die Sinnlichkeit des Menschen allseitig im Sinne der vorhandenen Möglichkeiten zu entwickeln. Die meisten Wahrnehmungssysteme werden im Rahmen der Kunstrezeption überhaupt nicht berührt. Das visuelle und das auditive System sind allerdings für den Menschen zweifellos am bedeutsamsten; den weitaus größten Teil seiner Umweltinformationen nimmt er über diese beiden Systeme auf. Auch die Sprache, über die ein wesentlicher Teil der sozialen Kommunikation abläuft, wird normalerweise in diesen beiden Systemen kodiert. Dies sind jedoch keine hinreichenden Gründe, die anderen Wahrnehmungssysteme in der Kunst derart zu vernachlässigen, zumal sie für die Orientierung im täglichen Leben und für das psychische Wohlbefinden einige Bedeutung besitzen. Der emotionale Wert dieser sinnlichen Erfahrung wird sogar höher eingeschätzt als der des audiovisuellen Bereichs. In bezug auf die Architektur wird - in der deutschen Architekturtheorie vor allem seit August Schmarsow, um 1900 - immer wieder betont, daß sie in erster Linie Raumgestaltung sei, den Sinn für die Körperlage (aufrechte Haltung, Bewegung) anspreche und demzufolge auch im Abschreiten eines Raums, Umschreiten eines Baus 282
usw. angeeignet und bewertet werde. Dennoch gewinnt die visuelle Komponente, und zwar in Gestalt des Entwerfens, Betrachtens, Bewertens einer flächigen „Ansicht", einer Fassade, immer wieder die Oberhand und wird die andere Wahrnehmungsweise wenig geübt. Die Erkenntnis, daß bestimmte Defizite an Sinnlichkeit weit verbreitet sind, treibt Künstler immer wieder zu provozierenden Experimenten mit Tastplastiken aus ungewohntem Material (Filz, andere Textilien, sogar Fett - etwa bei Joseph Beuys - , anders auch bei Maret Oppenheim, Claes Oldenburg usw.), ferner mit begehbaren Raumplastiken, die u. U. Erfahrungen von Enge vermitteln, „horizontalen Plastiken", bei denen der Rezipient auf verschiedenartigem Material (Stahl, Holz) gehen muß („Union Pass" des Amerikaners George Trakas, „Documenta" 1977 in Kassel), oder sich in anderer Weise einen Raum erschreiten und damit auch seines sich bewegenden Körpers bewußt werden soll. Die Entwicklung der Wahrnehmungsfähigkeit ist, eine normale organische Funktionstüchtigkeit vorausgesetzt, sehr stark abhängig von den Anforderungen, die durch die Umwelt gestellt werden. In diesem von Gibson als Wahrnehmungslernen bezeichneten Prozeß gelingt es, die Färb-, Form- oder Klangwahrnehmimg durch Übung erheblich zu verbessern. Da Kunstwerke in ihren Wahrnehmungsanforderungen oft über alltägliche Ereignisse hinausgehen, wird durch die intensive Kunstrezeption auch die Wahmehmungsleistung im entsprechenden Bereich gefördert. Interessant sind in diesem Zusammenhang die in der Malerei unternommenen Versuche, die Gesetzmäßigkeiten der Gliederung des Sehfeldes in Figur und Grund, die Prinzipien der Ordnung und Formbildung gezielt umzusetzen und sie dem Betrachter auf diese Weise ins Bewußtsein zu heben. Beispiele dafür lassen sich besonders im grafischen Werk Eschers, aber auch bei Dali, Magritte oder Chagall finden. Etwas zu weit greift allerdings Leontjew mit der folgenden Behauptung: „Das Gehör für Tonhöhen gliederte sich beim Menschen als besondere Fähigkeit heraus, da es für die adäquate Wahrnehmung von Musik unerläßlich ist, die ebenso wie die Lautsprache das entwicklungsprodukt der menschlichen Gesellschaft darstellt."12 Anthropogenetisch verhält es sich wohl eher umgekehrt: Da der Mensch die Fähigkeit zur Tonhöhendifferenzierung besitzt, ist er in der Lage und daran interessiert, Musik zu produzieren, die sich durch sinnvolle Organisiertheit und differenzierte Ordnung auch in dieser Hinsicht auszeichnet. Das gilt in ähnlicher Weise für die anderen musikalischen 283
Parameter wie Rhythmik und Metrik, Lautstärke, Klangfarbe oder Harmonik, die in der Regel allerdings keineswegs gleichmäßig entwickelt sind. Ontogenetisch kann man Leontjew allerdings zustimmen. Die Musik stellt relativ hohe Anforderungen an die Fähigkeit zur klanglichen Unterscheidung und trägt dadurch zur Entwicklung einer differenzierteren, d. h. leistungsfähigeren auditiven Wahrnehmung bei. Der entscheidende Faktor ist die Tätigkeit, denn auch das musikalische Gehör entwickelt sich weniger beim bloß passiven Zuhören, sondern besser durch aktives Musizieren. Solche Tätigkeiten können beispielsweise das Spielen eines Instruments oder das Nachsingen von Melodien oder der aktive innerliche Mitvollzug der klanglichen Ereignisse sein. Aber die Kunst beeinflußt nicht nur die elementaren Wahrnehmungsprozesse durch die Veränderung der absoluten oder Unterschiedsschwellen, ebenso wie die menschliche Wahrnehmung nicht hinreichend durch diese Aspekte gekennzeichnet ist. Durch die herausgehobene künstlerische Darstellung kann die Aufmerksamkeit auf solche Aspekte realer Erscheinungen gelenkt werden, die der alltäglichen, unaufmerksamen Wahrnehmung entgehen. „Das Schulbeispiel sind bekanntlich die Entdeckungen der Impressionisten, ihre Methode der Pleinairmalerei, die besonders großen Wert auf farbige Reflexe und farbige Schatten legte. Es heißt, daß diese anfangs keineswegs überzeugend wirkten. Die Beschauer mußten erst durch eigene Naturbeobachtung lernen, diese Phänomene zu sehen. Wohlwollende Betrachter, die bereit waren, sich Mühe zu geben, entdeckten zu ihrem Erstaunen, daß auch sie nach dem Betrachten impressionistischer Gemälde diese farbigen Schatten in der Natur sehen konnten."13 Etwas anders gelagert und doch vergleichbar ist der Fall, daß die Kunst die Sinnlichkeit der Rezipienten auf eine ungewohnte Weise beansprucht, mit der Zeit aber eine Umgewöhnung erfolgt. Die heftigen, groben Formen, die starken Farben und Farbkombinationen, der „ungepflegte" Umgang mit dem Material in den Bildern und Skulpturen der Expressionisten und Fauves um und nach 1905 widersprechen radikal einer Wahrnehmungsweise, die den eben erwähnten impressionistischen Bildern angemessen und damals gerade erst durch diese „anerzogen" worden war, wobei darin obendrein jahrhundertelange Traditionen nachklangen. Seit dem frühen Mittelalter war in Europa (außerhalb von „Volkskunst") nicht so „primitiv" gestaltet worden, wie nun durch die Expressionisten. Seither hat sich
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aber die Fähigkeit, derartige heftige, kontrast- und spannungsreiche Reize auszuhalten, zu verarbeiten und sich Wirklichkeit auch „expressiv" anzueignen, ohne Zweifel viel weiter verbreitet und besteht damit auch ein Bedürfnis nach solchen Wahrnehmungen. Die Wahrnehmungsfähigkeit wurde erweitert, bereichert. Offen bleibt, wieviel davon auf das Konto lebenspraktischer Entwicklungen kommt, und wieviel den „Entdeckungen der Künste" geschuldet wird, die aber in jedem Falle daran beteiligt waren. Ein grundlegendes Erfordernis für die individuelle Aneignung gesellschaftlicher Erfahrung liegt nach Klaus Holzkamp im Aufbau einer Wahrnehmungsfunktion, durch welche eine adäquate sinnliche Erkenntnis von „Gegenstandsbedeütungen" geleistet werden kann, die ihrem Wesen nach objektive Gegenstandsbestimmungen sind. „Die adäquate Wahrnehmung von gegenständlich-bedeutungsvollen Welttatbeständen ist von allem Anfang an ein notwendiges Moment der materiellen Produktion und Reproduktion gesellschaftlichen Lebens."14 Die Gegenstandsbestimmungen, die Holzkamp unangemessenerweise „Gegenstandsbedeutungen" nennt, sind jedoch nichts, was den Gegenständen in unveränderlicher Evidenz zukommt. Sie bilden eine Einheit des Mannigfaltigen, und ihre konkrete sinnliche Auffassungsweise ist abhängig davon, in welchen Zusammenhang der Gegenstand gestellt wird. Im Kunstwerk als spezifisch gestaltetem Realitätsausschnitt besteht die Möglichkeit, Gegenstände und Ereignisse unter neuen Deutungsaspekten darzustellen, die bisher für niemanden evident waren; erst durch die künstlerische Darstellung werden sie in zunehmendem Maße als evident betrachtet. Ein Beispiel ist die Landschaftsmalerei des 17./18. Jahrhunderts, die zu einem veränderten „Wahrnehmungsprofil" 15 der Landschaft geführt hat. „Es ist bekannt", stellt Gombrich fest, „daß die Bewunderung für die Effekte Claude Lorrains, für seine Symbole der verklärten Natur und des idyllischen Friedens die englischen Sachverständigen dazu geführt hat, jene Schönheiten, die sie als malerische Landschaften bezeichneten, im eigenen Land zu entdecken. Ein Maler wie Richard Wilson lernte von Claude den Code, mit dessen Hilfe er die Schönheiten seiner Heimat Wales isolieren und darstellen konnte. An dieser weittragenden Entwicklung, die das Entstehen des romantischen Naturgefühls in der Dichtung wie in der bildenden Kunst entscheidend beeinflußte, sind offenbar Prestige, neue Interessen und neue visuelle Erlebnisse unentwirrbar beteiligt."16 In ähnlicher Weise haben sicher die Landschafts285
darstellungen eines Caspar David Friedrich oder Ludwig Richter in Deutschland für ihre Zeit die Art und Weise beeinflußt, in der die damalige Natur wahrgenommen wurde. Das Verhältnis von Ursachen und Wirkungen ist in der Tat äußerst komplex. Gombrich hat recht, wenn er hervorhebt, daß eine bereits vorhandene Kunst - mit ihren speziellen „sprachlichen" Mitteln - die Wahrnehmung, vor allem aber die Darstellung von Wirklichkeit steuert, daß Wilson im 18. Jahrhundert die bis dahin ästhetisch nicht gewürdigte Landschaft von Wales so rasch und so gut malen konnte, weil er sich dazu des Codes bediente, den Claude im 17. Jahrhundert für Ideallandschaften, die auf italienischen Motiven gegründet waren, entwickelt hatte. Aber die Aufmerksamkeit für den Code Claude Lorrains, die steigende Bewunderung, die englische Sammler und Kenner seinen Gemälden entgegenbrachten, haben andererseits etwas mit „neuen Interessen" im 18. Jahrhundert zu tun. Weil man eine neue Natürlichkeit anstrebte und als Wert herausstellen wollte und weil auch die Heimat als schön erfahren werden sollte, eigneten die Maler sich Claudes dafür tauglichen Code und nicht einen anderen an.
Einflüsse auf Erlebnisweisen Ein charakteristischer Aspekt des Kunsterlebnisses besteht im persönlichen Beteiligtsein auf der Grundlage eines emotional gefärbten Erlebens, wobei dieses Beteiligtsein eine Erweiterung der individuellen Erlebniswelt mit sich bringt. Die Fähigkeit, Geschehnisse emotional miterleben zu können, ist eine spezifisch menschliche Eigenart, die für das Funktionieren der zwischenmenschlichen Beziehungen, für die soziale Kommunikation und Kooperation unverzichtbar ist. Sie ist eng verbunden mit der Befähigung zur Konfliktund Lebensbewältigung. Die Emotionalität, an deren Entwicklung die Kunst entscheidenden Anteil hat, stimuliert, begleitet und lenkt die Denktätigkeit, sie ist für das eingreifend verändernde Handeln ein ebenso unerläßlicher Faktor wie für die geistige Auseinandersetzung. Es muß hier freilich darauf hingewiesen werden, daß unter dem Begriff der Emotionen sowohl von der Psychologie als auch umgangssprachlich die unterschiedlichsten psychischen Phänomene zusammengefaßt werden, und der insgesamt unbefriedigende, durch starke Meinungsverschiedenheiten gekennzeichnete Stand der psychologischen Emotionsforschung keinen günstigen Ausgangspunkt für eine 286
wirklich stringente Behandlung dieses für Ästhetik und Kunsttheorien so zentralen Problemfeldes bietet. Hier tut sich vielmehr noch ein großes und bedeutsames Feld für interdisziplinäre Forschung auf. Nur unter dieser Voraussetzung ist das Folgende aufzunehmen. Das Kunsterlebnis ist das gemeinschaftliche Ergebnis der im Kunstwerk angelegten Gestaltungen und der emotionalen Verarbeitung dieser Gestaltungen durch den Rezipienten. Schon Müller-Freienfels wies darauf hin, daß es sinnvoll ist, innerhalb des emotionalen Erlebens beim Umgang mit Kunst Miterleben und Eigenerleben zu unterscheiden. Wenn der Zuschauer mit Othello dessen Schmerz, Eifersucht und Qualen erlebt oder mit Macbeth beim Anblick von Banquos Geist schaudert, so ist das ein Miterleben; wenn er dagegen um Desdemona bangt, ehe sie sich überhaupt nur träumen läßt, daß ihr ein Unheil droht, ist das ein Eigenerleben.17 Eigenerleben ist aber nicht nur emotional bestimmtes Vorausahnen kommender Entwicklungen, sondern es wird darunter jede eigenständige, den dargestellten Emotionen nicht unmittelbar folgende Erlebnisverarbeitüng verstanden. Die emotionale Aneignung von Kunstwerken geht weder in einem Miterleben noch in einem Eigenerleben der geschilderten Art auf: es bezieht sich nicht einseitig und isoliert auf das Dargestellte, sondern insgesamt auf Form und Inhalt der Darstellung in ihren Gestaltungsmerkmalen, in der Setzung und Lösung gestalterischer Probleme, und in ihrem weltanschaulichen Gehalt, im Sinnspiel innenund außenweltbezogener Verweise, die möglicherweise weit über das Dargestellte hinausreichen. Für das Erklären des Miterlebens ist die Empathietheorie recht gut geeignet. Empathie oder Einfühlung bezeichnet die emotionale Reaktion eines Menschen aufgrund der Wahrnehmung, daß ein anderer ein Gefühl erlebt oder gleich erleben wird. „Wenn wir Empathie empfinden, fühlen wir so, als ob wir die Gefühle eines anderen als die unsrigen erleben."18 Die Forschung hat zahlreiche Nachweise erbracht, daß eine Nachahmungsneigung im sprachlichen, kinästhetischen und emotionalen Bereich existiert. Für das Entstehen empathischen Erlebens müssen außer den Nachahmungsprozessen kognitive Faktoren der Informationsverarbeitung durch den Betrachter berücksichtigt werden. Für die Erklärung des Eigenerlebens muß auf andere Faktoren zurückgegriffen werden. Nur zum Teil entsprechen nämlich die im Theater, im Roman oder in der Musik vergegenständlichten Gefühle denen des Zuschauers, Lesers
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oder Zuhörers. Emotionales Erleben ist nicht nur ein Nacherleben, sondern auch das einer subjektiven geistigen Verarbeitung des Dargestellten. Es bringt die persönliche Haltung des Rezipienten zum Ausdruck. In der emotionalen Reaktion äußert sich die subjektiv bestehende Beziehung zwischen den wahrgenommenen Ereignissen und individuellen Bedürfnissen, Interessen oder Wünschen. Hinsichtlich des Entstehens von Emotionen muß zwischen Emotionen als Folge phylogenetisch erworbener Reaktionen, ontogenetisch erlernter emotionaler Reize und als Ergebnis aktueller Informationsverarbeitungsprozesse unterschieden werden. Phylogenetisch angelegte emotionale Reaktionen erfolgen besonders auf quantiative Merkmale wie die Intensität von Ereignissen oder ihre Auftrittswahrscheinlichkeit. Dies wird z. B. in der so beschreibbaren expressiven Gestaltungsweise umgesetzt: „Diese will auf den erkennbaren Bezug zum Erscheinungsbild nicht verzichten, nimmt aber für den Künstler das Recht in Anspruch, Formen oder Farben frei zu verändern, sie in der Regel zu intensivieren, um auf diese Weise zu einer nachhaltigeren Charakterisierung und Bewertung von Dingen und Vorgängen, zu stärkerer Emotionalität zu gelangen . . . Zum anderen entspricht der expressive Realismus dem Bedarf an leidenschaftlich-deutlicher Aussage, an Agitation, Protest und Klage, und der in unserem Jahrhundert gewachsenen Freude am Ursprünglich-Einfachen, am Kräftigen, auch Lauten, an starken Kontrasten."19 Ontogenetisch erlernte emotionale Reize entstehen durch die in individuellen Lernprozessen erfolgte Verknüpfung emotional neutraler Ereignisse mit unbedingten emotionalen Reizen oder als sozial vermittelte emotionale Reaktionen. Eine wesentliche Rolle spielen hier gesellschaftlich verfestigte Konventionen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden und innerhalb eines Kulturkreises durch den tradierten Gebrauch relativ stabil sind. So werden beispielsweise Farben oder die Tongeschlechter einerseits vom Künstler entsprechend den geltenden Konventionen eingesetzt, um seine Erlebniswelt zu gestalten oder emotionale Gehalte zu vermitteln, andererseits sichern die Konventionen die emotionale Verständlichkeit des Kunstwerkes beim Publikum. Wenn Kunstwerke anderer Kulturkreise rezipiert werden, fehlen in der Regel die erforderlichen erlernten emotionalen Reaktionen, es kommt zu Unverständnis, Fehlreaktionen oder einer dominant intellektuellen Rezeption. Über die verhältnismäßig stabilen Bindungen der Emotionen an phylogenetisch und ontogenetisch erworbene Auslöser hinaus spielen 288
aktuelle psychische Verarbeitungsprozesse für das emotionale Erleben eine Rolle. Der Rezipient interpretiert das Geschehen des Kunstwerks, Erwartungsmuster werden gebildet und Entwicklungen prognostiziert. Auch assoziative Verknüpfungen und Aktualisierungen vergangenen eigenen Erlebens werden einbezogen. Alles wird in Beziehung zu den eigenen Intentionen, Werten und Bedürfnissen gesetzt. Entsprechend der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zwischen Kunstwerk und den subjektiven Werten entsteht ein emotionales Erleben als Ergebnis eines komplexen Prozesses der Situationsinterpretation. Die Gefühlsreaktionen im Umgang mit Kunst äußern sich weniger in körperlichen Reaktionen, sondern eher in einer außerordentlich verstärkten Phantasietätigkeit. Gerade weil die so starken, auf Empathie zielenden Gefühlswirkungen der Kunst die rationale Kontrolle verdrängen können und oft genug zur Manipulierung im Interesse reaktionärer Herrschaftstechniken mißbraucht worden sind, haben Künstler nicht selten Konzepte und Strategien entwickelt, die sich gegen solche Verführbarkeit richten und für ein durch Vernunft gebändigtes Gefühl plädieren. So wendet sich etwa ein Grundimpuls der neuen Musik des 20. Jahrhunderts gegen die exzessiven Rauschwirkungen der romantischen Musik des 19. Jahrhunderts und produziert emotionale Ent-Täuschungen mit dem Ziel, die wirklichen Dissonanzen der sozialen Verhältnisse und psychischen Dispositionen wahrheitsgemäß erfahrbar zu machen. Besonders diejenigen Musiker, die aus der Zusammenarbeit mit Brecht das Konzept einer radikal anti-illusionistischen, kämpferischen und sozial „eingreifenden" Kunst entwickelten, mißtrauten prinzipiell einer Emotionalität ohne Erkenntnisgewinn und einem Enthusiasmus ohne kritische Reflexion. Was bei Weill, Eisler oder Dessau - von Brecht ausgehend - als „gestische" Musik bezeichnet wird, bedient gerade nicht den zur Einfühlung bestimmten „allgemein-menschlichen" Affekt, sondern bedeutet reflektierte Darstellung des Affekts und dessen Umfunktionierung zu einem konkreten sozialen Gestus, der Einsichten in gesellschaftliche Zusammenhänge vermitteln und das Verständnis für deren Unzulänglichkeit, also Veränderungsbedürftigkeit mobilisieren soll. Es geht nicht, wie oft mißverstanden, um eine intellektuelle Emotionsverachtung, sondern es geht um eine aufgeklärte, motivierte, dadurch begriffene und orientierte Emotionalität, die sich so bewußt wie lustvoll erlebt und dadurch produktive Energien für sozial nützliche Haltungen und gesellschaftlich notwendige Handlungen freisetzt. Der individuelle
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Genuß soll sich nicht an die Privatheit von Gefühlen verlieren, sondern geeignet werden, um sich konzentriert für die öffentlichen Interessen mitverantwortlich zu fühlen. Der selbständige Erlebniswert von Kunst hat dabei auch für Brecht eine erhebliche Rolle gespielt: „Ein Kriterium für ein Kunstwerk kann sein, ob es noch die Erlebnismöglichkeiten irgendeines Individuums bereichern kann. (Unter Umständen: eines Individuums, das, wenn voraus, von der Masse eingeholt werden kann, bei der vorauszusehenden Wegrichtung.)" 20 Allerdings müßte genauer untersucht werden, wie Brecht den Erlebnisbegriff faßt, im Unterschied zu Dilthey, Gundolf, Ermatinger, Walzel.21 Bei Brecht ist der Erlebnisbegriff kein philosophisch fundierter Zentralbegriff wie bei den Genannten, von denen er sich der Sache nach distanziert, wenn er an anderer Stelle in polemischer Wendung schreibt: „Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht . . . der alte Begriff der Kunst, vom Erlebnis her, fällt eben aus. Wer von der Realität nur das von ihr Erlebbare gibt, gibt sie selbst nicht wieder." 22 Zwischen dieser Äußerung aus der soziologischen Studie „Der Dreigroschenprozeß" (1931) und der zuerst zitierten aus einer Notiz „Zu Wordsworth' ,She was a Phantom of Delight'" (1940) liegen knapp zehn Jahre, in denen die faschistische Machtergreifung, das Exil, die Notwendigkeit einer antifaschistischen Bündnispolitik neue wesentliche Erfahrungen gebracht haben. Allerdings bezieht sich die frühere prinzipielle Äußerung auf den Kunstbegriff, enger auf die Kunstproduktion, die spätere Bemerkung hat einen anderen Bezugspunkt, den Rezeptionsprozeß, und bekundet das intensive Nachdenken über spezifische psychische Wirkungsmöglichkeiten von Kunst, die hier differenzierter, nicht mehr als direkter Einfluß auf das Verhalten gesehen werden. Wenn auch der Erlebnisbegriff für die Brechtsche Ästhetik nicht konstitutiv war, so hat Brecht keineswegs darauf verzichtet, nach konkreten Erlebnismöglichkeiten zu fragen. Ähnliches gilt im übrigen für seine Stellung zum Begriff „Ausdruck". Ebenfalls in der Studie „Der Dreigroschenprozeß" führte Brecht eine scharfe Polemik gegen die Formel vom „Kunstwerk als Ausdruck der Persönlichkeit". 23 Es wäre jedoch ein Irrtum anzunehmen, Brecht habe die Ausdrucksfunktion von Kunst schlechthin negiert. So finden sich in der Notiz über Wordsworth nach der These über die Bereicherung von Erlebnismöglichkeiten zwei weitere Thesen: „Ausdrucksmöglichkeiten können bereichert werden, welche nicht eigentlich Erlebnismöglichkeiten sind, sondern eher Kommunikationsmöglichkeiten (Unter Umständen kann gefragt werden: Wieweit ist das Wie an das
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Was gebunden und das Was fixiert an gewisse Klassen)."24 Und: „Lyrik ist niemals bloßer Ausdruck. Die lyrische Rezeption ist eine Operation so gut wie etwa das Sehen oder Hören, d. h. viel mehr aktiv. Das Dichten muß als menschliche Tätigkeit gesehen werden, als gesellschaftliche Praxis mit aller Widersprüchlichkeit, Veränderlichkeit, als geschichtsbedingt und geschichtemachend. Der Unterschied liegt zwischen ,widerspiegeln' und ,den Spiegel vorhalten'."25 Die Erlebnis- und Ausdrucksmöglichkeiten, die Kunst eröffnen kann, werden von Brecht kommunikativ gefaßt, als Kommunikationsmöglichkeiten, die es zugleich ermöglichen, in der Kunstrezeption auf besondere Weise aktiv, d. h. tätig zu werden. Die Frage ist also vor allem, welche Aktivitäten im Rezeptionsprozeß ermöglicht werden.
Die Subjektposition des Rezipienten Wenn entwickeltes Aneignungsverhalten als Zuwachs an Souveränität gegenüber den Lebensbedingungen aufgefaßt wird, dann entspricht dem im Bereich der Dispositionen die Entwicklung des Individuums zur als Subjekt agierenden Persönlichkeit. Die Ausbildung einer Subjektposition geht über die einfache umgebungs- und anforderungsbezogene Dispositionsentwicklung im bisher dargestellten Sinne insofern hinaus, als sie durch einen höheren Grad von Reflexität und Bewußtheit, durch die Verwirklichung selbst gesetzter Ziele im Aneignungsprozeß gekennzeichnet ist. Die entwickelte Aneignungsbeziehung ist eine Determination des Subjekts, die Selbstdetermination mit einschließt und notwendig durch sie vermittelt ist. Subjektsein ist nach A. Thom eine Art von dialektischer Aufhebung der unvermittelten und unreflektierten Beziehung zur objektiven Welt. Es ist vor allem gekennzeichnet durch ein aktiv gerichtetes Verhalten des Individuums, das auf einem Begreifen seiner Stellung innerhalb der natürlichen Umwelt und in der Gesellschaft auf der Grundlage eigenständiger Reflexionen beruht und im Erkennen der eigenen Handlungspotenzen gegenüber der Umwelt mündet. Als individuelle Dispositionen, die zum Erlangen einer Subjektposition und damit für ein entwickeltes Aneignungsverhalten ausgebildet werden müssen, führen M. Vorwerg und T. Alberg Abbildbeziehungen auf vier Ebenen an, die mit den von H.-D. Schmidt genannten Repräsentationsdispositionen korrespondieren: 1. ein Umgebungsabbild als Widerspiegelung der wesentlichen 19*
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Merkmale der natürlichen und gesellschaftlichen Umgebung, einschließlich der in der Umgebung bestehenden Beziehungen und Gegensätze, sowie der dort wirkenden Gesetzmäßigkeiten; 2. ein Beziehungsabbild über die Relation Individuum - Umgebung; dies betrifft die Stellung des Individuums in der Umgebimg, die Art und den Grad seiner Integration, die Wirkungen von Umgebungsbedingungen auf das Individuum; 3. ein Zielabbild, das sowohl die Extrapolation von zukünftigen Umgebungszuständen aus den erkennbaren Entwicklungstendenzen, als auch wünschenswerte Umgebungszustände (aufgrund erfahrener Diskrepanzen) als Ergebnis eigener Eingriffe umfaßt; 4. ein Ich-Abbild, zu dem als Selbstkonzept vor allem die Einschätzung der eigenen Wirkungsmöglichkeiten auf die Umgebung gehört.26 Das jeweils mögliche Niveau der Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umgebung, der Grad seines Subjektseins, wird bestimmt durch die Qualität der genannten Abbildbeziehungen, durch ihre Adäquatheit. Wenn nach den Möglichkeiten der Kunst zur Stimulierung von entwickeltem Aneignungsverhalten gefragt wird, so läuft das auf die Frage nach der Subjektentwicklung des Rezipienten im Umgang mit Kunstwerken hinaus. Ob und in welchem Grad eine solche Subjektentwicklung angeregt wird, hängt wesentlich vom Charakter der Kunstwerke ab. Sie ist nur in geringem Maße zu erreichen, wenn die im Kunstwerk angelegten Verhaltensanforderungen einfach und unreflektiert erfüllt werden und die Kunst so gemacht ist, daß sie dem Subjekt eine letztlich durch das Kunstwerk vorher bestimmte Rezeption nahelegt. Sie wird eher erfolgen, wenn das Individuum angeregt wird, gegenüber dem Kunstwerk selbst eine Subjektposition einzunehmen. Entscheidend für die Subjektentwicklung des Individuums ist, daß es seinen real vorhandenen Interpretations- und Verhaltensspielraum gegenüber dem Kunstwerk erkennt und bewußt nutzt. Die Möglichkeit zur Entwicklung einer Subjektposition ist eigentlich in jedem Kunstwerk gegeben - die Subjektposition kann sich auch durch kritische Distanzierung vom Kunstwerk entwickeln. Die Voraussetzung dafür ist jedoch ein bereits ausgeprägter Stand der Subjektentwicklung. Etwas ganz anderes ist die Frage, inwieweit Kunst so gestaltet sein kann, daß sie sich einer kontemplativ-passiven Rezeptionshaltung widersetzt, daß von ihr Anregungen zur Entwicklung einer Subjektposition beim Rezipienten ausgehen.
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Der unterschiedliche Anforderungscharakter von Kunstwerken wird in der von Peter H. Feist vorgenommenen Unterscheidung von Gestaltungsweisen innerhalb der bildenden Kunst dargelegt. Danach lassen sich in der sozialistisch-realistischen bildenden Kunst der Gegenwart vor allem drei Gestaltungsweisen finden, die zu verschiedenen Bildtypen führen: die unmittelbar realistische - eine Bezeichnung, die besser durch (relativ) „erscheinungsgetreu" zu ersetzen ist -, die expressive und die metaphorisch-assoziative oder imaginative Gestaltungsweise. Im Zusammenhang mit unserer Problemstellung ist vor allem die erscheinungsgetreue und die metaphorisch-assoziative Gestaltungsweise interessant. Die erscheinungsgetreue Gestaltung fixiert Gesehenes, sie ist an der sinnlich wahrgenommenen Erscheinung orientiert. „Ein Bild dieses Typs funktioniert wie ein Fenster, durch das der Betrachter auf die Welt blickt . . . Das Bild übermittelt dem Betrachter damit die durch Blickpunkt und Gesichtsfeld festgelegte und eingegrenzte, abgeschlossene und unveränderliche - wortwörtlich - Ansicht, die der Künstler von seinem Gegenstand gewann, und der Betrachter zeigt die Neigung, von dieser Ansicht Objektivität und dadurch Autorität zu erwarten: Information oder Lehre oder beides in einem."27 Der Betrachter ist vor solchen Bildern nicht gezwungen, eine eigenständige Ansicht zu gewinnen. Es wird ihm eher nahegelegt, die Darstellung als gültig zu übernehmen. Trotzdem hat sie nach wie vor ihre Berechtigung, da sie es dem Betrachter ermöglicht, sich ein Bild zu machen von Dingen und Vorgängen, das Aussehen von neuen Wirklichkeitsbereichen zu entdecken und die künstlerische Formierung des Erscheinungsbildes zu genießen. Wie sehr auch die erscheinungsgetreue Gestaltungsweise dem Betrachter eine Auseinandersetzung abverlangen und darauf abzielen kann, seine Beurteilung der Welt zu verändern, belegen Darstellungen, die inhaltlich eine Neubewertung des Dargestellten vornehmen. Man denke beispielsweise an die Szenen aus dem schlesischen Weberaufstand von 1844, die Käthe Kollwitz 1895-98 radierte. Ausschlaggebend ist, daß die Künstlerin anstrebt, der Betrachter möge sich mit der „Autorensicht" identifizieren. Ganz anders ist die metaphorisch-assoziative Gestaltungsweise zu verstehen: „Sie zielt darauf ab, Bilder zu schaffen, die in erster Linie etwas zur Erkenntnis von Prozessen und Zusammenhängen leisten sollen, und deren Aussagewirkung in besonders hohem Maße auf einem selbständigen, schöpferischen, fühlend-denkenden Mitwirken 293
des jeweiligen Betrachters beruht. . . . Obwohl ihre Schöpfer Meinungen haben, verleihen sie den Werken nicht die Aura einer Lehre oder verbindlichen Problemlösung. Sie machen dem Betrachter weit eher ein Angebot zu gemeinsamer Sinnfindung - nicht so sehr nur für das Bild, als vielmehr für die Realität, auf die es verweist. Ihr ,offener Schluß' akzeptiert ausdrücklich eine Anzahl von Lösungsvarianten, d. h. eine Mehrzahl von im Ansatz gleichberechtigten Interpretationen. Die Künstler müssen die Imagination und Phantasie der Betrachter, deren eigenes Vermögen zu assoziativen Verknüpfungen stark in Anspruch nehmen und tragen auf diese Weise zur weiteren Vervollkommnung dieser unentbehrlichen Fähigkeiten bei." 28 Dadurch, daß sie mehr auf das Stellen von Problemen als auf deren eindeutige Lösung ausgerichtet ist, fordert die metaphorisch-assoziative Gestaltungsweise vom Betrachter in viel höherem Maße die geistig aktive Auseinandersetzung, die persönliche Wertung und das Einnehmen einer eigenständigen Position gegenüber dem Kunstwerk. Ein Bildwerk dieser Art ist z. B. die hier eingangs analysierte „Große Neeberger Figur" von Wieland Förster. Zu nennen wären zahlreiche weitere, künstlerisch bedeutende und dabei stilistisch ganz unterschiedliche Werke, wie etwa Simultanbilder von Willi Sitte oder Bernhard Heisig, die Sisyphos-Bilder von Wolfgang Mattheuer und vieles andere mehr. Im Umgang mit gestalterisch ausgeformten, fertigen Kunstwerken hat der Rezipient allerdings keine Möglichkeit zum direkten Handeln und zum Erfahren der Wirkung, des Erfolgs oder der Erfolglosigkeit eigener Eingriffe. Die Ausstrahlung von Kunstwerken als abgerundete Gestaltungsergebnisse auf die Subjektentwicklung liegt deshalb vorrangig im Bereich der zu den Repräsentationsdispositionen zu zählenden Umweltkonzepte und Zielvorstellungen. Die Gestaltung des Kunstwerks als selbständiges Formgebilde läßt dem Rezipienten nicht allzu viele Möglichkeiten zur Selbsterfahrung in unmittelbarer Hinsicht. Das Kunstwerk wird in seiner Gestalt von dem Interpretationsprozeß nicht berührt, es ist gegenüber dem Rezipienten unveränderlich. Die Offenheit derartiger Kunstwerke ist nach Eco eine Offenheit, „die auf einer theoretischen, mentalen Mitarbeit des Rezipienten beruht, der in Freiheit ein schon hervorgebrachtes Kunstwerk interpretieren soll, das abgeschlossen und in sich vollständig ist (wenn auch so strukturiert, daß es eine unbestimmte Zahl von Interpretationen zuläßt)".29
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Ohne die anregende Wirkung von Kunstwerken auf die geistige Aktivität unterzubewerten, muß doch festgehalten werden, daß psychologisch ein großer Unterschied zur sozial-kooperativen oder gegenständlich gerichteten Handlung und der mit der äußeren Rückmeldung verbundenen Wirkung auf die Abbildebenen des Selbstkonzepts und der Relation Individuum - Umgebung besteht. Gestaltungsfelder für den Rezipienten: „Kunstwerke in Bewegung" und künstlerische Spiele Die Möglichkeit einer nicht nur geistig aktiven Teilnahme des Rezipienten am Kunstprozeß veranlaßte Eco, innerhalb des allgemeinen Begriffs „offenes Kunstwerk" eine enger umschriebene Kategorie von Kunstwerken einzuführen, die er als „Kunstwerke in Bewegung" bezeichnet.30 Kunstwerke in Bewegung sind für Eco durch ihre Fähigkeit ausgezeichnet, verschiedene unvorhergesehene, physisch noch nicht realisierte Strukturen annehmen zu können. „Das Kunstwerk in Bewegung, so kann man zusammenfassend sagen, bietet die Möglichkeit einer Vielzahl persönlicher Eingriffe, ist aber keine amorphe Aufforderung zu einem beliebigen Eingreifen: es ist die weder zwingende noch eindeutige Aufforderung zu einem am Werk selbst orientierten Eingreifen, die Einladung, sich frei in eine Welt einzufügen, die gleichwohl immer noch die vom Künstler gewollte ist." 31 Als Beispiele für Kunstwerke in Bewegung führt Eco Mobiles von Calder, die Kompositionen Pousseurs oder Stockhausens und die bewegten Malereien Munaris an. Der Künstler bietet dem Rezipienten ein zu vollendendes Werk an, er weiß nicht genau, auf welche Weise das Werk zu Ende geführt wird, aber es ist immer noch sein Werk. Dem Rezipienten werden Gestaltungsfelder angeboten, er kann die Folgen seiner Eingriffe unmittelbar selbst erfahren. Die Bedeutung der Selbsterfahrung, der Rückmeldung über die eigene aktiv motivierte Tätigkeit für die Entwicklung der Persönlichkeitsdispositionen ist von der praktischen Psychologie seit längerem erkannt. Eine verändernde Teilhabe als Voraussetzung von Selbsterfahrung für den Rezipienten im Kunstprozeß verlangt eine völlig andere Form der Arbeitsteilung zwischen Künstler und Publikum, eröffnet dafür aber entschieden mehr Möglichkeiten für die Entwicklung des Rezipienten zum Subjekt. Einige Chancen für die Entwicklung des Selbstkonzepts und des
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Beziehungsabbildes Individuum - Umwelt als Aneignungsdispositionen ergeben sich aus dem fiktiven Charakter der Kunst, aus der engen Beziehung zwischen Kunst und Spiel. Im künstlerischen Spiel können Verhaltensweisen weitgehend uneingeschränkt, d. h. ohne Rücksicht auf äußere Zwänge oder andere mit realen Folgen behaftete Sachverhalte ausprobiert und ihre eventuellen Konsequenzen abgeschätzt werden. Das Spiel wird in der Regel nur als eine kindliche Form der Wirklichkeitsaneignung verstanden, begrenzt auf die drei klassischen Spielformen: das Funktionsspiel, das Rollenspiel und das Konstruktionsspiel. In den Tätigkeitsformen der Erwachsenen wird das Spiel weitgehend vom Ernst der Arbeitstätigkeit verdrängt. „Sehen wir von denjenigen ab, die künstlerische Tätigkeit berufsmäßig betreiben und deshalb eine ganz andere Einstellung zu dem haben, was hier als Spiel bezeichnet wird, bleibt für die anderen nur der Freizeitraum für spielerische Aktivitäten. So geht uns vielleicht ein wenig die Befähigung für das Spielen verloren, weil die Lebensbedingungen der Erwachsenen es nicht mehr zulassen, daß diese Fähigkeiten trainiert werden, so daß sie dann nur noch als Entspannungsmittel oder als Mittel zur Lösung von Konflikten oder in ähnlichem Sinne eingesetzt werden." 32 Die Assoziationen „von entbundenem Heraustreten aus den Gewohnheiten, Normen, Fixierungen des wohlgeordneten Alltags; die Verkleidung schafft einen Raum, anders zu sein als gewöhnlich, aus einer Rolle herauszutreten, zu sein und zu sagen, wer man ist, sein möchte oder könnte, das Verschwiegene zu sagen .. ,"33, auf die Wolfgang Heise im Zusammenhang mit dem Stichwort Fasching als dem einzigen legitimierten Rollenspiel für Erwachsene verweist, beschreiben genau die Zielstellungen für eine Kunst, die einen Beitrag zur Subjektentwicklung des Rezipienten über die Einladung zu unmittelbarer gestaltender Kooperation leisten will. Sehr weitreichende Möglichkeiten, dem Rezipienten Gestaltungsfelder im Kunstprozeß zu eröffnen, ihn gegenständlich und sozialkooperativ handeln und äußere Rückmeldung erfahren zu lassen, bieten sich im Bereich des Theaters. Vom institutionalisierten Theater zu unterscheiden sind die Grenzbereiche, wo Theater seine Spezifik gewinnt oder aufgibt, wo es sich aus dem alltäglichen Lebensprozeß herauslöst beziehungsweise wieder in ihn eindringt, also zum Beispiel Feste, Feiern und Formen des experimentellen Theaters. Alle diese Formen wirken durch den hohen Grad direkter psycho-physischer Beteiligung aller Anwesenden am Geschehen. 296
Im folgenden sollen zwei Beispiele für den Grenzbereich zwischen Theater und alltäglichem Lebensprozeß beschrieben werden. Befragt man ältere Bürger Haiberstadts, wo im Juni 1958 ein Heimatfest stattfand, das in einer Woche über 120000 Gäste anzog, obwohl in der Stadt nur rund 40000 Menschen lebten, so erfährt man -nach und nach von vielen in das Fest eingelagerten Veranstaltungen, die sich in der einen oder anderen Weise auszeichneten, unkonventionell waren. Feuerwerk, Modenschau, Reit- und Fahrtumier, die Quizveranstaltungen, der Jahrmarkt und der historische Festumzug gehörten zur Basis, von der die Höhepunkte sich abheben konnten: Vor dem Westportal des Domes hatte sich im Halbkreis das Theaterorchester zu Füßen des Publikums niedergelassen, das auf Motorradrenn-Tribünen saß und Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg" erwartete. Zum Vorspiel wurden die Glocken geläutet, die Domtüren geöffnet. Man hörte die Orgel im Innern, der Chor sang den Schluß des Chorals, dann verließen die Sängerinnen und Sänger den Kirchenraum, es waren 380, natürlich fast alles Amateure. Am nächsten Abend noch einmal. Die wenigsten der 4000 begeisterten Zuschauer hätten eine Aufführung im Theatersaal über sich ergehen lassen, aber auch für die Sänger bot die Naturkulisse Anlaß, ihre Stimme unter außergewöhnlichen Umständen zu testen. Vor 7500 Zuschauern wurde von weniger als 10 Berufsschauspielern und mehr als 180 Laien, Arbeitern aus verschiedenen Betrieben, die ,Halberstädter Schicht' nachgespielt, eine demokratische Erhebung der Bürger gegen diktatorische Bestrebungen des Patriziats in den Jahren 1423 bis 1425. Für jeden Spieler standen auf der anderen Seite seine kritische Familie, Freunde und Bekannte ... Mittels der Revuestruktur dieses Festes, das" - im Gegensatz zu heutigen „Stadtinszenierungen" - aus den ideellen und materiellen Beiträgen der Bevölkerung gespeist war, wurden auf der Basis massen-kultureller Kommunikationsbeziehungen auch künstlerische und historische Werte angeeignet. Die Ausnahmesituation, die „Zeitinsel" Fest, bildete den vergesellschaftenden Rahmen dafür, daß sonst meist ausgegrenzte Phänomene - Wer besucht die „Meistersinger"? Wer beschäftigt sich mit Stadtgeschichte? - massenhaft aktiv rezipiert wurden und die „Rangfolge" der Erlebnisse anführen. Sonst wenig oder nicht geforderte Fähigkeiten waren plötzlich gefragt, das sinnlichvitale Bedürfnis nach intim-familiärem Kontakt innerhalb einer größeren Gemeinschaft wurde in praktizierter Öffentlichkeit befriedigt. Dazu war kein Jubiläum nötig, kein Anlaß außer dem 297
Wunsch: die Stadt gestaltet sich „ihr" Fest. Daß Wiederholungsversuche kleiner ausfielen, daß die Traditionsbildung nicht gelang, beweist nur: Es hatte sich nicht bloß eine Stadt, sondern auch eine Generation verausgabt. Die theatralen Momente lösen sich beim Halberstädter Heimatfest insofern aus dem alltäglichen Lebensprozeß heraus, als es sich um Originalschauplätze („Schicht", Festumzug) und einmaliges Laienspiel (deshalb nicht Amateurtheater) handelt. Liegt Theater im engeren Sinne vor („Meistersinger"), so können immer noch besonders hervorhebende Aufführungsbedingungen (Amateur-Chorsänger, Spielort Domportal) den für subjektorientiertes Aneignungsverhalten nötigen Innovationsschub liefern. Eingedenk der vielen theatralen Erscheinungen in anderen, hier nicht berücksichtigten Teilen des „Gesamtorganismus" Fest könnte man formulieren, daß die nachhaltige Wirkung einer historisch und ästhetisch ausgerichteten Mobilisierung der Bevölkerung geschuldet war. Abör Theater kann sich nicht nur aus dem Sozialprozeß entwickeln, es kann auch in ihn eintauchen, mit ihm verschmelzen. Eines der weitestgehenden Beispiele dafür entwickelte der Brasilianer Augusto Boal in seiner Konzeption eines „Theaters der Unterdrückten". Diese Konzeption verfolgte das ausdrücklich erklärte Ziel, die Volksmassen politisch zu aktivieren und für ein Eingreifen in die gesellschaftliche Entwicklung in Brasilien zu Beginn der sechziger Jahre zu befähigen, sie geht in ihrer Relevanz aber über diesen konkreten zeitlich-politischen und geografischen Rahmen hinaus. Die Zuschauer sollten aus ihrer Passivität gelöst werden, in die theatralische Handlung einbezogen werden und aktiv verändernd in das Geschehen eingreifen. Sie sollten selbst spielen und durch die im Spiel gewonnene Erfahrung und Selbsterfahrung ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten in der Realität erweitern. In Boals Theater wird der Zuschauer von seinen konventionellen Fesseln befreit, er agiert selbst und wird zum Darsteller. Diese Art von Theater ist antiautoritär, sie beanspracht nicht, den Zuschauer zu belehren und ihm den „richtigen" Weg zu zeigen. „Der Zuschauer ermächtigt keine Figur, stellvertretend für ihn zu denken noch für ihn zu handeln, im Gegenteil, er selbst übernimmt die Hauptrolle, verwandelt die anfänglich vorgegebene dramatische Handlung, probiert mögliche Lösungen, diskutiert Veränderungsmöglichkeiten." 34 Der Zuschauer belehrt sich, indem er zum Subjekt, zum Protagonisten wird, durch sein Denken und Handeln selbst. Beim Forumtheater, der für die Subjektentwicklung wichtigsten Theater-
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form in Boals Konzeption, wird der Handlungsverlauf vom Publikum innerhalb des durch das Stück vorgegebenen Rahmens bestimmt, die Zuschauer agieren gleichberechtigt mit den Schauspielern. Zu Beginn wird eine konflikt- oder problemhaltige Modellszene mit deutlich charakterisiertem Protagonisten vorgeführt, so wie im konventionellen Theater üblich. Der Protagonist operiert so, daß sich die Zuschauer veranlaßt fühlen, Widerspruch anzumelden, oder unterstützend einzugreifen. Dann werden die Zuschauer gefragt, ob sie mit der gespielten Szene einverstanden sind. Die Szene wird ein zweites Mal gespielt, wobei die Zuschauer den Spielfluß durch Zuruf unterbrechen können und den Verlauf der Handlung verändern können, indem sie die Rolle eines der Schauspieler übernehmen. Die Zuschauer dürfen grundsätzlich jeden Schauspieler ersetzen und in den jeweiligen Rollen ihre eigenen Ideen umsetzen, solange nicht andere Zuschauer die Handlung wiederum unterbrechen. Schauspieler, die nicht an der Szene beteiligt sind, mischen sich unter das Publikum. Sie unterstützen und ermutigen die Zuschauer, ihren Standpunkt zu vertreten und durchzusetzen. Zum Schluß wird gemeinsam ein Modell künftigen Handelns erarbeitet und noch einmal dargestellt. Die praktische Durchführbarkeit des Forumtheaters hat Boal mit Veranstaltungen in Südamerika und in verschiedenen westeuropäischen Ländern (Frankreich, Schweden, Italien, Niederlande, Portugal u. a.) nachgewiesen. Dabei wurde nicht nur mit kleinen Gruppen gearbeitet; die Teilnehmerzahl betrug bei manchen Veranstaltungen mehrere hundert Personen. Es ist insofern mit dem konventionellen Theater durchaus vergleichbar. Versuche, die verfestigten Positionsverteilungen zwischen Publikum und Schauspielern zu verändern, hat es im Theater schon mehrfach gegeben. Besonders im Kindertheater werden Fragen von der Bühne herunter an das noch nicht so sehr in die Konventionen eingepaßte junge Publikum gestellt. Die Zuschauer werden unter Umständen sogar aufgefordert, auf die Bühne zu kommen, Statistenrollen zu übernehmen oder mit den Requisiten zu spielen. Aber von selbstbestimmter Aktivität kann keine Rede sein bei allen diesen Ansätzen. Bestimmend bleibt der Schauspieler, er dirigiert den Handlungsverlauf, er bestimmt, wann die Handlungen abgebrochen werden müssen. In Boals Forumtheater dagegen werden aufgrund einer echten Partnerschaft zwischen Schauspielern und Publikum Räume zum spielerischen Erproben von Handlungsentwürfen eröffnet. Die 299
Zuschauer können sich innerhalb des Kunstprozesses als Subjekte handelnd betätigen und in Kontakt mit anderen treten. Sie erhalten in der sozial-kooperativen Handlungsrealisation Rückmeldungen, die in viel stärkerem Maße Verhaltens- und dispositionsverändernd wirken, als jede innersubjektive geistige Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk im Rezeptionsprozeß.
Die Sinnfrage als Reflexionszentrum künstlerischer Aneignung und der Aneignung von Kunst: Einflüsse auf die Motivationsbildung Zugleich muß vor mechanistischen Fehlschlüssen gewarnt werden. Es ist gewiß richtig, daß die Subjektposition, die die Künste den Rezipienten einräumen, eine Position der selbständigen Reflexionstätigkeit ist, in der das Subjekt vor allem geistig aktiv wird. Das ist jedoch kein Grund, um den Beitrag der Künste zur Subjektentwicklung der Individuen abzuwerten. Denn die Fähigkeit, das eigene Leben und Handeln reflektieren zu können, ist eine wesentliche dispositionelle Voraussetzung jeder bewußten Lebensgestaltung. Reflexive Rationalität, d. h. eine Rationalität, die sich selbst befragt, um sich kritisch zu vergewissern, ist keine rein geistige Angelegenheit, sondern eine soziale Verhaltensqualität, d. h. eine Dimension des Gesamtverhaltens der gesellschaftlich tätigen Individuen. Ließe sich in der Weise ein Einfluß der Künste auf die Entwicklung, Proble.matisierung und Veränderung historischer Rationalitätsformen nachweisen, so hätten wir damit eine wesentliche Seite der Aneignungsfunktion der Künste ermittelt. Dies gilt insbesondere für die gegenwärtige Zeit der intensiven Suche nach neuen humanistischen Rationalitätsformen jenseits von schrankenloser kapitalistischer Verwertungsrationalität und technokratischer Engstirnigkeit, die längst ins Irrationale umgeschlagen sind. Als Lebensstrategien sind Rationalitätsformen, die sich als übermächtige Muster der Zeit auch dem einzelnen aufdrängen, mit Zeitmustern der Sensibilität und Emotionalität vielfach verflochten. Berechtigterweise hat der Architekt Henry van de Velde von der „Sensibilität einer Epoche" 35 gesprochen. Ähnliches ließe sich nicht nur von Ausdruckskonventionen emotionellen Erlebens sagen, sondern auch von historisch veränderlichen Hierarchien emotioneller Grundeinstellungen, oder, mit Knepler zu reden, von Strategien der emotionalen Lebensaneignung. In dem, was
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man „Zeitgeist" zu nennen pflegt, fließen stets Sensibilität, Emotionalität und Rationalität, die für einen bestimmten „historischen Ort" eigentümlich sind, in bewußt und unbewußt wirksamen Mustern zusammen. Völlig zu Recht betont Bruno Snell die konstitutive Rolle der reflexiven Lebensaneignung bei der Entwicklung der Kunst zu einer grundlegenden und selbständigen Aneignungsform. Gegen die unmittelbare Ableitung der griechischen Tragödie aus dem Volksfest der Dionysien macht Snell einen Einwand geltend, der auch im Hinblick auf die historischen Perspektiven der Künste nachdenklich stimmen muß: „Nur eines, was sehr wesentlich ist, pflegt man dabei zu übersehen: daß die soziale Gebundenheit und die religiöse Funktion der Tragödie nie dazu geführt hätte, aus den Maskenumzügen, die es zu allen Zeiten in aller Welt gegeben hat, aus den volkstümlich-religiösen Feiern, die gerade bei den primitiven Völkern im Schwange sind, das zu machen, was die attische Tragödie auszeichnet, was ihr Bedeutung über ihre Zeit und über ihre Bindungen an die Zeit hinaus gegeben hat, was veranlaßt hat, daß wir uns überhaupt noch mit ihr beschäftigen: das aber ist im Grunde nichts anderes als eben das Prinzip, in dem Aristophanes das Verderben der Tragödie gesehen hat, das ,Wissen', die Reflexion ... Die attische Tragödie ist zur großen Literatur dadurch geworden, daß sie sich abhob von dem alten kultischen Untergrund; aller Zauberspuk von Bockschören und Phallusprozessionen verschwand vor Inhalten, die einer ganz anderen Sphäre entstammten."36 Reflexion - aber innerhalb der Ausdruckswelten der verschiedenen Künste, in ihren gattungsspezifischen Gestaltformen, mit ihren vielgestaltigen sinnlich fundierten Zeichen: keine Reflexionskunst, der alles Lebendige, Sinnliche fehlt, aber auch kein unreflektiertes Leben in der Kunst. Im Zentrum des künstlerischen Reflexionsprozesses, der immer zugleich Gestaltungsprozeß ist und über die Gestalt die Reflexionstätigkeit der Rezipienten anregt, steht ein weltanschauliches Bedürfnis der gesellschaftlich tätigen Individuen, das ebenso ihre persönlichen Geltungsansprüche wie ihr Streben ins Überindividuelle umfaßt und miteinander verknüpft, als doppelseitiges Bedürfnis nach Entwicklungsmöglichkeiten individueller Subjektivität und nach realer, erlebbarer Gemeinschaftlichkeit. In seiner individuell zugeschnittenen weltanschaulichen Allgemeinheit läßt sich dieses Bedürfnis als Sinnbedürfnis bezeichnen. Als selbstreflexives Bedürfnis nach Handlungsfähigkeit 301
schließt es ein universelles Deutungs- und Erklärungsbedürfnis ein nicht nur nach Lebensansprüchen wird gefragt, sondern nach ihrer weltanschaulichen Legitimation im Rahmen eines größeren Ganzen: Gesellschaft, Geschichte, Natur. In diesem weltanschaulichen Bezug verliert sich der einzelne jedoch nicht als abstraktes Glied der Menschheit, sondern er bringt seine persönlichen Belange, seine subjektiven Nöte ein. Zugleich verlangt er nach gesellschaftlichen Bindungen und Aufgaben, die seinen persönlichen Geltungsansprüchen eine überindividuelle Berechtigung geben, an die er wenigstens glauben kann. Sein Handeln ist dann auch objektiv sinnvoll, wenn seine Sinnansprüche tatsächlich sozial und historisch berechtigt sind - ein Sachverhalt, auf den Marx bei Erörterung der tragischen und komischen, also ästhetisch wertigen Aspekte des geschichtlichen Handelns der in Klassen vereinigten Individuen hingewiesen hat. Das Sinnbedürfnis ist kein anthropologisches Urbedürfnis, sondern historisches Entwicklungsprodukt - es setzt die Auflösung naturwüchsiger Gemeinschaftsbande, den Zerfall mythischer Weltbilder, die Entstehung des Spannungsfeldes von Individuum und Gesellschaft voraus. Die Genesis der Sinnfrage muß aus marxistischer Sicht erst noch erforscht werden. Die Sinnfrage muß historisiert werden; es ist unumgänglich, sozial- und kulturhistorische Zäsuren herauszuarbeiten. Die konkrete Sinnanalyse kann freilich nicht auf der weltanschaulichen Bezugsebene verharren. Der allgemeine Begriff des Sinnbedürfnisses ist eine Abstraktion von besonderen Sinnbedürfnissen, die sich zugleich in sozialer und historischer Hinsicht wesentlich unterscheiden. Sie äußern sich als konkrete Sinnansprüche von Individuen und sozialen Gruppen; auf Klassenebene nehmen Sinnansprüche die Gestalt gesamtgesellschaftlicher Gestaltungs- und Führungsansprüche an. Soziale Widersprüche werden auch im Widerstreit klassenbedingter Sinnansprüche ausgetragen - je schärfer dieser Widerstreit, um so konflikthafter und -haltiger wird auch das je eigene Sinnstreben in seiner individuellen Differenziertheit erfahren. Die Historisierung der Sinnfrage-ist gegenwärtig um so dringlicher, als Sirtnbedürfnisse im Kapitalismus wie im Sozialismus gleichermaßen massenhaft geltend gemacht werden. Dabei geht es nicht nur um Sinnprobleme qualitativ verschiedener Art, sondern auch um gemeinsame, globale Sinnprobleme. Die Sinnfrage ist die weltanschauliche Schlüsselfrage künstlerischer Aneignung. Natürlich wird nicht nur in den Künsten die Sinnfrage gestellt. Sie ist ebenso eine Schlüsselfrage der Philosophie, die von
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verschiedenen philosophischen Disziplinen zur Zeit auch verstärkt erörtert wird (Ethik, Kulturtheorie, historischer Materialismus). Doch während diese wissenschaftlichen Diskurse die Sinnfrage als theoretische Problemstellung entwickeln, gehen die Künste von einzelmenschlicher Erfahrung aus und bleiben ihr verbunden. Dies erweist sich als Vorzug der Künste gegenüber Philosophie und Einzelwissenschaften: sie kommen auf einzigartige Weise beim Individuum an, ohne dieses Ankommen auf den Begriff bringen zu wollen, zu können, zu müssen; es wäre auch nicht mehr das gleiche Ankommen. In dem Maße, wie die Künste als eine Grundform gesellschaftlicher Lebensaneignung selbständig wurden - in einem Entmythologisierungsprozeß, an dem sie selber einen wesentlichen Anteil haben hat sich auch eine historisch wandlungsfähige Grundfunktion künstlerischer Aneignung herausgebildet: die soziale Sinnerkundung einer historischen Handlungswelt, die Artikulation und gestalterische Transformation klassenbedingter, doch individuell differenzierter Sinnansprüche in ihrem vielfach vermittelten Widerstreit, die Suche nach dem Sinnvollen, wie es Peter Weiss 1965 im „Gespräch über Dante" formuliert hat. 37 Die Künste bereden die Suche nach dem Sinnvollen nicht, sie geben ihm Gestalt: sinnlich erlebbar, strukturell durchgebildet, zeichenhaft vermittelt. Auch der Aufbau der Form ist Sinnerkundung : Sinn wird erkundet, indem der Gestaltungsprozeß vorangetrieben wird, bequeme, harmonistische Lösungen verworfen, gestalterische Konflikte konsequent und wahrhaftig ausgetragen werden. Die künstlerische Grundfunktion sozialer Sinnerkundung ist dann eine Aneignungsfunktion, wenn sie sich als Emanzipations- und Humanisierungsfunktion bestimmt und historisch veränderlich entfaltet. Die Sinnvergewisserung kann sich unter Umständen aber auch als Kompensations- und Beschwichtigungsfunktion ausprägen und dadurch nicht Aneignungsverhalten, sondern Entfremdungshaltungen fördern. An die Stelle von Herausforderung kann Erbauung treten. Die Künste können Sinndefizite unterhaltsam überspielen oder zu Bewußtsein bringen, auch in unterhaltenden Formen. Sie können Menschen ermutigen, Sinnansprüche zu stellen, und sie können sie entmutigen. Sie können Sinnkonflikte zuspitzen oder abschwächen. Sie können Sinnmöglichkeiten durchspielen oder Sinnlosigkeit zum Fetisch machen. Mit ihren spezifischen Möglichkeiten der sozialen Sinnerkundung gewinnen die Künste einen durch Langzeitwirkungen gekennzeichneten, dispositionellen Einflußbereich - den Bereich der Motivationsbildung. Den
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Zusammenhang von Sinnfrage und Motivationsbildung hat insbesondere Alexej Leontjew als ein Hauptvertreter der kulturhistorischen Schule der sowjetischen Psychologie herausgearbeitet, zugeschnitten auf die Frage nach dem persönlichen Sinn, den die Individuen den gesellschaftlich stabilisierten Bedeutungsgehalten sprachlicher Zeichenverbindungen, aber auch objektiv realen Sachverhalten in ihrer tatsächlichen oder auch nur eingebildeten Aneigmingsrelevanz abzugewinnen suchen. Leontjew unterscheidet sirtngebende und lediglich stimulierende Motive ohne eigene sinnbildende Kraft, die einander unterstützen oder auch einander zuwiderlaufen können. Diese Aufspaltung der Motivfunktion entspricht nach Leontjew der Entwicklung der Tätigkeit im ontogenetischen Lebenszusammenhang zu einer polymotivierten Tätigkeit, die selbstverständlich Widersprüche einschließt. Aus der Wechselbeziehung beider Arten von Motiven ergeben sich flexible Motivhierarchien, die an Wendepunkten des Lebenslaufs Umstrukturierungen erfahren. Eine Motivhierarchie hat darum nichts mit einer „erstarrten Pyramide" zu tun, obwohl es das im Einzelfall durchaus gibt. „Die Motivstruktur kann verschoben werden, exzentrisch in bezug auf den aktuellen Raum der historischen Wirklichkeit, wir sprechen dann von einer einseitigen Persönlichkeit. Sie kann sich dagegen als vielseitige Persönlichkeit mit einem weiten Kreis von Beziehungen gestalten. Aber sowohl in dem einen wie in dem anderen Fall widerspiegelt sie notwendigerweise das objektive Nichtzusammenfallen dieser Beziehungen, die Widersprüche zwischen ihnen, die Veränderung der Stellung, die sie in der Motivstruktur einnehmen."38 Aus den Widersprüchen des Lebens, die sich in der Motivstruktur widerspiegeln, erwachsen Motivkonflikte, die in einem Kampf der Motive ausgetragen oder in einer deformierten Bewegungsform verewigt werden. Hier trifft künstlerische Sinnerkundung auf ihr Wirkungsfeld - das resultiert zum einen aus dem Zusammenhang von Sinnfrage und Motivation, zum anderen aus der Tatsache, daß der Umgang mit Kunst freiwillig ist, d. h. der Einfluß von Kunst setzt selber ein in bestimmter Weise motiviertes Verhalten voraus. Eine Wirkung auf die Motivationsbildung kommt nur dann zustande, wenn sich Künstler und Rezipienten im Zweifel an alten Gewißheiten, im Umbehagen an weltanschaulicher Indifferenz, in der Suche nach dem Sinnvollen in vielfältiger Weise begegnen. Allerdings betont Leontjew, daß sich Motive bilden und umbilden, ohne bewußt zu werden oder bewußtwerden zu müssen, jedenfalls
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nicht, bevor die Individuen und während sie handeln, sondern erst hinterher, wenn überhaupt. Damit wird der Zusammenhang von Motivationsbildung und weltanschaulich ausgerichteter Reflexion zugleich in Frage gestellt. Das hätte auch Auswirkungen auf die Einflußmöglichkeiten von Kunst. Leontjew schreibt: „Die Ziele und die ihnen entsprechenden Handlungen treten notwendigerweise in das Bewußtsein, nicht aber das Motiv, um dessentwillen diese Ziele gestellt und erreicht werden . . . Das Paradoxe besteht darin, daß sich die Motive dem Bewußtsein nur objektiv, durch die Analyse der Tätigkeit, ihrer Dynamik entdecken. Subjektiv äußern sie sich jedoch nur indirekt, als Erleben des Wünschens und Wollens, des Strebens nach einem Ziel." 39 Das gelte auch für die sinngebenden Motive. „Als führende Motive im Leben des Subjekts können sie für das Bewußtsein als auch in bezug auf ihren unmittelbaren Affektcharakter im Hintergrund,,verdeckt' bleiben." 40 Das Paradoxon der Motivationsbildung, wie es Leontjew herausstellt, erinnert an den zentralen Lebenskonflikt, den Thornton Wilder in seinem Schauspiel „Unsere kleine Stadt" gestaltet und topisch verallgemeinert hat: „Das Leben begreifen, während man es lebt". 41 Keineswegs ist dieser Widerspruch generell unlösbar, aber er ist auch nicht ein für allemal lösbar. Er muß immer neu gelöst werden. Anders gesagt: Das Leben selbst ist die Bewegungsform, in der dieser Widerspruch zugleich gelöst und neu gesetzt wird. Leontjew betont selber die ontogenetische Notwendigkeit, auf einem bestimmten Niveau der Persönlichkeitsentwicklung zu versuchen, ein Bewußtsein der eigenen Tätigkeitsmotive zu gewinnen, auch wenn dies die Möglichkeit der Selbsttäuschung einschließt: das Bewußtwerden der eigenen Motive bewegt sich in dem Widerspruch von Einsicht und Illusion. Das ist aber ein Widerspruch der Reflexion, ein generelles Reflexionsproblem, das sich in der Motivationsbildung nur in besonderer Weise äußert. Motive werden nach Leontjew nur auf einem Umweg bewußt, über „Signalerlebnisse" als emotionale „Markierungszeichen" von Ereignissen - darin zeigt sich wiederum der wechselseitige Zusammenhang von Erlebnis- und Reflexionsfähigkeit, auf den wir bereits hingewiesen haben. Wenn Motive bewußt werden, verwandeln sie sich nach Leontjew in „Zielmotive", die Motivbildung nähert sich der Zwecksetzung an 42 In dem Maße wie die persönliche Sinnbildung weltanschauliche Dimension und Qualität gewinnt, vollzieht sie sich in einem Selbstreflexionsprozeß des Individuums, eingebunden in die Reflexion seiner 20
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Weltbeziehungen und Tätigkeiten. Dieser Reflexionsprozeß kann freilich mehr oder weniger entwickelt, mehr oder weniger selbständig, mehr oder weniger adäquat bzw. verzerrt sein. In diesem Prozeß bildet sich das Selbstbewußtsein des Individuums, das Leontjew als Bewußtwerden seiner selbst von einem bloßen Wissen über sich unterscheidet.43 Sinnansprüche sind bewußtgewordene Lebensansprüche damit ist noch nichts über die Angemessenheit des Bewußtgewordenen gesagt. Zum Sinnbedürfnis gehört gerade das Streben danach, wenn nicht alles zu begreifen, so doch das Leben in seinen natürlichen und gesellschaftlichen, historischen und alltäglichen Zusammenhängen im Hinblick auf eigene individuelle Lebensmöglichkeiten und ihre Erfüllbarkeit zu deuten. Das heißt wiederum nicht, daß dieses Streben nach Lebensdeutung eine aktive selbständige Form annehmen muß es kann sich auch in der Übernahme vorhandener sozialkultureller Deutungsmuster erschöpfen, solange diese zur Daseinsbewältigung ausreichen. Dieser für die Persönlichkeitsentwicklung notwendige Reflexionsund Selbstreflexionsprozeß kann durch die Künste nachhaltig angeregt werden; dafür gibt es eine Fülle an Zeugnissen und Belegen. Wir würden freilich den möglichen Einfluß von Kunst auf die Motivations- bzw. Sinnbildung falsch einschätzen, würden wir in erster Linie danach fragen, in welcher Form die Künste „fertige" Ziele anbieten können und unter welchen objektiven und subjektiven Voraussetzungen die Rezipienten solche Angebote annehmen. Gerade was wir hierbei ausklammern würden, nämlich den Zielbildungsprozeß selber als allgemeines Motivationsproblem, ist ein Daseinsthema der Künste: der Gestaltungsprozeß ist seinerseits ein Zielbildungsprozeß, der zum Rezipienten hin offengehalten wird. Das künstlerische Schaffen ist ein hochmotivierter Vorgang, in dem Motivkonflikte keine geringe Rolle spielen - sie können sich auch als Gestaltungskonflikte äußern und in der Gestaltung ausgetragen werden. Die großen Widersprüche der Motivation werden auch als Triebkräfte des künstlerischen Schaffens wirksam: Autonomie und Determiniertheit, Bewußtes und Unbewußtes, Zweck und Mittel, Gewolltes und Erreichtes, Einsicht und Illusion. Das sind auch Pole, zwischen denen sich die künstlerische Gestaltung bewegt, Spannungen, in denen Kunstwerke leben. Auf diese Weise vermögen die Künste das ganze Drama der Motivation ins Bewußtsein zu heben, ohne es zu zerreden oder lediglich zu illustrieren: sie präsentieren es kraft ihrer eigenen Gestalt.
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Leontjew selber erläutert die widersprüchliche Strukturbildung von Lebensmotiven an zwei literarischen Beispielen: Puschkins „Geiziger Ritter" und Dostojewski „Weiße Nächte". Er gibt diese künstlerischen Beispiele, um eine Antwort auf die Frage nach der Reflexivität von Motivationsprozessen zu finden. „Das ganze Leben des geizigen Ritters ist auf ein Ziel gerichtet: auf die Errichtung der ,Macht des Goldes'. Dieses Ziel wurde erreicht (,Wer weiß, wieviel bittere Enthaltung, gezügelte Leidenschaften, schwere Gedanken, tägliche Sorgen und schlaflose Nächte dies alles gekostet hat?'), aber das Leben endet in einem Nichts, das Ziel erwies sich als sinnlos. Mit den Worten Schreckliches Jahrhundert, schreckliche Herzen!' beendet Puschkin die Tragödie vom geizigen Ritter." 44 Die Sinneinheiten des Lebens, so Leontjew, können gleichsam in einem Punkt zusammengezogen werden, doch erst wenn die verbissene Selbsttäuschung sich in tödliche Ernüchterung auflöst, erreicht die Reflexion die Angemessenheit, die ihr im Bildungsprozeß der Lebensmotive gefehlt hat. Über die objektive Sinnerfüllung des individuellen Daseins entscheidet in diesem Falle der Platz, den das zum zentralen Zielpunkt des Lebens gewordene Hauptmotiv im multidimensionalen Raum der Wirklichkeit einnimmt. Eine „psychologische Entzweiung" dagegen findet Leontjew in Dostojewskis „Weißen Nächten" in einer Weise dargestellt, wie sie psychologisch nicht eindringlicher beschrieben werden könnte. „Von der jämmerlichen Existenz voller sinnloser Dinge flieht sein Held in das Leben der Phantasie, des Traumes; wir haben gleichsam zwei Persönlichkeiten vor uns, die eine - die Persönlichkeit eines demütig-schüchternen Menschen, eines Sonderlings, der sich in seine Höhle verkrochen hat, und die andere - eine romantische und sogar heroische Persönlichkeit, die allen Freuden des Lebens gegenüber aufgeschlossen ist. Und dennoch ist dies das Leben ein und desselben Menschen; daher kommt unausweichlich der Moment, in dem die Träume vergehen und die Jahre der finsteren Einsamkeit, der Schwermut und der Trostlosigkeit beginnen." 45 Leontjew zieht diese literarischen Beispiele vor allem als Belege für die psychologische Beobachtungs- und Darstellungskunst von Schriftstellern heran. Ihn interessiert in erster Linie die psychologische, nicht die „universalistische" künstlerische Wahrheit. Er behandelt die literarischen Helden auf der Ebene von Fallstudien für Verhaltens- und Konfliktmuster real existierender Personen. Tatsächlich findet hier aber etwas statt, was für den Einfluß von Kunst auf den Kampf der Motive ausschlaggebend ist: Das ganze 20*
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Drama der Motivation - die bewußten und unbewußten Motivverschiebungen und -konflikte, das Zustandekommen hypertrophierter und gespaltener, widersinniger und imaginärer Motive, ihre Auswirkungen und Veränderungen in der Tätigkeit: All dies wird durch künstlerische Transformation mit jeweils gattungsspezifischen Mitteln, also keineswegs nur durch literarische Darstellung zu Bewußtsein gebracht, d. h. es wird durch Gestaltung objektiviert, in eine Distanz gerückt, die Reflexion ermöglicht und dazu herausfordert, und zwar nicht im Gegensatz zur Sensibilisierung und Emotionalisierung. Sensibilisierung, Schärfung der Sinne, und Emotionalisierung, Kultivierung der Erlebnisfähigkeit, sind vielmehr Voraussetzungen dafür, daß der Reflexionsprozeß in Gang kommt. Unempfänglichkeit und Teilnahmslosigkeit fördern ihn keineswegs - Indolenz und Ignoranz hängen enger zusammen als man sich immer bewußt macht. Ein Problem des Lebens, das nicht wahrgenommen und gefühlt wird, hat wenig Aussicht, ein Problem der Reflexion zu werden. Der mögliche Einfluß von Kunst auf Motivationsprozesse besteht nicht in erster Linie darin, daß Kunstwerke ihre Rezipienten direkt motivieren können. In besonderen historischen und individuellen Situationen kann dies durchaus der Fall sein. In Zeiten intensiver Suche nach sinngebenden Motiven kann entweder der Umgang mit Kunst zu einem solchen Motiv werden, oder es werden von der Kunst Handlungsorientierungen erwartet, denen ein persönlicher Sinn abzugewinnen ist. Wichtiger ist jedoch etwas anderes, was die Künste zu leisten vermögen. Sie führen über Epochen hinweg einen nie endenden Diskurs über Lebensmotive und Sinnansprüche. Es ist dies ein Diskurs, der sich in den Zeige- und Sageformen der verschiedenen Kunstgattungen von allen anderen Diskurstypen unterscheidet. Der künstlerische Diskurs ist ein Sinndiskurs - er ist prinzipiell unabgeschlossen, offengehalten in der Entwicklungskontinuität historischer Widerspruchsbewegung. In diesen Diskurs wird jeder hineingezogen, der sich auf die Herausforderungen und Verführungen der Künste einläßt. Ein Diskurs ist immer auch Widerstreit in kommunikativer Form er schließt den Meinungsstreit, die Kontroverse, ein. Der Diskurs überführt die Reflexion in den gesellschaftlichen Verkehrsprozeß und widerspiegelt dessen widerstreitende Tendenzen. Der künstlerische Sinndiskurs entfaltet sich im Für und Wider, in These und Antithese gerade dadurch fordert er zur Stellungnahme, zur Ortung der eigenen Position heraus. Dies ist für Motivationsprozesse um so wichtiger, als
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Motivkonflikte etwas ganz Normales sind, wie Leontjew betont. Er spricht von einer „allgemeinen psychologischen Wahrheit", die er in folgenden Worten darlegt: „Sie besagt, daß sich die Persönlichkeitsstruktur weder auf die mannigfaltigen Beziehungen des Menschen zur Welt noch auf ihren Hierarchisierungsgrad reduziert, daß ihre Charakterisierung in der Wechselbeziehung der verschiedenen Systeme der entstandenen Lebensbeziehungen liegt, die zum Konflikt zwischen ihnen führen. Mitunter verläuft dieser Konflikt in äußerlich unmerklichen Formen, sozusagen in den undramatischen Formen des Alltags, und beeinträchtigt die Harmonie der Persönlichkeit und ihre Entwicklung nicht, denn die harmonische Persönlichkeit ist durchaus keine Persönlichkeit ohne innere Konflikte. Mitunter wird jedoch dieser Kampf zum Hauptsächlichen, zum Bestimmenden für die ganze Erscheinung eines Menschen - er führt zu einer Struktur, wie sie tragische Persönlichkeiten kennzeichet."46 Diese innere Bewegung des individuellen Bewußtseins wird durch die Bewegung der gegenständlichen Tätigkeit des Menschen erzeugt, hinter dieser Dramatik verbirgt sich die Dramatik seines realen Lebens. Die Lebenstätigkeit der Menschen ist niemals ein widerspruchsfreier Prozeß - dialektische Widersprüche sind auch Triebkräfte der individuellen Lebensgeschichte und -gestaltung. Die Bedeutung der reflexiven Lebensaneignung für die Bewegung der Widersprüche im individuellen Lebensprozeß wird von Philosophen und Psychologen übereinstimmend hervorgehoben. So verlangt Manfred Vörwerg die stärkere Beachtung dessen, „was bei motiviertem Verhalten einer Person, tatsächlich passiert: die Person handelt innerhalb gesellschaftlich gesetzter Anforderungen in einem Freiraum, der durch die individuelle Aktivitätsform ermöglicht und begrenzt ist, und die Person handelt innerhalb dieses Freiraumes, um effektiv tätig zu sein und die Grenzen dieses Freiraumes in Übereinstimmung mit den Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung und Gesetzen des menschlichen Lernens ständig zu erweitern."47 Und Gottfried Stiehler betont: „In der Tat führt die Einsicht in die relative Erkenntnis-, Entscheidungs- und Handlungsautonomie des Individuums zu einem solchen Verständnis der Freiheit, das zugleich das Begreifen persönlicher Verantwortung ermöglicht. Wenn der Mensch auf Grund der inneren und äußeren, objektiven und subjektiven Voraussetzungen eines gegebenen Handlungszusammenhangs stets so erkennen und handeln müßte wie er es tut, dann wären freie Entscheidungen in vielen Fällen gar nicht möglich."48
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Auf dieses Verständnis der Freiheit, das zugleich das Begreifen der persönlichen Verantwortung ermöglicht, hat humanistische Kunst stets hingewirkt. Daraus erklärt sich auch die immer wieder bekräftigte moralische Dimension des künstlerischen Diskurses. Wie es der Ethiker Heinz Krumpel formuliert: „Dadurch, daß der Mensch immer zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden muß und willentlich sich zu diesem und keinem anderen Verhalten entschließt, sowie selbst entscheidet und keinem anderen die Entscheidung überläßt, bestätigt er nicht nur seine Willensfreiheit, sondern diese wird auch zu einer moralischen Freiheit.. ." 49 Fazit Es kann davon ausgegangen werden, daß sich im Umgang mit Kunst verschiedene Dispositionsbereiche entwickeln. Allerdings dürfen die durchaus vorhandenen Einflüsse auf die Dispositionsentwicklung nicht überschätzt werden. Als die entscheidende Aneignungsbeziehung und als der wichtigste Faktor der Persönlichkeitsentwicklung wird in der marxistischen Philosophie und Psychologie die Arbeitstätigkeit angesehen. Im Prozeß der Arbeit wird nicht nur ein bestimmtes Produkt durch die Arbeitstätigkeit des Subjekts erzeugt, sondern dieses selbst wird in der Arbeit geformt. In Abhängigkeit vom Charakter der Arbeit entwickeln sich die Fähigkeiten des Menschen und seine weltanschaulichen Prinzipien. Kunst kann ihren Anteil zur Persönlichkeitsentwicklung nur in dem Maße beitragen, wie sie mit anderen auf das Individuum einwirkenden Umweltfaktoren korrespondiert. Prägende Veränderungen, sogenannte Schlüsselerlebnisse, wie sie im Zusammenhang mit der Kunstrezeption manchmal beispielhaft angeführt werden, können nur eintreten, wenn das Individuum durch andere Sozialisationsfaktoren bereits hochgradig labilisiert war und das Kunstwerk in eine Richtung wirkt, die mit der anderer Faktoren übereinstimmt. Entwickeltes Aneignungsverhalten wird durch Kunstwerke vor allem dann stimuliert, wenn sie derart gestaltet sind, daß ihre adäquate Rezeption eben dieses entwickelte. Aneignungsverhalten, die aktive und bewußte Auseinandersetzung, fordert. Die wichtigste Voraussetzung dafür liegt in der Offenheit von Kunstwerken, die durch das Stellen von Problemen die geistige Aktivität anregen bzw. durch das Eröffnen von Gestaltungsfeldern den Rezipienten die Möglichkeit zur Selbsterfahrung geben.
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Aitmatows Roman „Der Tag zieht den Jahrhundertweg" Fragen nach inneren Antrieben verantwortlichen Handelns heute Aitmatows Roman „Der Tag zieht den Jahrhundertweg" hat beim Leser Betroffenheit und Bestürzung ausgelöst, wenn die Kühnheit seiner phantastischen Zuspitzung die Ahnung aufkommen ließ, daß die so ausgedachte Zukunft der Menschheit real werden könnte: das „Einfrieren" der Weltordnung, um Selbstzerstörung der Zivilisation zu vermeiden. Den widerstreitenden Gefühlen der ersten Aufnahme ist das Nachdenken gefolgt über die bezwingende Kraft der poetischen Sinnbilder, in denen Aitmatow Wurzeln freizulegen sucht von menschlichem Verhalten und entmenschtem Handeln. Kunstvoll eingewoben in die Geschichte vom „geraubten Gedächtnis", vom muttermordenden Mankurt, in den Topos vom „gebundenen Sänger", dessen Liebe nicht in die Norm paßte, in das „gewöhnliche Schicksal" des Arbeitsmenschen Edige, in dem sich unsere Zeit konzentriert, wie in die Entscheidungsnöte der Menschheit bei der konstruierten Herausforderung durch den Kosmos durchzieht ein Faden die poetischen Ereignisse: der Kampf des Menschen zwischen Selbstbestimmung des Individuums und Verstümmelung seiner Subjektivität, zwischen selbstbewußter Handlungserweiterung und willenloser Dienstbarkeit, zwischen Unantastbarkeit der Persönlichkeit und ihrer latenten Bedrohung und offenen „Mankurtisierung" - ein Kampf, der für den Moralisten Aitmatow menschliche Bestimmung ist und viele Fronten kennt beim Aneignen der Welt. Aitmatows Kunst will jenen Abschnitt der Auseinandersetzung erkunden, der in der geistig-seelischen Dimension der Individualität liegt.50 Er begreift ihn als „inneren" Handlungsraum des Individuums, in dem die Widersprüche der Zeit sich austoben: als Konflikt der Menschen mit sich selbst, als Begierden und Genüsse, Lebensansprüche und Motive, die zur Entscheidung drängen und zum Handeln in der Gemeinschaft oder aber abwiegelnd zur Ruhe gebracht, abgedrängt, verdrängt werden. Dieses Ringen mit sich selbst hebt Aitmatow in den Rang eines konstituierenden Moments der realen Dramatik des Lebens. Rigoros geraten so auch die „läßlichen" Sünden des Alltags in den Horizont historischer Erfordernisse, werden auf ihre zerstörerischen Konsequenzen hin durchgespielt.51 So entäußert sich dann sinnträchtig aus mythischem Geschehen und hyperbolischer Voraussicht eine Botschaft 311
für die Gegenwart: Würde und Individualität des Menschen bleiben stets seine verwundbarste Stelle, wie sie zugleich Voraussetzung für seine Größe und Schöpferkraft sind.52 Der Autor imaginiert ein Warnbild vom Verlust der Persönlichkeit durch das Auslöschen von Gedächtnis, Tradition und Geschichtsbewußtsein mit seinen verderblichen Folgen für das verantwortungsvolle Zusammenleben der Menschen. Dieser Verlust müßte heute die Vernichtung der Gattung Mensch mitverursachen. Und, die Botschaft beschwört ein Hoffnungsbild. Die Gegenkräfte nehmen Umrisse an in den Koordinaten des Lebens von Edige, dem Haupthelden des Romans, in dessen Wirklichkeitssicht und praktizierter Anschauung der Welt. Aitmatow schöpft aus Erfahrungen auf einem geschichtlichen Weg, den noch keine andere Gesellschaft durchschritten hat. Doch gesellschaftliche Erfahrung gibt auch zu erkennen, daß die in materiellen Tatsachen abgesicherten Verhältnisse mitunter der Verankerung in der „inneren Welt" der Menschen erst noch bedürfen; „die Erbübel der alten Gesellschaft" 53 haben sich zudem als zählebig erwiesen. Die Menschen werden nicht wie Marionetten am „Gängelband" der Verhältnisse geführt; sie handeln mit relativer Entscheidungsfreiheit innerhalb der sozialgeschichtlichen Voraussetzungen. Dialektik waltet zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Verhalten der Individuen; das macht die Verhältnisse nicht unantastbar gegenüber dem konkreten Handeln der Menschen. In diesem Spannungsfeld lebt Aitmatows Poesie, aus ihm heraus entwickelt er seine sittlich-moralische Fragestellung; auf dieses Feld der Konflikte Einfluß zu nehmen, drängt Aitmatows Funktionsverständnis von Literatur. Aitmatow nähert sich dieser Problemzone erneut von jener Frage her, die er bereits im Schauspiel „Aufstieg auf den Fudschijama" seinem Helden Mambet in den Mund legt: „Wie haben wir gelebt? Sollen die nach uns auch so leben? Darauf antworten kann die Literatur, nur die Literatur . . . Ich möchte nicht vor die Zukunft hintreten mit einer Literatur, die nichts vermag." 54 Aitmatow führt den Leser an zwei Orte im Zentralgebiet der gelben Steppen: das KOSMODROM, Spitzenleistung der Naturbeherrschung, kühnster Griff des Menschen nach den Sternen und Eingeständnis seines Versagens auf Erden schließlich auch, und Schneesturm-Boranly, weltverlorene Ausweichstation der Eisenbahn, „erbärmlichstes Nest auf Erden" 55 . Diesen Ort sucht man nicht, dorthin verschlägt es einen. Beide Orte sind nur eine Tagesreise voneinander entfernt, durch Welten getrennt hinsichtlich Ausmaß und Tragweite der in ihnen zu tref-
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fenden Entscheidungen der Menschen - und doch durch den gleichen Werthorizont verbunden, in dem Denken und Handeln stehen. Visionen der Genesis und Apokalypse blitzen auf: Sinngebilde vom Anfang allen Daseins und von seinem denkbaren Ende als selbstverschuldetem Höhepunkt unbewältigter Widersinnigkeiten; Sinngebilde von der Vertreibung aus dem Paradies und von Höllenfahrten Dantescher Prägung. In solcher die Zeiten überspannenden geistigen Dimension der Szenerie kündigt sich Bedeutungsmächtiges an. In der Steppeneinöde stemmt sich eine Handvoll hierhin Versprengter gegen die Not der Zustände. Allen Unbilden der Natur preisgegeben, verhöhnt von den Leichtfertigen und den gewitzten Zeitgenossen, quälen sie sich, unbeirrt, mit einer jeden Tag Übermenschliches abverlangenden Arbeit. Unverstanden von den Angepaßten, schließen sie sich mit der Wärme ihrer Herzen um Bedrängte; sie begehren auf gegen die Willkür von „Mächtigen des Tages", ohne auf Erfolg hoffen zu können; sich selbst gefährdend trotzen sie den Gleichgültigen und Feigen, weil sie sich selbst treu bleiben müssen; sie denken nach über die Erhabenheit des Todes, weil sie dem Unabwendbaren einen Sinn geben in einem erfüllten Leben. Als sie Kasangap, den würdigsten unter ihnen, auf dem traditionsgeheiligten Stammesfriedhof Ana-Bejit beerdigen wollen, finden sie das Gelände abgesperrt. Der Friedhof soll einem Wohnkomplex für das Kosmodrom weichen. Edige ist nicht bereit, das hinzunehmen. Der Roman schließt mit dem Hinweis, daß Edige allein, auf das eigene Risiko hin den Streit mit der Obrigkeit aufgenommen hat, um Ana-Bejit vor dem Auslöschen zu retten, diesen denkwürdigsten Ort der Besinnung auf die besten Erfahrungen und Werte des Volkes. Ein absurdes Ende mit heroischer Pose? Ein letztes Aufbäumen der alten Kultur des Volkes vor ihrer endgültigen Folklorisierung? Ein Mann nimmt den ungleichen Konflikt auf sich, ohne auf Erfolg hoffen zu können. Er will den Sachzwängen der modernen Welt von Robotern, Computern und Raketen entgegentreten, um ihr den Anspruch der Geschichte abzutrotzen. Was bewegt Ediges Denken, was treibt ihn an? Woraus erwachsen seine Streitfähigkeit und Widerstandskraft? Worauf gründet sich das beeindruckende Maß an Selbstbestimmtheit seines Charakters? Aitmatow läßt uns wissen, daß Edige sich demütigen würde vor sich selbst, wenn er bequem oder feige die Zustände hinnähme, wie sie durch andere bestimmt wurden. Dieser Friedhof greift bedeutungs313
mächtig in Ediges Leben ein. Aus dem hier zu Staub gewordenen menschlichen Leben wuchs geschichtliche Erfahrung heran, die noch lebendig ist in der Weltsicht von Edige und weiterlebt in den Selbstwerten seiner Persönlichkeit. Wer das Symbol der Geschichte antastet, vergreift sich an ihrer sinnstiftenden Bedeutung im Leben. Die Absicht, Ana-Bejit „bereinigen" zu wollen, muß an Grundfesten von Ediges Weltanschauung rühren, die Wurzeln seines sozialen Selbstverständnisses untergraben und die Antriebe seines Handelns austrocknen. Ediges Kampf enthüllt sich scr als Ringen um den Sinn seines Lebens. Zu einem Paradoxon schürzt Aitmatows Phantasie den Zusammenprall von traditionellen Werten und zweck-rationalem Denken von heute. Gewiß, als geschichtlich Ungleichzeitiges existieren sie immer noch in derselben Gegenwart mit der Behauptung, den Menschen dienlich und dem Menschlichen förderlich zu sein. Inwieweit aber sind die Erfahrungen der Altvorderen kompatibel für die Entscheidungsnöte der modernen Welt? Sollten sie die Zeitalter überdauern als menschheitlicher Anspruch, unabgegolten noch? Welcher Gegenwartswert sollte in Tod und Friedhof, in Erinnerungen an Vergangenes, in Legenden, Mythen, ja in Gott zu entdecken sein? Ist es nicht vernünftig, im Namen des Fortschritts das Abgelebte in den Randbereich des Lebens abzuschieben, wenn es schon nicht gänzlich ausgrenzbar ist? Im Geist einer Unversöhnlichkeit des Gegenwärtigen mit dem Vergangenen müssen die inneren Antriebe für Ediges Handeln als unangemessen, lebensfremd und absurd erscheinen. Aber auch die um Dialektik bemühte Beziehung zur Geschichte kommt an dieser Stelle nicht um einen Zwiespalt herum: den zwischen weltanschaulichem Argwohn gegenüber jenem Geist, der Ediges Weltsicht und Wertordnung begründet und ihn zum Tätigwerden anreizt, und andererseits der Faszination durch die Macht dieses Geistes für Redlichkeit und Unversehrtheit der Persönlichkeit in den Zerreißproben des Lebens. Eine Faszination, die sich aus dem sensibler gewordenen Gespür heraus nährt, daß die selbstbewußte Beständigkeit des verantwortlichen solidarischen Handelns der Individuen ein entscheidender Faktor beim Durchstehen der gegenwärtigen Widersprüche sein wird. Der Argwohn kann und muß sich heute über die Herkunft menschenfreundlicher und dem Fortschreiten der Menschheit dienender Motivationen beschwichtigen lassen; das macht mitunter zu schaffen und das beunruhigt uns an der Gestalt des Edige möglicherweise. 314
Wie die Würdigung des Romans in der DDR zeigt, ist die Ebene der Arbeit, des persönlichen Arbeitsethos am ehesten konsensfähig.56 Aitmatow inszeniert aus Sequenzen des Alltags in Schneesturm-Boranly ein heroisches Bild des Arbeitens. Vierundvierzig Jahre hatten Kasangap und dann auch Edige in Boranly auf eine Weise und mit einer Auffassung von Verantwortung gegenüber den Menschen, der Arbeit und der Natur geschuftet, für die junge Eisenbahner, denen sie davon erzählten, kein Verständnis aufbrachten. Die wären dorthin gegangen, „wo alles ist, wie sich's gehört. Für soundsoviel Arbeit soundsoviel Geld."57 Wie konnte es, fragte sich Edige, zu dieser „Neubewertung" kommen? Aitmatow listet dem mündigen Leser die unbequem-kritische Selbstbefragung und Eigenbewertung seiner Antriebe zum Handeln ab und pflanzt Zweifel, die vielleicht Bewegung in die Rangordnung der Motive bringen. Woran hakt sich das Denken möglicherweise fest? Aitmatow erkundet die Spuren, die die Dialektik des gesellschaftlichen Fortschritts in die inneren Strukturen der Persönlichkeit eingezeichnet hat. Solche Spuren entdeckt er auch im Verhältnis der Menschen zur Arbeit. Was Edige und Kasangap mit den jungen Arbeitern objektiv zusammenschließt, sind die Verhältnisse, die sie gleichermaßen zu gesellschaftlichen Eigentümern und Produzenten bestimmen. Dennoch rührt ihr Handeln von gegensätzlichen Antrieben her: Was sie trennt, ist subjektiv, ist in nicht zu vereinbarenden Wertwelten ausgeformt. Es spricht für die polyphone Struktur des Realismus, den Ralf Schröder aus dem bisherigen Romanwerk von Aitmatow herausarbeitet,58 wenn auch für die Lebensweisheit der „Neubewerter" keine so eindeutige Abwertung glücken will. Wenn die jungen Leute geltend machen, dorthin gehen zu können, „wo alles ist, wie sich's gehört" und erwarten, für ein bestimmtes Quantum verausgabter Arbeitskraft das bestimmte Quantum Geld als Lohn zu empfangen, sind ihre Ansprüche nicht zu hoch gegriffen. Die Haltung der jungen Eisenbahner zur Arbeit macht aber nicht nur deutlich, wie schnell einzelne Errungenschaften der Gesellschaft im sozialen Bewußtsein der Individuen zu einer Selbstverständlichkeit werden. Es zeigt sich zugleich ein erschreckender Verlust an geschichtlichem Bewußtsein. Das Gewordene erscheint voraussetzungslos und ohne Folgen. Läßt man die Arbeit zum bloßen Mittel des Lebensunterhalts verkümmern, so beraubt man sie ihrer geschichtsgestaltenden Bedeutung, und sie verkommt zum Job. Man sorgt für den Tag, möglichst risikolos und bequem, mit raschem Griff nach dem 315
schnellen Gewinn. In dem Gemeinsamen aller vermag der einzelne nur schwerlich noch das Eigene zu erkennen und glaubt sich eher einem Fremden gegenüber, das zuweilen seinem Dasein bedrohlich ist. Eine partielle soziale Entwurzelung greift um sich mit verheerenden Folgen für das solidarische Verhalten der Menschen und für den menschenfreundlichen Zustand ihrer Verhältnisse. Wieso widerstehen Edige und Kasangap in den Erfahrungen des Alltags der „Verführungskraft des Augenscheinlichen", der die jungen Leute erlegen sind? Woraus erwächst ihnen der persönliche Sinn einer mitunter sinnlos erscheinenden Arbeit? Auch Edige und Kasangap erleben sich nicht als gesellschaftliche Miteigentümer und Mitproduzenten in der Arbeit; die Vermittlungen zwischen ihrer objektiven Bestimmtheit und ihren praktischen Verhältnissen liegen für sie gleichermaßen im Dunkeln. Welches Weltverständnis befähigt sie also, das Leben so anzunehmen, wie es ist? Worauf gründet sich ihre Überzeugung, die Bürden des Lebens abdienen zu müssen, ohne sie als „unglückliches Schicksal zu verfluchen, ohne sich an diesem Leben zu rächen?" 59 Welche Gründe haben sie für sich gefunden, Menschenfreundlichkeit zu bewahren unter menschenabweisenden Bedingungen, Achtung und Pflicht vorzuleben, Würde und Vertrauen nicht abtöten zu wollen? Was trägt die Gewißheit vom Sinn ihres Tuns? Was schließlich hält ihre Persönlichkeit im „Innersten" zusammen? Dem so Fragenden drängen sich keine bündigen Antworten auf. Wie ist der „Glanz von Gewißheit" (Eva Strittmatter), der über dem Denken und Handeln von Edige und Kasangap liegt, hinüberzuretten in die eigene Lebensführung? Eva Kaufmann muß diese Doppelwertigkeit des Gefühls nach der Lektüre spüren, wenn sie schreibt: „Es ist nicht nur schön, sondern auch glaubwürdig -zu lesen, wie eine Handvoll Männer und Frauen trotz härtester Entbehrungen ein Leben in Solidarität, Fürsorglichkeit und Würde führen. Auf die Frage, wie der Autor dies motiviert, findet man wenig Anhaltspunkte."60 Man muß Eva Kaufmann auch darin folgen, daß die Charaktere des Edige und des Kasangap von Aitmatow einfach als gegeben vorausgesetzt sind, nicht aber hergeleitet werden.61 Um in Boranly leben zu können, muß man „den rechten Charakter haben", bedeutet uns der Autor, „sonst geht man zugrunde".62 Willi Beitz bemüht die Metapher des „Bootes"63, um den Beweggründen des Handelns von Edige und seinen Freunden auf die Spur zu kommen. „Im Boot, in der Bahnstation Boranly ist einer auf den 316
anderen angewiesen, sind Gleichgesinnte miteinander verbunden, und in dieser Verbundenheit kämpfen sie ihren heldenhaften und tragischen Kampf mit den Elementen, den Stürmen des Jahrhunderts." 64 So recht überzeugen will das noch nicht. Die „Notgemeinschaft" stiftet eine zu beschränkte Anschauung der Welt. „SchneesturmBoranly" ist weder ein soziologisch definierter Raum der Erklärung, noch ein metaphorischer Ort der Deutung, eher das Ambiente für ein hochdramatisches Austragen und Durchleiden von Konflikten und für das Zerbrechen an ihnen auch, Szenerie der Bewährung und des Versagens in jener so entscheidenden Frage der Philosophie Aitmatows: „Wer behält, unter welchen Bedingungen auch immer, seine Menschlichkeit, und wer ist den ständig neuen Prüfungen des Lebens nicht gewachsen, handelt wider sein Gewissen, vergißt sein eigenes menschliches Wesen?"65 Aitmatow verbindet das alltägliche Leben der arbeitenden Menschen mit dem Bewußtsein von Geschichte. Die Erzählung vom Mankurt bildet deshalb die geistig-poetische Mitte des Romans; jene mit dem besorgten Blick in die Zukunft gewendete alte asiatische Legende,66 die von einem Menschen berichtet, dem nach grausamen Torturen das Gedächtnis geraubt wurde, und der, so in einen hündisch-eifrigen Sklaven verwandelt, auf Befehl seines Herren unbewußt einen Muttermord begeht. Das Auslöschen der Erinnerung zerriß seine Verankerung in der Vergangenheit, tilgte das Bewußtsein von seinem eigenen Ich; sich selbst begriff er nicht als menschliches Wesen; all sein Streben galt lediglich der Befriedigung des Leibes; ihm fehlte jeder Antrieb zu Widersetzlichkeit. Aitmatow bekennt im Interview mit Ralf Schröder, daß ihm die Mythe als Symbol dient für das ewige Problem, den Menschen und der Menschheit die Erinnerung zu bewahren. „Nur wenn die Menschen wissen, woher sie kommen, wer sie sind und was sie auf ihrem bisherigen Weg behinderte, werden sie die Gegenwart bewältigen und eine Brücke in die Zukunft schlagen können. Immer wird der Kampf um die Uberwindung des Vergessens die Menschheit voranbringen. Heute ist das Problem des Mankurtismus besonders wichtig, da durch die Massenmedien neue sehr vielfältige und gefährliche Formen von Mankurtisierungen des Menschen bestehen. Ein Mankurt ist ein manipulierter Mensch."67 Dabei wächst in unserer Zeit die individuelle Verantwortlichkeit im gesellschaftlichen und im persönlichen Leben. „Sie werden alles selber, mit ihrem Verstand erfassen müssen und sich zum Teil rückwirkend 317
auch für uns verantworten. Denken aber fällt immer schwer." 68 Darum wird das Leben für die Kinder- und Enkelgeneration noch komplizierter als unseres, gibt Aitmatow zu bedenken, „also mögen sie den Verstand schärfen von Jugend an". 69 Auch Bertolt Brecht beschäftigte dieses Phänomen, das Walter Benjamin auf den Begriff „beschleunigte Geschichte" brachte, und dachte sorgenvoll daran, daß die im täglichen Leben verborgene Dialektik eine Beschäftigung von nur Wenigen, von Spezialisten werden könnte. 70 Hier will Aitmatows Kunst eingreifen mit der Macht poetisch mobilisierter Dialektik der Geschichte. Mit der Gestalt des Sabitschan hat er ein weiteres Schreckbild geschichtslosen Daseins erdacht; die Bedrohung tritt uns gegenüber als das gewöhnliche Versagen, die alltägliche Sünde wider das gemeinsame Interesse. Vorgeführt wird der unspektakuläre Bösewicht, der dienstbeflissen und kenntnisreich daherkommt, geübt im Abwiegeln von Widersprüchen, im Verhindern von gemeinsamen Fortschritten, wenn es das eigene Fortkommen hindern sollte, zu jeder Wendung willig; seine Anschauung von der Welt hat er zurechtgestutzt auf das Maß des kleinlichen Vorteils. In Edige lebt der Geist der Legenden und Mythen nach, auch die spirituelle Kraft von Gebeten und von Gott; es ist der Gehalt von produktiven Erfahrungen seines Volkes, die es in mythisch-phantastischer Form gestaltet hat als Weisheit des Lebens und als Vermächtnis für die künftigen Geschlechter. Dennoch hat Edige kein mythologisches Bild von der Welt, und seine Lebensanschauung wirkt nicht aus der Einbildung heraus. In den Prüfungen des Lebens, die Aitmatow seinen Helden durchleiden läßt, mußte sich das überkommene Verständnis als lebenskräftig bewähren, weil zum Überleben in Anstand tauglich, oder dem Vergessen anheim fallen, weil es das Leben verstellte. Aus Weisheiten der Altvorderen kristallisieren sich Wahrheiten, weil sie „Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit . . . , [des] Denkens" 71 in der Praxis beweisen. Das bindet Ediges Leben ein in die Gemeinschaft aller aneignenden Geschlechter, hebt es in ihre Tradition; das gibt seinem persönlichen Dasein einen Sinn, der im Leben der Gesellschaft, seines Volkes, seiner Familie wurzelt, verknüpft unlösbar sein eigenes Geschick mit dem seiner Mitmenschen und dem seines „unorganische(n) Leib(es)"72, der Natur, verleiht der Arbeit Größe, so bescheiden sie auch sein mag, weil sie im Bewußtsein von menschheitlicher Bedeutung getan wird. Das gibt der Persönlichkeit „innere" Festigkeit und kräftigt ihr Widerstands vermögen 318
in den wechselnden Situationen menschlicher Existenz, hindert resignativ-lähmende Folgen für die Handlungsfähigkeit. Aitmatows Forderung nach einer ganzheitlichen Weltsicht und Lebensführung, in der nichts isoliert für sich existiert und alles abhängt voneinander, ist und bleibt eine Herausforderung an „parzelliertes" Dasein, gesellschaftlich und persönlich, an die Verhältnisse und an das Verhalten.
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KAPITEL V I I
Erbe - Tradition - Aneignung. Neues Nachdenken über ein altes Thema
Ein Kapitel über Erbe und Traditionen hat in diesem Buch nicht nur deshalb einen Platz, weil uns der Begriff der Aneignung besonders häufig in Form der Komposita „Erbeaneignung" und „Traditionsaneignung" begegnet. Angesichts der bekannten Tatsachen, daß, erstens Erbe und Traditionen umfängliche und aufwendige gesellschaftliche Bemühungen gelten, zweitens Kunstwerke aus vergangenen Epochen einen großen, in manchen Kunstgattungen dominierenden Anteil der heute individuell rezipierten Kunst ausmachen und drittens Erbe und Traditionen auch in der aktuellen künstlerischen Produktion eine bedeutende Rolle spielen, muß danach gefragt werden, welche besonderen Beiträge Erbe und Traditionen zur Realisierung der Aneignungsfunktion von Kunst in allen ihren Dimensionen unter welchen Bedingungen leisten können. So einleuchtend es erscheinen mag, daß nur heutige Kunst auf die Fragen von heute Antworten geben könne, und so berechtigt das Streben von Künstlern erscheint, eben darum immer von neuem „modern" zu sein, den unverwechselbaren Stil für die eigene Zeit zu finden, usw. - die genannten Tatsachen belegen empirisch, daß auf bestimmte Fragen von heute auch Kunst, die nicht heute produziert wurde, erhellend zu antworten vermag. Dieser für die Aneignungsfunktion von Kunst fundamentale Sachverhalt kann hier natürlich nicht umfassend aufgearbeitet, sondern nur von einigen Punkten her angegangen werden.
Ein „traditioneller" Gegenstand Über das der sozialistischen Gesellschaft überkommene künstlerische Erbe, die aus ihm gebildeten Traditionen und ihre Aneignung ist nicht zufällig sehr viel geforscht und publiziert worden. Mit der 21 Feist
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Schaffung und Ausprägung sozialistischer Verhältnisse erreicht auch das Verhältnis der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten zu Erbe und. Traditionen aller Art eine historisch neue Stufe; bessere materielle Bedingungen, geschaffen durch sozialistische Nutzung der wissenschaftlich-technischen Revolution und die Intensivierung in der materiellen Produktion, umfassendere sozialpolitische Zielstellungen, das wachsende Forschungspotential und allgemeine Bildungsniveau, neue Formen der Kooperation mit anderen sozialistischen Ländern/ und viele andere Faktoren erweitern die objektiven und subjektiven Möglichkeiten der Aneignung vergangener Kunstleistungen. Denn diese ökonomischen, politischen und sozialen Entwicklungen verändern die Bedingungen und die' konkreten Formen der Kunstproduktion, -distribution und -rezeption, entwickeln neue Formen der Massenhaftigkeit von Kunstprozessen, tragen damit zur Ausbildung neuer ästhetischer Sensibilität bei. Historisch erstmalig können so auf breiter sozialer Grundlage differenzierte Leistungsmöglichkeiten von Erbe und Traditionen auf künstlerischem Gebiet im Interesse der werktätigen Massen hervorgebracht und entfaltet werden. Zu dieser historischen Leistung des Sozialismus zählt auch, daß er nicht nur die überlieferten materiell-technischen Grundlagen, Institutionen, Bezugsformen und Wirkungsebenen - wie z. B. die geschichtlich gewachsene Theater- und Museenstruktur - mit neuem, eigenem Inhalt nutzt, sondern auch neuartige Beziehungen zwischen ihnen schafft, was wiederum reichere Erbe- und Traditionsaneignungen möglich macht. Das gesellschaftliche Erbe- und Traditionsverständnis hat auf diesen Grundlagen neue Dimensionen erhalten Einseitigkeiten früherer Konzeptionen und Praktiken - die ihrerseits wiederum als Teil .von Erbe und Traditionen und nur historisch zu begreifen sind - wurden überwunden. Unsere Erbe- und Traditionsauffassung ist heute weiter und differenzierter als jemals zuvor. Lange ver'nachlässigte Teile der Kunstentwicklung, wie Romantik und Expressionismus, sind neu erforscht worden, es gelang insgesamt, eine vielschichtigere Sicht auf diese und andere Richtungen zu entwickeln und davon ausgehend neue Rezeptionsangebote für massenhaftindividuellen Umgang mit Erbe und Traditionen zu entwickeln. Es gibt daher heute ein großes, vielfältig gefördertes Interesse an ihnen Museen und Gedenkstätten werden jährlich von Millionen ausund inländischen Gästen besucht, Sonderausstellungen und Buchpublikationen zu internationalem und nationalem Kunsterbe sind sehr gefragt, viele Musik- und Sprechtheäter-Inszenierungen erfreuen sich
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großen Zuspruchs; vom Fernsehen ausgestrahlte Produktionen mit historischen Stoffen und Themen erst recht - solche Aufzählungen ließen sich beliebig fortsetzen. Das Gesamtangebot und seine Rezeption sind schwer zu überschauen. Das stellt nicht zuletzt die Kulturund Kunstwissenschaften vor einige Probleme. Aber auch diese können auf erfolgreichen Entwicklungen aufbauen. Ihrem gesellschaftlichen Auftrag gemäß, die Rolle des kulturell-künstlerischen Erbes im Sozialismus, die Geschichte der Künste, deren Traditionen, Errungenschaften und Erfahrungen und die in der internationalen und nationalen Kultur- und Kunstentwicklung wirksamen Gesetzmäßigkeiten und Triebkräfte zu erforschen, haben sie vieles dazu beigetragen, daß sich unser Bild unter anderem von vergangenen Kultur- und Kunstepochen, den Leistungsmöglichkeiten und der Aneignungsfunktion ihrer Hinterlassenschaften vervollständigte und differenzierte: sozialökonomische Hintergründe wurden ebenso ausgeleuchtet wie politische Umfelder, weltanschaulich-philosophische Positionen, ethische und ästhetische Fragestellungen, Gehalte, Strukturen und Funktionen von Werken und Werkgruppen. Diese Entwicklungskontinuität, dieser „Fortschritt" in Praxis und Theorie bei der Realisierung der Aneignungsfunktion von Kunst über historische Vorleistungen war und ist allerdings nicht widerspruchsfrei. So haben dem Sozialismus entgegenwirkende internationale ökonomische, politische und weltanschauliche Tendenzen nicht zu unterschätzende Auswirkungen auch auf die Erbe- und Traditionsaneignung; darunter der Einsatz großer Potentiale für die imperialistische Konfrontationsstrategie, begleitet von politisch-ideologischen Stabilisierungs- und Integrationsstrategien, die sich nicht zufällig auch erbe- und traditionsbewußt geben, um attraktiv zu sein. Aber auch im Innern der sozialistischen Gesellschaft wirken Faktoren in komplizierter Dialektik mit äußeren, die Erbe- und Traditionsaneignung nicht nur vielfältiger, sondern auch spannungsreicher machen: Ökonomische Prioritäten zwingen dazu, das Verhältnis von technisch-ökonomischem Aufwand und künstlerischem Nutzen z. B. beim Film neu zu bedenken, zwingen zu einem hohen Exportbewußtsein z. B. in der Buchproduktion mit Konsequenzen für das Inlandsangebot. Die Notwendigkeit der ständigen Hervorhebung der politischen Organisiertheit und der universellen Mobilisierung für den Frieden kann zu einer allzu geradlinigen Ausrichtung künstlerischer Produktion auf politische Kriterien hin und zu einer Verengung des Begriffs von sozialistischer Kunst und ihrer Geschichte
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führen. Die alltäglichen Leistungsanforderungen und ihnen entsprechenden Reproduktionsbedürfnisse erzeugen ein System von routinierten, spontanen Ansprüchen, selbstverständlichen Beschäftigungen, innerhalb dessen nicht nur die Rezeption sozialistischer Gegenwartskunst „ziemlich weit unten" 1 rangieren kann, sondern - aufgrund eines „enthistorisierenden Effekts" 2 solcher Alltagspartikularitäten - auch Erbe- und Traditionsaneignung. Der Umgang mit Erbe und Traditionen schließt daher notwendig viele Umwege, Verluste und absichtliche Preisgaben, Extreme wie geschichtslos-blinde Spontaneität und erstarrte Normative, Nostalgie und das Bedürfnis nach Lebensersatz ein. Der aktuelle Stellenwert von Erbe und Traditionen ist also realistisch, ohne Verklärung nur zu begreifen sowohl innerhalb einer scharfen internationalen Klassenauseinandersetzung als auch innerhalb nicht immer identischer Interessenkonstellationen in unserer Gesellschaft. Kollektive Verständigung, aufbauend auch auf wichtigem sozialistischem Wissenschaftserbe, über aktuelle, eng zusammenhängende Problemstellungen ist daher geboten. Das betrifft unter anderem die Weiterentwicklung einer dynamischen Begrifflichkeit von „Erbe" und „Traditionen", die sich nicht statisch allein auf ein Erbe großer Werke und deren „Pflege" (dieser landläufige Begriff hat nur begrenzte Bedeutung - etwa für die Bereiche der Gebäude- und Gemälderestauration) fixiert, sondern vor allem historische Wandlungen der Erbe- und Traditionsaneignung in ihrem ästhetisch-kulturellen Systemzusammenhang mitreflektiert; ferner die Gewinnung einer systematischen Übersicht über die verschiedenen gesellschaftlichen und individuellen Aneignungsebenen für Erbe und Traditionen, ihre Leistungspotentiale und Wechselbeziehungen, von den modernen elektronischen kulturellen Kommunikationstypen, den Massenmedien, bis hin zum kunstpraktischen Erbe- und Traditionsbezug in den einzelnen Gattungen und Genres und schließlich die Einschätzung und Förderung antiimperialistisch ausgerichteter Erbe- und Traditionsaneignung möglicher Bündnispartner im Kampf um Frieden und Abrüstung. Aneignung von Erbe und Traditionen - Erbe und Traditionen von Aneignungen. Zur Begrifflichkeit Einen „unübersichtlichen und heterogenen Eindruck" 3 hinterlassen die Diskussionen hierzulande nicht nur über einzelne Publikationen zu bestimmtem, z. B. „klassischem" literarischem Erbe und seiner tradi-
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tionsreichen Wirkung und Erschließung, sondern auch die über die Begriffe „Erbe" und „Tradition" selbst. Es ragen aus diesem schon recht umfangreichen theoretischen Erbe aber einige Versuche heraus, die langfristig weiterwirkende theoretische Tradition werden sollten. Gegenüber gewissem Wunschdenken, vereinfachenden Abstraktionen und Fetischisierungen wurden z. B. „Erbe" prononciert als „eine historisch veränderliche und sozial zu differenzierende Größe" 4 und „Tradition" als „eine Verhältnis-Kategorie, die auf geschichtliche Bewegung verweist" 5 , betrachtet; besonders wichtig erscheinen heute darüber hinaus - unter anderem angesichts der technisch-medial, durch moderne elektronische kulturelle Kommunikationstypen bewirkten Wandlungen in der ästhetischen Kultur - Hinweise auf das Wirken von Erbe und Traditionen in einem „Systemzusammenhang ästhetischer Kommunikationen" 6 ; darauf, daß ihre Aneignung ein umfassender „sozialer Vergegenständlichungs-, Verständigungs- und Reflektionsprozeß" 7 über Klassen- und Individualerfahrungen im Hinblick auf Weiterwirkung in der Lebenspraxis ist. Das lenkt den Blick auf die grundlegende Tatsache, daß in jeder Gesellschaft nicht nur ein Erbe von Kunstwerken und aus ihnen gebildeter Traditionen sowie ein Erbe und eine lange Tradition künstlerischer Selbstrechtfertigungen überliefert werden, sondern weitere Materialien, Mechanismen und Wertungen, die bis in die Gegenwart hinein die Historizität ästhetischer Wirklichkeitsbeziehungen mitbestimmen: - zeitgenössische Produktions- und Rezeptionszusammenhänge der Künste und deren soziale Funktionen; - künstlerische Gattungs- und Genregefüge; - künstlerische Produktionsverfahren, -materialien und -mittel; - künstlerische Wahrnehmungsweisen und deren technische Vermittlungen; - die in und mittels der Künste sich niederschlagenden sozialen Erfahrungswerte, Zielvorstellungen und Ideale von Epochen, Klassen, Generationen und Individuen und - ästhetisch-kunstwissenschaftliche und propagandistische Rezeptionsweisen und Interpretationsmaßstäbe. Wir gebrauchen daher die Begriffe „ästhetisch-künstlerisches Erbe" bzw. „ästhetisch-künstlerische Tradition", die nicht nur unseren Gegenstand - Kulturerbe und kulturelle Tradition auf künstlerischem Gebiet - 8 definieren, sondern auch jene grundlegende Geschichtlichkeit ästhetischer Realitätsbeziehungen mitreflektieren sollen: als Ein-
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heit der Historizität künstlerischer Produktion und der Historizität sozial-rezeptiver Gebrauchs- und Reflexionsweisen. Dabei sind keineswegs nur theoretische, sondern auch praktische Probleme bei der Aneignung von Kunsterbe und künstlerischen Traditionen bedacht. Überliefertes ist immer noch von vielen Überlagerungen ständig zu befreien, die Resultate von zurückliegenden, in ihren Aus- und Nachwirkungen nicht zu unterschätzenden, zum Teil harmonisierenden oder trivialisierenden Rezeptionsprozessen sind. Sorgfältig sind daher rezeptionsgeschichtliche Entwicklungen und durch sie manifeste Wertungen, Erbe und Traditionen also auch hinsichtlich des Umgangs mit Kunsterbe und -traditionen zu berücksichtigen: „Nichts ist da einfach unvermittelt unser, unbeeinflußt von der unmittelbar nach- und weiterwirkenden Erblast eines längeren Aneignungsprozesses schon durch die bürgerliche Gesellschaft". 9 Nichts ist da aber auch einfach unvermittelt „unser", unabhängig von jenem komplizierten Auseinandersetzungsprozeß zwischen bürgerlichen und sozialistischen Erbe- und Traditionsaneignungen, wie es Arbeiten z. B. über die Grundlegung der Erbe- und Traditionsauffassung der Arbeiterbewegung durch Marx, Engels und Lenin, die Diskussionen innerhalb der linken deutschen Sozialdemokratie, die Auseinandersetzungen unter Künstlern der Weimarer Republik und die „Expressionismus-Debatte" während des antifaschistischen Exils bewußt machen. 10 Und nichts ist da aber auch einfach unvermittelt „unser", unabhängig von lang anhaltenden Rezeptionsmustern verschiedensten Ursprungs, wie sie aktuell z. B. von populärwissenschaftlichen Vermittlungen immer wieder reproduziert werden, und solchen sich neu herausbildenden, zunächst z. B. auf wissenschaftlichem, kunstpraktischem und nicht zuletzt massenhaft-rezeptivem Gebiet. Es gibt genug Beispiele für zählebige Wertungen, die auf verschiedenen Ebenen einer „neuen Souveränität" im Umgang mit ästhetisch-künstlerischem Erbe und seinen Traditionen, einem Bemühen, auch lange verdrängte, komplizierte und extreme Kunstleistungen zum „Objekt historischer Kritik, nicht gegenwärtiger Aufregung" 11 zu machen, entgegenstehen. Sie verweisen unter anderem darauf, wie notwendig es ist, an die Aneignungsfunktion von Kunst auch im Hinblick auf Erbe und Tradition mit sicherem Differenzierungsvermögen heranzugehen.
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Differenzierung nach Aneignungsebenen In der wissenschaftlichen und kunstpropagandistischen Diskussion über sozialistische Aneignung von ästhetisch-künstlerischen Überlieferungen gibt es immer wieder Anzeichen dafür, daß sie an einer mangelhaften Unterscheidung der historisch entstandenen Vielzahl von Bezugs- und Wirkungsebenen dieser Aneignimg krankt, was unter anderem der Überschätzung der Wirksamkeit wissenschaftlicher und kunstpropagandistischer, aber auch kunstpraktischer Bemühungen auf diesem Gebiet Vorschub leistet. „Menschen, die nichts gelernt haben außer Sonette schreiben oder Sonette beurteilen, antworten auf die Frage, ob uns das Sonett auch heute noch etwas zu sagen habe, in den meisten Fällen mit Ja", schrieb dazu unlängst ein Zeitgenosse ironisch.12 Sollen Erbe und Traditionen weiterhin erfolgreich in Bewegung sein, bedarf es also auch in dieser Hinsicht differenzierter Anstrengungen. Die selektive, konkrete Beziehung zu ihnen, ihre Aneignung vollzieht sich nun einmal in jeder Gesellschaft auf mehreren Ebenen mit jeweils unterschiedlichen Regulatoren, Filtern, Vermittlungs- und Wirkungs-, also Aneignungsmöglichkeiten, mit jeweils anderen Determinanten, Faktoren und Umschlagtempi. Auch in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft werden - bei aller Übereinstimmung im Prinzipiellen, wie sie das Programm der SED in seinen kulturpolitischen Abschnitten formuliert - Erbe und Traditionen in veränderlicher und unterschiedlicher, arbeitsteilig-spezifischer Weise angeeignet. Im wesentlichen können dabei vier Hauptebenen unterschieden werden: die kultur-, kunst- und bildungspolitisch programmatische und praktische; die wissenschaftliche; die massenhaft individuellrezeptive und die kunstpraktische. Die kulturpolitische Ebene umfaßt wiederum mehrere wichtige Teilebenen: - die nationalen, regional oder lokal wirksamen staatlichen Institutionen, die hauptsächlich mit der Organisation und Leitung sowie der konzeptionellen Führung der Aneignung ästhetisch-künstlerischer Überlieferungen beschäftigt sind; - den internationalen Kulturaustausch auf der Basis zwischenstaatlicher und zwischen einzelnen Körperschaften geschlossener Abkommen sowie den organisierten Tourismus mit seinen vielfältigen kulturellen Aspekten, in denen Erbe und Traditionen unter anderem Informations- und Repräsentationsträger sind;
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- die nationalen Organisationen, Museen, Archive und wissenschaftlichen Gesellschaften, die sich mit Erbe und Traditionen beschäftigen und unter anderem populärwissenschaftlich-propagandistisch an deren gesellschaftlicher Aneignung beteiligt sind; - die Massenmedien (Fernsehen, Rundfunk, Schallplattenproduktion, Tages- und Wochenpresse, Verlagswesen, Dokumentär- und Spielfilmproduktion), in denen Erbe und Traditionen wesentliche Programmelemente und Gegenstände der öffentlichen Meinungsbildung sind; - die Schul-, Fachschul- und Hochschulbildung, die Erbe und Traditionen als Lehr- und Forschungsstoffe zum Gegenstand haben; - der staatliche, genossenschaftliche und private Kunsthandel, der gegenständliche ästhetisch-künstlerische Überlieferungen als Handelsobjekte vertreibt. Zur wissenschaftlichen Ebene gehören all jene Institutionen, Wissenschaftsdisziplinen und Fachgebiete, deren Gegenstand die Entwicklungsgeschichte der Künste und die ihrer ästhetisch-theoretischen Reflexion sind. Die wissenschaftliche Erschließung ästhetisch-künstlerischer Überlieferungen liefert wichtige theoretische Ausgangspunkte, Materialaufbereitungen und wissenschaftlich-methodische Programme für die Beschäftigung mit diesen auf anderen Aneignungsebenen der Gesellschaft, wobei sie selbst Bestandteil der historischen Auseinandersetzung ist. Ihre Aufbereitungs- und Vermittlungsleistungen sind zu unterscheiden nach der archivalisch-editorischen Bereitstellung von Quellen (z. B. in Lese-, Studien- und historisch-kritischen Textausgaben, Bibliographien, Katalogen, Musikalien usw.), der historisch-rekonstruktiven Erschließung des entstehungs- und wirkungsgeschichtlichen Zusammenhangs der Überlieferungen (z. B. durch entsprechende Dokumentationen und fachspezifische Interpretationen) und der im weiten Sinne kritisch vermittelnden weltanschaulichphilosophischen Neudeutung (z. B. in Überblicksdarstellungen und Monographien). Grundsätzlich formuliert die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ästhetisch-künstlerischen Überlieferungen in ihrer Gesamtheit immer den weltanschaulichen Hintergrund der Interessen, Bedürfnisse und Zielstellungen der jeweiligen herrschenden Klasse. (Daraus erklärt sich unter anderem auch die Bedeutung der frühen marxistischen Literaturgeschichtsschreibung für die Ausarbeitung der Grundlagen der Kunstpolitik der Arbeiterklasse Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland und anderen Ländern, zu einer Zeit, da sie noch nicht herrschende
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Klasse war und ihre Wirksamkeit nicht so umfassend auf verschiedenen Ebenen der Erbe- und Traditionsaneignung entfalten konnte.) Aus dieser Perspektive gewinnt der theoretisch-programmatische, der wissenschaftliche Bereich seine weltanschaulich-politische, seine kultur- und kunstpolitische Bedeutung in zweifacher Hinsicht: als theoretisches Instrumentarium der lebendigen Beziehung zu Erbe und Traditionen und als Instrumentarium der geistigen Auseinandersetzung innerhalb der Theorie, des nationalen und des internationalen Wissenschaftsbetriebes und der in ihm sich manifestierenden Klasseninteressen. Im kulturpolitischen und im wissenschaftlichen Bereich erfolgt daher auf entscheidende Weise die Herstellung des Zusammenhangs zwischen gesellschaftlichen Zielstellungen und der tatsächlichen Beschäftigung der Individuen mit ästhetisch-künstlerischen Überlieferungen auf den weiteren beiden, schon benannten Hauptebenen: - der massenhaften, sozial aber stets zu differenzierenden individuellen Rezeption, in der Erbe und Traditionen u. a. Unterhaltungs-, Bildungs- und auch Sammelobjekte sind, - und im gegenwärtigen künstlerischen Schaffen, für das ästhetischkünstlerische Überlieferungen ein unabdingbares Gedanken-, Motivund Formenreservoir bilden, damit auch ein Reservoir positiver Vorbilder oder abzulehnender Vorleistungen sowie von Maßstäben für die Bewertung der eigenen Neuproduktion. Kulturpolitische und wissenschaftliche Erschließungs- und Vermittlungsleistungen ermöglichen aber in vielerlei Hinsicht erst die umfassende gesellschaftliche Beschäftigung mit ästhetisch-künstlerischer Überlieferung, weil vor allem über sie Kunstwerke der Vergangenheit - ebenso wie die der Gegenwart - erschlossen, aufbereitet, verbreitet und zugänglich gemacht werden. In diesen Bereichen vollziehen sich daher auch entscheidende Veränderungen der Erbeund Traditionsaneignung, weil hier die Grundlagen für massenhafte Veränderungen in der Kunstrezeption geschaffen werden, damit auch Bedeutungszusammenhänge und Entfaltungsmöglichkeiten, die sich nicht zuletzt in der aktuellen Kunstproduktion niederschlagen. Auf der kulturpolitisch-programmatischen und -praktischen sowie der wissenschaftlichen Aneignungsebene stellen sich deshalb dann auch wesentlich die Verbindungen her zwischen der praktischen Erbe- und Traditionsaneignung durch Kunstrezipienten und Künstler, der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihr und den objek329
tiven, sich historisch wandelnden Bedingungen dieser Aneignungen; sie sind damit zugleich widerspruchsvolle Wirkungsebenen aller subjektiven - klassen-, schichten-, generations- und individualspezifischen - Erbe- und Traditionsaneignung in ihrem Zusammenhang mit der gesamtgesellschaftlichen Verarbeitung von ästhetischkünstlerischer Überlieferung. Somit akzentuiert gerade eine nach Aneignungsebenen differenzierte Betrachtung von Erbe- und Traditionsaneignung deren Bedeutung für die volle Entfaltung der Aneignungsfunktion von Erbe und Traditionen als kollektive Angelegenheit im Sozialismus. Kein anderes Ziel verfolgen wir auch, wenn wir im folgenden eine der für die massenhafte individuell-rezeptive und die kunstpraktische Aneignung von ästhetisch-künstlerischen Überlieferungen folgenreichsten Ebenen herausgreifen, die in der Erbe- und Traditionsdiskussion bisher nach unserem Eindruck nicht konsequent genug bedacht wurde: die der modernen kulturellen Kommunikationstypen, der Massenmedien.13 Hierbei „erben" wir selbst, denn wir greifen Anregungen auf, wie sie vor allem vom kunsttheoretischen Erbe Walter Benjamins (siehe dazu auch den Abschnitt „,Passagen' oder Durchblicke durch das 19. Jahrhundert"), ferner Bertolt Brechts und Hanns Eislers, von der Tradition der materialistischen deutschen Exil-Ästhetik der dreißiger Jahre ausgehen. Diese theoretischen Angebote reagierten kritisch u. a. auf das von Georg Lukäcs propagierte „Erbe"Modell von im Endeffekt ahistorischer Normativität (ein Modell, das allerdings wertvolle Beiträge zur marxistischen Erforschung der Literaturgeschichte nicht ausschloß), auf das lange wirksame „Dekadenz "-Konzept und auf Erscheinungen bloßer Defensivität gegenüber den traditionellen „Kulturgütern" und der mangelnden Differenzierung zwischen bürgerlichem und sozialistischem Humanismus, (z. B. auf dem Pariser Kongreß „Zur Verteidigung der Kultur" von 1935) innerhalb der antifaschistischen Bewegung. Die polemischen Äußerungen Benjamins, Brechts, Eislers und anderer gegen solche und ähnliche kunstpraktische und -theoretische Konzeptionen verwiesen energisch auf die Gefahren derartiger Einengungen des Verhältnisses der Arbeiterbewegung zur ästhetisch-künstlerischen Überlieferung und reagierten damit nicht zuletzt auch auf bündnispolitische Notwendigkeiten. Sie orientierten auf breite Erbe- und Traditionsaneignung unter mehreren wesentlichen Aspekten: auf der Grundlage der sich objektiv im internationalen Maßstab verändernden sozialen, technischen und künstlerischen Produktivität, denen 330
auch die Kunstproduktion der Arbeiterbewegung Rechnung tragen müsse, wenn sie - gerade angesichts der vom Faschismus auch durch kultur- und kunstpolitische Maßnahmen mit geschaffenen Ausnahmesituation - nicht Wirkungsmöglichkeiten auf bürgerlich-humanistische Intellektuelle verlieren wolle; auf der Grundlage des weltanschaulichen Gehalts und künstlerischen Werts vergangener, von der spätbürgerlichen Rezeption weitgehend verzerrter oder verdrängter ästhetisch-künstlerischer Traditionen (sowohl z. B. der deutschen Literatur des 18./19. Jahrhunderts als auch der internationalen Avantgarde des 20. Jahrhunderts und ihrer historischen Vorläufer), die im antifaschistischen Kampf politisch-operativ eingesetzt werden sollten, und auf der Grundlage der Auffassung, daß die politisch-ideologische Wirkung antifaschistischer Kunstproduktion in „funktionaler Abhängigkeit" 14 von der formalen Meisterschaft der Künstler und ihrer praktischen Orientierung auf die unmittelbaren Produzenten in der modernen Industrie, d. h., ihrer „Solidarität mit dem Proletariat" 15 stehe. Für unseren Zusammenhang sei im folgenden der technischmediale Aspekt dieses kunsttheoretischen Erbes aufgegriffen, der unterstreicht, daß Erbe- und Traditionsaneignung wie Kunstproduktion überhaupt als „menschliche Tätigkeit" gesehen werden muß, „als gesellschaftliche Praxis mit aller Widersprüchlichkeit, Veränderlichkeit, als geschichtsbedingt und Geschichte machend". 16
Medientheoretische Anmerkungen Umfassend ist die Bedeutung der im 20. Jahrhundert sich rasch entwickelnden, unter anderem auf neuartigen fotochemischen und elektroakustischen Technologien beruhenden integrativen Informationsträger wie Tonfilm, Farbfotografie, Schallplatte und Videoaufzeichnung und ihrer Anwendung in kulturellen Kommunikationstypen wie Illustriertenpresse, Rundfunk, Fernsehen, Lichtspielwesen, Videovertriebsnetzen usw. für den „akkumulativen Effekt kultureller Traditionen" 17 in der modernen massenhaften Kunstrezeption sowie in der aktuellen Kunstproduktion. Sie ergibt sich zunächst aus der Tatsache, daß diese Medien - über die Möglichkeiten des traditionellen, wenn auch unter anderem drucktechnisch perfektionierten Mediums Buch, auch des neuzeitlichen Taschenbuchs, hinaus - eine materielle Fixierung und Verbreitung vor allem optisch-akustischer Kunstproduktionen, Interpretationsleistungen und Wahrnehmungsweisen unabhängig von ihren 331
ursprünglichen räumlich-zeitlichen Entstehungs- und Wirkungszusammenhängen erlauben. Damit sind zugleich die Voraussetzungen dafür gegeben, daß überlieferte Kunstleistungen (Originalwerke wie Interpretationen) über tradierte Gattungs- und Genregefüge sowie über tradierte Institutionen wie Theater-, Ausstellungs-, Konzert- und auch Lichtspielwesen hinaus permanent in einen insgesamt erweiterten, auch internationalen gesellschaftlichen Gebrauchszusammenhang geraten, damit aber auch in qualitativ neue Rezeptionszusammenhänge, und auf neue klassen- und schichtenspezifische Kunstbedürfnisse treffen, die sich im kulturellen Alltag entfalten. Dieser nach wie vor von einem hohen Anteil körperlicher Arbeit, technikbetonter Fachbildung, beschränktem Freizeithaushalt und entsprechenden Reproduktionsbedürfnissen geprägte Alltag Werktätiger macht den übergreifenden Wirkungs- und Wertungshorizont auch der weitgehend technisch-medial, dominant durch Rundfunk und Fernsehen geprägten Erbe- und Traditionsaneignung aus. Es zählt nicht nur die durch die Medien bewirkte Erweiterung und Revolutionierung dieser Erbe- und Traditionsbeziehungen, sondern das, „was in die Kultur, in das Alltagsleben, in die Gewohnheiten eingegangen ist" (W. I. Lenin)18; auch umfassend technisch-medial angebotenes Kunsterbe wird erst dann Erbe, wenn lebendige Menschen in lebendige Beziehungen zu ihm eintreten, und diese Beziehungen werden primär durch ihre sozialen Bedingungen, durch ihre reale Existenz bestimmt und gewandelt. Die Entwicklung neuer, differenzierter ästhetisch-künstlerischer Bedürfnisse, auch solcher nach Erbe und Traditionen, vollzieht sich im Sozialismus nicht automatisch mit der Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen, also auch nicht automatisch mit der Erweiterung und Verbesserung des Angebots von modernen Bild- und Tonträgern. Mit diesen neuen Ausdrucks- und Vermittlungsformen ist jedoch die Möglichkeit der differenzierten, vergleichenden und daher tieferen Rezeption traditioneller Gegenstände und Methoden aus unterschiedlichen nationalen Entstehungs- und Überlieferungszusammenhängen geschaffen, unter anderem durch technisch problemlose, beliebig häufige Wiederholung von individuellen Rezeptionsvorgängen. Es verbietet sich daher sowohl die Überbetonung der technisch-medial erweiterten und revolutionierten Erbe- und Traditionsaneignung als auch die Überbetonung einer bloßen Standardisierung des sogenannten Publikumsgeschmacks, der „Massenbedürfnisse" etwa in
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Richtung auf Reichtum an Ereignissen, Handlungen und Charakterkollisionen.19 Die umfangreiche internationale Speicherung und vertiefte Aneignimg von wissenschaftlichen und künstlerischen Materialien, von historischen Werken und Wertorientierungen kann den Rezipienten ja auch dazu anregen, anhand großer Kunstleistungen der Vergangenheit kritisch vergleichend sein Verhältnis zu Kitsch und Kirnst in Vergangenheit und Gegenwart zu überprüfen. Die Bedeutung der neuen Medien ist umfassender und vielgestaltiger als es ihre Diskussion nahezu ausschließlich im Bannkreis „Massenkultur populäre Künste - Unterhaltung"20 bisher deutlich machen konnte; eine Diskussion, welche überdies Gefahr läuft, unter dem Vorzeichen sozialistischer „Massenwirksamkeit" den historischen Widerspruch zwischen „großer" („hoher") und „populärer" („niedriger") Kunst bloß zu verdoppeln. Die neuen Medien schaffen nicht nur einfach eine verstärkte Hinwendung zur individuellen Rezeption „massenwirksamer" wie auch „anspruchsvoller" Kunst - daß beides durchaus zusammengehen kann, bewiesen historisch schon Chaplin, B. Traven und Gershwin sondern auf der kulturellen Alltagsebene auch neue Anreize für die unmittelbare Rezeption von traditionellen Originalwerken, -Stoffen, -themen und -methoden in überkommenen kulturellen Kommunikationssystemen (Konzert, Theater, Ausstellung). Die Möglichkeit der beliebig häufigen individuellen Wiederholung, z. B. von Ton- und Bildaufnahmen, und die größeren Vergleichsmöglichkeiten von verschiedenen Interpretationsleistungen, z. B. auf musikalischem Gebiet, oder verschiedener Dramatisierungen und Verfilmungen desselben literarischen Werkes, von Kunstleistungen aus anderen nationalen Traditionszusammenhängen usw. bilden im Publikum zugleich neue Erwartungs- und Bewertungsmuster gegenüber Originalleistungen, z. B. in Theater und Konzert, aus. Gegenüber dem traditionellen Medium Buch wird das unter anderem technisch-medial neu bestimmte Auswahlverhalten des Kunstpublikums an Impulskäufen erkennbar, die vor allem vom Fernsehen, aber auch von Rundfunk und Lichtspielwesen angeregt werden, welche medienspezifische Adaptionen traditioneller literarischer Werke produzieren und verbreiten. Die neuartigen technisch-medialen Informations- und Ausdrucksträger, die Fülle des in der Kunst schon Gemachten, Bekannten und (vor allem durch Reproduktion) Verfügbaren, die Differenzierungen und Standardisierungen im weiträumigeren Auswahl- und Rezeptionsverhalten des Kunstpublikums und die neue Bedeutung, welche
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alte künstlerische Zeichensysteme durch die modernen kulturellen Kommunikationstypen erhalten, haben vielfältige Rückwirkungen auf die aktuelle Kunstproduktion. Diese selbst erfährt Wandlungen in ihrem unmittelbaren Produktionsfeld, z. B. in der Musik, durch zahlreiche neue technische Geräte, wie den Synthesizer und den Computer. Solche Entwicklungen verstärken in ihrer Gesamtheit, in ihrem Zusammenwirken auch den „Traditionsdruck" 21 auf den Künstler. Seine Originalität, sein Neurertum, seine Aktualität bei der Synthese oder Permutation von Formmitteln, von Personal- und Zeitstilen aus' dem Repertoire vorhandener Kunst haben sich innerhalb eines historisch neuartigen sozio-kulturellen Beziehungssystems, in welchem der Leser, Hörer oder Betrachter mit den Kunstwerken kommuniziert, zu bewähren. Der Kunstschaffende sieht sich aber nicht nur einem erweiterten und revolutionierten traditionellen kunstsprachlichen Material und einem von neuen Rezeptionsbedürfnissen auch im Hinblick auf Erbe und Traditionen geprägten Kunstpublikum gegenüber, sondern einem erweiterten und revolutionierten künstlerischen Gattungs-, Genreund Wertungsgefüge, damit auch einem neuen „Widerspruchsgefüge" zwischen überkommener und neuer „synthetischer Kunst" 2 2 , wie dem modernen Theater und dem Film, und vielfältigen Traditionen im Hinblick auf innerkünstlerische Wechselbeziehungen. Diese fußen aber letztlich ebenfalls auf einer „Grenzverwischung und Grenzüberschreitung" 23 zwischen traditioneller Kunst und aktuellem kulturellen Alltag. Verbunden mit der Internationalisierung der Kunstproduktion und -rezeption und neuen Gattungs- und Genrebeziehungen, sosehr diese auch durch nationale Traditionen und Neuproduktionen gefiltert werden, ist eine tendenziell zunehmende Abstraktion von traditionellen national-geschichtlichen Besonderheiten der Kunstentwicklung. Eine verstärkte Herausbildung von typisierten Gegenständen, Figuren und Methoden läßt sich deutlich beobachten z. B. in traditionellen Filmgenres wie dem Western, aber auch in „Kult"-Filmen und „Disco"Filmen neueren Datums. Solche Standards, wie sie von einem weltweit wirksamen Medienangebot - 50 Prozent aller auf dem Erdball gezeigten Filme stammen allein aus den USA - ausgehen, sind Ausdrucksformen einer zunehmenden Stildominanz nicht selten auf Kosten des Inhalts, welche unter anderem auf herkömmliche massenwirksame Muster der Werbefotografie und -filmproduktion zurückgeht. (Bis zu seinem 35. Lebensjahr hat jeder Amerikaner durch-
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schnittlich eine Million Werbespots gesehen.) Und diese Stildominanz bleibt wiederum langfristig nicht ohne Auswirkung auf die kunstpraktische Verarbeitung und die Rezeption traditioneller, z. B. „klassischer" Stoffe; offensichtlich auch hierzulande nicht, wie eine gewisse „Kinoromantik"24 mit „milderndem schönen Schein" 25 auf Kosten der Historizität zeigt. Auch die in den Medien zuweilen betriebene Propagierung eines an einem Modell vorindustrieller Natur-Idyllik gebildeten „Heimat"-Bewußtseins, eines heimattümelnden Provinzialismus und von Folklore auf der Grundlage der Auffassung, daß diese „insgesamt progressiv und aufhebenswert sei", die wiederum „zum Teil auf einer undifferenzierten Übertragung von Lenins Theorie von den ,zwei Kulturen' auf die Kultur der werktätigen Massen" 26 beruht, verweist auf unbewältigte Probleme. Natürlich lassen sich solche Verzerrungen und Vereinfachungen nicht primär auf „medientheoretische Blindheit"27 z. B. in der Wissenschaft zurückführen; sie stehen für eine Reihe von generellen Schwierigkeiten im Umgang mit Erbe und Traditionen auf mehreren Aneignungsebenen, und diese wiederum werden von einer Vielzahl komplizierter gegenwärtiger Entwicklungen auf ökonomisch-sozialem, politischem und kulturellem Gebiet hervorgerufen und sind nur komplex zu bewältigen. Eine Orientierung auf die sogenannten populären Künste28 reicht nicht aus. Vielmehr müßte es - zum Beispiel - darum gehen, mittels kulturhistorischer Fundierung das traditionsreiche und nach wie vor wichtige „Medium" Buch verstärkt „im Ensemble anderer alter und neuer Medien"29, in „bisher kaum oder wenig bekannte(n) Bereiche(n) des literarischen Lebens" 30 , wie der bibliographischen und Markt-Situation, zu analysieren, auch „miserabelste Kunsterzeugnisse ernst zu nehmen" in ihrem „inneren Zusammenhang"31 mit anderen Kunstproduktionen, also auch den anspruchsvollsten, und somit im historischen Rückgriff ein realistisches Bild von Wirkungen und Weiterwirkungen von Kunst in ihrer Aneignungsfunktion zu gewinnen. Stärker ist sicher auch die Problemstellung zu berücksichtigen, daß viele heutige Buchleser ihre erste Begegnung mit einem „klassischen" Drama über den Fernsehbildschirm vermittelt bekommen und ein Theater oder ein Literaturmuseum als ständige Fernsehzuschauer betreten. In Fragen, wie denen, welche Dimensionen eines überlieferten Schauspiels von der Kamera erschlossen werden und welche nicht, wie sich ein Museum auf den neuen Besucher einzurichten hat, wie die Erbe- und Traditionsaneignung in den nicht-
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verbalen Künsten sich vollzieht und was sie heute zu leisten vermag, liegt ein komplexes Forschungsprogramm beschlossen. Jener „missionarische Eifer" jedenfalls, der „die Gesamtbevölkerung vor allem zu regelmäßigen Lesern von Gedichten und Romanen" machen will, jene „Überschätzung des Lesens und der Literatur, die aus dem wertmäßig-hierarchisch genormten bürgerlichen Kunstsystem herrührt und die heutige Entwicklung der Medien und deren realen Gebrauch unterschätzt",32 muß der Vergangenheit angehören. Das ist um so mehr notwendig, als in ihrem Zusammenhang mit ökonomisch-politischen und sozialen Entwicklungen die von modernen ästhetisch-künstlerischen Informationsträgern und ihrer Anwendung in kulturellen Kommunikationstypen ausgehenden Entwicklungen zur Verschärfung der internationalen Klassenauseinandersetzung auf kulturell-künstlerischem Gebiet beitragen. Die durch sie international erweiterte und modifizierte Erbe- und Traditionsaneignung bedeutet aber nicht, daß die Aneignung von nationalem ästhetisch-künstlerischem Erbe und aus ihm gebildeter Traditionen in den Hintergrund treten muß: „Rein theoretisch kann man auf dem internationalen Filmmarkt ... alles kaufen, nur eins nicht: die Auseinandersetzung mit uns selber, mit unserer Geschichte sowohl wie den gegenwärtigen Prozessen der Ausbildung unserer Art zu leben."33
Bündnispolitische Aspekte Sozialistische Erbe- und Traditionsaneignung in Praxis und Theorie folgt der von Marx und Engels begründeten Auffassung von Geschichte, welche sich an ihrem objektiven tatsächlichen Verlauf, an ihrer gesamten Dialektik orientiert, sie als eine Geschichte von Klassenkämpfen versteht. Das bedeutet im sozialistischen Erbe- und Traditionsverständnis aber „keine Einengung", weshalb „das Wirken und das Vermächtnis all derer, die zum Fortschritt, zur Entwicklung der Weltkultur beigetragen haben, ganz gleich, in welcher sozialen und klassenmäßigen Verbindung sie sich befanden" 34 , angeeignet werden. Das gilt um so mehr angesichts neuer Anforderungen auf internationaler und nationaler Ebene: „Die Kontinuität der Beziehungen zum kulturellen und künstlerischen Erbe, der Wert der Traditionen muß sich in Gegenwart und Zukunft unter veränderten Bedingungen bewähren. Höhere Anforderungen ergeben sich nicht nur aus dem Kampf für den Frieden, gegen die Gefahr einer nuklearen Kata336
Strophe, sondern auch aus der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Im Kampf gegen die Kriegsgefahr, für Abrüstung ist ein Bündnis von Künstlern und Kulturschaffenden unterschiedlicher weltanschaulicher Position und ästhetischer Auffassungen notwendig und möglich."35 Geschichtliches, erbe- und traditionsbewußtes kritisches Denken muß sich daher heute in hohem Maße mit bündnispolitischem Denken verbinden. Das erfordert zugleich große Aufmerksamkeit für die Widersprüchlichkeit und Kompliziertheit der Bedingungen, unter denen potentielle Bündnispartner sich mit ästhetisch-künstlerischer Überlieferung auseinandersetzen. Schon die Konsequenzen, die sich für moderne Erbe- und Traditionsaneignung aus ihrer Erweiterung und Revolutionierung durch kulturell-künstlerische Kommunikationstypen ergeben, lenken die Aufmerksamkeit darauf, daß mit dem Prozeß der spätbürgerlichen „Umwertung aller Werte" seit dem 19. Jahrhundert, der Umfunktionierung von einst in anderen Zusammenhängen und aus anderen Perspektiven entwickelten und angeeigneten progressiven kulturell-künstlerische Überlieferungen keineswegs eine totale Verzerrung von Erbe und Traditionen verbunden ist. Das Verhältnis zu ihnen differenziert sich vielmehr auf den meisten Gebieten in seinen konkreten Formen, wobei nationale und regionale Unterschiede und auch Unterschiede zwischen den einzelnen Machtgruppierungen innerhalb der herrschenden Klasse selbst zu beachten sind. Das Spektrum der Erbe- und Traditionsbeziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft erweitert sich generell, nicht zuletzt durch die Entwicklung internationaler Austauschbeziehungen, des Bildungswesens, des Wissenschaftsbetriebes, der Massenmedien und damit neuer Grundlagen für massenhafte internationale individuelle Rezeption. Obwohl auch Kräfte mit prononciert antiimperialistischer Haltung nicht unabhängig und außerhalb von Markt-Kompromissen und stofflichgestalterischen Standards, welche unter anderem, von Medienkonzernen diktiert werden, produzieren können, entstehen immer wieder progressive und demokratische Haltungen, Tendenzen, Werke, Bücher, Filme und Musikstücke. Ihre Erbe- und Traditionsaneignung steht aber in einer spezifischen politischen Konstellation. Denn die Wirkungsstrategie auch eines antiimperialistischen Künstlers, wobei darunter nicht primär die verbal bekundete Absicht, sondern die Organisation des Werkes und ihre Wirkungsfunktion zu verstehen ist, hat sich gegenüber der potenzierten Gefahr imperialistischer Integra-
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tion zu bewähren: „Dichtungen, die in ihren ursprünglichen Kommunikationsverhältnissen einen revolutionären Charakter hatten, können, wie die Geschichte lehrt, auch von einem nicht-revolutionären und sogar revolutionsfeindlichen Publikum mit Genuß und Zustimmung aufgenommen werden, ohne daß ihr originärer Sinn als verpflichtend für den Charakter der Aneignung empfunden wird." 36 Denn der bürgerliche Kultur- und Kunstbetrieb vermag auch Kunstleistungen der Arbeiterbewegung zu integrieren, deren Traditionen bis hin zur revolutionär-demokratischen und utopisch-sozialistischen Sozialtheorie und Kunstproduktion eingeschlossen; selbst lange verdrängte Traditionen, wie die deutsche radikale Aufklärung mit ihrer Fülle antibürgerlicher Denkansätze, werden neu entdeckt und erschlossen. Viel wird ferner unternommen, um museal-repräsentativ der kapitalistischen Gesellschaft der Gegenwart „Würde" zu verleihen und kulturelle Stimuli zu geben, eine massenwirksame Scheinperspektive zu stützen, aus dem Blickwinkel der Fiktion einer „einheitlichen deutschen Kulturnation" zahlreiche „Gemeinsamkeiten" bürgerlicher und sozialistischer Gesellschafts- und Kunstentwicklung aus der geschichtlichen Vergangenheit zu begründen, dabei aber angesichts der Krise des Kapitalismus immer den Sozialismus als noch schlechter erscheinen zu lassen.37 Besonders wirksam sind solche Entwicklungen gerade in der aktuellen Kunstproduktion, deren vielschichtiges und zahlreichen „Moden" unterworfenes Aneignungsspektrum schwer zu überschauen ist: Neben zahlreichen inhaltlich und formal traditionellen bürgerlich-humanistischen Tendenzen zeigen sich hier auch solche gewaltsamer Variation und Kombination historischer Stoffe, Themen, Techniken usw. in der Annahme, daß in überkommenen Werken kunstgeschichtlich erstmalig die „Fragwürdigkeit" menschlicher Existenz sinnliche Gestalt angenommen habe, „Krisenbewußtsein" erstmals in apokalyptischer Vision erfaßt worden sei. Die Rolle besonders wirksamer Bereiche wie der modernen Massenmedien ist hier wiederholt zu unterstreichen. Die zahlreichen Beispiele voller Heterogenität für die offensichtliche Erweiterung und Modifikation der Erbe- und Traditionsaneignung im modernen imperialistischen Kunstbetrieb und der von ihm weitgehend beherrschten Kunstproduktion zeigen nicht nur die „Vermarktung" des Kulturgutes, sondern den veränderten Stand der technischen Produktivkraftentwicklung und damit entscheidender Voraussetzungen des künst-
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lerischen Produktions-, Verbreitungs- und Rezeptionsvermögens; außerdem wird hier wie in jeder Gesellschaft überkommenes Material zur Darstellung der eigenen Epochenproblematik verwendet. Das alles offenbart zugleich in seiner komplizierten Dialektik, daß die Ausweitung des Aneignungsspektrums vergangener Kunst in der modernen imperialistischen Gesellschaftsordnung nicht notwendig Zeichen zunehmenden objektiven Gewinns an sozialer Bedeutsamkeit, zunehmender Souveränität künstlerischer Produktion ist. Auch noch so „freier", „liberaler" Gebrauch überkommener Stoffe und Materialien kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß er in Wirklichkeit überwiegend Ausdruck des Verlustes sozial wesentlicher Gehalte ist und der darauf beruhenden, ständig genährten Illusion einer „unbeschränkten Freiheit des rezipierenden Subjekts, das die für seinen effektiven und normativen Haushalt notwendigen Traditionsstücke ebenso frei wählt wie die ihm zur Verfügung stehenden Aneignungsweisen". 38 Die Berücksichtigung solcher Entwicklungen in der westeuropäischen Kulturlandschaft ist für uns nicht zuletzt deshalb wichtig, weil sie das Hinterland bilden für eine Reihe von Aktivitäten tendenziell, zum Teil prononciert antiimperialistischer Kräfte mit liberal-demokratischem oder marxistischem Denkhorizont und Handlungskonzept auf dem Gebiet der Aneignung historisch-politischer und ästhetisch-künstlerischer Traditionen. Zahlreiche dieser Kräfte beziehen sich in ihrem Kultur- und Kunstverständnis, ihrer künstlerischen und wissenschaftlichen Praxis auf verschiedene Phasen und Gestalten der europäischen Kultur- und Kunstgeschichte, insbesondere auf demokratische und sozialistische Traditionslinien, und vollbringen wertvolle Aneignungsleistungen. Eine unkonventionelle Essaysammlung zur Weimarer Klassik z. B. hob den Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz hervor als „am Beginn moderner Schreibweisen" stehend, „denen das Ganze das Unwahre ist", 39 und stellte unter anderem fest: „Erst heute . . . ist ein breites Bewußtsein davon im Entstehen, daß es gefährlich sei, zu übersehen, wie das Getöse politischer Scheinkämpfe die wirklich weichenstellenden Entwicklungen überdeckt." 40 Für Bemühungen um ein kritisches gesellschaftliches Bewußtsein werden als wichtige Traditionsfelder auch Werke von Autoren aus dem antifaschistischen Exil wie Walter Benjamin herangezogen, oft zugleich in Auseinandersetzung mit ihrer „entpolitisierenden Neutralisierung" durch die „(Groß-)Kritik der Medien." 41 Hier wollen demokratische Kräfte unterschiedlicher Richtung nicht 22»
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nur an „Geschichte", an zum Teil „revolutionäres Erbe erinnern", 42 sondern zugleich kritisches „Nachdenken über die Kultur und den neuzeitlichen Stil unseres Jahrhunderts" 43 befördern. So heterogen das Erscheinungsbild auch sein mag, selbst im Denkhorizont einzelner Personen (mit „Geschichtsbewußtsein, Hedonie und Anarchismus" umriß 1984 z. B. Klaus Wagenbach sein Verlagsprogramm)44 - es geht hier um Versuche, über Erbe- und Traditionsaneignung Gegenkonzepte zur imperialistischen Hochrüstung und Konfrontationsstrategie, zur Krise des bürgerlichen Parlamentarismus, zum Abbau demokratischer Rechte und zur imperialistischen Vereinnahmung der Künste und Kunstwissenschaften zu entwickeln und ein neues Funktionsverständnis zu diskutieren. Peter Weiss' „Kunstaufnahme gegen den Strich" 45 in seiner „Ästhetik des Widerstands" faßt solche Motive zusammen. Von einem „ebenso differenzierten wie komplexen Verständnis der literarischen und kulturellen Linken" sind wir auch in erbe- und traditionetheoretischer Hinsicht „durchaus noch entfernt". 46 Es muß daher auf allen Ebenen der Aneignung ästhetisch-künstlerischer Überlieferung im Sozialismus auch darum gehen, unter anderem mit Hilfe gründlicher Erörterungen internationaler Zusammenhänge und Entwicklungen, der Ausprägung und Anwendung eines „internationalistischen Realismusbegriffs" 47 (Manfred Wekwerth) ein historisches Problembewußtsein zu schärfen, bündnispolitisches Denken weiterzuentwickeln in der Auseinandersetzung mit Positionen, die als Denkmodelle potentieller Bündnispartner in der Krieg-FriedenGrundsatzfrage unserer Epoche einer kritischen Rezeption bedürfen.
Kunstpraktische Erbe- und Traditionsaneignung Integration und Modifikation. Versuch einer Systematisierung Angesichts der umfassenden Bedeutung aktueller internationaler Entwicklungen auf ökonomischem, sozialem, politischem und kulturellem Gebiet, der forcierten internationalen Klassenauseinandersetzungen und der Wirkungen der modernen kulturell-künstlerischen elektronischen Kommunikationstypen in diesem Horizont erscheint es zunehmend als ein Wagnis, Erbe- und Traditionsaneignung konzentriert aus der Perspektive von künstlerischer Individualität und Originalität zu erhellen.48 Diese Entwicklungen machen ja gerade soziale
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Stellung und Epochensicht, soziale und geistige Interessen, gesellschaftliche Erwartungen, die massenhaft veränderten Wahrnehmungsund Rezeptionsweisen, deren technische Vermittlung, kollektivarbeitsteilige geistige Produktion, das historisch entwickelte und sich weiter entwickelnde Gattungs- und Genregefüge als entscheidende Faktoren kunstpraktischer Aneignung von ästhetisch-künstlerischem Erbe und aus ihm entstehender Traditionen bewußt. Aber die aktuelle Bedeutung, die Verwertbarkeit und die Verwertung von Erbe und Traditionen wechselt nicht nur von Epoche zu Epoche, sie differiert auch im Hinblick auf die konkreten Personen, die mit ihnen etwas anfangen sollen und müssen; daher besteht die Notwendigkeit, hinsichtlich der subjektiven Seite zu untersuchen, unter welchen konkreten individuellen Bedingungen der Kunstproduzent für die eigene Produktionsweise aneignet und dabei Schwierigkeiten subjektiv zu bewältigen hat, die ihm niemand abnehmen kann. Schon Marx und Engels proklamierten nicht die totale Reduktion der künstlerischen Produktion auf ökonomische Bedingungen und Strukturen, sondern betonten, daß sie „wirklich freie Arbeit" 49 sei, gleichsam als ein Modell freier menschlicher Tätigkeit gelten könne und auch nach „eignem Kunstbedürfnis"50 erfolge; die Ökonomie bestimme zwar die „Art der Abänderung und Fortbildung des vorgefundenen Gedankenstoffs", aber „meist indirekt".51 Welchem ästhetisch-künstlerischen Erbe, welchen ästhetisch-künstlerischen Traditionen, welchen Vorbildern sich der Kunstproduzent zuwendet oder nicht, von welchen Vorleistungen er sich abstößt, hängt von einer Vielzahl weiterer, individueller Faktoren ab: seiner besonderen Erlebniskonstitution, seiner individuellen Ausdrucksund Wirkungsabsicht, häufig im Zusammenhang mit biographischen Wendepunkten, seiner individuellen Produktionsweise mit bevorzugten Gegenständen und technischen Mitteln. Über diese individuellen Regulatoren und Filter realisiert sich zunächst der auswählende Objektbezug im Hinblick auf Erbe und Traditionen, dabei im einzelnen unter anderem auf Ideen und Handlungskonzepte, Stoffe, Themen, Werke oder Werkteile (Figuren, Formen, Motive, Sujets, Motti usw.) entweder aus dem Schaffen anderer Künstler oder aus dem eigenen. Weiterhin realisiert sich über die oben genannten individuellen Schaffensmomente der auswählende Bezug auf künstlerische Methoden und Techniken, entweder aus der vorangegangenen Kunstproduktion in der eigenen Gattung oder aus der anderer Gattungen. 341
Von den genannten Schaffensmethoden ist schließlich entscheidend der verarbeitende Erbe- und Traditionsbezug bestimmt, der im wesentlichen über zwei Hauptmethoden erfolgt: - eine die traditionellen Objekte bzw. Techniken im wesentlichen nicht verändernde Integration bzw. Anwendung in/auf neue Werkund Sinnzusammenhänge (integrierende Aneignung), häufig in der Form der (verfremdenden) Montage bzw. Collage; - eine die traditionellen Objekte bzw. Techniken zumeist wesentlich yerändernde Bezugnahme auf sie, parallelisierend-nachahmend oder kontrastierend (modifizierende Aneignung). Hierbei werden vielfältige Bezugs- und Wirkungsformen genutzt, die historisch bereits verfestigt sind, wie Adaption (die vollständige Neubearbeitung eines überlieferten Werkes, seine Anpassung an die moderne Rezeptionsweise bzw. eine andere Gattung), Parodie (die übertreibende Nachahmung eines zumeist „ernsten" Werkes unter Beibehaltung seiner ursprünglichen Gestaltung, doch mit kontrastierendem Inhalt), Persiflage (die nachahmend-ironische Verspottung von Werken und Methoden), Travestie (die satirische, ins Lächerliche ziehende Verspottung eines „ernsten" Werkes, bei welcher der Inhalt beibehalten, ihm aber eine andere Gestaltung gegeben wird), Paraphrase (die zumeist erläuternde Umschreibung eines überlieferten Werkes), Reminiszenz (das erinnernde Zitieren zumeist kleiner Teile überlieferter Werke oder Werkgruppen), Imitation (die Nachahmung eines Werkes oder einzelner Elemente durch eigene Anpassung an seine Gestaltung) und Variation (die Abwandlung eines Themas in verschiedenen Ausführungen). Diese wesentlichen Varianten der Beziehung eines Künstlers auf andere Künstler und deren Werke und Methoden kannte bereits die antike Rhetorik; sie hatten und haben daher nicht nur für die künstlerische Produktion Bedeutung. Das 'gilt ebenso für eine Vielzahl weiterer Verfahren, wie Anspielung, Allegorisierung, Archaisierung, Assoziation, Historisierung, Hyperbolisierung, Dissoziation, Personifikation, Simultanisierung. Der Künstler kann also unverändert eine Vielfalt von bestimmten überlieferten Objekten und Methoden aufnehmen, sie seinem Werk integrieren, sie dabei umfunktionieren; er kann sie aber auch verändernd übernehmen. Ihre neue Bedeutung erhalten diese aber nur als integrierte Bestandteile des neuen, sowohl in Abhängigkeit von der Erbe- und Traditionsvorgabe als auch im freien Umgang mit ihr geschaffenen Werkes. Immer spiegeln das individuelle oder kollektive
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Neuwerk, das Thema und seine Gestaltung eine aktuelle soziale Problematik - je nach Gattung, Genre, Produktionsweise mehr oder weniger direkt. Daher können von der künstlerisch-praktischen Erbeund Traditionsaneignung entscheidende Impulse für diese Aneignung auf anderen kulturellen Ebenen der Gesellschaft kommen: in Form von subjektiv-schöpferischen, sinnlich-gegenständlichen Beiträgen zur Erschließung neuer Erfahrungsbereiche und -möglichkeiten menschlicher Produktivität in der geschichtlichen Bewährung, zur Erweiterung der individuellen Rezeptionsfähigkeit, zu einem kultur- und kunsthistorisch vertieften Verständnis für aktuelle internationale Wechselbeziehungen, zur historischen Dimensionserweiterung, Bereicherung der alltäglichen Lebenspraxis, zur Ausbildung einer sozialen Phantasie, die historisch-kritisch „Gegenwärtiges durchforscht, Zukünftiges entwirft und von jenem zu diesem Wege erkundet". 52 Ob und wie diese Impulse aufgenommen und verarbeitet werden, entscheidet allerdings nicht allein die Rezeptionsvorgabe des Kunstproduzenten, sondern die Weise der Aneignung beim realen, gegenwärtigen Rezipienten. Ihm kann z. B. eine die „Historizität" betonende, „werkgetreue" kunstpraktische Erbe- und Traditionsaneignung näher sein als eine mehr auf „Aktualität" zielende, „modernisierte" - und umgekehrt. Friedo Solter als Vertreter einer gegenüber der manches oft vereinfachenden Formel „Historizität und Aktualität" (oder „Traditionalität und Neuerertum") besonders sensiblen Gattung schrieb zur Fragestellung, ob es bei einer Neuinszenierung von „Torquato Tasso" mehr um „das Biographische Goethes", den „historischen Tasso" oder „einen DDR-Tasso" gehen müsse: „Eine Aufführung lebt aus dem Widerspruch zwischen der Gegenwart des Autors, unserer Gegegenwart und der Zeit, in der das Stück spielt. Diese drei Ebenen verhalten sich wie drei Spiegel, die zueinander aufgestellt sind. Welchen Spiegel bevorzugen wir? ... Obwohl wir keinem der drei Spiegel für sich Existenzberechtigung geben, kann und muß einer von ihnen akzentuierter als die anderen beiden erscheinen. So ist auf jeden Fall, wie gebildet oder auch ungebildet das Publikum ist, das Problembewußtsein der Gegenwart immer die wichtigste, bevorzugte Assoziationsquelle für die Leute im Zuschauerraum. Es fragt sich nur: Wie sehe ich die Gegenwart?" 53
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Produktives Erben in der Musik. Ein Gespräch über Bäume Der Lindenbaum Am Brunnen vor dem Thore Da steht ein Lindenbaum: Ich träumf in seinem Schatten So manchen süßen Traum. Ich schnitt in seine Rinde So manches liebe Wort; Es zog in Freud' und Leide Zu ihm micht immer fort. Ich mußt' auch heute wandern Vorbei in tiefer Nacht, Da hab' ich noch im Dunkel Die Augen zugemacht. Und seine Zweige rauschten, Als riefen sie mir zu: Komm her zu mir, Geselle, Hier findst du deine Ruh'! Die kalten Winde bliesen Mir grad' in's Angesicht, Der Hut flog mir vom Kopfe, Ich wendete mich nicht. Nun bin ich manche Stunde Entfernt von jenem Ort, Und immer hör' ich's rauschen: Du fändest Ruhe dort! Wer hat es nicht schon selbst gesungen jenes Lied, das - wie kaum ein anderes - zum Standardrepertoire deutschen Chorgesangs gehörig, keinem Anlaß sich entzieht, um als etwas „besonders und exemplarisch Deutsches"54 die Gemüter des im Takte und verklärten Blicks mitschwingenden Publikums zu ergreifen?
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Wen übermannt nicht Rührung, wenn just „Der Lindenbaum" von ,fremden Menschen und Ländern' herüberschallt als hochherzige Reverenz vor der holden deutschen Kunst? Der sympathisch vereinnahmende gebrochene Sprachklang zur allbekannten Melodie - wer schämt sich da noch seiner Tränen? Bekannt ist das Lied in Franz Schuberts musikalischer Ausformung, Popularität jedoch erlangte es in Friedrich Silchers vermeintlich volkstümlicher Chorfassung, die allzuoft und bedenkenlos - obwohl nur matter Abglanz - für das Original gehalten und auch ausgegeben wird. Jenseits dieses musikästhetischen Fehltritts des auch so männergesangsvereinssüchtigen vorigen Jahrhunderts wollen wir uns der Rezeptions- und Aneignungsgeschichte dieses Liedes widmen, dessen Dichter vor dem Schicksal des Vergessenwerdens kaum hätte bewahrt werden können, wären aus seinen Versen nicht Schubertlieder geworden. Wilhelm Müller (1794-1827) veröffentlichte seinen vierundzwanzig Gedichte umfassenden Zyklus „Die Winterreise" zum ersten Male vollständig im zweiten Band der „Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten" 1824 bei Ackermann in Dessau; das fünfte jener Gedichte ist das vom Lindenbaum. Drei Jahre später vertonte Franz Schubert (1797-1828) diese Verse und veröffentlichte seine Komposition bei dem Wiener Verleger Tobias Haslinger. Neben den überaus zahlreichen Vertonungen einzelner Gedichte aus dem Winterreise-Zyklus55 liegt seit 1984 eine zweite vollständige Komposition des Zyklus vor, deren Autor Reiner Bredemeyer (geb. 1929) ist. Zwei Komponisten, der eine Zeitgenosse des Dichters, der andere Zeitgenosse von uns, fühlten sich aus vermutlich nicht nur unterschiedlichen Gründen veranlaßt, Müllers Gedichte ohne fremden Auftrag musikalisch zu präsentieren. Eine „Vertonung dokumentiert, wie der Komponist das Gedicht verstanden hat; sie ist ein in Musik geronnenes Verstehen des Gedichts, ein Verstehen von Kunst durch Kunst".56 Folgen wir dieser These von Hans Heinrich Eggebrecht, und fragen, wie verstehen die Komponisten den Text oder genauer: welches Textverständnis ist in der Musik geronnen? Zu fragen ist nach dem, was durch kunstproduktive Aneignung von Kunst (die Gedichte Wilhelm Müllers) für den musikalischen Aneignungsprozeß (die Kompositionen) gewonnen wurde, wie die spezifische Aneignung des Angeeigneten zu einem jeweils unverwechselbaren, einmaligen Gebilde führte, wie im
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Gedicht und den Kompositionen auch Lebensaneignung künstlerischen Ausdruck findet. Für Schubert waren die Müllerschen Gedichte Gegenwartslyrik, und sein Blick auf die Texte ist der des Zeitgenossen. Bredemeyer hingegen sah sich durch literarisches Erbe und darüber hinaus durch musikalisches Erbe (in Gestalt von Schuberts op. 89), seine Interpretations- und Rezeptionsgeschichte herausgefordert. Jenseits ehrgeiziger Überbietungsabsichten ging es Bredemeyer darum, sein Verstehen dieser Texte, deren Qualität schon Heinrich Heine rühmte, 57 und die ganz ohne Zweifel zu des Dichters besten gehören, sinnfällig werden zu lassen. Bevor eine Annäherung an die aufgeworfenen Fragestellungen versucht wird, befragen wir zunächst den Text. Ließe sich Müllers Gedichtzyklus auf eine Geschichte reduzieren, sie wäre rasch erzählt: Fluchtartig verläßt ein junger Mann die Stadt, in der das geliebte Mädchen zu Hause ist. Das einst von der Mutter des Mädchens gegebene Ehe versprechen („Das Mädchen sprach von Liebe,/Die Mutter gar von Eh'" - „Gute Nacht", Nr. 1) wurde zugunsten eines sozial Bessergestellten annulliert. Während der Flucht bedenkt der junge Mann seine Situation und erinnert reale oder geträumte Begebenheiten. Wegstationen (Wegweiser, Totenacker, Haus des Köhlers), Naturereignisse (Rauhreif, ein stürmischer Morgen, das Irrlicht, die Nebensonnen) oder alltägliche Vorgänge (das Spiel der Wetterfahne, das Ertönen des Posthorns) werden zum Anlaß immer wieder neu einsetzender Selbstbefragung. Die Flucht beginnt in einer Winternacht und dauert an bis zum nächsten Tag, an dem der Flüchtling einem Leiermann begegnet, mit dem er gemeinsam weiterzuziehen erwägt. Der Weg des Flüchtenden führte vorbei „Am Brunnen vor dem Thore". Unter dem Lindenbaum - so erinnert er sich - geriet er oftmals ins träumen und schnitt in dessen Rinde „so manches liebe Wort". Wann immer er sich in emotionaler Erregung befand (Freude, Leid), begab er sich zu diesem Baum. In jener Fluchtnacht ist es stürmisch, so daß ihm der Hut vom Kopfe fliegt; er hebt den Hut nicht auf. Die Augen schließend, hört er die blätterlosen Zweige rauschen, zuerst (in der vierten Strophe) in Erinnerung an die Vergangenheit und später noch einmal (in der sechsten Strophe) als fiktive Wahrnehmung in der gegenwärtigen Situation. Erschreckend ist die Nüchternheit unseres Berichts, der Faktenbefund eher karg; beachten wir eine zweite, den Sinnbefund erschließende Ebene und folgen Günter Hartungs Interpretation des
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Gedichts: „... Die kalten Winde beginnen nicht plötzlich zu blasen, sondern der Wanderer wird, heraustretend aus dem Stadttor, unerwartet vom Windsturm erfaßt, der ihn von vorn anfällt und ihm den Hut vom Kopf reißt. Der ,Hut' wirkt etwas auffällig, fast wie ein Fremdkörper im intendierten Volkslied. Auch zur Goethezeit markierte er im Unterschied zu Kopfbedeckungen wie ,Mütze' (norddeutsch) oder ,Kappe' (überwiegend süddeutsch) einen gehobenen gesellschaftlichen Stand seines Trägers. Daß Wilhelm Müller ein Klassenzeichen des Wanderers im Auge hatte, läßt sich damit belegen, daß er bei volkstümlichen Rollengedichten andere Wörter einsetzt ... Der Wanderer der,Winterreise' befindet sich auf dem sozialen Niveau seines Dichters, ist ein Bürger, der das Bürgertum verläßt; daher mutet es fast gleichnishaft an, daß ihm beim Eintritt in die unzivilisierte Natur der Hut vom Kopf gerissen wird und in die Stadt zurückfliegt."» Wilhelm Müller, Sohn einer Dessauer Handwerkerfamilie, sammelte seine politischen Erfahrungen als Freiwilliger in den antinapoleonischen Befreiungskriegen, als Student der Philologie an der Berliner Universität und als eifriger Diskutant in den literarischen Salons der preußischen Metropole, als bildungshungriger Reisebegleiter des Barons von Sack (nach Wien und Italien) und seit 1819 wieder in Dessau, als Gymnasiallehrer und Bibliothekar der Herzoglichen Bibliothek, als Literaturkritiker, Rezensent und Herausgeber, als - nolens volens cleverer Streiter mit den Zensurbehörden, deren Einmischung namentlich nach den Karlsbader Beschlüssen (1819) - immer mehr „Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit" verursachten. Trotz oder gerade wegen seiner Begeisterung für den nationalen Befreiungskampf des griechischen Volkes, verklärte sich der nüchterne Blick des Dichters auf die politisch restaurativen, bedrückenden Zustände in seinem Land nicht im Schleier unrealistischer Hoffnungen. Was er 1820 seinem schwedischen Freund Daniel Amadeus Atterboom mitteilen mußte, war gültiger denn je: „... denn die große Fastenzeit der europäischen Welt, der Marterwoche entgegensehend und harrend auf Erlösung, verträgt kein gleichgültiges Achselzucken und keine flatterhaften Vermittelungen und Entschuldigungen. Wer in dieser Zeit nicht handeln kann, der kann doch ruhen und trauern."59 Kehren wir zurück zum Lindenbaum. Der vom Kopf fliegende und zurückbleibende Hut demonstriert symbolisch den Bruch des Bürgers mit seiner Gesellschaft, deren Gesetze und Konventionen anzuerkennen er nicht mehr imstande ist. („Dem Bürger fliegt vom spitzen
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Kopf der Hut" - mit dieser Zeile wird neunzig Jahre nach dem Lindenbaum-Gedicht Jakob van Hoddis sein Gedicht „Weltende" beginnen!) Das ,Ich' der „Winterreise" befindet sich in einer hoffnungslosen Situation; nicht einmal Träume vermögen darüber hinwegzutäuschen: „Ich bin zu Ende mit allen Träumen" („Im Dorfe", Nr. 13). Selbst der „Frühlingstraum" (Nr. 21) wird zum Zeugnis größter Hoffnungslosigkeit, denn an dieser Stelle hat ein Tagtraum dem ,Ich' zumindest zu rationaler Klarheit über seine fatale Situation verholfen. Nur einer Zeile bedurfte es, um dieses zu benennen: „Wann grünt ihr Blätter am Fenster?" An das Eintreten eines faktisch nicht möglichen Geschehens wird die Abwendung der Situation gebunden. Wenn Unmögliches zur Conditio sine qua non erhoben wird, müssen daran geknüpfte Hoffnungen zur trügerischen Illusion verkommen. (Wir erinnern hier das alte Volkslied aus dem 16. Jahrhundert „Und in dem Schneegebirge"; da heißt es zur vergleichbaren Situation in der dritten und vierten Strophe: „... wann kommst du aber wieder, / Herzallerliebster mein?" / „Wenn's schneiet rote Rosen / und regnet kühlen Wein.") „Der Blick auf die ,Winterreise' insgesamt sollte Verständnis dafür schaffen, daß die romantischen Leitmotive der Ruhe, des Schlafs, des Traumes hier nicht Ideale, sondern Objekte der Überwindung sind." 60 Unmittelbar auf den „Frühlingstraum" folgt das Gedicht „Einsamkeit" mit seinem radikalen Schlußbekenntnis: „Ach, daß die Luft so ruhig! / Ach, daß die Welt so licht! / Als noch die Stürme tobten, / War ich so elend nicht." Diese unmißverständliche Absage an die „erste Bürgerpflicht", gereift über mehrere Stationen („Will dich im Traum nicht stören, / Wär Schad' um deine Ruh'" / /„Ich bin zu Ende mit allen Träumen Was will ich unter den Schläfern säumen?"), führt nun, in Nr. 23, zur „muthigen" Absichtserklärung: „Will kein Gott auf Erden sein, / Sind wir selber Götter." Trotziges, ja aufrührerisches Aufbegehren wird hier expressis verbis formuliert, die metaphorische Hülle fällt, der Schein subjektiven Leids nicht mehr gewahrt, der eigentliche Sinnbefund wird offenbar. „Das ist die verzweifelt-negative Fassung jenes atheistischen Humanismus, aus dem Heine 1834 das positive ,pantheistische' Programm ableiten wird:,... wir stiften eine Demokratie gleich herrlicher, gleichheiliger, gleichbeseligter Götter'."61 Diese Erkenntnis entschlüsselt oder demaskiert in der Rückschau Bilder- und Zeichenwelt des gesamten Zyklus. Auch der Lindenbaum 348
erscheint mit dieser gleichsam durch den Rückspiegel ermöglichten Optik nicht mehr nur als stimmungsvolle Kulisse am Orte der Liebenden, sein geheimnisvolles Rauschen muß letal verstanden werden, als Aufforderung und Verführung zum Suizid. Das paradoxe Bild des blätterlosen Baumes, der gleichwohl rauscht, bewirkt die Entlarvung der Idylle. Raffiniert verstärkt darüber hinaus der Konjunktiv („Du fändest Ruhe dort!") die Todesverlockung. Der ruhelos Wandernde, der auch noch in räumlicher Entfernung vom Lindenbaum („manche Stunde entfernt von jenem Ort") diese Verlockung nicht zu verdrängen in der Lage ist, wird nun durch ein alltägliches (hier allnächtliches) Ereignis, ein Lebenssignal seinen Halluzinationen entrissen: „Von der Straße her ein Posthorn klingt". Das Posthorn wird zum Deus ex machina. Genau an dieser Schaltstelle des Gedichtzyklus' (von Nr. 5 zu Nr. 6) erweist sich die Frage der Reihenfolge als dramaturgisch eminent wichtig. Wie schon Harry Goldschmidt feststellt, ist „die Stellung jedes Liedes im Zyklus ... keinesfalls gleichgültig".62 Ein kleiner Exkurs über diese Frage also scheint an dieser Stelle notwendig. Wilhelm Müller sandte an seinen Leipziger Verleger F. A. Brockhaus am 16. Januar 1822 den Gedichtzyklus „Die Winterreise" - „in zwölf Liedern", der dann im „Urania Taschenbuch auf das Jahr 1823" publiziert wurde. Vierzehn Monate nach Übersendung der Gedichte an Brockhaus - im März 1823 - veröffentlichte Müller zehn weitere Gedichte in den „Deutsche(n) Blätter(n) für Poesie, Literatur, Kunst und Theater" in Breslau mit der Anmerkung: „Zwölf zu diesem Cyklus gehörige Lieder stehen in der Urania 1823 abgedruckt". Erst im zweiten Band der „Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten" (1824) erschien der Zyklus in seiner vollständigen und endgültigen Fassung. Hinzugekommen waren - als Erstveröffentlichung - noch zwei Gedichte, „Die Post" und „Täuschung". Verändert hatte Müller auch die Reihenfolge der Gedichte und einige Formulierungen.63 Franz Schubert, der Anfang des Jahres 1827 auf den Urania-Band stieß und sofort mit der Komposition begann, mußte also davon ausgehen, daß der Zyklus aus den dort veröffentlichten zwölf Gedichten bestünde. Erst im Herbst des Jahres 1827 fand Schubert im zweiten „Waldhornistenband" den vierundzwanzig Gedichte umfassenden Zyklus, machte sich sogleich an die Komposition und reihte jene Gedichte zu einer „Zweiten Abtheilung" aneinander, die er noch nicht vertont hatte. Lediglich eine Position weicht von diesem vermutlichen
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Reihungsprinzip ab. Wenn Schubert wie erwähnt vorgegangen ist, käme dem Gedicht „Die Nebensonnen" die 22. und „Muth!" die 23. Position im Zyklus zu. Hier aber nimmt Schubert - aus Gründen, die uns verborgen bleiben werden - einen Austausch vor (22. „Muth!", 23. „Die Nebensonnen"). Die Textveränderungen, die Müller für den zweiten „Waldhornistenband" noch eingebracht hatte, vollzog Schubert nicht nach, brachte selbst jedoch etliche Textveränderungen ein, 64 die nicht nur musikalisch'bedingt zu sein scheinen. Wenn also in der endgültigen Fassung des Zyklus' zwischen den Gedichten „Der Lindenbaum" und „Wasserflut" noch „Die Post" plaziert wurde, dürfte dies aus maßgeblich dramaturgischen Beweggründen geschehen sein. Da aber nun bei Schubert „Die Post" an 13. Stelle steht und auf den „Lindenbaum" „Wasserflut" folgt, ergibt sich eine grundsätzlich andere dramaturgische Situation an unserer Schaltstelle. Inmitten der resignativen Stimmung taucht kein Lebenssignal auf, der Lindenbaum selbst wird Gegenstand verklärt-liebevoller, lebendiger Riickerinnerung in Schuberts Interpretation der Verse. Kommen wir auf unsere eingangs gestellte Frage zurück: Welches Textverständnis ist in der Musik geronnen? Wir folgen Harry Goldschmidts Ausführungen: „Da steht er, grünbelaubt, Schatten und Erquickung spendend, eine unwiederbringliche Erinnerung - mitten in der vereisten Schneelandschaft. Und so tritt auch das Lied wie ein Lichtblick aus seiner trüben, qualvollen Umgebung heraus." 65 Goldschmidt interpretiert Schuberts Textverständnis sehr präzise, wenn er weiter schreibt: „Kein Ast, kein Zweig, kein Blatt an diesem Lindenbaum ohne grünendes, organisches Leben!" 66 In Schuberts „Winterreise"-Zyklus wird „Der Lindenbaum" zur Oase inmitten resignativen Schmerzes, das erinnerte Glück ferner Tage verklärt sich zum Trost. Bredemeyers „Lindenbaum"-Vertonung steht der Schubertschen diametral gegenüber. Innerhalb des Zyklus wird dieses Lied zur verwundbarsten Stelle überhaupt, es geht um Leben und Tod. Vergessen wir nicht, „Erstarrung" ist das unmittelbar vorangehende Gedicht überschrieben, ein Zustand und ein Vorgang, der normalerweise den Prozeß des Sterbens beendet. Hier reicht der Begriff Gemütsverfassung bei weitem nicht mehr aus, hier geht es nicht um eine Stimmung, in der man sich gerade befindet und die mit dem Wetter wieder umschlagen kann. Bin „tödtlich schwer verletzt" diese Metapher findet Müller für seinen Flüchtling („Das Wirtshaus", Nr. 17).
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Warum eigentlich - könnten wir fragen - läßt Wilhelm Müller seinen ,Helden' nicht untergehen als Märtyrer für eine freundlichere und wärmere Welt? (Ein Schicksal, das er paradoxerweise dem doch unvergleichlich harmloser dahinlebenden blonden Müllersknecht im Zyklus „Die schöne Müllerin" bestimmt.) Müllers Flüchtling ist begleitet von allen Sympathien seines Dichters. Dürfen wir vermuten, daß Wilhelm Müller - eingedenk der „tödtlichen Verletztheit" und trostlosen Situation, in der sich sein Flüchtling schon in der Nr. 5 des Zyklus befindet - diesem im nachhinein (dreiknabenhaft) das Posthorn als ,Schnelle Medizinische Hilfe' schickt? Analog zum Titel des Gedichtbandes („Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten") besetzte Bredemeyer seinen „Winterreise"-Zyklus für Bariton, Klavier und Horn. Der Hornstimme kommt gerade im „Lindenbaum" außerordentliche Bedeutung zu. Fünf der insgesamt sechs Strophen werden nur vom Horn begleitet; erst mit der sechsten Strophe setzt das Klavier ein. Ausgelöst von der also ganz offenkundig - nicht nur im Hinblick auf die Reihenfolge - unterschiedlichen Aneignung der Texte, divergieren, ungeachtet der zeitlichen Distanz, Schuberts und Bredemeyers „Lindenbaum"-Vertonungen hinsichtlich ihrer gestischen und dramaturgischen Konsequenzen. Versuchen wir, mittels ausgewählter analytischer Befunde, das Andersartige der Neuvertonung herauszuarbeiten. Schuberts Formkonstruktion geht aus von der Kombination jeweils zwei aufeinanderfolgender Zeilen zur Langzeile und verdichtet sie musikalisch zu einem Sinnabschnitt, dessen Wiederholung sich für die zweite Langzeile (also die Zeilen drei und vier) anschließt. Der zweite musikalische Sinnabschnitt folgt mit der zweiten Strophe und wird ebenfalls wiederholt. Ähnliches gilt für die Strophen drei und vier, jedoch mit der nach Moll versetzten Variante des ersten Sinnabschnitts. Die fünfte Strophe erhält eine neue, entschieden dramatischere Ausformung. Mit der sechsten Strophe kehrt Schubert zu den ersten beiden Sinnabschnitten zurück, wobei allerdings - in Ermangelung einer formal benötigten siebten Strophe - nun die komplette Textwiederholung der sechsten Strophe und, „damit die Weise sich aussingen könne" 67 , sogar die abermalige Wiederholung der letzten Zeile notwendig werden. Bei Bredemeyer entsprechen den sechs Gedichtstrophen sechs verschiedene musikalische Sinnabschnitte; das Lied ist gewissermaßen durchkomponiert unter strikter Berücksichtigung der Gedichtstruktur: ein mit der Vortragsbezeichnung „nachdenklich" überschriebener 351
innerer Monolog in 58 Takten (bei Schubert zählen wir 82). Bredemeyers karge, stellenweise nackte (a cappella) Präsentation der Texte der Hornstimme kommt eher eine kommentierende denn eine begleitende Funktion zu - ermöglicht die Assoziation eines theatralischen Vorgangs. In ihrem Buch „Zeichensprache der Romantik" verweist Marianne Thalmann auf die „Wetterempfindlichkeit" der Sprache dieser Generation und schreibt im Hinblick auf Frage- und Ausrufesätze: „Solche Sätze sind Zeichen der Unruhe, die keine Mitteilung eines Sachverhalts für den Gesprächspartner bezwecken. Sie erwarten kein Ja und kein Nein als Reaktion."68 Interessant ist auch Müllers Handhabung des Doppelpunkts. Im „Lindenbaum" erscheint dieses ankündigende und Spannung erzeugende Zeichen dreimal, in der ersten, der vierten und der sechsten Strophe. An seinen Verleger Brockhaus schrieb er einmal: „ . . . ich bin im Styl sehr skrupulös und ein ängstlicher Silbenstecher ..." 69 ; dieses Bekenntnis zu peinlichster Genauigkeit im Umgang mit der Sprache war für Bredemeyer Grund genug, Müllers Interpunktion sehr ernst zu nehmen und kompositorische - namentlich rhythmische und metrische - Konsequenzen daraus zu ziehen. Die durch die Doppelpunkte erzeugte Spannung transformiert Bredemeyer in zweierlei Hinsicht: einerseits tritt jeweils eine deutliche Zäsur in der Gesangsstimme ein, das heißt, die Gesangslinie wird unterbrochen (im ersten Fall um fünf Achtelpausen, im zweiten Fall um sieben Achtelpausen und im dritten Fall um sechs Achtelpausen) und andererseits, als weiteres Moment der An-Spannung, setzt in diesen Zäsuren das Horn ein. Abgesehen von wenigen,Haltetönen', bringt das Horn (und ebenso das Klavier ab Takt 48) gleichsam eine nichtverbale Kommentarebene ein, die - ganz im Sinne der Vortragsbezeichnung „nachdenklich" Reflexion ausstellt und dem Hörer ermöglicht. Wenn das Horn im fünften Takt (nach dem Doppelpunkt hinter der zweiten Zeile der ersten Strophe) die Intervallabfolge (drei große Terzen abwärts) der Gesangsstimme kontra-punktisch vorwegnimmt, so wird hier der Doppelpunkt auf ganz spezifische Weise verdeutlicht. Eine eher illustrative Funktion erfüllt das Horn im 33. und 34. Takt (nach dem Doppelpunkt hinter der zweiten Zeile der vierten Strophe): das un-heimliche Rufen (mezzoforte) wird mit fünf Tönen (der letzte Flatterzunge) gewissermaßen vorgezeichnet. Der dritte und letzte Doppelpunkt im „Lindenbaum" (in der sechsten Strophe nach der dritten Zeile) hat im Horn eine motivische Rückblende zur Folge: 352
zitiert werden jene drei Töne des ersten Horneinsatzes (Takt 2/3) nach der Zeile „Am Brunnen vor dem Thore". Dieses (Mini-)Zitat folgt einer dramaturgischen Konsequenz. Während in den ersten fünf Strophen Vergangenes berichtet wird, wechselt mit der sechsten Strophe die zeitliche Ebene, und der Bericht handelt vom Jetzt' („Nun bin ich manche Stunde/Entfernt von jenem Ort")- Aus diesem Grunde, um also den Wechsel der Zeitebene sinnfällig werden zu lassen, setzt an dieser Stelle das Klavier ein, und das Horn schweigt. Erst mit den letzten beiden Zeilen wird ausgesprochen, daß die Todesverlockung nach wie vor gegenwärtig ist, und das Horn (Takt 54/55) erinnert jenen Ort, an dem diese Möglichkeit zur Realität hätte werden können: „Am Brunnen vor dem Thore". Die Textdeklamation bei Bredemeyer ist im wesentlichen syllabisch angelegt. Die musikalische Diktion ist der gesprochenen Version der Texte verpflichtet. Wenn aber drei Textpassagen mit identischem Tonmaterial präsentiert werden (1. Strophe: „Zu ihm mich immer fort." / 4. Strophe: „Als riefen sie mir zu:" / 6. Strophe: „Du fändest Ruhe dort!"), so werden - per Musik - darüber hinaus inhaltliche Aspekte ausgestellt, die beim Sprechen der Verse kaum deutlich gemacht werden könnten. Die quasi serielle Handhabung des erwähnten Tonmaterials, es handelt sich um die 7-Ton-Reihe b-a-e-d-c-b-des, ermöglicht aufgrund der Tatsache, daß es sich jeweils um sechs Silben handelt, entweder ein Melisma oder den Vorschlag. Ohne dramaturgische Notwendigkeit, aber aus seriellen Gründen erscheint daher im ersten Fall ein Melisma auf das Wort „zu". Im zweiten und dritten Fall jedoch nutzt Bredemeyer den quasi „überflüssigen" Ton für einen Vorschlag, der gewissermaßen das präsentierte Wort beschädigt und ein ironisches Moment einbringt. Die so angeschlagenen' Worte, das „-sie" (aus: „Als riefen sie mir zu:") und „Ruhe" (aus: „Du fändest Ruhe dort!") werden auf diese Weise also merkwürdig gemacht. Franz Schuberts „Lindenbaum", „dem Volkslied nahe wie keines zugleich höchste Kunst" 7 0 , widerfuhr - wie erwähnt - mit der wirklich massenhaften Aneignung in Silchers Fassung eine durch Entkunstung verursachte Abmagerung zum konsumierbaren und konsumierten Billigprodukt. Mit Friedrich Silchers Bearbeitung71 - die kunstvollen Nuancen des variierten Strophenliedes wurden eliminiert, zur (entstellten!) Melodie der ersten beiden Verse werden alle weiteren Verse, jeweils zu Paaren zusammengetrieben, abgesungen - ist eine Version in die Lieder- und Lehrbücher eingegangen, die Frieder Reininghaus mit Recht als „die Dummheit eines Reaktionärs, der eine 23
Feist
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schlimme Spur im deutschen Musikleben hinterlassen hat" 72 , bezeichnet. „Der Lindenbaum" ist unter Berufung auf Franz Schubert zum gemütlich-sentimentalen Männerchor-Kitsch degradiert worden; Baumsterben infolge verantwortungsloser „Dummheit in der Musik" (Hanns Eisler). (Folge dieser Second-hand-Fassung scheint übrigens auch zu sein, daß Müllers Gedicht selbst in wissenschaftlichen Abhandlungen als dreistrophig verhandelt wird.73) Wissend um die Rezeptionsgeschichte gerade dieses Liedes, war für Bredemeyer die Frage, ob Müllers Gedicht tatsächlich als Volksliedvorlage gesehen werden muß oder darf, von außerordentlicher Wichtigkeit. Bredemeyers Verstehen dieser Verse - und wir kommen letztmals auf die gestellte Frage nach dem in der Musik geronnenen Textverständnis zurück - stellt deren Volksliedcharakter in Frage, begreift die Müllerschen Verse eher mit Adorno als „absichtsvoll falsches Volkslied"74 und präsentiert sich musikalisch als kleines Melodram, das die Verwundbarkeit dieser Sprache, dieser Verse bewußt ausstellt. Die dem Lied landläufig unterstellte Naivität ist eine vermeintliche; die lokalen und temporären Verschränkungen - weder am, noch unterm, geschweige denn grünen Lindenbaum wird gesungen schaffen Künstlichkeit, und die Beschwörung des „süßen Traums" wird zum todsicheren Indikator realer Umstände. Sieht man Wilhelm Müllers „Winterreise" als zeitgeschichtliches Zeugnis, als einen Zyklus politischer Lieder, dann darf und sollte auch dem Gedicht „Der Lindenbaum" diese Dimension nicht vorenthalten und seine Maske nicht für sein wahres Gesicht genommen werden. Bertolt Brechts über einhundert Jahre später geschriebene Zeilen „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume ,.." 75 wagen wir „muthig" mitzudenken.
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Anmerkungen
Anmerkungen zur Vorbemerkung 1 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: K: Marx/ F. Engels, Werke (im folgenden MEW), Bd. 42, Berlin 1983, S. 203. 2 Vgl. K. Hager, Gesetzmäßigkeiten unserer Epoche - Triebkräfte und Werte des Sozialismus. Rede auf der gesellschaftswissenschaftlichen Konferenz des ZK der SED am 15. und 16. Dezember 1983 in Berlin, Berlin 1983, S. 29. 3 Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1976, S. 25. 4 Vgl. K. Hager, Gesetzmäßigkeiten unserer Epoche - Triebkräfte und Werte des Sozialismus, a. a. O., S. 68. 5 Bericht des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands an den XI. Parteitag der SED. Berichterstatter Genosse Erich Honecker, Berlin 1986, S. 58. 6 R. Weimann, Realität und Realismus. Über Kunst und Theorie in dieser Zeit, in: Sinn und Form, 5/1984, S. 933. 7 Ders., Kunstensemble und Öffentlichkeit. Aneignung - Selbstverständigung - Auseinandersetzung, Halle - Leipzig 1982, S. 91. 8 M. Franz, Wahrheit in der Kunst. Neue Überlegungen zu einem alten Thema, Berlin 1986 (2. Aufl.). 9 Ästhetik der Kunst, hrsg. v. E. Pracht/K. Hirdina/M. Franz u. a., Berlin 1987
Anmerkungen zum Kapitel 1 1 W Förster, Einblicke, Berlin 1985, S. 18 (Erstveröff. 1972). Die Figur wurde erst im Frühjahr 1974 beendet. 2 Ebenda, S. 14 (Hervorhebung durch uns). 3 Ebenda, S. 230 f. 4 F. Fühmann, Über Wieland Försters Tunesienbuch, in: ders., Essays, Gespräche, Aufsätze 1964-1981, Rostock 1983, S. 63. 5 K. Marx, Einleitung zu den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie", in: MEW, Bd. 42, a. a. O., S. 19. 6 Ebenda, S. 27.
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7 M. Naumann, Blickpunkt Leser. Literaturtheoretische Aufsätze, Leipzig 1984, S. 115. 8 K. Marx, Einleitung zu den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie", in: MEW, Bd. 42, a. a. O., S. 43. 9 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in. MEW, Bd. 42, a. a. O., S. 226. 10 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, Berlin 1968, S. 574. 11 Ebenda. 12 Ebenda, S. 537. 13 K. Marx, Einleitung zu den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie", in: MEW, Bd. 42, a. a. O., S. 23. 14 P. Keiler, Aneignung, in: Enzyklopädisches Wörterbuch des philosophischen Wissens, hrsg. von H. J. Sandkühler, in Vorbereitung. 15 W T Krug, Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, Bd. 1, Leipzig 1827, S. 144 (zitiert nach P. Keiler, Aneignung, a. a. O.). 16 J. Locke, Abhandlung über den wahren Ursprung, Umfang und Zweck des staatlichen Gemeinwesens (An Essay Concerning the True Original, Extent, an End of Civil Government), in: ders., Bürgerliche Gesellschaft und Staatsgewalt, Sozialphilosophische Schriften, hrsg. v. H. Klenner, Leipzig 1980, S. 116/117. 17 K. Marx, Theorien über den Mehrwert, Erster Teil, in: MEW, Bd. 26.1, Berlin 1985, S. 343. 18 Ebenda. 19 I. Kant, Die Metaphysik der Sitten in zwei Teilen. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, in: Werke, hrsg. v. E. Cassirer, Bd. 7, Berlin 1916, S.72. 20 M. Buhr/G. Irrlitz, Der Anspruch der Vernunft. Die klassische bürgerliche deutsche Philosophie als theoretische Quelle des Marxismus, Teil 1, Berlin 1968, S. 73. 21 I. Kant, Die Metaphysik der Sitten in zwei Teilen. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, in: Werke, hrsg. v. E. Cassirer, Bd. 7, a. a. O., S. 62. 22 Ebenda. 23 J. G. Fichte, Sämtliche Werke, hrsg. v. I. H. Fichte, Bd. 1, Berlin o. J. (1845), S. 413 (zit. nach M. Buhr/G. Irrlitz, Der Anspruch der Vernunft, a. a. O., S. 129). 24 G. W. F Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Nach der Ausgabe von Eduard Gans, hrsg. v. H. Klenner, Berlin 1981, S. 79. 25 Ebenda, S. 85/86. 26 Ebenda, S. 106. 27 Ebenda, S. 89. 28 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 42, a. a. O., S. 397.
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29 K. Marx, Einleitung zu den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie", in: MEW, Bd. 42, a. a. O v S. 9. 30 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, in: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. v. E. Moldenhauer/K. M. Michel, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1969, S. 452/453. 31 W. I. Lenin, Konspekt zu Hegels „Wissenschaft der Logik", in: Werke, Bd. 38, Berlin 1976, S. 180. 32 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik, Berlin 1840, S. 382 (zit. nach: K. Marx, Das Kapital. Erster Band, in. MEW, Bd. 23, Berlin 1987, S.194). 33 K. Marx, Das Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd. 23, a. a. O., S. 194/195. 34 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, hrsg. v. H. Klenner, a. a. O., S. 268. 35 Ebenda, S. 237. 36 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 42, a. a. O., S. 228. 37 G. W F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, hrsg. v. H. Klenner, a. a. O., S. 268. 38 Ebenda, S. 268/269. 39 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, a. a. O., S. 573. 40 Ebenda, S. 513. 41 F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW, Bd. 21, Berlin 1984, S. 269. 42 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. v. E. Moldenhauer/K. M. Michel, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1970, S. 362-398. 43 H.-Ch. Rauh, Die Entwicklung der Erkenntnis nach Hegels „Phänomenologie des Geistes", in: Veränderung und Entwicklung. Studien zur vormarxistischen Dialektik, hrsg. v. G. Stiehler, Berlin 1974, S. 249. 44 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, a. a. O., S. 577. 45 Ebenda, S. 572. 46 Ebenda, S. 522. 47 Ebenda, S. 540. 48 Ebenda, S. 546. 49 Ebenda, S. 542. 50 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, hrsg. v. H. Klenner, a. a. O., S. 86. 51 P. Keiler, Aneignung, in: Enzyklopädisches Wörterbuch des philosophischen Wissens, hrsg. v. H. J. Sandkühler, in Vorbereitung. 52 O. Willmann, Aneignungsstufen, in: Lexikon der Pädagogik, hrsg. v. E. M. Roloff, Bd. 1, Freiberg i. Breisgau 1913, S. 142 (zit. nach P. Keiler, Aneignung, a. a. O.)
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53 K. Marx, (Thesen über Feuerbach), in: MEW, Bd. 3, Berlin 1983, S. 5. 54 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, a. a. O., S. 541 55 Ebenda, S. 540. 56 Ebenda, S. 539. 57 Ebenda, S. 541. 58 Ebenda, S. 564/565. 59 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 42, a. a. O., S. 728. 60 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, a. a. O., S. 567. 61 Ebenda, S. 542. 62 Ebenda. 63 Ebenda, S. 575. 64 K. Gößler/M. Thom, Die materielle Determiniertheit der Erkenntnis, Berlin 1976, S. 144/145 (Studien zur Erkenntnistheorie). 65 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, a. a. O., S. 33. 66 Ebenda, S. 28. 67 Ebenda, S. 22. 68 Ebenda, S. 67. 69 Ebenda, S. 67/68. 70 H. Fritsch/B. Stiebritz, Arbeitsteilung im Kapitalismus und im Sozialismus, Berlin 1981, S. 125/126 (Sozialismus - Erfahrungen, Probleme und Perspektiven). 71 G. Stiehler, Über den Wert der Individualität im Sozialismus, Berlin 1978, S. 66-68 (Grundfragen der marxistisch-leninistischen Philosophie). 72 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, a. a. O., S. 75. 73 Ebenda, S. 29/30. 74 Vgl. K. Marx, Das Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd.23, a. a. O., S. 790/791, sowie F. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (AntiDühring), in: MEW, Bd. 20, Berlin 1962, S. 264. 75 A. Bauer, Probleme der marxistischen Vergesellschaftungskonzeption, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 10/1980, S. 1208. 76 K. Marx/F Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, a. a. O., S. 37. 77 Ebenda, S. 72. 78 Ebenda, S. 68. 79 Ebenda. 80 G. Stiehler, Über den Wert der Individualität im Sozialismus, a. a. O., S. 91 81 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, a. a. O., S. 61. 82 G. Stiehler, Über den Wert der Individualität im Sozialismus, a. a. O., S. 92/93. 83 Ebenda, S. 24. 84 K. Marx/F Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, a. a. O., S. 74.
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85 K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in; MEW, Bd. 4, Berlin 1983, S. 475. 86 Ebenda, S. 477 87 F. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (AntiDühring), in: MEW, Bd. 20, a. a. O., S. 253. 88 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 42, a. a. O., S. 722. 89 Ebenda, S. 422. 90 Ebenda, S. 95. 91 A. Kosing, Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, Berlin 1985, S. 27. 92 H. Friedrich, Die Produktionsverhältnisse, Berlin 1981, S. 44, 58 (Grundfragen der marxistisch-leninistischen Philosophie). 93 A. N. Leontjew, Probleme der Entwicklung des Psychischen, Berlin 1964, S. 235. 941. Dölling, Individuum und Kultur. Ein Beitrag zur Diskussion, Berlin 1986, S. 35. 95 W. Bütow, Zur Spezifik des Unterrichtsprozesses im Literaturunterricht, in: Güstrower Beiträge 1/1987, S. 12/13 (Wissenschaftliche Schriften der Pädagogischen Hochschule „Liselotte Herrmann" Güstrow). 96 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, a. a. O., S. 425. 97 K. Marx, Einleitung zu den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie", in: MEW, Bd. 42, a. a. O., S. 36. 98 J. Hirschmann, Alltagserkennen, Alltagsbewußtsein - Wesen, Struktur, soziale Funktion, in: Gesellschaft und Bewußtsein, hrsg. v. W. Müller/ D. Uhlig, Berlin 1980, S. 225. 99 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, a. a. O., S. 67. 100 Ebenda, S. 68. 101 K. Marx, Das Kapital. Dritter Band, in: MEW, Bd. 25, a. a. O., S. 260. 102 Vgl. U. Holzkamp-Osterkamp, Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung, Bd. 2: Die Besonderheit menschlicher Bedürfnisse. Problematik und Erkenntnisgehalt der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. - New York 1978, S. 17-57 (Freie Universität Berlin (West), Texte zur kritischen Psychologie, 4.2). 103 Vgl. H. Taut, Zur Dialektik von Arbeit und Bedürfnissen im Sozialismus und Kommunismus, Berlin 1967. 104 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 42, a. a. O., S. 226. 105 K. Marx, Einleitung zu den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie", in: MEW, Bd. 42, a. a. O., S. 44/45. 106 H. Ley, Zur Allgegenwart von Struktur, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 6/1978, S. 746/747. 107 V. P. Vizgin, Das Problem der Wissenschaftsentwicklung und die „Archäologie des Wissens" von Michel Foucault, in: Wissenschaft. Das Problem
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ihrer Entwicklung, Bd. 1: Kritische Studien zu bürgerlichen Wissenschaftskonzeptionen, hrsg. v. G. Kröber/H.-P. Krüger, Berlin 1987, S. 314 (Wissenschaft und Gesellschaft, 24.1). 108 M. Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1981, S. 198-200. 109 Ebenda, S. 231 110 Ebenda. 111 Ebenda, S. 105. 112 Ebenda, S. 171. 113 Ebenda, S. 99/100. 114 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, a. a. O., S. 46. 115 H. Ley, Zur Allgegenwart von Struktur, a. a. O., S. 746. 116 K. Marx/F Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, a. a. O., S. 38. 117 M. Foucault, Archäologie des Wissens, a. a. O., S. 153. 118 R. Weimann, Mimesis und die Bürde der Repräsentation. Der Poststrukturalismus und das Produktionsproblem in fiktiven Texten, in. Weimarer Beiträge, 7/1985, S. 1076. 119 V. P. Vizgin, Das Problem der Wissenschaftsentwicklung und die „Archäologie des Wissens" von Michel Foucault, in: Wissenschaft. Das Problem ihrer Entwicklung, Bd. 1, a. a. O., S. 322. 120 Ebenda, S. 326. 121 Ebenda, S. 334. 122 B. Burmeister, „Produktion", nicht „Abbildung". Zur Literaturkonzeption der Gruppe Tel Quel, in: Literarische Widerspiegelung. Geschichtliche und theoretische Dimensionen eines Problems, Autorenkoll. unter Ltg. v. D. Schlenstedt, Bertin - Weimar 1981, S. 560. 123 Ebenda, S. 594. 124 J. Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt a. M. 1978, S. 30 (Hervorhebung von uns). 125 K. Marx, Das Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd. 23, a. a. O., S. 61 126 J. Kristeva, Semiologie - kritische Wissenschaft und/oder Wissenschaftskritik, in: Textsemiotik als Ideologiekritik, hrsg. v. P. V Zima, Frankfurt a. M. 1977, S. 45. 127 Ebenda, S. 52. 128 Ebenda, S. 53. 129 Ebenda. 130 Ebenda, S. 91 131 Ebenda, S. 68. 132 Ebenda, S. 94. 133 Ebenda, S. 95/96. 134 Ebenda, S. 96. 135 R. Weimann, Mimesis und die Bürde der Repräsentation, a. a. O., S. 1074. 136 Ders., Realität und Realismus. Uber Kunst und Theorie in dieser Zeit, in: Sinn und Form, 5/1984, S. 947 137 Ebenda, S. 948.
360
138 R. Weimann, Einleitung, in: Realismus in der Renaissance. Aneignung der Welt in der erzählenden Prosa, hrsg. v. R. Weimann, Berlin - Weimar 1977, S. 33. 139 Ebenda, S. 46. 140 R. Weimann, Funktion und Prozeß der Weltaneignung: Grundzüge ihrer Geschichte, in: Realismus in der Renaissance, a. a. O., S. 126. 141 Ebenda, S. 141/142. 142 R. Weimann, Einleitung, in: Realismus in der Renaissance, a. a. O., S. 31/32 (Hervorhebungen von uns). 143 Ebenda, S. 32. 144 D. Schlenstedt, Problemfeld Widerspiegelung, in: Literarische Widerspiegelung, a. a. O., S. 119. 145 W. Thierse/D. Kliche, DDR-Literaturwissenschaft in den siebziger Jahren. Bemerkungen zur Entwicklung ihrer Positionen und Methoden, in: Weimarer Beiträge, 2/1985, S. 293-295. 146 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 42, a. a. O., S. 203. 147 A. Kossakowski, Persönlichkeitsstruktur, in: Wörterbuch der Psychologie, hrsg. v. G. Clauß (Gesamtleitung) u. a., Leipzig 1985, S. 450. 148 Ebenda. 149 I. Dölling, Individuum und Kultur, a. a. O., S. 34. 150 M. Vorwerg, Persönlichkeitspsychologie Implikationen über das Individuum in der Gesellschaft, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 4/1980, S. 433. 151 Vgl. U. Holzkamp-Osterkamp, Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung, Bd. 2, a. a. O. 152 S. Hermlin, Lektüre. 1960-1971. Berlin - Weimar 1975, S. 242. 153 Ders., Hölderlin 1944, in: Sinn und Form, 6/1982, S. 1140. Anmerkungen zum Kapitel 2 1 W. Thierse, Thesen zur Problemgeschichte des Werk-Begriffs, in: Zeitschrift für Germanistik, 4/1985, S. 448. 2 Vgl. dazu detaillierte Ausführungen bei P. Wapnewski, Tristan, der Held Richard Wagners, Berlin 1981, S. 224. 3 Begriff von Ch. Baudelaire; vgl. auch H. Mayer, Anmerkungen zu Richard Wagner, Frankfurt a. M. 1966, S. 42 ff. 4 Th. Mann, Leiden und Größe Richard Wagners, in: Gesammelte Werke in 12 Bdn., Bd. 10, Berlin - Weimar 1965, S. 384. 5 Vgl. H. Mayer, Anmerkungen zu Richard Wagner, a. a. O., S. 61 ff. 6 Vgl. C. Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1980, S. 168. 7 Vgl. M. Beufils, Wagner et le wagnérisme, Paris 1947; sowie: Richard Wagner 1883-1983. Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1984 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, Nr. 129); darin weiterführend:
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D. Buschinger, Die Wagner-Rezeption in der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts, ebenda, S. 351 ff. 8 Vgl. U. Eckart-Bäcker, Frankreichs Musik zwischen Romantik und Moderne, Regensburg 1963; sowie Th. Hirsbrunner, Debussy und seine Zeit, o. 0.1981, S. 135 ff. 9 Ein Schlüssel-Begriff des Schönbergschen Musikdenkens, das bereits in der „Harmonielehre" von 1911 harmonische und politische Kategorien analogisiert. 10 Vgl. N. Wagner, Geist und Geschlecht - Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne, Frankfurt a. M. 1982, S. 292. 11 Vgl. u. a. die Dokumentation: B. W. Wesslin, Bayreuth im Dritten Reich, Weinheim 1983, S. 336. 12 Vgl. Henzes Einführungstext in das Werk, in: ders., Schriften und Gespräche, Berlin 1981, S. 208 ff. 13 F. Schenker in: Programmheft der Uraufführung/Rundfunksinfonieorchester Leipzig, Dezember 1981, o. S. 14 Th. W. Adorno, Mahler. Eine musikalische Physiognomik, Frankfurt a. M. 1963, S. 216. 15 F. Schenker in: Programmheft der Uraufführung, a. a. O. 16 Ebenda. 17 Ebenda. 18 Vgl. dazu u. a.: R. Weimann, Funktion und Niveau der Unterhaltung in den Künsten, in: Sinn und Form, 2/1986, S. 230 ff. 19 Vgl. dazu u. a.: M. Starke, Einleitung zu: Der Untergang der romantischen Sonne. Ästhetische Texte von Baudelaire bis Mallarmé, Leipzig - Weimar 1980. 20 H. Heine, zit. nach M. Starke, Einleitung zu: Der Untergang der romantischen Sonne, a. a. O., S. 39. 21 H. Heine, ebenda, S. 40. 22 Zur näheren historischen Bestimmung der Kategorie „intersoziale Aneignung" vgl.: G. Knepler, Geschichte als Weg zum Musikverständnis, Leipzig 1977, S. 226 ff. 23 H. Eisler/E. Bloch, Avantgarde-Kunst und Volksfront, in: Musik und Politik. Schriften 1924-1948, Leipzig 1973, S. 398. 24 H. Eisler, Gesellschaftliche Grundfragen der modernen Musik (1948), in: Materialien zu einer Dialektik der Musik, Leipzig 1973, S. 188. Anmerkungen zum Kapitel 3 1 Vgl. Kap. 1, S. 68ff. und Anm. 145. 2 D. Schlenstedt, Wirkungsästhetische Analysen. Poetologie und Prosa in der neueren DDR-Literatur, Berlin 1979, S. 37/38 (Literatur und Gesellschaft). 3 Ebenda, S. 44. 4 K. Marx, Einleitung zu den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie", in: MEW, Bd. 42, a. a. O., S., 30.
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5 H. Kuchling, Über die gesellschaftliche Natur des Zeichengebrauchs, in Der dialektische Materialismus und seine Kritiker, hrsg. v. H. Hörz/A. J. Iljin, Berlin 1975, S. 246. 6 H. Nick, Information, Informationstechnik - ein besonderes Element der Produktivkräfte, in: Wirtschaftswissenschaft, 3/1984, S. 381. 7 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, a. a. O., S. 258. 8 Ebenda, S. 281. 9 Ebenda, S. 394. 10 Ebenda, S. 433. 11 Ebenda. 12 G. Klaus, Spieltheorie in philosophischer Sicht, Berlin 1968. 13 Vgl. N. Wiener, Cybernetics, New York 1948; C. E. Shannon/W. Weaver, The mathematical theory of communication, Urbana, Univ. of Illinois Press 1949; F. de Saussure, Cours de Linguistique général, Lausanne 1916. 14 Vgl. Wörterbuch der Kybernetik, hrsg. v. G. Klaus, Berlin 1968. 15 J.-J. Nattiez, Fondements d'une sémiologie de la musique, Paris 1975. 16 Vgl. Wörterbuch der Kybernetik, hrsg. v. G. Klaus, a. a. O. 17 M. Bierwisch, Musik und Sprache. Überlegungen zu ihrer Struktur und Funktionsweise, in: Jahrbuch Peters 1978, Leipzig 1979, S. 27,31. 18 Vgl. W. Meyer-Eppler, Grundlagen und Anwendungen der Informationstheorie, Berlin etc. 1959; G. Klaus, Semiotik und Erkenntnistheorie, Berlin 1963; D. Stockmann, Musik als kommunikatives System. Informations- und zeichentheoretische Aspekte insbesondere bei der Erforschung mündlich tradierter Musik, in: Deutsches Jahrbuch der Musikwissenschaft, Bd. 14, Leipzig 1970; dies., Interdisziplinäre Aspekte bei der Erforschung musikethnologischer Probleme, Berlin 1982 (Ms.-Druck). 19 Vgl. N. Chomsky, Syntactic structures, The Hague 1957; ders., Aspekte der Syntax-Theorie, Berlin 1970 (amerikan. Ausg. 1965). 20 Vgl. B. Lindblom/J. Sundberg, Towards a generative theory of melody, in: Svensk Tidskrift för musikforskning, Stockholm 52/1970. 21 Vgl. W Meyer-Eppler, Grundlagen und Anwendungen der Informationstheorie, a. a. O. 22 Vgl. auch: G. Klaus, Semiotik und Erkenntnistheorie, a. a. O., ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Kybernetik, a. a. O. 23 M. Bierwisch, Musik und Sprache. Überlegungen zu ihrer Struktur und Funktionsweise, a. a. O., S. 59. 24 Ebenda, S. 59 f. 25 Ebenda, S. 55 ff., 58f., 62f. 26 G. Tembrock, Tierstimmenforschung, Wittenberg 1977, S. 155; G. Knepler, Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung, Leipzig 1977, S. 81. 27 M. Bierwisch, Musik und Sprache. Überlegungen zu ihrer Struktur und Funktionsweise, a. a. O., S. 63. 28 Ebenda, S. 53.
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29 D. Stockmann, D i e ästhetisch-kommunikativen Funktionen der M u s i k unter historischen, genetischen u n d Entwicklungs-Aspekten, in: Beiträge zur Musikwissenschaft, 2 / 1 9 8 0 , S. 136 ff. 3 0 R. J a k o b s o n / M . Halle, Grundlagen der Sprache, Berlin 1960, S. 8 , 2 0 ff. 31 D. Stockmann, Z u m Problem einer Klassifikation der k o m m u n i k a t i v e n Prozesse, in: G. T e m b r o c k / E . G e i s s l e r / W . Scheler, Philosophische u n d ethische Probleme der m o d e r n e n Verhaltensforschung, Berlin 1978, S. 167 ff. 3 2 Vgl. D. Stockmann, Die ästhetisch-kommunikativen Funktionen der M u s i k unter historischen, genetischen u n d Entwicklungs-Aspekten, a. a. O . ; dies., G r u n d t y p e n musikalischer K o m m u n i k a t i o n u n d ihre rezeptive Bewertung, in: Musikhören als Kommunikationsprozeß, Berlin 1985, S. 7 - 2 0 . 3 3 K. N i e m a n n , M a s s M e d i a - N e w w a y s of approach to music a n d n e w patterns of musical behaviour, in: N e w Patterns of Musical Behaviour, hrsg. v. J. Bontinck, Wien 1974, S. 49; ders., Musikkulturelle Verhältnisse u n d musikalischer Kommunikationsprozeß, in: Musikhören als K o m m u n i k a t i o n s prozeß, a. a. O., S. 58 f. 34 G. Knepler, Geschichte als Weg z u m Musikverständnis, a. a. O., S. 226 ff. 3 5 Vgl. ebenda, S. 233 ff.; D. Stockmann, Musica vulgaris bei Johannes de Grocheio, in: Beiträge zur Musikwissenschaft, 2 5 / 1 9 8 3 , S. 6 ff.; sowie: Der a r m m a n 1525, hrsg. v. M . Strobach, Berlin 1975, S. 237 ff., 2 8 8 f „ 309 ff. 36 Th.
Meyer,
Standardisierte
Beobachtungen
von
Tanzveranstaltungen,
Diplomarbeit (Musikwissenschaft), Humboldt-Universität, Berlin 1975. 37 Th. M e y e r / C . Strulick, Vermittlungsformen v o n Tanzmusik in Veranstaltungen. Eine Befragung v o n Jugendlichen, Musikern, u n d Discomoderatoren in Berlin (Diss. A) Berlin 1983. 3 8 H. Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens ( 1 9 2 5 / 2 6 ) u n d D a s musikalische H ö r e n der Neuzeit (1959), in: Aufsätze zur Musikästhetik u n d Musikgeschichte, Leipzig 1978, S. 2 9 - 5 3 u n d 1 0 4 - 1 7 3 . 39 E. Tarasti, Music as sign and process, in: Analytica: Studies in the description and analysis of music in honour of I. Bengtsson, Stockholm 1985, S. 110 (Studia musicologica Upsaliensis: N . s., S. 110). 4 0 Ch. Kaden, Arten Vielfalt als musikkulturelles Problem (II). Erlebnis Kuba, in: Musikforum, 2 / 1 9 8 5 , S. 1 7 f . 41 Ebenda, S. 18. 4 2 Vgl. V. Propp, Morphologie des Märchens, M ü n c h e n 1972; C. Lévi-Strauss, Mythologica I. D a s R o h e u n d das Gekochte, Frankfurt a. M. 1971. 43 Vgl. E. Tarasti, M y t h and Music. A semiotic approach to the aesthetics of m y t h in music, especially that of Wagner, Sibelius a n d Stravinsky, Helsinki 1978 (Acta Musicologica Fennica, 11). 4 4 J. M . L o t m a n n , Kunst als Sprache. Untersuchungen z u m Zeichencharakter von Literatur u n d Kunst, Leipzig 1981, S. 67 ff. 45 Ebenda, S. 83; vgl. auch: J. Huizinga, H o m o ludens. Vom Ursprung der Kultur i m Spiel, H a m b u r g 1956, S. 153 ff.; G. Knepler, Geschichte als Weg z u m Musikverständnis, a. a. O., S. 93ff.
364
46 F. Klix, Erwachendes Denken. Eine Entwicklungsgeschichte der menschlichen Intelligenz, Berlin 1980, S. 136 ff., 250. 47 ]. M. Lotmann, Kunst als Sprache, a. a. O., S. 69,83,85 ff.
Anmerkungen zum Kapitel 4 1 P. H. Feist, Die deutsche Kunst von 1760 bis 1848 und ihre kulturhistorischen Aspekte, in: Wiss. Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.- und Sprachwiss. R., 5/6/1980, S. 474. 2 Ders., Bildende Kunst im Jahre 1873. Methodologische Bemerkungen zur gesellschaftlichen Bedingtheit der Kunst, in: ders., Künstler, Kunstwerk und Gesellschaft, Dresden 1978, S. 143/144 (Fundus-Bücher, 51/52). 3 Friedrich Engels, Brief an Conrad Schmidt vom 27. Oktober 1890, in: MEW, Bd. 37, Berlin 1967, S. 493. 4 B. Brecht, Der Dreigroschenprozeß, in: Schriften zur Literatur und Kunst, Bd. 1, Berlin - Weimar 1966, S. 213/214. 5 Ebenda, S. 151. 6 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, a. a. O., S. 423. 7 Karl Marx, Brief an Pawel Wassiljewitsch Annenkow vom 28. Dezember 1846, in: MEW, Bd. 27, Berlin 1963, S. 453. 8 A. A. Leont'ev, Psychologie der Kommunikation, in: Grundfragen einer Theorie der sprachlichen Tätigkeit. A. N. Leont'ev - A. A. Leont'ev E. G. Judin, hrsg. v. D. Viehweger, Berlin 1984, S. 66 (Sprache und Gesellschaft, 13). 9 H. Grünert, Austausch und Verkehr, in: Handbuch der Wirtschaftsgeschichte 1, hrsg. v. Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin 1981, S. 275. 10 R. Weimann, Kunstensemble und Öffentlichkeit. Aneignung - Selbstverständigung - Auseinandersetzung, Halle - Leipzig 1982, S. 12. 11 Ebenda. 12 Ebenda. 13 Ebenda, S. 16. 14 Ebenda, S. 10/11. 15 R. Weimann, Realität und Realismus. Uber Kunst und Theorie in dieser Zeit, in: Sinn und Form, 5/1984, S. 948. 16 W. Benjamin, Lesezeichen, hrsg. v. G. Seidel, Leipzig 1970, S. 395. 17 Die Autoren fahren fort: „Die Besonderheit, die es von anderen Künsten unterscheidet, ist, daß die theatralische Produktion als Aufführung und ihre Rezeption nicht voneinander getrennt verlaufen. Das ist bedingt durch die Tatsache, daß das sinnliche reale Verhalten, der Körper und die Sprache des wichtigsten Produzenten, des Darstellers (Schauspielers) zugleich auch das unabdingbare, das wichtigste ,Material' für die künstlerische Gestaltung gesellschaftlicher Vorgänge und menschlichen Verhaltens sind." (J. Fiebach/ R. Münz, Thesen zu theoretisch-methodischen Fragen der Theatergeschichts-
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Schreibung, in: Wiss. Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.u. Sprachwiss. R., 3/4 1974, S. 359). Vgl. R. Münz, Das „andere" Theater. Studien über ein deutschsprachiges teatro dell'arte der Lessingzeit, Berlin 1979; J. Fiebach, Die Toten als die Macht der Lebenden. Zur Theorie und Geschichte von Theater in Afrika, Berlin 1986. - Der Begriff Theatralität wird von Joachim Fiebach benutzt in: ders., König und Dirigent für die Musik seiner Rede, in: Weimarer Beiträge, 10/1983. J. Fiebach/R. Münz, Thesen zu theoretisch-methodologischen Fragen der Theatergeschichtsschreibung, a. a. O., S. 359. W. Puchner, Brauchtumserscheinungen im griechischen Jahreslauf, Wien 1977, S. 347 (Veröffentlichungen des Österreichischen Museums für Volkskunde, 18). M. Wekwerth, Schriften. Arbeit mit Brecht, Berlin 1975, S. 474. Vgl. A. Boal, Theater der Unterdrückten, Frankfurt a. M. 1979, S. 83-97. M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976, S. 66. Vgl. D. Wiedemann, Arbeiterjugend - Kultur - Theater, in: Material zum Theater. Beiträge zur Theorie und Praxis des sozialistischen Theaters, hrsg. v. Verband der Theaterschaffenden der DDR, Nr. 203, Berlin 1986, S. 3-10 (Theater und Gesellschaft, 46). B. Brecht, Der Dreigroschenprozeß, in Schriften zur Literatur und Kunst, Bd. 1, Berlin - Weimar 1966, S. 213/214. Der massive Einsatz von Filmen, auch von alten, im Fernsehen bringt wohl das historische Werk in die Massenkommunikation zurück, aber zugleich erfolgt eine Einebnung der künstlerischen Besonderheiten. „Fernseh- und Videorechte an alten Filmen schlagen heute mehr zu Buche als die Kinorechte an den neuen", schreibt Enno Patalas über das Filmgeschäft in kapitalistischen Ländern. „Das Fernsehen als prinzipiell reproduktives Medium (das Kino war eben kein Medium, es war die Sache selbst für die, die es machten und für die, die es sahen) bemächtigt sich des Alten wie des Neuen und macht alles gleich." (Filmpodium, Zürich, 6/1986, S. 2). K. Wolf, Diskussionsbeitrag auf dem HI. Kongreß des Verbandes der Filmund Fernsehschaffenden der DDR, 3.-5. 5. 1977 in Berlin, in: ders., Sag' dein Wort!, Potsdam-Babelsberg, Sonderdruck 1982, S. 121 (Aus Theorie und Praxis des Films: Sonderheft). V. Schklowski, Schriften zum Film, Frankfurt a. M. 1966, S. 21. Zitate aus: Eulenspiegel vom 3. 4. 1973; Das Volk (Erfurt) vom 9. 4. 1973; Neue Zeit vom 10. 4. 1973; Junge Welt vom 3. 4. 1973; BZ am Abend vom 5. 4. 1973; Freiheit (Halle) vom 4. 4. 1973; Berliner Zeitung vom 11. 4. 1973; Neues Deutschland vom 31.3.1973. H. Koch, Der Einzelne und die Gesellschaft, in: Neues Deutschland vom 16.6.1973, S. 4. H.-J. Rother, Konstruktion eines Irrtums, in: Forum, 7/1973, S. 6.
366
32 H. Carow, Filmkunst, die alle angeht, Potsdam-Babelsberg, Sonderdruck 3/1983, S. 46 (Aus Theorie und Praxis des Films: Sonderheft). 33 E. Richter, Alltag und Geschichte in DEFA-Gegenwartsfilmen der siebziger Jahre, in: Filmwissenschaftliche Beiträge, 1/1976, S. 161. 34 Ebenda, S. 148. 35 Ahrens, Paulas Film, in: Die Weltbühne 15/1973, S. 462. 36 H. Carow, Filmkunst, die alle angeht, a. a. O., S. 54. 37 Ebenda, S. 44. 38 E. Richter, Alltag und Geschichte in DEFA-Gegenwartsfilmen der siebziger Jahre, a. a. O., S. 149. 39 G. Schröder, DEFA 73, in: Treffpunkt Kino, 1/73, S. 2 f. 40 Rolf Richter über Siegfried Kühn, in: DEFA-Spielfimregisseure und ihre Kritiker, Bd. 1, Berlin 1981, S. 79. 41 B. Brecht, Schriften zur Kunst und Literatur, Berlin - Weimar 1966, S. 200. 42 Helmut Baierl, interviewt von Horst Simon, in: Neues Deutschland vom 8.4.1973, S. 4. 43 Rolf Richter über Siegfried Kühn, a. a. O., S. 82.
Anmerkungen zum Kapitel 5 1 W. Schindler, Strukturauffassungen. Bemerkungen zu Fragen der Strukturforschung in der klassischen Archäologie, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ges.- u. Sprachwiss. R., 4/1969, S. 108; ders., Antike Kunst und sozialistische Gegenwart, in: Antikerezeption, deutsche Klassik und sozialistische Gegenwart, hrsg. v. J. Irmscher, Berlin 1979, S. 67 (Schriften der Winckelmann-Gesellschaft, 5). 2 Medienforschung, hrsg. v. D. Prokop, Frankfurt a. M. 1985. 3 Ebenda, Bd. 3, S. 357. 4 Ebenda, Bd. 1, S. 522. 5 Ebenda, S. 527. 6 Ebenda, S. 528. 7 Ebenda. 8 Th. W. Adorno, Resumé über Kulturindustrie, in: Medienforschung, hrsg. v. D. Prokop, Bd. 1, a. a. O., S. 477. 9 Ebenda. 10 Medienforschung, hrsg. v. D. Prokop, Bd. 3, a. a. O., S. 171. 11 Ebenda, S. 173. 12 Medienforschung, hrsg. v. D. Prokop, Bd. 1, a. a. O., S. 531. 13 H. Holzer, Massenkommunikation und Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland, in; K. M. Bolte, Deutsche Gesellschaft im Wandel, Bd. 2, Opladen 1970, S. 235. (Zit. nach: Medienforschung, hrsg. v. D. Prokop, Bd. 1, a. a. O., S. 531). 14 Medienforschung, hrsg. v. D. Prokop, Bd. 3, a. a. O., S. 160. 15 Ebenda, S. 166.
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16 Ebenda, S. 170. 17 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in. MEW, Ergänzungsband, Erster Teil'a. a. O., S. 542. 18 K. Marx, Das Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd. 23, a. a. O., S. 790. 19 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 42, a. a. O., S. 415. 20 H. Jung, Deformierte Vergesellschaftung. Zur Soziologie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der BRD, Berlin 1986, S. 135. 21 K. Marx, Das Kapital. Dritter Band, in: MEW, Bd. 25, a. a. O., S. 838. 22 Ebenda. 23 W. I. Lenin, Der „linke Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: Werke, Bd. 31, Berlin 1983, S. 26. 24 H. Scheler, Aufsätze zum historischen Materialismus, hrsg. v. F. Rupprecht, Berlin 1973, S. 239. 25 H. Nick, Information, Informationstechnik - ein besonderes Element der Produktivkräfte, a. a. O., S. 388. 2.6 Ebenda. 27 W. Sydow, Entwicklungstendenzen der elektronischen Massenmedien und Aspekte ihrer Nutzung, in. In die Zukunft gedacht, hrsg. v. W Sydow, Berlin 1983, S. 302-304. 28 H. Nick, Information, Informationstechnik - ein besonderes Element der Produktivkräfte, a. a. O., S. 390. 29 Medienforschung, hrsg. v. D. Prokop, Bd. 1, a. a. O., S. 513. 30 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in. Werke in zwanzig Bänden, hrsg. v. E. Moldenhauer/K. M. Michel, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1970, S. 68. 31 Vgl. M. McLuhan, Die magischen Kanäle. „Understanding Media", Düsseldorf - Wien 1968; ders., Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Düsseldorf - Wien 1968. 32 Vgl. G. Luäcs, Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 1, Berlin - Weimar 1981, S. 584-660. 33 Gespräch über Probleme der Erforschung von Unterhaltungskunst (L. Bisky, E. Ertel, H. Hanke, A. Hochmuth, L. Kirchenwitz, G. Mayer), in: Weimarer Beiträge, 9/1984, S. 1430/1431 34 H. Wagner, Politische Ökonomie, in: Handbuch Wirtschaftsgeschichte 1, hrsg. v. Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin 1981, S. 68. 35 36 37 38
I. Dölling, Individuum und Kultur, Berlin 1986, S. 49. Ebenda, S. 70. Ebenda, S. 82. L. Kühne, Ornament - „Poesie der Erinnerung" und Ästhetik kommunistischer Praxis, in. ders., Haus und Landschaft. Aufsätze, Dresden 1985, S. 69-72 (Hervorhebungen von uns).
39 P. Wicke, Theoretische Probleme der Produktion von Rockmusik im Sozialismus, in: Informationen der Generaldirektion beim Komitee für Unter-
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haltungskunst, 3/1986, Beilage zur Zeitschrift „Unterhaltungskunst", 8/1986, S. 10. Ebenda. U Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1977, S. 56. Ebenda, S. 57 P Wicke, Rockmusik - Zur Ästhetik und Soziologie eines Massenmediums (Diss. B), Berlin 1986, S. 34/35. Ebenda, S. 117 J Lotman, Kunst als Sprache. Untersuchungen zum Zeichencharakter von Literatur und Kunst, Leipzig 1981, S. 14. P Wicke, Rockmusik. Zur Ästhetik und Soziologie eines Massenmediums, a. a. O., S. 13. Ebenda, S. 12/13. Ebenda, S. 8. U Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt a. M. 1984, S. 186. Ebenda, S. 90. R. Jakobson. Essai de linguistique générale, éd. N Ruwet, Paris 1963, S. 30 (zit. nach U Eco, Apokalyptiker und Integrierte, a. a. O., S. 79) U Eco, Apokalyptiker und Integrierte, a. a. O., S. 110. Ebenda, S. 80. Ebenda, S. 94. Ebenda, S. 72. Ebenda, S. 93/94. Ebenda, S. 53. Ebenda. Ebenda, S. 55. Zu den stofflichen und methodischen Zusammenhängen dieser Schriften mit dem „Passagen-Werk" vgl. W Benjamin, Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Th. W Adorno und G. Scholem hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1972-1985 (im folgenden GS, römische Band- und arabische Teilbandzahl), 1.3, S. 984, VI, S. 227, ders., Briefe, hrsg. und mit Anm. vers, v G. Scholem/Th. Adorno, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1966 (im folgenden. Br, römische Bandzahl), II, S. 700.
61 GS V.2, S. 1247 62 Vgl. Br I, S. 446, sowie- Br II, S. 6 6 2 f , zu Aragons Roman vgl. W Klein, „Die andere Seite des Spiegels" Realismus bei Aragon, in: Literarische Widerspiegelung. Geschichtliche und theoretische Dimensionen eines Problems. Autorenkoll. unter Ltg. v. D Schlenstedt, Berlin - Weimar 1981, S. 517ff 63 64 65 66
GS GS GS GS
1.3, S. 1.2, S. 1.2, S. 1.2, S.
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Feist
1047, vgl. auch. GS VI, S. 227f 444. 509 630.
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67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79
GS 1.2, S. 449,488. GS 1.2, S. 474. GS 1.2, S. 478. GS V I , S. 414. GS 1.2, S. 522. GS V I , S. 398. GS I;3, S. 1169 GS 1.2, S. 475. GS 1.2, S. 688. GS 1.2, S. 680. GS 1.3, S. 1045. GS 1.2, S. 688. Damit geht Benjamin über die Erschließung bloßer „Wechselberührung" (K. Wais) zwischen einzelnen Künsten hinaus. (Vgl. dazu K. Barck, Geschichtlichkeit der Künste. Überlegungen im Blick auf interdisziplinäre Perspektiven, in Weimarer Beiträge, 4/1986, S. 631-642.
80 GS V I , S. 574 - Seinen „Ausdrucks"-Begriff entwickelte Benjamin in kritischer Auseinandersetzung mit vulgärsoziologischen Auffassungen von der „Abspiegelung" (GS V1, S. 495) der ökonomischen Basis im kulturellen Überbau und mit lebensphilosophischen Ideen von Ludwig Klages (1872 bis 1956), Verf u. a. von „Ausdrucksbewegung., und Gestaltungskraft" (1913, 5. Aufl. 1936) Vgl. auch Br I, II (siehe Register), sowie: W Fuld, Walter Benjamins Beziehung zu Ludwig Klages, in Akzente Zeitschrift für Literatur (München), 28/1981, S. 247-287 81 82 83 84
GS V I , S. 575. G S V 1 , S . 55. GS 1.3, S. 1115. „Poètes maudits" heißt eme Essaysammlung P Verlames von 1884. Vgl. auch Benjamins Rezension „Übersetzungen" zu Verlaines „Armer Lelian. Gedichte der Schwermut, der Leidenschaft und der Liebe" (1925) und A. Rimbauds „Gedichten" (1925), in GS III, S. 40f
85 86 87 88 89 90 91 92 93
GS V I , S. 420. GS 1.3, S. 1151 GS V2, S. 1231 GS V.2, S. 1230. GS 1.3, S. 1043 GS V I , S. 232. GS V.2, S. 1210. GS 1.2, S. 485. Vgl. K. Marx' Aussagen über die Tatsache, daß der gesellschaftliche Charakter der Arbeit vermittels der Wertabstraktionen der kapitalistischen Produktion die „phantasmagorische Form eines Verhältmsses von Dingen" (K. Marx, Das Kapital. Erster Band, m MEW, Bd 23, S. 86) annehme, und über das „Ratsei des Warenfetischs" (ebenda, S. 108)
370
94 GS V.2, S. 1257 95 GS V.2, S. 822,1256. 96 GS V.2, S. 1172. 97 GS V.2, S. 744. 98 GS 1.3, S. 1236. 99 GS VI, S. 429 100 GS 1.3, S. 1033. 101 GS 1.2, S. 632. 102 GS 1.2, S. 614,630ff. 103 GS V.2, S. 1214. 104 GS V.l, S. 495. 105 GS V.2, S. 966. 106 GS V.2, S. 1033. 107 GS V.l, S. 469 108GS VI, S. 591 Vgl. dazu auch die Thesen „Über den Begriff der Geschichte" (in: GS 1.2, S. 691-704); sowie; G. Härtung, Walter Benjamins Antikriegsschriften, in. Weimarer Beiträge, 3/1986, S. 404r-419 109 Vgl. GS 1.2, S. 493 f., GS 1.3, S. 1049-1051. 110 GS 1.2, S. 672. 111 GS 1.2, S. 440. Vgl. dazu K. R. Greffrath, Metaphorischer Materialismus. Untersuchungen zum Geschichtsbegriff Walter Benjamins, München 1981, S. 91-109; Chr. Kambas, Walter Benjamin im Exil. Zum Verhältnis von Literaturpolitik und Ästhetik, Tübingen 1983, S. 116-128; M. Stoessel, Aura. Das vergessene Menschliche. Zu Sprache und Erfahrung bei Walter Benjamin, München - Wien 1983, S. 23-39. 112 GS V.l, S. 591 f. 113 GS 1.2, S. 468, 508. 114 GS V.l, S. 469. 115 GS 1.2, S. 465, 504. - Vgl. auch Benjamins Rezensionen zu S. Kracauers „Die Angestellten" (in: GS III, S. 219-225, 226-228), sowie: J. Schweinitz, Kino der Zerstreuung. Siegfried Kracauer und ein Kapitel Geschichte der theoretischen Annäherung an populäre Filmunterhaltung, in: Weimarer Beiträge, 7/1987, S. 1129-1144. 116 GS 1.2,553; V1, S. 524. Zum „Flaneurstil" in der Kulturindustrie vgl. S. BuckMorss, Der Flaneur, der Sandwichmann und die Hure. Dialektische Bilder und die Politik des Müßiggangs, in: Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des XIX. Jahrhunderts, hrsg. v. N. Bolz/B. Witte, München 1984, S. 96-113. 117 GS V.l, S. 469,591 118 Vgl. u. a. Br H, S. 520,669f., 716. Zum Exilhorizont Benjamins vgl.. D. Schiller u. a., Exil in Frankreich, Leipzig 1981, S. 225-233. 119 GS 1.2, S. 615. 120 Ebenda. 121 K. Holzkamp, Grundlegung der Psychologie, Frankfurt a. M. - New York 1985, S. 313.
24*
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122 Ebenda, S. 230. 123 H. Kuchling, Uber die gesellschaftliche Natur des Zeichengebrauchs, in: Der dialektische Materialismus und seine Kritiker, hrsg, v. H. Hörz/ A. J. Iljin, Berlin 1975, S. 238. 124 P. Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 1974, S. 143. 125 Vgl. M. Franz, Wert und Wahrheit (unveröff. Manuskript), 1985. 126 E. R. Curtius, Zur Literaturästhetik des Mittelalters (2), in: Zeitschrift für Romanische Philologie (Halle), 58/1938, S. 139. 127 Vgl. ders., Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Bern 1954. 128 Vgl. W. Veit, Toposforschung, in: M. L. Bauemer, Toposforschung, Darmstadt 1973, S. 183. 129 L. Bornscheuer, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt a. M. 1976, S. 94 (Hervorhebung von uns). 130 Ebenda, S. 44/45. 131 P. Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, a. a. O., S. 143. 132 L. Bornscheuer, Topik, a. a. O., S. 46 (Hervorhebung von uns). 133 J. Kopperschmidt, Topik und Kritik. Überlegungen zur Vermittlungschance zwischen dem Prius der Topik und dem Primat der Kritik, in: Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, hrsg. v. D. Breuer/H. Schanze, München 1981, S. 177. 134 E. Hahn, Zur Gesetzmäßigkeit sozialistischer Bewußtseinsentwicklung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 10/1977, S. 1172. 135 Gesellschaft und Bewußtsein, hrsg. v. W.Müller/D. Uhlig, Berlin 1980, S. 203. 136 Ebenda, S. 212. 137 A. K. Uledow, Die Struktur des gesellschaftlichen Bewußtseins. Eine soziologisch-theoretische Untersuchung, Berlin 1972, S. 42. 138 K. Marx, Das Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd. 23, a. a. O., S. 564. 139 L. Bornscheuer, Topik, a. a. O., S. 79. 140 Ebenda, S. 80. 141 Ebenda (Hervorhebung von uns). 142 Ebenda, S. 182/183. 143 J. Bialostocki, Stil und Ikonographie. Studien zur Kunstwissenschaft, Dresden 1966, S. 111-125. 144 Ebenda, S. 113. 145 Vgl. Topik, hrsg. v. D. Breuer/D. Schanze, a. a. O. 146 Ebenda, S. 174. 147 L. Bornscheuer, Topik, a. a. O., S. 158. 148 Ebenda. 149 M. Moser, Zur Materialität der Topik, in: Topik, hrsg. v. D. Breuer/ H. Schanze, a. a. O., S. 204. 150 G. Lukäcs, Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 1, Berlin - Weimar 1981, S. 37. 151 L. Bornscheuer, Topik, a. a. O., S. 91 ff. 152 Vgl. R. Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 1970.
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153 Ebenda, S. 129 154 Ebenda, S. 141 155 F Klix, Erwachendes Denken. Eine Entwicklungsgeschichte der menschlichen Intelligenz, Berlin 1980, S. 138. 156 Ebenda, S. 146. 157 K. Holzkamp, Grundlegung der Psychologie, a. a. O., S. 390. 158 R. Barthes, Mythen des Alltags, a. a. O., S. 141. 159 F Klix, Erwachendes Denken, a. a. O., S. 156/157 160 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd.l Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a. M. 1981, S. 78/79 161 R. Barthes, Mythen des Alltags, a. a. O., S. 140. 162 Ebenda, S. 85. 163 Ebenda, S. 90. 164 Ebenda, S. 92. 165 R. Weimann, Literaturgeschichte und Mythologie Methodologische und historische Studien, Berlin - Weimar 1974, S. 415/416 (Hervorhebung von uns) 166 R. Barthes, Mythen des Alltags, a. a. O., S. 93. 167 Ebenda, S. 86/87 168 Ebenda, S. 110. 169 Ebenda, S. 130. 170 F Klix, Erwachendes Denken, a. a. O., S. 250. 171 P H. Feist, Künstler, Kunstwerk und Gesellschaft. Studien zur Kunstwissenschaft und zur Methodologie der Kunstwissenschaft, Dresden 1978, S. 34. 172 U Schneider-Abel, Von der Klassik zum „Klassischen Herrenhemd" Antike in der Werbung, in: Journal für Geschichte (Weinheim), 3/1979, S. 46. 173 H.-E. Mittig, Historisierende Reklame, in: Kritische Berichte des Ulmer Kunstvereins, 2/3/1975, S. 74. 174 Der Begriff „biosoziales Wesen" wird von Rolf Löther verwandt (vgl. R. Löther, Mit der Natur in die Zukunft. Die natürlichen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, Berlin 1985, S. 147). 175 Vgl. R. Bach, Zur Lebenssituation der Jugend und zum Jugendprotest in der kapitalistischen Welt, in: Wiss. Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.-u. Sprachwiss. R., 5/1986. 176 W Röhr, Zur anthropologischen Wende der bürgerlichen Philosophie, in. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 7/1980, S. 840. A n m e r k u n g e n z u m Kapitel 6 1 Vgl. M. B. Turner, Philosophy and the Science of Behavior, New York 1967, W Stegmüller, Theorie und Erfahrung, Heidelberg 1970; Th. Herrmann, Persönlichkeitsmerkmale. Bestimmung und Verwendung in der psychologischen Wissenschaft, Stuttgart 1973. 2 Vgl. W. Hacker, Allgemeine Arbeits- und Ingenieurpsychologie, Berlin 1973, H.-D. Schmidt, Zum Problem des Konstruktbegriffs in der empirischen
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Persönlichkeitsforschung und -diagnostik, in: Zeitschrift für Psychologie, 182/1974, S. 1-17; Zur psychologischen Persönlichkeitsforschung 1, hrsg. v. M. Vorwerg, Berlin 1978. K.-P. Noack, Unhaltbarkeit und Konsequenzen eines Vorurteils: Theo Herrmans Phänomenalismus, in: Zur psychologischen Persönlichkeitsforschung 3, hrsg. v. M. Vorwerg, Berlin 1980, S. 39. Vgl. H.-D. Schmidt, Grundriß der Persönlichkeitspsychologie, Berlin 1985. H. Thomae, Das Problem der Konstanz und Variabilität von Eigenschaften, in: Handbuch der Psychologie, hrsg. v. Ph. Lersch/H. Thomae, Bd. 4, Göttingen 1960, S. 281-356. Vgl. B. G. Ananjew, Der Mensch als Gegenstand der Erkenntnis, Berlin 1974. H.-D. Schmidt, Grundriß der Persönlichkeitspsychologie, a. a. O., S. 61. Ebenda. G. Knepler, Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung, Leipzig 1982, S. 32. Ebenda. H. Kreitler/S. Kreitler, Psychologie der Kirnst, Stuttgart 1980, S. 199f. A. N. Leontjew, Probleme der Entwicklung des Psychischen, Berlin 1964, S. 250. E. H. Gombrich, Bild und Auge; Stuttgart 1984, S. 27. K. Holzkamp, Sinnliche Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1973, S. 121. H. Hiebsch, Wissenschaftspsychologie. Psychologische Fragen der Wissenschaftsorganisation, Berlin 1977, S. 17. E. H. Gombrich, Bild und Auge, a. a. O., S. 37. R. Müller-Freienfels, Psychologie der Kunst, Bd. 1, Leipzig 1922, S. 207f. R. L. Katz, Empathy, London 1963, S. 4. P. H. Feist, Gestaltungsweisen in der sozialistisch-realistischen bildenden Kunst von heute, in: Wiss. Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.- u. Sprachwiss. R., 1 /1977, S. IV f. B. Brecht, Über Lyrik, Frankfurt a. M. 1968, S. 72. Vgl. W. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtimg, Leipzig - Berlin 1921; F. Gundolf, Goethe, Berlin 1916; E. Ermatinger, Das dichterische Kunstwerk, Berlin 1921; O. Walzel, Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters, Berlin 1923. B. Brecht, Der Dreigroschenprozeß, in: Schriften zur Literatur und Kunst, Bd. 1, Berlin - Weimar 1966, S. 185. Ebenda, S. 211/212. B. Brecht, Über Lyrik, a. a. O., S. 72/73. Ebenda, S. 73. M. Vorwerg/T. Alberg, Die Subjektfunktion der Persönlichkeit als psychologisches Problem der Widerspiegelungstätigkeit, in: Zeitschrift für Psychologie, 191/1983, S. 396-408. P. H. Feist, Gestaltungsweisen in der sozialistisch-realistischen bildenden Kunst von heute, a. a. O., S. IV. Ebenda, S. V.
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29 30 31 32 33 34 35
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51 52 53 54
U. Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1977, S. 41 Ebenda. Ebenda, S. 54. H.-D. Schmidt/W Heise, Vom Spiel zur Theaterkunst, Berlin 1977, S. 28. Ebenda, S. 22. A. Boal, Theater der Unterdrückten, Frankfurt a. M. 1982, S. 43. H. van de Velde, Der neue Stil, in: Henry van de Velde. Zum neuen Stil. Aus seinen Schriften, ausgew. u. eingel. v. H. Curjel, München 1955, S. 166 (wörtlich: „Jede Epoche hat ihre Sensibilität für sich, die sich in allem ausspricht, in Politik, Wissenschaft und Kunst."). B. Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen 1980, S. 117/118. P Weiss, Aufsätze - Journale - Arbeitspunkte. Schriften zur Kunst und Literatur, hrsg. v. M. Haiduk, Berlin 1979, S. 113. A. Leontjew, Tätigkeit - Bewußtsein - Persönlichkeit, Berlin 1979, S. 210 (Beiträge zur Psychologie, 1). Ebenda, S. 194/195. Ebenda, S. 194. Th. Wilder, Unsere kleine Stadt, in: ders., Stücke, Berlin 1982, S. 67 (wörtlich. „Begreifen die Menschen jemals das Leben, während sie's leben jeden, jeden Augenblick?"). A. Leontjew, Tätigkeit - Bewußtsein - Persönlichkeit, a. a. O., S. 191 Ebenda, S. 216. Ebenda, S. 209 Ebenda, S. 211/212. Ebenda, S. 212. M. Vorwerg, Grundlegende Probleme der persönlichkeitspsychologischen Forschung, in. Zur psychologischen Persönlichkeitsforschung 1, hrsg. v. M. Vorwerg, a. a. O., S. 19/20. G. Stiehler, Uber den Wert der Individualität im Sozialismus, Berlin 1978, S. 169/170. H. Krumpel, Zur Moralphilosophie Hegels, Berlin 1972, S. 21 T Aitmatow, Der Tag zieht den Jahrhundertweg, Berlin 1982, S. 5; vgl. auch ders., Gefühl des Friedens - höchstes ethisches Ideal unserer Epoche, in: Neue Zeit vom 6.11.1982, S. 8. Vgl. E. Kaufmann, „Der Tag zieht den Jahrhundertweg" von Tschingis Aitmatow. Für und Wider, in: Weimarer Beiträge, 11/1982, S. 99 Siehe I. Lakov, „Der Tag zieht den Jahrhundertweg" von Tschingis Aitmatow. Für und Wider, in: ebenda, S. 106. K. Hager, Der IX. Parteitag und die Gesellschaftswissenschaften, Berlin 1976, S. 29. T Aitmatow/K. Muhamedshanow, Der Aufstieg auf den Fudschijama, in: T Aitmatow, Frühe Kraniche - Scheckiger Hund, der am Meer entlangläuft - Der Aufstieg auf den Fudschijama, Berlin 1983, S. 243.
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55 T. Aitmatow, Der Tag zieht den Jahrhundertweg, a. a. O., S. 178. 56 Vgl. H. Koch, Was man selber tut - das zählt. Zu moralischen Werten der sozialistischen Gesellschaft und den Aufgaben des Kulturbundes, in: Sonntag, 43/1982, S. 3; s. a. „Der Tag zieht den Jahrhundertweg" von Tschingis Aitmatow, Für und Wider, a. a. O. 57 T Aitmatow, Der Tag zieht den Jahrhundertweg, a. a. O., S. 22. 58 R. Schröder, Nachwort, in: T Aitmatow, Abschied von Gülsary - Der weiße Dampfer - Über Literatur, Berlin 1984, S. 388. 59 T. Aitmatow, Die Literatur - mein Leben, in: Kunst und Literatur, 1/1982, S.55. 60 E. Kaufmann, „Der Tag zieht den Jahrhundertweg" von Tschingis Aitmatow. Für und Wider, a. a. O., S. 99/100. 61 Vgl. ebenda, S. 100. 62 Siehe T Aitmatow, Der Tag zieht den Jahrhundertweg, a. a. O., S. 18. 63 Aitmatow verwendet das Sinnbild „Boot" beispielsweise im Zusammenhang. „Wozu führt in unserem Atomzeitalter die Zwietracht zwischen den Völkern? Wir sitzen heute alle in einem Boot. Und hinter der Bordwand ist kosmische unermeßliche Weite. Das globale Problem des Jahrhunderts ist die Verteidigung des Friedens " (in Gefühl des Friedens - höchstes ethisches Ideal unserer Epoche, a. a. O., S. 8) 64 W Beitz, Epochenwidersprüche und Konfliktgestaltung bei Tendrjakow, Trifonow und Granin, in. Weimarer Beiträge, 5/1985, S, 802. 65 M. Lange, „Der Tag zieht den Jahrhundertweg" von Tschingis Aitmatow. Für und Wider, a. a O., S. 110. 66 Ilona Lakov verweist darauf, daß 1969 in der Erzählung „Ballade von der vergessenen Zeit" des kasachischen Schriftstellers Abisch Kekilbajew die Kunde vom Mankurt wiederauflebte (vgl. I. Lakov, „Der Tag zieht den Jahrhundertweg" von Tschingis Aitmatow, Für und Wider, a. a. O., S. 105). 67 „Wir werden noch erleben, wovon wir geträumt haben " Tschingis Aitmatow im Gespräch mit Ralf Schröder, in. Neue Zeit vom 4. 6.1983, S. 7 68 T Aitmatow, Der Tag zieht den Jahrhundertweg, a. a. O., S. 183. 69 Ebenda, S. 182. 70 Siehe M. Wekwerth, Er hat Vorschläge gemacht , in. B. Brecht, Über Kunst und Politik, hrsg. v. Werner Hecht, Leipzig 1977, S. 8 / 9 71 K. Marx, (Thesen über Feuerbach), in: MEW, Bd. 3, a. a. O., S. 5. 72 Vgl. K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in. MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, a. a. O., S. 516. A n m e r k u n g e n z u m Kapitel 7 1 A. Walter, Leser-Äußerungen zu Leser-Äußerungen, in. Weimarer Beiträge, 3/1987, S. 496. 2 W Heise, „Der Tag ist angebrochen " Unser Verhältnis zur Klassik als Verhältnis zur eigenen Geschichte, in. ders., Realistik und Utopie. Aufsätze zur deutschen Literatur zwischen Lessing und Heine, Berlin 1982, S. 16.
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3 P Weber in- Bürgerlich-humanistisches und sozialistisches Erbe. Diskussion einer Arbeitsgruppe. Autorenkonferenz 30 Jahre Weimarer Beiträge, in: Weimarer Beiträge, 4/1986, S. 591 4 H. Kaufmann, Versuch über das Erbe, Leipzig 1980, S. 8. 5 R. Weimann, Literaturgeschichte und Mythologie. Methodologische und historische Studien, Berlin - Weimar 1971, S. 26. 6 W Heise, Anmerkungen zum „Erbe", in. Weimarer Beiträge, 10/1974, S. 156. 7 Ders., Zehn Paraphrasen zu „Wandrers Nachtlied". Über Wahrheit im Gedicht, in: ders., Realistik und Utopie, a. a. O., S. 115. 8 Zur Erforschimg und Diskussion von Kulturerbe bzw. kulturellen Traditionen vgl. u. a. Die Kulturrevolution in der DDR, Berlin 1981; H. Koch u.a., Zur Theorie der sozialistischen Kultur, Berlin 1982. - Zu bedenken sind auch die vielfältigen engen Zusammenhänge zwischen kulturellkünstlerischem Erbe und seinen Traditionen mit historisch-politischem Erbe und aus ihm gebildeten Traditionen (vgl. dazu W. Schmidt, Die DDR und die deutsche Geschichte. Zur Historiker-Diskussion um Erbe und Tradition, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (Leipzig), 36/1987) 9 E. Middell in: Bürgerlich-humanistisches und sozialistisches Erbe, Diskussion, a. a. O., S. 600. - In diesen Zusammenhang gehört auch D. Schillers Feststellung, daß „ein Gesamtkonzept des Umgangs der sozialistischen Gesellschaft mit dem Erbe regressiver gesellschaftlicher Kräfte auf kulturellem Gebiet" fehle (D. Schiller (Rez.): H. Haase u. a., Die SED und das kulturelle Erbe. Orientierungen, Errungenschaften, Probleme, Berlin 1986, in- Weimarer Beiträge, 3/1987, S. 502). 10 Vgl. u. a. D. Schiller, Die Klassiker des Marxismus-Leninismus über Probleme der Tradition und des kulturellen Erbes, in: Weimarer Beiträge, 1/1974, S. 34ff., ders., Rosa Luxemburg in der Schiller-Debatte 1905. Zu ideologischen Grundfragen der Erbe-Rezeption in der deutschen Sozialdemokratie, in: ebenda, 9/1977, S. 5-24, M. Nössig u. a., Literaturdebatten in der Weimarer Republik. Zur Entwicklung des marxistischen literaturtheoretischen Denkens 1918-1933, Berlin - Weimar 1980; D. Schiller, Die Expressionismusdebatte 1937 bis 1939 aus der Sicht des Pariser Exils, in: Weimarer Beiträge, 3/1986, S. 42(M29. 1 1 R . Weimann in: Avantgarde - Arbeiterklasse - Erbe. Gespräch zu Peter Weiss' „Ästhetik des Widerstands", in. Sinn und Form, 1/1984, S. 92. 12 H. Drescher, Notizen, in: Sinn und Form, 6/1985, S. 1309 13 Vgl. dazu M. Lange, Bedeutende Leistung provoziert neue Fragen. Zu dem Band „Die SED und das kulturelle Erbe", in. Weimarer Beiträge, 3/1987, S. 500. 14 W Benjamin, Der Autor als Produzent. Ansprache im Institut zum Studium des Faschismus in Paris am 27 April 1934, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.2, hrsg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1980, S. 686.
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15 Ebenda, S. 689. 16 B. Brecht, Zu Wordsworth, „She was a Phantom of Delight" (1940), in: ders., Über Lyrik, Berlin - Weimar 1964, S. 89. 17 W Heise, Gesellschaft - Gegenstand der Poesie, in: Weimarer Beiträge, 9/1986, S. 1444. 18 W. I. Lenin, Die Spaltung in der polnischen Sozialdemokratie, in: Werke, Bd. 31, Berlin 1962, S. 475. 19 Vgl. dazu. Leseerfahrung - Lebenserfahrung. Literatursoziologische Untersuchungen, hrsg. v. D. Sommer u. a., Berlin - Weimar 1983, S. 137. 20 Vgl. u. a. H. Hanke, Massenkultur - populäre Künste - Unterhaltung, in: Informationen der Generaldirektion beim Komitee für Unterhaltungskunst, 3/1986, Beilage zur Zeitschrift „Unterhaltungskunst", 8/1986, S. 1-3. 21 F Möbius, Stil als Kategorie der Kunsthistoriographie, in: Stil und Gesellschaft. Ein Problemaufriß, hrsg. v. F Möbius, Dresden 1984, S. 8. 22 W Mittenzwei, Zeitgenössisches Theater und klassische Stücke, in. spectrum, 10/1984, S. 26. 23 K. Barck, Geschichtlichkeit der Künste. Überlegungen im Hinblick auf interdisziplinäre Perspektiven, in Weimarer Beiträge, 4/1986, S. 636. 24 H. Ulrich, Eine romantische Liebe, in Film und Fernsehen, 6/1985, S. 12. 25 R. Reschke, Die unterschiedlichen Gesichter des Friedrich Hölderlin. Der Dichter als Kunstgestalt, in: ebenda, S. 10-12. 26 H. Strobach, Zweite Kultur?, in: Sonntag, 48/1984, S. 7. 27 K. Barck, Geschichtlichkeit der Künste, a. a. O., S. 631 28 H. Hanke, Kulturelle Traditionen des Sozialismus, in. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 7/1985, S. 589. 29 K. Höpcke, Das Buch im Ensemble anderer alter und neuer Medien. Lesen als geistiges Bedürfnis und grundlegendes Menschenrecht. Erfahrungen der Literaturverbreitung in der DDR, in Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (Leipzig), 20/1985, S. 398-403. 30 K. K. Walther, Die deutschsprachige Verlagsproduktion von Pierre Marteau/Peter Hammer, Köln. Zur Geschichte eines fingierten Impressums, Leipzig 1983, S. 51 31 G. Härtung, Literatur und Ästhetik des deutschen Faschismus. Drei Studien, Berlin 1983, S. 7 32 M. Naumann u. a., Gesellschaft, Literatur, Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht, Berlin - Weimar 1975, S. 279 33 R. Jürschik in: Fortschritt als Frage. Eine Diskussion um Entwicklungsprobleme von Gegenwartskünsten, in: Weimarer Beiträge, 8/1986, S. 1306. 34 E. Honecker, Ansprache bei der Bildung des Martin-Luther-Komitees der DDR, in: Neues Deutschland vom 14./15. Juni 1980. 35 K. Hager, Tradition und Fortschritt, in: Sinn und Form, 3/1985, S. 452. 36 H.-G. Werner, „Revolutionäres Drama" Versuch einer Begriffsdifferenzierung an Beispielen des 18. Jahrhunderts, in. Weimarer Beiträge, 12/1983, S. 2044.
378
37 Vgl. dazu E. Hexelschneider/E. John, Kultur als einigendes Band? Eine Auseinandersetzung mit der These von der „einheitlichen deutschen Kultumation", Berlin 1984. 38 Chr. Bürger, Tradition und Subjektivität, Frankfurt a. M. 1980, S. 44. 39 L. Kreutzer, Mein Gott Goethe, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 10*1. 40 Ebenda, S. 145. 41 R. Faber, Vorwort, in: W. Benjamin. Profane Erleuchtung und rettende Kritik, hrsg. v. N. W. Bolz/R. Faber, Würzburg 1985, S. 8. 42 Cl. Prévost, Chemins d'une Nouvelle culture, in: Révolution (Paris), 209/1984, S. 26. 43 D. Bleitrach, Le Music-Hall des âmes nobles. Essai sur les intellectuels, Paris 1983, S. 135. 44 Zweites Deutsches Fernsehen, Kulturmagazin „Aspekte", 24. August 1984. 45 D. Schlenstedt in: Avantgarde - Arbeiterklasse - Erbe, a. a. O., S. 81. 46 D. Schiller in: ebenda, S. 95. 47 U. Dietzel, Gespräch mit Manfred Wekwerth, in: Sinn und Form, 6/1985, S. 1133. 48 Vgl. zu dieser Problematik: K. Hirdina, Pathos der Sachlichkeit. Tendenzen materialistischer Ästhetik in den zwanziger Jahren, Berlin 1981, S. 71, 209. 49 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 42, a. a. O., S. 505. 50 Karl Marx, Brief an Ferdinand Lassalle vom 22. Juli 1861, in: MEW, Bd. 30. Berlin 1964, S. 615. 51 Friedrich Engels, Brief an Conrad Schmidt vom 27. Oktober 1890, in; MEW, Bd. 37, a. a. O., S. 493. 52 H. Kaufmann, Versuch über das Erbe, a. a. O., S. 143. 53 F. Solter, Einige Gedanken, wenn man alte Stücke inszeniert und die Trilogie „Wallenstein" aufs Theater bringt, in: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik, hrsg. v. W. Dietze/P. Goldammer, Folge 5, Berlin - Weimar 1982, S. 92 f. 54 Th. Mann, Der Zauberberg, Berlin - Weimar 1979, S. 922. 55 Vgl. dazu: R. P. Koepke, Wilhelm Müllers Dichtung und ihre musikalische Komposition (Diss.), Northwestern University, Evanston, (III.) 1924. - Auf S. 20 wird mitgeteilt, daß „123 Gedichte (Wilhelm Müllers) von nicht weniger als 241 Komponisten 530 mal vertont" worden seien. 56 H. H. Eggebrecht, Die Musik Gustav Mahlers, München 1982, S. 227. 57 H. Heine, Brief an Wilhelm Müller vom 7. Juni 1826, in: Werke und Briefe, Bd. 8, Weimar 1972, S. 237ff. 58 G. Härtung, „Am Brunnen vor dem Tore . . . " Über ein Lied von Wilhelm Müller und Franz Schubert, in: Interkurs '77. Internationaler Hochschulferienkurs für Germanistik der Martin-Luther-Universität Halle - Wittenberg. Reden und Vorträge, hrsg. v. D. Löffler/D. Bähtz, Martin-LutherUniversität Halle - Wittenberg, Wissenschaftliche Beiträge 22/1978 (f 16), Halle 1978, S. 31.
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59 Vgl. W. Müller, Zueignung an Atterboom, in: Rom, Römer und Römerinnen. Eine Sammlung vertrauter Briefe aus Rom und Albano, Bd. 2, Berlin 1820. 60 G. Härtung, „Am Brunnen vor dem Tore .", a. a. O., S. 33/34. 61 Ebenda, S. 33. '62 H. Goldschmidt, Schuberts „Winterreise", in ders., Um die Sache der Musik. Reden und Aufsätze, Leipzig 1970, S. 112. 63 Vgl. dazu Franz Schubert. Die Texte seiner einstimmig komponierten Lieder und ihre Dichter, hrsg. v. M. Schochow/L. Schochow, 2 Bde., Hildesheim 1974. 64 65 66 67 68 69
Vgl. ebenda. H. Goldschmidt, Schuberts „Winterreise", a. a. O., S. 115. Ebenda, S. 116. Th. Mann, Der Zauberberg, a. a. O., S. 922. M. Thalmann, Zeichensprache der Romantik, Heidelberg 1967, S. 55. W Müller, Brief an Friedrich Brockhaus vom 19 Februar 1827, in H. Lohre, Wilhelm Müller als Kritiker und Erzähler. Ein Lebensbild mit Briefen an F A. Brockhaus und anderen Schriftstücken, Leipzig 1927, S. 274. 70 H. Goldschmidt, Schuberts „Winterreise", a. a. O., S. 115. 71 Friedrich Silcher (1789-1860) bearbeitete Schuberts Lied „Der Lindenbaum" für vierstimmigen Männerchor. In der Melodiestimme veränderte er den Schlußton der zweiten Zeile. Aufschlußreich ist auch die Vortragsbezeichnung - „Einfach und innig vorzutragen" 72 F Reininghaus, Schubert und das Wirtshaus. Musik unter Metternich, Berlin 1979 S. 217 73 Vgl. dazu G. Knepler, Musikgeschichte des 19 Jahrhunderts, Bd. 2: Osterreich. Deutschland, Berlin 1961, S. 636. 74 Th. W Adorno, Die Wunde Heine, in. Noten zur Literatur I, Frankfurt a. M. 1958, S. 151 75 B. Brecht, „An die Nachgeborenen", in ders., Gedichte, Bd. 4 (1934-1941), Berlin - Weimar 1978, S. 148 ff Nachbemerkung Reiner Bredemeyers Liederzyklus erschien unter dem Titel „Die Winterreise" beim Deutschen Verlag für Musik, Leipzig 1988 (Nr. DVFM 9408) mit einem Nachwort von Ute Wollny.
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Personenregister
Ackermann, Christian Georg 345 Adelung, Johann Christoph 25 Adorno, Theodor W 107, 123, 161, 206, 354 Ahrens, Peter 196 Aitmatow, Tschingis 311-319, 376 (Anm. 63) Alberg, Traudl 291 Althusser, Louis 65 Apollinaire, Guillaume 232 Aragon, Louis 229,231-233 Aristophanes 301 Aristoteles von Stageira 223, 239, 240 Atterboom, Daniel Amadeus 347 Bachelard, Gaston 64 Baierl, Helmut 197, 200 Balzac, Honoré de 232 Barthes, Roland 65,245-248 Baudelaire, Charles 98, 229-231, 234, 235 Bauer, Adolf 45 Bédier, Joseph 101-103 Beethoven, Ludwig van 125 Beitz, Willi 316 Benjamin, Walter 177, 178, 228-235, 318, 330,339, 370 (Anm. 79) Berg, Alban 100,117,118 Berlioz, Hector L. 97 Besseler, Heinrich 159 Beuys, Joseph 283 Bialostocki, Jan 242,243
Bierwisch, Manfred 140,141,146-148, 150 Blacher, Boris 101,103 Boal, Augusto 185,298,299 Bohlen, Dieter 270,272 Bornscheuer, Lothar 240, 243,244 Borodin, Alexander P 163 Boulez, Pierre 121 Bourdieu, Pierre 240 Brahms, Johannes 98,101,103,107 Brecht, Bertolt 168, 169, 189, 200, 235, 289-291, 318,330,354 Bredemeyer, Reiner 345,346,350-354 Brockhaus, Friedrich Albert 349,352 Bruckner, J. Anton 98 Bütow, Wilfried 52 Buhr, Manfred 27 Burgh, Chris de 263-265 Burmeister, Brigitte 65 Busch, Ernst 107 Butler, Reginald 16 Calder, Alexander 295 Calderön de la Barca, Pedro 95 Carow, Heiner 191,194,195,197 Celan, Paul 227 Chabrier, Emanuel 99,103 Chagall, Marc 283 Champfleury (eigentl. Jules Husson) 98 Chaplin, Charles 333 Chomsky, Noam 141 Chopin, Frédéric F. 101,107
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Cicero, Marcus Tullius 239, 240, 242, 244,245 Collins, Phil 263 Cornelius, C. A. Peter 98 Curtius, Robert 239 Dali y Domenech; Salvador 283 Dante Alighieri 303, 313 Danz, Tamara 267 Daumier, Honoré 230 Debussy, Claude 98,99 Dehmel, Richard 100 Delacroix, Eugèn,230 Delius, Frederick 98 Derrida, Jacques 65 Dessau, Paul 106, 107, 109-112, 114, 289 Dilthey, Wilhelm 290 Dölling, Irene 52,74,217 Domröse, Angelica 196 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 307 Dressel, Roland 200 Dudow, Slatan 199 Dukas, Paul 107 Duttileux, Henri 99 Dvorák, Antonin 107,163 Dylan, Bob 260 Ebstein, Katja 270 Eco, Umberto 143, 204, 220, 222-227, 294,295 Eggebrecht, Hans Heinrich 345 Eisler, Hanns 101_¡. 112, 114, 115, 118, 235,289, 330,354 Elgar, Sir Edward W 98 Engels, Friedrich 23, 25, 32, 35, 41, 43-49, 51, 63, 132, 168-170, 326, 336,341 Ermatinger, Emil 290 Escher, Maurits Comelis 283 Fauré, Gabriel 99,103 Feist, Peter H. 167,249,293 t
382
Feuerbach, Ludwig 24,32,34,39 Fichte, Johann Gottlieb 28, 34 Fiebach, Joachim' 181 Förster, Wieland 15-19,294 Foucault, Michel 59-65,130,185 Franck, César 98 Franke, Dieter 200 Freud, Sigmund 65, 66, 73,232 Friedrich, Caspar David 286 Friedrich, Horst 51 Fühmann, Franz 18 Furtwängler, G. E. H. Wilhelm 121 Gershwin, George 333 Giacometti, Alberto 16 Gibson, James J 283 Glinka, Michail J 163 Gößler, Klaus 40 Goethe, Johann Wolfgang von 343 Goldschmidt, Harry 349,350 Gombrich, Ernst 286 Gottfried von Strassburg 96 Gottschaidt, Kurt 73 Grandville (Jean Ignace Isidore Gérard) 230 Grönemeyer, Herbert 264 Gsovsky, Tatjana 101 Günther, Hans 235 Gundolf, Friedrich 290 Habermas, Jürgen 247 Hanslick, Eduard 83 Hardt, Ernst 101 Hartinger, Walfried 71 Hartmann, Nicolai 73 Härtung, Günter 346 Haslinger, Tobias 345 Haug, Fritz 208 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 24, 25,28-33, 39,40,213 Heine, Heinrich 114, 346, 348 Heise, Wolfgang 296 Heisig, Bernhard 294 Henze, Hans Werner 101-103,112
Herbart, Johann Friedrich 34 Hermlin, Stephan 77,78 Hindemith, Paul 100,103 Hirschmann, Jürgen 55 Hoddis, Jakob van 348 Hölderlin, Friedrich 89 Holzer, Horst 207 Holzkamp, Klaus 246,285 Humboldt, Wilhelm von 141 Huxley, Aldous 233 Indy, Vincent d' 98 Irrlitz, Gerd 27 Ives, Charles 112 Jacobson, Jens Peter 100 Jakobson, Roman 224 Janäcek, Leos 98 Jung, Carl Gustav 73 Kaden, Christian 150,162 Kaiser, Roland 270 Kant, Immanuel 27,73 Karajan, Herbert von 121 Karma, Jürgen 266,267 Kaufmann, Eva 316 Keiler, Peter 25,27, 34 Kekilbajew, Abisch 376 (Anm. 66) Kleist, Heinrich von 17 Küche, Dieter 71,127 Klix, Friedhart 246,249 Knepler, Georg 300 Kollwitz, Käthe 293 Kopperschmidt, Josef 241, 243 Kosing, Alfred 51 Kossakowski, Adolf 73,74 Koyne, Kevin 265 Kracauer, Siegfried 234,235 Kreitler, Hans 282 Kreitler, Shulamith 282 Kristeva, Julia 59,60,65-69 Krug, Wilhelm Traugott 26 Krumpel, Heinz 310 Kubler, George 15
Kuchling, Heinz 130 Kühn Siegfried 197,200 Kühne, Lothar 86,219 Kurtz, Hermann 95 Lacan, Jaques 65, 66 Lakov, Ilona 376 (Anm. 66) Lehmbruck, Wilhelm 16 Lenin, Wladimir Iljitsch 30, 49, 210, 326,332,335 Lennon, John 265,267 Lenz, Jakob Michael Reinhold 339 Leontjew, Alexej Alexejewitsch 52, 170,283,284,304-307,309 Lersch, Philipp 73 Lévi-Strauss, Claude 65 Ley, Hermann 58 Liszt, Franz 97,122,163 Locke, John 26,27,29 Lorenz, Konrad 162 Lorrain, Claude 285,286 Lotman, Juri M. 143,221 Lukäcs, Georg 214,244,330 Luther King, Martin 112 Märten, Lu 235 Maeterlinck, Maurice 99,100 Magritte, René 283 Mahler, Gustav 98,107 Maillol, Aristide 17 Mallarmé, Stéphane 98 Mann, Thomas 96 Marini, Marino 16 Marquardt, Fritz 200 Martin, Frank 101,103 Marx, Karl 10, 22-27, 29^41,43-50,53, 55-58, 63, 66, 68, 70, 72, 129, 1'30, 132, 137, 169-171, 208-210, 231, 241,302,326,336,341 Mattheuer, Wolfgang 294 Mayer/Günter 214, 215 McLuhan, Marshall 213 Messiaen, Olivier 99,103 Michelangelo Buonarroti 112
383
Mittig, Hans-Ernst 251 Molière 248 Morgenstern, Christian 137-139 Morris, Charles William 143 Moser, Manfred 243 Müller, Wilhelm 345-347,349-352,354 Müller-Freienfels, Richard 287 Münz, Rudolf 181 Munari, Bruno 295
Schlegel, Friedrich von 95 Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel 34
Naumann, Manfred 23 Neruda, Pablo 112 Nick, Harry 130,211 Nono, Luigi 112 Novalis (Friedrich Leopold von Hardenberg) 95
Schopenhauer, Arthur 95 Schröder, Ralf 317
Oldenburg, Claes 283 Oppenheim, Maret 283 Panofsky, Erwin 240 Patalas, Enno 366 (Anm. 26) Pierce, Charles Sanders 143 Plenzdorf, Ulrich 191,194 Pousseur, Henri 295 Prokop, Dieter 204-208,211, 212 Puchner, Walter 184 Puschkin, Alexander Sergejewitsch 307 Raphael, Max 235 Reger, Max 98 Reininghaus, Frieder 353,354 Richter, Ludwig 286 Richter, Rolf 199, 200 Ritter, Karl 95 Rosenbaum, Heidi 217 Rothacker, Erich 73 Sachs, Hans 97 Saint-Saéns, Ch.-Camille 98 Saussures, Ferdinand de 143 Schenker, Friedrich 106-109,111,112 Schindler, Wolfgang 203 Schklowski, Viktor 192,193
384
Schlenstedt, Dieter 71, 128, 129, 131, 133 Schmarsow, August 282 Schmidt, Hans-Dieter 277,279,291 Schnebel, Dieter 101 Schönberg, Arnold 99, 100, 112, 117, 118
Schubert, Franz 345, 346, 349-351, 353, 354 Sibelius, Jean (Johan) J Ch. 98,163 Silcher, Friedrich 345,353 Simenon, Georges 227 Sitte, Willi 294 Skrjabin, Alexandr 98 Smetana, Bedfich 163 Snell, Bruno 301 Solter, Friedo 343 Stiehler, Gottfried 44,47,48,309 Stimer, Max 132 Stockhausen, Karlheinz 295 Strauss, Richard G. 98,101 Strittmatter, Eva 316 Sydow, Werner 211 Syolty, Georg 121 Szymanowski, Karol 101 Tarasti, Eero 161 Taut, Heinrich 56 Tetens, Johann Nicolaus 73 Thalmann, Marianne 352 Thierse, Wolfgang 71,86,127 Thom, Achim 291 Thom, Martina 40 Thomae, Hans 278 Trakas, George 283 Traven, B. 333 Turner, Tina 263 Veit, Walter 240
Velde, Henry van de 300 Verdi, Giuseppe F. F. 98 Verlaine, Paul 98 Vizgin, Viktor P. 60,64 Vorwerg, Manfred 75,291,309 Wagenbach, Klaus 340 Wagner," Richard 94-103, 120, 121, 163,297 Wais, Kurt (Karl Theodor) 370 (Anm. 79) Walzel, Oskar 290 Weber, Carl Maria von 97 Webern, Anton F. W. (von) 117,118 Weill, Kurt 112,289
Weimann, Robert 59, 64, 68, 69, 71, 172,173,247 Weiss, Peter 303,340 Wekwerth, Manfred 185,340 Werner, Hans-Georg 71 Wesendonck, Mathilde 95,97 Wicke, Peter 217,219-222 Wilder, Thornton 305 Willmann, Otto 34 Wilson, Richard 285,286 Wittgenstein, Ludwig 146 Wolf, Christa 164 Wolf, Konrad 190 Zola, ßmile 178
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Schiller-Debatte 1905 Dokumente zur Literaturtheorie und Literaturkritik der revolutionären deutschen Sozialdemokratie Herausgegeben und eingeleitet von Gisela Jonas
1989. XXXII, 284 Seiten - 1 2 , 5 cm x 20 cm DDR 22,- M; Ausland 28,- DM ISBN 3-05-000419-3 Bestell-Nr. 754 610 7 Bestellwort: Schiller-Debatte 2119/26
(Schriftenreihe: Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland) Diese Dokumenten-Anthologie rekonstruiert den Verlauf der berühmten Auseinandersetzung von 1905 über die Art und Weise der Aneignung und Wertung des Schillerschen Werkes, die Funktion des klassischen Erbes für eine sozialistische Kulturpolitik. Im Zeichen des 100. Todestages des Dichters stritten prominente Vertreter der sozialdemokratischen Bewegung um Schiller, der „mächtigen Erscheinung der bürgerlichen Kultur", im Zusammenhang von künstlerischem Werk, Geschichte und Weltanschauung.
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Tendenzkunst-Debatte 1910-1912 Dokumente zur Literaturtheorie und Literaturkritik der revolutionären deutschen Sozialdemokratie Herausgegeben und eingeleitet von Tanja Bürgel
1987. XV, 173 Seiten - 1 2 , 5 cm x 20 cm DDR 16 - M; Ausland 2 2 - DM ISBN 3-05-000420-7 Bestell-Nr. 754 746 8 Bestellwort: Tendenzkunst-Deb. 2119/27
(Schriftenreihe: Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland) Tanja Bürgels kommentierte Text-Anthologie rekonstruiert die unter deutschen Sozialdemokraten zwischen 1910 und 1912 mit ungewöhnlicher Heftigkeit geführte sogenannte Sperber- oder Tendenzkunst-Debatte um ein Kunstkonzept für die Arbeiterbewegung. Die Dokumente jener Kontroverse, die mit zwei provokanten Artikeln Heinz Sperbers im „Vorwärts" ihren Anfang nahm; werfen ein Licht auf die Dimensionen damaliger Fragen nach den Chancen, Möglichkeiten und Grenzen proletarischer bzw. sozialistischer Kunstentwicklung inmitten einer bürgerlichen Kulturindustrie.
Interessenten wenden sich bitte an eine Buchhandlung.