Von der Kunst der Griechen: Klassische Einzeldarstellungen zur Geschichte der griechischen Plastik [Reprint 2019 ed.] 9783486751369, 9783486751352


166 42 34MB

German Pages 96 Year 1925

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Verzeichnis der Abbildungen
Einleitung
Griechische Kunst
Die Kunst der Griechen
Erntezug auf einem kretischen Spedsteingefäß von Hagia Triada
Zwei griechische Grabmäler
Der Diskobol des Myron
Phidias
Das Haupt der Athena Lemnia des Phidias
Die Athene und der Zeus des Phidias
Das Drpheusrelief
Niobide
Der Perikles des Krestlas
Der Doryphoros des Polyklet
Der Apollon vom Belvedere
Der Apollon vom Belvedere
Hypnos
Der Hermes des Praxiteles
Der Apoxyomenos des Lysipp
Das Mädchen von Antium
Laokoon
Recommend Papers

Von der Kunst der Griechen: Klassische Einzeldarstellungen zur Geschichte der griechischen Plastik [Reprint 2019 ed.]
 9783486751369, 9783486751352

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Der

Dreiturmbücherei Nr. 12

Herausgeber: Jakob Brummer, München und Ludwig Hasenclever, Würzburg

Von der Kunst der Griechen Klassische Einzeldarstellungen zur Geschichte der griechischen Plastik

gesammelt und erläutert von

Wilhelm Zillinger

Abbildung««

München und Berlin 1425 Druck und Verlag von R. Oldenbourg

Inhalt «rite

Derteichnis der Abbild»»-«»......................................................

7

Einleitung............................................................................................................

9

Furtwängler, Griechische Kunst.........................................................................13 Maser, Die Kunst der Grieche»..........................................................

.

14

Bulle, Erntetug auf einem kretische» Specksteiugefäß................................ 20 Enrtins, Zwei griechische Grabmäler............................................................... 22

Klein, Der Diskobol des Myron.........................................................................29 Sta«rffer, Phibias....................................................................................................35

Fnrtwängler, Das Haupt der Athena iemaia des Phibias .

.

.

.

43

Lübke, Die Athene uub der Jens des Phibias......................................... 48

Buschor, Das Orpheusrelief..............................................................................52 Bulle, Rtobide............................................................................

55

Furtwängler, Der Perikles deS KrefllaS.......................................................58 Mahler, Der Ooryphoros des Polyklei........................................................... 63

Wtuckelmana, Der Apollon vom Belvedere.................................................. 66 Bulle, Der Apollon vom Belvedere................................................................68

Bruno, Hypaos

.................................................................................................... 70

Curtius, Der Hermes des Praxiteles

........................................................... 77

Bulle, Der Apoxyomenos deS iyflpp............................................................82

Buschor, Das Mädchen von Aotium................................................................86 Goethe, iaokoon.........................................................................................................qo

Verzeichnis der Abbildungen Seite Speckstetagefäß aus Hagia Triaba.............................................................21 Grabstele des Aristion......................................................................................23 Grabmal des Aristoaautes.......................................................................... 25 Diskobol des Myron....................................................................................... 31

Kopf der Athena Lemma............................................................................. 45 Münze von MS........................................................................................... 48

Orpheusrelief.....................................................................................................53 Riobid«

..........................................................................57

Periklesherme des Krefllas......................................................................... 59 DoryphoroS des Polyklet..............................................................................65 Apollon vom Belvedere

69

Kopf des Hypnos...........................................................................................71 Hermes des Praxiteles............................................................................... 79

Apoxyomenos des Lyflpp............................................................................. 83 Mädchen von Antium................................................................................. 87

Laokoon.............................................................................................................91

Einleitung Bei aller Bewunderung für die Kunstbenkmäler der Alten kennt die Zeit der Renaissance eine ernsthafte, schvlgerechte „Archäo­ logie", das ist „eine methodische Erforschung der räumlich geform­ ten Denkmäler" (Heinrich Dulle, Handbuch der Archäologie I, S. 75) noch keineswegs. Das 16. Jahrhundert ist noch allzusehr auf die Erforschung der literarische« Denkmäler eingestellt, wie denn auch die allgemeine Bildung unserer Zeit immer noch auf diesem zum wenigsten einseitig zu nennenden Standpunkt steht. Erst das 17. Jahrhundert, in welchem die großen Sammlungen, vor allem in Rom, angelegt werden, und das angehende 18. bringen zünftige Archäologen, vornehmlich in den Mederlaaden und in England, hervor, die freilich immer noch sehr nach der Seite der „Philologie" hiuaeigen. Wir erinnern an G. Super und an den im Auftrag des kunstflnnigen Grafe« Thomas von Aruabel schaffende» Franciscus Junius. Auch die Franzosen haben an der Frühgeschichte der Archäologie mit so bedeutungsvollen Namen wie Claude Peiresc (1580—1637) und Jacques Spon (1647—1685) rühmlichen Anteil. Der in der zweiten Hälfte des 17. und in der ersten des 18. Jahr­ hunderts lebende ftanz-stsche Benediktinermönch Montfauco« (1655—1741) ist der erste, der eine umfassende Darstellvng der seiner Zeit bekannten antiken Denkmäler „mit unerhörtem Erfolg" bewerkstelligte. Würdig zur Seite steht ihm der um ein Menschen­ alter jüngere Graf Eaylus. I« die zweite Hälfte des 18. Jahrhun­ derts ragt der geistvolle Enzyklopädist Diderot (1713—1784) herein, dessen Essai sur la peinture von Goethe einer Übersetzung für wert erachtet wurde. War das politisch machtlose Deutschlaud bisher auf diesem Gebiet untätig geblieben oder doch keineswegs an irgendeiner Führerschaft beteiligt, so hat es bas große Verdienst, den größten und eigentlichen Archäologen des 18. Jahrhunderts hervorgebracht zu haben: Johann Joachim Winckelmann (1717—1768). Der arme Schuhmacherssoh» aus Stendal glüht, wie et» Jahrhundert später Heinrich Schliemann, von elementarer, durch nichts zu bändigender Sehnsucht nach der antiken Kunst. Ihr zuliebe wechselt er seinen evangelischen Glaube» gegen den katholische» aus, der ihn seine Beziehungen zu dem päpstlichen Nuntius Archieto besser ausuützen läßt. Noch ehe er nach Rom geht, gibt er sein berühmtes Werk

„Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst" 1755 heraus. Während des jähren langen Aufenthaltes in Rom entstehen die „Geschichte der Kunst" (1761) und die „Anmerkungen zur Geschichte der Äonft" (1766). „Was man an dieser längst überholten .Geschichte der Kunst" des Altertums noch heute bewundert, ist die Klarheit und Sicher­ heit, mit der ihr Verfasser die Grundzüge jeder kunstgeschichtlichen Entwicklung erkennt und dem Leser vorzeichnet. Dafür gab es, wie die Einleitung mit berechtigtem Stolz ansspricht, kein Vorbild; was viele unklar geahnt, schuf Winckelmann in Wirklichkeit um .... Es war das Werk, auf das die antiquarische Welt «artete. Aber die Welt, die es sich im Flug eroberte, war größer als jene, es war die der Gebildeten überhaupt, und fortan besaß und behielt die Kunstgeschichte im Geistesleben der Völker den Ehrenplatz, der ihr zukam" (Bruno Sauer, Handbuch der Archäologie I, S. 105)T). Daß Winckelmann nach einem kurzen Aufenthalt in der deutschen Heimat auf seiner zweiten Fahrt nach dem Lande seiner Sehnsucht 1768 dem Dolche eines geldgierigen Raubgesellen zum Opfer fiel, ist das größte Mißgeschick, das der werdenden Wissenschaft von der alten Kunst zustoßen konnte**). Lessing, Herder, selbst Goethe sind als Kunstschriststeller und Kunstkritiker ohne Winckelmann nicht denkbar, ebensowenig aber auch die bedeutendsten zünftigen Archäologen der Zeit unmittel­ bar nach ihm: Ennio Quirino Visconti (1751—1818) und Georg Joega (1755—1809). Und die ganze mächtig aufblühende Archäo­ logie des 19. Jahrhunderts steht auf seinen Schultern. Während «m die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert die Franzose» und Engländer durch die Bereicherung ihrer Haupt­ städte mit geraubten antiken Kunstschätzen, die Franzosen im be­ sonderen durch die Begründung der ägyptischen Kunst- und Alter*) Auf Sauers sehr lesenswerten Aufsatz, Geschichte der Archäologie, in dem genannte», von Heinrich Bulle heranSgegebenea Handbuch der Archäologie sei besonders htugewieseo. Leider hat der Krieg daS Wetter­ erscheinen dieses Handbuches, von dem 1913 die erste Lieferung erschien, bis hente gehindert. DaS Handbuch soll de» 6. Band des bei OSkar Deck in München erschienene» Handbuches der klasflschen Altertumswissenschaft bilden. *) In dem dreibändigen Werk von Karl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen, Leipzig, Bogel 1898, ist Winckelmann eia würdiges Denkmal gesetzt.

tumswisseaschaft im Verfolg der politisch ergebnislose« ägyptisch­ syrischen Expedition Bonapartes (1798—1799) die Augen der wissenschaftlichen Welt ans sich lenken, «ährend fast das gavje Europa in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts durch private oder staatliche Grabungen au den klassischen Stätten die Schatzkammern antiker Kunst in ungeahnter Weise bereichert, arbeitet der stille deutsche Gelehrte sinnend und forschend, mit dem Zug ins Große und mit der Andacht zum Kleinen, die beide seinem innersten Wesen gemäß find, an der Erschließung aller Teile der Geschichte der griechischen und römischen Kunst. Er wird im 19. Jahr­ hundert der Erbe Winckelmanns und ist bis auf den heutigen Lag der vorzüglichste und berufenste Träger seiner Ideen gewesen. Friedrich Thiersch, Eduard Gerhard, Friedrich Gottlob Welcker, Otto Iahn, Karl Otftied Müller, Ludwig Roß, Ernst Eurtius, sämtlich in der Hauptsache in der erste« Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkend, ragen im ganzen genommen über ihre an sich nicht un­ bedeutende« französischen, englischen, italienischen zünftigen Zeit­ genossen hinaus. Auch in der folgende» Generation, die den Deutschen auch im staatlichen Auftrag mit dem Spaten in der Hand an der Arbeit steht—die Bewilligung der Mittel zu einer groß angelegten Grabung in Olympia war eine der ersten «iffenschaftltchen Taten des neuen Reichstags —, sind Deutsche die Führer: Adolf Michaelis, Alfted Conze, Heinrich Brunn und vor allem der geniale, mit der erstaun­ lichen Intuition des Ausgräbers begabte Heinrich Schliemann *). Und wieder ein Menschenalter später sieht den genialsten, intuitives Schauen mit gediegener historischer Forschung verbindenden deut­ sche« Archäologe« der neueste« Zeit auf dem Pla«, den leider allzu stütze verstorbenen Adolf Furtwängler (1853—1907). Heute aber stehen die deutschen Erforscher und Kenner der antiken Kunst ebenbürtig »eben ihren ausländischen Iunstgenossen. Nach allem, was im Vorstehenden gesagt wurde, kann es nicht als Äußerung eines kleinliche« Chauvinismus erscheinen, wenn in einer so kleinen Auswahl wie der vorliegenden bei aller Hochachtung für die ausländischen Bettreter der Wissenschaft von der Geschichte der griechischen Kunst nur Deutsche zum Worte kommen. Die Aus') Diel Persönliches und Menschliche- au- dem bewegten Leben biese­ interessanten Manne- bringt Karl Schnchhardt, Schliemann- Ausgrabun­ gen, Leipzig, Drockhaus 1890.

wähl will keine Geschichte der antiken Knast geben, sondern an der Hand von klassischen Darstellungen einzelner Gebiete oder Segen, stände zu ihrem Studium aaregea. Sie deutet den Lauf der geschichtlichen Entwicklung durch die Anordnung der Aufsätze an und möchte, indem fle die Alten neben den Neuen zum Worte kommen läßt, auch fftt die Geschichte des Studiums der griechischen Denk, mäler ein wenig Interesse «ecken. Aber nicht nur eia Stück Stil­ entwicklung sondern auch ei» Stück Altertumskunde «ad griechischer Geistesgeschichte — etwa im Sinne von Heinrich Bulles volkstüm­ lich gewordenem Werk „Der Schöne Mensch" — sollen die 19 Auf­ sätze bieten. Der Herausgeber glaubt fle so ausgewählt zu haben, daß in ihrer Gesamtheit beide zu ihrem Rechte kommen, die kühl­ kritisch beschreibende Darstellung und die begeisterte und begeisternde Bewunderung, und daß beide eine kleine Gabe empfangen, der Lernende und der Genießende. Die Raumbeschränkuag machte eine durchgreifende Stoff­ begrenzung notwendig. Wenn aber ttotz völliger Ausschaltung der Baukunst und Malerei der Titel „Don der Kunst der Griechen" beibehalten worden ist, so erscheint dies deshalb berechtigt, weil flch die Geschichte der griechischen Kunst wie des griechischen Geistes­ lebens am besten aus der Plastik dieses Volkes ablesen läßt, tziefür verweise ich auf den im Nachstehenden abgedruckten Waserschen Aufsatz.

Würzburg, am i. Juli 1925.

Professor Dr. Wilhelm Zillinger

Griechische Kunst Griechische Kunst — für die große Menge ist sie wohl immer noch etwas »war sehr Berühmtes, aber auch etwas gar wenig Gekanntes, etwas Fernes und Kaltes, das man jwar anerkennen muß, das einem aber im Grunde gleichgültig und langwellig ist. Und in dieser Empfindung lassen sich viele befestigen und bestätigen durch den Blick auf die Entwickluag der neueren Kunst, die sich von dem Klassizismus des früheren 19. Jahrhunderts so energisch abgeweadet hat. Man verwechseli die echte griechische Kunst mit jener blaffen, kraft-- und blnllosea Gestalt, welche der neuere Klassizismus') aus mißverstandener Nachahmung der Antike sich ge­ bildet hatte. Maa überträgt den gesunden Widerwillen gegen jene schwächliche Geburt der neueren Zeit auf das Ursprüngliche, das Klassische, Griechische, das man wirklich zu kennen sich nicht bemüht. Aber auch ernstere und tiefere Naturen gibt es, die sich um die griechische Kunst nicht kümmern wollen, «eil sie in anderen Epochen gefunden haben, was sie ausfüllt. Indem sie die unsrer Zeit und unserm Empfinden so viel nähere gewaltige Perstalichkeit Rem­ brandts oder diejenige Dürers mit ganzer Seele erfassen, glauben sie keinen Raum mehr zu haben für Aufnahme der so anders ge­ arteten griechischen Kunst «ad schließen flch gegen diese ab... Seien wir glücklich, daß sie existierte, baß sie uns nicht ganz verloren ist, daß uns, «en» auch nur Trümmer und Ruinen, doch etwas von ihr geblieben ist. Seien wir glütllich, daß es so Köstliches einmal gegeben hat, daß wir doch noch etwas genießen können von Geruch und Farbe jener herrlichen Blume, die ein glücklicher Himmel einst in einer glücklichen Epoche zeitigte... Cs gibt in Natur und Geschichte Erscheinungen, die sich mehr oder weniger gleich immer wiederholen: in der Kunst sind es die der primitiven Stufen. Diesen gegenüber stehen die Erscheinungen, die nur einmal austreten und nicht wieder; das sind die unter ganz

*) Furtwängler trifft In erster Linie den klassizistischen italienischen Bildhaner Antonio Canova (1757—1822), dessen Perseus und Faust­ kämpfer im Belvedere des Vatikans zn Rom „in uns heutzutage unverständ­ licher Überschätzung" (Baedeker) in unmittelbarer Nähe und scheinbarer Gleichberechtignng mit so bedeutenden Antiken wie dem Laokoon oder dem Apollon vom Belvedere stehen.

besouderen Bedingungen entstandenen Erscheinungen einiger Art. Unter diese gehört die griechische Kunst. Eine solche Kunst kehrt niemals wieder, «eil sich ihre Dedingungea niemals alle wieder jusammeofinden werden. Im ganzen Laufe der Welt­ geschichte waren niemals die Dedingungea für eine große plastische Kunst gegeben wie bei den Griechen. Es ist die griechische Plastik darum die großartigste und reichst entwickelte aller Zeiten. Wie wenig indes bei jenen Dedingungea äußere Mittel zu sagen haben, mag ein vergleichender Dlick auf unsere Zeiten lehren, wo es an diesen durchaus nicht fehlt und wo eine Fülle von plastischen Denk­ mälern geschaffen wird, die viel größer und reicher sind, als es die Aufgaben der griechischen Skulptur der Blütezeit waren, und wo dennoch die plastische Kunst auf ganz tiefer Stufe steht'). Der Einblick in die Geschichte der griechischen Kunst lehrt jene Dedingungea verstehen. Ist die griechische Kunst so etwas Einziges, das nie wiederkehren kann, so lohnt auch die Deschäftigung mit ihr in einziger Weise. Die Kürze unseres Lebens gibt uns den Rat, die wenige Zeit, die uns neben den unmittelbaren Aufgaben des Tages bleibt, nur dem Desteu in der Fülle der Crscheinnngea, nur dem wirklich Großen und Einzigen zu widmen. Die griechische Kunst wird immer den Anspruch erheben dürfen, in diese kleine Reihe des Besten und Größ­ ten, was der menschliche Geist geschaffen hat, in die Reihe dessen zu gehören, das vollkommen zu lernen und ganz zu verstehen eine Lust ist, und dessen Umgang erfrischend zugleich uud erhebend auf «ns wirkt. Adolf Furtwängler«)

Die Kunst der Griechen „Wenn wir auf dem Gebiete der bildenden Kunst von der .Antike' reden, so verstehn wir darunter in zehn Fällen neunmal Werke der griechischen Plastik." Ja der Plastik stehen die Griechen, wenn nicht unerreicht, so doch «aüberttoffen da, «ad mit der Fülle des Erhaltenen gewährt diese den reichsten Aufschluß *) Man denke etwa an die Siegesallee in Berlin! *) Über Adolf Furtwängler flehe di« Einleitung! Oer oft zitierte Auf­ satz stand in der Deutschen Rundschau 1905 (123. Baad), S. 45 ff. und 1908 (135. Band), S. 236 ff. Oie vorliegende verkürzte Fassung findet flch bei Ernst Reifiager, Griechenland, Landschaften und Bauten, Leipzig, Insel­ verlag 2(1923), 6.47s.

über die künstlerische Begabung der Griechen wie überhaupt über die Eigenart der griechische« Volksseele, das Wesen der hellenischen Kultur. Die Architektur, an festere Formen gebunden, besitzt weniger Freiheit und Ausdrucksmöglichkeiten als die Skulptur, die neben dem jeweiUge« Zeitgeist auch die einzelne Künstlerpersönltchkeit deutlich spiegelt. Zudem bezeichnet der Griechen Plastik vielleicht in umfassenderem Sina einen Höhe- und Ausgangspunkt in der Kunst aller Zeiten als die griechische Architektur, die ja zumal in der ans ganz anderm Geiste geborenen, andern Gesetzen folgenden, doch nicht minder bedeutsamea Gotik einen mächtigen Rivalen hat. Und schließlich lassen sich wenigstens die Hauptformen und die Haupt­ gedanken der griechischen Baukunst leicht auch im Zusammenhang mit Schöpfungen der Plastik auseiaaadersetzea. Also Grund genug, die Behandlung dieser, der Plastik, in de« Vordergrund zu rücken. Do» der Malerei der Griechen ist uns zu wenig erhalten. Laut erschallt durchs ganze Altertum der Ruhm der großen Maler, und die Alten selbst haben ihre Malerei mindestens ebenso hoch ein­ geschätzt wie ihre Plastik; auch wir denken zufolge etubrtngender Studien der neuern und neuesten Zett viel besser schon von antiker Malerei als früher, ja, immer mehr hat sich uns die Erkenntnis anfge-rängt, „daß durch die ganze griechische Kunstgeschichte hindnrch nicht die uns so viel geläufigere Plastik, sonder» die Malerei die führende Kunst gewesen ist." Aber trotz allem können wir auf diesem Bodeu mehr nur ahnen als durch eigene Anschauung zur überzeuguug gelangen. Was wir besitzen, sind Wandgemälde, Mosaiken, Dasenbilder, wovon aber die Wandmalereien (z. B. die von Pompeji) meist späten Perioden der anükea Kunst angehörea und Gegenden, die abseits liegen von den Mittelpunkten des Kunst­ betriebes, die DasenbUber anderseits mehr avr Erzeugnisse der Kleinkunst sind oder (wie ja auch Wandmalereien und Mosaiken) Produkte des Kunstgewerbes, des Kunsthandwerkes, nicht eigentlich Schöpfungen der steten hohen Kunst. Die Meisterwerke der großen griechischen Maler besitzen wir nicht, lediglich von „Denkmälern griechisch-römischer Malerei" x) dürfen wir reden; kein Gemälde *) Paul Herrmann, Denkmäler der Malerei deS Altertums, Tafel­ werk mit begleitendem Text, vollständig in 60 Lieferungen, fett 1906 bei Bruckmann in München «rschetoeob; bis jetzt liegen 15 Lieferungen vor. Leichter zugänglich ist Ernst Pfuhl, Meisterwerke griechischer Zeichnung und Malerei, München, Bruckmann 1924, ein Auszug aus seinem 1923 im gleichen Verlag erschienenen dreibändigen Werke. Die griechischen Vasen studiert

iS

des Polygnotos von Thasos hat sich uns erhalte», kein Bild des Jeuxis oder des Apelles, auch nicht ein einziges Originalgemälde eines der großen Meister, die an der Sette der großen Bildhaner Pheidias und Polykleitos, Praxiteles, Skopas und Lysippos, gar diese mannigfach bestimmend, die Zeitalter des Perikles und Alexan­ ders des Großen durch ihre Schöpfungen bereichert, die Zeitgenossen beglückt, in Entzücken und Begeisterung versetzt haben! Auf in­ direktem Wege müssen wir eine Vorstellung von solchen Schöpfungen zu gewinnen suche», und schließlich, auch wenn, wie gesagt, gegen früher unsere Achtung vor der Malerei der Griechen beträchtlich ge­ stiegen ist, auch «evn wir gerade in jüngster Zeit z. B. über Polygnots Gemälde überraschende Aufschlüsse empfangen haben «nd allein schon das grandiose Alexandermosaik für die hohe Bedeutung der griechischen Maleret zeugt — wer Freund ist von gewissen bestimmten Formeln, wird noch immer an der These festhalten könne», daß die Griechen in der Plastik zwar unerreicht oder jedenfalls kaum je übertroffen dastehen, daß aber anderseits den -roße» Malern der Renaissance und der neuern Zeit mit ihrer Vielseitigkeit, mit der reichen Ausgestaltung der Probleme vor ihre» altgriechischen Kollegen die Palme wird zuerkannt werden müsse«. Die griechische Plastik ist aber nicht bloß aufschl«ßr«tch für die Kenntnis des Griechentums, sondern auch zufolge ihrer klarlinigen Entwicklung ganz hervorragend geeignet, das Verständnis für btl, dende Kunst überhaupt anzubahnen, zu erschließen, ist eine Erzieherin zur Kunst ganz allgemein und eine unerschöpfliche Quelle des künst­ lerischen Genusses für jedermann. Dieses Genusses teilhaft zu «erden, dafür ist die wichtigste Voraussetzung nicht humanistische Dorbilduag, vielmehr das richtige Sehen, das Sehenkönne» «nd Sehenwollen — wie gegenüber aller Kunst. Auch der Antike gegenüber bedarf es nicht in erster Linie gewisser Kenntnisse; so nützlich es ist, daß man flch etwas auskenae in der antiken Götter, welt, in antiken Mythen und Sagen und Anschauungen überhaupt, den Genuß der griechischen Kunstwerke zu vermitteln, stehen doch obenan eia gesundes Auge und ein vorurteilsloses natürliches Empfinden... Zu höchster Vollendung haben es die Griechen in ihrer Plastik gebracht, und bei dieser hohen Vollendung darf die griechische Kunst

man »ach dem seit 1900 gleichfalls bei Bruckmann in München erscheinen­ de» großen Tafelwerk von Adolf Furtwängler und Karl Reichhold oder nach Ernst Buschor, Griechische Vasenmalerei, 2. Auflage, München, Piper 1914.

16

ganz wohl als vorbildlich gelten, allein nur bis zu einem gewissen Grad. Maa glaube nicht, daß die Griechen z. B. bei ihrer Art der Wiedergabe des menschlichen Körpers das einzig Richtige getroffen, gleichsam die absolute Norm für alle Zeiten hingestellt haben. Glaubten wir das, dann stände« wir «och auf dem Standpunkt des i8. Jahrhunderts, Winckelmauus, Lessings und ihrer Zeit, auf dem Standpunkt der Klassizistik, des Klassizismus, da man statt der Natur die Antike zu studiere« empfahl, in der Meinung eben, der Griechen Schöpfungen auf dem Gebiete der bildenden Kunst seien schlechterdings mustergültig, besser könne man es doch nicht machen.. .Wie verkehrt diese Ansicht ist, wissen wir jetzt. Im­ mer wieder muß die Kunst und der Künstler zurückkehren zur Natur als der obersten Lehrmeisterin, als dem einzig wahren Dorbllb. Freilich erfährt das objektiv« Bild, dessen Wiedergabe augestrebt wird, im Durchgang durch des Künstlers Seele individuelle, persönliche Modifikation, bekommt eiaea Anhauch von Subjektivität; aber just das ist das künstlerisch Wertvolle, immer wieder bas Be­ sondere. Daria beruht die wahre Originalität des Künstlers, daß er mit eigene« Augen sieht, darin seine Überlegenheit gegenüber dem Laten, daß er mehr und schärfer sieht, rasch die Dinge in ihrem Wesentlichen erfaßt; wir andern aber lernen sehen mit seinen Augen, mit den Augen des Künstlers, lernen Formen und Farben und Beleuchtungen, lernen Schönheiten in der Natur erkenne», die des Künstlers Auge zuerst entdeckt hat. So können denn mehrere Küast, ler ohne Gefahr dasselbe Motiv, dasselbe Modell benützen, jedes Bild wird sich in der Auffassung von den andern unterscheiden, mehr oder weniger je nach des betreffenden Künstlers Persönlichkeit. Fast so oft, wie die Meister der Renaissance die Madonna gemalt haben und immer wieder gewisse beliebte Szenen der biblischen Geschichte, kehren in der antiken Kunst beispielsweise Kentauren, und Amazoaenkämpfe wieder, ist da ei» beliebter Gegenstand die Kentauromachie und die Amazoaomachie. Weniger darauf, was der Künstler darstellt, kommt es an, als darauf, wie er seinen Gegen­ stand anpackt — wie es auch nicht wesentlich ist, was ein Dichter schaut und erlebt, sondern wie er es schaut und erlebt: am Wie ist mehr gelegen in der Kunst als an dem Was! Soll nun aber der Künstler einseitig die Antike zum Vorbild nehmen, dann schaut er die Natur vou vornherein mit stemden Augen, mit den Augen der alten Griechen wie durch eine Brille, er ist nicht mehr originell, und solche Kunst muß notwendig in geistlose Manier verfalle» und

XI1/2

17

in Verknöcherung. Ein Künstler, der lediglich einem Vorbild nach, strebt, der ist kein Schöpfer mehr im kleinen wie Gott im großen, der schafft nichts eigentlich Neues mehr, und das Vorbild vermag er doch auch nicht zu erreichen; zu groß ist die Gefahr, daß er am Äußerliche« hasten bleibt. Rur die größten Meister der Renaissance haben es verstanden, den Formenschatz der Antike richtig, unbe­ schadet ihrer Eigenart, in sich aufzunehmen, ihn selbständig zu ver, werten zu individuellen Neuschöpfungen; das waren Meister, die es vermochten, ihren Geschmack zu bilden an den Göttern des Olympos, ohne die Individualität ihrer Schöpfungen zu beein­ trächtigen, die persönliche Eigenart preiszugeben. Dies gilt zumal von einem Michelangelo ..., das Gleiche gilt indes nicht von einem Lauova*), einem Thorwaldsen und andern mehr oder weniger öden Klaffizisten, sklavischen Nachbetern und Nachtretern ... Also, bei der Natur selbst muß der Künstler immer wieder anfragen, die Antike darf nicht in der Weise überschätzt werden, daß man fle direkt an Stelle der Natur rückt; denn auch die Griechen vertreten in ihrer Kunst eine individuelle, persönlich eigenartige Auffaffnng, haben ihre besondere Formensprache, auch fle haben eine gewisse, ihnen gemäße Schematiflerung oder Stilisierung der Ratnr nie ganz aufgegeben. Und innerhalb des Ganzen der griechischen Knnst wiederum haben flch große künstlerische Persönlichkeiten, Einzel, tndividnen ausgelebt, die ihrerseits wieder vielfache Differenzterung herbeigeführt, die das Gesamtbild der griechischen Kunst gar mannig, faltig gestaltet haben ... Was das Altertum an Werken der Kunst hervorgebracht hat, ist unermeßlich, Trümmer nur find auf uns gekommen. Don den erhalten gebliebenen Denkmälern ist das eine oder andere noch an Ort und Stelle zu schauen, das Meiste aber ist in Museen unter, gebracht. Erst in neuerer Zeit haben auch die Museen in Griechen­ land selbst mit ihren unverfälschten, zumeist echt griechischen Werken an Bedeutung gewonnen, obenan das Athener Naüonalmuseum, das Akropolismuseum, die auf dem Ausgrabungsboden erblüh, ten Museen zu Olympia und Delphi und all die «eiteren Lokal­ museen. Älter ist der Ruhm der italienischen Sammlungen. Im Rom der Renaissance-Päpste hebt die Geschichte der neuzeit, lichen Kunstsammlungen an: altberühmte Erzwerke, die beim Lateran den Jahrhunderten getrotzt, bildeten den Grundstock einer

*) Dgl. S. 13 Anm. 1. 18

Sammlung auf dem Kapitol, unb im Belvedere beim vati, kaaischen Palast fanden damals neu entdeckte Marmorbilder ihre glänzende Aufstellung. ES entstauben die berühmten Privat, -alerten der Farnese, Borghese, Ludovifl, Giustiuiaui, in Billa Albani, das Museo Torlouia. Namentlich wuchs sich die Vati, kanische Sammlung rasch auS zu einem Museum, wie eS vordem die Welt utcht geseheu; mit ihrem immeuseu Reichtum au Antiken behauptet fle noch heute wo utcht die erste, so doch eine der ersten Stellen «uter dea Kunstsammlungen deS Erdballs. Ebenbürtig ist tu den letzte» Dezeuuien neben die päpstlichen Museen im Vatikan und Lateran und die nicht mehr päpstlichen, sondern städtischen Sammlungen ans dem Kapitol daS staatliche Museum in den DiokletianSthermen getreten, das Museo nationale delle Terme. Im übrigen find die Museen Italiens so zahlreich fast wie seine Städte. Nach Neapel fiedelte die Sammlung der Farnese über, doch tritt fie im Neapler Museo nationale zurück hinter dem Zuwachs aus den vom Vesuv verschütteten Städten EampauienS. I» Florenz besteht «eben der Antikeusammluug der Uffizien ein besonderes Museo archeologico; an dritter Stelle aber verdient Palermo hervorgehobea zu «erden mit seinem Museo nationale, der Haupt, sammelstätte für die Funde Siziliens. Gleichzeitig schon mit de» päpstlichen Sammlungen entstand zu Loudon daS Britische Museum, daS erste Nattonalmuseum überhaupt, im 19. Jahrhundert daun entwickelt zum vornehmsten Mittelpunkt originaler altgriechischer Kunst. In Frankreich «ar vorübergehend daS zusammeogestohleue Muse« Napoleon die BUduugSanstalt der Archäologen, mit dem Sturze Napoleons brach indes feine stolze Schöpfung zusammen; immerhin beansprucht daS Muser du Louvre mit seiner „Venus von Milo" und der Nike von Samothrake auch heute noch vnter den Antikeusammlungeu einen ersten Rang. Ja Deutschland find die Münchener Sammlungen, die Glyptothek und die Vasen, sammlung König Ludwigs I., heute überflügelt durch die Staatlichen Museen zu Berlin. Im Norden ist bedeutend die Glyptothek Ny, Carlsberg, die der Bierbrauer Carl Jacobsen in den letzten Jahrzehnten zusammengebracht, zu Kopenhagen; Wien hat seine glänzenden StaatSmuseen, Petersburg seine Antikeusammlung in der Eremitage, Konstantinopel im Tschtnili,KioSk (Porzellan, und Fayence,Pavillon) die alte, im neuen Ottomanischen Museum eine neue, die alte noch übertteffende Altertümersammluug. Gleich, sam in elfter Stunde noch machen auch die Amerikaner mit ihren 2'

19

reichen Mitteln gewaltige Anstrengungen, fich Anükenmuseen |u schaffen, den europäischen ebea-ürttg. r>tto Maser')

Erntezug auf einem kretischen Specksteingefäß

von Hagia Triada Das Gefäß wird für köstliche Salben gedient habend). Zum Aufstellen muß ein besonderer Untersatz dagewesea sein. Die Dar, stellung gehört zum Allerlebendigsten, was wir von dieser Kunst besitzen. Ein Trupp Arbeiter kehrt heim. Voran in fransen, besetztem Flausrock schreitet bedächttg und selbstzufrieden der Aufseher mit dem Kommandostabe, er allein mit dem langen Haar der Dor, nehmen, dann kommen paarweise die Arbeiter, im knappen Arbeits­ schurz, der nur als schmales Baud vom Gürtel abwärts geht und hinten ein fröhlich aachstatterndeS Ende hat. Auf dem Kopf tragen ste runde Kappen. Jeder hält sein Arbeitsgerät geschultert, einen langen Stiel, an dem oben drei spitze Stäbe festgebunden stad; unterhalb der Gabelung fitzt ein beil, oder hackenartiges Querstück, das aus Metall zu denken ist. Das Ganze ist also eine Korngabel, die zugleich als Hacke dient, und findet seine Erklärung in dem Um, stände, daß man noch heute in Kreta in abgelegenen Gegenden das Korn,nicht schneidet, sondern mit der Wurzel aushackt. In der Mitte'des Zuges ist die Muflk, ein Alter in breitem Schurz mit dickem Bauche, den Mund weit aufgesperrt mit der Gewichtig­ keit des Vorsängers. Mit einer Metallklapper raffelt er den Takt. Drei weitere Sänger mit nicht minder ausdrucksvollen Mäulern folgen... Hinter der Mufik drängen fich die Paare dichter. Und hier ’) Professor der Archäologie an der Uaiverfltät Zürich. Der Aufsatz ist «io Teil des ersten voa sechs io Zürich gehaltenea Dolkshochschulvorträgen: „Meisterwerke der griechische» Plastik, eine Orientierung und ein Weg", als Buch erschienen bei Rascher in Zürich und Leipzig 1912 (S. uff.). a) Das eiförmige Speckstein, (Steatit,) Gefäß, nur zur Hälfte erhalten, hatte ein« Höh« von 20 cm. Der nach einem abgerollten Gipsabguß wieder, gegebene Streifen ist 8 cm hoch und 30 cm lang. Hagia Triada, nach einer Kirch« der heiligen Dreieinigkeit so genannt, ist eia in der Näh« des großen kretischen Palastes von Phaistos gelegenes Lustschloß. Hier wie in Knossos habe» die Engländer und Italiener seit Beginn dieses Jahrhunderts sehr

ergiebige Ausgrabungen veranstaltet, die unser« Vorstellungen von der Konst der sog. kretisch,mykeaischen Zeit sehr geklärt haben. Das in Rede stehende Gefäß ist zwischen 1500 und 1200 v. Chr. entstanden.

passiert ein kleiner Zwischenfall. Einer war zurückgeblieben, er ge­ hörte offenbar als zweiter Mann zu dem einzelnen, der bei den Sängern marschiert. Aber ehe er noch seinen Platz wieder erreicht hat, strauchelt er, stürzt und hält sich in der Not am Beine eines Kameraden. Der, wütend, schaut sich um und schimpft. Welche Fülle von Bewegung, Rhythmus und Stimmung ist in den 27 Gestalten auf engem Raume zusammengebracht. Wie werfen die Leute ihre Beine in fröhlichem Taktschritt, wie sind sie alle erfüllt von dem Rhythmus der Musik, der sie gewissermaßen als ein Ganzes vorwärts treibt, und wie individuell ist doch jeder

Specksteingefäß aus Hagia Triada einzelne. Jeder hält und trägt sich etwas anders als der Nachbar, und trotz der Kleinheit der Formen hat jeder sogar seinen besonderen Gesichtsausdruck; die ersten beim Anführer sind brav und auf­ merksam, das zweite und dritte Paar schon fröhlicher, der letzte vor dem dicken Sänger singt mit. Bis hierhin halten sie den vor­ geschriebenen Abstand. Hinter der Musik gehen sie unordentlicher, schieben sich näher aufeinander, einige lachen, der Gefallene macht das kläglichste Gesicht und der am Bein Gepackte eine höchst ent­ rüstete Miene. Wenn dies, wie wir wohl annehmen müssen, Sklaven oder doch Hörige sind, die für einen großen Herrn fronden, so ist bewundernswert, wie der Künstler sie doch als fühlende Menschen erfaßt hat. So kommen noch heute unsre Soldaten aus dem Manöver. Welche Heiterkeit liegt über dem Ganzen. Wie fühlt man

die köstliche Stimmn«-, daß die saure Arbeit getan ist und es nun heimgeht im fröhlichen Gleichschritt, bei Gesang und Mustk, zum schönsten Feste des Jahres, dem Erntefest. Die Säuger fingen bereits das Dauklied, den griechischen Ailtaos. In der Körperdarstelluug wagt der Künstler sich bis in ganz schwierige Einzelheiten. Es find dieselbe» schlanken Burschen mit der Wespentaille wie sonst, aber wir sehen hier deutlich auch die Sehnen ihrer Arme und Beine, die Rippen, die Muskeln an Brust und Rücken und daran ihre zappelnde Gelenkigkeit. Am Alten mit der Klapper hat der Künstler sich besonders etwas zu gute getan, «ad wenn der Dickbauch ein wenig an Karikatur streift, so ist doch im allgemeinen nichts übertrieben, denn jede Eiuzelform geht in dem Gesamteiadrnck auf. Der naive Impressionismus ist hier auf seinem Höhepunkt. Wir sehen den fröhlichen Zug leibhaftig au «ns vorüberziehen. Die griechische Kunst hat derartiges formal vollkommener dargestellt, aber niemals mit größerer Lebendigkeit. Zum Instrument des Alten ist zu bemerken, daß es der Klapper im ägyptischen Jflskult, dem Sistrum, gleicht. Ja einem Metall­ bügel find an einem eiagespauatev Stäbchen zwei Scheibchen auf­ gehängt, die beim Schütteln gegeaeinanderschlagea. Ob die Kreter das Gerät von den Ägyptern übernommen haben, ist nicht ausza,

machen, doch ist es bei den lebhaften Beziehungen der beiden Länder nicht unmöglich. Eine Betrachtung läßt flch noch daran anknüpfea, die in das berühmte Kapitel von „Arbeit und Rhythmus" gehört. Wir seheu, daß ein so feinfühliges Volk, wie die Kreter, selbst die Feld­ arbeit mit Musik begleiteten, so wie die Griechen die Ruderarbeit und manches andere mit dem Takt der Flöte.

Heinrich Sülle1)

Zwei griechische Grabmäler So tief in jeder primitiven Religion der Glaube an das Weiter­ leben der Toten, Furcht vor Ahnengeisteru, Hoffnung auf ihren Beistand, also auch Verehrung durch Gebet uud Opfer, wurzela: die Pflege des Grabes, die Ausblldung des Grabmals, seine künstlerische Gestaltung sind erst Leistungen einer höhere» Kultur. *) Professor der Archäologie an der Universität Würzburg. „Der schöne Mensch im Altertnm", 2. Auftag«, München und Leipzig, Georg tzirth 1912, Spalte 59 ff.

Srabstele des Aristion

Ehe nicht der Mensch sich seines Daseins, als eines besonderen, wertvollen bewnßt geworden, empfindet er nicht das Bedürfnis, die Liebe zn ihm in einem Grabmal avsznsprechea, das sein Selbst­ gefühl, den Genuß seiner besonderen Art Lebens widerspiegelt. Rnr der Herrscher, der Fürst besitzt in älteren Zeiten das Anrecht auf eia sein Leben überdanerades Mal. Die Pyramiden und Toten­ tempel Ägyptens, die Knppelgräber Mykenes, wie die „Hünen­

gräber" des Nordens sichern nur wenigen den Toteudieast, der allein Unsterblichkeit verbürgt. Dem Sklaven, rechtlos «och im Tode, bleiben auch die Tore des Schattenreiches verschlossen.

Im griechische« Grabdenkmal zuerst spricht sich im Gegensatz zum Orient das Leben einer freien adelig-bürgerliche» Gesellschaft aus. Daß aber die griechische Grabmalkunst eine« ursprünglich einfachen Gedanken in eine Fülle von Schöpfungen von größter Schönheit der Form und edelstem menschlichem Gefühl gestaltet und sozusagen zu etnem einzigen Gesamtmonumeat wird, hat seinen Grund in de» besondere« Bedingungen griechischer Knltur und Kunst. Hält man Umschau, so ist dem griechische« Grabrelief an Geschlossenheit der Form, Größe der künstlerische« Gestaltung, Eindringlichkeit der Beseelung nur das deutsche gotische Epitaph vom 13. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts zu vergleiche«. Das so berühmte Grabmal der italienischen Frührenatffaace dagegen hat nie die Einfachheit «ad Straffheit der Komposition des griechischen oder gotischen gefunden und ist aus dem Schwanken zwischen gefälliger architektonischer Dekoration und Charakteristik des seelischen Inhalts nie herausgekomme«. Im Barock gar wird auch das Grabmal ein Stück höfische« Pomps und übertreibender Rhetorik «ad verfällt dem theatralischen Pathos der Architektur. Erst der Klassizismus der Zett Schinkels und Schadows sucht die stille Welt des griechischen Friedhofs wieder ans nad spielt die zarte Mustk attischer Kunstwerke nach, geleitet von der zeitgenössischen Dichtung, deren Sehnsucht reine Menschlichkeit t»«1). So ist bis in die Gegenwart das griechische Grabmal Beispiel geblieben, auch für die moderne Kunst, der die Kopie verächtlich erscheint, die aber die strenge schlichte Form ersehnt, um die gärende zwiespältige Empfindung der Zeit phrasenlos auszudrücken.

x) Gottfried Schad»« (1764—1850). Karl Friedrich Schinkel (1781 bis 1841). In Lessings Nathan wie in Goethes Iphigenie ist die „reine Menschlichkeit" als Ideal hingestellt.

Grabmal des Aristonautes

Das griechische Grabrelief ist zuerst nichts weiter als die Um­ formung des eiufachsteu Grabmals, das flch überall fiudet, wo es Steia gibt. Ei« ««gestalteter, senkrecht auf das Grab gestellter, länglicher Block bezeichnet «och heute auf den ärmliche« Friedhöfen türkischer Dörfer die Stelle, an der ei« Toter liegt: das uralte Mal jedes primitive« Grabes *). In Zeiten, die weder Schrift noch Knast kennen, unterscheidet flch bas Grab des Reichen oder Heiligen anr durch ein größeres Mal von seine« Nachbarn. Im Griechischen tritt ftühe eine Spaltung verschiedener Gedankt!» des Grabmals auf. In den Gebirgstälern des südlichen Kleinasien wird das Grab in die Felswand eingebettet und veranlaßt die reliefgeschmückte Grabfaffade. Ja anderen Beispielen erhält der Tote als Ausdruck seiner in die Erde versenkten Behausung einen Bau auf dem Grabe. Es entsteht der Grabtempel mit seinen Weiterbildungen bis zu den monumentalen Grabbauten der Eagelsburg in Rom und des Grabes Theoderichs des Großen in Ravenna. Auch die bloße Pfeilerform hat einen Schößling getrieben, der eine merkwürdige Sonderform entwickelt. Ähnlich wie im Türkisch-Arabischen der recht­ eckige Stein einen Turba« als Krönung erhält und damit zur Abstraktion der menschlichen Figur wird, entsteht die griechische Herme dadurch, daß der Steinpfeiler oben einen bärtigen Kopf erhält. Der so verlebendigte Pfeiler entfaltet bis in die Gegenwart eia reiches Formenlebea als tektonischer Träger wie als Form des Porträts. ... Folgenreicher war ein anderer Bilbgedanke. Die schmale, nach oben flch leicht verjüngende Fläche des Mals verführte zu dem Versuch, eine auftecht stehende Figur, sei es als Gemälde, sei es im Relief, auf ihr auzulegen. Das ist gewiß in Ionien zuerst ge­ wagt worden in Wiederaufnahme einer Tradition, von der wir fteilich nur stümperhafte Proben in mykeuischen Grabstelen haben, «ad im Wettbewerb mit der Grabfigur, zu der der Pfeiler unter Einwirkung Ägyptens in den archaischen sog. Apolltnes geworden war. Das Bild also bemächtigt flch des Pfeilers und damit ist die Dahn für eine Entwicklung und Durchbildung einer künstlerischen Idee betreten, an deren Ausgang... das Grabreltefdes Artstonautes l) Um solche einfachen Grabmäler zu sehen, brauchen wir gar nicht bis in die Türkei vorzudringen. Die Grabsteine der Juden find von der gleichen Form, «ab wenn in den Judenfrtedhbfen die modernen Grabmäler unseren oft recht geschmacklosen christlichen aachgebilbet sind, so bedeutet das eine Entfernung von einem guten alten Brauch.

steht. Die Aristionstele gehört in das Jahrzehnt 510—500 v. Chr., der Aristonantes fällt etwa um 3501). Die beiden Werke bedentea Anfang «ad Ende der großen Geschichte des. attischen Reichs und eines an Inhalt «ad Reichtum der Gestaltung ungeheuren Kapitels griechischer Knust. Der Gedanke ist der gleiche, eia bewaffueter Krieger hier wie dort, aber welcher Weg plastischer Durchbildung des Dorwurfs ist in zwei Jahrhnndertea durchmessen ! Nun ist aber auf eine Eigentümlichkeit griechischer Grabmal­ kunst, die fle von jeder späteren unterscheidet, gleich hier aufmerksam zu machen. Dadurch, daß die Aristionstele den Namen des dar­ gestellten Aristion in einer feinen Zeile auf der Bafls trägt, ist ihre Abstcht, ein Porträt deS Verstorbenen zu gebe», klar ausgesprochen. Man mag es der archaischen Kunst, für die bas Porträt, das auf Wiedererkeuuen eines individuellen Menschen eingestellte Abbild, als Problem erst langsam entsteht, nachsehen, daß ste nicht leistet, was ste verspricht. Aristion ist nur Typus, nicht Individuum. Aber kein einziges Grabrelief gtbt ein Porträt, auch der Aristonantes nicht, obwohl das 5. und gar das 4. Jahrhundert Zeiten einer erlesenen Porträtbilbuerei im modernen Ginne des Wortes waten2). Cs ist auch gar kein Schwanken darin wie etwa in der Gotik, «0 die Entscheidung, was blldhauerischer Typus und Zeitstil, was nachahmende Wirklichkeitsschilderung ist, in vielen Fällen schwer, die Abstcht aber klar wird, ein persönliches Abbild eines bestimmten Menschen zu geben. Das griechische Grabmal hat diese bewußt abgelehnt, es gibt nicht einen Fall, «0 auf seinen Bildern ein individueller Mensch «ieberzuerkeunen wäre. Damit hat es all den Ballast von Kostüm und besonderen iebensumständen und den Konflikt von monumentaler Form und Ähulichkeitsforberung beseitigt, der noch dem modernen Porträtisten seine Arbeit so sauer macht. Cs gibt nur schöne Menschenbilder. Der Besteller kann nichts *) Die im Nationalmuseum zu Athen aufbewahrte Aristionstele ist das Werk des Bildhauers Aristokles; der Name des Dargestellten ist auf der Stele selbst genannt. Auch das Grabmal des vorstürmenden Kriegers Aristonantes befindet fich im Nationalmuseum zu Athen. *) Ebensowenig wär« es richtig, in den rundplastischen Grabfiguren vom Schlag deS bekannten „Apollon" von Tenea Porträtstatuen zu sehen. Die auf einem Grabe ausgestellten Figuren dieser Art bedeuten weder eine» Gott «och de« bestimmten im Grab« ruhenden Maa«, sondern find in ihrer Nacktheit nur Typus des sterblichen Menschen: „Schreibt auf meinen keichensteia: dieser ist ein Mensch gewesen

anderes gefordert haben. Der Bildhauer aber war für eine rein künstlerische Lösung so frei, wie sich's große Künstler immer gewünscht haben. Die Entwicklung ist zuerst als eine rein formale anzusehen. Der Aristion steht gebannt zwischen den Kanten seiner Platte wie die Schriftzüge eines Schulbuben zwischen den vorgezeichaetea Zeilen. Farbe half nach, die Einzelheiten von Hemd, Lederpauzer, Haar und Bart zu verdeutlichen *). Das Ganze ist wie eine Zeichnung auf Ante und Umriß angelegt. Der athletische Soldat aber mit seinen mächtigen Schenkeln bleibt unter dem Zwang des Süls ein schläfriger Held; kein freier Schritt, kein sicheres Stehen, eia mißlungener Übergang vom Bauch zur Brust, ein lahm hängender rechter Arm.

Steife, vornehme Ehrbarkeit ... Die Erfüllung aber der neuen Ideen des Stils zeigt der Aristonautes. Der Krieger, rund wie eine freie Figur gearbeitet, stürmt aus der Liefe auf den Beschauer zu, rings von wehender Luft umflossen, die zu einem Bestandteil der Komposition wird. Wie in einer Diston taucht der Held aus den Schatten des Hinter­ grundes ans Acht, um in einem Moment vorbeizustürmea in dem phantastischen Leben des neuen malerischen Süls. Ein Werk aller­ ersten Ranges, das dem Künstler Timotheos x) gehört. ... Die klassisch-griechische Kunst begann in Zeiten naiver bäuerlich-feudaler Kultur. Sie empfing wohl Anregungen von Ägypten und den Staaten des Ostens, aber für eine rein mensch­ liche Gesinnung der Natur, Leben und Well gegenüber hatte sie ganz neue Formen zu schaffen. In einem organischen Wachstum ohnegleichen führt sie ihre Gedanken durch die Blütezeit städtischen Reichtums und den Verfall staatlicher Macht und Freiheit. So fest ruht sie in sich, daß der Wandel altfränkischen Glaubens in *) Der Laie von heute macht sich keinen Begriff, «eich« gewaltige Roll« in der griechischen Plastik (und Architettur) die Farbe gespielt hat. Die heutzutage manchem aatnrfera erscheinenden Kbps« griechischen Meißel- stob durch Farbe belebt zu denken: Augen, Haupt, und Batthaar «erden wir­ kungsvoll durch bunte, grell leuchtende Farben, die auch am Gebälk und in den Schmnckreliest der griechischen Tempel angewandt wurden.

2) Gemeint ist der Bildhauer Timotheos, der mit Skopas, Leochares, Pytheos und Bryaxis zusammen der Schöpfer des Mausolenms zu Halikaraaß gewesen ist, jenes großen, zu den siebe» Weltwundern gezählten Grabmals, das Königin Attemista ihrem Gatte» Maussolos 353 v. Ehr. errichten ließ.

freie philosophische Spekulation, die Auflösung strenger Sitte in die Skepsts der Überkultur sie nirgends erschüttern. Das Ende der Grabmalkuast, der das Luxusverbot des Demetrios *) vou Phalerou 317/16 das Genick brach, ist wie das Alter eines glücklichen Menschen noch mit ihrer Jugend verbunden. Ihre Ideen haben sich verfeinert, sind empfindsamer, schmerzvoller geworden und haben sich mit der Tragik erfüllt, die das Schicksal keinem großen Menschen und keinem großen Volk erspart, aber fle blieben flch selber treu. Ja aller Würde «ub leidenschaftliche» Bewegtheit deS Stils von An, fang bis zum Ende schwingt ein Unterton von Kindlichkeit mit und die ganze Gattung ist von Unschuld erfüllt...

Ludwig Cnrtirrs?)

Der Diskobol des Myron Unsere literarische Überlieferung (über Myron und seine Werke)

ist von gewohnter Schweigsamkeit über wissenswerte Dinge und von nichtswürdiger Geschwätzigkeit über seine Kuh^); glücklicher, weise schöpfen wir die Erkenntnis seiner Größe aus der Quelle der monumentalen Überlieferung, der die Spuren seiner Wirksamkeit tief eingeprägt sind. Sie ruht vor allem auf dem gesicherten Besitz zweier seiner Hauptwerke, der Diskobolstatue und der Statue des x) 317 Gouverneur von Athen. Seine Luxusgesetzgebung zielte darauf ab, durch Eindämmung alles übertriebenen Aufwandes den all, gemeinen Volkswohlstand zu heben. Da vor allem bei den Grabmälern viel Luxus getrieben wurde, ließ Demetrios fortan nur die einfache Rund, säule, den liegenden Grabstein und die Gefäßform des Grabmals zu. 2) Professor der Archäologie an der Universität zu Heidelberg. Was, muths Kunsthefte 3: Das griechische Grabrelief, Berlin 0. I. (mit Aus, laffungen).

3) An rund einem halben Hundert von Stellen der griechischen und römischen Literatur ist die berühmte Kuh erwähnt. Dor allem können flch die Epigrammendichter (vgl. S. 36 Anm. 2) im Lobpreis der Naturnähe ihrer Darstellung nicht genug tun: der Hirt wirft mit dem Stein nach ihr, weil fle von der Herde zurückgeblieben sei; andere Tiere gesellen sich zu ihr; Myron hat entweder das Erz belebt oder er hat eine Kuh aus der Herde genommen und in Bronze verwandelt; Natur und Kunst fochten in dieser Kuh einen Streit aus; fle würde brüllen können, wenn nur der Künstler auch ihre inneren Organe ausgebildet hätte usw.

Marsyas. Do» seinem Diskobol, den Plinius^) in der snmmarischen «ad doch von Fehlern nad Versehen wimmelnden Aufzählung der myronischen Werke aujührt, hat Lukiaa2) eine Beschreibung ent­ worfen, die in dem prägnanten und anschaulichen Herausheben des motivischen Kernes eia kleines Meister- und Musterstück dieser Technik bietet. „Du sprichst vom Diskoswerfer, dem im Schema des Abschleuderns aiedergeduckten, der den Kopf nach der Hand mit der Scheibe gedreht hat, mit dem einen Fuße leicht am Boden schleifend, wie wenn er sofort nach dem Wurf wieder emporschnellen wollte." Auch Qutntilian') (II13, 8) zeugt für das hohe Ansehen, das dieser Diskobol genoß. Er demonstriert an ihm die Lehre von der Schönheit des Unregelmäßigen als an ihrem klassischen Beispiel. „Nichts ist so kunstreich verdreht als jener Diskobol Myrons, und doch, wollte jemand das Werk tadeln als allzuwenig geradlinig, der wäre vom Verständnis der Kunst fern, in der eben jenes Neue und Schwierige der Erfindung des größten Preises wert ist." Kopien dieses nun sofort kenntlichen Diskobolen aber fanden fich gar bald in einer bedeutenden Anzahl zusammen. Doch nur eine derselben ist imstande, eine volle Anschauung dieses Meisterwerkes zu bieten, die im Jahre 1781 in Rom auf dem Esquilin gefundene Statue, einst im Palazzo Maffimi alle colonne, jetzt im Palazzo Laneelotti ängstlich vor den Augen der Kunstfreunde gehütet. Sie ist die ein­ zige, deren Kopf ungebrochen auf den Schultern fitzt, nnd zwar in tadelloser Erhaltung, allen andere« fehlt er, und die Restauratoren, die fich bemüßigt fanden, ihren Torsen einen dazu zu komponieren oder adoptieren, haben die von Lukian beschriebene Wendung nicht getroffen, bis auf einen einzigen, der aber dafür das Motiv der Gestalt mißverstand und den antiken Rumpf in einen stürzenden *) Der bekannte Naturwissenschaftler, 33—79 «• Chr., umgekommen bei dem berühmten Ausbruch des Desov. In seiner 37 Bücher umfassenden Naturgeschichte benützt er die Gelegenheit der Behandlung der Mineralien «ad Metalle zu einer Geschichte der ans ihnen gebildeten Statuen. — Die Hauptfuabgrub« zur Geschichte der griechischen Kunst stad die zwischen 160 und 180 n. Ehr. entstandenen 10 Bücher „Reisen durch Griechenland" des Pausanias.

*) Er lebte im 2. Jahrhundert nach Christus. Die oben übersetzte Stelle findet fich im 18. Abschnitt des Philopseudes (— Lügenfreund). Aus dieser Schrift hat Goethe den Stoff zu seiner bekannten Ballade „Der Zauberlehrling" genommen. s) Oer Redelehrer Quintilian lebte im ersten Jahrhundert »ach Christus.

Diskobol des Myron

krieger verwandelt bat1). Für die Kühnheit der myronischen homposttion ist dieses Nichtnachkommenkönnen der Moder»«« erst echt bezeichaend. Der Dan«, der noch immer auf dem Werke nht, ist jetzt durch einen glücklichen Fund Furtwänglers gelöst, oelcher in der Formerei des Louvre den verkannten Abguß des kopfes des maffimischen Diskobols entdeckt hat, der nun zum Gemeingut aller Abgußsammlungen geworden ist und uns gestattet, msere Vorstellung vom Original von der alten Photographie izt maffimischen Figur loszulösen, indem wir sie uns nun in plastisch ureichende Form verkörpern können. Das Experiment, mit Hilfe ieses Kopfes eine unserer besseren Kopien, die Londoner oder vatianische, im Abguß zu vervollständigen, ist leicht durchführbar und egt zugleich dazu an, ihn von der Stütze zu befreien, die für die KarmornachbUdung des Dronzeoriginals ein trauriger Notbehelf »ar, aber an keinem zweiten Werke so stark die Wirkung beeinträchigt hat. Damit aber haben wir eine Gestalt leibhaftig vor uns, die ie grandiose Komposition voll und ganz wiedergibt und nur die etzten Feinheiten der Ausführung vermissen läßt, die uns das naffimische Exemplar wohl tteuer als die andern vermittelt; aber iesen so oft geübten Verzicht werden ro|t hier, wo die Kompofition «inahe alles ist, williger in den Kauf nehmen.

Dies so gewonnene Werk gibt uns sofort einen tiefen Einblick n das Wesen myroaischer Kunst. Zunächst sagt es uns, daß sein Schöpfer Bronzeplastiker gewesen ist, aber doch noch in einem »deren Sinne als Hageladas, Onatas?) und seine sämtlichen ünstlerischen Ahnen. In ihm erkennen wir das erste Werk, das so pezifisch in Bronze gedacht ist, daß seine NachbUdung in Marmor »ie eine holperige Übersetzung anmutet; es bezeichnet einen Wende*) Wir bilden das Stück »ach einem Abguß im Thermenmuseum zu tont ab, der zusammengesetzt ist aus dem Torso von Laureatum im Ther»enmuseum zu Rom, dem Stopf Lancelotti in Rom, dem rechten Arm mit em Diskus in der Casa Duonarotti in Florenz und den Füßen einer nderen im Britischen Museum in London befindlichen Kopie. Auf solche Leise entsteht eine annähernd richtige Vorstellung von dem alten etwa rbensgroßen Bronzeoriginal.

2) Die Schulen von Sikyon, Argos und Ägina (um 500) strebten ach möglichst vollkommener Darstellung des durch die gymnastischen ibungen gebildeten Körpers. Kanachos von Sikyon, Hageladas von Argos, ialon, Onatas, Glaukias von Ägina find Meister dieser alten, für ihre Zeit ochbedeutsamen Schulen.

punkt, von dem ans die Marmorplastik ihre eigenen Wege gehen mnß, da ste ihrer Schwestertechnik nicht weiter folgen kann. Aber wenn wir auch darin die Tradition der Schule von Sikyöu oachwirkea sehen, der jwiagende Grund liegt doch in der Natur des Künstlers, dem nur die Bronze die volle Freiheit gab, seinem kühnen Tatendrang nach dem Erfassen des Momentanen in der Bewegnag Genüge zu tun...

Das Leben, das die archaische Knast ihren Gestalten in so man, ntgfacher Weise eiaznflSßea bemüht «ar, erscheint hier völlig in Beweguag umgesetzt, und daher gilt Myron im Altertum als der unerreichte Meister des Lebendigen und Lebeuswarmen. Wenn sich aber die alten Kunstkenner verwunderten, von dieser Eigenschaft nichts in dem Ausdruck seiner Köpfe und in der BUdnvg der Haare finden zu können, und scharfe Ausdrücke f8r deren archaischen Charakter notwendig erachtetenT), so haben sie damit den wahren Sachverhalt einfach gekennzeichnet.

Nicht zum ersten Male tritt uns hier auf dem Gebiete der helleaischeu Plastik die bewegte Ctuzelgestalt eutgegen... Die Werke der Meister Onatas und Glaukias können nicht ohne Einfluß auf Myron geblieben sein, dem man das etftige Studium der äginetischeu Kunst förmlich anzusehea glaubt, aber er ist ebensowenig eia Fort, fetzer dieser Tradition wie irgendeiner andern, sondern ein Schöpfer im rechten Wortsinn. Es ist etwas ganz Neues, was «ns hier feflelt, der Zauber des Momentanen. Im nächsten Augenblick, noch ehe wir zu zählen beginnen vermöchten, wird der Diskos im Bogen durch die Lust sausen und die Gestalt aus ihrer Krümmung empor, schnellen; aber es ist, als ob der Meister zu ihm das Zauberwort ge, sprechen hätte: „Derweile doch, du bist so schön!" Diese Zwavgsvor, stellung vom nächsten Moment, unter deren Eindruck Lukian so gut stand wie wir, ist rein psychologischer Art. Das Werk eathÄt nichts davon; so vielfach die Eiazelbewegungea sind, die diesen Körper durchzucken, ste werden alle ausgelöst von der eiaeu des Ausholens, das den Schwerpunkt plötzlich verlegt hat und eine komplizierte Ausgleichung des Poaderationssystems bedingt. Der Oberkörper neigt sich als Gegengewicht vornüber, der Kopf wird von ') Der alte Plinius (vgl. 6. zoAnm. i) sagt von ihm (Naturalis historia 34,57), er habe sich nur um di« Körperbarstellung bemüht, ohne auch seelisch« Stimmungen ausjudrücken; auch sei er in der Haardarstellung nicht über di« »och ««fettige archaisch« Zeit (rudis antiquitas) hinansgegangen.

XII/z

der Bewegung erfaßt und zur Scheibe gedreht, „das linke Dein macht die Bewegung des ausholenden Armes mit, es schleift rück­ wärts, auf die eingekrümmten Zehen gestellt, am Boden, das Schwer­ gewicht fällt ganz auf das rechte Dein, dessen Fußsohle fest am Boden staudhält, der freie linke Arm liegt zur Verstärkung des statischen Elements am Jtnie, aber alle andern Glieder hat der kräftige Ruck in verschiedene Lagen zueinander gedreht." Dieses vollendete Erfassen des Momentanen ist es, das den Beschauer zur ergänzenden Mittätigkeit zwingt. In ihm vollzieht flch selbsttätig die notwendige Vorstellung der komplementären Bewegung und damit der Ein­ druck der blitzartigen Geschwindigkeit des Ablaufes der Aktion, die dem Künstler darzustellen versagt ist. Die so zutreffenden stilistischen Beobachtungen Lukians und Quintilians lassen uns erkennen, in welch eingehender Weise die antike Kunsttheorie flch mit dem ästhetischen Problem beschäftigt hat, das diese Diskobol­ statue in voller Reinheit darbietet. Sie hat damit dessen prinzipielle Bedeutung wohl erkannt, und die moderne Theorie dürste vor ihm leicht geneigt sein, die Lessingsche Lehre vom „fruchtbaren Augenblick", der der Diskobol so bündig widerspricht, einer Revifloa zu uuterziehen. Indes, wir find in solchen Dingen etwas exakter geworben und operieren mit der Momentphotographie, deren Objest in diesem Falle freilich nur ein bequem gekleideter Kegelschieber zu sei» brauchte, was «ns untrüglich belehren würde, daß es einen solchen Moment, wie den dargestellten, eben nicht gibt, daß er vielmehr die Resul­ tierende mehrerer ist, die unser Auge nicht trennen kann. Unser Auge ist doch mehr als eine Camera obscura. Seine Tätigkeit untersteht dem Einflüsse des Intellekts und hat daher einen schöpfe­ rischen Zusatz, und nun gar, wenn dieser Intellekt in einem Künstler­ haupte thront. Indes unser Diskobol bietet zur Behandlung des Prinzips der Darstellung der momentanen Bewegung von selbst eine Htlfsdarstellung, die uns modern anmutet; die geschwungene Scheibe erinnert uns an ein Pendel, das zum Ausschlag gebracht wird. Wir vergleichen diese mit dessen uns geläufigster Erscheinung an der Uhr. Wird die Uhr dargestellt mit dem Pendel genau in der Mitte seines Weges, so steht fle für uns still; nur am Anfang und am Endpunste des Weges werden wir uns den Weg des Pendels nach vorn wie nach rückwärts selbst ergänzen und den Pendelschlag zu vernehmen meinen; irgendein Zwischenpunkt ist undarstellbar, er wird vom Auge stets als der Ausschlagspunkt genommen werden. Übersetzen wir dies Beispiel zurück in die Sprache der Plastik, so

bietet uns der allbekannte ruhig stehende Diskobol mit dem straff herabgehalteuea Diskos den Pendel im Nullpunkt; wir werden ihn schon daran als im bewußten Gegensatz tum myronischen Werk geschaffen erkennen. Denken wir uns an» den entgegengesetzten Punkt durch das Auf- und Zurückschnellen nach dem Abwurf er­ reicht, so haben wir den myronischen Diskobol. Wilhelm Jtkin1)

Phidias Die Göttergestalte« des Phidias waren zu gleicher Zeit Groß­ taten der Kunst wie der Religion. Das eine, weil er menschliche Leiber, sei es gewandet oder ungewandet, und Bewegungen so hohen Absichten dienstbar zu machen wußte, das andere, weil wirklich die höchsten und reinsten Vorstellungen, die der Athener, der Grieche, ja der antike Mensch überhaupt mit jenen Götterperstnlichkeitea zu verbinden wußte, in ihm lebten und nach Aussprache rangen. Als sittliche Mächte hat er seine Götter gefaßt und als geklärte Wesen, die über all der Wirrnis der Erde schweben. Wie die großen Dichter der Zeit hat er damit an der Hebung und Fortbildung der Dolksreligion gearbeitet. Aber nicht mit Aschylus wird man ihn zusammenbringen dürfen, wie etwa Myron, sonder» mit Sophokles. Denn wie in formaler, so «mhaucht auch in geistiger Hinsicht seine Gestalten ei» Zug sonnenheiterer Klarheit und Milde, der ihre Majestät noch erhöht. Wohl wurzeln sie, wie bei Aschylus oder

Myron, auf dem sicheren Grunde des DolksmSßige», aber noch höher als die Schöpfungen jener ragen die des Phidias darüber hinaus, gewaltigen Bäumen vergleichbar, die, zwar tief im Erd­ reich gründend, ihre Wipfel im reinsten Äther wiegen.

Ein gemeinsamer Grundzug verbindet überhaupt Phidias mit den übrigen führenden Charakteren dieses Lebensalters. Wie bei Perikles, Sophokles und auch bei Herodot, ist seine ganze Lebensarbeit bedingt durch jene innere Harmonie, die nichts anderes ist, als die Kraft, gegenüber allen Kämpfen und Schmerzen des Daseins das Gleichgewicht der Seele siegreich zu behaupten. Auch auf ihm ruht schon der Abglanz der Befreiung, welche durch die Aufklärung angebahnt wirb2). Aber mit der Erweiterung des geistigen Hort*) f Professor der Archäologie an der Universität in Prag. Geschichte der griechischen Kunst, 2. Band, Leipzig, Veit & Co. 1905, S. 2 ff. *) Als den Dichter „der griechischen Aufklärung" bezeichnet man ge­ meinhin Euripides, den dritten der drei großen griechischen Tragiker.

3

35

zoutes hält die Vertiefung des Gemütslebeus noch gleiche» Schritt. Vielleicht gerade, weil die eigentlichen Probleme, die den aufgeklärten Verstand bewegen, ihm doch »och ferne liegen, ist dies möglich. Man möchte sagen, seiner Seele kommt die neue Welt der Aufklärung wie eine wundervoll«, «eite Aussicht tvgute, indes die Ausbildung des Gemütes, wie sie von der orphischen Mystik anhob und in den Tragikern und Polygnot ihre Höhe erreichte, für ihn noch den vollen Wert behält. Stärke und Tiefe des Glaubens, Freiheit und Un­ befangenheit des Verstandes verbinden sich so in glücklicher Weise tu seiner Persönlichkeit. So eben ersteigt er wie Sophokles den höchsten Gipfel der Kunst, wobei Form und Gehalt in dem schönsten Verhältnis zueinander stehen und die stärksten Gegensätze eine Lösung finden... Die Athena der Parthenon«!!«*) wurde als eine große Be-

tätiguug griechischer Religiosität von Athen und vom ganzen Altertum auerkauut. Aber in noch höherem Grade war dies offenbar der Fall bei dem Zeusbilbe, das Phidias für den Tempel in Olympia fertigstellte. Die Griechen fühlten dieses Werk als das Erzeugnis einer Offenbarung. „Dir sein Bild zu enthüllen, kam Jeus hernieder zur Erde. Ober du schautest dev Gott, Pheidias, selbst im Olymp." Also äußert sich eiu Epigramm^). Zu der Tat fanden sich die Gebildeteu wie die UngebUdeten beim Anblick dieses Göttervaters religiös gehoben und aufs tiefste ergriffen. Der Sophist Dio Lhrysostomus, in der zweiten Hälfte des i. Jahrhunderts der römischen Kaiserzeit blühend, sah in diesem Zeus, der ganz milde «ud freundlich erscheine, den Lenker eines ruhigen und einigen Griechenlands, und wie er meinte, daß diese Darstellung allen Eigenschaften des Olympiers zugleich gerecht werde, so nannte er den Anblick desselben einen Trost für jeden Unglücklichen. „Ein Anblick, lindernd Zorn und von allen Übel» erlösend." Ja, nicht

bloß panhelleuisch war die Wirkung dieses Zeus. Auch der Römer auerkavate tu ihm den höchsten Gott, dem er Verehrung zollte. ÄmUtus Paulus hat dem olympischen Zeus dasselbe Opfer dar­

bringen lassen, das sonst der römische Staat nur dem kapitolinischen Jupptter spendete. Die aufgeklärten Römer teUten ebenfalls

l) Über sie und den Zeus fleh« de« überaLchsten Aufsatz. *) Die Epigrammelldichter der Alexalldrinischea Zeit sprechen viel­ fach in witzige«, kurze« Gedichte« über Frage« der Knust. Sie spielen demnach als Schriftquelle für die Geschichte der griechische« Kunst eine nicht z« unterschLtzende Rolle.

36

diese Gefühle der Begeisterung, unter ihnen Cicero und in der Folge der Kaiser Hadrian. Den verehrenden Gefühlen, die der große WelteapUger dem Werke widmete, verdanken wir noch die Münze, die vas am besten ei» ahnendes Nachempfindea solcher Gefühle ermöglicht. Quintiliau bezeichnete in Wahrheit nur ein Tatsächliches für die antike Zeit, wenn er sagte, der Künstler habe der Religion durch seine Schöpfung eia neues Moment hinzugefügt. Ml einer seltenen Übereinstimmung pries alle Welt das Werk als vollkommen und als eines, von dem uaausgesetzt Segen und Heil auSströmte...

Phtbias beherrscht das ganze Gebiet der Kunst seines Volkes, und wie er alles umfaßt, was ihr deu Inhalt verleiht, so verfügt er auch über alle Ausdrucksweisen, denselben ausznsprechea. Cr bringt die Charaktere der nationalen Götter zur Erscheinung mit nicht geringerer Dichterkrast, als es dereinst das homerische CpoS getan. Ja, seine Auffassung der göttlichen Persönlichkeiten ist eine weihe, vollere «nd reinere, als die des Epos, und ste verkündet göttliche Mächte, deren Schönheit wesentlich eine Offenbarung büdet ihrer flttlichen Kraft, Erhabenheit »nd Güte. Sr umfaßt mit seinem Schaffen die ganze Schar der Olympier, «ad eine sorgfältigere Beobachtung der großen Götter am Parthenoafties, wo ste als Zu, schauer der athenischen Festfeier sich eingefuaden haben, zeigt, mit welcher Liebe »ad Sicherheit er diese Charaktere dnrchdriagt. Staunenswert ist es, wie er überall ihr eigentliches Wesen zugrunde legt und durchschimmern läßt, und wie er doch ihre Art in der ganzen Mannigfaltigkeit, in der ste sich äußert, «iederzugebea weiß. Wie oft hat er die Athene gebildet, und wirklich, es ist jedesmal die Athene; dabei aber tritt bald diese, bald jene Seite ihres Charakters hervor. Feierlich, prächtig und steghast erscheint die jungftäuliche Göttin in der Cella des Parthenon, als rechte Führerin des großen Kampfes, den Athen in -er Welt führen soll. Bezaubernd schön, gnädig und HUfteich und doch von unnahbarer Hoheit offenbart ste sich ihren Schutzbefohlenen, den Athenern, die als Kolonisten nach Lemaos abziehe», als die Friedensgöttin, die den hohen Gedanken des attischen Kulturreiches, wie ihn Perikles hegt, ver, tritt und fördert *). Kampfgerüstet, eine Streiterin der Weltord, nung des Zeus, tritt ste aus Licht, als ste aus dessen Haupt entspringt, und das Gefühl einer unendlichen Hoffnung für den Steg des Guten dringt in demselben Momente durch alle Räume des Kosmos. *) Über die sog. Athena Lemnia flehe de« nächsten Aufsatz.

Dann sehen wir sie, Wohltaten spendend, der Menschheit und zumal den Attikern Geleiterin und Führerin zu aller Kultur, oder sie ist die gewaltige, furchtbare Kriegerin gegen die Wut barbarischer,

zerstörender Kräfte. Jugendlichkeit,

ein

Endlich aber finden wie sie ganz strahlende

glückseliges

Mädchen

voll

Frische,

Reinheit

und Klarheit, munter und teilnehmend mit den anderen Olympiern

dem Aufzuge ihrer lieben Athener zusehend *). Die Gestalten btt Götter, aber ebenso die deS Mythos, der Heldensage überhaupt, scheinen diesem Künstler ganz Wirklichkeit

und Leben geworden zu sein. Die Vorgänge der Gage sind ihm ein «nerschöpftiches Gebiet, seine Anschauung von Welt und Leben,

vom Vergangenen und Gegenwärtigen auszusprechea. Welche Tiefe

und Fülle wirkt am Parthenon zu einer großen Einheit zusammen, und ähnlich begegnet es wieder am Zeus und den Darstellungen, die das Werk bedeutungsvoll umschließe». Durch diese echt attische Versenkung in den Gegenstand, welche mit einer vollendeten Kunst­

sprache sich innigst verbindet, erreicht er eine völlige gegenseitige

Durchdringung von Gehalt und Form. Er ist eia Meister der Komposition und des Ausdrucks, ein

Gewaltiger in den Formen und den Gewänder», er arbeitet in allen Techniken und er berücksichtigt weise die äußeren Bedingungen

für die plastischen Werke, die in der Beziehung zur Architektur oder in der Höhe der Aufstellung liegen ... Phidias ist ebenso Herr über die Formen des Nackten, wie er

auch das Problem der Gewandung mit souveräner Sicherheit löst.

Sie folgt dienend den Bewegungen, den Formen, die sie oft groß­ artig hervorzuheben und gleichsam zu interpretieren weiß. Die Falten berücksichtigen die Wirklichkeit, und das Linnengewand fällt bei Phidias anders als der Wollenstoff. Aber das Wirkliche ordnet der *) Gemeint ist die Gestalt der Athene unter den übrigen olympische» Göttern, die dem großen Festzug der Panatheaäen auf dem Parthenonfries zusehen. Mit der vorher genannten kriegerischen Gestalt der Göttin ist auf das große eherne Standbild der Athene aagespielt, das Phidias für die Akropolis der Athener schuf, die fälschlich sog. Athena PromachoS, bei der wir nicht an eine stürmende Dorkämpferin, sondern an eine in erhabener Ruhe dastehende erzgerüstet« Gestalt der Athene ju denken haben. Sieben Meter hoch, überragte das zwischen Propyläen und Erechtheion stehende Erzbild die andere» Statuen der Akropolis, und schon vom Meer aus sahen die Athen nahenden Reisenden ihre goldene Lanzenspitze und den vergolde­ ten Helmbusch.

38

Meister durchaus seine» künstlerische» Zielen unter. Die Bekleidung ist bei ihm von der Tracht der Attiker seiner Zeit abgeleitet, aber ste ist «eit entfernt, mit ihr zusammenzufalleu. Das Getvaub be# freit er von den Zwecken, die es im Leben vorwiegend zu erfüllen hat, und er ordnet es größeren Absichten unter. Jedenfalls, ein Hemmnis seiner Kunst hat er es nie «ad nimmer «erden lassen. Bei den Männern unterstützt ihn ohnehin die Freiheit, von der völligen Nacktheit bis zur gänzlichen Bekleidung je nach seinem Belieben in der reichsten Stufenfolge abzuwechseln. Anders war eS jedoch bei den Frauen, wo die Bekleidung noch durchweg Regel war. Hier nun hat Phidias dieselbe sich untertan gemacht, indem er alles Steife und Schwere, was ste trotz der Befreiung von der alte» Mode noch an sich hatte, beseitigte und dem Stoff eine Schmiegsamkeit beUegte, die ihm tatsächlich keineswegs eigentümlich war. Die Schönheit und Pracht der Formen, die Herrlichkeit und die psychische Bedeutung der Bewegung wurden auf diese Weise größten­ teils gerade durch die Hilfe der Gewänder unübertrefflich zur Gel­ tung gebracht. Nichts kann dienlicher sein, dies deutlich vor Augen zu stellen, als eine Betrachtung der erhabenen Frauengruppen des Ostgiebels des Parthenon, die als Horen und Moiren erklärt wurden. Würde und Hoheit eignet diesen wie jenen, und bei beiden trägt die Gewandung Entscheidendes bei, sie zur Geltung zu bringen. Aber »och mehr. Ste bewirkt auch fast ebensosehr als die gewählte Stellung, daß die kontrastierende Verschiedenheit der Eigenart der dargestellten Frauen zum Bewußtsein kommt. Bei den Moiren ist die Würde mit schwerer, gelassener Ruhe verbunden, bei den Horen ist sie vereint mit klarer, freudiger Teilnahme. Phidias hat in allen Techniken der Plastik gearbeitet, und entsprechend der verschiedenen Art des Materials änderte sich natur­ gemäß auch die Behandlung. Man braucht nur etwa die Kopie eines chryselephantinen x) Werkes wie der Parthenos ... und einer Marmorarbeit vom Parthenon miteinander zu vergleichen, um davon eine Vorstellung zu gewinnen. Dazu kam dann noch, daß Phidias zugleich seine Werke mit liebevollster und besonnenster

l) Die chryselephantine Technik, b. i. die Ausarbeitnag von Kolossal­ standbilder» in Sold und Elfenbein, zeugt ebensowohl für den Reichtum der damaligen Zeit wie für da« obenerwähnte Bedürfnis der Griechen nach prächtiger Farbenwirkung ihrer Plastiken. Begreiflich, daß Werke dieser Art ua« heute nicht mehr erhalten sind: ste fielen der Raubgier bar­ barischer späterer Jahrhunderte zum Opfer.

Rücksicht auf den Ort der Aufstellung schuf. Er zog es iu Rechnung, wenn etwa ei» Staudbild auf eiue Säule zu steheu komme« sollte, uud verfuhr nach den optische« Bedingungen dabei. Jener Wettstreit des Meisters mit seinem Schüler Alkamenes, von dem uns erzählt wirb, gibt uns hierüber Aufschluß. Solange das Werk des Schülers in der Werkstatt gestanden, habe man dasselbe dem des Phidias vorgezogen, als aber beide auf die Säule aufgerichtet worden seien, habe man erkannt, daß das Bild des Phidias bei weitem den Vorzug verdiene. Denn dort erst habe es sich in seiner ganzen Dortrefflichkeit dargestellt**). Ebenso weise hat der Meister offenbar die Umgebung des Kunstwerkes in Betracht gezogen, um es durch Farbe und Material auch dekorativ vollkommen in ein architektoni­ sches Ganze einzuordnen. Die Nachforschungen in Olympia haben es in dieser Hinsicht noch näher beleuchtet, was schon aus den Be­ richten der Schriftsteller sich entnehmen ließ. Danach ergibt sich, daß der schwarze eleuflnische Stein des Fußbodens vor dem Zeus­ bild «ud das Postament aus dem gleichen Material, dazu die weiße Marmorschwelle ringsumher den ruhigen Untergrund bildeten für die reichen Verzierungen des Thrones und für das Gold und Elfen­ bein der Statue selbst^). Hat man sich nun den Umfang «ad die Bedeutung des Reiches der Kunst, das Phidias beherrscht, in einigen der wesentlichsten Punkte vergegenwärtigt, so erhebt sich um so lebhafter der Wunsch nach einer Vorstellung davon, wie so Großes zustande gekommen. Den Genius fteilich, der die entscheidende Voraussetzung dafür ist, wird man nimmermehr zu erklären wagen «ollen. Vielmehr als eines der wahren Wunder, in denen daS Göttliche des gott­ geschaffenen Sterblichen hell aufleuchtet, wird man diese Erscheinung in Ehrfurcht htnnehmen. Darauf aber wird man allerdings Hin­ weisen dürfen, wie diese gottbegnadete Kraft zu ihrer Zeit and ihren künstlerischen Errungenschaften sich verhalten mußte, daß sie zu der Stufe ihrer Durchbtlduug Vordringen konnte. Htefür wird das Wort „Genie ist Fleiß" anwendbar sein. Denn in Wahrheit, *) Die Anekdote stehl in den sog. Chiliabes, einer Sammlung mytho­ logisch-historischer Kuriositäten in 13000 Versen des byzantinischen Gram­ matikers und Dichters Johannes Lzetzes aus Konstantinopel,der im 12. Jahr, hundert n. Lhr. lebte. *) Pausanias hat uns die Statue und ihre Umgebung im 11. Kapitel des 5. Buches seines oben (S. 30 Sinnt. 1) erwähnten Reisehandbuches ein­ gehend beschrieben. Dgl. den übernächsten Aufsatz.

auch Phidias mußte feine von Gott gegebene Kraft innerhalb der irdischen Vorbedingungen seines Athen erst strebend und arbeitend entfalten. Als Mensch und Künstler mußte er stch nach und nach des Höchsten, «as seine Zett zn bieten hatte, zu bemächtigen wissen. Aus feinen Leistungen selbst nnb einigen Angaben, die wir einer freilich gar kärglichen Überlieferung verdanken, eröffnet stch nun wirklich die Möglichkeit, dies in der Hauptsache uns zum Bewußtsein zu bringen. Was er ins Werk setzte, «ar nichts anderes und nichts Geringeres, als daß er mit Geist und Gemüt ein Mann wurde, der das Beste seiner Zeit in stch aufnahm, und daß er als Künstler durch Lernen in Ratnr und Schule stch das wirksame Organ schuf, dies Beste der Zeit auch auszusprechen. Für den Mann nun «ar es wohl das Ausschlaggebende, daß er der Freund des Perikles wurde und seines Kreises. Für den Künstler aber «ar dies das Entscheidende daß er in stch die Errungenschaften der Malerei und der Plastik zugleich auftrahm und für die Plastik verwandte. Rur «eil er der Schüler der Schule des Polygnot, seines großen Vorgängers, war und zugleich der Schule attischer Plastik, die mit den Fortschritten der peloponneflschen Plastik stch verttaut gemacht hatte, — nur deshalb konnte Phidias seine Kunstsprache stch erringen. Um ein großer attischer Plastiker zn «erden, dazu reichte es freilich zu, daß er bei dem Athener Hegias*) in die Schule ging, der die strenge Form und die übrigen Vorzüge der peloponneflschen Schule ihm zuerst übermittelt haben wird. Vielleicht schon dort und des «eiteren durch die Gelegenheiten, die stch von selbst in Athen und sonst boten, konnte er das, was die Ionier noch etwa Aus­ zeichnendes, wie im GewandstUe, zu bieten hatten, in stch aufnehmen; desgleichen konnte er, «as seinen attischen Kollegen eignete, auf stch wirken lassen. Aber um der größte Plastiker Athens, Griechen­ lands, ja der Welt zu «erden, dazu mußte er noch den Erttag der genialen Arbeit des Polygnot der Plastik hinzuerwerben. Durchaus also frägt die Nachricht des Plinius, Phidias habe als Maler be­ gonnen, den Stempel der Wahrheit, und wenn wir fle nicht hätten, würden wir fle als eine notwendige Voraussetzung aus seinen Werken erschließen müssen. In der Komposition, den Bewegungen, im Ausdruck, in der Gewandbehandlung endlich hat Polygnot?) ihm *) Den alten argtvisch-flkyonischen Meistern Hagelabas, OnataS ns«, (flehe 6.32 Anm. 2) gleichzeitig und ebenbürtig. ’) Polygnotos, von der Insel Thasos stammend, aber in Athen schaffend, ist das grüßte malerische Genie des 5. Jahrhunderts. Don seinen

den Weg gebahnt, um sein Höchstes und Freiestes am Parthenon ;u erreichen. Jnbetreff des Frieses möchten wir zweifeln, ob diese titanische Idee überhaupt hätte bei dem Plastiker entspringen können, wenn nicht der Maler zuerst die Möglichkeit, sehr ausgedehnte Flächen mit einer einheitlichen Kompofltioa zu überdecken, gezeigt hätte. Richtig ist nun allerdings, daß Phidias, soviel er auch Polygnots Kunst zu danken hatte, dies alles für die Plastik und ihre Bedingungen erst umzubilden hatte und daß eben nur ein so souve­ räner Genius dergleichen fertig bringen konnte. Rur einem Phidias konnte es gelingen, trotz aller Einwirkung des genialen Malers auf ihn, alles spezifisch Malerische von der Plastik ferne zu halten. Übrigens machte der Meister einen wohlbegründeten Unterschied zwischen einer Plastik, die monumentale Aufgaben zu erfüllen hatte, und einer solchen, die wesentlich dekorativer Natur «ar. Am Äußern des Parthenon, wo die Skulptur die von der Architektur groß, aber ihrer Natur entsprechend allgemein ausgeprägten Zwecke zur be­ stimmten Aussprache zu bringe» hatte, war ein eigentlich malerisches Element nirgend von ihm zugelaffe». Dagegen ließ er es aller­ dings stch entfalten bei den Reliefs der großen Götterbilder, welche in tiefsinniger und poetischer Weise die Persönlichkeit des Gottes gleichsam erläuterten und in den großen Zusammenhang des Mythos hineinstelltea.... Als ein Relief von malerischem Charakter stellen stch auch die Kampfszenen des Schildes der Parthenos dar. Ein Teil davon ist uns durch eine Nachbildung erhalten, die freilich nur dazu dienen kann, über die Behandlung des Gegenstandes manche Beobachtung zu gestatten, «ährend sie in künstlerischer Beziehung wenig von dem Dorbilde zu übermitteln weiß1).

Die Einwirkung des Polygnot auf Phidias bezieht stch übrigens keineswegs bloß auf die Kunstsprache, sie bezieht sich in hervorragen­ der Weise auch auf die geistige Seite der Kunst. Der Geist, in dem der Plastiker den Mythus dichtend gestaltet, zeigt die genaueste Ver­ wandtschaft mit dem des bahnbrechenden Malers und läßt keinen Zweifel in uns darüber aufkommen, daß er der rechte Nachfolger berühmten Werken (u. a. die Ausschmückung der sog. Bunten Halle in Athen und der Halle der Knidier in Delphi) ist uns nichts mehr erhalten. Nur die gleichzeitige Vasenmalerei, die von ihm beeinflußt ist, gibt eine Vorstellung von seiner Kunst. *) Gemeint ist der sog. Schild Strangford im Britischen Museum in London, auf dem man unter den Kämpfern gegen die Amazonen den erzgerüsteten Perikles und den kahlköpfigen Phidias erkennen kann.

und Vollender des idealen Strebens ist, welches de« Künstler des kimonischea Lebensalters adelte. Zn solcher Art allmählich den ganten Besitz der bisherigen attischen und griechischen Kunsteatwickluag für seine Kunst erobernd, ist Phidias starken, mächtigen Schrittes zu seiner höchsten Ent­ faltung emporgestiegen, die er in den Parthenonskulpturen, der Athena Parthenos und dem Jeus des olympischen Tempels er­ reicht. Die tentrale Gestalt der attischen und der griechischen Kunst­ geschichte ist er geworden. Er hat in Athen eine königliche Stellung im Bereiche der Kunst eingenommen, ganz wie sein Freund Perikles in der Politik. Er hat als Organisator die Kunstnnternehmuagen der Zeit geleitet1), aber noch weitgreifender «ar seine Herrschaft als Künstler durch perstaliches Wirken und durch seine Werke. Er ist das verehrte Haupt einer Schule geworden, welche herrliche Talente in sich barg und die Arbeit des Meisters, die Götterideale zu bilden, glücklich förderte. Albrecht Stauffers

Das Haupt der Athena Lemnia des Phidias ... Der Kopf trägt jenes Geheimnisvolle in sich, das den aus dem Innersten geholten Schöpfungen starker Individualitäten immer eigen ist. Dies läßt sich aber nur mit jener Empfindung erfajftn, die das Werk umklammert hält, bis es in ihren Armen warm und lebendig wird. Mit Beschreib««- und Analyse kommt man hier nicht «eit; sie können nur die Bahn etwas ebnen; und nur „leerer Windhauch" ist es, was man über das Beste des Werkes sagen kann. Die Absicht, die Phidias verfolgte, ist klar. Er will das Ideal der reinen, kraftvollen Zungftau geben. Die Formen des Körpers neigen |um Männlichen ... und der Kopf wurde ja ftüher geradezu für männlich gehalten. Dies war freilich ein Irrtum und konnte als solcher schon erkannt «erden, bevor er als der der Athene er-

') Dies ist In einem bekannten Worte des Plutarch im 13. Abschnitt seiner Periklesbiographte ansgedrückt, »0 es von Phidias und seinem Ver­ hältnis zn Perikles «örtlich heißt: „Phidias ordnete alles an und «ar ihm in allen Stücken ein Aufseher". In einer Rede des im 4. Jahrhundert n. Chr. lebenden Patriarchen von Konstantinopel, Diochrysostomos, ist Phidias der vertrante Freund und Gefährte des Perikles genannt. 2) Zwölf Gestalten der Glanzzeit Athens, München und Leipzig 1896, Oldenbonrg, S. 171 ff.

wiesen war; denn nicht bloß die Haartracht, auch die Formen, besonders des Halses und der Wangen, sind uazweifelhast weiblich. Und doch lag eine richtige Empfindung jener falschen Deutung zugrunde; denn der Kopf enthält zu dem weiblichen eine starke Bei­ mischung knabenhaften Wesens, die ebenso leicht zu fühlen als schwer zu definieren ist. Cs wird in dem Charakter des Knappen, Klaren «ad Reinen liegen, der hier so stark hervortritt. Die Schönheit hat noch den herben Reiz der ersten Jugend ... Nach dem allgemeinen Eindrücke des Ganzen suchen wir das Einzelne zu bestimmen ... über der Stirne steigt der Schädel, im Profil gesehen, schräg empor und verläuft in einer vollkommen gerundeten Linie bis zum Nacken. An Fries und Giebel des Par­ thenon ist diese Linie weniger rund, indem fle über der Stirne steller austeigt und oben mehr horizontal verläuft, ähnlich wie am Doryphoros des Polyklet. Der Schädel der Lemnia ist ein überaus gleichmäßiger; von oben gesehen hat er die Gestalt eines regel­ mäßigen Ovals, indem er nach hinten sich nicht weiter ausdehnt, als er es vorne tut. Man pflegt solchen Schäbelbau als Zeichen be­ sonders harmonischer Deraulagung anzusehen. Natürlich ist es ein entschiedener Langschädel, d. h. jenes Oval ist ein ziemlich gestrecktes.. Das Geflcht zeigt, von vorne gesehen, dementsprechend eben­ falls ein sehr längliches und wiederum sehr regelmäßiges Oval. Weber Stirne noch Backenknochen noch Kinn treten besonders her­ vor, werden vielmehr von sanft gerundeten überaus harmonischen Linien umschlossen. Dies ist der von Lukian an der Lemnia so ge­ rühmte „Umriß des ganzen Gesichtes", dies „die Zartheit der Wangen", die er seiner Mnsterschönheit verleihen will. Die Nase, die Lukian nicht minder bewundert, springt, im Profil gesehen, obwohl die Nasenwurzel nur flach und zart eiugesenkt ist, ziemlich schräg heraus, viel schräger als an den Köpfen des Parthenon­ frieses und diesem gleichzeitiger Werke, dagegen die ProfiUtnie der Lemnia an der der olympischen Skulpturen, des Doruausziehers und des Diskobols Maffini sowie der Basen des älteren schönen Stils ihre nächsten Parallelen hat. Es ist dies eine neue Bestätigung für die Datierung der Statue «m 450. Das Untergesicht ist zart und eher zurückweichend als vortretend; dennoch kräftig und durchaus nicht «eich; die Profillinie des Kinns isi von einer entzückenden Rundung. Die Verhältnisse des Gesichtes sind durchaus normale. Wie bei allen zeitgenössischen Werken erscheint die Stirne etwas niedrig;

Kopf der Athena Lemnia

auch ist sie in ihrem oberen Teile vom Haare bedeckt. Es entspricht einem schon in älterer Zeit ... festgestellten Maßverhältnis, wenn die Entfernung vom unteren Rande der Tänie, welcher an der Stelle des Haaransatzes liegt, bis zum unteren Nasenflügelrand gleich der vom inneren Augenwinkel zum Kinn ist. Das Unter­ gesicht entspricht in seiner Höhe wie gewöhnlich dem Mittelgesicht, d. h. der Nase bis zum Brauenbogen und beide Entfernungen sind gleich je zwei vollen Augenlängen; die Nase, nur bis zur Nasenwurzel gemessen, ist dagegen gleich der Stirne bis zum Haaransatz, d. h. bis znm unteren Tänienrand, und dasselbe Maß, das wahrscheinlich zweimal die Länge des verlorenen Augapfels darstellt, bestimmt hier auch die Länge des Ohres, während die Mundweite gleich anderthalb dieser Augapfellängen beträgt. Die Stirne bildet keine einfache Fläche, wie es bei flüchtigem Blicke scheinen möchte, sondern sie ist, wie man bei richtiger Beleuch­ tung fleht und mit der Hand fühlt, nach der Mitte leicht und sanft herausgewölbt; flache Einsenkungen trennen diese Mitte jederseitS von dem wieder stärker vortretenden äußeren Ende des Brauen­ bogens. Diese Modelliernng ist in einer außerordentlich knappen, maßvollen Weise ausgeführt. Der Brauenbogen selbst hat eine sehr scharfe Kante und ist äußerst fein gezeichnet und geschwungen. Die Augenlider sind ganz knapp, das untere besonders zart. Alle diese Dinge sind durchaus charakteristisch; man kann Hunderte treff# sicher antiker Köpfe darauf vergleichen, ohne etwas Ähnliches wieder zu finden. Besonders schön und fein ist ferner, wie die Nase ansetzt. Dieselbe hat einen schmalen Rücken, von welchem die Seiten steil abfallen. Die Nasenflügel sind fleischig und lebendig geschwellt, doch, wie alles, mit sehr maßvollem Dortrag. Don der im polykletischen Kreise üblichen Nase ist diese durchaus verschieden; jener sind namentlich die viel schräger und weniger steil sich abdachenden Seiten charakteristisch. Die Rinne zwischen Nase und Oberlippe ist ... in eigentümlicher Weise eingegraben Die Lippen sind geschlossen gebildet, was an Werken der ersten Hälfte des 5. Jahr­ hunderts noch sehr häufig, späterhin aber seltener begegnet. Ganz unbeschreiblich ist der Reiz in der Modellierung des Mundes; nur das sei hervorgehoben, daß hier nicht der geringste Rest von der Härte und Sttenge zu sehen ist, welche den olympischen Skulpturen noch anhaftet; und ferner, daß es dem Phidias auch hier wieder charakteristisch erscheint, wie er die Fähigkeit, schwellendes Leben zu bilden, mit feiner, maßvoll knapper Modellierung verbindet...

Besonders hervorzuheben sind noch die Ohren der Lemma, die sorgfältig ausgeführt und nur am obersten Rande vom Haare bedeckt sind. Das Ohr hat eine schlanke Grundform und besonders ein langes, schmales Läppchen, das sehr deutlich von dem sog. Schwanz der Knorpelleiste abgesetzt ist... Eine genauere Betrachtung verdient endlich das Haar der Lemma. Dies ist in der Mitte gescheitelt, und zwar nicht bloß vorne, wie in der älteren Zeit, sondern der Scheitel geht vom Wirbel aus und die Haare sind von der Scheitellinie aus direkt nach beiden Seiten gekämmt. Die Lemma scheint der früheste datierbare weib­ liche Kopf, an dem wir diese Anordnung des Haares finden; ihr schließen sich dann gleich die bekannten Amazonenköpfe an. Im strengeren Stile dagegen war es ausschließlich der Brauch, daß die Haare vom Wirbel aus ungeteilt nach vorne gekämmt und nur hier über der Stirne gescheitelt und nach den Seiten gestrichen erscheinen.. Die Lemnia bot etwas ganz Modernes mit ihrem gescheitelten Haar und Phidias zeigt sich auch hier keineswegs als der hochkonservative Künstler, zu dem man ihn hat stempeln wollen, sondern als ein wackrer Fortschrittsmann. Das Haar ist als dicht und voll charakterisiert, indem es sich von der Scheitellinie aus plastisch hoch erhebt. Nur nach dem Hinter­ kopfe zu liegt es etwas flacher an. Die glatte Binde schneidet tief in diese weiche Fülle ein und ruft so eine wunderbare Wirkung her­ vor. Die Haarmasse hat der Künstler in eine Menge einzelner, höher und tiefer liegender Strähne gegliedert, die stark geringelt, doch sehr verschieden, man möchte sagen individuell in ihrer Bewegung sind. Obwohl wir ja immer eine stark stilisierte Wiedergabe des Haares vor uns haben, so empfinden wir doch nichts von Zurechtgemachtem, und indem wir diesen Haarlinien mit dem Blicke folgen, wie sie sich in- und übereinander schieben in immer wechselnder Bewegung, glauben wir die unerschöpflich individuelle Natur selbst zu belauschen. Noch in höherem Maße als am Oberkopfe ist dies aber an den Haaren unterhalb der Binde der Fall, welche zurückgestrichen und ausge­ nommen sind. Das Auge kann nicht müde werden, sich an dem Reichtum zu freuen, der hier entfaltet ist, wo es quillt und drängt in mannigfaltigster, lebendigster Form. Nicht zum wenigsten reizvoll sind die kleinen Härchen, die dem Zuge der großen nicht folgen können und vor dem Ohre sowie auch hinten gegen den Nacken zu sich losgetrennt haben... Adolf Furtwänglers

9 Über Furtwänglers Bedeutung für die Geschichte der Archäologie

Die Athene und der Zeus des Phidias Wir wisse«, daß bei den Baute«, mit welche« der gewaltige PeriNes die Akropolis schmückte, der Leitung und dem Einfluß des Phidias die bede«tsamsie Stelle angewiesen war, «nd dürft« an­ nehmen, daß die würdevolle Anlage dieser Werke großevteils seinem Genins »« verdanken ist. Nicht bloß hatte er mit seine« Schülern «ad Gehilfen den reichen plastischen Schmuck des Parthenon j« schaffen, das Bild der Göttin selbst wurde ihm zur Ausführung übertragen. (Was zunächst das letztere betrifft, das lange vor dem Tempel spurlos zugruude gegangen ist, so) «ar es etwa 12 m hoch, aus Gold und Elfenbein. Die Athener hatten es aus der Deute von Salamis errichten lassen und das dazu verwandte Gold hatte allein einen Wert von 44 Talenten, 2359500 Mk. unseres Geldes. Die juugftäuliche Göttin war auftecht stehend, aber nicht mit er­ hobenem Schild als die rüstige Dorkämpferin ihres Volkes, sondern als fttedliche, schutzverleihende «nd flegspendende Gottheit avfgefaßt. Ei« goldener Helm bedeckte den ernsten, schöne« Kopf, ein Panzer mit dem elfenbeinernen Meduseuhaupt die Brust, ein lang herab­ wallendes goldenes Gewand die ganze Gestalt; der SchUb «ar zum Zeichen ftiebltcher Ruhe auf de« Boden gestellt, die ranze angelehnt, unter dem Schild ringelte flch die Burgschlange empor, wie wir aus einer kleinen, in Athen gefundenen Marmornachbildung flehe dt« Einleitung. Die vorliegende Abhandlung ist ein Muster stilkritischer Einzelbeschreibung, entnommen dem berühmten Werk Furtwänglers „Meisterwerke der griechischen Plastik", Leipzig und Berlin 1893, Stesecke & Devrient, S. 28 ff. Der hier so eingehend beschriebene Kopf befindet flch in Bologna im Museo Civico. Er ist etwas überlebensgroß und gehört zu einer guten Marmorkopie des Bronzeoriginals. Die ausgefallenen Augen waren aus farbigem Material eingesetzt.

und aus einer dort entdeckten etwas größeren Kopie wissen x); eine gegen 2 m hohe Statue der Nike schweb.tr, einen goldenen Kranz haltend, auf der vorgesireckten Hand der Göttin als finnige Hindeutung auf die Siegespreise, welche hier angesichts der Göttin den Siegern in den Festspielen überreicht wurden. Die Pracht des Stoffes wurde durch die Fülle künstlerischen Schmuckes noch übertroffen. Die nackten Teile waren aus Elfenbein, die Augen aus fun­ kelnden Edelsteinen, Gewand, Haar und Waffen aus Gold getrieben. Eine Sphinx zierte die Mitte, zwei Greifen die Seiten des Helms, am Schilde waren außen die Amazonenkämpfe, innen der Krieg der Götter mit den Giganten ziseliert und selbst den Rand der San­ dalen hatte der Künstler mit Kentaurenkämpfen geschmückt, ja sogar die Bafis zeigte eine Reliefdarstellung der Geburt der Pandora. Von der Amazonenschlacht des Schildes ist in einem fragmentierten Marmorschild des Britischen Museums eine spätere Nachbildung entdeckt worden?). All dieser Reichtum diente aber nur dazu, die großartige Einfachheit, die ruhige Würde der Gestalt noch mehr her­ vorzuheben. In ihr hatte Phidias den Charakter der Athene, der ernsten Göttin der Weisheit, der milden Beschützerin Attikas, für alle Zeiten festgestellt und die edelsten unter den auf uns gekommenen Statuen der Athene lassen uns noch jetzt einen schwachen Nachklang jenes gepriesenen Vorbildes ahnen ... Die Athene des Parthenon wurde 438 v. Chr. vollendet und geweiht. Sie allein samt der reichen plastischen Ausschmückung des Tempels macht den Meister zum ersten Plastiker seines engeren Vaterlandes. Dennoch sollte er am Abend seines Lebens ein Werk schaffen, das nach dem Urteil des gesamten Altertums alle anderen Werke verdunkelte und seinen Meister zum ersten Künstler des ge­ samten Griechenlands erhob: das kolossale Goldelfenbeinbild des Zeus in Olympia. Nach Vollendung seiner Schöpfungen auf der Akropolis wurde Phidias mit einer Schar seiner besten Schüler nach Elis berufen; der Staat ließ ihm eine Werkstatt errichten, die noch in später Zeit mit Verehrung gepflegt und gezeigt wurde; im Jahre 432 kehrte er nach Vollendung seines Werkes, mit Ehren über­ häuft, nach seiner Vaterstadt zurück. x) Gemeint sind die Statuetten Lenormand (nach ihrem Entdecker) und Varvakion (nach ihrem Fundort in Athen benannt). Beide sind flüchtig angelegt und ausgeführt. Die letztgenannte ist 1 m hoch, die andere etwas kleiner. 2) Siehe S. 42 Anm. 1. XII/4

49

Der Baier der Götter und Mensche« saß in der Cella seines olympischen Festiempels ans glänzendem Thron, das Haupt mit goldenem Olkrauz bedeckt; in der Rechten hielt er die Rike, die eine Siegesbiade in den Händen und eine» goldenen Kranz ans dem Haupte ttvg; in der Anken ruhte das retchgeschmückte Szepter. Der Oberkörper des sitzenden Gottes wat nackt aus schimmerndem Elfenbein gebildet, die naterea Teile verhüllte eia reich mit Blumen und Figuren ausgelegter goldener Mantel. Im Gegensatz zu der erhabenen Einfachheit der Gestalt wat bet Thron des Gottes ein Werk der reichsten und mannigfaltigsten Kunst, mit Gold und edlen Steinen, mit Ebenholz und Elfenbein geschmückt. Siegesgöttinnen, vier oben and zwei unten, waren an jedem Fuße des Thrones an­ gebracht; auf den Querriegeln stellten ftetstehende Figuren die acht alten Kampfarteu und die Kämpfe des Herakles und Theseus gegen die Amazonen dar. Außerdem stützten Säulen zwischen den Füßen den gewaltig belasteten Sitz und den naterea Abschluß bildeten Schranken, an denen der Maler Panainos Darstellungen ans der tzeroensage ausgeführt hatte. Noch «erden Sphtuxgestalteu und Reliefs, welche das Schicksal der Niobideu barste llteu, am Unterbau des Thrones erwLhnt, an der Rücklehne ferner die Gestalten der Chariten nab der Horen, am Schemel goldene Löwen, und Amazo­ nenkämpfe, endlich an der Basis die Geburt der Aphrodite in Relief­ darstellung. Aus dieser Fülle von Gebilden, in denen di« reiche Phantasie des Meisters mit der Schönheit der Ausführung wett­ eiferte, erhob sich in «änderbarer Majestät groß und feierlich die Gestalt des höchsten hellenischen Gottes. Phidias hatte ihn als güttgen Batet der Götter and Menschen, aber auch als gewaltigen Herrscher im Olympos dargestellt. Als Vorbild sollen ihm dabei jene home­ rischen Verse vorgeschwebt haben, in denen Zeus huldvoll die Bitte der Thetis gewährt: Als» sprach uud winkte mit schwLrzlichea Brauen Äronion not die ambrosische« Locke« des Herrschers wallet«« vorwärts 66« dem ««sterbliche» Haupt; eS erbebte« die Höh'« des Olympos- *)

Uber 800 Jahre thronte das Bild des Gottes unversehrt in seinem Tempel, bis ein Braud im 5. Jahrhundert n. Chr. beide zerstörte. Don dem ernsten, gedankenvollen Ausdruck des Kopfes x) Ilias I, Vers 528—530. Zeus erfüllt di« Bitte der Thetis, den Griechen solange de« Sieg zu versage«, alS ihr Soh« Achilleus grollend vom Kampfe fernbleibt.

geben uns einige Münzen von Elis eine Andeutung, ebenso von der Komposition der Statue selbst ^). Dagegen sehen wir in allen späteren Nachbildungen, deren schönste die kolossale Marmorbüste von Otricoli im Vatikan ist, schon eine viel freiere Auffassung und mehr naturalistische Behandlung. Gleichwohl wirken unverkennbar selbst in dieser Umbildung die Grundzüge der Schöpfung des Phidtas ergreifend nach. Die stolz aufgebLumten und auf beiden Seiten nieberfallenden Locken, die gedrungene Stirn mit den kühn geschwun­ genen Brauen, unter denen hervor die großen Augen über das wette Weltall zu blicken scheinen, die breit und mächtig vorspringende Nase, das alles spricht die Energie und Weisheit des höchsten helleni­ schen Gottes gewaltig aus, während in den vollen geöffneten Appen mildes Wohlwollen ruht und der üppige Bart gleich den fest und schön gerundeten Wangen sinnliche Kraft und unvergängliche Mannes­ schönheit verraten. Wie das gesamte Altertum von dem erhabenen Eindruck des Phidiasischeu Jeus hingerissen war, wird uns vielfach bezeugt. Ganz Griechenland «allfahrtete zu ihm und glücklich wurde jeder gepriesen, der ihn gesehen. Dem hochgebllbeten Römer Amiltus Paulus schien der Gott selbst gegenwärtig zu sein; andere neunen seinen Anblick ein Zaubermittel, das Leid und Sorge vergessen mache, und ein anderer Römer sagt geradezu, Phidtas habe in seinem Zeus der Religion selbst ein neues Moment hinzugefügt. Am ergreifendsten aber wird die Unübertrefflichkeit deS Werkes in jener schönen Sage ausgebrückt, welche erzählt, daß Phidtas nach Vollendung seiner Statue, als er sinnend sein Werk betrachtete, zum Zeus betend die Hände erhoben und um ein Zeichen gefleht habe, ob sein Werk dem Gotte wohlgefällig sei. Da plötzlich zuckte aus heiterem Himmel von der Rechten durch die Hffduug des Daches in den Boden des Tempels ein Blitz nieder als unverkennbares Zeichen vom höchsten Wohlgefallen deS Donnerers* *). Wilhelm Lübke») *) Unsere Vignetten geben zwei solche Münzbtlber wieder. *) Die Zahl der antiken Nachrichten über den Jen» des PhtdiaS, sein Aussehen, seine Aufstellung, seine Wirkung, seine späteren Schicksale ist Legion. *) Kunsthistoriker der „alten Schule", 1826—1893. Gestorben als Professor der Technischen Hochschule in KarlSrnhe. Grundriß der Kunst­ geschichte, 13. Auslage, besorgt von Max Semrau, Stuttgart 1904, S. 204 ff. Text zum Teil «ach der i. Auflage. 4*

Das Orpheusrelief') Wer es unternähme, mit Worten auszudrückev, was auf diesem Relief vor sich geht, würde hier vielleicht stärker als irgendwo die Grenzen von Dichtung und bildender Kunst, die Verschiedenheit ihrer Ausdrucksmittel verspüren. Eine Ballade ohnegleichen ist dieses Werk und doch haftet nichts „Literarisches" an ihm. Dem Sänger, der alles, was lebte und webte, Menschen und Tiere, mit seinem Gesang und Spiel verzückte, hat der Tob sein Weib ent­ rissen. Er zieht hinab in das finstere Reich, aus dem kein Sterb­ licher wiederkehrt, und zwingt den Herrscher der Schatten durch die Macht seiner TSne, Eurydike fteizugebeu. Der Gott, zum ersten Male gerührt, heißt seine Deute dem Gatten folgen; aber er ver­ bietet dem Sänger, auf dem Wege zur Oberwelt «ach der Wieder­ gewonnenen sich umzusehen. Dies geht über eines Sterblichen, eines Liebenden Kräfte. Dem Wiedersehen folgt die Trennung auf dem Fuße, diesmal für immer. Vielleicht ist in keinem antiken Kunstwerk mit einem so geringen Aufwand von Mitteln eine solche Fülle von Handlung, tiefst emp­ fundener Handlung, zum Ausdruck gebracht als in diesem einfachen Nebeneinander der drei Figuren des Orpheusreliefs. Der Künstler hat dabei durchaus nicht verschiedene zeitlich aufeinanderfolgende Situationen künstlich verschmolzen, sondern einfach den Augenblick dargestellt, wo der G-tterbote das Wiedersehen in Trennung ver­ wandelt. Orpheus (durch Stiefel uud Fuchsfellmütze als Thraker, durch die Leier als Sänger charakterisiert) hat sich nach der Gattin «mgedreht, seine Rechte hat ihr Antlitz entschleiert, er ist in ihren Anblick versunken; Eurydike hält im Schreiten inne, ihre Blicke begegnen denen des Gatten, ihre Rechte legt sich auf seine Schulter, wie um ihn für immer festzuhalten; die Linke greift in das Schleier­ tuch, das ihr über Kopf uud Rücken fällt. So zart er kann, aber unerbittlich legt der Vollstrecker des göttlichen Befehls, Hermes, von höherem Wuchs als die Sterblichen, seine Linke um die ihre, sie zurückzuführen, während seine Rechte mit der vom Parthenon­ fries her bekannten überaus reizvollen Geste in den Chiton greift. Ihn kennzeichnet der Filzhut, der ihm im Racken hängt und dessen Band einst aufgemalt «ar wie die Riemen der Sandalen ... Die Reize der Komposition lassen sich nicht alle beschreiben. Die beiden äußeren Figuren, durch die gleiche Tracht und die ähn*) 1,20 m hohes Marmorrelief im Museo Rationale zu Neapel.

Orpheusrelief

liche Bewegung fast Gegenstücke, umgeben symmetrisch die Mittel­ signr, die mit dem mächtigen Falle des Peplos ungemein zentral wirkt. Ihr gelten die Ansprüche der beiden Männer, t« ihr führen die Hauptlinien auf beiden Seiten. Es ist wundervoll, wie sie zwi­ schen den beiden andere« Figuren vermittelt, wie flch die Hände beidemal begegnen. Aber immer wieder wird der Blick auf die Stelle geführt, wo die Handlung gipfelt, wo die Liebende« stch Wiedersehen und Abschied nehmen, während Hermes neben dem eng verbünde, «en Paare ftemder, fast hart wie das Schicksal steht. Seine Hand ruht auf Eurydike, sei« Blick geht auf Orpheus. Man hat das Orphensreltef oft als Beispiel dafitr angeführt, wie die klassisch-griechische Kunst die Affekte nicht durch erregte Phyflognomie» und heftige Gebärden zum Ausdruck bringe. Die Derallgemeineruug ist nicht richtig und kann durch eine Reihe von Beispiele« widerlegt «erde». Aber unser Relief gehört allerdings einem engere« Kreis von Bildwerken an, die das Höchste an künst­ lerischem Maß, an gedämpftem Ausdruck darstelle«. Don dem großen Leid, das stch hier begibt, rede« diese ««endlich zarten Gesten so leise, als sie nur können. Dieselbe Sprache muß ans de« Gesichtern der drei geredet haben ... Scho« diese Ausbrncksknnst weist dem Relief seinen Platz in der zweite« Hälfte des 5. Jahrhunderts an, in der Zeit, wo die große Geste bereits entdeckt «ar und durch Phidtas und den Parthenon ihre Läuterung erfahre« hatte, während andererseits die gesteigerte Natürlichkeit und das Pathos des 4. Jahrhunderts «och in der Zukunft lagen. Die Eigentümlichkeiten des GewandMs verhelfen zu einer genauere« Fixierung. Das Gewand beginnt bereits mehr vom Körper durchscheine« zu lasse« als in der Natur. Im Parthenonfties begegnet diese Art Gewand «och nicht, oder erst in leise« Anfängen, in de» Giebel« setzt fle mächtig et« und an der Balustrade des Ntketempels*) erreicht fle ihre« Höhepunkt. Aber «ährend an der Balustrade fle unterschiedslos bei jeder Art von Gewand austritt, ist am Orpheusrelief der dickere Stoff beS Peplos «ud der Überwürfe «och von dem dünner« der Chitone unterschieden.

Die Wiedergabe des Peplos, der das Standbein mit seine« parallelen, steil herabfallenden Falte« verhüllt, während um das Spielbein *) Oer Verfasser meint den kleine« Tempel der Athena Rike, der den Besucher der Akropolis zur Rechten grüßte, wenn er die Stufen zu den Propyläen Hinaufstieg.

sich das Gewand eng herumlegt, ohne daß, wie noch bei der Athene Parthenos (438), vom Knie eine Steilfalte herabfLllt, kehrt wieder bet... den Karyatiden des Erechtheions**). Danach ist das Relief mit einiger Bestimmtheit in die Zeit der Parthenongiebel und der folgenden Jahre ju datieren; der Stil ist die verfeinerte Fottsetzung des Parthenoaftiesstiles. Der Meister muß ein Atttker, einer ans Phidias' Umgebung gewesen sein. Don den Dermntungen, die man über die Bestimmung des Originals gehegt hat, sei die eine genannt, bas Relief habe mit dem Peliadenrelief (Lateran und Berlin) und dem Peirithoosrelief (Museo Torlonta) zusammen den Schmuck eines choregischen Denk, mals gebildet, zum Andenken an den Steg mit einer Trilogie. Die Zusammengehörigkeit läßt sich bet der Derschiedenarttgkeit und dem schlechten Erhaltungszustand der Kopten nicht beweisen, aber der Gedanke, das Orphensreltef sei ein Dotiv eines mit einer Orpheus, tragödie siegreichen Choregen*) hat etwas Bestechendes. Daß das Relief ein Grab geschmückt habe, ist ganz unwahr, scheinlich. Gewiß, es hat starke Beziehungen zu Tod, Unterwelt und Wiedersehen, aber gerade diese fehlten der gleichzeitigen attischen Grabplastik völlig. Und dieses ganz vereinzelte Beispiel eines Wie, versehens ist ja erst recht ein Abschied, ein Scheiben sfr immer. Diese Tragik im Orpheusmythus ist charakteristisch für das so ganz diesseitige antike Denken und Glauben, das kein Auferstehen und Wetterleben kennt. Ihm ist das Leben alles nnd der Tod das „Ziel", das Ende; selbst Eurydike, das einzige Opfer, das Hades ftetgtbt, soll das Licht nicht Wiedersehen. Buschor')

Niobide«) Eines der schönsten Werke griechischen Meißels, das fast un, versehrt erhalten ist, kam (vor so Jahren) in Rom in einer Gegend

*) Grbälktrageude, die einfachen Säulen ersetzende Mäbchenfiguren am Tempel des Erechtheus auf der Akropolis zu Athen. *) Choregea, eigentlich Chorführer, ehrenamtliche Leiter szenischer Aufführungen io Athen. Choregische Weihmonumente sind Bildwerke, welch« die Sieger in dramatische» Aufführungen errichtete«. *) Direktor des Deutsche» Archäologische» Instituts in Athen. Er, läuternde Text« zu Bruckmanns Wandbilder» alter Plastik, München 1911, Bruckmaun, ®. 27 ff. *) Wundervolle Arbeit aus parischem Marmor, i1/«m hoch. Nach der

zutage, wo im Altertum die Gärten des Sallust gelegen haben. An der gleichen Stelle waren einige Jahre früher zwei Statuen von Riobtdea geftmdea worden, die in die Glyptothek Ry-Carlsberg zu Kopenhagen gelangt sind. Daß (die dreizu einer Siebelgruppe gehörenden Statue») Originalwerke sind, geht außer aus der Güte der Arbeit a«S technischen Umstände» hervor. Das Mädchen ist von dem unbarmherzigen Pfeil in den Rücken getroffen und beide Hände fahren in hilflosem Schmerze nach der verwuadetea Stelle. Sie bricht mitten im Lauf in die Kate. Der Peplos hat stch bei der raschen Bewegung der Arme gelbst, im Rücken hatten ihn noch die Hände, aber die Pracht des Körpers zeigt stch fast uaverhüllt, die Appen öffnen stch angstvoll, und wie mit leise klagendem Laut statt der Kopf hintenüber. Rur einen Augenblick noch und die stolze Gestatt maß rückwärts aiederflokea. Die be­ rühmten jüngere» Riobideagestaltea find vielleicht erregter und sprechender in Haltung «ad Schmerzensausdruck, aber fle reiche« nicht entfernt an die vornehme Würde, an die unendliche Ergebenheit in das Schicksal, die aus dieser Gestalt spricht. Eine tragische Größe «ud Schönheit von äschyleischer Kraft und Stimmung! So schickt Kaffaadra stch zum Sterben an: Ich geh' zu ende«: leibe» «erd' ich dort den Tod! Dich, Pforte, grüß' ich, Pforte mir ins Schattenreich! Doch steh' ich eins: mich treffe gleich der Todesstreich, auf daß, wenn mein sanft sterbend Blut zu Boden fließt, stch ruhig ohne Todeskampf mein Ang« schließt! AschyloS, Agamemnon, Ders 1291 bis 1294.

In Schönheit sterben. Das ist wohl niemals wieder so groß und so schlicht dargestellt worden. Der Wärme und Liefe der Empfindung ist die formale Schönheil ebenbürtig. Maa mag nicht viel mit Worten an diese» heiligen Gliedern herumtast«», vor ihrer kenschen Schönheit ziemt stch an­ dächtiges Schweigen. Wie ruhig, wie milde bei aller Energie sind diese Formen! Wie vereinigt flch die Kraft und Pracht des Aufbaus mit den zartesten Übergängen, dem sanfte» Verfließen der Flächen im Jahre 1905 erfolgten Auffindung der Statue entbrannte ein langer Streit zwtsche» der Baaca Commercial« und dem italienischen Staat um ihren Befltz. Ske gehört jetzt dem letzteren «nb bildet, nachdem fle eine Zeitlang in dem Hauptgebäade der genannten Baak in Mailand aufgestellt gewesen «ar, einen Schmuck deS staatlichen ThermeamuseumS in Rom. 56

Niobide

ineinander. Wie malerisch weich steht der Kopf im Relief! Man möchte meinen, der Künstler fei fast mehr Maler gewesen wie Plastiker. Suchen wir feine zeitliche Stellung zu bestimmen, so empfinden wir zunächst noch manches Gebundene, ja Herbe. Da ist im Umriß nichts von der gesättigten Schönheitslinie der phidia, fischen Kunst, sondern die Winkel der Knie find hart, die grade Linie der rechten Körpersette fast starr. Im Gewand ist noch ein Suchen. Es hat «eit mehr Naturalismus als der ParthenonstU. Man könnte es ganz von der Gestalt loslösen und würde eine wuu, dervolle unmittelbare Studie nach der Natur haben. Besonders wie die Falten unten auf den Boden stoßen und flch in rundlichen Zügen ausbreiten, das ist nicht aus der Gesamtidee der Kompo, flüon entstanden, sondern für stch studiert. Ls wirkt hart, wie der linke Unterschenkel von dem Gewände überschnitten wird. Sine voll, kommene Einheit zwischen Gewand und Körper ist nicht gefunden, die beiden Elemente streiten noch um die Herrschaft. Auch in der schlichten Haarbehandlung fühlen wir ein letztes Nachklingen des strengen Stils. Anderseits ist so viel Reife in dem Ganzen, daß wir keinenfalls über die Mitte des 5. Jahrhunderts hinaufgehen können, abwärts bis etwa 440 v. Ehr. Für die Bestimmnng der Kunstschule führe« die meisten Fäden rückwärts zu den Skulpturen des olympischen Zeustempels, deren Meister denselben Naturalismus, die malerische Grundauffaffung des plastischen Problems, eine ähnliche seelische Weichheit haben. Don wannen diese Künstler kommen, ist noch ein Rätsel. Nur daß fle weder Attiker noch Peloponnefler find, ist stcher. Man hat fle mit der nordgriechisch-jonischen Malerschule verkuüpfeu «ollen, deren vornehmster Name Polyguot**) ist. In den Bannkreis dieser Großen gehört auch der Niobidenkünstler.

Heinrich Duttes)

Der Perikles des Krestlas') Das Bild des PerikleS, wie es Krefllas gestaltet hat, darf wohl als ein untrüglicher Beweis für die Richtigkeit dessen angesehen *) Siehe S. 41 Aum. 2. *) Siehe S. 22 A„m. 1. „Oer schöne Mensch im Altertum", 2. (u. 3.). Auflage, München 1910 (1922,) Gp. 322ff. (S. 104s.). ’) Eine 60 cm hohe Marmorherme mit dem Namen des Dargestellten. Nase und Helmspihe find ergänzt. London, Britisches Musenm.

Periklesherme des Kresilas

«erden, was Thukydides über Charakter «nd Art des Mannes berichtet. Die Schilderung des Künstlers «ad die des Historikers rufen in gleicher Weise aas beide die Gestalt eines Mannes hervor, dessen geistig überlegenes Wesen and dessen innerste Vornehmheit ihn hoch über seine Mitbürger erhoben. Wir befltzea immerhin noch genug Porträts von Griechen des 5. Jahrhunderts, nm hier vergleichen zn könne». Nirgends sehen wir etwas, das entfernt an die rnhige Hoheit des Perikleskopfes heranreichte. Der Künstler war zwar auf die knappe Form der Herme beschränkt; er hat aber doch gewnßt, «ns einen Begriff der ganzen Gestalt zn geben. Wir denken uns Perikles, ruhig aufrechtstehend, wie er vor dem Volke zu stehen pflegte, in wohlgeordnetem Gewände, dessen Falten durch keine heftigen Bewegungen je gestört wurden, eia BUd der Selbst, beherrsch««- «ad Mäßigung. Er hat den Kopf leicht zur Seite geneigt und etwas zurückgeworfen. Diese Haltung hat etwas so durchaus Individuelles, daß sie sicher nach dem Leben beobachtet ist. In ihr liegt wesentlich der Ausdruck der MUde, der so deutlich aus dem Kopfe spricht, nicht jener Müde, die aus Schwäche fließt, sondern jener erhabenen Milde, welche innere Größe begleitet. Ebe» diese war Perikles so charakteristisch. Wir glauben es zu sehen, wie unbekümmert ruhig und still er das Haupt erhebt, wie laut auch die Stimmen seiner Ankläger und Lästerer zn ihm emporschallen mögen. Diese innere Sicherheit des Mannes kann aber nur aus der Reinheit seines unbestechlichen Charakters fließen, für welche Kresilas nicht weniger als Thukydides uns Zeuge ist. Rächst der Haltung des Kopfes ist der Mund besonders in, dividuell; er ist breiter als gewöhnlich und die Lippen stad auffallend voll; die Unterlippe wölbt sich namentlich stark heraus. Ein solcher Mund wird gewiß nie einem Manne eignen, der durch feste Ent, schloffeaheit «ad eiserne Tatkraft die aaberea nach seinem Wille» zwingt; vortrefflich aber paßt er zu Perikles, und wir glauben, von diesen Lippen, wenn sie sich öffneten, wohl einen goldenen Strom von Worten zu vernehmen, die durch der Überredung Macht den

Hörer sich gefangen nehmen.

Und dann scheint dieser Mund auf eine starke sinnliche Der, aalagung z« deuten, der gegenüber die volle Herrschaft des Geistes, jene hohe Selbstbeherrschung, welche im Gesamtausdruck des Kopfes liegt, von uns um so höhere Achtung verlangt. Es erinnert dieser

Mund aber an Perikles als den zärtlichen Liebhaber der Mfpafia1) und als den Freund «ad Beschützer der Künstler. Es wird von Perikles' äußerem Auftreten neben der Mllde und Gelassenheit noch besonders der Ernst des Ausdruckes hervor­ gehoben; sein Gesicht erschien dem Lachen unzugänglich. Wer sich darunter steife Würde Vorsteven wollte — eine Eigenschaft, die übrigens dem griechischen Naturell überhaupt fremd scheint — würde durch unser Porträt gleich widerlegt sein. Doch tiefer Ernst spricht freilich aus den Zügen des Mannes und die Gewohnheit, sich zusammenzufaffe» und an sich zu halten, aber keine Spur vom Be­ wußtsein äußerer Würde. Vielmehr glauben wir das rechte Bild des Lenkers eines demokratischen Staates, wie er sein sollte, zu sehen, wo dem innerlich Besten und geistig Vornehmsten von den andern die Leitung zugestandeu wird. Die unstreitig individuellste Eiuzelform des Kopfes ist jener besprochene Mund, der ja ans Unschöne streift; doch ist er es gerade, der uns den Mann menschlich am nächsten bringt.

Die andere» individuellen Züge sind mehr äußerlicher Art. Da ist zunächst die Weise, wie er Haar und Bart trägt, gewiß charak­ teristisch. Beides ist ziemlich kurz geschoren. Besonders der Bart ist kurz gehalten und läßt die Form des vollen runden Kinnes deutlich hervortreteu. Das kurzlockige Haar ist sehr dicht und der Nackenschirm des Helmes scheint auf demselben wie auf einem Polster aufzuruhen. Sichtlich verwandte Perikles große Sorgfalt auf das Äußere, nicht aus Gefallsucht natürlich, sondern um zu vermeiden, daß irgendeine Spur von nachlässigem Stchgehenlasseu hervortrete. Der knapp und in strenger Ordnung gehaltene Haar,

und Bartwuchs scheint uns eia nicht unwichtige Zug tu dem Bilde des Mannes, der auch in t,vv.oouia und evo^poovvr) gewiß seinen Mitbürgern voranging. Hier ist auch daran zu erinnern, daß gerade zu Perikles' Zeit jene Wandlung in der Kunst vorgiug, durch welche selbst die ehrwürdigsteo olympischen Götter, die bis dahin in reichem, langem Haarwuchs« dargestellt wurden, kürzeres, knapperes Haar bekommen. !) Durch ihre Verbindung mit Perikles wissen wir viel von dieser schöngeistigen voraehmea Dame, die hoch über den attischen Franen ihrer Zeit stand «ad die Emanzipation der griechischen Frau eialeitete. Auch der junge SokrateS suchte ihren anregenden Umgang. Ihr steteres Auftreten hat ihr den ungerechten Ruf zugezogen, baß sie eine Hetäre gewesen sei.

Der Helm bezieht sich, wie längst bemerkt worden ist, auf das Amt des Strategen, welches Perikles seit etwa 445 v. Chr. dauernd iaaehatte. Daß der Künstler keineswegs die Absicht hatte, durch diesen Helm den hohen Oberkopf des Perikles zu verdecken — wie das spätere Altertum glaubte — geht schon daraus hervor, daß er dem selben als charakteristisch, soviel es ging, wenigstens durch die offenen Augenlöcher erkennen ließ. ... Wenn wir «ns (innerhalb der Zeit von 440 bis 430 v. Chr.) nach einem Ereignis umsehen, das in besonders hohem Maße geeignet erscheint, die Aufstellung des Porträts im Heiligtum der Athena Poltas zu begründe«, so ist dies gewiß die Rückkehr des siegreichen Feldherrn aus seinem schwierigste» und größten Feldzuge, dem gegen das mächtige Samos um 439. Der Dank für seine glückliche Wiederkehr «ar sicher ein besonders passender Anlaß für seine Freunde, sein Porträt der Göttin zu weihen, die ihm ihren Schutz verliehen. So wird das Bildwerk denn eben damals ent­ standen sein, als Perikles durch seine herrliche Leichenrede auf die im samischen Kriege Gefallenen die höchste Bewunderung erregte und er von den Frauen mit Kränzen und Binden geschmückt wurde. Das Bild, wie er damals vor dem Volke stand, mag dem Künstler bei der Arbeit vorgeschwebt haben. Boa den formalen Eigentümlichkeiten dieser Arbeit ist das Auge vor allem zu bemerken; die Lidspalte ist besonders lang und schmal; auch scheint sie, obwohl der Mann etwas nach oben blickt, nicht ganz geöffnet, indem der Augenbeckel schwer aufliegt. Überhaupt sind die Lider sehr stark und körperlich gebUdet und damit steht es im Einklänge, daß auch die Träneukarunkel deutlich hervorttitt. Die inneren Augenwinkel sind sich ziemlich nahe gerückt und die Nasen­ wurzel ist schmal. Das Gesicht ist, nach der Weise der Zeit, »och ohne alle Falten, von glatter Haut überzogen gebildet. Rur über dem Ansätze der Nase hat der Künstler jederseits beim Beginn des Brauenbogens am sog. Draueakopf eine keine senkrechte Falte angebracht und darunter die Nase selbst durch zwei kleine horizontale Einschnitte abgesetzt. Jene Falten sind für den ernsten, denkende« und nicht mehr jungen Mann natürlich sehr paffend, in der Art ihrer Anbringung und Ausführung aber gewiß auch für den Künstler charakteristisch. Am Munde darf die wahrhaft fleischige Wiedergabe desselben hier nochmals betont werden; die Lippen bildet der Künstler noch mit verhältnismäßig wenig Modulation und etwas geradlinig.

Beim Haare liegt das Charakteristische in seiner plastischen Fülle, die es trotz seiner Kürze anszeichnet. Es ist durch viele, nicht in geordneter Reihe, sondern wirr durcheinander laufende Löck­ chen gebildet, deren Enden umgebogen sind; dieselben kehren auch au einigen Stellen des Bartes wieder, der jedoch zumeist noch kürzere, ebenfalls ziemlich wirr durcheinander gelegte kleine Haar­ streifen zeigt, deren Enden nur gekrümmt, nicht aufgerollt sind.

Adolf Furtwänglers

Der Doryphoros des Polyklet?) Wäre uns der Ruhm, den der Speerträger Polyklets genoß, nicht schon durch die Autoren der Antike^) überliefert, die stattliche Replikenreihe allein würde ihn ganz deutlich künden. Ein kräftiger Jüngling von vollkommenem, vielleicht sogar allzugroßem Ebenmaß der Formen — tutievQog a'wtßüg — steht vor uns. Er steht in Ruhe — und ist weder im Schreiten begriffen noch hält er inne im Schritt — und diese Art des Stehens ist das charakteristische Merkmal polykletischer Gestalten. Das mächtige Ausladen der rechten Hüfte beweist deutlich, daß das rechte Bein das allein tragende ist, während das linke mit gehobener Ferse nur das Gleich­ gewicht hält — eine Stellung, in welche man beim Schreiten nie gelangen kann. Es ist die absolute Ruhe, die ihren Ausdruck sich von der Bewegung leiht — nennen wir es kurz, die bewegte Ruhe. Und diesem Umstande entspricht es auch, daß der Körper in voller Vorderansicht dem Beschauer zugewendet ist. Wäre auch nur die geringste Schrittbewegung in der Darstellung, so müßte die eine Schulter nach vorn gedreht sein, die andere ebenso stark zurück­ weichen. *) Siehe S. 47 Anm. 1. Ebenda S. 271 ff.

2) Unsere Abbildung zeigt eine moderne vorzügliche Wiederholung der in mehreren Kopien erhaltenen antiken Statue durch den f Münchener Bildhauer Georg Roemer. Gewöhnlich wird die in der Palästra zu Pompeji gefundene, im Museo Nationale zu Neapel aufgestellte römische Marmor­ kopie nach dem griechischen Bronzeoriginal abgebildet. Diese ist wie die Roemersche Kopie etwas über normal lebensgroß (2 m). 3) Quintilian (siehe S. 30 Anm. 3), Plinius (siehe S. 33 Anm. 1), Cicero und Lucian (siehe S. 30 Anm. 2) äußern sich in mehr oder weniger begeisterten Worten über die berühmte Statue.

Aus dieser Idee der absolute« Ruh« ist uu« bas Werk erwachsen, sie beherrscht die ganze Konzeption. Doch weit entfernt davon, starr zu sei», wie die archaische» Meister das Problem auffaßte», resultiert fle vielmehr aus einem Gegeastreben der Bewegung, und der Künstler kann auch sein ganzes technisches Vermögen im Muskel­ spiel entwickeln. Schlaffe und gespannte wechseln miteinander; die ganze Danchpartie ist reich gegliedert. Es soll eben die absolut vollendete Entwicklung des jugendlich männlichen Körpers dargestellt «erde», nicht eia bestimmter Körper, «ad aus dieser Absicht re­ sultiert das Unpersönliche des Eindruckes. Bei diesem Strebe« ist den« auch manch et« Diag wider die Anatomie geraten, wie der merkwürdige Wulst über der Patella, welcher als Erbstück ans der archaischen Kunst, in der Natur äußerst selten und da nur an sog. Muskelmenschen sich findend, in seiner ganzen Schärfe förmlich als Signatur polykletischer Werke erscheint. So steht denn der Doryphoros als vollständig durchdachtes und gewolltes Werk vor uns. Angestrebt «ar in ihm, das Vorbild für alle «eiteren Athletenbildungen zu schaffen, er sollte die Elemente jeder wetteren Konzeption bereits in sich bergen. Diesen theoretischen Erwäguagea entsprechend findet sich ein strenger Chiasmus durch­ geführt: dem tragende» rechten Beta entspricht der mit dem Speer bewehrte linke Arm, «ährend sich dem entlasteten linken Bein der schlaff herabhäagende rechte Arm vereint. Doch ist in Tatsache diese Abwechslung nicht vorhanden; es ist ein Chiasmus des Gedankens, bei dem die Linie zu kurz kommt. Die ganze rechte Hälfte strebt gleichmäßig in parallelen Linien nach abwärts, «ährend auf der linken Seit« die im Winkel sich schneidende» sich häufe». Doch würden wir unserm Meister unrecht tun, wollte» wir gerade in diesem Werke ihn mit den attischen Meistern der Linie vergleichen; denn hier wollte er den ihn beherrschenden kunsttheoretischen Zug völlig ver­ körpern: was im Doryphoros vor »ns steht, ist eine Konstruktion — ist der Kanon i). Es ist aber auch et« Bekenntnis zugleich des eigenen Schöaheitsideales und als solches das Produkt einer langen persönlichen Entwicklung ...

Ja gleicher Weise wie der Körper ist auch der Kopf das Resultat einer Koastrnktioa, unpersönlich, keine Melodie, sondern ein Motiv, *) Polyklet stellte ei» Schema für die absolut proportion-getreue Wiedergabe des menschliche» Körpers auf. Dieses In einer Schrift nieder­ gelegte System nannte er Kanon, d. i. Richtschnur.

64

Doryphoros des Polyklet

das dann auch die Späteren unendlich oft variierten. Zirkel und Maßstab haben seine DerhäUuiffe zahlenmäßig festgelegt. Uuwill, kürlich erinnert man sich an Kleiton und Sokrates und seinen Ruf nach Beseelung des Bildwerkes beim Anblick dieses caput quadratum. Das Haar führt bereits eia selbständiges Dasein: es ist nicht mehr bloß schädeldeckead, sondern erhebt sich über seine Grundlage in wenn auch flacher Fülle. Dreieckig begrenzt es mit scharfer Mittel, teilnag und symmetrisch nach beiden Seiten abziehenden Löckchen die Stirne... Die Stirne selbst, in ihrer Höhe durch das Haar stark beeinttächtigt, besitzt nur eine ganz geringe, unpersönliche Gliede, rung, bestehend in dem Dorwölben der unteren Partie und dem Der, such, den Naselwnrzelaasatz durch Einsenkung zu individualiflere». Seine eigenste Handschrift weist uns jedoch der Meister in Rast», und Mundbildung. Der breite Nasenrücken mit seinem sich langsam zu den Wangen senkenden Abfall, die schwache Betonung der Flügel mit ihrer hochgeschwungenen hinteren Begrenzung nicht minder als die etwas aufgeworfene, wiederum bogengeführte Oberlippe, welche die Mundspalte fteigibt, geben diesem Kopfe seine Charak, teristik... Was Polyklet in dem Kopf anstrebtt, ist jedenfalls er, reicht: ein absolut symmettisches Gebilde. Auf de» moderne» Be, schauer wirkt er mit seinem Ebenmaß und dem Maugel der geistigen Rote fast leer ... Arthur Mahler *)

Der Apollon vom Belvedere") Die Statue des Apollo ist das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums, welche der Zerstörung entgangen flnd^). Der Künstler derselben hat dieses Werk gänzlich auf das Ideal gebauet, und er hat nur eben so viel von der Materie dazu ge­ nommen, als nötig war, seine Abflcht auSzuführemurrd sichtbar zu machen. Dieser Apollo übertrifft alle anderen Bilder desselben x) f Archäologe. Polyklet und seine Schule, Athen und Leipzig, W. Barth 1902, S. 29 ff. 2) Überlebensgroße (2,25 m) Marmorkopie aus der Zeit des Kaisers Hadrian (117—138). Schon seit dem Ende des 15. Jahrhunderts bekannt. Um 1530 von einem Schüler Michelangelos zu der heutigen Gestalt er­ gänzt. Rom, Vatikan, im Cortile del Belvedere. 8) Man bedenke die an klassischen Bildwerken noch verhältnismäßig arme Zeit des 18. Jahrhunderts, in der der begeisterte Aufsatz Winckelmanns entstanden ist. Vgl. auch S. 92 Anm. 1.

so weit, als der Apollo des Homerus den, welchen die folgenden Dichter malen. Über die Menschheit erhaben ist sein Gewächs,

und sein Staad zeuget von der ihn erfüllenden Größe. Eia ewiger Frühling, wie in dem glücklichen Clyflea, bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre mit gefälliger Jugend, und spielet mit sanften Zärtlichkeiten auf dem stolzen Gebäude seiner Glieder. Gehe mit deinem Geiste in das Reich uakörperlicher Schönheiten, und versuche, ein Schöpfer einer himmlischen Natur zu «erden, um den Geist mit Schönheiten, die flch über die Ratur erheben, zu erfüllen: denn hier ist nichts Sterbliches, noch was die measchltche Dürftigkeit erfordert. Seine Adern noch Sehnen erhitzen und regen diesen Körper, sondern ein himmlischer Geist, der flch wie eia sanfter Strom ergossen, hat gleichsam die ganze Umschreibung dieser Figur erfüllet. Er hat den Python, wider welchen er zuerst seinen Bogen gebraucht, verfolget, und sein mächtiger Schritt hat ihn erreichet und erleget. Don der Höhe seiner Genügsamkeit gehet sein erhabener Blick, wie ins Unendliche, «eit über seinen Sieg hinaus: Verachtung fltzet auf seinen Appen, und der Unmut, welchen er in flch ziehet, blähet flch in de» Rüstern seiner Rase und tritt bis in die stolze Stirn hinauf. Aber der Friede, welcher in einer seligen Sülle auf derselben schwebet, bleibet ungestört, und sein Auge ist voll Süßigkeit, wie «ater den Musea, die ihn zu umarmen suchen. In allen uns übrigen Bildern des Vaters der Götter, welche die Kunst verehret, nähert er flch nicht der Größe, in welcher er flch dem Verstände des göttlichen Dichters »jftabartt, wie hier in dem Geflchte des Sohnes, und die einzelnen Schönheiten der übrigen Götter treten hier, wie bei der Pandora, in Gemeinschaft zusammen. Eine Stirn des Jupiters, die mit der Götün der Weis, heil schwanger ist, und Augenbrauen, die durch ihr Winken ihren Willen erklären: Augen der Königin der Göttinnen mit Großheit gewölbet, und ein Mund, welcher denjenigen bildet, der dem gelieberen BranchuS die Wohllüste eingeflößet. Sein weiches Haar spielet, wie die zarten und flüssigen Schlingen edler Wetnrebe», gleichsam von einer sanften inst beweget, um dieses göttliche Haupt: es scheinet gesalbet mit dem Hl der Götter, und von den Graüen mit holder Pracht auf seinem Scheitel gebunden. Ich vergesse alles andere über dem Anblicke dieses Wunderwerks der Kunst, und ich nehme selbst einen erhabenen Stand an, um mit Würdigkeit an­ zuschauen. Mit Verehrung scheinet flch meine Brust zu erweitern und zu erheben, wie diejenigen, die ich wie vom Geiste der Weis67

sagung aufgeschwellet sehe, und ich fühle mich weggerücket nach Delos «ad ta die lycischea Haine, Orte, «eiche Apollo mit seiner Gegenwart deehrete: denn mein Blld scheinet Leben and Bewegung zu bekommen, wie deS Pygmalions Schönheit. Wie ist es möglich, es zu malen «ad zu beschreibe«! Die Kunst selbst müßte mit raten und die Hand leite«, die erste« Züge, welche ich hier enttvorfen habe, küastig aus­ zuführe«. Ich lege de« Begriff, welche« ich voa diesem Bilde gegebe« habe, zv dessen Füßen, wie die Kränze derjenigen, die das Havpt der Gottheiten, welche sie krövea wollten, nicht erreichen konnten.

Johann Winckelmann*)

Der Apollon vom Belvedere Die Statue ist scho« von den Renaissaucekünstlern bewundert, vo« Wiackelmann gepriesen, im 19. Jahrhundert in zahllosen Nachbildungen verbreitet worden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam eia Sturz. Ma« sah nur die allzu glatte Oberfläche, die etwas leere» Forme« des Gesichts, die trockene Arbeit der Haare, was alles der Kopist verschuldet hat, dann das anscheinend Theattalische der Haltung, schließlich zu viel schlechte Nachblldungen in allen Salons. Die Schätzung stieg, seitdem ein bedeutender Künstlername des 4. Jahrhunderts mit dem Werk in Verbindung gebracht wurde. Der Gott schreitet aus der Tiefe nach vorwärts, hoch in den Hüsten emporgereckt. Das überzeugende der Bewegung liegt in der Weite des Schritts und in der chiastischen Drehung des Ober­ körpers. Da der Sott den Köcher «mgehängt hat, kann der linke Arm nur mit dem Bogen gedacht werde«, wie der Ergänzet durch den Stumpf in der Hand richttg anbeutete. Der Sin« des Ganze« kann nur sei«: Apoll hat geschossen, scharf schaut er, ob das Ziel gettoffen ist, und unaufhaltsam «etterschreitend wird er Psttl auf Pfeil entsenden. Rach dem Schufst hat flch die rechte Hand gesenkt, nichts «eiter drückt fle aus. Der Ergänzet hat das Mottv in der Hanptsache richttg gettoffen. *) Über Wiackelmann siehe die Eialeituug. Die vorliegeade begeisterte «ad begeisternd« Beschreibuag findet flch ta Wiackelmaaas Geschichte der Kaast des Altertums, n. Buch 3. Kapitel § 11 (Doaaueschiager Ausgabe, 6. Baad, 1825, S. 221 ff.). Als «ta modernes Beispiel begeisterter Dildbeschretbuag lasse» wir Heinrich Bulles Aufsatz über den gleichen Gegen­ stand folgen.

Apollon vom Belvedere

Wir dürfen nicht fragen, auf was der Gott schießt, aber es mag

an die «nndervollev Eingangsverse der Ilias erinnert «erden,

als er den Griechen die Pest bringt, «m seinen Priester Chryses zu rächen: Schnell von den Höh'» des Vlympos enteilet er zürneade» Herzens, auf der Schulter de» Doge» «ad riags verschlossenen Köcher, taut erschollen die Pfeile zugleich auf des Zürnende« Schulter, als er einher sich bewegt'. Er ««adelte düster wie Rachtgrau'a, setzte flch drauf von den Schiffen entfernt und schnellte den Pfeil ab, »ad eia schrecklicher Klang entscholl dem fllbernea Dogen. Rur Maultier« erlegt' er zuerst «ad hurtige Hunde. Doch nun gegen fle selbst das herb« Geschoß hinweadend traf er. Und rastlos brannte» die Totenfeuer in Menge.

Das grandiose dichterische Bild, Pfeil auf Pfeil in unentrinn­

barer Folge, konnte der Plastiker auf keine andere Weise aufaehmen,

als indem er den Gott in unwiderstehlicher Bewegung zeigt. Damit gewinnt er eia

Charakterbild, losgelöst von seinem besonderen

Augenblick: Apollon, den Ferahintreffer. Der stolze, feurig-trotzige

Ausdruck des Geflchts — in einer anderen Wiederholung des Kopfes bester bewahrt als hier — vollendet den Eindruck.

Maa hat daS Werk dem Leochares zugeschrieben, einem attischen

Künstler um die Mitte des 4. Jahrhunderts, von dem wir in einer schlechten Kopie eine Darstellung des Ganymed befltzea, der vom

Adler des Zeus emporgettagen wird.

Auch ein schöner jugend­

licher Alexander in der Münchener Glyptothek wird ihm zugewiesen.

Leochares ist keiner von den typenschaffenden Künstlern, seine Werke

habe« einen etgeaarügen Schwung und einen besonderen Stim­ mungsausdruck, ohne doch pathetisch zu werden.

Heinrich Bulle*)

Hypnos') ... Wenn wir fragen, welches die Grundidee war, von welcher der Künstler bei der Erschaffung seines Werkes ausging, so «erden 1) Siehe S. 22 An«. 1. „Der schöne Mensch Im Altertum", 3. Auf­ lage, München, Georg Hitth, 1922, S. 63 ff. 2) Die unterlebensgroße Gestalt des Hypnos ist eine im Pradomuseum zu Madrid befindliche römische Marmorkopie nach einem griechischen Droazeoriginal. Dom Kopfe besitzt das Britische Museum in London eine sehr gute Bronzewiederholung.

Kopf des Hypnos

wir uns daran erinnern müssen, daß bei den Griechen lange Zeit vor der bUdenden Kunst die Poesie entwickelt war. Um es kurz zu sagen, Homer war es, der den Griechen ihren Olymp geschaffen und der durch feine Dichtungen auch der Kunst ihre Formen vorgeschrieben hat. Homer also führt in der berühmten Szene des Be­ suches der Hera bei Zeus auf dem Ida (Ilias XIV) den Schlafgott ein; aber anstatt ihn genau zu beschreiben, begnügt er sich, zu erzählen, wie im entscheidenden Augenblicke dieser Dämon sich verbirgt in den Zweigen einer Tanne, unter der Gestalt eines Vogels (Vers 290): Gleich dem tönenden Vogel, der nachts die Gebirge durchflattert, Chalkis von Göttern genannt und Nachtaar unter den Menschen. Nun vermochte allerdings der Künstler sich nicht eng an den Dichter anzuschließen und den Schlaf unter der Gestalt eines Vogels zu bilden. Und doch dürfen wir wohl bestimmt behaupten, daß die Dichtkunst ihm die Idee der Flügel bot, welche an seinem Werke als das am meisten charakteristische Merkzeichen hervortteten. Damit nicht genug: ohne eine schon im Altertum vielerörterte Frage ent­ scheiden zu wollen, welche besondere Dogelgattung unter dem Namen Chalkis oder KymindiS zu verstehe» sei, können wir wenig­ stens so viel sagen, daß alle übereinstimmend diese Benennung auf einen Nachtvogel beziehen: und der Flügel eines Nachtvogels ist der unseres Dronzekopfes: so versicherten mir, ohne denGrund meiner Fragen zu kennen, in vollster Unbefangenheit jagdkundige Männer. Also hinflchtlich der Gattung der Flügel befindet sich der Künstler im Einklang mit dem Dichter.

Aber was veranlaßte Homer, den Schlafgott in einen Nacht­ vogel zu verwandeln? Und den Künstler, dem Gotte Flügel zu geben und diese an die Schläfe anzufügen? Die Natur bot ihm sicherlich kein Vorbild fftr eine solche Bildung dar. Es konnte sich also nur um eine Analogie mit Blldungea der Natur handeln, eine Analogie der Formen, die in «nserer Phantasie eine Analogie des Ausdrucks bewirkt. Eine solche Analogie, wenn ich mich nicht täusche, bietet sich in einfachster Weise dar zwischen dem Flügel, welcher sich hebt und senkt, und dem Ange, welches sich öfstlet und schließt. Daß diese meine Anschauungsweise wenigstens nicht im Widerspruch steht mit den Ideen des Altertums, läßt sich durch verschiedene Darstellungen geflügelter Dämonen beweisen, an denen mitten in die Höhlung der Flügel ein großes Auge hineingezeichnet oder -ge­ malt ist. Der Flügel also wiederholt und verdoppelt gewiffermaßen

den Organismus des Anges und verstärkt dadurch die Aktion und den Ausdruck desselben; und er wird dies in um so höherem Maße leisten, in je genauere Detiehuug oder Berührung er mit dem Auge selbst gesetzt wird. Da ist es nun eia eigenes, sprachltch und physiologisch noch nicht genügend erklärtes Zusammentreffen, baß nach dem Ausdrucke der Alten Hypnos seine einschläfernden Säfte ausgießt auf die tempora, de« Teil des Kopfe-, den wir Schläfe nennen. Die Schläfen haben allerdings mit dem Offnen und Schließen

des Auges direkt nichts zu tun. Ich kann mir also das Büd der Alten und den Ausdruck im Deutschen nur etwa so erklären, daß wir auf diesen im Verhältnis zur Stirnfläche zarter gebauten Testen des Schädels bei heraaaaheader Müdigkeit einen gewtssen Druck empfinden, gewissermaßen als Vorboten des Schlafes und des Schließen- der Augen. Wenn also der Künstler die Flügel aus den Schläfen heravswachsea ließ, so wird er es getan haben im Hinblick auf diese sympathische Beziehung. Zugleich aber wird dadurch der Flügel selbst in die verlangte engste Beztehnng znm Auge gesetzt und es entsteht eine vollkommene Wechfsttvirkuug zwischen beiden, wie «ns eine Prüfung der «esentltchen Formen lehren wird. Physiologisch betrachtet, senkt sich beim Nahen des Schlafes, wen« das obere Augenlid herabsinkt, der Augapfel nicht wie im Tode nach abwärts, sondern er hebt flch nach oben «ad die Achsen der Blicke konvergieren. Geradeso find die Augen an unserem Bronzekopfe gebstdet (wie sich nämlich aus der Bildung der Augen­ lider schließen läßt; denn die aus einem «eichen und der Zerstörung mehr unterworfenen Stoffe gebildete« Augäpfel fehlen jetzt). Der Blick ist nicht fest, sondern die gesenkte« Blicke der beiden Augen... verschwimmen ineinander in geringer Entfernung vor der Spitze der Rase. Die Pupille drängt flch scharf gegen den Augenknochen und da- obere Augenlid leistet kaum der Schwere des Schlafes Widerstand; es will der matten Senkung des Kopfes folgen. Ge­ rade nun in der Derlängernug der Achse de- Blickes »ach rückwärts sprießt der Flügel aus der Schläfe hervor: noch ist er ausgebreitet, aber nicht, «m flch zum Fluge zu erheben, sondern um herabzusioken, wie wir au der noch gebogenen Spitze des Flügels selbst erkennen. Mau glaubt den Moment vorauszuseheu, wo er flch senken und schließen und zugleich im Sinken das Augenlid schließen und in süßen Schlummer hüllen wirb. Wende man mir nicht ein, daß ich auf diese Weise dem Geber des Schlafes beilege, was vielmehr die Wirkung seiner Tätigkeit auf andere sein müßte. Auch das Gähnen

z. B. steckt an, und so muß flch auch die Wirkung des Schlafes durchaus in sympathischer Weise äußern: der Dämon beglückt den Mensche», indem er ihn seiner eigenen Natur teilhaftig macht. Sofern ich den wahren Wert dieser Formen und Linien, in denen die Idee des ganzen Werkes ihren Sitz hat, richtig erfaßt habe, dürste ein wesentlicher Schritt zum Verständnis dieser aus­ gezeichneten Bronze gemacht sein. Es bleibt aber noch die weitere Aufgabe, zu erforschen, durch welche Mittel der Künstler von diesem Ausgangspunkte aus alle übrigen Formen in vollkommener Harmonie zu entwickeln verstanden hat. Es leuchtet ein, daß die besondere Art des Herauswachsens der Flügel einen entscheidenden Einfluß auf die Gestaltung der an­ dern, besonders der nächstliegenden Teile ausüben muß. Wollten wir Flügel an eine ebene, zarte und mürbe Stirn ansetzen, so würden wir Gefahr laufen, dieselbe unter einem solchen Gewicht aus­ einanderzusprengen. Sie muß vielmehr eine feste, dauerhafte Grundlage darbieten; und aus diesem Grunde tritt sie in der Mitte kräftig hervor, und ohne den fleischigen Teilen eine üppige Ent­ wicklung zu gestatten, zeigt sie vielmehr eine feine, harte und wider­ standsfähige BUdung des Knochenbaues. Wenn ferner in griechi­ schen Bildungen der Nasenrücken breit und eben zu sein pflegt, erscheint er hier schmal und scharf zugeschnitten; und während die inneren Augenwinkel tief einsetzen, macht sich auch au der Nasen­ wurzel der gleiche Eharakter knapper Feinheit und Schärfe in be­ stimmter Weise geltend. So hat der ganze obere Teil, der mit den Flügeln in so enge Beziehung gesetzt ist, in seinen Formen und Zügen entschiede» etwas von einem Dogelgeflcht. Trotzdem dürften die Flügel «egen ihrer Größe ein zu schweres Gewicht zu bilde» scheine», um von dem SÜrukuoche» getragen werde» zu k-nuen. Um so mehr haben wir Anlaß, das feine Ver­ ständnis der Griechen in der Verwendung des Beiwerkes »ach der Richtung zu bewundern, daß sich dasselbe aufs engste mit dem Organismus verbindet, ja denselben in seinen Formen nur »och «eiter zu entwickel« scheint. DaS breite Band über der Stirn scheint in erster Linie nur bestimmt, das lange Haar äußerlich zusammen­ zuhalten, um zu verhindern, daß es bei der schnellen Bewegung der Gestalt nicht regellos umherflattere; aber in Wahrheit umfaßt es, nicht eine Binde, sondern ei» fester Reif, den Schädel, schützt ihn und verleiht ihm eine» größeren Halt, um das Gewicht der Flügel tragen zu können.

Ein nicht geringeres Verständnis offenbart sich in der Anordnung des Haares, das, in der Mitte geteilt und hinter dem Ansatz der Flügel zurückgestrichen, in einen Knote« geknüpft ist, um dann in schönen Locken hinter den Ohren herabzufallen. Wir freuen uns an der geschmackvollen Eleganz; aber während wir in den beiden Knoten nur eine» schönen Schmuck zu erkennen glauben, der die scharfe Ecke zwischen dem Flügel und dem Kopfe ausfüllen sollte, hat der Künstler dadurch noch einen höheren Zweck zu erreichen ver­ standen. Die Anordnung dieser Locken gestattet allerdings de» Flügeln, sich zu entfalten, aber hindert sie, sich hoch zu erheben, und so gewinnev wir unbewußt den Eindruck, daß der Dämon sich nicht z« kühnem Fluge in die Luft erheben will, sondern daß die Flügel leise schwingen, flattern und schließlich sich senken und schließen werden. Gehen wir jetzt zur Prüfung der untere« Gestchtsteile über, so finden wir hier den Charakter der Formen in gewiffem Sinne geradezu umgewandelt. Und in der Tat, «en» der Künstler bei dem nämlichen System hätte verharren und die feinen und scharfen Formen des Knochenbaues noch läuger hätte vorherrschen lassen wollen, so würbe die ganze Arbeit leicht hart und trocken geworben sein. Aber wenn er sich bei dem oberen Teil von der Analogie der Gesetze leiten ließ, welche in dem Bau und dem Organismus des Vogels walten, so wird eine genauere Prüfung uns zeigen, daß er sich von ihr auch in dem unteren Teile nicht entfernte. Bei dem Vogel lassen der obere Umriß des Flügels und das Dor­ springen des Brustbeins, welches wie der Kiel eines Schiffes die Luft spalten und durchschneiden muß, einen feinen und scharf zu­ geschliffenen Bau erkennen. Daran aber fügt sich der übrige Körper in weicheren und vollere« Formen an, in denen sich der Knochenbau fast ganz dem Auge entzieht. So wechselt auch in dem Kopfe des Schlafgottes der Charakter in dem Sinne, daß der untere Teil gewissermaßen das gerade Gegenteil zum oberen Teil bildet. Wo das Gewicht der Flügel aufhört, seinen Eiaflüß zu üben, nämlich in den Teilen unterhalb des Auges und in den Wangen, fangen die fleischigeren und weicheren Teile an zu überwiegen; und während durch die Neigung des Kopfes die Unterkehle gegen den Hals ge­ drängt wird und den unteren Teil der Waagen so zusammendrückt, daß der genauere Umriß der Kinnlade verschwindet, entsteht hier ein Überschuß von Weichheit, der sich in noch verstärktem Maße geltend macht durch die Verkürzung, in welcher der ganze untere Teil des Gesichts durch die Neigung des Kopfes sich u»S darstellt.

Nichtsdestoweniger hat der Künstler die Mittel zu finden verstanden, um jede Disharmonie zu vermeiden: er hat die beiden scheinbar flch widersprechenden Charaktere, die »ns in diesem Kopfe entgegen­ treten, vermittelt und versöhnt durch die Bildung des Mundes und des Kinnes. In Übereinstimmung mit der Feinheit der Nase ist die Oberlippe des leise geöffneten Mundes kurz und wenig nach oben gezogen, aber in ihren zarten und feinen Formen von wohl gezeichneten Umrissen umschrieben. Dagegen verleugnet flch in der Fülle und Weichheit der sanft gesenkten Unterlippe nicht eine enge Beziehung zu dem verwandten Charakter der Wange». End­ lich aber fügt flch darunter wie eine solide Bafls die vordere Fläche des Kinnes ein, das in seiner Gestaltung durchaus durch die Bildung des Knochens bedingt erscheint. Hier also im Kinn geht alles zu­ sammen und vereinigt flch zu schöner Harmonie. Den« etaesteUs wird in der knappen Bestimmtheit seiner Umrisse der Charakter der oberen Geflchtsteile wieder ausgenommen und findet hier seine Ergänzung, anberntells wirkt die Festigkeit seines Baues als eine Verstärkung und als ein fest zusammenschließendes Band für die weichen Formen der Waagen und der Unterlippe, die ohne solche Stütze leicht den Eindruck einer gewtffen Berschwommenheit machen würden. Rach dieser analytischen Prüfung der Hauptformen über­ lasse ich es Ihren Augen, flch immer mehr in die Schönheit dieser ausgezeichnete» Bronze zu vertiefen. Den« wenn ich fortfahre» wollte, eia nach allen Richtungen so durchgebildetes und vollendetes Werk mit Worten zu schlldern, welche seine Schönheiten doch mehr nur anzubeuten als erschöpfend darzulegen vermöchten, wen» ich noch länger von Müdigkeit und Mattigkeit zu Ihnen reden wollte, so dürfte es flch ereigne», daß, wie ein römischer Dichter (Siltus Italicus, Puvtca X, 354^.), man möchte beinahe glauben, ange­

sichts dieses Kopfes dichtete, daß, sage ich, der güt'ge Dämon schweigend, unvermerkt euch nahe, am mild geneigten Haupt die duftigen Schwingen schüttelnd und mit der Lethe Zweig die Schläfe sanft berührend, des Schlummers Tau euch auf di« Augen träufle: per tacitum allapsus quatit inde soporas devexo capiti pennas oculisque quietem irrorat, tangens Lethaea tempora virga. HeinrichDkUNN*)

') Als Professor der Archäologie in München 1894 gestorben. chische Götterideale, München, Bruckmann 1893, S. zoff.

Grie­

Der Hermes des Praxiteles') Jahrhundertelang hatte man Götter in Menschengestalt ver­ körpert, aber man blieb zurückhaltend in der Vermenschlichung. Die Götter am Parthenon stad verklärte Gestalten, leicht dahin­ lebende Wesen ohn« Wechsel der Stimmung, und auch im West­ giebel des Zeustempels wagte man noch nicht dem Antlitz des Gottes einen Ausdruck von Erregung zu geben. Nach Phidias und Alkamenes**) ging man weiter. Man zog die Götter in die Welt der Empfindungen, die bas Menscheaherz bewegen. Ma« ließ Dionysos der eignen Gabe flch freuen, Apollo schwelgt im Zauber der Melodien, und Aphrodite empfindet selbst die Macht der Liebe. So spiegelt flch nun ein bewegtes Gemütsleben in dem klaren Antlitz der Götter, und das war eine der zartesten, aber entscheidend­ sten Neuerungen in der Geschichte der Plastik. Ihr Urheber «ar vor allen andern Praxiteles, und darum galt er für einen Gesetzgeber im Gebiete der Kunst, für einen Meister neben Phidias.

Schauen wir nun auf bas Werk seiner Hand, das erste Original­ werk des Meisters, bas uns, den aachgeborenen Geschlechtern, anzuschauen vergönnt ist! Hermes war neben Apollo der zweite Jüngling Im Olymp. Ein alter Naturgott nordischer Herkunst, ein Gott der Hirten, behielt er Apollo gegenüber einen derberen, naturwüchflgeren Charakter, ist er mehr körperlich wirksam, mehr nach außen tätig, darum aber keine untergeordnete Natur, sondern der Liebling des Volkes und bas leibhaftige Vorbild seiner Jugend, die gleich ihm unter dem Segen südlicher Gestirne flch umhertnmmelnd fttsch und gesund emporwächfl. Im Dollgenuß seiner Kraft hat er eine Freude daran, allerorte« eiazuttetea, wo rasche HUft nötig ist, namentlich bei Kindern, die der Eltern beraubt find, so hier bei dem kleinen Dacchos, dessen Mutter vom Blitze des Zeus verzehrt «ar. Die jüngere Kunst der Athener liebt solche Grvppea, denen die zärtliche Sorge um eia hilfloses Geschöpf einen anziehenden Inhalt gab. So stellte des Praxiteles Vater die Friedensgöttin dar mit dem Knäblein auf dem Arm, das den Segen des Friedens *) Originalwerk des Praxiteles aus feinstem parischen Marmor. Dank deutschen Ausgrabungen 1877 im tzeratempel zu Olympia an seinem früheren Aufstellungsorte gefunden. Das einzige große Kunstwerk «tues ganz großen griechischen Künstlers, das wir im Original besitze«. Jetzt im Museum zu Olympla. *) Bedeutender und fruchtbarer Schüler und Nebenbuhler des Phidias.

vorstellte. So sehen wir auf Münzbildern derselbe» Zeit, wie Arkas, der künftige Stammvater des arkadischen Volks, von Hermes im Fluge dahin getragen wird, wo die Nymphen des Säuglings warten. Ein anderes Motiv «ar es, ihn auf seiner Eilfahrt rastend darzustellen. Er soll nicht bloß als Werkzeug erscheinen, als gehor­ samer und unverdrossener Bote des Zeus, sondern als Kinderfreund, dem es nicht darum zu tuu ist, so bald wie möglich seiner Bürde los zu werden. Darum lehnt er sich unterwegs an einen Baum­ stamm, über den er seinen Mantel geworfen hat, um in behaglicher Rast mit dem Kinde zu spielen. Er hält ihm, so denke» wir, mit der Rechten eine Traube vor, um ihm scherzend seinen künftigen Lebensberuf anzudeuten. Das Kind ist unverhältnismäßig klein, damit die Hauptfigur »icht beeinträchtigt werde, dem Sinne nach ist aber doch das Kind die Hauptsache, und der Kranz, dessen Lager noch am Hinterkopfe des Hermes stchtbar ist, war vermutlich ein Efeukraaz, das Dienstzeichen des Dionysos. Das Kind ist nicht unbeholfen «ad ungelenk wie gewöhnliche Erdenkinder *). Zu­ traulich legt es sein Händchen auf die mächtige Schulter und hebt fich, mit dem Fuß auf den Baumstamm gestemmt, leicht und be­ hende aus den Windeln empor, um verständnisvoll nach der Frucht zu greifen. Der Heroldsstab aber, den Hermes in der Linken trug, erinnert daran, baß er im Auftrage des Zeus den Dienst der Kinder­ pflege an dem kleinen Bruder wahrnimmt. Es ist ein anmutiges Doppelbild, ein Familienbild ohne Vater und Mutter, eine Gruppe voll mannigfacher Beziehungen, ein Stück Göttergeschichte, und doch so menschlich klar und verständlich, bewegt, aber still und friedlich, voll wohltuender Harmonie. Der Kopf des Hermes ist dem Kinde zugeneigt, aber er sieht es nicht an, und wir könnten wohl meinen, daß die Gruppe dadurch an Abrun­ dung und Einheit etnbüße.

Achten wir auf die Haltung der antiken Statuen, so finden wir eine bemerkenswerte Wandelung. Ursprünglich stand der Kopf senkrecht auf dem Rumpf, wie bei den alten hölzernen Gnaden­ bildern. Dann diente eine leise Neigung dazu, den starren Ernst zu mildern und die Geneigtheit der Gottheit, auf menschliches Bitten zu hören, anzudeuten, wie dies bei berühmten Zeusköpfen

*) Dgl. das Verhältnis des Christusknaben z« seiner Mutter in den Gemälden der deutschen und italienischen Renaiffancemeister.

der Fall ist; auch liegt darin der Ausdruck des Gedankenvollen und des vou der Außeuwelt zurückgezogenen geistigen Lebens, wie «vir es au schönen Atheneköpfeu bewundern. Eine stärkere Bewegung steigert den Ausdruck der Empfindung und entspricht dem Geiste einer Zeit, welche die Götter mehr und mehr vermenschlichte. Seit­ wärts geneigt, dentet der Kopf eine schwärmerische Stimmung an, wie bei dem leierspielendea Apollo; nach vorn gesenkt, gibt er den Ausdruck einer Men Melancholie. Daher wurde die schönste Hermesstatue, die vor Entdeckung unserer olympischen vorhanden war, die Statue des Belvedere, zwei Jahrhunderte lang Antinous

genannt. Don dieser Statue, welche lange einzig in ihrer Art war, ist allmählich eine ganze Reihe gleichartiger Werke zum Vorschein ge­ kommen. Es muß also ein berühmtes, Epoche machendes Original gegeben haben, ein Werk, von dem man annehmen muß, daß es nach Phidtas «ad vor der Zett Alexanders entstanden sei, und wenn man zweifeln konnte, ob in diesen BUdwerken eia Gott oder ein Sterblicher dargestellt sei, so liegt der Grund in dem Anfiug von Empfindsamkeit, die den Götterbildern alter Zeit ftemb ist und ihnen einen modernen Eharakter gibt. Die hohe Idealität der Götter ist durch eine gewisse Lässigkeit gemildert; die Person der Gottheit tritt «ns so nahe, daß wir ihr ablauschen und abftagen möchten, in welche Gedanken sie vertieft sei, und da wir Praxiteles als den­ jenigen kennen, der die Olympier menschlich fiuneu und fühle» lehrte, als den Meister der Kunst, die zartesten Regungen des Empfindens im Marmorautlitz auszubrückeu, so «erden wir auch diesen Hermes­ typus der Kunstrichtung zuschreiben, welcher er die Bahn gebrochen hat. Derselben Schule gehört der vatikanische Eros au mit seinem träumerisch gesenkten Blick und jener viel bewunderte und viel uachgeblldete Apollo mit der am Baumstamme fich emporringeladen Eidechse. Dies Bildwerk ist für uns vou besonderer Wichtigkeit. Denn erstens ist das Original ein bezeugtes Werk von PraxtÄes, und daun sehen wir auch hier den Gott mit einem Gegenstand be­ schäftigt, ohne daß er diesen scharf tu das Auge faßt. Der Pfeil ist auf das Tier gerichtet, aber während des Spiäs find die Gedanken

davongeflogen und schwLrmen in anderen Regionen. Wenn die Darstellung dieser Gedankenwelt die Liebhaberei und Virtuosität des Praxiteles war, so begreifen wir, warum auch unser Hermes träumerisch vor sich hinblickt. Wären die Augen ge-

spannt auf das Kind gerichtet, so hätte dies eine gezwungene Kopf, Haltung nnd eine zn starke Drehung der Halsmuskeln erfordert. Oie Gruppe würde an geschloffener Einheit gewonnen, aber an Schönheit und Freiheit verloren haben. In voller Sorglosigkeit steht nun der Gott vor nns, dienstbeflissen ohne ängstliche Span, nung, tätig und doch in hetterer Ruhe, ein treuer Pflegevater, aber in olympischer Sicherheit, sein eigen und frei, in strahlender Schönheit seiner ewigen Jugend ftoh. Für Praxiteles' Talent «ar es eine besonders anziehende Aufgabe, den Gott der Palästra mit seinem mächtigen Gliederbau, den rastlosen Diener des Zeus in anmutiger Muße darzustellen, ist schon der Übergang in das Genre, ohne daß die göttliche Würde btelnttLchtigt wird. Auch die Formen erinnern an die alte Jett. In den breiten Schultern und dem derben Knochenbau erkennt man noch den älteren Stil der Plastik. Dagegen sind alle «eichen Teile mit unaussprechlicher Zartheit bargestellt, und den ganzen Körper umspielt ein Fluß der Linien, der saust auf, und uiederwogt wie die Oberfläche einer leicht vom Winde bewegten Wasserfläche. Die Stellung zeigt mehr Elastizität als stämmige Kraft, nnd gegen die weiche Ausbiegung der Hüsten bUbet die senkrecht herab, fallende Gewaubmasse einen höchst wirksamen Gegensatz. Es «ar ein Aeblingsmotiv des großen Meisters, der in der Faltenmafle zeigen konnte, wie er die schwierigsten Aufgaben der Marmortechnik spielend erledigte. Das aber ist es ja vor allem, was uns bei Bettachtung des Hermes so unaussprechlich ersteut, daß wir es nicht mit einer flauen Nachbllbung zu tun haben, sondern baß wir in den realistisch gearbeiteten Nebendinge» wie in dem idealen Hauptbilde ein Werk vor uns haben, wie es aus der Hand seines Meisters hervor, gegangen ist, in der vollen Frische des Originals, wie sie dem emsigsten Kopisten unerreichbar ist. Davon zeugt auch bas, was nn, vollendet geblieben ist, die Rückseite; da sehen wir noch die scharfen Anten, wo der Meißel des Bildhauers absetzte, «eil es bei dem iu einer Nische aufzustellenden Standblld unnötig «ar, dem Rücke» die letzte Vollendung der Oberfläche zu geben. Davon zeugt noch schöner das, was den Stempel der höchste« Vollendung ttägt, vor allem der Kopf. Denn bas, was in den früheren Entwicklungsstufen der hellenischen'Kunst bas Rebensäch, liche «ar, und das, was man bei -en Götterbildern am wenigsten auszuarbeiten sich gettaute, das wurde jetzt und gerade durch Praxis

XI1/6

teles die Hauptsache. So ist auch hier der Hermeskopf die Krone des Ganzen, der Zünglivgskopf voll markiger Kraft, das mllde Antlitz mit dem leise geösstreteu Munde, den tiefliegende», seeleuvollen Augen, der leicht gefurchten Sürn, die rechts und links dnrch starke Muskelpolster von den Schläfe» gesondert ist und den Blick beschattet. Da ist nirgends eine tote Fläche; da ist alles so voll Form und Leben, daß selbst der Kopf der Beaus von Milo leer dagegen erscheint. Die «eiche Anmut, welche die Wangen, die Lippen, das Kinn mit seinem Grübchen umspielt, wird geadelt durch den Charakter des männlichen Ernstes, der auf dem Antlitz ruht, und das in kurzen, dichten Büschen gleichsam ungestüm aufsprießende krause Haar ist das Keuuzeichen voller Raturkraft, wie sie in dem steilen Nacken sich ausspricht sowie in Brust und Schulter.

Es ist also nicht die tadellose Regelmäßigkeit männlicher Schön­ heit, welche uns an dies BUd fesselt, sondern die Fülle des Lebens, die Harmonie von Seele »ad Leib, der ethische Zug, welcher den Mar­ mor durchdringt. Ma» fleht dem Antlitz an, daß die Seele, die flch darin spiegelt, über das Medrige erhaben ist, «ngettübt durch Selbst­ sucht und flnnlich« Begehrlichkeit. Daher der Glanz eines stillen Friedens, der auf dem Bilde ruht, der Frieden und Freude ausströmt. Ernst Curtitts*)

Der Apoxyomenos des Lysippy Das Original dieser Statue hatte Agrippa vor den von ihm erbauten Thermen aufgestellt. Tiberius liebte fle so sehr, daß er sie in seinen Palast bringen ließ. Aber als der Kaiser im Theater erschien, murrte das Volk derartig, daß er sie an ihren alten Platz zurückstellen mußte. So empfand selbst die Menge, die doch in Rom Statue» genug hatte, daß hier ein Meisterwerk von allerhöch­ stem Range vor aller Augen stand. Wir besitzen es in einer Rach*) Geboren 1814 in Lübeck, 1844—1850 Erzieher des nachmaligen Kaisers Friedrich, seit 1868 Professor der Geschichte und Archäologie an der Universität in Berlin; als solcher war er der geistige Urheber der deutschen Ausgrabungen in Olympia. Gestorben 1896 in Berlin. — Aus Altertum und Gegenwart 11, Berlin, Wilhelm Hertz 1886, 6.166 ff. 2) Fast 2 m große frührömische Marmorkopie nach einem Bronze­ original. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts in einem antiken Privathaus in Rom gefunden, jetzt im Braccio Nuovo des Vatikanischen Museums.

Apoxyomenos des Lysipp

bildung, die in jeder Hinsicht vortrefflich ist nnd bei der uns auch das Glück einer fast unversehrten Erhaltung zuteil wird. Worin liegt der Zauber dieser Gestalt? Die letzte» Elemente der künstlerischen Vollkommenheit, geheimnisvoll am lichten Tag, entziehen sich dem grübelnden Verstand und das Wort ist wie ein plumpes Tasten an dem, was nur vumittelbar gefühlt «erden kann. Dennoch lehrt nns Vergleich nnd Beschreibung wenigstens schärfer sehen. Alles Schwere, Unausgeglichene ... ist geschwunden. Die Gestalt ruht auf dem linke» Bein, aber es ist kein festes, unverrück­ bares Ruhen. Denn das Spielbein, «eit zur Seite gesetzt, ist seiner­ seits mit Spannkraft erfüllt und es bedarf nur eines leisen Druckes im Fußgelenk, eines leichten Straffens im Knie, um den KSrper zur Linken, oder eines kleinen Nachlaffens, um ihn zur Rechten zu drehen. Das ist das Nene. Man hat es sehr glücklich das lablle Gleichgewicht genannt. Der Gegensatz ist das stabile Gleichgewicht der polykletischen Gestalt, in der es eines starken Willensantriebs, einer Arbeit aller Körperteile bedürfte, um auch nur die kleinste Verschiebung hervorzurufen. Hier jedoch würde, wie der Windhauch über den Wasserspiegel läuft, das leiseste Zucken eines Willensnervs im Augenbllck den ganzen Körper durchzittern. In der polykletischen Gestalt fühlen wir die Bewegung eingeschloffen, gewiffermaßen hinter feste Dämme, die zu durchbrechen Arbeit kostet; hier ist sie so lose und in Bereitschaft, als bedürfe es nur eines Hauches, um deu Stein tnS Gleiten zu briugen. Oder es ist wie ein bis über den Rand gefülltes Gefäß, in dem bas aufgewölbte Wasser nur noch durch eigene Kohäsion am überfließen verhindert wird. So ist das Problem, das mit der Entdeckung des Spielbeines zu Anfang des 5. Jahrhunderts zuerst auftauchte, uach anderthalb Jahrhuuderteu durch maucherlei Stufen und mit rastloser Arbeit zu einer schlecht­ weg vollkommenen Lösung gebracht: am stehenden KSrper ohne eine tatsächliche Handlang das äußerste Maß von lebendiger Dewegnng zu Gefühl zu bringen. Die Einzelformen verstärken den Eindruck. Wenn bei Polyklet alle anfbauenden Teile des Rumpfes in eine scharf umschriebene Vorderansicht gedrängt waren, au deren Rändern keine Fläche, keine Linie nach rückwärts leitet, so ist hier daS Gegenteil der Fall. Alle Formen des Körpers sind rund. Die Beine sind wie Walzen, der Rumpf wölbt sich tu der Mittellinie nach vorn und seine Flächen führen in wohliger Rundung den Blick nach rückwärts. Folgt man dieser „Tiefenanregung" des Auges und wechselt körperlich den

Staadpunk, so entdeckt man abermals eia Neues. Diese Statue ist nicht wie alles Ältere auf die eine Ansicht nach vorne gedacht, sie hat mehrere uahetu gleich vollkommene Ansichten von halb, rechts «ad halblinks und man wird sie schließlich »mwandela, um an jeder Stelle das köstliche Spiel der Umrisse t« genießen. Weder bei Polyklet noch bei Praxiteles kann man dies wagen, dort spricht die eine Vorderansicht alles aus. So wird Lyflpp der Schöpfer eines plastische« Gedankens, der in der Antike auch später vereinzelt bleibt und selbst in der neueren Kunst nicht dnrchweg und keineswegs immer mit Glück verkörpert wird, das ist die Mehr, «ab Allaaflchtig, kett der Statue. Sine letzte Kühnheit bleibt noch zu besprechen. Die Erzielung der „Reliefwirkuag" im ruadplastische» Werk, die die Gruudlage aller vorlyflppischea Kunst ist, beruht auf einer wesentlich durch den Werkvorgang am Marmor veranlaßten Gesetzmäßigkeit. Alle Teile der Gestalt sind hinter einer vorderen Fläche, nämlich der ursprünglichen Oberfläche des Steinblocks anzuordnen, vor die nichts heraustreten darf. Lysipp, -er Droazeküastler, der die Statnea aus Ton aufbaut, durchbricht die Traditio» mit dem Arme des Apoxyomeaos, der um seine ganze Länge vor die Hauptvorderfläche hervorragt. ... Wie fein vermittelt beim Apoxyomeaos der linke Arm die Verbindung mit dem Rumpf. Auch diese Kühnheit hat in der Antike nur wenig Nachfolge gefunden. Lyflpp hat wie Polyklet den Ruf eines großen Lehrers gehabt, er ist der zweite große Meister der argivisch,flkyoaischea Schule, und so nimmt es nicht Wunder, daß er auch theoretisch die Grund, läge aller Btldhauerkunst, die Proportiouslehre, ne« begründet hat. Der Geschmack hat sich geändert. Der wuchtige Ernst des großen politischen Zeitalters ist verdrängt durch eine leichtere, genußsüch, tigere Auffassung des Lebens, und wie in der Architektur die Säulen dünner und höher, in der Keramik die Gefäßformen schlanker und zierlicher werden, so ist auch das Ideal des Körpers eia anderes. Nicht die massive Kraft polykletischer Schenkel, nicht seine „vier, schrötigen" Leiber — „quadrata“ nennt sie ein schriftstellernder Schüler Lyflpps, Xeaokrates — gelten mehr als die wahre Schön, heit, sondern der gestreckte, schlanke, bewegliche Körper... Die Deine sind lang, die Arme weniger muskulös, der Rumpf kurz, schmächtig, der Kopf klein, alle Forme» nicht mehr rechteckig und flächig, sondern rund und voller Modellierung. Für die hellenistische Zett ist dieser neue Kanon der herrschende.

In einem Punkte aber ist Lysipp ganz anders wie Polyklet, obwohl sie beide große Lehrer waren. Bei Polyklet empfinden wir in jeder Form die Arbeit des Gedankens, bei Lystpp find wir in unmittelbarer Nähe der Natur. Eine Anekdote berichtet, daß Lyfipp als junger Gießergesell dem berühmten Maler Eupomp auf die Frage, welchen Lehrer er sich wählen wolle, kecklich geant­ wortet habe: die Natur. Wenn die moderne Kritik das Geschichtchen auch als die Erfindung eines späteren Kunsthistorikers nachweisen zu tonnen meint, so ist es jedenfalls so wahr wie nur je eine erfun­ dene Geschichte. Denn jo gewiß der Aufbau des Apoxyomenos das Ergebnis der heißesten künstlerischen Gedankenarbeit ist, ein Werk, das nut einem ganz reifen Meister nach langer Vorübung gelingen konnte, so wenig fühlen wir etwas von dieser Arbeit. Alles ist mit Natur erfüllt, mit feinster lebendiger Schwellung der Muskeln, mit elastisch durchflchtiger Spannung der Haut, mit einer Fülle unmittelbar gefühlter Einzelform in der Oberfläche. Heinrich Bullet

Das Mädchen von 9fatium2) In einer stürmischen Dezembernacht des Jahres 1879 riß das tosende Meer an der Küste von Antium ein Uferstück los, das vom Schutt einer zerfallenen römischen Kaiservilla etwa neronischer Zeit gebildet «ar. Eine große „Netziverk"mauer ttat zutage, die einst mit Stuck verkleidet und von Nischen unterbrochen war; in einer solchen Nische stand auf einem Backsteinpostament eine jener überaus kostbaren griechischen Originalstatuen, auf die der Spaten der Aus­ gräber so selten stößt. Es war, als habe der Boden in großmütiger Spenderlaune dem Bemühen der Forscher entgegenkommen wollen; aber er machte es ihnen nicht zn dank. Der Fnnd wurde als „mittel­ mäßiges Werk des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts von ledig­ lich lokaler Bedeutung" gebucht und blieb 20 Jahre unbeachtet... Durch eine Reihe wissenschaftlicher Bearbeitungen und das leb­ hafte Bemühen ausländischer Käufer wurde der italienische Staat auf den Wert der Figur aufmerksam; es gelang ihm, den Schatz *) Siehe T. 22 Anm. 1. „Der schöne Mensch im Altertum", 2. Auf­ lage, München und Leipzig, Georg tzirth 1912, Spalte iiyff. 2) Lebensgroße Marmorstatue im Thermeumuseum zu Rom. 1909 durch den italienischen Staat von dem Fürsten Chigi für den damals un­ erhört hohen Preis von 450000 Lire erworben.

Mädchen von AnLium

für eine halbe Million Are zu bergen. Der Ankauf vollzog sich nicht ohne lebhaften Widersprach: viele fanden das Werk eines solchen Opstrs nicht würdig. Und zwar waren es nicht bloß Laten, die aller­ hand an der Statue zu bemängeln hatten: in Fachkreise« fand die Behauptung Anklang, der GewaadteU sei eine stümperhafte, mißverstandene Kopie römischer Zeit, mit dem ein Bruchstück der Origtualstatue, bestehend ans Kopf und rechter Schulter, von mittel­ mäßiger Arbeit, zn einer wenig überzeugenden Anhett verbunden worden sei ... Der Meister dieser Statue war frei von jener Konvention, die das Kenazeichen zweitklassiger Größen ist, und sein Werk bebeuttt, wiewohl auf den künstlerischen Errungenschaften des 4. Jahrhunderts fußend, eine neue und originelle Lösung des Themas der stehenden weiblichen Gewandfigur, ähnlich wie der Apoxyomenos eine neue Epoche in der Darstellnng des stehenden nackten Jünglings ein­ geleitet hat. Der lockere Staad mit dem weit nach außen gesetzten rechten Bein, die Sttlluag des Oberkörpers znm Unterkörper, die Neigung «ad Wendung des Kopfes zeigen einen neuen, der vorlyflppischea Zeit fremden Rhythmus. Leider läßt sich die Haltung des rechten Armes nicht mehr mit Sicherheit ausmachea. Auf dem linken Unterarm ruhen die Reste eines flachen Tellers mit einer zusammeagerollten Binde und den Fragmenten eines Kästchens und eines Kranzes. Der rechte Arm muß über die Brust gegriffen haben, die Hand wird etwas gehoben uud mit einem der Gegen­ stände auf der Platte beschäftigt gewesen sein. Das Motiv des Armes, der demnach im spitzen Winkel gebogen war, erinnert an die „Kleine Herculaueaserta" und die „Polyhymnia" der vati­ kanischen Musengruppe. Durchaus unkonventionell ist auch das Gewand des Mädchens, in seinem äußern Habitus sowohl als tu seinen plastische« Funk­ tionen. Die Freude an der Wiedergabe des Stofflichen, die in der zweite» Hälfte des 4. Jahrhunderts in die griechische Plastik ein­ zieht, hat hier uneingeschränkt gewaltet. Eia dickerer, gröberer Überwurf liegt über einem feinen, brüchigen Lhiton, dessen Materie man förmlich in den Fingerspitzen fühlt. Es gibt vielleicht nur »och ein Werk mit derselben Stärke stofflicher Reize, die ungefähr gleich­ zeitige Nike von Samothrake. Auch der Reichtum an Gewand­ motiven ist für die Zeit charakteristisch. Manche von ihnen kehren an einer Reihe hellenistischer Statuen wieder, wie der Chitonsaum, die ganz hohe Gürtuag, der quer über den Leib ziehende Mantel-

wulst, die reiche Falteumasse zwischen den stark divergiereubeo Gewandpartiea der Leine. Aber während diese Partien an anderen Statuen oft schematisch und konventionell wiedergegeben find, wirken sie hier wie frisch erftmdeu und es treten noch reizend« individuelle Motive Hinz«, wie die Drapierung des Überwurfs,

die Schürznng des Chitons nnd die dadnrch hervorgerufene blbßung des linken Fußes mit dem reizvollen untern Sewandsanm, der links oben die Entblößung der Schulter durch das Herabgleiten des Chitons entspricht. Der ganze Reichtum an Cinzelmottven wirkt zwar lebhaft, aber nicht zerrissen; ihn bändigt die ««beschreib, lich schöne und großzügige Umrtßltnie, die in wundervoller Kurve vom rechten Fuß bis zum Haarkuoten über der Stirn hinanfzteht; ihn regiert nnd gliedert baS gemeinsame Ziel, nach dem die meisten Faltenzüge streben, wo die Hände agieren und wohin sich auch der gespannte Blick des Mädchens selber wendet. Daß dieser Punft — wenigstens in der einzig möglichen Ansicht der Statue, in der der Kopf im Profil erscheint — sich außerhalb der Figur befindet, hat zn dem Gedanken Anlaß gegeben, bas Mädchen sei ursprünglich mit einer zweiten Figur zu einer Gruppe verbunden gewesen, oder es sei wenigstens ein Altar, ein Pftiler oder dergleichen rechts neben der Statue zu ergänzen. Aber dieser Gegensatz der beiden Konture wird wohl in der Absicht des Künstlers begründet sein, zu dessen eigen­ artigem Temperament er vorttefflich paßt. Der Kopf ist fast porträthast individuell. Schon die Haar­ tracht steht vereinzelt: das Haar, hinten länger gewachsen als vorn, ist ganz ans dem Nacken nach dem Dorderkopf gestrichen, wo es nach, lässig geknotet ist; offenbar dem schönen Umriß zulieb, der von der rechten Seite der Fjgur über Schulter, Nacken und Schädel ohne Unterbrechung sich hinzieht. Die Struktur der Strähnen, ihre Wider­ spenstigkeit gegen die Knotung find vortrefflich «tedergegeben. Reizvoll sind die herben Formen des Gesichtes, das energische Kinn, der kräftige Dau des Schädels. Auch der Kopf zeugt, wie der Körper, von neuem, selbständigem Naturstudium des eigenartigen Meisters. Diesen zu benennen war bisher nicht möglich, nicht einmal sein Kreis kann mit einiger Sicherheit bestimmt werden; am ehesten wird er unter den Nachfolgern des iyflpp zu suchen sein. Aber dies ist sicher, daß er einer der bedeutendsten Köpfe jener eminent schöpfe, rischen hellenistischen Epoche war, die man immer noch nicht aufge­ hört hat, als „Verfallszeit" der „reifen Blütezeit vor Alexander" gegenüberzustellen, ein typisch klassizistischer, kunstfeindlicher Irrtum, 89

dem vielleicht nichts so sehr widerspricht als die kraftvolle Schönheit des Mädchens von Antinm. Ernst Duschor**)

Saofooit2) Es ist ein großer Vorteil für ein Kunstwerk, wenn es selbständig, wenn es geschloffen ist. Ein ruhiger Gegenstand zeigt sich bloß in seinem Dasein; er ist also durch und in sich selbst geschlossen. Ein Juppiter mit einem Donnerkeile im Schoße, eine Juno, die auf ihrer Majestät und Frauenwürde ruht, eine in sich versenkte Minerva sind Gegenstände, die gleichsam nach außen keine Beziehung haben, sie ruhen auf und in sich und sind die ersten, liebsten Gegen­ stände der Bildhauerkunst. Aber in dem herrlichen Zirkel des mythi­ sche« Kunstkreises, in welchem die einzelne« selbständige« Naturen stehe« und ruhe«, gibt es kleinere Zirkel, wo die einzelnen Gestüten in Bezug auf andere gedacht und gearbeitet find. Zum Beispiel die neu« Musen mit ihrem Führer Apoll; jede ist für stch gedacht und ausgeführt, aber in dem ganzen, mannigfaltigen Chore wird sie noch interessanter. Geht die Kunst zum leidenschaftlich Bedeutenden über, so kann fle wieder auf dieselbe Weise handeln; sie stellt «ns entweder einen Kreis von Gestalten dar, die untereinander einen leidenschaftlichen Bezug haben, wie Niobe mit ihren Kindern, verfolgt von Apoll und Diana, oder fle zeigt uns in einem Werke die Bewegung zugleich mit ihrer Ursache. Wir gedenken hier nur des anmutigen Knaben, der stch den Dorn aus dem Fuße zieht, der Ringer, zweier Gruppen von Faunen und Nymphe« in Dresden und der bewegten, herrlichen Gruppe des Laokoou. Die Bildhauerkunst wird mit Recht so hoch gehalten, «eil sie die Darstellung auf ihren höchste« Gipfel bringen kann und muß, weil sie de« Menschen von allem, was ihm nicht wesentlich ist, ent­ blößt. So ist auch bei dieser Gruppe Laokooa ein bloßer Name; von seiner Priesterschast, von seinem trojanisch-nationale», von *) Direktor des Deutschen Archäologischen Institut- in Athen. Er­ läuternde Texte zu Druckmanns Wandbildern alter Plastik, München 1911, Druckmann, ®. 49 ff. *) Marmorgruppe im Vatikan zu Rom, lebensgroß. Schon zu Be­ ginn des 16. Jahrhunderts in den Lituslhermen in Rom gefunden. Ein Werk der Bildhauer Agesandros, Athanodoros und Polydoros von Rhodos um die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr.

Laokoon

allem poetischen und mythologischen Deiwesen haben ihn die Künstler entkleidet; er ist nichts von allem, woz» ihn die Fabel macht; es ist ein Vater mit zwei Söhnen, in Gefahr, zwei gefährlichen Tieren z« unterliegen. So stad auch hier keine göttergesaubteu, sondern bloß natürliche Schlangen mächtig genug, einige Menschen zu überwältigen, aber keineswegs, weder in ihrer Gestalt noch Handlung, anßerordentliche, rächende, strafende Wesen. Ihrer Natur gemäß schleichen sie heran, umschlingen, schnüren zusammen, und die eine beißt erst gereizt* Sollte ich diese Gruppe, wenn mir keine weitere Deutung bekannt wäre, erklären, so würbe ich fle eine ttagische Idylle nennen. Ein Vater schlief neben seinen beiden Söhnen, fle wnrdeu von Schlangen umwuuben und streben nun, erwachend, flch aus dem lebendigen Netze loszureißen. Äußerst wichtig ist dieses Kunstwerk durch die Darstellung des

Moments. Wenn ein Werk der bildenden Kunst flch wirklich vor dem Auge bewegen soll, so muß ein vorübergehender Moment gewählt sein; kurz vorher darf kein Teil des Ganzen flch in dieser Lage befunden haben; kurz nachher muß jeder Teil genötigt sein, diese Lage zu verlassen; dadurch wird das Werk Millionen Anschauern immer wieder neu lebendig fei«1). Um die Intention des iaokoon recht zu fassen, stelle man sich in gehöriger Entfernung mit geschlossenen Augen davor; man öffne fle und schließe fle zugleich wieder, so wird man den ganzen Marmor in Bewegung sehen, man wird fürchten, indem man die Angen wieder öffnet, die ganze Gruppe verändert z« finden. Ich möchte sagen, wie fle jetzt dasteht, ist fle ein fixierter Blitz, eine Welle, versteinert im Augenblicke, da fle gegen das Ufer anströmt. Dieselbe Wirkung entsteht, wenn man die Grnppe nachts bei der Fackel fleht. Der Zustand der drei Figuren ist mit der höchsten Weisheit stufenweise dargestellt. Der älteste Sohn ist nur au den Extremitäten verstrickt, der zweite öfters umwunden, besonders ist ihm die Brust zusammengeschnürt; durch die Bewegung des rechten Armes sucht er flch Luft zu machen, mit der Anken drängt er sanft den Kopf der Schlange zurück, um fle abzuhalten, daß fle nicht noch einen Ning «m die Brust ziehe; fle ist im Begriffe, unter der Hand «egzuschlüpfea, keineswegs aber beißt fle. Der Vater hingegen will flch und die *) Vgl. Lessings berühmte Schrift über den Laokoon. Bei der Lektüre des vorliegenden Goetheschen Aufsatzes halte man sich gegenwärtig, daß daS 18. Jahrhundert im Vergleich zu unserer Zeit sehr arm an klassischen Bildwerken war (flehe S. 66 Anm. z).

Kinder von diesen Umstrickungen mit Gewalt befreie», er preßt die andere Schlange, «ad diese, geteilt, beißt ihn in die Hüfte. Um die Stellung des Daters sowohl im ganzen als nach allen Tellen deS Körpers zu erklären, scheint es mir am vorteilhafte, sten, das augenblickliche Gefühl der Wunde als die Hauptursache der ganzen Bewegung anzugebea. Die Schlange hat nicht gebissen, sondern sie beißt, und zwar in den «eichen Teil des Körpers, über und etwas hinter der Hüfte. Die Stellung des restaurierten Kopfes der Schlange hat den eigentlichen Biß nie recht angegeben, glück, licherweise haben sich noch die Reste der beiden Kinnladen an dem Hintern Teile der Statue erhalten. Die Schlange bringt dem u«, glücklichen Manne eine Wunde an dem Teile bei, wo der Mensch gegen jeden Reiz sehr empfindlich ist, wo sogar ein geringer Kitzel jene Bewegung hervorbringt, welche wir hier durch die Wunde bewirkt sehen: der Körper flieht auf die entgegengesetzte Seite, der Leib zieht stch ein, die Schulter drängt sich herunter, die Brust tritt hervor, der Kopf senkt sich nach der berührten Seite; da sich nun «och in den Füßen, die gefesselt, und in den Armen, die ringend sind, der Überrest der vorhergehenden Situation oder Handlung zeigt, so entsteht eine Zusammenwirkung von Stteben und Fliehen, von Wirken und Leiden, von Anstrengen und Rachgeben, die viel, leicht unter keiner andern Bedingung möglich wäre. Man verliert sich in Erstaune« über die Weisheit der Künstler, wenn man ver, sucht, den Biß an einer anderen Stelle anzubriugen; die ganze Gebärde würde verändert sein und auf keine Weise ist sie schicklicher denklich. ES ist also dieses ein Hauptsatz: der Künstler hat uns eine sinnliche Wirkung dargestellt, er zeigt uns auch die sinnliche Ursache. Der Punkt des Bisses, ich wiederhole es, bestimmt die gegeuwärttge« Bewegungen der Glieder; das Fliehen des Unterkörpers, das Ein, ziehen des Leibes, das Hervorstreben der Brust, das Niederzucken der Achsel und des Hauptes, ja alle die Züge des Angesichts fth' ich durch diesen augenblicklichen, schmerzlichen, unerwartetea Reiz entschieden. Fern aber sei es von mir, daß ich die Einheit der menschlichen Natur trennen, daß ich den geistigen Kräften dieses herrlich gebil, beten Mannes ihr Mitwirken ableugnen, daß ich das Stteben und Leiden einer großen Natur verkennen solltt. Angst, Furcht, Schrecken, väterliche Neigung scheinen auch mir stch durch diese Adern zu bewegen, in dieser Brust aufzusteigen, auf dieser Stirn sich zu furchen. Ger« gesteh' ich, daß mit dem sinnlichen auch das geistige Leiden auf der

höchsten Stufe dargestellt sei; nur trage man die Wirkung, die das Kunstwerk auf «ns macht, nicht zu lebhaft auf das Wirk selbst über; besonders sehe man keine Wirkung des Gifts bei einem Körper, den erst im Augenblicke die Zähne der Schlange ergreifen; man sehe keinen Todeskampf bei einem herrlichen, strebenden, gesunden, kaum verwundeten Körper. Hier sei mir eine Bemerkung erlaubt, die für die bildende Kunst von Wichtigkeit ist; der höchste pathetische Ausdruck, den sie darstellen kann, schwebt auf dem Übergänge eines Zustandes in den andern. Man sehe ein lebhaftes

Kind, das mit aller Energie und Lust des Lebens rennt, springt und sich ergötzt, dann aber etwa unverhofft von einem Gespielen hart getroffen oder sonst physisch oder moralisch heftig verletzt wird; diese neue Empfindung teilt fich wie ein elektrischer Schlag allen Gliedern mit, und ein solcher Übersprung ist im höchsten Sinne pathetisch, es ist ein Gegensatz, von dem man ohne Erfahrnag keinen Begriff hat. Hier wirft nun offenbar der geistige sowohl als der phyflsche Mensch. Bleibt alsdann bei'einem solchen Über­ gange noch die deutliche Spur vom vorhergehenden Zustande, so entsteht der herrlichste Gegenstand für die bildende Kunst, wie beim Laokoon der Fall ist, wo Streben und Leiden in einem Augenblicke vereinigt find. So würde z. D. Eurydike, die im Moment, da sie mit gesammelten Blumen fröhlich über die Wiese geht, von einer getretenen Schlange in die Ferse gebissen wird, eine sehr pathetische Statue machen, wenn nicht allein durch die herabfallenden Blumen, sondern durch die Richtung aller Glieder und das Schwanken der Falten der doppelte Zustand des ftöhlichen Dorschreitens und des schmerzlichen Anhaltens ausgedrückt werden könnte. Wenn wir nun die Hauptfigur in diesem Sinne gefaßt haben, so können wir auf die Verhältnisse, Abstufungen und Gegensätze sämtlicher Teile des ganzen Werkes mit einem freien und ficheren Blicke Hinsehen. Der gewählte Gegenstand ist einer der glücklichsten, die fich denken lassen, Menschen mit gefährlichen Tieren im Kampfe, und zwar mit Tieren, die nicht als Massen der Gewalten, sondern als ausgeteilte Kräfte wirken, nicht von einer Seite drohen, nicht einen zusammengefaßten Widerstand fordern, sondern die nach ihrer ausgedehnten Organisation fähig sind, drei Menschen mehr oder weniger ohne Verletzung zu paralysieren. Durch dieses Mittel der Lähmung wird bei der großen Bewegung über das Ganze schon eine gewisse Ruhe und Einheit verbreitet. Die Wirkungen der Schlangen

sind stufenweise angegeben. Die eine umschlingt nur; die andere wird gereizt und verletzt ihren Gegner. Die drei Menschen sind gleichfalls äußerst «eise gewählt. Ein starker, wohlgebauter Mann, aber schon über die Jahre der größten Energie hinaus, weniger fähig, Schmerz «ad Leiden zu widerstehen. Maa denke sich an seiner Statt einen rüstigen Jüngling und die Gruppe wird ihren ganzen Wert verlieren. Mit ihm leiden zwei Knaben, die, selbst dem Maße «ach, gegen ihn klein gehalten stad, abermals zwei Naturen empfäng­ lich für Schmerz. Der jüngere strebt unmächtig; er ist geängstigt, aber nicht ver­ letzt; der Vater strebt mächtig, aber unwirksam; vielmehr bringt sein Gttebea die entgegengesetzte Wirkung hervor. Er reizt seinen Gegner und wird verwundet. Der älteste Sohn ist am leichtesten verstrickt; er fühlt weder Beklemmung noch Schmerz; er erschrickt über die augenblickliche Verwundung und Bewegung seines Vaters, er schrett auf, tudem er das Schlaugeueude von dem einen Fuße abzustretfe» sucht; hier ist also noch ein Beobachter, Zeuge und Teilnehmer bei der Tat und das Werk ist abgeschlossen. Johann Wolfgang von Goethes

') Goethes Sämtlich« Werke, Band 30, S. 308 ff., Stuttgart und Tübingen, Cotta, 1857.