Zulässigkeit und Grenzen der Urteilsschelte [1 ed.] 9783428491520, 9783428091522

Urteilsschelte ist zum Politikum geworden. Wochenlang stand das Bundesverfassungsgericht im Kreuzfeuer der Kritik, nachd

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German Pages 323 Year 1997

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Zulässigkeit und Grenzen der Urteilsschelte [1 ed.]
 9783428491520, 9783428091522

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ROBIN MISHRA

Zulässigkeit und Grenzen der Urteilsschelte

MÜDsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft Herausgegeben im Auftrag der Recbtswissenscbaftlicben Fakultät der Westf'äliscben Wilhelms-Universität in Münster durch die Professoren Dr. Hans-Uwe Ericbsen Dr. Helmut Kollhosser Dr. Jürgen Welp

Band 111

Zulässigkeit und Grenzen der Urteilsschelte

Von

Robin Mishra

Duncker & Humblot • Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Mishra, Robin:

Zulässigkeit und Grenzen der Urteils schelte / von Robin Mishra. Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft; Bd. 111) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09152-3

D6 Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany

© 1997 Duncker &

ISSN 0935-5383 ISBN 3-428-09152-3 Gedruckt auf altcrungsbcständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Meinen Eltern

Vorwort Diese Arbeit wurde im Wintersemester 1996/97 von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur sind bis September 1996 berücksichtigt. Herzlich danke ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Bodo Pieroth, der das Thema der Untersuchung angeregt und ihren Fortgang sehr interessiert und engagiert verfolgt hat. Herrn Priv.-Doz. Dr. Bemd Holznagel LL.M. danke ich für die zügige Zweitkorrektur. Dr. Heribert Prantl hat mir den Zugang zum Archiv der Süddeutschen Zeitung ermöglicht. Der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Rainer Voss, und der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Emst-Gottfried Mahrenholz, haben sich viel Zeit ±Ur Hintergrundgespräche genommen. Dem Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses in München verdanke ich eine studienbegleitende Joumalistenausbildung. In sprachlichen Dingen habe ich mich ein um das andere Mal davon leiten lassen. Viele Freundinnen und Freunde haben mich auf einschlägige Zeitungsartikel hingewiesen, mir geduldig zugehört, mit mir diskutiert. Mit ihrem Interesse haben sie meine Begeisterung für das Thema wachgehalten. Besonders wichtige Anregungen verdanke ich Detlef Müther, Dr. Jörg W. Rademacher, Friederike Sittler und Daniel Weidelhofer. Volker Zekl hat mir sehr geholfen, die Druckvorlage fertigzustellen. Berlin, im Juni 1997

Robin Mishra

Inhaltsverzeichnis Einleitung

23

Erster Teil

Fallbeispiele zur UrteilsscheIte aus der bundesdeutschen Rechtsgeschichte

27

A. Das Fernsehurteil von 1961 (BVerfGE 12, 205) ...................................................

28

I. Das Urtei1... ............... ............ ...... .... ................ ...................... ..... ..... ..... ...........

28

1. Sachverhalt.... ........ .......... .......................... ........... ......... ............ ..................

28

2. Prozeßgeschichte und Entscheidungsgriinde...............................................

29

11. Die Urteilsschelte............................................................................................

31

1. Urteilsschelte durch Private........................................................................

31

2. Amtliche Urteilsschelte .............................................................. ........ .........

31

111. Das Nachspiel............................................. .....................................................

32

1. Die Haushaltsdebatte im Bundestag............................................................

32

2. Die Presserezeption.....................................................................................

33

3. Presseerklärung des BVerfG .......................................................................

33

IV. Fazit................................................................................................................

34

B. Das § 218-Urteil von 1975 (BVerfGE 39, 1).........................................................

35

I. Das Urtei1........................................................................................................

35

1. Sachverhalt..................................................................................................

35

2. Prozeßgeschichte und Entscheidungsgriinde...............................................

35

11. Die Urteilsschelte............................................................................................

35

1. Urteilsschelte durch Private ........................................................................

36

2. Amtliche Urteilsschelte ............................. ..................................................

37

10

Inhaltsverzeichnis III. Das Nachspiel.................................................................................................

38

1. Ablehn\U1g der Vorabkritik durch Politiker, Richter \U1d Medien...............

38

2. Intervention des Verfass\U1gsgerichtspräsidenten beim Deutschen Presserat................................................................................................................ 40 IV. Fazit................................................................................................................

40

c. Das Frankfurter Behindertenurteil von 1980 (LG Frankfurt, NJW 1980, S.1169) .................................................................................................................

41

1. Das Urteil........................................................................................................

41

1. Sachverhalt..................................................................................................

41

2. Prozeßgeschichte \U1d Entscheid\U1gsgründe...............................................

41

11. Die Urteilsschelte............................................................................................

42

1. Urteilsschelte durch Private ........................................................................

42

2. Amtliche Urteilsschelte ...............................................................................

43

III. Das Nachspiel.................................................................................................

45

1. HintergrWldgespräch \U1d Pressekonferenz des Landgerichts... ......... .........

45

2. Juristische Schritte gegen die Urteilsschelte .................. .... .......... ...............

46

IV. Fazit................................................................................................................

46

D. Das Soldatenurteil von 1989 (LG Frankfurt, StV 1990, S. 73) .............................

47

1. Das Urteil........................................................................................................

47

1. Sachverhalt....... ................................................................. ..........................

47

2. Prozeßgeschichte.........................................................................................

49

3. Entscheid\U1gsgründe ..................................................................................

50

a) Zur Volksverhetz\U1g gemäß § 130 StGB ...............................................

50

b) Zur BeleidigWlg, §§ 185, 193 StGB .......................................................

50

11. Die Urteilsschelte. ...... ......................... .................. .......... .................. ... ...........

51

1. Urteilsschelte durch Private ........................................................................

51

2. Amtliche Urteilsschelte .............. .......... .............. ...... ...................................

52

III. Das Nachspiel.................................................................................................

54

1. Reaktionen aus der Richterschaft ................................................................

55

2. Nachdenken über die Urteilsschelte in den Medien....................................

56

3. Reaktionen aus der Politik ..........................................................................

58

Inhaltsverzeichnis

11

4. Das "Soldatenurteil V..................................................................................

58

5. Der Soldaten-Beschluß des BVerfU von 1994............................................

59

6. Das Soldatenurteil des BVerfU von 1995 ...................................................

59

IV. Fazit................................................................................................................

60

E. Das Mannheimer Urteil von 1994 (LG Mannheim, NJW 1994, S. 2494) .............

61

I. Das Urteil.. ...... ............ .......... ....... ........... ...................... ..... ........ ................ .....

61

1. Sachverhalt........ ...... ........ ......... ......... .................. ...... ........... ..... ............. .....

61

2. Prozeßgeschichte.........................................................................................

62

3. Entscheidungsgrilnde ..................................................................................

63

a) Würdigung des Sachverhalts und strafrechtliche Bewertung..................

63

b) Die umstrittene Begründung der Strafaussetzung zur Bewährung..........

64

11. Die Urteilsschelte............................................................................................

66

1. Urteilsschelte durch Private .... ....... ...................... ... ........ ................ ............

66

a) Die Kritik am Urteil selbst......................................................................

66

b) Die Richterschelte.. .... ......... ........ ............................................................

68

2. Alntliche Urteilsschelte ...............................................................................

69

3. Urteilsschelte von Richtervertretern............................................................

70

ill. Das Nachspiel.................................................................................................

70

1. Die Verschiebung des zweiten Deckert-Prozesses......................................

71

2. Die "dauernde krankheitsbedingte Verhinderung" der Richter Müller und Orlet ............................................................................................................ 71 3. Der Kampffiir die richterliche Unabhängigkeit..........................................

72

a) Äußerungen aus der Richterschaft ..........................................................

72

b) Rückendeckung von den Medien............................................................

73

4. Die Aufhebung des Mannheimer Urteils durch den BGH...........................

74

5. Reaktionen auf den Dienstantritt des Richters Orlet ...................................

75

a) Mahnwache und Forderung nach Geschäftsneuverteilung .....................

76

b) Der Mannheimer Schöffenstreik.............................................................

76

c) Nachdenken über eine Richteranklage gegen Orlet ................................

77

6. Die Versetzung Orlets in den Ruhestand ....................................................

78

IV. Fazit................................................................................................................

78

12

Inhaltsverzeichnis

F. Der Kruzifix-Beschluß von 1995 (BVerfG, EuGRZ 1995, S. 359ff.) ...................

79

I. Das Urteil. ............. ......... ........ ............................... ..........................................

79

1. Sachverhalt.................................................................................. ................

79

2. Prozeßgeschichte................................ .................... ............................ .........

79

3. Entscheidungsgründe ..................................................................................

80

Die Urteilsschelte............................................................................................

82

1. Urteilsschelte durch Private ........................................................................

82

2. Amtliche Urteilsschelte ...............................................................................

83

n.

In. Das Nachspiel................................................................................................. 86 1. Morddrohungen gegen die Kläger...............................................................

86

2. Die Verteidigung des BVerfG .....................................................................

86

3. Generaldebatte über die Rolle des BVerfG .................................................

88

4. Diskussion über die Öffentlichkeitsarbeit des BVerfG ...............................

89

IV. Fazit................................................................................................................

92

G. Ergebnis.................................................................................................................

92

Zweiter Teil

Private Urteilsschelte A. Die Einordnung von Äußerungen als staatliche oder private Kritik ......................

95 95

I. Personen, bei denen sowohl eine private als auch eine amtliche Äußerung in Betracht kOIl1Illt............................................................................................... 96

1. Akzessorietätslehre .....................................................................................

96

2. Personenbezogener Ansatz..........................................................................

96

Personen, die Funktionen in mehreren Staatsgewalten wahrnehmen..............

98

B. Zulässigkeit privater Urteilsschelte........................................................................

98

n.

I. Die Doppelfunktion des Art. 5 I GG in ihrer Bedeutung fiir die Zulässigkeit der Urteils schelte ............................................................................................ 99 1. Die subjektiv-rechtliche Dimension...... .............................. .............. .......... 100

a) Die Qualität der KOIl1Illunikation............................................................ 100 b) Die thematische Einbindung der KOIl1Illunikation: Zum Einwand des Erfordernisses einer Kritik-Kompetenz .................................................. 101

Inhaltsverzeichnis

13

2. Die objektiv-rechtliche Dimension: Die "öffentliche Meinung" als Bestandteil des Demokratieprinzips ................................................................ 102 a) Legitimation: Zum Einwand der Legitimation durch Verfahren ............. 103 b) Integration: Zum Einwand des Vertrauensschadens für die Rechtsprechung ................................................................................................ 104 c) Kontrolle ................................................................................................. 106 aa) Der Einwand der Besonderheit der Gerichtssphäre ........................... 108 (1) Urteilsschelte als Korrektiv gewachsener Richterrnacht.............. 108 (2) Öffentlichkeit und Transparenz des Staatshandelns .................... 109 (a) Die Gerichtsöffentlichkeit und das Demokratieprinzip .......... 110 (b) Die Begründungspflicht......................................................... 112 (c) Der Auskunftsanspruch nach den Landespressegesetzen ....... 113 (3) Zum Wesen der rechtsprechenden Gewalt.. ................................. 113 bb)Der Einwand, daß Richter nicht unmittelbar gewählt werden ........... 114 cc) Der ,,Druck der Straße"-Einwand...................................................... 114 dd)Der Ignoranzeinwand ........................................................................ 116 (1) Das einseitige Verständnis Feuerbachs.. ........................... ........... 117 (2) Die Barrieren der Rechtskommunikation .................................... 117 (3) Der Ignoranzeinwand und Art. 5 100 ........................................ 119 3. Ergebnis ...................................................................................................... 120 H. Die Abgrenzung der Schutzbereiche von Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit (Art. 5 I 1,200) ......................................................................... 121 1. Wortlaut und Entstehungsgeschichte .......................................................... 121 2. Systematik ................................................................................................... 121 3. Sinn und Zweck .......................................................................................... 122 C. Grenzen privater Urteilsschelte .............................................................................. 123

1. Die Schrankenregelung des Art. 5 H 00 ........................................................ 123 1. Die allgemeinen Gesetze................. .............. ........... ...... ............ ......... ........ 123 a) Gesetze.................................................................................................... 123 b) Allgemein ............... ................................................................................ 124 aa) Grammatische Auslegung ................................................................. 124 (1) Allgemeinheit im Sinne einer abstrakt-generellen Formulierung..................................................................................... 124 (2) Allgemeinheit im Sinne der Abwägungslehre ............................. 125

14

Inhaltsverzeichnis (3) Allgemeinheit im Sinne der Sonderrechtslehre ........................... 126 bb)Historische Auslegung ...................................................................... 127 (1) Der Begriff "allgemein" vor der Weimarer Republik .................. 127 (2) Die "Schranken der allgemeinen Gesetze" in Art. 118 I WRV ... 128 (3) Die Materialien zur Entstehung des Grundgesetzes ..................... 129 cc) Systematische Auslegung .................................................................. 130 (1) Die Rahmengesetzgebung des Bundes für das Pressewesen, Art. 75 Nr. 2 00 ................................................................................. 130 (2) Der Vergleich mit anderen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten ................................................................................................ 130 (3) Die Einfügung der Schranken des Jugend- und Ehrschutzes ....... 131 dd)Teleologische Auslegung .................................................................. 132 (1) Die Meinungsneutralität des einschränkenden Gesetzes ............. 132 (2) Die Zumutbarkeit extremer Meinungen....................................... 133 (3) Die schlechthin konstituierende Bedeutung der Meinungsfreiheit ............................................................................................... 135 (a) Abwägungslehre .................................................................... 135 (b) Sonderrechtslehre.. ................................................................. 136 (aa) Zum Inhalt der Sonderrechtslehre .................................. 136 (a) Das Gesetz darf sich nicht gegen geistige Zielrichtung und Wirkung einer Meinung richten ................ 136 (ß) Das Gesetz darf sich nicht gegen eine bestimmte

Meinung richten ....................................................... 136 (y) Das Gesetz darf sich nicht ausschließlich im Schutz-

bereich des Art. 5 I GG auswirken........................... 137 (bb) Die Sonderrechtslehre in der Rechtsprechung des BVerfG .......................................................................... 138 c) Ergebnis............... ..... ................................ ......... ............................ ......... 140 2. Das Recht der persönlichen Ehre ................................................................ 141 3. Kollidierendes Verfassungsrecht ................................................................. 142 a) Zur Einschränkbarkeit des Art. 5 I GG durch kollidierendes Verfassungsrecht ............................................................................................... 142 b) Richterliche Unabhängigkeit als kollidierendes Verfassungsrecht: Zur ,,Drittwirkung" des Art. 97 I 00 ............................................................ 143 4. Die Wechselwirkungstheorie ...................................................................... 145 a) Abstrakte oder konkrete Abwägung ........................................................ 146

Inhaltsverzeichnis

15

b) Die Vennutungsfonnel ........................................................................... 146 5. Ergebnis ...................................................................................................... 149 11. Schrankenkonkretisierende Vorschriften ........................................................ 149 1. Persönlicher Schutz des Richters vor Verächtlichmachung ........................ 149 a) Die Beleidigung, §§ 185, 193 StGB ....................................................... 150 aa)Tatbestanddes§185StGB ............................................................... 151 (1) Beleidigungsflihigkeit.................................................................. 151 (a) Die Kritik an der "Justiz" ....................................................... 151 (b) Die Ehre der Justiz als Schutzgut der Beleidigungsdelikte .... 152 (2) Kundgabe der Mißachtung oder Nichtachtung ............................ 153 (a) Absprechen des personalen, sittlichen oder sozialen Geltungswertes ............................................................................ 153 (aa) Personaler Geltungswert ................................................ 153 (bb) Sittlicher Geltungswert .................................................. 153 (cc) Sozialer Geltungswert .................................................... 155 (b) Ausstrahlungswirkung des Art. 5 I 1 GG auf die Deutung der Äußerung ......................................................................... 156 (3) Beleidigungsfreie Sphäre ............................................................. 157 bb)Die Wahrnehmung berechtigter Interessen, § 193 StGB ................... 158 (1) Urteilsschelte als "tadelnde Urteile über wissenschaftliche Leistungen" ....................................................................................... 158 (2) Berechtigte Interessen ................................................................... 159 (3) Wahrnehmung berechtigter Interessen ........................................ 159 (a) Die Gewichtung des öffentlichen Interesses .......................... 159 (b) Größere Freiheit bei der Kritik an Staatsorganen ................... 160 (c) Weitere Regeln im öffentlichen Meinungskampf................... 161 (d) Die Grenze der Schmähkritik ................................................. 162 b) Der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz ............................................... 163 aa) Deliktische Haftung nach §§ .823 I, 11 BGB ...................................... 163 bb)Quasinegatorischer Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch, § 1004 BGB ...................................................................................... 165 2. Der Schutz der richterlichen Unabhängigkeit und des Ansehens der dritten Gewalt................. ................................. ............................ ..... ........... ..... 165 a) Der Schutz der dritten Gewalt im angelsächsischen Rechtskreis............ 166 aa) Der "contempt of court" in Großbritannien....................................... 166

16

Inhaltsverzeichnis (1) Das Rechtsinstitut des contempt of court .......... ............... ...... ..... (a) Überblick über das Rechtsinstitut .......................................... (b) Der Tatbestand des "scandalising the court" .......................... (2) Zulässigkeit der Justizkritik ......................................................... (3) Grenzen der Justizkritik ............................................................... (a) Die sich aus den Präzedenzfällen ergebenden Grenzen ......... (aa) Form und Inhalt der Kritik............................................. (bb) Der Vorwurf der Voreingenommenheit und Parteilichkeit ........................................................................... (b) Der Tatbestand des "scandalising the court" auf dem Rückzug ......................................................................................... (aa) Kritik in Großbritannien ................................................

166 166 167 168 171 171 171 173 173 174

(bb) Das "Sunday Times"- Urteil des EGMR und sein Einfluß auf die Interpretation des contempt-Rechts ............ 175 (cc) Reaktionen der britischen Gesetzgebung und Rechtsprechung....................................................................... 176 (a) Der Contempt ofCourt Act 1981.. ........................... 176

(ß) Neuere Urteile zur Meinungsfreiheit... ..................... 176

bb)Der "contempt of court" in den USA ................................................ 178 (1) Zulässigkeit der Justizkritik ......................................................... 178 (a) Das historische Argument: Abgrenzungswille vom englischen Recht........................................... ............................... 179 (b) Philosophische Grundlagen des Rechts auf freie Meinungsäußerung ................................................................................ 179 (aa) Die "self-fulfillment"-Theorie........................................ 179 (bb) Die "self-govemance"-Theorie................... ................... 180 (cc) Die"safetyvalve"-Theorie ............................................. (dd) Die "search for truth"-Theorie ....................................... (ee) Die Kombination der Theorien.... .................................. (c) Der Einwand der Besonderheit der Gerichtssphäre.. ....... ....... (2) Grenzen der Justizkritik............................................................... (a) Der dogmatische Ansatz bei der Schrankenziehung .............. (aa) Die absolute Theorie ......................................................

181 181 182 182 183 183 184

(bb) Die "ad hoc balancing"-Theorien .................................. 184 (cc) Vermutungsformeln zugunsten der Meinungsfreiheit.... 184 (b) Die Abwägungskriterien im Rahmen des "clear and present danger test" ............................................................................ 185 (aa) Die Bestimmung der mit der Meinungsfreiheit kollidierenden Schutzgüter .................................. ,................ 186

Inhaltsverzeichnis

17

(Cl) Das Ansehen der Rechtsprechung ............................ 186 (13) Unabhängigkeit der Rechtsprechung und fairer ..... . Prozeß ...................................................................... 187

(bb) Der Öffentlichkeitsbezug der Kritik ............................... 188 (Cl) Die Bedeutung des Diskussionsthemas .................... 188 (13) Der Zeitpunkt der Kritik .......................................... 189

('y) Kritik, die ohnehin zu erwarten war ......................... 189 (cc) Die Person des Kritikers ................................................ 190 (Cl) Medienkritik ............................................................ 190

(13) Kritik durch Amtsträger ........................................... 191 (dd) Die Person des Kritisierten .. ... ......................... ... ........... 192 (Cl) Der Berufsrichter ..................................................... 192

(13) Die Geschworenen ................................................... 193 (ee) Verbot von Zwang und Einschüchterung........ ..... ...... .... 193 b) Der Schutz der dritten Gewalt im deutschen Recht. ......... ......... ... .......... 194 aa) Schutzzweck des Ansehens der Rechtsprechung .............................. 194 (1) Gewichtung des Schutzzwecks .................................................... 194 (2) Gesetze mit diesem Schutzzweck ................................................ 196 bb )Schutzzweck der Unabhängigkeit der Justiz ..................................... 198 (1) Strafrechtliche Normen................................................................ 198 (2) Die Vorschriften über den Ausschluß der Gerichtsöffentlichkeit 200 D. Ergebnis ................................................................................................................. 202

Dritter Teil

Amtliche Urteilsschelte

204

A. Zulässigkeit amtlicher Urteilsschelte ..................................................................... 204 I. Notwendigkeit und Legitimation der Urteilsschelte im staatlichen Bereich ... 205

1. Die Entscheidung des GG für die freie öffentliche Meinungsbildung......... 205 a) Die Kommunikationsgrundrechte und das Demokratieprinzip ............... 205 b) Die Stellung der politischen Parteien nach Art. 21 I 1 GG..................... 207 2. Das Recht zur Urteilsschelte und das Gewaltenteilungsprinzip .................. 209 a) Die Konstituierung von drei Gewalten nach Art. 20 11 2 GG ................. 212 b) Das Verhältnis zwischen den drei Gewalten ........................................... 213

2 Mishra

18

Inhaltsverzeiclmis c) Urteilsschelte im System der grundgesetzlich vorgesehenen Verknüpfungen ..................................................................................................... 214 aa) Die Befugnis zur Richterwahl nach Art. 94 I 2, 95 II GG ................. 216 bb )Die Befugnis zur Richteranklage, Art. 98 II, V GG ................. ......... 216 cc) Faktische personelle und sachliche Einflußmöglichkeiten: Art. 98 I, III;Art. 74Nr. 1; Art. 110GG .......................................................... 217 dd)Die Gesetzesbindung der Judikative, Art. 20 III, 97 I GG ................ 217 ee) Notwendigkeit der Urteilsschelte ...................................................... 218 II. Die Ableitung des Äußerungsrechts im einzelnen ......... ......... ....... ...... ........... 219 1. Verbandskompetenz .................................................................................... 220 2. Organkompetenz ......................................................................................... 221 a) Bundestag und Abgeordnete ................................................................... 221 b) Bundesrat..... .... .......... ............... ...... ............ .......... .................. ................ 222 c) Bundesregierung ..................................................................................... 222 d) Bundespräsident ..................................................................................... 224 III. Ergebnis............................ .............................................................................. 225

B. Grenzen amtlicher Urteilsschelte .............................. .................................. ........... 226

1. Strafrechtliche Grenzen ........... .............................................................. ......... 226 II. Das Gewaltenteilungsprinzip .......................................................................... 227 1. Verhältnis zwischen dem Gewaltenteilungsprinzip und dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit ................................................................ 227 2. Urteilsschelte als Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip ................... 228 a) Der Funktionsbereich der Rechtsprechung nach dem GG ...................... 228 aa) Streitentscheidung auf bestimmten Rechtsgebieten .......................... 229 bb)Gesetz und Recht als Entscheidungsmaßstab .................................... 230 cc) Erfiillung der Justizgewährungspflicht und faires Verfahren ............ 230 dd)Organisatorische Selbständigkeit der Gerichte, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Richters ............................................................ 232 ee) Kontrollfunktion der Rechtsprechung............................................... 233 ff) Letztentscheidungsbefugnis der Rechtsprechung .............................. 233

b) Eingriff in den Funktionsbereich der Rechtsprechung... ................... ...... 234

Inhaltsverzeichnis

19

aa) Das Verbot der Wahrnehmung fremder Kompetenzen ..................... 235 bb)Das Gebot der Respektierung fremder Kompetenzen ....................... 236 (1) Zur Verfassungsorgantreue .......................................................... 236 (2) Der Grundsatz der Funktionen- und Organtreue ......................... 237 (a) Bestreiten der Kompetenz zur Streitentscheidung ................. 239 (b) Bestreiten der Kompetenz zur Letztentscheidung .... .............. 241 (aa) Nichtbeachtung von Urteilen ......................................... 241 (bb) Folgenkorrektur ............................................................. 243 (cc) Normwiederholungen .................................................... 244 (a) Normverwerfung durch das Bundesverfassungs-

gericht..................................................................... 244

(ß) Normverwerfung durch andere Gerichte .................. 247 (y) Verfassungswidrigkeit der auf Normwiederholung abzielenden Urteilsschelte ....................................... 247 3. Ergebnis ...................................................................................................... 248

rn.

Die richterliche Unabhängigkeit ................................ ...... .................... ........... 248 1. Die sachliche Unabhängigkeit, Art. 97 I GG............................................... 248 a) Die Richter.............................................................................................. 249 b) Bindung nur an das Gesetz ..................................................................... 250 aa) Funktionen der Gesetzesbindung ...................................................... 250 bb ) Inhalt der Gesetzesbindung ............................................................... 252 (1) Die Anwendungjurlstischer Auslegungsmethoden ..................... 252 (2) Der Einfluß der Wirklichkeit...... ........ ............................ ............. 253 (a) Persönliche Faktoren.............................................................. 254 (b) Professionelle Faktoren .......................................................... 254 (c) Politische Faktoren ................................................................ 255 c) Unabhängigkeit ................................................................................. 258 aa) Wortlaut ............................................................................................ 258 bb)Entstehungsgeschichte ...................................................................... 258 (1) Die Ursprünge der richterlichen Unabhängigkeit ........................ 258 (2) Annex: Urteils schelte als Mittel der Justizlenkung im Nationalsozialismus.............................................................................. 259 (a) Die Gleichschaltung der Justiz ............................................... 260 (b) Feinsteuerung durch Urteilsschelte ........................................ 261 cc) Systematik......................................................................................... 264

2*

20

Inhaltsverzeichnis dd)Sinn und Zweck ................................................................................ 264 (1) Objektiver Bewertungsmaßstab .............. .............. ................ ....... 265 (2) Form des Angriffs und dessen materielle Auswirkungen ............ 266 (3) Grad der Angriffs: Geeignetheit der Aufhebung der Unabhängigkeit .......................................................................................... 266 (4) Inhalt der Unabhängigkeit: Die Unzulässigkeit gesetzesfremder Bindung ....................................................................................... 267 (5) Abwägungskriterien bei der Urteilsschelte .................................. 269 (a) Inhalt ...................................................................................... 269 (b) Form....................................................................................... 270 (c) Kontext .................................................................................. 271 (d) Die Person des Kritisierten .................................................... 272 (e) Die Person des Kritikers ........................................................ 274 (aa) Kritik durch den Dienstaufsichtfiihrenden ..................... 274 (a.) Die Rechtsprechung der Dienstgerichte zur sach-

lichen Unabhängigkeit ............................................ 275

(ß) Kritik dieser Rechtsprechung ................................... 276 (y) Annex: Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit durch Unterlassen, wenn der zuständige Justizminister die Richter nicht gegen Urteilsschelte in Schutz nimmt? ......................................................... 277 (bb) Andere Kritiker .............................................................. 277 (6) Abwägungsbeispiele .................................................................... 278 d) Ergebnis .................................................................................................. 279 2. Die persönliche Unabhängigkeit, Art. 9711 00.......................................... 280 IV. Rechtsschutz bei unzulässiger amtlicher Urteilsschelte ............ ............ .......... 280 1. Rechtsschutz für Prozeßbeteiligte ............................................................... 280 2. Rechtsschutz für den angegriffenen Richter ................................................ 281 V. Ergebnis .......................................................................................................... 283

Vierter Teil Vorschläge zur Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit

285

A. Die Ausweitung sitzungspolizeilicher Befugnisse der Gerichte ............................ 285 B. Die Einführung eines ,,Mißachtungstatbestands" in das StGB .............................. 286

1. Versuche zur Einführung eines Mißachtungstatbestands ................................ 287

Inhaltsverzeichnis

21

11. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Mißachtungstatbestands........... 289 C. Urteilsschelte im freien Spiel der Kräfte: Die Herstellung kommunikativer Waffengleichheit. ........................................................................................................ 290 I. Die fehlende Eignung einer gesetzlichen Regelung: Zur rechtspolitischen

Bewertung des Mißachtungstatbestands .......... ......... ..... ...... .............. .... ......... 290 11. Die fehlende Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung: Das Konzept der kommunikativen Waffengleichheit ................................................................. 292 1. Der Gegendarstellungsanspruch.................................................................. 294 2. Das Recht auf den publizistischen Gegenschlag ......................................... 295 3. Öffentlichkeitsarbeit der Gerichte ............................................................... 295 a) Vorbeugung durch Information: Die rudimentäre Öffentlichkeitsarbeit und die Pflege der Kommunikationsbarrieren ....................... ...... ....... .... 296 b) Zur Reaktion aufUrteilsschelte .............................................................. 298

ill. Ergebnis........... ................ ................. ........................................... ................... 300

Ergebnisse der Arbeit

301

Literaturverzeichnis

305

Sachregister

319

Einleitung Urteilsschelte ist zum Politikum geworden. Es gab sie zu allen Zeiten, aber im Zeitrawo dieser UntersuchWlg hat sie eine Renaissance erlebt. Am Anfang stand das Mannheimer Urteil. Im August 1994 entschied die sechste Strafkammer des Mannheimer Landgerichts über den Fall des NPD-Vorsitzenden Deckert, der auf einer VeranstaltWlg den Holocaust geleugnet hatte. Zwar sprachen die Richter den Angeklagten wegen Volksverhetzung, AufstachelWlg zum Rassenhaß, Beleidigoog Wld VeTWlglimpfung des Ansehens Verstorbener schuldig. Sie setzten die Strafe jedoch zur Bewährung aus. Man könnte der AuffassWlg sein, "daß der Angeklagte ein berechtigtes Interesse wahrgenommen hat, indem er bestrebt war, die nach Ablauf fast eines halben JahrhWlderts immer noch aus dem Holocaust gegen Deutschland erhobenen Ansprüche abzuwehren", urteilte das Gericht. Deckert wurde als "charakterstarke, verantwortWlgsbewußte Persönlichkeit mit klaren GTWldsätzen" gelobt, dem seine politische Überzeugoog ,,Herzenssache" seLI Nach diesen Worten brach ein Sturm der EntrüstWlg über das Gericht herein. Den Richtern, insbesondere dem Berichterstatter Rainer Orlet, wurde in scharfer Form Neonazismus Wld Antisemitismus vorgeworfen, Medien Wld Politiker forderten die Absetzung der Richter. Mitten in die EntstehWlg dieser Arbeit hinein fiel der Kruzifix-Beschluß des BWldesverfassWlgsgerichts. 2 Die Richter verwarfen die BestimmWlg der bayerischen VolksschulordnWlg, nach der in allen staatlichen Ptlichtschulen Kreuze angebracht werden müssen.) Wer glaubte, das Mannheimer Urteil markiere in Inhalt Wld Ausmaß den Höhepunkt möglicher Urteilsschelte, sah sich nach dieser EntscheidWlg getäuscht. Politiker beließen es nicht bei der Kritik. Sie zweifelten die Verbindlichkeit des Richterspruchs an Wld propagierten sogar ein Widerstandsrecht gegen das Urteil. Am Ende einer beispiellosen ,,Kesselschlacht wo Karlsruhe"" stand der rapide Ansehensverlust des höchsten deutschen Gerichts. Der inzwiLG Mannheim, NJW 1994, S. 2494 (2498f.). Zum Mannheimer Urteil siehe ausführlich unten Erster Teil E. 2 Im folgenden nur noch BVerfG genannt. BVerfG, EuGRZ 1995, S. 359 (362ff.). Zum Kruzifix-Beschluß siehe ausführlich unten Erster Teil F. " Helmut Kerscher, in: Süddeutsche Zeitung vom 2.13.3.1996.

24

Einleitung

schen in Ruhestand getretene Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckemorde sagte in seiner Abschiedsrede: " (... ) das Bundesverfassungsgericht ist heute nicht mehr das, was es bis zum 10. August 1995 [dem Tag der Veröffentlichung des Kruzifixbeschlusses, d.V.] war."s Am 14. Mai 1996, in der Endphase dieser Untersuchung, verkündete das BVerfG das mit Spannung erwartete Asylurteil. Mit nur minimalen Abstrichen billigte das Gericht die Kernbestandteile des neuen Asylrechts, die Bestimmungen über die sicheren Drittstaaten und die sicheren Herkunftsstaaten sowie die Flughafenregelung. 6 Von zahlreichen Politikern wurde das BVerfG daraufhin mit Lob bedacht und setzte sich gerade dadurch einem bösen Verdacht aus. Stellvertretend für das, was viele dachten, kommentierte der Tagesspiegel: ,,Der politische Druck hat gewirkt: Die Richter sind in die Knie gegangen. Noch einmal wollten sie nicht geprügelt werden".' In der Urteilsschelte verbinden sich die unterschiedlichsten Motive: Zorn über einzelne Entscheidungen, genereller Unmut über die gewachsene Macht der Judikative, die Entdeckung von Urteilen als Wahlkampfthema, aber auch der nur dürftig getarnte Versuch, eine unabhängige dritte Gewalt einzuschüchtern. Politiker und Medien wechseln nicht selten die Seiten. Wer mit dem Inhalt eines Urteils unzufrieden ist, übt unter Berufung auf die Meinungsfreiheit Kritik. Wer mit dem Inhalt konform geht, wird den Kritikern vorwerfen, sie gefährdeten mit ihren Äußerungen die richterliche Unabhängigkeit. Eine juristische Untersuchung mit dem Thema ,,zulässigkeit und Grenzen der Urteilsschelte" muß sich von den tagespolitischen Interessen lösen. Thr Ziel ist es, im verfassungsrechtlichen Kräftefeld von Meinungsfreiheit, Gewaltenteilungsprinzip und richterlicher Unabhängigkeit möglichst objektive rechtliche Kategorien zu bilden. Es ist deshalb weitgehend der Versuchung widerstanden worden, soziologische, politologische, kommunikationswissenschaftliche und psychologische Aspekte in die Prüfung einzubeziehen. Auch politische Stilfragen werden nicht behandelt. Im ersten Teil der Arbeit werden sechs Fallbeispiele zur Urteilsschelte aus der bundesrepublikanischen Rechtsgeschichte dargestellt. Aus den dort zitierten Aussagen ergeben sich die konkreten Probleme, denen sich die dann folgende rechtliche Analyse stellen muß. Der zweite Teil beschäftigt sich mit privater Urteilsschelte, deren Zulässigkeit und Grenzen sich nach Art. 5 I, 11 GG bestimmen. Im dritten Teil ist amtliche Urteilsschelte durch Vertreter von Legislative und Exekutive behandelt, hier werden namentlich die Inhalte des Gewaltenteilungsprinzips und des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit beNach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.5.1996. Siehe Süddeutsche Zeitung vom 15.116.5.1996. Beatrice von Weizsäcker, in: Der Tagesspiegel vom 15.116.5.1996.

Einleitung

25

leuchtet. Im vierten Teil werden Vorschläge gemacht, wie sich der richterlichen Unabhängigkeit gegenüber einer zunehmend ungehemmten Urteilsschelte besser Geltung verschaffen läßt. Vorab ist der Untersuchungsgegenstand einzugrenzen. Urteilsschelte8 wird definiert als jedes negative Werturteil privater oder amtlicher Stellen, das sich auf eine ergangene gerichtliche Entscheidung bezieht. Mit dem Begriff des Werturteils ist der Bezug zur Meinungsfreiheit hergestellt. Urteilsschelte ist aber vielgestaltig9 und kann in den Schutzbereich auch anderer Grundrechte fallen, etwa in den der Kunst- oder der Versammlungsfreiheit. Diese Untersuchung beschränkt sich auf die Prüfung am Maßstab des Art. 5 I GG. Die dabei gewonnenen Ergebnisse können als Anhaltspunkte für die Prüfung anderer Grundrechte dienen. Urteils-"Schelte" erfaßt schon dem Wortlaut nach nur negative Kritik. Da ein Ziel dieser Untersuchung darin besteht, die Gefahren bestimmter Meinungsäußerungen fiir die richterliche Unabhängigkeit zu ermitteln, versteht es sich indes nicht von selbst, Urteilslob bei der Prüfung auszuklammern. Lob tut dem Selbstwertgefiihl. des Richters gut, schmeichelt seiner Eitelkeit. Es wird behauptet, daß Urteilslob "subkutan" wirkt, indem es den Richter dazu bewegt, mit seinen Urteil auf den Beifall der Öffentlichkeit abzuzielen. Die ,,korrumpierende Kraft" des Urteilslobs sei stärker als diejenige der Widerstand provozierenden Urteilskritik. 10 Diese These begegnet jedoch Bedenken. Zum einen kann es fiir die Qualität eines Urteils sprechen, daß ein Richter dafür Lob erntet. Insoweit erfährt die Leistung eines Menschen verdiente Anerkennung, der aus diesem Zuspruch Motivation fiir seine künftige Arbeit schöpfen kann. Zum anderen wirken Stellungnahmen, in denen ein Urteil "begrüßt" wird, in der Öffentlichkeit weit weniger als heftige Kritik und können in ihren Auswirkungen auf die richterliche Unabhängigkeit vernachlässigt werden. Vor diesem Hintergrund ist eine Beschränkung auf negative Kritik gerechtfertigt, der Begriff der Schelte ist beim Wort zu nehmen. Nicht im technischen Sinne wird dagegen der Begriff des Urteils verstanden. Er umfaßt alle gerichtlichen Entscheidungen, das heißt jede Willenserklärung des Gerichts, die der Prozeßleitung angehört oder die als Urteil, Beschluß oder Verfiigung eine Der etwas verstaubte Terminus der Urteilsschelte hat historische Wurzeln. Ein Urteil schelten meinte von alters her, gegen ein Urteil Berufimg einzulegen (Heinsius, Deutsche Sprache, 3. Band, S. 764; Grinun/Grimm, Deutsches Wörterbuch, 8. Band, S. 2530). 9 Beispielhaft für die Vielfalt der Urteilsschelte sind insbesondere die Reaktionen auf das Behindertenurteil des LG Frankfurt, siehe unten Erster Teil C 11 1. 10 Sendler, NJW 1983, S. 1449 (1452); vgl. zum Urteilslob auch Meyer, DÖV 1983, S. 243 (246).

26

Einleitung

Rechtsfolge ausspricht.l\ Abzugrenzen ist die Urteilsschelte von den Tennini der Justizkritik, der Richterschelte Wld der Gerichtsschelte. Urteilsschelte ist nur ein Teilbereich der Justizkritik. Justizkritik kann sich etwa auf die Organisation Wld Funktionsfähigkeit der dritten Gewalt beziehen, die GesinnWlg oder die ArbeitseinstellWlg der Richter betreffen. 12 Dagegen knüpft Urteilsschelte nur an die Arbeitsergebnisse der Judikative an, an ihre EntscheidWlgen. Urteilsschelte, Gerichtsschelte Wld Richterschelte überschneiden sich teilweise. Thema dieser Arbeit sind auch kritische Äußerungen über Gerichte oder einzelne Richter, wenn Anlaß dieser Schelte eine umstrittene EntscheidWlg ist. Alle anderen Fälle der Gerichts- Wld Richterschelte bleiben ausgespart. Schließlich beschränkt sich die Prüfung auf bereits ergangene gerichtliche EntscheidWlgen. Damit wird der Themenkomplex der BeeinflussWlg schwebender Verfahren ausgeklammert. 13

Baumbach/LauterbachiAlberslHartmann, ZPO, Übersicht zu § 300 Rn. 1. Historisches Beispiel dafi1r ist Kurt Tucholskys Kritik an der Justiz der Weimarer Republik (zusammengefaßt in: Tucholsky, Politische Justiz). 13 Dazu grundlegend: Bomkamm, Pressefreiheit und Faimeß des Strafverfahrens, 1980. 11

12

Erster Teil

Fallbeispiele zur Urteilsschelte aus der bundesdeutschen Rechtsgeschichte Seit Bestehen der BWldesrepublik Deutschland hat es immer wieder gerichtliche EntscheidWlgen gegeben, die zwn Gegenstand der öffentlichen AuseinandersetZWlg geworden sind. Eine Auswahl von sechs umstrittenen Urteilen steht am Anfang dieser UntersuchWlg. Diese Auswahl ist subjektiv Wld erhebt nicht den Anspruch, die bedeutendsten Fälle der bWldesdeutschen Rechtsgeschichte darzustellen. Es geht vielmehr darum, Reaktionen auf Urteile zu dokumentieren, die außergewöhnlich sind, die besonders gelWlgen oder mißIWlgen erscheinen, die an die Grenzen des rechtlich Zulässigen stoßen. So entsteht ein Eindruck von der Vielfalt möglicher EntscheidWlgskritik. Die dadurch aufgeworfenen juristischen Probleme werden vorgezeichnet. Schließlich wird Wltersucht werden, welche FernwirkWlgen von massiver Urteilsschelte ausgegangen sind. So sollen deren Chancen Wld Gefahren verdeutlicht werden. In chronologischer Reihenfolge werden folgende Urteile Wld die Reaktionen darauf dokumentiert: Das ,,Fernsehurteil" von 1961, das ,,§ 218-Urteil" von 1975, das Frankfurter ,,Behindertenurteil" von 1980, das "Soldatenurteil" des Landgerichts Frankfurt von 1989, das ,,Mannheimer Urteil" im Fall Deckert von 1994 Wld schließlich der ,,Kruzifix-Beschluß" aus dem Jahr 1995. Die DarstelIWlg erfolgt jeweils in drei Abschnitten. Im ersten Abschnitt werden Sachverhalt, Prozeßgeschichte Wld EntscheidWlgsgründen der Urteile soweit wiedergegeben, wie es für das Verständnis der nachfolgenden Vorgänge vonnöten ist. Im zweiten Abschnitt wird die nach der EntscheidWlg einsetzende Urteilsschelte dokumentiert. Im Vorgriff auf den Aufbau der nachfolgenden UntersuchWlg wird dabei zwischen der durch Art. 5 I GG geschützten Kritik Privater (Privatleute, Medien, gesellschaftliche Gruppen) Wld der amtlichen Schelte Wlterschieden, die in ihrer Zulässigkeit von einer entsprechenden Äußeroogskompetenz des Amtsträgers abhängt. Dort werden alle Äußeroogen von Politikern wiedergegeben. Manche davon liegen im Grenzbereich zwischen privater Wld amtlicher Schelte Wld werden zunächst bei letzterer eingeordnet, ohne daß damit schon eine Aussage über deren privaten oder amtlichen Charakter ge-

28

Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

troffen wird. Die Dokwnentation der Reaktionen erhebt nicht den Anspruch, repräsentativ oder gar vollständig zu sein. Es werden vielmehr nur für eine juristische Untersuchung besonders markante Aussagen zitiert. Der dritte Abschnitt trägt jeweils die Überschrift "Nachspiel". In allen Fällen rief die Urteilsschelte ihrerseits wiederum neue Reaktionen hervor. Diese Fernwirkungen werden aufgezeigt.

A. Das Fernsehurteil von 1961 (BVerfGE 12,205) I. Das Urteil 1. Sachverhalt Konrad Adenauer und die CDU hatten die Bundestagswahl 1957 deutlich gewonnen und regierten mit absoluter Mehrheit. Doch die nächsten Wahlen standen bevor und Adenauer kam zu der Meinung, daß Hörfunk und Fernsehen im nächsten Wahlkampf eine wichtigere Rolle spielen würden als noch vier Jahre zuvor. Er vermutete auch, daß die meisten Rundfunkreporter der Opposition nahestünden und daß die SPD einen zu großen Einfluß auf die stark meinungsbildenden Rundfunkanstalten der Länder ausübte. Daher plante Adenauer, neben den Landessendern drei neue Rundfunkanstalten des Bundes zu errichten. Durch ein Gesetz vom 29.11.1960 kam es zunächst zur Gründung der beiden Hörfunksender ,,Deutsche Welle" und ,,Deutschlandfunk". Herzstück von Adenauers Plänen war jedoch der Aufbau eines neuen Fernsehsenders. Da die meisten Bundesländer ihren Widerstand ankündigten, taktierte Adenauer wie folgt: Am 8.7. und 15.7.1960 erörterte der Bundeskanzler mit Regierungsmitgliedern, Ministerpräsidenten und Bundestagsabgeordneten, die alle der CDU/CSU angehörten, seine Vorschläge zum Aufbau einer ,,Deutschland-Fernsehen-GmbH". In dieser Runde fand sich bald ein Konsens. Es wurde ein Gesellschaftsvertrag entworfen und dessen Unterzeichnung bereits für den 25.7.1960 angesetzt. Erst jetzt schaltete Adenauer auch Oppositionsvertreter in das Verfahren ein. Er lud die SPD-Ministerpräsidenten für den 22.7.1960 ein, um mit ihnen die Ergebnisse der Besprechung vom 15.7. zu erörtern. Die Regierungschefs der Länder wollten Adenauers Vertragsentwurf jedoch nicht.ohne weiteres akzeptieren. Sie machten ihrerseits Änderungsvorschläge, die dem Bundeskanzler noch vor dem geplanten Gesprächstermin zugingen. Adenauer antwortete den SPD-Ministerpräsidenten am 23.7.: Eine weitere Verschiebung der Gesellschaftsgründung sei nicht zu verantworten. Der Vertrag werde aber so abgefaßt sein, daß alle Länder später beitreten könnten. Der Bundeskanzler hatte es eilig, da im September

A. Das Fernsehurteil von 1961

29

1961 die nächsten Wahlen anstanden und das Deutschland-Fernsehen bereits am 1.1.1961 auf Sendung gehen sollte. Noch vor Zugang des Schreibens bei den SPD-Ministerpräsidenten und ohne Änderungen des Vertrages wurde am 25.7.1960 durch die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Bundeskanzler und den Justizminister Schäffer, die ,,Deutschland-Fernsehen-GmbH" gegründet. Aufgabe der Gesellschaft war danach "die Veranstaltung von Fernseh-Rundfunksendungen, die den Teilnehmern in ganz Deutschland und im Ausland ein umfassendes Bild Deutschlands vermitteln sollen" (§ 2 der Satzung). Der Aufsichtsrat des Senders sollte aus mindestens zehn und höchstens 15 Mitgliedern bestehen. In § 10 der Satzung war vorgesehen, daß bis zu zehn Mitglieder von der Bundesregierung, je ein weiteres Mitglied von der Evangelischen Kirche, der Katholischen Kirche, dem Zentralrat der Juden in Deutschland, den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften benannt werden sollten. Hauptgesellschafter der GmbH war der Bund, der 12 000 DM zum Stammkapital von 23000 DM beisteuern sollte. Für die Länder war ein Anteil von jeweils 1000 DM, insgesamt also 11 000 DM vorgesehen. Bei der Gründung der GmbH wurden die Länder durch Bundesjustizminister Schäffer als "Treuhänder" vertreten. Es war jedoch schließlich kein einziges Bundesland bereit, dem Vertrag beizutreten, so daß Schäffer am 25.8.1960 seinen Geschäftsanteil von 11 000 DM auf den Bund übertrug. Damit war der Bund Inhaber aller Geschäftsanteile. Daraufhin klagten die SPD-regierten Bundesländer Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Hessen vor dem BVerfG gegen die Gründung der ,,Deutschland-Fernsehen-GmbH".! 2. Prozeßgeschichte und Entscheidungsgründe

Am 17.12.1960 verhinderte das BVerfG zunächst per einstweiliger Anordnung die Gründung des neuen Senders. 2 Am 28.2.1961 folgte das Urteil in der Hauptsache. Das BVerfG untersagte die Gründung der ,,Deutschland-Fernsehen-GmbH"3. Wenn diese Entscheidung auch nach der einstweiligen Anordnung nicht mehr unerwartet kam, so überraschte doch die geradezu vernichtende Beurteilung von Adenauers Vorgehen. Die Verfassungsrichter erkannten auf einen dreifachen Verfassungsverstoß.

Nach Räußler, Konflikt, S. 47ff.; BVerfG, NJW 1961, S. 547f. BVerfGE 12,36. BVerfGE 12,205.

30

Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

ZWlächst sei unzulässig in die KompetenzverteilWlg zwischen BWld Wld Ländern eingegriffen worden4 • Die BWldeskompetenzen nach Art. 73 Nr.7 GG (,'post- Wld Fernmeldewesen") Wld Art. 87 I GG (,,BWldespost") erfassen nach Ansicht des BVerfG nur den sendetechnischen Bereich des RWldfimks, nicht aber die VeranstaltWlg von SendWlgen. An einer Kompetenz kraft Sachzusammenhang fehle es ebenfalls, da Sendetechnik Wld ProgrammgestaltWlg nicht notwendig zusammengehören, sondern sich ohne weiteres trennen Wld gesondert regeln lassen. Schließlich sah das BVerfG auch eine BWldeskompetenz kraft Natur der Sache als nicht gegeben an. Die ,,Notwendigkeit einer nationalen Repräsentation nach innen" sei ein zu Wlbestimmtes Ziel des Senders, aus dem man eine Wlgeschriebene GesetzgebWlgskompetenz nicht herleiten könne. Im Ergebnis bestand daher gemäß Art. 30 GG eine Kompetenz der Länder. Den zweiten VerfassWlgsverstoß sah das BVerfG in der VerhandlWlgsführung Wld VertragsgestaltWlg Adenauers. Es warf der Regierung mit deutlichen Worten vor, den Grundsatz der BWldestreue aus Art. 20 I GG in mehrfacher Hinsicht verletzt zu haben. 5 Zum einen habe die BWldesregierung die Landesregierung unzulässigerweise nach ihrer parteipolitischen RichtWlg verschieden behandelt. Sie habe zu den entscheidenden BeratWlgen nur die ihr nahestehenden Ländervertreter eingeladen, die SPD-regierten Länder dagegen ausgeschlossen. Ein weiterer VerfassWlgsverstoß liege darin, daß die BWldesregierung nach dem Grundsatz "divide et impera" handelte, das heißt auf die SpaltWlg der Länder ausging, indem sie nur mit einigen eine Vereinbarung suchte Wld die anderen vor den Zwang des Beitritts stellte. Ein Indiz dafür sei, daß die Antwort Adenauers auf die ÄnderungsWÜllSche der SPD-regierten Länder bei diesen erst einging, als der Gesellschaftsvertrag bereits notariell beurkundet war. Das BVerfG bewertete die GründWlg der ,,Deutschland-Fernsehen-GmbH" zuletzt als Verstoß gegen die RWldfunkfreiheit. 6 Art. 5 I 2 GG verlange, daß das Gesamtprogramm "ein Mindestmaß von inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger AchtWlg" gewährleiste. Dagegen verbiete die RWldfunkfreiheit, daß der Staat Wlmittelbar oder mittelbar eine Anstalt oder Gesellschaft beherrsche, die RundfimksendWlgen ausstrahlt. Die ,,DeutschlandFernsehen-GmbH" sei aber "völlig in der Hand des Staates" Wld deshalb verfassWlgswidrig. Auch diese Urteilspassage mußte. Adenauer hart treffen, wurde

4

5 6

Dazu BVerfUE 12,205 (243ff.). Dazu BVerfUE 12,205 (254ff.). Dazu BVerfUE 12,205 (260ff.).

A. Das Femsehurteil von 1961

31

sein Projekt damit doch in die Nähe des nach 1933 betriebenen Staatsrundfunks geTÜckt. 7

ll. Die Urteilsschelte 1. Urteilsschelte durch Private Kritisiert wurde das BVerfU vor allem von den Parteiorganen der Unionsparteien. In der Zeitung ,,Politisch-Soziale Korrespondenz" hieß es: ,,Nach dem Studium der Urteils grunde wird man das dumpfe Gefühl nicht los, hier habe die Zuweisung einer politischen Entscheidung an ein juristisches Gremium der parlamentarischen Demokratie nicht unbedingt einen Dienst erwiesen. Wir können nach diesem Karlsruher Urteil unsere Warnung vor einer Justitiardemokratie nur eindringlich wiederholen. ,,8 Im übrigen fand das Urteil in den Medien positive Resonanz. 9 2. Amtliche Urteilsschelte Adenauer war durch das Fernsehurteil in erhebliche Bedrängnis geraten. Zu den schweren Vorwürfen des Verfassungsgerichts kam noch hinzu, daß bereits 120 Millionen DM fiir das Deutschland-Fernsehen ausgegeben worden waren.\O Zu Beginn der mehrtägigen Haushaltsdebatte nahm der Bundeskanzler am 8.3.1961 zu dem Richterspruch Stellung: "Sobald wir im Besitz des Urteils waren und unsere besonders Sachverständigen sich durchgearbeitet hatten, ist das Kabinett zu einer Sitzung zusammengetreten, um zu diesem Urteil Stellung zu nehmen. Die Beschlüsse, die das Kabinett gefaßt hat, sind einstimmig gefaßt worden. Das Kabinett war sich darin einig, daß das Urteil des Bundesverfassungsgerichts falsch ist, meine Damen und Herren."u Dieser Fall der Urteilsschelte durch den formellen Beschluß eines Exekutivorgans, vorgetragen durch den Bundeskanzler im Parlament, ist bis heute einmalig. Auf Proteste von seiten

Häußler, Konflikt, S. 50. Nach Süddeutsche Zeitung vom 2.3.1961. Auch im folgenden sind die Zitate schwer- punktmäßig der Süddeutschen Zeitung entnommen, deren Archiv sich der Verfasser bedient hat. 9 Etwa Hermann Proebst in der Süddeutschen Zeitung vom 4.15.3.1961: ,,Noch gibt es Richter in Karlsruhe, und wir haben Grund, darüber froh zu sein." Weitere Nachweise bei Häußler. Konflikt, S. 50. 10 Nach Süddeutsche Zeitung vom 2.3.1961. 11 BT-Prot. m, S. 8308. 7

8

32

Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

der Opposition fUgte der Kanzler abschwächend hinzu, das Urteil müsse aber den Gesetzen entsprechend beachtet werden. Scharfe Worte fand auch Innenminister Schröder. Er bezeichnete das Urteil ebenfalls als ,,falsch" und hielt es fiir "tief betrüblich", daß der Bund nach dem GG noch weniger Kompetenzen habe als in der Weimarer Republik. Damit werde "Weimar noch nachträglich dementiert". 12

ill. Das Nachspiel 1. Die Haushaltsdebatte im Bundestag Nach Adenauers Erklärung war das Femsehurteil zu einem Hauptthema der Haushaltsdebatte geworden. Die Erklärung des Bundeskanzlers und der Regierungsbeschluß zu einem Gerichtsurteil stießen auf heftige Kritik aus den Reihen der Oppositionsparteien. Besonders sichtbar wurde die Empörung in der Rede des SPD-Abgeordneten Adolf Arndt: ,,Das Recht auf verfassungsrechtlichen Irrtum findet eine Grenze dort, wo man mindestens in die Nähe der Fahrlässigkeit und Mutwilligkeit kommt. ( ... ) so kann man mit dem Bundesverfassungsgericht nicht reden, ( ... ) und hier, glaube ich, am allerwenigsten, denn wir haben ja hier - worüber wir uns alle einig sind - die Aufgabe der nationalen Repräsentation. Aber dann sollte man nicht sagen, ( ... ) das Bundesverfassungsgericht zerschlägt alles und demontiert13 selbst noch Weimar und dann sollte man auch nicht hingehen und namens der Bundesregierung einen einstimmigen Beschluß fassen, durch den man sich aufwirft, ein Überverfassungsgericht zu sein, und feststellt: 'Das Urteil ist falsch'. ( ... ) einen Kabinettsbeschluß, der zwar sagt: 'Wir werden das Urteil als verbindlich ansehen', aber sagt: 'Wir erklären es amtlich als Bundesregierung einstimmig fiir falsch' einen solchen Beschluß halte ich fiir eine Auflehnung gegen das Grundgesetz.' 14 Zahlreiche Abgeordnete hielten Adenauers Urteilsschelte nicht fiir angängig. 15 In einem kurzen Wortgefecht kamen die beiden entgegengesetzten BT-Prot. m, S. 8407. Hier weicht der Wortlaut von der Äußerung des hmenm.inisters Schröder ("dementiert") ab. 14 BT-Prot. m, S. 8420f. IS Vgl. z.B. die Reden der Abgeordeten Erler (SPD), BT-Prot. m, S. 8311; Bucher (FDP), BT-Prot. m, S. 8325. Bucher warf dem Kanzler vor, er habe das Ansehen des 12 13

A. Das Femsehurteil von 1961

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Standpunkte noch einmal zum Ausdruck. Der SPD-Abgeordnete Carlo Schmid fragte in Richtung der CDU/CSU-Fraktion: "Glauben Sie, daß es sehr respektvoll ist, wenn der Betroffene, der Chef der Regierung von dieser Tribüne aussagt, der Spruch des höchsten deutschen Gerichts, des Gerichts, dem es anvertraut ist, die Verfassung zu interpretieren, sei falsch?,,16 Daraufhin nahm Richard Jäger (CSU) fiir den Bundeskanzler das Recht zur Urteilsschelte in Anspruch: "Würden Sie es fiir klug ( ... ) halten, wenn er seine bisherige Rechtsauffassung verleugnete? Er hat sich dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts zu beugen, aber er kann seinen eigenen Charakter nicht aufgeben.,,17 Jäger vertrat damit die Ansicht, daß Kritik zulässig ist, solange nur die Bindungswirkung des Urteils intakt bleibt.

2. Die Presserezeption Die Kommentare zur Rede Adenauers entsprachen weitgehend der politischen Couleur der Zeitungen. Dennoch überwogen kritische Zwischentöne, fiel die Schelte durch den Kanzler doch in eine Zeit, in der die neugeschaffenen institutionen der Bundesrepublik noch auf unsicherem Fundament standen und daher besonders verletzungsanfaIlig waren. 18 Paul Sethe schrieb in der Zeit: ,,Dem Kanzler kann nicht verborgen gewesen sein, wie gefährlich geschwächt alle innere Autorität im Staate ist, seitdem Adolf Hitler den Begriff der Autorität in unerträglicher Weise überspannt, mißbraucht und darum am Ende entleert hat" I 9 Adenauer habe das Gleichgewicht zwischen den Staatsgewalten zu Lasten der Judikative verschoben, indem er das Ansehen des BVerfG so beschädigt habe, daß es die ihm nach der Verfassung zustehende Rolle nicht mehr ausfiillen könne.

3. Presseerklärung des BVerjG Den Schlußpunkt der Debatte setzte das BVerfG. Dessen Präsident Gebhard Müller reagierte auf die Kritik mit einer knappen und eindeutigen Stellungnahme, die von den meisten Tageszeitungen abgedruckt wurde. In der Erklä-

höchsten deutschen Gerichts "durch die doch sehr zwielichtige Äußerung" in Zweifel geffgen. BT-Prot. m, S. 8322. 17 BT-Prot. m, S. 8322. 18 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 10.3.1961. 19 Die Zeit vom 17.3.1961. 3 Mishra

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

rung kommt gleichzeitig die RechtsauffassWlg des BVerfG zu Einzelfragen der Urteilsschelte zum Ausdruck: ,,1. Jedennann steht es frei, Entscheidungen des BVerfG kritisch zu würdigen oder auch fi1r falsch zu halten. 2. Kein Verfassungsorgan ist nach der grundgesetzlichen Ordnung befugt, zu beschließen, ein Spruch des BVerfG entspreche nicht dem Recht. 3. Der Boden einer sachlichen Kritik wird verlassen, wenn dem Gericht unterstellt wird, eine Entscheidung sei durch Ressentiments beeinflußt. Dieser in der Öffentlichkeit gegen das Gericht erhobene Vorwurf wird mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen...20

Nach dieser Erklärung kamen CDU/CSU Wld SPD überein, den Streit wn das Femsehurteil zu beenden.

IV. Fazit Das Fernsehurteil wirft vor allem die Frage nach den Grenzen amtlicher Urteilsschelte auf. Die scharfe parlamentarische Attacke auf das BVerfG durch den Innenminister Schröder, besonders aber der von Adenauer im Parlament verkündete Beschluß der Exekutive gegenüber der Judikative, riefen eine heftige Auseinandersetzung während der Haushaltsdebatte hervor Wld waren in ihrer rechtlichen Zulässigkeit wnstritten. Als Femwirktmg der Urteilsschelte befilrchteten Vertreter von Medien Wld Politik einen erheblichen Vertrauensverlust des höchsten deutschen Gerichts Wld schlugen sich auf dessen Seite. Das BVerfG selbst wählte als Reaktion auf die Kritik erstmalig den Weg einer öffentlichen Erklärung. Damit lieferte es gleichzeitig einen inhaltlichen Diskussionsbeitrag zum Problem der Zulässigkeit Wld den Grenzen der Urteilsschelte.

20

Nach Süddeutsche Zeitung vom 16.3.1961.

B. Das § 218-Urteil von 1975

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B. Das § 218-Urteil von 1975 (BVerfGE 39,1) I. Das Urteil

1. Sachverhalr 1 Die sozial-liberale Koalition hatte durch Gesetz vom 18.6.1974 das AbtreibWlgsstrafrecht geändert. Kernstück der Reform war die sog. FristenregelWlg in § 218a StGB. Danach sollte der von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch nicht strafbar sein, wenn die Schwangere darin eingewilligt hatte Wld wenn seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen verstrichen waren. Diese NeuregelWlg griffen 193 BWldestagsabgeordnete sowie die LandesregierWlgen von Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, des Saarlandes Wld Schleswig-Holsteins gemäß Art. 93 I Nr.2 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG mit einem Antrag auf verfassWlgsrechtliche Überprüfimg an (abstrakte Normenkontrolle).

2. Prozeßgeschichte und Entscheidungsgründe Per einstweiliger AnordnWlg stoppte das BVerfG ZWlächst das Inkrafttreten des neuen Rechts. 22 Am 25.2.1975 erging das Urteil des ersten Senats in der Hauptsache. Danach erklärte das Gericht den neuen § 218a StGB mit sechs zu zwei Stimmen für verfassWlgswidrig. Aus Art. 2 11 1 in VerbindWlg mit Art. 1 I GG ergebe sich - so die Senatsmehrheit - eine Pflicht des Staates, sich schützend vor das im Mutterleib sich entwickelnde Leben zu stellen. Der Gesetzgeber sei verpflichtet, das Mittel des Strafrechts einzusetzen, wenn der von der VerfassWlg gebotene Schutz auf keine andere Weise erreicht werden könne. 23

11. Die Urteilsschelte

Bereits einen Monat vorher, nämlich am 26.1.1975 hatten ARD Wld ZDF übereinstimmend gemeldet, Karlsruhe werde die FristenregelWlg für verfassWlgswidrig erklären. Zwei der acht Richter seien noch damit beschäftigt, an ihren Sondervoten zu schreiben. 24 Diese MeldWlg konnte zwar nicht verifiziert Nach BVerfGE 39, 1 (3ff.). BVerfGE 37, 324. 23 Zu weiteren Einzelheiten siehe: BVerfGE 39, 1. 24 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 28.1.1975; Stuttgarter Zeitung vom 28.1.1975; Neue Züricher Zeitung vom 28.1.1975. Nach Räußler, Konflikt, S. 66f., sickerte diese 21

22



36

Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

werden, war aber dennoch das Startsignal fiir die Diskussion über ein Urteil, das noch nicht gesprochen war.

1. Urteilsschelte durch Private In den konservativen Zeitungen wurde das Urteil begrilßf5 , in den regierungsnahen Blättern stieß es auf scharfe Ablehnung. In der SZ schrieb Robert Leicht, das Urteil stelle "verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch eine eindeutige Kompetenzüberschreitung dar. ,,26 Bei Hans Schueler in der Zeit hieß es, das Karlsruher Urteil wirke "weniger als richterliche Erkenntnis denn als apodiktische Parole vom Feldhermhügel des Naturrechts. ( ... ) Wer hätte geglaubt, das Bundesverfassungsgericht könnte seine Funktion, den Gesetzgeber auf die Einhaltung der äußersten Grenzen legislativer Freiheit zu kontrollieren, je so mißverstehen, daß es sich selber zum Sittenwächter der Nation erhöbe?,,27 Noch schärfer, knapper und plakativer formulierte der Stern: "Jetzt droht dem Gericht die Zweckentfremdung als Leichenhalle fiir das Grundgesetz. ,,28 Für den Tag der Urteilsverkündung hatten mehrere Frauenorganisationen und alternative Gruppen in Karlsruhe und anderen deutschen Großstädten Demonstrationen angemeldet. Ein großes Polizeiaufgebot schützte die Bannmeile um das Gericht. Auf der zentralen Kundgebung in Karlsruhe sprach der DGB-Landesvorsitzende von Baden-Württemberg, GÜllter Erlewein. In Kenntnis der ihm von einem Boten überbrachten Urteilsbegründung vermied er es sorgfältig, die Emotionen anzuheizen. Er äußerte unbedingten Respekt vor dem höchsten Gericht der Republik, lobte die Gewaltenteilung und übte Kritik in der Sache. 29 In der Nacht vom 4. auf den 5. März 1975 wurde auf das Gerichtsgebäude in Karlsruhe ein Bombenanschlag verübt, bei dem das Glasfoyer zerstört wurde und ein hoher Sachschaden entstand. In einem Brief bekannte sich eine ,,revolutionäre Frauengruppe" zu dem Anschlag. Vermutet wurde aber auch ein

Nachricht wahrscheinlich beim Presseempfang des BVerfU durch. Das BVerfU reagierte mit der Erklärung, daß es sich bis zur Urteilsverkündung nicht zum Inhalt der Rundfunk- und Presseberichte äußern werde (nach Süddeutsche Zeitung vom 29.1.1975). 25 Z.B. Die Welt vom 26.2.1975. Urteilslob äußerten auch die Deutsche Bischofskonferenz, das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken und die Bundesärztekammer (nach Süddeutsche Zeitung vom 26.2.1975). 26 Süddeutsche Zeitung vom 26.2.1975. 27 Die Zeit vom 28.2.1975. 28 Heiner Bremer, in: Stern Nr. 4/1975 vom 6.2.1975. 29 Nach Süddeutsche Zeitung vom 26.2.1975.

B. Das § 218-Urteil von 1975

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Zusammenhang zur Terrorszene. Aufgeklärt wurde dieser Fall gewalttätiger Urteilsschelte bis heute nicht. 30 2. Amtliche Urteilsschelte Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) entschloß sich bereits Anfang Februar, auf das voraussehbare Scheitern eines für ihn bedeutenden Refonnvorhabens zu reagieren. In einem Fernsehinterview mit dem Nachrichtenmagazin ,,Panorama" kritisierte er das noch nicht verkündete Urteil. Es müsse einen schon sehr wundern, daß das BVerfG zu einem anderen Ergebnis komme als die Obersten Gerichte in Österreich, Frankreich und in den USA. Er fürchte, es handele sich um ein ,,zu weit ( ... ) vorgetriebenes Richterrecht", sagte Schmidt. Auch andere Entscheidungen elWeckten den Eindruck, daß das BVerfG sich auf dem ,'pfad des Ersatzgesetzgebers" befinde. Daher sei es abzusehen, daß in den nächsten Monaten die Frage eingehend erörtert werde, nach welchen Kriterien eigentlich die obersten Richter ausgewählt und bestellt werden. 31 Auch die Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Liselotte Funcke (FDP), wartete den Verkündungstermin nicht ab. Bereits am 28.1.1975 sagte sie: Die Politiker und Parlamente müßten sich einem Spruch des Gerichts, wenn er gegen sie gefällt werde, beugen. ,,Die betroffenen Frauen aber würden einen solchen Spruch nicht akzeptieren und nicht respektieren". Sie würden wie bisher illegal das tun, was sie für richtig hielten, und andere würden weiter an der Strafbarkeit verdienen. 32

Dazu Häußler, Konflikt, S. 68 m.w.N. Zitate nach Häußler, Konflikt, S. 67; vgl. auch Süddeutsche Zeitung vom 4.2.1975. Schmidts Äußerung fiel auch vor dem Hintergrund eines zunehmend gespannten Verhältnisses zwischen sozial-liberaler Regierung und dem Verfassungsgericht. Die Unstimmigkeiten hatten bereits in der Regierungszeit Willi Brandts begonnen. Dessen SPDIFDP-Koalition befürchtete lange Zeit, das Gericht werde den Grundlagenvertrag mit der DDR für verfassungswidrig erklären. Noch während der Beratungen des Gerichts soll ein führender SPD-Politiker - wahrscheinlich Horst Ehmke - geäußert haben, von den "acht Arschlöchern in Karlsruhe" werde man sich nicht die Ostpolitik kaputt machen lassen (dazu Häußler, Konflikt, S. 54ff.). Thren Höhepunkt erreichte die Verstimmung im Jahre 1978, als das BVerfG in seinem Ersatzdiensturteil die Kriegsdienstverweigerung per Postkarte für unzulässig erklärte (BVerfGE 48, 127). Daraufhin setzte sich der Spiegel in einer Serie kritisch mit dem BVerfG auseinander und vermutete eine Allianz der ,,roten Roben in Karlsruhe" mit den "schwarzen Politikern in Bonn" (dazu ausführlich Häußler, Konflikt, S. 64ff.). 32 Nach Süddeutsche Zeitung vom 28.1.1975. 30 31

Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

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m. Das Nachspiel 1. Ablehnung der Vorabkritik durch Politilcer, Richter und Medien Als Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel (SPD) wn eine Stellungnalune zu dem vorab bekanntgewordenen Urteil gebeten wurde, entschied er sich für einen anderen Weg als der Regierungschef: ,,Als Bundesminister der Justiz lehne ich jeden Kommentar zu den fraglichen Meldungen ab. Es ist selbstverständlich, daß sich die Bundesregierung zu einem Urteil des BVerfG erst nach seiner Verkündung äußert. ,,33 Während des gesamten Verfahrens wahrte Vogel absolute Loyalität mit dem Verfassungsgericht. Nach der Urteilsverkündung erklärte er im Namen der Bundesregierung, daß er den Gründen der Entscheidung den Respekt entgegenbringe, auf den das BVerfG als oberstes Verfassungsorgan Anspruch habe. Nach dem Bombenanschlag fuhr der Justizminister unverzüglich nach Karlsruhe, wn dort die Solidarität der Bundesregierung mit dem höchsten deutschen Gericht zum Ausdruck zu bringen. 34

In der Haushaltsdebatte vom 19.3.1975 kam die Vorabkritik ebenfalls zur Sprache. Franz-Josef Strauß eröffnete die Angriffe der CDU/CSU-Opposition auf den Bundeskanzler:,,(... ) Thre Aussagen sind schon wieder eine Art präventiver Einschüchterung ( ... ) Auch für uns gab es Urteile, die uns nicht paßten; man wäre ein Heuchler, wollte man das leugnen. Aber im Kern geht es bei ihren Angriffen zum Rollenverständnis wn die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht dazu da sei, politische Entscheidungen der parlamentarischen Mehrheit zu ändern. Ja, das Verfassungsgericht ist, wenn wir eines behalten wollen, auch dafür da. Sonst brauchen wir nämlich keines.,,3s Der CDU-Abgeordnete und spätere Bundespräsident Karl Carstens wies die Kritik des Bundeskanzlers mit folgendem Argwnent zurück: ,,Es ist ein entscheidender Unterschied, ob ein Bürger unseres Landes, ein Hochschullehrer, ein Journalist oder wer immer sich kritisch mit den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts auseinandersetzt oder ob Sie, der Bundeskanzler oder die Bundesregierung das tun, denn das Bundesverfassungsgericht ist in der Lage, sich nicht wehren zu können, wenn es gescholten wird. Wenn Sie, der Bundeskanzler oder die Bundesregierung es schelten, könnte leicht der Eindruck entstehen, als wollten Sie das BVerfG unter Druck setzen. Diesen Eindruck sollten Sie unter allen Umständen vermeiden. ,,36 33 Nach DRiZ 1975, RI, S. 12; vgl. Süddeutsche Zeitung vom 28.2.1975. 34 Nach Süddeutsche Zeitung vom 26.2.1975; Häußler, Konflikt, S. 68. 35

BT-Prot. vrr, S. 10975.

36 BT-Prot. vrr, S. 11020f.

B. Das § 218-Urteil von 1975

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Helmut Schmidt ließ diese Angriffe nicht Wlbeantwortet. Er bestritt, überhaupt Urteilsschelte geübt zu haben. Er habe dem BVerfG nur geraten, sich mehr Gedanken zu machen über "die Zweckmäßigkeit von etwas mehr ZurückhaltWlg bei der Schaffimg von Richterrecht. " Das sei eine "abstrakte, nicht auf irgendein konkretes Urteil gemünzte BemerkWlg. Das letzte Urteil war damals noch gar nicht einmal ergangen. Es war gemIt, aber noch nicht verkündet." Gewissermaßen hilfsweise reklamierte der Kanzler aber auch ein Recht auf Urteilskritik rur sich Wld wies die UnterscheidWlg von Carstens zurück: "Genauso wie Gesetze, die ordnWlgsgemäß zustande gekommen sind, gescholten Wld kritisiert werden, genauso steht es jedem Staatsbürger frei, auch Urteile des VerfassWlgsgerichts zu kritisieren oder - wie man Wlter Juristen etwas feiner sagt - zu schelten (... ) Sie mögen das glauben oder nicht. Ich stehe hier Wld behaupte: Es ist mein Recht wie das Recht von 60 Millionen Bürgern, solche Kritik zu üben. ,037 Vertreter der Richterschaft lehnten Kritik an noch nicht verkündeten Urteilen als WlZUlässig ab. Nach einer Vorstandssitzung des Deutschen RichterbWldes (DRB) am 21.2.1975, also noch vor der VerkündWlg des § 218-Urteils, sagte dessen Vorsitzender Albert von Kenne auf einer Pressekonferenz: ,,Der Deutsche Richterbund wendet sich gegen jede Form von Urteilsspekulationen und Vorauskritik von Urteilen." In der Bürgerschaft könne dadurch nämlich der Eindruck der Manipulation entstehen. Fast einhellig sprach sich die Presse gegen die Vorabkritik des BWldeskanzlers aus. 38 Auf Widerspruch stieß neben den Ausfilhnmgen von Bundeskanzler Schmidt auch die Aussage von Liselotte Funcke: ,,Aber der Aufforderungsgehalt, den eine solche Erklärung aus prominentem Munde zwangsläufig gewinnt, ist fatal. Er widerspricht dem Gebot politischer Gesittung, da Sprüche des Bundesverfassungsgerichts, weil Rechts-Sprüche, auch von den Andersmeinenden akzeptiert und respektiert werden müssen." 39

Schmidt-Zitate nach BT-Prot. VII, S. 11012. Z.B. Robert Leicht, in: Süddeutsche Zeitung vom 5.2.1975: ,,'Die Bundesverfassungsrichter sollen ihre Hände von der Politik lassen!' Das fordern gegenwärtig am lautesten jene, die nicht davor zurückscheuen, ihrerseits in ein schwebendes Gerichtsverfahren einzugreifen." 39 Friedrich Karl Fromme, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.1.1975. 37

38

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

2. Intervention des Verfassungsgerichtspräsidenten beim Deutschen Presserafo

Gut ein Jahr nach Verkündung des Abtreibungsurteils befaßte sich der Deutsche Presserat mit einer Beschwerde des Verfassungsgerichtspräsidenten Ernst Benda wegen der vorzeitigen Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen vor deren offizieller Verkündung. Benda sah in der Vorabkritik in den Medien "eine Gefährdung unabhängiger Rechtsprechung" und befiirchtete ferner, daß die isolierte Bekanntgabe eines Beratungsergebnisses ,,in aller Regel ein verfalschtes Bild von der Entscheidung zeichnen wird." Benda und auch der Deutsche Richterbund und die Versammlung aller in Karlsruhe akkreditierten Journalisten sahen eine gesetzliche Regelung nur als ultima ratio an und drängten dafiir auf eine Empfehlung des angesehenen Presserates. Mit großer Mehrheit nahm der Deutsche Presserat die Anregung Bendas auf und ergänzte den Pressekodex über die Gerichtsberichterstattung um folgenden Passus: "Über Entscheidungen von Gerichten soll nicht ohne schwerwiegende Rechtfertigungsgründe vor deren offizieller Bekanntgabe berichtet werden. ,,41

IV. Fazit

Bei der Diskussion um das § 218-Urteil ergaben sich einige Besonderheiten. Neu war der Vorgang der Vorabkritik eines noch nicht gesprochenen Urteils, also der Eingriff in ein schwebendes Gerichtsverfahren. Diese Vorabkritik stieß bei einer Mehrzahl von Politikern, Journalisten und Richtern auf Ablehnung. Es bildete sich ein Konsens über die Unzulässigkeit verfrühter Kritik heraus, der zur Aufnahme einer entsprechenden Bestimmung in den Pressekodex führte. Damit zeigten die Richter, daß sie eine freiwillige Selbstkontrolle der Presse fiir sinnvoller halten als die Einführung eines Strafgesetzes gegen Urteilsschelte. Medien und Politiker kritisierten das Urteil scharf. Besondere Beachtung fand die Aussage der Bundestagsvizepräsidentin Funcke, die betroffenen Frauen würden das Urteil nicht respektieren. Rechtlich aufschlußreich ist die Debatte zwischen Karl Carstens und Helmut Schmidt darüber, ob Amtsträgern bei der Urteilsschelte mehr Zurückhaltung obliegt als Privatleuten. Das Wortgefecht zwischen den beiden Politikern zeigt, daß diese Frage klärungsbedürftig ist.

40 41

Nach DRiZ 1976, RI, S. 17. Ziffer 13 Satz 5 Pressekodex.

C. Das Frankfurter Behindertenurteil von 1980

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C. Das Frankfurter Behindertenurteil von 1980 (LG Frankfurt, NJW 1980, S. 1169) I. Das Urteil 1. Sachverhalt42

Klägerin in dem einzigen in diesem Teil dargestellten Zivilprozeß war eine ältere Dame. Sie hatte zum Preis von 1512 DM eine dreiwöchige Reise nach Griechenland gebucht. Mit dem Hotel war sie jedoch alles andere als zufrieden. Das Wasser sei stundenweise ausgefallen, die Klimaanlage habe oft versagt. Die Frau bemängelte auch den schlechten Service, ferner seien Hotel und Strand verschmutzt gewesen. Ein gewöhnlicher Fall aus dem Reisevertragsrecht, wäre da nicht noch eine weitere Beschwerde der Klägerin gewesen: Unter den 500 Hotelgästen habe sich eine größere Gruppe von körperlich und geistig schwerbehinderten Menschen aus Schweden befimden, die durch ihren Anblick und ihr Verhalten den Urlaubsgenuß zusätzlich geschmälert hätten. Mit diesen Argumenten klagte die ältere Dame auf Minderung des Reisepreises um die Hälfte. 2. Prozeßgeschichte und Entscheidungsgründe

Das AG Frankfurt sprach der Klägerin aufgrund der mangelhaften Dienstleistungen des Hotels den geltend gemachten Anspruch zu, ohne auf die Anwesenheit der Behinderten einzugehen. Der Reiseveranstalter ging in Berufimg. Mit dem Urteil des LG Frankfurt43 war gleichzeitig das Ende der Prozeßgeschichte erreicht, wölbt sich über dem Landgericht doch der "blaue Himmel". Die Kritiker hatten es also mit einem rechtskräftigen Urteil zu tun. Das LG unter Vorsitz des Richters Otto Tempel erörterte im Gegensatz zum AG ausfiihrlich, ob die Anwesenheit von Behinderten einen Reisemangel im Sinne der damals noch einschlägigen §§ 633, 634 BGB darstellt und kam dabei zu folgendem Ergebnis: ,,Auch die Anwesenheit einer Gruppe von jedenfalls 25 geistig und körperlich Schwerbehinderten stellt einen zur Minderung des Reisepreises berechtigenden Mangel dar. Es ist nicht zu verkennen, daß eine Gruppe von Schwerbehinderten bei empfindsamen Menschen eine Beeinträchtigung des Urlaubsgenusses darstellen kann. Dies gilt jedenfalls, wenn es sich um verun42

1169. 43

Nach Castendyk, Rechtliche Begründungen, S. 15; LG Frankfurt, NJW 1980. S. LG Frankfurt, NJW 1980, S. 1169.

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

staltete geistesgestörte Menschen handelt, die keiner Sprache mächtig sind, von denen einer oder der andere in unregelmäßigem Rhythmus unartikulierte Schreie ausstößt und gelegentlich Tobsuchtsanfälle bekommt. So wünschenswert die Integration von Schwerbehinderten in das normale tägliche Leben ist, kann sie durch einen Reiseveranstalter gegenüber seinen anderen Kunden sicher nicht erzwungen werden. Daß es Leid auf der Welt gibt, ist nicht zu ändern; aber es kann der Klägerin nicht verwehrt werden, wenn sie es jedenfalls während des Urlaubs nicht sehen will."

D. Die Urteilsschelte 1. Urteilsschelte durch Private In den Medien fand das ,,Behindertenurteil" ein sehr negatives und scharfes Echo. In der Süddeutschen Zeitung hieß es mit bitterer Ironie: Es sei zu begrüßen, "wenn es demnächst der Bundesgerichtshof als eine Beeinträchtigung des österlichen Urlaubsgenusses anerkennen würde, daß uns gewisse Urteile als Rechtsprechung zugemutet werden. Den fälligen Schadensersatz stiften wir gerne fiir ein absolut keimfreies Ferienhotel, in dem ausschließlich das Frankfurter Landgericht verkehren darf.,,44 Die Zeitschrift Touristik Aktuell schrieb, bei einer Lektüre der Urteilsgründe filhle sich der gesunde Menschenverstand "verhöhnt" und sah sich in die "Steinzeit sozialen Denkens" versetzt. Nach Meinung des Bischofs von Limburg verletzte das Urteil "den unantastbaren Kern des Lebensrechts behinderter Menschen." Ein Leserbriefschreiber filhlte sich an die "schrecklichen Juristen" im dritten Reich erinnert. 45 Ungewöhnlich ist, daß die öffentliche Empörung erst einige Wochen nach Bekanntwerden des Urteils ihren Höhepunkt erreichte. Im April hatte das Landgericht ein Hintergrundgespräch und eine Pressekonferenz veranstaltet, heizte damit den Konflikt aber eher an, als daß es ihn beruhigte. 46 Inzwischen hatte Ernst Klee, Zeit-Autor und Sprecher einer Behinderten-Initiative, fiir den 8.5. eine Demonstration vor dem Landgerichtsgebäude organisiert. Bereits im Vorfeld dieser Aktion waren Behindertengruppen aktiv gewesen, hatten Unterschriften gesammelt, Protestveranstaltungen organisiert, Kampflieder und Sprechchöre getextet. Die Demonstration, die in In- und Ausland viel beachtet 44 Süddeutsche Zeitung vom 10.4.1980. 45

46

Zitate nach Die Zeit vom 1.5.1981. Siehe unten Erster Teil C m 1.

C. Das Frankfurter Behindertenurteil von 1980

43

wurde, spiegelte die Wut der Behinderten als Urteilsopfer eindringlich wider. 47 Einige Teilnehmer der Demonstration trugen Davidsterne mit einem Rollstuhlemblem. Auf Transparenten waren Kommentare zu lesen wie "Spendet für die Aktion Sorgenjustiz" oder ,,Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, aber nicht vor dem Richter".48 Auch später riefen verschiedenste Aktionen das Interesse an dem Fall immer wieder wach. Am 3.6.1980 übergab eine Delegation schwedischer Behindertenverbände dem Staatssekretär im Justizministerium de With eine Liste mit mehr als 150 000 Protestunterschriften. Ebenfalls im Juni veröffentlichte der Publizist Ernst Klee ein Buch über den Prozeß und seine Folgen. Eine Münchener Schule protestierte mit einer Aktionswoche "Gemeinsam leben lernen" gegen das Urteil. Das Frankfurter Schauspiel verlieh dem Richter Tempel zum Buß- und Bettag die "Goldene Krücke" für behindertenfeindliches Verhalten. Eine Initiative, an der auch der Kabarettist Dieter Hildebrandt und die Schriftstellerin Ingeborg Drewitz beteiligt waren, sammelte Geld, das sie dem V orsitzenden des LG Frankfurt ,,für Fortbildungszwecke in Behindertenfragen" überreichte. 49 So belegt dieser Fall eindrucksvoll, wie kreativ und vielfiiltig Urteilsschelte ausfallen kann. 2. Amtliche Urteilsschelte

Neben den von Politikern bereits gewohnten Reaktionen5o ist besonders die Reaktion des hessischen Justizministers Herbert Günther (SPD) erwähnenswert. Dieser saß als Dienstvorgesetzter der Frankfurter Richter zwischen zwei Stühlen. Die Bevölkerung forderte von ihm in zahllosen Protestbriefen eine klar formulierte Urteilsschelte, die Frankfurter Richter versprachen sich von ihm Loyalität und Unterstützung. Günther wählte einen Mittelweg, indem er in vorsichtigen Worten Kritik an der Entscheidung übte. Damit war der Vorsitzende Richter am LG Tempel nicht einverstanden und erhob gegen den Justizminister vor dem Hessischen Dienstgericht beim Landgericht Frankfurt eine Klage, die zum Präzedenzfall für die Zulässigkeit von Urteilsschelte durch den Dienstaufsichtführenden wurde. Zum Verständnis der Entscheidung seien die Äußerungen des Ministers wörtlich zitiert. 47 Vgl. Süddeutsche ZeitWlg vom 9.5.1980. 48 Nach Castendyk, Rechtliche Begründungen, S. 18f. 49 Quellen: Die Zeit vom 1.5.1981; Süddeutsche ZeitWlg vom 22.7., 31.7.1980; Castendyk, Rechtliche Begründungen, S. 19. 50 So bezeichnete etwa der nordrhein-westflilische Sozialminister Friedhelm Farthmann (SPD) das Urteil als "schlechthin skandalös" (Nach: Die Zeit vom 1.5.1981).

44

Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

In einer Presseinfonnation vom 22.4.1980 wies der Minister auf die vielen Beschwerden hin, die nach dem Frankfurter Urteil bei ihm eingegangen seien Wld verlangte, daß Behinderte vollwertige Glieder der Gesellschaft werden müßten. ,,Allen staatlichen Institutionen sei zur Aufgabe gemacht, diesen Prozeß zu fördern, die notwendigen Hilfen zu geben Wld sich allen gegenläufigen Tendenzen entgegenzustellen.,,51 In einem Fernsehinterview mit der Hessenschau sagte Günther: "lch fiihle mich dadurch [durch das Urteil, d.V.] betroffen, weil wir WlS ja seit Jahren außerordentliche Mühe geben, auch im Bereich der Landespolitik, den Behinderten eine Chance zur WiedereingliedefWlg zu geben Wld dieses Urteil, zumindest einmal wie es als EinzelfallentscheidWlg dasteht, bringt Fragezeichen in diese unsere BemühWlgen." Dem Hessischen Rundftmk gegenüber äußerte sich Günther am 22.4.1980 wie folgt: ,,Das Beruhigende oder BelUlruhigende ist bei Juristen, daß sie auch Menschen sind. Das bedeutet also, daß sie Fehlern Wlterliegen. Irrtümern Wlterliegen ( ... ) Wld es bedeutet ganz sicherlich, daß auch der Richter, der hier entschieden hat, dies für sich in Anspruch nehmen wird Wld kann Wld muß, daß seine EntscheidWlg kritisiert wird, werden kann Wld daß er möglicherweise einen Rechtsfehler begangen hat. ( ... ) ich ennWltere gerade diejenigen, die in ähnlichen Fällen klagen, eine höchstrichterliche EntscheidWlg herbeizuführen. Leider geht das (... ) im vorliegenden Fall nicht, weil es eine zweitinstanzliche EntscheidWlg war hier in Frankfurt, die rechtskräftig geworden ist." Schließlich mußte der Minister die Protestbriefe beantworten. In seinem Brief versuchte er es erneut mit einer verbalen GratwandefWlg: ,,Für die Initiative, die Sie angesichts des in Rede stehenden Urteils ergriffen haben, bin ich Ihnen sehr dankbar. ( ... ) Ich darf Ihnen versichern, daß ich für die Betroffenheit Verständnis habe, die das oben genannte Urteil bei Ihnen ausgelöst hat ( ... ) Ich versichere Ihnen, in meinem Geschäftsbereich im Rahmen der mir zur VerfiigWlg stehenden Möglichkeit für die strikte EinhaltWlg dieser VerpflichtWlg [gemeint ist die VerpflichtWlg zur EingliedefWlg der Behinderten, d.V.] Sorge zu tragen ( ... )" Im übrigen bat der Minister um Verständnis dafür, daß er sich zu dem konkreten Urteil nicht äußern könne. Die richterliche Unabhängigkeit verbiete ihm die kritische BewertWlg von Urteilen, selbst wenn sie allgemein auf Unverständnis gestoßen seien. 52 Das hessische Dienstgericht für Richter beim LG Frankfurt gab Tempel recht. Es stellte auf seine Klage hin fest, daß alle oben zitierten ÄußefWlgen des 51 Dieses und die folgenden Zitate sind der Entscheidung des DG Frankfurt, NJW 1981, S. 930 (931f.), entnommen. 52 Nach Süddeutsche Zeitung vom 23.4.1980.

C. Das Frankfurter Behindertenurteil von 1980

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Justizministers seine richterliche Unabhängigkeit verletzt hätten und damit als unzulässige Maßnahmen der Dienstaufsicht gemäß §§ 26 DRiG, 50 HessRiG einzustufen seien. S3 Der Inhalt dieser Entscheidung wird im Hauptteil ausführlich dargestellt und besprochen. S4

m. Das Nachspiel Das Nachspiel im Frankfurter Behindertenurteil inszenierte vor allem der Vorsitzende Richter am LG, Otto Tempel. Zunächst reagierte er auf die Urteilsschelte mit dem Gang an die Öffentlichkeit. Als dies nicht den gewünschten Erfolg brachte, setzte er sich mit allen juristischen Mitteln gegen die Kritik zur Wehr. 1. Hintergrundgespräch und Pressekonferenz des Landgerichts

Die Öffentlichkeitsarbeit des LG Frankfurt bildete im vorliegenden Fall eher ein Zwischenspiel. Der Höhepunkt der öffentlichen Empörung stand noch bevor, als das Gericht am 22.4.1980 solche Pressevertreter zu einem ,,Hintergrundgespräch" einlud, von denen man sich eine ausgewogene Berichterstattung erhoffte. Zwei Tage später wurde dann eine Pressekonferenz mit dem Ziel einberufen, die ,,Mißverständnisse" aus dem Weg zu räumen. Dabei sagte Richter Tempel: "Wer in ein Hotel fahrt zur Erholung, braucht nicht damit zu rechnen, daß eine solche Masse von geistig Behinderten auftaucht, daß das Hotel sozusagen in ein Versebrtenheim umfimktioniert wird. ,,55 Er betonte, das Urteil richte sich nicht gegen Behinderte an sich, sondern nur gegen geistig schwer Behinderte in größerer Zahl, die den Kontakt zur Umwelt ohnehin nicht fmden könnten. S6 Diese Aussage trug zur Klärung wenig, zur Verschärfung der Debatte einiges bei. Denn gerade die Unterscheidung zwischen schwer und weniger schwer Behinderten wurde von der öffentlichen Meinung moralisch nicht akzeptiert. Vor allem aber war auf Unverständnis gestoßen, daß die Anwesenheit von Behinderten überhaupt als Beeinträchtigung gewertet werden konnte, wozu Tempel nicht Stellung nahm. Das waren die Gründe dafür, daß in diesem Fall der Gang an die Öffentlichkeit fehlschlug. S3 LG Frankfurt, NJW 1981, S. 930. Auch diese Entscheidung fand ein negatives Presseecho, vgl. Die Zeit vom 1.5.1981. S4 Siehe unten Dritter Teil B m 1 c dd (5) (e) (aa). ss Nach Die Zeit vom 2.5.1980. S6 Nach Süddeutsche Zeitung vom 25;4.1980; Die Zeit vom 2.5.1980.

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

2. Juristische Schritte gegen die Urteilsschelte

Durch die mißglückte Öffentlichkeitsarbeit war Richter Tempel weiter Wlter Druck geraten. Er erhielt erboste Anrufe Wld sogar MorddrohWlgen, sein Haus stand Wlter Polizeischutz. ,,Religionslehrer nehmen statt der Bibel schon das Urteil durch", beklagte er sich. 57 Schließlich verlegte sich Tempel auf rechtliche Schritte58 Wld demonstrierte damit, auf welche Weise juristisch gegen Urteilsschelte vorgegangen werden kann. Dem Richter gelang ein Doppelerfolg, der sein Ansehen in der Öffentlichkeit indes weiter beschädigte. Wie bereits dargestellt griff Tempel vor dem Dienstgericht erfolgreich die Urteilsschelte des hessischen Justizministers an. Er ging zusätzlich mit einer UnterlassWlgsklage gegen zwei Passagen in dem Buch des Publizisten Ernst Klee vor. In der einen wurde Tempel der Lüge bezichtigt, in der anderen wurde er mit einer Aussage zitiert, die gemacht zu haben er bestritt. Im August 1980 erwirkte er eine einstweilige Verfiigoog Wld entschied am 7.10.1980 auch den Pr6zeß in der Hauptsache für sich. Dieses Verfahren wurde von Behindertengruppen Wld den Medien beobachtet. So empörte sich der Moderator Franz Alt in der FernsehsendWlg ,,Report": ,,Derjenige Richter, der mit seinem Urteil als erster die Behinderten beleidigt hat, will jetzt auch noch einem Journalisten verbieten, mit Tatsachen gegen das Urteil zu protestieren. Wer ist hier eigentlich geistig behindert? Und vor allem, wer ist hier moralisch behindert?,,59 Durch das große Wld einhellig kritische Medienech060 erwies sich Tempels juristischer Erfolg als Pyrrhussieg. IV. Fazit Das Behindertenurteil zeigt ZWlächst die vielfiUtigen ErscheinWlgsformen privater Urteilsschelte. Kritik, Demonstrationen, Aktionen in Schulen Wld satirische PreisverleihWlgen gingen zumeist von Privatleuten aus Wld ließen die Politiker in dieser Diskussion ausnahmsweise zu Randfiguren werden. Die Kritik war nicht nur vielfiiltig sondern auch sehr scharf. BezeichnWlgen der 57 Nach Der Spiegel 42/1980 vom 13.10.1980; Die Zeit vom 1.5.1981. 58 Inzwischen hatte auch die Klägerin gerichtlich durchgesetzt, daß ihr Name in der

Prozeßdokumentation von Ernst Klee nicht genannt werden durfte. Bei der mündlichen Verhandlung waren im Gerichtssaal ca. 50 Behinderte anwesend (nach Süddeutsche Zeitung vom 24.7.,31.7.1980). 59 Zitiert nach: Die Zeit vom 1.5.1981. 60 Vgl. z. B. Süddeutsche Zeitung vom 11.112.10.1980; Die Zeit vom 1.5.1981; Der Spiegel Nr. 42/1980 vom 13.10.1980.

D. Das Soldatenurteil von 1989

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Richter als "geistig behindert" oder als "schreckliche Juristen" im Zusammenhang mit einem Urteil werden auf ihre rechtliche Zulässigkeit zu untersuchen sein. Aus dem Bereich der amtlichen Kritik entwickelte sich der Rechtsstreit zwischen dem Richter Tempel und dem hessischen Justizminister Günther zum Präzedenzfall zur Zulässigkeit von Urteilsschelte durch den Inhaber der Dienstaufsicht. Bemerkenswert ist ferner, daß der angegriffene Richter sich sowohl durch den Gang an die Öffentlichkeit als auch auf juristischem Wege gegen die seiner Ansicht nach unberechtigte Kritik zur Wehr setzte. Während die Öffentlichkeitsarbeit gänzlich fehlschlug, war Tempel juristisch gleich doppelt erfolgreich. Sein damit verbundener weiterer Ansehensverlust wirft indes die Frage auf, ob die Beschreitung des Rechtsweges eine adäquate Reaktion auf Urteilsschelte ist.

D. Das Soldatenurteil von 1989 (LG Frankfurt, StV 1990, S. 73) I. Das Urteil 1. Sachverhalt61

An der Frankfurter Friedrich-Ebert-Schule fand am 31.8.1984 eine Veranstaltung zum Thema ,,Frieden erhalten - Frieden sichern" statt. Schwerpunktthema war die ,,nukleare Komponente der Sicherheitspolitik". Vor dem Hintergrund des politisch heftig umstrittenen ,,NATO-Doppelbeschlusses" wurde vor etwa 100 Schülern im Alter von 15 und 16 Jahren zunächst ein Film vorgeführt, anschließend fand eine Podiumsdiskussion statt. Dazu hatte die verantwortliche Lehrerin Gäste eingeladen, die für eine spannende und kontroverse Diskussion bOrgen sollten. Als Vertreter der Bundeswehr trat der Hauptmann und Jugendoffizier Witt auf. Als Konterpart fungierte der Arzt Peter Augst, Mitglied der ,,Ärzteinitiative gegen den Atomkrieg". Dritter Diskussionsteilnehmer war der evangelische Pfarrer Chamberlain. Zunächst sahen sich die Schüler den Fernsehfilm ,,Logik des Schreckens" an. Dieser Film schildert eindringlich, daß das riesige globale Atomwaffenpotential 61 Nach LG Frankfurt, NJW 1988, S. 2683, und mündlicher Urteilsbegründung von LG Frankfurt, Urteil vom 20.10.1989, abgedruckt in: Frankfurter Rundschau vom 28.10.1989.

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

Wld dessen unkontrollierte Weiterverbreitung zu einer nuklearen Katastrophe fUhren könnte. Am Beispiel des hessischen Ortes Hattenbach werden die Verteidigoogsstrategien der Militärbündnisse dargestellt. Es entsteht das Szenario eines auf Deutschland begrenzten Atomkriegs, durch den sämtliche Bewohner des Dorfes getötet würden. Nach dem Ende des Filmes herrschte im Saal Stille. ,,Da kann man nur noch fortlaufen", rief schließlich ein Schüler Wld brach das Schweigen. Daraufhin eröffnete Hauptmann Witt die Podiumsdiskussion. Er griff den Fluchtgedanken des Schülers auf Wld sagte, weglaufen mache wenig Sinn. denn in Deutschland sei man sicherer als irgendwo anders. Er stellte das sicherheitspolitische Konzept von BWldeswehr Wld NATO dar Wld befiirwortete angesichts der BedrohWlg durch den Warschauer Pakt die StationiefWlg neuer Mittelstreckenraketen in Deutschland. Seine Position belegte Witt mit viel Zahlenmaterial. Anschließend kam Augst zu Wort. Er hatte nach eigener Aussage das Gefühl, daß die Schüler durch den nüchternen Vortrag des Jugendoffiziers "eingelullt" worden seien Wld wählte deshalb eine schärfere Gangart. In einem Atomkrieg gebe es kein Entrinnen, sagte er Wlter Hinweis auf den Fluchtgedanken des Schülers. Vielmehr würden im Falle eines atomaren Unfalls die Lebenden die Toten beneiden. Sodann wandte sich Augst seinem Hauptthema zu, der Frage nach der Berechtigoog militärischer Gewalt. Im Krieg, so fiihrte er aus, müßten Menschen als Soldaten etwas tun, das für sie im normalen Leben Wldenkbar sei, nämlich Menschen töten - Wlter Umständen in Massen. Das sei in jeder Armee so, da gebe es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen US-Armee, Roter Armee, Volksarmee oder BWldeswehr. Damit die Soldaten zur Tötung bereit seien, würde ihnen vor allem in den ersten drei Monaten drillmäßig das Prinzip von Befehl Wld Gehorsam beigebracht, wodurch die natürliche TötungshemmWlg zurückgedrängt werde. Wenn die Schüler zur BWldeswehr gingen, könnten sie also im Kriegsfall zu Mördern werden. Im folgenden spitzte Augst seine MeinWlg noch weiter zu. Die folgenden vier wörtlichen Aussagen bildeten den späteren Gegenstand des Strafverfahrens. "Jeder Soldat ist ein potentieller Mörder", sagte Augst ZWlächst an den Jugendoffizier gewandt, "auch Sie, Herr Witt". Witt forderte Augst daraufhin erbost auf, diese persönliche Beleidigoog zurückZWlehmen, was der Arzt jedoch ablehnte: "Ich stehe zu dem, was ich gesagt habe, weil jeder Soldat ein potentieller Mörder ist Wld weil Sie Soldat sind." Im weiteren Verlauf seines Vortrags fuhr Augst fort: ,,Bei der BWldeswehr gibt es einen Drill zum Morden über 15 Monate lang, besonders in den ersten drei Monaten." Nach dem Ende der Diskussion fiel dann die vierte inkriminierte Aussage. Schüler, Lehrer Wld Diskussionsteilnehmer standen noch

D. Das Soldatenurteil von 1989

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in kleinen Gruppen zusammen, als Augst und Witt erneut aneinandergerieten. ,,Für Sie noch einmal zwn Mitschreiben, Herr Witt", sagte der Arzt. ,,Die Bundeswehr bildet zwn Morden aus, insbesondere in den ersten drei Monaten. So, und jetzt gehen Sie vor Gericht, ich freue mich schon darauf." 2. Prozeßgeschichte 62 Hauptmann Witt tat wie ihm geheißen und brachte damit eine Prozeßlawine ins Rollen. Der Fall beschäftigte sechsmal die Gerichte, wobei das vierte Urteil in dieser Sache in dieser Arbeit im Mittelpunkt steht, da es bei den Medien und der Politik das größte Echo fand. In erster Instanz entschied das Amtsgericht Frankfurt. Es verurteilte den Angeklagten Augst am 4.9.1986 wegen Volksverhetzung (§ 130 StGB) und Beleidigung (§ 185 StGB) zu einer Geldstrafe ("Soldatenurteil I"). Augst ging erfolgreich in Berufung, am 8.12.1987 sprach ihn die 14. Strafkammer des LG Frankfurt frei ("Soldatenurteil 11,,).63 Auf die Revision der Staatsanwaltschaft und des Bundesministers der Verteidigung verwies das OLG Frankfurt den Fall am 2.12.1988 zur erneuten Entscheidung an das LG Frankfurt zurück. Das OLG bemängelte dabei nicht den Freispruch, sondern nur dessen Begründung: Es vermißte Ausführungen zwn objektiven und subjektiven Tatbestand des § 185 StGB. Die Rechtfertigung nach § 193 StGB hätten die Richter zu wenig auf den Sachverhalt gestützt ("Soldatenurteil III,,).64 Nach einer sieben Tage langen Verhandlung bestätigte die 29. Strafkammer des LG Frankfurt unter Vorsitz des Richters Heinrich Gehrke den Freispruch des Angeklagten Augst, sprach damit das berülunt gewordene "Soldatenurteil IV".6s Erneut legten die Staatsanwaltschaft und die beiden Nebenkläger - Witt und das Bundesverteidigungsministerium - gegen ein Landgerichtsurteil Revision ein. Das OLG hielt die Revision wegen der Verletzung materiellen Rechts für zulässig und begründet und verwies den Fall wiederum an eine andere Strafkammer des LG Frankfurt zurück. Es bemängelte insbesondere die Prüfung der Wahrnehmung berechtigter Interessen gemäß § 193 StGB ("Soldatenurteil V,,).66 Das Landgericht Frankfurt fällte schließlich das "Soldaten62

Dazu Castendyk, Rechtliche Begründungen, S. 261ff.

63 LG Frankfurt, NJW 1988, S. 2683. 64 OLG Frankfurt, NJW 1989, S. 1367ff.

6S LG Frankfurt, StV 1990, S. 73. Zur Zeit der öffentlichen Debatte lag lediglich die mündliche Urteilsbegründung vor, die in der Frankfurter Rundschau vom 28.10.1989 dokumentiert ist. 66 OLG Frankfurt, NJW 1991, S. 2032ff. 4 Mishra

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

urteil VI", indem es das Beleidigungsverfahren gegen Augst wegen geringer Schuld einstellte. 67

3. Entscheidungsgründe68 a) Zur Volksverhetzung gemäß § 130 StGB Nach den vom OLG aufgestellten Leitlinien lehnte die 29. Strafkammer des LG Frankfurt eine Verurteilung wegen Volksverhetzung ab. Bundeswehrsoldaten seien zwar als "Teil der Bevölkerung" im Sinne des § 130 StGB einzustufen. Es fehle aber am Tatbestandsmerkmal des Angriffes auf die Menschenwürde. Dieses liegt nur vor, wenn den Betroffenen das Lebensrecht abgesprochen wird, sie als unterwertige Menschen dargestellt werden. Der Angeklagte habe aber nur eine aus seiner Sicht schicksalhafte Zwangslage der Soldaten beschrieben, die schon logisch voraussetze, daß er sie nicht für ohnehin mordbereit hielt. b) Zur Beleidigung, §§ 185, 193 StGB Das Landgericht sah den objektiven und subjektiven Tatbestand der Beleidigung als gegeben an. Bei den Aussagen von Augst handele es sich um Werturteile. Beleidigungsfähige Adressaten seien bei der ersten und zweiten Äußerung der Hauptmann Witt, bei der dritten und vierten Aussage die Bundeswehr als Institution. Anschließend prüfte das LG die ,,Kundgabe der Mißachtung". Es hatte sich dabei an der Vorgabe der Revisionsinstanz zu orientieren, daß bereits dieses Merkmal im Lichte der Meinungsfreiheit auszulegen sei. Dennoch hielt es eine tatbestandliche Beleidigung für gegeben. In der Bezeichnung als potentieller Mörder liege die Behauptung, der Angesprochene sei unter bestimmten Umständen (im Krieg) zum unmoralischen Töten in der Lage. Ebenso sei die Bundeswehr in ihrem ethischen Selbstverständnis getroffen, indem ihr nachgesagt werde, sie bilde Soldaten zum unmoralischen Töten aus. Der Angeklagte handelte aber nach Ansicht des Gerichts in Wahrnehmung berechtigter Interessen. Wegen der schlechthin konstituierenden Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Demokratie spreche in einer die Öffentlichkeit berührenden Frage eine Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede. 69 Vor dem 67

68 69

Nach Süddeutsche Zeitwlg vom 7.11.1992. LG Frankfurt, StV 1990, S. 73ft'. Zur "Vermutwlgsformel" siehe ausführlich unten Zweiter Teil D I 4 b.

D. Das Soldaten urteil von 1989

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Hintergnmd des NATO-Doppelbeschlusses seien die von Augst angesprochenen Fragen zur Friedenssicherung, zur Nachrüstung und zum Nuklearwaffeneinsatz von existenzieller Bedeutung für die Bevölkerung der Bundesrepublik und Mitteleuropas. Damit sei die "Vennutungsfonnel" anwendbar. Nach Auffassung der Kammer vertrat der Angeklagte mit seiner Meinung keine Außenseiterposition. In der Tat müßten Soldaten lernen, die Hemmungen zum Einsatz von Nuklearwaffen zu überwinden, da sonst das Prinzip der Abschreckung nicht glaubhaft gemacht werden könne. Ferner habe sich der Jugendoffizier durch seine Mitwirkung an der Diskussion freiwillig den Bedingungen des freien Meinungskampfes unterworfen und sich dadurch eines Teils seiner schützenswerten Privatsphäre begeben. Er habe bei einem so umstrittenen Thema und einer bewußt auf Kontroverse angelegten Veranstaltung nicht erwarten können, mit "Samthandschuhen" angefaßt zu werden. Noch eine weitere Argumentationsfigur des BVerfG machte sich das LG zu eigen. Sinn jeder Meinungsäußerung sei es, Aufmerksamkeit zu erregen. Darum müßten angesichts der allgemeinen Reizüberflutung einprägsame und starke Fonnulierungen hingenommen werden. Das Wort vom ,,Mord" sei eine solche Fonnulierung, die beispielsweise auch ein deutscher Bischof in die Abtreibungsdebatte eingeführt habe. Für Augst spreche ferner, daß er nur von "potentiellen" Mördern gesprochen habe und daß seine Aussagen auf Fakten von besorgniserregender Dimension beruhten.

11. Die Urteilsschelte 1. Urteilsschelte durch Private

Neben abgewogenen Kommentaren70 gab es auch scharfe Kritik. In der Rheinischen Post stand: ,,Der Freispruch ( ... ) ist eindeutig ein politisches Urteil. Es erinnert daran, wie und mit welchen Folgen die Weimarer Republik diffamiert werden durfte. Es läßt den Rufmord an einer großen Gruppe von Menschen ungeahndet. Und es enthält juristische Fragwürdigkeiten. Deshalb ist es ein empörendes und gefahrliches Urteil. ,,71 Der Bundeswehrverband brandmarkte den Gerichtsspruch als "Schandurteil". Einen geistigen Tiefpunkt erreichte die Urteilsschelte in den Zeitungen des Springer-Verlages. In der Welt 70 Süddeutsche Zeitung vom 28./29.10.1989: ,,Richter im Dilemma"; Badische Zeitun.ff vom 21.122.10.1989. Rheinische Post vom 21.122.10.1989.

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

am Sonntag kommentierte Manfred Geist: ,,Der Richter Gehrke vom Landgericht in Frankfurt hat ein Urteil verkündet, das dem gesWlden Menschenverstand abartig vorkommen muß. ,,72 Die Bild-ZeitWlg verstand das Urteil völlig fehl Wld titelte: "Soldaten sind Mörder! sagt das Gericht".73 2. Amtliche Urteilsschelte

Selbst die letztgenannten ÄußeTWlgen von Privaten muten noch harmlos an gegenüber den Reaktionen aus der Politik. Die Politiker übten ihre Urteilsschelte teilweise in Unkenntnis der genauen EntscheidWlg. Thre Kritik war polemisch Wld ergebnisorientiert, sie beließ es nicht bei der MeinWlgsäußeTWlg, sondern verlangte nach persönlichen Konsequenzen für die verantwortlichen Richter. "Urteilsschelte kennt keine Grenzen", so lautete offenbar das Motto der Politiker. Für die rechtliche UntersuchWlg bieten die Reaktionen auf das Soldatenurteil reiches AnschauWlgsmaterial. Ein Beispiel abgewogener Kritik lieferte BWldespräsident Richard von Weizsäcker. Dieser hatte bereits nach dem "Soldatenurteil 11" einen persönlichen Brief von Peter Augst beantwortet. Ohne das Urteil rechtlich zu bewerten, machte er darin den Versuch, den Arzt von seinen Argumenten zu überzeugen. Die Grenze zwischen MeinWlgsfreiheit Wld SChmähWlg sei äußerst schwierig zu ziehen, schrieb von Weizsäcker, Wld weiter: ,,Es war Wld bleibt für mich Wlverständlich, im GrWlde jeden Bürger, der Thre GrWldeinstellWlg nicht teilt, als einen potentiellen Mörder moralisch abzuurteilen (... ). In der moralischen Herabsetzung anderer erkenne ich Pazifismus nicht wieder.,,74 Die GesetzgebWlgsorgane gingen weit weniger zimperlich mit dem Urteil um. ZWlächst führten CDU/CSU, SPD Wld FDP eine gemeinsame EntschließWlg des VerteidigWlgsausschusses des BWldestages herbei. Darin hieß es: ,,Der Schutz des Rechts auf freie MeinWlgsäußeTWlg ist mit solcher RechtsprechWlg zur Wlerträglichen BeleidigWlg derer pervertiert, die den Schutz unserer freiheitlichen Gesellschaft nach außen garantieren. ,,75 In einer von der CDU/CSUFraktion beantragten ,,Aktuellen StWlde" des BWldestages kam es zu weiteren verbalen RWldumschlägen. Für Höhepunkte der Polemik sorgten die Fraktionsvorsitzenden von CDU/CSU Wld FDP. Alfred Dregger sagte: ,,Auch in der Demokratie gibt es skandalöse Gerichtsurteile. (... ) Solche Fehlurteile erinnern Welt am Sonntag vom 22.10.1989. Zitiert nach Süddeutsche Zeitung vom 24.10.1989. 74 Nach Der Spiegel Nr. 45/1989 vom 6.11.1989. 75 BT-Prot. XI, S. 12863. 72 73

D. Das Soldatenurteil von 1989

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mich an Urteile, die zwn Untergang der Weimarer Republik beigetragen haben.,,76 Otto Graf Lambsdorff goß weiteres Öl ins Feuer: ,,Es ist eine Perversion, ausgerechnet die Angehörigen der Streitkräfte zu diffamieren, die mehr als je zuvor in unserer Geschichte dem Frieden verpflichtet sind ( ... ) Was würden die Richter am Landgericht Frankfurt sagen, wenn man sie mit Urteilssprüchen der Richter am Volksgerichtshof in einen Topf werfen würde?,,77 Für eine spätere rechtliche Bewertung sei noch einmal festgehalten, daß Angehörige der Legislative hier die Judikative mit Vokabeln wie "schändlich" und ,,Perversion" überzogen und einen Vergleich mit dem Volksgerichtshof zumindest andeuteten. Mit Ausnahme der Abgeordneten der Grünen waren sich die Redner über die inhaltliche Ablehnung des Zitates und des Urteils einig. Vereinzelt wurden die Richter aber gegen die scharfe Form der Urteilsschelte in Schutz genommen. 78 Als Vertreter der Exekutive bezogen Bundesjustizminister Hans A. Engelhard (FDP) und sein Staatssekretär Friedrich Jahn zu dem Urteil Position. Der Minister selbst stimmte in den allgemeinen Chor der Urteilsschelte ein: "Ich halte es für einen unglaublichen und unerträglichen Vorgang, Bundeswehrsoldaten straflos als potentielle Mörder bezeichnen zu dürfen. ,,79 In der Bundestagsdebatte betonte Engelhard dann zwar wieder, daß die Exekutive bei Kritik an der rechtsprechenden Gewalt Zurückhaltung wahren müsse, er konnte sich aber nicht zu einer Verteidigung der inzwischen bereits massiv angegriffenen Richter durchringen. 8o Am 7.11.1989 übte der Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Friedrich Jahn, in einer öffentlichen Erklärung sachlich gehaltene Urteilskritik: "Ohne in ein schwebendes Verfahren eingreifen zu wollen, möchte ich feststellen, daß die UrteilsgrüDde nach einer ersten rechtlichen Analyse schwerwiegende Mängel aufweisen. ( ... ) Das Urteil des Landgerichts Frankfurt läßt die insoweit gebotene Abwägung zwischen dem Recht der freien Meinungsäußerung und dem Recht der persönlichen Ehre der angegriffenen Soldaten schlechthin vermissen. Es stellt vielmehr einseitig auf das Recht der freien Meinungsäußerung ab. Unberücksic~tigt bleibt, daß der Friedensauftrag der Bundeswehr höchste verfassungsrechtliche Legitimität genießt.( ... ) Ich bin

76 BT-Prot. XI, S. 12853. 77

BT-Prot. XI, S. 12855.

78 Z.B. in der Rede des SPD-Abgeordneten Horn, BT-Prot. XI, S. 12854. 79 Aus einer Pressemitteilung der FDP vom 26.10.1989, zitiert nach Castendyk,

Rechtliche Begründungen, S. 276f. 80 BT-Prot. XI, S. 12866.

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

daher zuversichtlich, daß dieses Urteil einer Nachprüftmg durch die oberen Gerichtsinstanzen nicht standhalten wird. ,,8 I Johannes Gerster, innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-BWldestagsfraktion, verband in seiner StellWlgnahme polemische Anwürfe mit der druckausübenden F ordefWlg nach Konsequenzen. Er sagte, das Frankfurter Urteil erfiille "glatt den Tatbestand der Rechtsbeugwg". Er forderte "die zuständigen Behörden auf, gegen die Richter strafrechtlich Wld disziplinarisch vorzugehen. ( ... ) Die Zeiten politischer GesinnWlgsrechtsprechWlg müssen endgültig vorbei sein. ,,82 Sein ParteifreWld Rupert Scholz hatte bereits am Tage der UrteilsverkündWlg StellWlg bezogen. An seinem Artikel in der Welt verwundert vor allem, daß er als renommierter Staatsrechtler den Richterspruch völlig entstellt wiedergibt, bevor er dann die von ihm ermittelte falsche Version des Urteils scharf attackiert: ,,Mit erschreckender Unverantwortlichkeit sprechen jene Richter davon, daß jener Arzt die Soldaten der BWldeswehr nicht habe beleidigen wollen, sondern daß er das Wort vom 'Mord' nur in jenem landläufigen Sinne benutzt habe, wie man von 'Mordsspaß' Wld 'Mordskerlen' spreche. ( ... ) Aus solchen Vergleichen spricht nicht nur die Bereitschaft, Soldaten der BWldeswehr vorsätzlich disqualifizieren zu lassen, sondern aus solchen Worten spricht auch die Disqualifikation deutscher Richter selbst. ,,83 Im weiteren Verlauf des Artikels spricht Scholz noch von den ,,Mords-Richtern" in Frankfurt.

m. Das Nachspiel Einige Tage nach Erlaß des Urteils fand auch das angegriffene Gericht Fürsprecher. Die Richter waren nicht nur den AnfeindWlgen von Medien Wld Politik ausgesetzt, sondern hatten sich auch im Privatleben massive Attacken gefallen lassen müssen. 84 So sahen Vertreter der Richterschaft Anlaß, sich gegen die Urteilsschelte zu wehren. Auch Teile der Medien hielten durch die Äußerwtgen mancher Politiker die Grenze zulässiger Urteilsschelte fiir überschritten. Die Dokumentation des Nachspiels liefert ebenfalls mancherlei Anregwg fiir die anschließende rechtliche Prüftmg.

Zitiert nach DRiZ 1989, S. 470; vgl. Süddeutsche Zeitung vom 8.11.1989. Nach Süddeutsche Zeitung vom 23.10.1989. Die Welt vom 21.10.1989. 84 Nach Der Spiegel Nr. 44/1989 vom 30.10.1989 und Abendzeitung (München) vom 26.10.1989 bekam Richter Heinrich Gehrke viele beleidigende Zuschriften und sein Telefon stand nicht mehr still. 81 82 83

D. Das Soldatenurteil von 1989

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1. Reaktionen aus der Richterschaft

In einer von den Medien vielbeachteten Presseerklärung nahm der Deutsche Richterbund (DRB) zum Aufruhr um das Soldatenurteil Stellung. Er vertrat die Auffassung, daß Urteilsschelte als notwendiges Korrelat zur richterlichen Unabhängigkeit zulässig sein müsse, schränkte aber ein: "So sind alle Versuche zurückzuweisen. mißliebige Gerichtsentscheidungen als Ausdruck einer bestimmten, gar verfassungsfeindlichen Gesinnung zu diskreditieren und - wie im vorliegenden Fall geschehen - leichtfertig als Rechtsbeugung zu disqualifizieren. ( ... ) Der Deutsche Richterbund fordert insbesondere alle Politiker und Träger öffentlicher Ämter nachhaltig zur Mäßigung und zum Respekt vor der Dritten Gewalt auf. Überzogene polemische Äußerungen - zumal in einem Zeitpunkt, in dem die schriftliche Urteilsbegrilndung noch nicht vorliegt - sind gänzlich fehl am Platze. "ss Auf den besonderen Widerstand der Richterschaft stieß die bereits zitierte Erklärung des Justizstaatssekretärs Jahn. Darauf reagierte der DRB-Vorsitzende Franz-Joseph Pelz mit einem offenen Brief, in dem die Position des DRB zu Zulässigkeit und Grenzen der Urteilsschelte deutlich wird. "Wir haben Thre Äußerungen mit Bestürzung und völligem Unverständnis zur Kenntnis genommen. Wir sehen in ihnen einen flagranten Eingriff in die Unabhängigkeit der Gerichte, die zu respektieren und zu verteidigen Thres Amtes wäre. Die verbindliche rechtliche Bewertung des in Rede stehenden Vorgangs ist ausschließlich Sache des zuständigen Gerichts, gegen dessen Entscheidung nach Maßgabe der Gesetze von den Betroffenen Rechtsmittel eingelegt werden können. Mit ihrer Äußerung haben Sie - zudem noch in ein rechtshängiges - Verfahren eingegriffen und den Eindruck einer quasi-amtlichen öffentlichen "Vorverurteilung" gesetzt; dies ist eine schwere Belastung filr den weiteren Verlauf des Verfahrens. ( ... ) Auf einem ganz anderen Blatt ( ... ) steht das jedem Bürger zustehende Recht, Kritik an Gerichtsentscheidungen zu üben; ( ... ) so kann, um es auf den Punkt zu bringen, jeder eine Rechtsauffassung filr falsch oder irrig halten und dies auch öffentlich sagen. "S6 Bemerkenswert ist hier vor allem die Grundunterscheidung zwischen privater und öffentlicher Urteilsschelte. Die Forderung, daß sich Amtsträger stärker zurückhalten müssen, akzeptierte wohl auch Jahn. Denn in einem Antwortschreiben berief er sich darauf, daß es sich bei seiner Erklärung um eine persönliche Erklärung und nicht um eine offizielle Äußerung des Bundesjustizministeriums gehandelt habe. Deshalb müsse ihm 8S 86

Nach DRiZ 1989, S. 467. Nach DRiZ 1989, S. 470.

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

der Schutz der MeinWlgsfreiheit zugute kommen. 87 Publizistische RückendeckWlg erhielt der Staatssekretär von der FAZ. Selbst wenn er sich in seiner Funktion als Amtsträger geäußert habe, müsse seine sachlich gehaltene Urteilsschelte zulässig sein, da er nicht die Dienstaufsicht über die Frankfurter Richter fiihre. ,,Der Verband fUhrt vor, daß die Richter mit dem hohen Maß an Unabhängigkeit, das sie erlangt haben, noch nicht die dem entsprechende Unempfindlichkeit gewonnen haben gegenüber einer Kritik, die nicht Schmäh- Wld Schimpfkritik ist. ,,88 Auch der angegriffene Richter Heinrich Gehrke kam zu Wort. Er zeigte sich erschüttert darüber, wie amtliche Stellen reagiert hätten, "ohne überhaupt Kenntnis genommen haben, was wirklich geurteilt worden ist." Er wundere sich nicht über beleidigende Zuschriften, seien diese doch von offizieller Seite provoziert worden. Die Richter der nächsten Instanz beneidete Gehrke nicht um ihre Aufgabe: ,,Der Druck ist Wlgeheuer grOß.,,89 2. Nachdenken über die Urteilsschelte in den Medien

Die StellWlgnahmen des DRB fUhrten dazu, daß die öffentliche Diskussion um das Soldatenurteil in eine zweite Phase eintrat. Analysiert wurde nWl die Qualität der Urteilsschelte. Begriffe wie MeinWlgsfreiheit, GewaltenteilWlg Wld richterliche Unabhängigkeit machten in den Medien die RWlde, womit das verfassWlgsrechtliche SpannWlgsfeld aufgezeigt wurde, in dem sich diese UntersuchWlg bewegt. Auch diese Phase wird in ihren Ansätzen dokumentiert. Sie zeigt ein erstaunlich positives MeinWlgsklima für die Unabhängigkeit der Justiz. Es scheint ein öffentliches Bewußtsein dafür zu geben, daß Urteilsschelte an Grenzen stoßen kann Wld vielleicht auch muß. Reinhard Merkel schrieb in der Zeit: ,,Peinlich ist dieses Schauspiel eines durch Schlagzeilen Wld Kommentare tobenden juristischen Dillettantismus, der 87 Nach DRiZ 1989, S. 470. Das dem DRB vorliegende Original von Jahns Erklärung wies im Briefkopf jedoch ausschließlich Anschrift und Telefonnummer des Bundesjustizministeriums aus, womit der Einwand des Staatssekretärs gegenstandslos ist. Einige Wochen später erklärten Jahn und Pelz ihren Streit fiIr beigelegt (nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.12.1989). 88 Friedrich Karl Fromme, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.11.1989. Auch der Präsident des OLG Braunschweig, Rudolf Wassermann, beklagte vor der Deutschen Richterakademie eine Überempfindlichkeit der Justiz (nach Frankfurter All~emeine Zeitung vom 23.11.1989). 8 Nach Der Spiegel Nr. 44/1989 vom 30.10.1989; Abendzeitung (München) vom 26.10.1989.

D. Das Soldatenwteil von 1989

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verbindliche RechtsauffassWlgen fiir einen Sachverhalt festlegt, über den er sich durch Agenturberichte Wld die eigene WeltanschauWlg hinreichend informiert glaubt. Beklemmend ist das Panoptikum von Politikern, die die RechtsordnWlg, auf die sie vereidigt sind, immer dort fiir disponibel halten, wo sie der ParteigesinnWlg im Weg ist ( ... ). Eine 'Ändertmg des strafrechtlichen Ehrenschutzes' fordern jetzt vor allem diejenigen, die im gleichen Atemzug das Frankfurter Gericht mit dem maßlosen Anwurf der 'Rechtsbeugtmg', also eines Verbrechens, überziehen ( ... ).,,90 In der Frankfurter RWldschau bezeichnete KarlHeinz Krumm den Fall als "deutsches Trauerspiel" Wld führte dazu aus: ,,Denn die meisten der prominenten Kritiker ttm das, was sie, nicht ganz zu unrecht, dem angeklagten Arzt vorwerfen. Sie vereinfachen Wld verdrehen auf schrecklich-polemische Art ein Urteil, das so in Frankfurt überhaupt nicht gesprochen wurde. Mit der mündlichen UrteilsbegründWlg hat sich nämlich offenbar keiner der Kritiker, die seit Tagen empört mit ihren Worthülsen hantieren, ernsthaft beschäftigt.,,91 ZDF-Redakteur Peter Doebel analysierte die Urteilsschelte in ihrem zeitgeschichtlichen Wld gesellschaftspolitischen Zusammenhang: ,,Der Fall war, gesellschaftspolitisch brisant, in eine Zeit hineingeplatzt, da wegen der politischen Verändertmgen im Osten alte Feindbilder wanken, der Verteidigtmgsauftrag neu in die Diskussion gerät, gerade bei den deutschen Soldaten die Frage nach dem "Warum" ztmehmen könnten. Dies vor Augen Wld die Republikaner-Gefahr im Nacken, verfielen Politiker offensichtlich in Panik. So kam der 'häßliche Richter' von Frankfurt vielleicht gerade zur rechten Zeit, um Taktikern Wld Überzeugtmgstätern als Watschenmann zu dienen.,,92 Einen weiteren Aspekt rückte Spiegel-Korrespondent Rolf Lamprecht in den Vordergrtmd. Er sah die richterliche Unabhängigkeit schwer beeinträchtigt Wld äußerte Erwarttmgen an das Verhalten eines Justizministers bei Vorliegen einer solchen Gefahr: ,,Das Soldatenurteil provozierte eine hochnotpeinliche Debatte im BWldestag, die auf Richter einschüchternd wirkte - Wld wohl auch sollte. Leider fand sich kein Berufener, der die Maßstäbe zurechtrückte. Die ,,Aktuelle Sttmde" im Parlament hätte eine Sternsttmde von BWldesjustizminister Hans Engelhard sein können, zurückgebliebene Abgeordnete Wld wißbegierige Bürger darüber aufzuklären, was eine Wlabhängige Justiz im Gefüge Wlserer VerfassWlg fiir den einzelnen Wld fiir alle bedeutet. Er hat die Gelegenheit verschlafen. ,,93 Bemängelt wurde in der seriösen Presse also vor allem die Urteilsschelte 90 91 92 93

Die Zeit vom 3.11.1989. Frankfurter Rundschau vom 27.10.1989. Doebel, in: DRiZ 1989, S. 468. Der Spiegel Nr. 4/1990.

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

durch Politiker. Sie sei beherrscht gewesen von Unkenntnis und Demagogie. Obwohl die mündliche Begründung erst nach der Bundestagsdebatte vorgelegen habe, hätten sich Politiker aller Parteien bereits vorher ein Urteil angemaßt. Auch falle der Versuch auf, den Fall machtpolitisch auszuschlachten und zu einer Debatte darüber umzufunktionieren. wer denn am nachhaltigsten hinter der Bundeswehr stehe, ohne daß deren Rolle vom Gericht in irgendeiner Weise abgewertet worden war. Schließlich wurde die Inhaltslosigkeit und Polemik der Urteilsschelte negativ vermerkt. 3. Reaktionen aus der Politik

Erst über eine Woche nach der massiven Urteilsschelte wies der hessische Justizminister Karl-Heinz Koch (CDU) die persönlichen Angriffe auf die Richter zurück. Der Minister sagte, als oberstem Dienstherr der hessischen Richter sei es ihm aufgrund der Verfassung untersagt, das Urteil in der Sache zu bewerten, zumal es noch keine Rechtskraft erlangt habe. Allerdings gebiete es seine Fürsorgepflicht gegenüber den Richtern, persönliche Angriffe zurückzuweisen. 94 Diese Aussage kam viel zu spät, wirkte halbherzig und trug nicht zu einer Ehrenrettung der kritisierten Richter bei. 4. Das "Soldatenurteil V"

Zum Nachspiel gehört auch das "Soldatenurteil V" des OLG Frankfurt, mit dem die Hoffnung der Kritiker auf eine Abänderung des "Soldatenurteils IV" zumindest teilweise erfüllt wurde. Die Einflüsse der vorangegangenen heftigen Diskussion auf die entscheidenden Richter waren - wie immer in solchen Fällen - nicht meßbar. Immerhin ging das OLG Frankfurt zu Beginn seiner Entscheidungsbegründung auf die massive Urteilsschelte des "Soldatenurteils IV" ein und kritisierte vor allem die Äußerungen der Politiker als einen Versuch der Druckausübung auf die unabhängige Justiz. Das Gericht betonte aber, daß es sich trotz der außergewöhnlichen Diskussion in der Öffentlichkeit noch in der Lage gesehen habe, unbeeinflußt Recht zu sprechen und daß damit für die Verfahrensbeteiligten der Grundsatz des fairen Verfahrens nicht verletzt sei. 95

94 95

Nach Süddeutsche Zeitung vom 3.11.1989. OLG Frankfurt, NJW 1991, S. 2032 (2033).

D. Das Soldatenurteil von 1989

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5. Der Soldaten-Beschluß des BVerjG von 1994 Im weitesten Sinne ist auch der "Soldaten-Beschluß" des BVerfG aus dem Jahr 1994 zum Nachspiel zu rechnen. In diesem Fall ging es um einen Mann, der auf seinem Auto einen Aufkleber mit dem Text "Soldaten sind Mörder Kurt Tucholsky" befestigt hatte. Das BVerfG hob in einem Kammerbeschluß die strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung als verfassungswidrig auf und verwies das Urteil zurück. 96 Der mit dem Grundrecht der Meinungsfreiheit begründete Spruch fiihrte zu einer öffentlichen Debatte, die der des Jahres 1989 an Schärfe nicht nachstand. In der Struktur der Auseinandersetzung zeigten sich umfassende Parallelen zwischen den "Soldatenurteilen" 1989 und 1994. Wiederum setzte massive Urteilsschelte ein, bezeichneten Politiker das Urteil als "Skandal,,97 oder als "Schande für die deutsche Justiz,,98 Erneut trat der Bundestag zu einer Aktuellen Stunde in Sachen "Soldatenurteil" zusammen. Die Richter, vielfach unterstützt von den Medien, wiesen die scharfe Kritik zurück, wobei sie sich besonders dagegen wehrten, daß wie schon fijnf Jahre zuvor am Inhalt des Urteils vorbeidiskutiert wurde und der Eindruck entstand, das BVerfG höchstpersönlich habe Soldaten zu Mördern erklärt. Der DRB-Vorsitzende Rainer Voss beklagte sich darüber, daß Urteile zum Gegenstand des Wahlkampfes gemacht würden. 99 Der Soldatenbeschluß von 1994 zeigte indes auch, daß Richter sich durch die Kritik des Jahres 1989 nicht daran gehindert sahen, in einer ähnlichen Sache erneut der Meinungsfreiheit den Vorzug zu geben. Daraus ist zu schließen, daß Vertreter der dritten Gewalt sich nicht notwendig durch scharfe Angriffe zu einem den Kritikern wohlgefiilligen Verhalten bewegen lassen, die Einschüchterungswirkung von Urteilsschelte also zumindest gegenüber dem BVerro begrenzt ist.

6. Das Soldatenurteil des BVerjG von 1995

Ein weiteres Jahr später nahm das BVerfG in einer Senatsentscheidung zu vier weiteren Fällen des "Soldaten sind Mörder"-Zitats Stellung. Erneut wurde allen Verfassungsbeschwerden gegen die strafrechtlichen Verurteilungen stattgegeben. 100 Wiederum war Urteilsschelte die Folge lOI , bei der es jedoch in 96

BVerfG, NJW 1994, S. 2943.

97 Verteidigungsminister Volker Rübe (CDU) und der FDP-Ehrenvorsitzende HansDietrich Genscher (nach Süddeutsche Zeitung vom 22.9.1994). 98 Jürgen Augustinowitz, CDU-Verteidigungspolitiker (nach Süddeutsche Zeitung vom 22.9.1994). 99 Nach Süddeutsche Zeitung vom 21.9.1994. 100 BVerfG, NJW 1995, S. 3303.

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

diesem Fall nicht blieb. Das Bundeskabinett beschloß eine Gesetzesvorlage, die künftig fiir die Strafbarkeit des Mörder-Zitats bürgen soll. Der Entwurf eines neuen § 109b StGB lautet: "Wer öffentlich in einer Versammlung oder durch Verbreitung von Schriften (§ 11 III) Soldaten in Beziehung auf ihren Dienst in einer Weise verunglimpft, die geeignet ist, das Ansehen der Bundeswehr oder ihrer Soldaten in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft." § 109b StGB ist nach seiner systematischen Stellung ein Staatsschutzdelikt, soll daher neben der persönlichen Ehre des Einzelnen auch den Auftrag der Landesverteidigung und die Aufgaben der Bundeswehr schützen. 102

IV. Fazit Mit dem Soldatenurteil von 1989 erreichte die Urteilsschelte insofern einen neuen Höhepunkt, als sich eine regelrechte Kampagne großer politischer Parteien gegen die Richter entwickelte. Die Legislative reagierte mit der Entschließung eines Bundestagsausschusses, einer aktuellen Stunde und scharfer Kritik von Abgeordneten. Vertreter der Exekutive übten ebenfalls Kritik, was Gegenreaktionen bei der Richterschaft auslöste. Teilweise stellten sich die Medien hinter die angegriffene Justiz, teils wurde der dritten Gewalt Überempfindlichkeit bescheinigt. Der Vorwurf der ,,Rechtsbeugung" und die Forderung nach einer baldigen Korrektur des Urteils bildeten die rechtlich problematischsten Äußerungen, bezogen sich diese Eingriffe doch auf einen noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Fall. Juristisch behandelte und verneinte ein Gericht erstmals die Frage, ob vorangegangene Urteilsschelte im Rechtsmittelverfahren das Recht der Beteiligten auf einen fairen Prozeß verletzt. Insgesamt legte die Debatte zum Soldatenurteil offen, daß es keinen Konsens über die Grenzen der Urteilsschelte gibt. Daraus zogen die Diskussionsteilnehmer offenbar den Schluß, daß alles erlaubt sei. Das Soldatenurteil 1989 war der erste Fall ,,moderner" Urteilsschelte. Diese zeichnet sich aus durch eine Dominanz der Parteipolitiker und die Polemik der Attacken, bei denen der eigentliche Inhalt der Entscheidung in den Hintergrund tritt.

101 102

Nach Süddeutsche Zeitung vom 8.11.1995. Quelle: NJW 1996, Heft 13, S. xxxvn.

E. Das Mannheimer Urteil von 1994

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E. Das Mannheimer Urteil von 1994 (LG Mannheim, NJW 1994, S. 2494) I. Das Urteil

1. Sachverhaltl03 Der Angeklagte Günter Deckert wurde 1991 zwn BWldesvorsitzenden der Nationaldemokratischen Partei Deutschland (NPD) gewählt. Im Oktober desselben Jahres erfuhr Deckert zu seiner Freude, daß der amerikanische Ingenieur Fred Leuchter sich in Deutschland aufhielt. Leuchter hatte 1988 als Sachverständiger in Toronto Partei zugWlsten eines Angeklagten ergriffen, der wegen der LeugnWlg des Holocaust angeklagt war. Der Amerikaner hatte in dem Prozeß eigene ,.F orschWlgsergebnisse" präsentiert, wonach aus technischen Gründen in Auschwitz niemand durch Vergasen hätte getötet werden können. Nach VeröffentlichWlg des Gutachtens war Leuchter in den USA bekannt Wld von der Öffentlichkeit scharf angegriffen worden. Deckert wußte dies Wld vereinbarte mit Leuchter einen Termin für einen Vortrag, der am 10.11.1991 im Gasthaus ,,zur Burg Windeck" in W einheim stattfinden sollte. Zu dieser VeranstaltWlg lud Deckert politisch Gleichgesinnte Wld Vertreter der Medien ein. Als die VeranstaltWlg begann, waren etwa 120 Personen Wld ein Fernsehteam des Südwestfunks anwesend. Spontan wurde vereinbart, daß Leuchter in englischer Sprache ein Referat über seine in Auschwitz gewonnenen F orschWlgsergebnisse halten sollte. Der studierte Anglist Deckert fungierte dabei als Übersetzer. Nach einer kurzen BegrüßWlg übergab Deckert das Wort an Leuchter. Im weiteren Verlauf übertrug Deckert die Ausführungen des Amerikaners teilweise wörtlich, teilweise zusammengefaßt Wld teilweise ergänzt Wld kommentiert ins Deutsche. Leuchter behauptete ZWlächst, daß er in Auschwitz lediglich Desinfektionsanlagen, nicht aber Gaskammern vorgefunden habe, eine MassenvernichtWlg folglich nicht habe stattfmden können. Außerdem seien die vorhandenen Krematorien nicht groß genug, als daß eine so große Anzahl von Leichen so schnell habe verbrannt werden können. ,,Eine einfache BerechnWlg ergibt, daß es ca. 68 Jahre dauern würde, um sechs Millionen Menschen zu exekutieren Wld daß etwa 35 Jahre erforderlich wären, um sie zu verbrennen. Wenn dies zutreffend ist, so sind die Exekutionen noch im Gange. Wld werden bis zwn Jahre 2006 \03

Nach BGH, NJW 1994, S. 1421; LG Mannheim, NJW 1994, S. 2494ff.

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Erster Teil: FaIlbeispiele zur Urteilsschelte

dauern." Unter dem starken Beifall des Publikums rief Leuchter dann aus: ,,Let's stop them now and end the Holocaust!" Diesen Satz übersetzte Deckert lächelnd wie folgt: ,,Hört damit aufund der 'Holo' ist beendet!" Die von Leuchter mehrfach verwendeten Begriffe der "Gaskammerlüge" und des "Gaskammennythos" übersetzte Deckert wörtlich. Dagegen verwendete Deckert fiir die von Leuchter erwähnte jüdische Klarsfeld-Stiftung die Begriffe ,,Klarsfeld-Clan", ,,Klarsfeld-Sippschaft" oder ,,Klarsfeld-Seilschaft". Wörtlich übersetzte der Angeklagte das Fazit von Leuchters Vortrag: ,,Die Deutschen waren seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges Weltbürger zweiter Klasse. Aufgrund der Gaskammerlüge, die den Deutschen aufgezwungen wurde, trägt ein ehemals stolzes Volk die Schuld einer abscheulichen Sünde mit sich herum, die es nie begangen hat. Heinrich der IV. tat Buße, indem er barfuß mitten im Winter über die Alpen nach Rom pilgerte. Wohin geht das deutsche Volk jetzt? Nach Israel? 45 Jahre Buße sind genug! Insbesondere fiir eine Sünde, die nie begangen wurde." Nach Ende des Vortrages ergriff Deckert mit sichtbarer Begeisterung die rechte Hand Leuchters und schüttelte sie intensiv und lang anhaltend. Auf eine Dankesrede Deckerts, in der dieser sich mehr solcher Leute mit Rückgrat gewünscht hatte, damit die Wahrheit in die Öffentlichkeit Einzug halten könne, folgte eine diszipliniert verlaufende Diskussion. Am Schluß der Veranstaltung empfahl Deckert den Zuhörern revisionistische Literatur und forderte die Einsetzung einer Kommission, die untersuchen solle, ob die Judenvernichtung in Gaskammern wirklich stattgefimden habe. ,,Die Lüge" müsse vom Tisch, erklärte der Angeklagte schließlich. 2. Prozeßgeschichte

In erster Instanz verurteilte das Landgericht Mannheim Deckert wegen Volksverhetzung (§ 130 StGB), übler Nachrede (§ 186 StGB) und Verunglimpfimg des Andenkens Verstorbener (§ 189 StGB). Auf die Revision des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft hin gelangte der Fall vor den Bundesgerichtshof. 104 Dieser hob das Urteil auf und verwies den Fall an eine andere Strafkammer des Landgerichts Mannheim zurück. Insbesondere bemängelte der BGH, daß das LG die Voraussetzungen fiir das Vorliegen einer Volksverhetzung nicht ausreichend dargelegt habe. § 130 StGB verlange einen Angriff auf die Menschenwürde, wofür das bloße Bestreiten der Gaskammennorde

104

BGH. NJW 1994, S. 1421.

E. Das Mannheimer Urteil von 1994

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allein nicht ausreiche. lOS Im Ergebnis hielt der BGH eine Verurteilung nach § 130 StGB sogar fUr naheliegend, diese müsse aber konkreter aus dem Gesamtgeschehen entwickelt werden. ,,In Betracht kommen im vorliegenden Fall hierfUr insbesondere die dem Angeklagten bekannte oder von ihm vorausgesetzte politische Grundeinstellung der Zuhörer und ihr V orverständnis, ihr sonstiges Verhalten (etwa Beifallskundgebungen bei bestimmten Aussagen), besondere Gesten des Angeklagten, die Betonung einzelner Passagen durch Stimmlage oder Lautstärke sowie kommentierende Bemerkungen."I06 Weiterhin rügte der BGH, daß § 189 StGB unzureichend erörtert und § 131 StGB übersehen wurde. Auch ordnete er die Äußerungen Deckert nicht als Tatsachenbehauptungen sondern als Werturteile ein, womit sein Verhalten als Beleidigung (§ 185 StGB) und nicht als üble Nachrede (§ 186 StGB) zu qualifizieren sei. Die Neuverhandlung des Falles fand vor der sechsten Strafkammer des Landgerichts Mannheim statt. Diese sprach das Mannheimer Urteil I07 , welches wochenlange öffentliche Turbulenzen auslöste. Die Prozeßgeschichte endete damit aber noch nicht. Am 15.12.1994 hob der BGH zum zweiten Mal eine Entscheidung des Mannheimer Landgerichts im Deckert-Fall auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung an eine Strafkammer des Landgerichts Karlsruhe. l08

3. Entscheidungsgründe a) Würdigung des Sachverhalts und strafrechtliche Bewertung l09 Die sechste Strafkammer folgte der Aufforderung des BGH, die strafrechtliche Beurteilung stärker aus dem Gesamtgeschehen zu entwickeln. Sie stellte akribisch genau den Sachverhalt dar und kam zu folgendem Schluß: Deckert habe sich durch sein Auftreten während der Veranstaltung willentlich und fiir jeden erkennbar mit dem Inhalt von Leuchters Thesen identifiziert. Die Leugnung des Holocaust, der von der überwältigenden Mehrheit der Deutschen als lOS Wegen der engen Auslegung des Volksverhetzungsparagraphen ist der BGH heftig gescholten worden, vgl. Die Zeit vom 25.3.1994: ,,Eine Perversion rechtlichen Denkens"; Süddeutsche Zeitung vom 19.3.1994; Frankfurter Rundschau vom 17.3.1994. 106 BGH, NJW 1994, S. 1421 (1422). 107 LG Mannheim, NJW 1994, S. 2494. 108 BGH, NJW 1995, S. 340. Dazu ausführlich unten Erster Teil E m 4. 109 LG Mannheim, NJW 1994, S. 2494 (2496).

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

geschichtliche Tatsache angesehen werde, sei eine schwere Herabwürdigung der Juden im allgemeinen, der in Deutschland lebenden jüdischen Minderheiten und ganz besonders der im Nationalsozialismus verfolgten und in Konzentrationslagern getöteten Juden. Deckert und Leuchter hätten den Opfern ihr Leidensschicksal abgesprochen. In deutlichen Worten wertete das Landgericht diese Kränkung als besonders schwerwiegend, "da sie durch Leuchter und ihn [Deckert, d.V.] mit herabsetzenden Formulierungen wie 'Gaskammermythos', 'Gaskammerlüge' und 'Lüge' verbunden wurde, da der Holocaust spöttisch verniedlichend als 'Holo' bezeichnet wurde, da die Leuchter'sche Rechnung, die Hinrichtungen müßten immer noch stattfinden und würden bis in das Jahr 2006 andauern, die Opfer lächerlich machte und da die Juden, darunter auch die in Deutschland lebenden, sinngemäß als Parasitenvolk bezeichnet wurden, das, die erlittenen Leiden lügnerisch in eine Massenvernichtung übertreibend, auf Betrug, Erpressung und Demütigung des deutschen Volkes ausging." Konsequent fiel danach auch die rechtliche Würdigung aus. Deckert habe sich strafbar gemacht wegen Volksverhetzung (§ 130 Nr. 1,3 StGB), wegen Aufstachelung zum Rassenhaß (§ 131 I Nr. 4 StGB), wegen Beleidigung (§ 185 StGB) und wegen der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§ 189 StGB). Bis hierhin folgte das Urteil konsequent der vom BGH vorgegebenen Linie und fiel durch die genaue Sachverhaltsermittlung und die sorgfältige Subsumtion sogar ausgesprochen positiv auf. b) Die umstrittene Begründung der Strafaussetzung zur Bewährung Kurz vor dem Übergang zu den Strafzumessungsgründen nahm das Urteil plötzlich eine Kehrtwendung, die ihm seine traurige Berühmtheit eingetragen hat. Die bedrückenden Passagen llO werden hier wiedergegeben: Die sechste Strafkammer prüfte zunächst, ob die Straftaten der §§ 185, 189 StGB durch § 193 StGB gerechtfertigt waren und verneinte dies mit folgendem Argument: ,;Zwar mag man der Auffassung sein, daß der Angeklagte ein berechtigtes Interesse wahrgenommen hat, indem er bestrebt war, die nach Ablauf fast eines halben Jahrhunderts immer noch aus dem Holocaust gegen Deutschland erhobenen Ansprüche abzuwehren. Jedoch hat er dazu nicht das erforderliche und angemessene Mittel eingesetzt ( ... ); es hätte zur Verfolgung des von ihm angestrebten Zweckes völlig ausgereicht, auf die lange seit der nationalsozialistischen Judenverfolgung verstrichene Zeit, den Umfang der bereits er-

110

LG Mannheim, NJW 1994, S. 2494 (2498f.).

E. Das Mannheirner Urteil von 1994

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brachten deutschen Sühneleistungen sowie die ungesühnten und unbereuten Massenverbrechen anderer Völker hinzuweisen." Bei der Strafzwnessung wurden Deckert neben fehlenden Vorstrafen folgende Vorzüge bescheinigt: ,,Ferner fiel positiv ins Gewicht, daß er während der gesamten Tat von der sachlichen Richtigkeit des Vorgebrachten überzeugt war und daß er, jedenfalls vorwiegend, uneigennützig handelte." Die Kammer wertete Deckerts Tat "als von seinem Bestreben motiviert, die Widerstandskräfte im deutschen Volk gegen die aus dem Holocaust abgeleiteten jüdischen Ansprüche zu stärken. Nicht außer acht gelassen wurde auch die Tatsache, daß Deutschland auch heute noch, rund fünfzig Jahre nach Kriegsende, weitreichenden Ansprüchen politischer, moralischer und finanzieller Art aus der Judenverfolgung ausgesetzt ist, während die Massenverbrechen anderer Völker ungesühnt blieben, was, jedenfalls aus der politischen Sicht des Angeklagten, eine schwere Belastung des deutschen Volkes darstellt. ( ... ) Schließlich wurde auch das schwere Lebensschicksal des Angeklagten nicht außer acht gelassen, der nach langer erfolgreicher Tätigkeit als Lehrer diesen seinen geliebten Beruf aufgeben mußte und jetzt auf eine dürftige Existenz angewiesen ist".!!! Auch sein Verbleib in der rechtsextremen Partei brachte ihm zusätzliche Pluspunkte ein: " ( ... ) daß er es danach nicht über sich brachte, seine Bindungen an die NPD mit der nötigen Konsequenz zu lösen, wertet die Kammer als Folge einer zu respektierenden Gewissensentscheidung. " Das Gericht sah weiterhin gemäß § 56 StGB die Voraussetzungen für eine Strafaussetzung zur Bewährung als gegeben an. Der Angeklagte habe in der Hauptverhandlung einen guten Eindruck hinterlassen. ,,Es handelt sich bei ihm um eine charakterstarke, verantwortungsbewußte Persönlichkeit mit klaren Grundsätzen, seine politische Überzeugung, die ihm Herzenssache ist, verficht er mit großem Engagement und erheblichem Aufwand an Zeit und Energie. Seine gute, schon fast 30 Jahre währende Ehe gibt ihm festen Halt, hinzu kommt eine sehr positive Beziehung zu Tochter, Schwiegersohn und Enkel. Einem so gearteten Manne glaubt die Kammer das Bekenntnis zur Rechtstreue ( ... )" Im weiteren heißt es: ,,Außerdem ist der Angeklagte ein Mann von hoher Intelligenz, wie in der Hauptverhandlung deutlich geworden ist und wie die erfolgreiche Bewältigung des Gymnasiums, des Studiums und des Berufes eines Gymnasiallehrers zusätzlich beweisen; diese intellektuelle Ausstattung wird

11\ Hintergrund dieser Passage war, daß Deckert nach drei Disziplinarverfahren wegen seiner Zugehörigkeit zur vom BVerfG als verfassungsfeindlich eingestuften NPD 1988 endgültig aus dem Schuldienst entfernt worden war.

5 Mishra

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

dem Angeklagten auch künftig helfen, strafrechtliche Verstrickungen zu vermeiden." Die Richter waren der Ansicht, daß gemäß § 56 III StGB die Verteidigung der Rechtsordnung eine Strafvollstreckung nicht erfordere. "Vielmehr zweifelt die Kammer nicht daran, daß die Bevölkerung in ihrer übergroßen Mehrheit durchaus Verständnis dafiir haben wird, daß einem 54jährigen unbescholtenen Familienvater, dessen Unrecht im Grunde in der Äußerung einer Auffassung bestanden hat, die Rechtswohltat der Strafaussetzung zur Bewährung zuteil wird." Hier irrte die Kammer. Das Verständnis des Großteils der Bevölkerung hielt sich in Grenzen, wie im folgenden dokumentiert wird.

n. Die Urteilsschelte 1. Urteilsschelte durch Private a) Die Kritik am Urteil selbst Inhaltlich griff die Kritik Privater das Mannheimer Urteil in dreifacher Hinsicht an. Sie beklagte, daß rechtsradikales und geschichtsrevisionistisches Gedankengut mit dem Urteil hoffiihig gemacht werde. Sie sah das Urteil ferner als Mosaikstein im Bild einer deutschen Justiz, die ihre Vergangenheit nicht bewältigt habe und "auf dem rechten Auge blind" sei. Schließlich wurde den Richtern vorgeworfen, daß ihre Entscheidung dem Ansehen Deutschlands im Ausland erheblichen Schaden zugefügt habe. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hielt der deutschen Justiz Versagen vor. Das Gericht habe einen der geistigen Brandstifter charakterlich gelobt sowie antisemitische und neonazistische Positionen in Betracht gezogen. Zugespitzt bezeichnete der Zentralrat das Urteil als "Gebrauchsanweisung fiir Neonazis".112 Die Süddeutsche Zeitung beklagte: ,,( ... ) die Mannheimer Richter Müller und Orlet formulierten ihre beispiellosen Zynismen keineswegs in isolierter Lage. Vielmehr befinden sie sich im Kern einer sogenannten gutbürgerlichen, keineswegs rechtsextremistisch organisierten (Neo)Nazigesinnung, deren Exponenten sich seit langem nicht mehr genieren.,,113 Andere Kritiker bemerkten in dem Urteil eine verhängnisvolle Kontinuität zu Richtersprüchen aus der Nazizeit. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofs112 Nach Süddeutsche Zeitung vom 11.8.1994. 113 Süddeutsche Zeitung vom 12.8.1994.

E. Das Mannheimer Urteil von 1994

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konferenz, Bischof Karl Lehmann, führte das Urteil darauf zurück, daß die Themen Naziherrschaft und Judenverfolgung in Deutschland nicht kontinuierlich aufgearbeitet worden seienl14 . Mit dem Urteil "stellt das Gericht in schlimmster deutscher Tradition das 'Wie' über das 'Was"', schrieb JÜfgen Busche in der Süddeutschen Zeitung und deckte dann den entscheidenden Denkfehler der Mannheimer Richter auf: Das Landgericht ,,zieht sich auf eine Neutralität gegenüber den Inhalten von Entscheidungen zurück, die es in Wahrheit nicht gibt und im Leben auch nicht geben kann ( ... ). Treue ist nur dann respektabel, wenn es Treue gegenüber einer Sache ist, die der Werteordnung des Grundgesetzes entspricht. Gehorsam hört auf, respektabel zu sein, wenn verwerflich ist, worumwillen der Gehorsam gefordert und bewiesen wird. Das hat das Landgericht auf deprimierende Weise mißachtet. "li 5 Andere Stimmen fürchteten um das Ansehen Deutschlands. Die Frankenpost (Hof) vom 11.8.1994 schrieb: "Was bleibt, ist unenneßlicher Schaden. Ein Mannheimer Gericht hat es geschaffi, den Respekt, der uns Deutschen nach der beeindruckenden Bitte um Verzeihung durch den neuen Bundespräsidenten Roman Herzog im Warschauer Getto weltweit entgegengebracht wurde, quasi über Nacht in Abscheu und auch in neue aufkeimende Unversöhntheit umzuwandeln.,,116 Ähnlich hart ging auch die juristische Fachpresse mit dem Urteil ins Gericht. Das Urteil sei ein "Skandal".117 "Just zu einem Thema ( ... ), bei dem es auf Genauigkeit, Einfiihlung und Augenmaß ankommt und wo das zumal von einem deutschen Gericht erwartet wird, ergeht sich dieses in üblem, degoutantem Schwadronieren." Die Urteilsbegrundung lasse streckenweise ein "fast kumpelhaftes Verständnis für antisemitischen Agitations-Unsinn" erkennen. I 18 Nicht immer fiel die Urteilsschelte sachlich aus. Häufiger war zu hören, die Urteilsbegrundung sei "unsäglich", "schändlich" oder "pervers,,119, einmal wurde sie gar als ,juristischer Supergau,,120 bezeichnet. Andere Stimmen verbanden die Kritik mit Forderungen an die nächste Instanz. Das Urteil gegen Deckert müsse vom Bundesgerichtshof "wieder in Ordnung" gebracht werden, hieß es in einer Mitteilung der Katholischen Kirche. 121 114 Nach Süddeutsche Zeitung vom 12.8.1994. Süddeutsche Zeitung vom 11.8.1994. 116 Frankenpost vom 11.8.1994. 117 Sendler, ZRP 1994, S. 377. 118 Bertram, NJW 1994, S. 2397 (2398). In einem Leserbrief wies Richter OrIet diese Äußerungen als "durch nichts belegte Schmähkritik" zurück (NJW 1994, Heft 47, S. 115

XII/.

I 9 Z.B. Süddeutsche Zeitung vom 17.8.1994. 120 Focus Nr. 33/1994, zitiert nach Bertram, NJW 1994, S. 2397 (2399). 121 Nach Süddeutsche Zeitung vom 18.8.1994.

5'

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte b) Die Richterschelte

In den BlickpWlkt der Kritik gerieten bald die Richter der sechsten Strafkammer. Am 15.8.1994 demonstrierten einige Mitglieder von Parteien, Kirchen Wld Verbänden vor dem Mannheimer Landgericht. Über mehrere Tage sammelten sie dort ~nterschriften, wn eine AmtsenthebWlg der Berufsrichter zu erreichen. ,,Im Namen des Volkes: Diese Richter müssen gehn", stand auf einem Plakat der Demonstrationsteilnehmer. 122 Obwohl alle drei Richter fiir das Urteil die VerantwortWlg trugen, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit bald auf Richter Rainer Orlet, den Berichterstatter Wld damit Urteilsverfasser im Deckert-Prozeß. Während der Kammervorsitzende Wolfgang Müller gegenüber der Presse bald "Wlglückliche FormuliefWlgen" eingeräwnt Wld bedauert hatte l23 , brachte sich OrIet selbst in die Schußlinie. Die EmpöfWlg könne er nicht verstehen. Er würde jeden Satz des Urteils wieder so schreiben, sagte er. Die Medien griffen das Angebot OrIets zur PersonalisiefWlg des Urteils gerne aufWld titulierten diesen als "Skandal-Richter" Wld ,,Richter der Schande".124 Einem Reporter offenbarte Orlet sein Innenleben. 125 Das von diesem Journalisten gemalte Persönlichkeitsbild des wnstrittenen Richters wird hier nachgezeichnet, da es Rückschlüsse auf das Zustandekommen des Urteils zuläßt Wld die Aussagen Orlets in dem zitierten Artikel dem baden-württembergischen Landtag den Anstoß dazu gaben, eine Richteranklage gegen ihn zu erwägen. 126 Nach Feierabend schaut Rainer OrIet hauptsächlich Kabelfernsehen. Die einzigen gesellschaftlichen Ereignisse in seinem Leben sind die allwöchentlichen Restaurantbesuche mit seiner Mutter. ,,Er geht nicht nur ein wenig gebückt, auch im Sitzen sieht er so aus, als würde ihn etwas niederdrücken. Er redet viel Wld hört kawn zu, was wohl häufiger eine Eigenschaft von Leuten ist, die sehr viel alleine sind." Ende der sechziger Jahre war OrIet als Richter im Heidelberger ,,AStA-Prozeß" durch seine Härte gegen linksgerichtete Studenten aufgefallen. Beobachter kritisierten seine BehandlWlg der Angeklagten als schikanös Wld demütigend, einen Studenten etwa ließ der Richter drei Stunden im Stehen aussagen. OrIet erinnert sich: ,,Diesen Linken gegenüber habe er nWl wirklich 'gar keine Sympathie' empfinden können, das seien doch sehr andere Menschen. Anders als Günter Deckert. Das sei ein 'Wlgewöhnlich interessanter Wld 122 Nach Süddeutsche Zeitung vom 16.8.1994. 123 Nach Süddeutsche Zeitung vom 16.8.1994. 124 Nach Süddeutsche Zeitung vom 5.9.1994. 125 Stephan Lebert, in: Süddeutsche Zeitung vom 5.9.1994. Die nachfolgenden Informationen und wörtlichen Zitate sind diesem Artikel entnommen. 126 Siehe unten Erster Teil E m 5 c.

E. Das Mannheimer Urteil von 1994

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gebildeter Mann, ein sehr sympathischer Mann mit festen Grundsätzen.' ( ... ) Natürlich, sagt Orlet, habe seine persönliche Sympathie nichts mit dem Urteil zu tun, da sei er nur ganz streng nach dem Gesetz vorgegangen. Und widerspricht sich sofort, als er sagt, er glaube aber schon, daß er, Rainer Orlet, wegen seines 'politischen Wissens' der richtige Mann für dieses Urteil gewesen sei." Die geistige Verwandtschaft zwischen Deckert und Orlet zeigt sich auch in einer erstaunlichen Parallelität ihrer Biographien. Der Rechtsradikale aus Weinheim hatte Anfang der sechziger Jahre die FDP-Jugendorganisation "Jungdemokraten" verlassen, weil diese die Oder-Neiße-Grenze anerkannt hatte und wurde bald darauf Mitglied der NPD. Der Mannheimer Richter war aus der CDU ausgetreten, nachdem die Partei die Ostverträge akzeptiert hatte. Auf die Frage des Reporters, warum er sich ins Private zurückgezogen habe und nicht auch ein rechtsextremer Politiker geworden sei, reagiert Orlet nicht etwa mit der zu erwartenden Empörung, sondern antwortet: "Wissen Sie, Günter Deckert ist ein ungewöhnlich vitaler Mann. Und ich bin introvertiert und sehr wenig vital. Das ist wohl der Grund." 2. Amtliche Urteilsschelte

Der erste Kommentar der Bundesregierung stammte von Regierungssprecher Norbert Schäfer. Von dem Urteil gingen "schlimme Signale" aus, sagte Schäfer, verwies aber auf die Unabhängigkeit der Justiz. Deshalb sei die Revision die einzige Möglichkeit, das Urteil aus der Welt zu schafIen l27 • Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) bezeichnete das Urteil als "Schlag ins Gesicht aller Opfer des Holocaust".128 Regierungschef Helmut Kohl (CDU) nannte das Urteil "schlicht eine Schande" und forderte ,,Konsequenzen" für die Richter. 129 Andere Politiker nahmen stärker die nächste Instanz in den Blick. Während Baden-Württembergs Ministerpräsident Erwin Teufel sich überzeugt zeigte, daß das Urteil vom BGH aufgehoben würde, ,,forderte" der CDU-Abgeordnete Heiner Geißler sogar die Aufhebung des Urteils durch den BGH. 130 SPD-Politiker beließen es bei massiver Urteilsschelte. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, beklagte, "daß das Urteil in seiner Begründung ein erschreckendes Maß an Verantwortungslosigkeit gegenüber unserer Geschichte zeigt und die Gefiihle der

127

Nach Süddeutsche Zeitung vom 11.8.1994.

129

Nach Süddeutsche Zeitung vom 13.8.1994. Nach Süddeutsche Zeitung vom 12.8.1994.

128 Nach Süddeutsche Zeitung vom 11.8.1994. 130

Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

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Opfer tief verletzen muß.,,131 BWldesgeschäftsfilhrer GÜllter Verheugen sprach vom "Wlglaublichsten Justizskandal der letzten zehn Jahre,,\32. Letztere Aussage ist typisch fiir die Urteilsschelte von Politikern, die in der BegriindWlg knapp Wld im Ton scharf ausfiel. 3. Urteilsschelte von Richtervertretern Es nimmt wunder, wie schnell Wld eindeutig sich auch Richterkollegen Wld der DRB als Standesorganisation vom Mannheimer Urteil distanzierten. Victor Weber, stellvertretender Vorsitzender des DRB, sprach zwar von einem bloßen ,,Ausrutscher". Er nannte jedoch die Argumentation des Gerichts öffentlich "Wlverständlich" Wld glaubte, daß sie dem Ansehen der Justiz schade. 133 In wesentlich schärferem Ton nahm der DRB-Vorsitzende Rainer Voss StellWlg: "In dem in Mannheim entschiedenen Fall hat die Justiz versagt", lautete sein Fazit. "So ist es denn auch das erste Mal, daß der Deutsche RichterbWld seine ZurückhaltWlg aufgegeben hat Wld zwar deswegen, weil die Grenze des Hinnehmbaren hier in Wlerträglicher Weise überschritten worden ist. Das Urteil ist eine ZumutWlg fiir alle diejenigen, die Wlter den nationalsozialistischen Verbrechen gelitten haben. Es ist eine VerhöhnWlg jener Millionen Opfer, die der Holocaust gefordert hat. Ich empfinde Zorn darüber Wld schäme mich dafiir, daß ein solches Urteil im Namen des Volkes verkündet worden ist.,,\34 Schließlich distanzierten sich 40 Richter des Landgerichts Mannheim in einer RichterversammlWlg von der UrteilsbegriindWlg der sechsten Strafkammerl35 Wld übten nicht - wie üblicherweise der Fall - Solidarität mit ihren Kollegen.

ill. Das Nachspiel Das Mannheimer Urteil löste nach der massiven Urteilsschelte weitere Schockwellen aus.

131 132 133 134 135

Rau, DRiZ 1994, S. 441 (442). Nach Süddeutsche Zeitung vom 11.8.1994. Nach Süddeutsche Zeitung vom 11.8.1994. Voss, DRiZ 1994, S. 349. Nach Süddeutsche Zeitung vom 17.8.1994.

E. Das Mannheimer Urteil von 1994

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1. Die Verschiebung des zweiten Deckert-Prozesses Wenige Tage nach Bekanntwerden des Mannheimer Urteils und der danach einsetzenden Urteilsschelte verschob das Landgericht ein weiteres Verfahren gegen GÜllter Deckert auf das folgende Jahr. 136 Offiziell wurden "dienstliche Gründe" fiir die Tenninverlegung angegeben. Offenbar fiirchtete das Landgericht aber eine Belastung der Verhandlungsatmosphäre wegen der Urteilsschelte an der ersten Deckert-Entscheidung. 2. Die "dauernde krankheitsbedingte Verhinderung" der Richter Müller und Orlet

Am 16.8.1994 reagierte das Präsidiwn des Landgerichts Mannheim auf die anhaltende öffentliche Kritik mit dem Beschluß, die Richter Müller und Orlet ,,infolge dauernder krankheitsbedingter Verhinderung" durch andere Richter zu ersetzen. 137 Zunächst entstand in der Öffentlichkeit der Eindruck, die Richter seien - wie von so vielen Politikern gefordert - abgelöst worden. Verwirrung stiftete die Rechtsgrundlage des Beschlusses, der § 21e III 1 GVG. Nach dieser eng auszulegenden Vorschrift bildet eine Krankheit nur dann eine "dauernde Verhinderung", wenn sie mindestens zwei Monate dauert. \38 Für eine sonstige Änderung der Geschäftsverteilung fehlte es an einer Rechtsgrundlage, da während des laufenden Jahres die Verteilung der richterlichen Aufgaben quasi "sakrosankt" ist. Der Anwalt des Richters Müller ließ schließlich verlauten, sein Mandant sei bloß krankgeschrieben und werde auf jeden Fall seinen Dienst in der sechsten Strafkammer wieder antreten. 139 Es stellte sich heraus, daß diese Version die richtige war. Richter Müller trat bereits Mitte September seinen Dienst an, während Rainer Orlet nach Ende der Krankheit und nach einem längerem Urlaub seine Arbeit in der sechsten Strafkammer Mitte November 1994 wieder aufnahm. Auch fiir das Geschäftsjahr 1995 schlug eine Änderung der Geschäftsverteilung fehl, da keine andere Kammer des Landgerichts Mannheim bereit war, Müller und Orlet aufzunehmen. 14o Die wohl als Befreiungsschlag

136 In dem anstehenden Prozeß mußte sich der rechtsradikale Politiker wegen Beleidigung verantworten. Er hatte ein Mitglied des ,,Antifaschistischen Aktionsbündnisses Weinheim" als Altkommunisten im Sinne des ,,Massenmörders Stalin" bezeichnet (nach Süddeutsche Zeitung vom 16.8.1994). 137 Nach Süddeutsche Zeitung vom 17.8.1994. 138 Kissel, GVG, § 21e Rn. 99, 102. 139 Nach Süddeutsche Zeitung vom 17.8.1994. 140 Nach Süddeutsche Zeitung vom 13.10. und 15./16.11.1994.

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

gedachte KrankschreiblUlg der Richter wurde damit zu einem erneuten Eigentor der Justiz.

3. Der Kampffür die richterliche Unabhängigkeit Der mißglückte Versuch, die Richter lUlter dem Vorwand dauernder Krankheit aus der Schußlinie der Öffentlichkeit zu nehmen, rief erneut die Richterschaft lUld die Presse auf den Plan. Fast einhellig wurde die als MaßregellUlg empfundene Maßnahme des Gerichtspräsidiums kritisiert lUld der Wert der richterlichen Unabhängigkeit betont. a) ÄußeflUlgen aus der Richterschaft Als erster Kämpfer für die richterliche Unabhängigkeit trat der angegriffene Richter Rainer Orlet selbst auf den Plan. Man müsse sich fragen, so sagte er, ob es in diesem Land bald überhaupt noch möglich sei, angesichts des großen öffentlichen Drucks einen rechten Straftäter etwa wegen mangelnder Beweise freizusprechen l41 • Der DRB-Vorsitzende Rainer Voss nahm mehrfach zu den Angriffen auf die RechtsprechlUlg StelllUlg: Der Preis für die richterliche Unabhängigkeit sei manchmal hoch, "in diesem Fall sogar so hoch, daß manch einer geneigt sein mag, ihn nicht mehr zahlen zu wollen, sprich: Die Mannheimer Richter wie auch immer gemaßregelt sehen will. Dies hielte ich allerdings für fatal. Schüfe man hier einen Präzedenzfall, könnte sich kein Gerichtspräsident ( ... ) künftig mehr vor Pressionen aus Öffentlichkeit, Politik, Medien oder woher auch immer sicher sein, 'unliebsame' Richter anderweitig einzusetzen. ,,142 In einer Fernsehdiskussion beklagte Voss, daß Politiker öffentlich DisziplinieflUlgen für die Richter forderten. Sie wüßten genau, daß die richterliche Unabhängigkeit es verbiete, Richter wegen des Inhalts ihrer Urteile abzusetzen. Voss 141 Nach Süddeutsche Zeitung vom 5.9.1994. Nur fünf Monate später trat die von Orlet angesprochene Fallkonstellation ein. Das AG Hamburg sprach zwei Mitglieder der rechtsradikalen Partei FAP frei, die den Film "Schindlers Liste" über einen Telefonansagedienst mit den Worten kritisiert hatten, er halte den ,,Auschwitz-Mythos" am Leben. Im Gerichtssaal hatten die Angeklagten ausgesagt, sie leugneten die Ermordung der Juden nicht. Wegen der Mehrdeutigkeit des Begriffes ,,Mythos" sah Amtsrichter Albrecht Kob keine andere Möglichkeit, als die beiden Neonazis nach dem Grundsatz in dubio pro reo freizusprechen. Kob, der in der Richterschaft hohes Ansehen genießt, mußte danach nicht nur massive Urteilsschelte über sich ergehen lassen. Er war auch vielen persönlichen Angriffen ausgesetzt, seine Familie wurde telephonisch bedroht (nach Süddeutsche Zeitung vom 4./5.2. und 20.2.1995). 142 Voss, DRiZ 1994, S. 349 (352); vgl. auch Süddeutsche Zeitung vom 17.8.1994.

E. Das Mannheimer Urteil von 1994

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verlangte von den Politikern stattdessen, sich ,,hinzustellen Wld zu sagen, das ist nWl mal richterliche Unabhängigkeit ( ... ) Wld das müssen wir akzeptieren oder WlSer Rechtsstaat geht vor die HWlde. ,,143 Noch deutlicher äußerte sich Voss Ende des Jahres 1994 in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Unter dem Eindruck der harschen Urteilsschelte gegen das Soldatenurteil des BVerro l44 Wld das Haschisch-Urteil des LG Lübeck145 warf der DRB-Vorsitzende der Politik vor, zur ,,Demontage der Justiz" beizutragen. l46 b) RückendeckWlg von den Medien Die Standesvertreter blieben mit ihrer Kritik nicht allein. Erstaunlich ist, mit welcher Geschlossenheit die Presse, die vorher mit scharfen Worten das Mannheimer Urteil gescholten hatte, für die Sache der richterlichen Unabhängigkeit Partei ergriff. Bereits in ihrer ersten StellWlgnahme beschäftigte sich die Frankfurter Allgemeine ZeitWlg nicht so sehr mit dem Inhalt des Urteils als vielmehr mit der Zulässigkeit der Urteilsschelte. ,,Die Sprecher der Betroffenen, der jüdischen Organisationen, haben das Recht zu scharfen FormuliefWlgen. Dieses Recht hat aber nicht die Exekutive. Die BWldesministerin der Justiz, Leutheusser-Schnarrenberger, hat die Urteilsgründe als einen 'Schlag ins Gesicht' aller Opfer der JudenvernichtWlg bezeichnet. Hatte die Ministerin fiir einen Augenblick vergessen, wie sorgfältig die Angehörigen der Exekutive es vermeiden Wld zu vermeiden haben, Kritik an einem Urteil zu üben? Der Sprecher der BWldesregierW1g hat sich hier an den Comment gehalten.,,147 In der. Süddeutschen ZeitWlg hieß es zur ,,KaltstellWlg" der Richter: ,,Diese EntscheidWlg ist sympathisch, aber falsch. In dieser Form findet sie keine GrWldlage im Gesetz. Würde damit begonnen, Richter nach gutmeinendem Gusto, aber ohne gesetzliche GrWldlage hin- Wld herzuschieben, es gäbe bald keinen gesetzlichen Richter mehr. ( ... ) Ein Wlsägliches Urteil wie das Deckert-Urteil ist der Preis, den man fiir die Unabhängigkeit der Richter zahlen muß. Es ist dies ein hoher Preis - er ist aber nicht zu hoch. Das Urteil, so schändlich es ist, muß verkraftet Wld in nächster Instanz aufgehoben werden. ,,148 143 Nach Süddeutsche Zeitung vom 26.8.1994. Auch für den ehemaligen Präsidenten des BVerwG, Horst Sendler, ZRP 1994, S. 371 (378), trugen die Rufe nach einer Abberufung der Mannheimer Richter "skandalöse Züge" . . 144 Siehe oben Erster Teil D m 5. 145 Siehe dazu unten Zweiter Teil C TI 1 a aa (2) (a) (aa). 146 Nach Süddeutsche Zeitung vom 2.1.1994. 147 Friedrich Karl Fromme, in: Frankfurter Allgemeine Zeitun~ vom 11.8.1994. 148 Heribert Prand, in: Süddeutsche Zeitung vom 17.8.1994. Ähnlich nahm auch der Schwarzwälder Bote vom 17.8.1994 Stellung. In der Süddeutschen Zeitung vom 2. und

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

Dagegen schwiegen sich die Politiker zur KrankmeldWlg der beiden Richter weitgehend aus. Nur BWldesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger bezog Position. Obwohl die beiden Richter nur krankgeschrieben waren, bezeichnete die Ministerin deren ,,AblösWlg" als "ennutigendes Signal" .149 In einem Interview nahm sie indirekt zu den Vorwürfen der FAZ StellWlg: "Was meine eigene Rolle betrifft: Als Justizministerin betreibt man zwar keine Urteilsschelte, aber daß man bei einem solchen Urteil seine EmpörlUlg auch mal in ziemlich klaren Worten zum Ausdruck bringt, das finde ich sehr wohl auch mit meiner Funktion als Ministerin vereinbar.,,150 Das Mannheimer Urteil hat also wiederum eine Diskussion über Zulässigkeit Wld Folgen der Urteilskritik in Gang gebracht Wld erneut das Bewußtsein fiir die Grenzen der Urteilsschelte geschärft.

4. Die Aufhebung des Mannheimer Urteils durch den BGH Am 15.12.1994 hob der BWldesgerichtshof das Mannheimer Urteil mit deutlichen Worten auf. Die Argumentation der Karlsruher Richter wird nachfolgend in den wesentlichen GrWldzügen nachgezeichnet. 151 Das LG Mannheim hatte strafmildernd berücksichtigt, daß Deckert von der sachlichen Richtigkeit seiner Äußer\Ulgen - nämlich der LeugnWlg des Holocaust - überzeugt sei Wld Wleigennützig gehandelt habe, weil er "die Widerstandskräfte im deutschen Volk gegen die aus dem Holocaust abgeleiteten jüdischen Ansprüche" stärken wollte. 152 Der BGH stellte demgegenüber klar, daß der Holocaust als geschichtliche Tatsache offenkWldig sei. Wer diesen leugne, handle in politischer VerblendWlg, nicht aber Wleigennützig. Die strafmildernde BerücksichtigWlg der Motive des Angeklagten sei auch deshalb rechtsfehlerhaft, weil sie "in WlZUlässiger Weise Elemente in die StrafzumessWlg einbezieht, die den Kern des Strafvorwurfs ausmachen." Denn gerade in der LeugnWlg des Holocaust liege der volksverhetzende Angriff auf die Würde des jüdischen Volkes. Auch die BegründWlg der StrafaussetzWlg zur Bewähnmg (§§ 56 I 1, III StGB) wurde beanstandet. Während das Landgericht den Angeklagten als "charakterstarke Wld verantwOrtWlgsbewußte Persönlichkeit" bezeichnet hatte, wies der BGH auf die Verstöße Deckerts gegen das Beamtenrecht Wld 3.9.1994 erschienen zahlreiche Leserbriefe, in denen der Beschluß des Gerichtspräsi-

diums ausnahmslos kritisiert wurde. 149 Nach Süddeutsche Zeitung vom 18.8.1994. ISO Süddeutsche Zeitung vom 20.8.1994. 151 BGH, NJW 1995, S. 340. 152 Siehe oben Erster Teil E I 3 b.

E. Das Mannheimer Urteil von 1994

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gegen zahlreiche Strafvorschriften hin. Fazit: "Sein Verhalten ist deshalb eher von Uneinsichtigkeit und Hartnäckigkeit als von Charakterstärke und Verantwortungsbewußtsein geprägt." Auch der Hinweis der Mannheimer Richter auf die Intelligenz Deckerts verfange nicht, da dessen Intelligenz ihn bisher gerade nicht von seiner Tat abgehalten habe, obwohl er durch zwei Disziplinarverfahren vorgewarnt war. ,,Damit entfällt auch die Grundlage für die Schlußfolgerung der Kanuner, 'einem so gearteten Manne' könne das in der Hauptverhandlung abgelegte 'Bekenntnis zur Rechtstreue' geglaubt werden." Scharfe Worte fand der BGH auch für die verharmlosende Formulierung, Deckerts Unrecht habe "im Grunde in der Äußerung einer Auffassung" bestanden. § 130 StGB diene dem Schutz des öffentlichen Friedens, so daß eine Strafvollstreckung zur Verteidigung der Rechtsordnung (vgl. § 56 III StGB) naheliege. Deckerts Verteidiger hatte in Karlsruhe versucht, die massive Schelte des Mannheimer Urteils rechtlich zugunsten seines Mandanten auszunutzen. Er brachte vor, daß nach dem öffentlichen Aufruhr kein Gericht mehr frei von äußeren Einflüssen über den Fall entscheiden könne. Deshalb sei das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK verletzt, was zu einer Einstellung führen müsse. Der BGH zog sich knapp und formal darauf zurück, daß kein Verfahrenshindernis im Sinne des § 206a StPO vorliege und deshalb eine Einstellung nicht in Betracht komme. Das BGH-Urteil erregte längst nicht mehr so viel Aufmerksamkeit wie die Entscheidung des Mannheimer Landgerichts. Zumeist wurde es jedoch von Medien und Öffentlichkeit gelobt. 153 Doch das Ende der Debatte über Mannheim und die Folgen war noch immer nicht erreicht.

5. Reaktionen auf den Dienstantritt des Richters Orlet Ein Anlaß für die Fortsetzung der Diskussion ergab sich schnell: Die vermeintlich abgelösten Richter Müller und Orlet nahmen im September bzw. November 1994 die Arbeit in der sechsten Strafkanuner des Mannheimer Landgerichts wieder auf.

153 Z.B. Helmut Kerscher, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.12.1994; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.12.1994.

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte a) Mahnwache Wld ForderWlg nach GeschäftsneuverteilWlg

RWld 200 Demonstranten protestierten am 14.11.1994 vor dem Mannheimer Landgericht mit einer Mahnwache gegen den Dienstantritt des Richters Rainer Orlet. Organisiert wurde die Mahnwache vom BWldesverband Jüdischer Studenten. Am selben Tag forderte Michel Friedman, Direktoriumsmitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland, das Gericht auf, Orlet "abzusetzen", womit er eine ÄnderW1g des GeschäftsverteilWlgsplanes meinte. Orlet habe dem Auschwitz-Leugner Deckert einen ,juristischen Freischein für geistige BrandstiftWlg" ausgestellt. IS4 b) Der Mannheimer Schöffenstreik Anfang Februar 1995 verweigerten sieben Schöffen aus Gewissensgründen die Zusammenarbeit mit den Berufsrichtern der sechsten Strafkammer des Landgerichts Mannheim. DarWlter war auch der 46jährige Unternehmensberater Stanislaus Stepien. Er hatte sich bereits im Dezember abgemeldet, weil ein großer Teil seiner Vorfahren in Konzentrationslagern gequält Wld umgebracht worden war. Die Richter hätten durch das Deckert-Urteil ,,Rassisten Wld Auschwitz-Lellgnern den Rücken gestärkt", beklagte. Stepien. Weitere 40 Laienrichter erklärten sich mit dem Streik ihrer sieben Kollegen solidarisch. ISS Kommentatoren bekWldeten zwar Sympathie mit dem Schöffenstreik, hielten diesen jedoch rechtlich für unzulässig. Ein Schöffe habe grWldsätzlich nicht das Recht, sein Amt aus Gewissensgründen niederzulegen. Dahinter stehe die vom GrWldgesetz gewährte Garantie, daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden dürfe (Art. 101 I 2 GG) sowie die BefürchtWlg, daß Schöffen durch RücktrittsdrohWlgen Druck auf die Berufsrichter ausüben könnten. Laienrichter dürften gemäß § 54 I 2 GVG nur von ihrem Amt entbWlden werden, wenn dessen AusübWlg lUlZumutbar erscheine. Diese VoraussetZWlg liege

IS4 Nach Süddeutsche Zeitung vom 15./16.11.1994. Friedmans Forderung schloß sich auch Heribert Prantl, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.10.1994, an: ,,In Mannheim empfiehlt sich eine einfache Methode: Bei der anstehenden Geschäftsneuverteilung einen ideologisch unbelehrbaren Richter dorthin zu schicken, wo er wenig Schaden anrichten kann. Etwa ins Grundbuchamt.". Gegen diesen Vorschlag einer auf eine konkrete Fehlentscheidung gestützten Änderung der Geschäftsverteilung machte Herr, DRiZ 1994, S. 405 (409f.), Bedenken geltend. Dies sei eine wegen der richterlichen Unabhängigkeit unzulässige Maßregelung. ISS Nach Süddeutsche Zeitung vom 2.2. und 9.2.1995.

E. Das Mannheimer Urteil von 1994

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wegen seiner Familiengeschichte bei Stanislaus Stepien vor, nicht aber bei den anderen Schöffen. 156 c) Nachdenken über eine Richteranklage gegen Orlet Am 30.11.1994 richtete die SPD-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg eine Anfrage an die Landesregienmg. In der Hauptsache ging es danun, ob bei Richter Rainer Orlet die Voraussetzungen für die Erhebung einer Richteranklage nach Art. 66 V der baden-württembergischen Verfassung vorlägen. Am 15.12.1994 nahm lustizminister Thomas Schäuble (CDU) zu der Anfrage Stellung und gab darin seine Einschätzung wieder, daß eine aggressiv kämpferische Haltung Orlets gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht anzunehmen sei 157. Am 17.1.1995 beschäftigte sich der "Ständige Ausschuß" des Landtags mit der SPD-Anfrage und der Antwort der Landesregienmg. Auch die Presse und die juristische Fachliteratur behandelten die Frage, ob das in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie praktisch gewordene Instrument der Richteranklage gegen Orlet eingesetzt werden solle. Für eine Richteranklage wurde deren "Wamwirkung" und die Würde der Opfer ins Feld gefiihrt. 158 Andere beurteilten die Erfolgsaussichten einer Richteranklage negativ und befürchteten insgesamt negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit der Richter. 159 In einer Anhönmg vor dem Stuttgarter Landtag meinte der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda, eine Richteranklage habe Aussicht auf Erfolg. Nach seinem Rechtsgutachten schien der Weg damit frei zu sein. Das Verfahren verzögerte sich jedoch. Insbesondere aus CDUKreisen wurde eine ausfiihrliche Anhönmg Orlets zu den ihn belastenden Presseberichten gefordert. 160

156 In dieser rechtlichen Bewertung waren sich Hassemer, in: Spiegel 6/1995, und Voss, in: Süddeutsche Zeitung vom 9.2.1995, einig. 157 Abdruck der Anfrage im Wortlaut in: DRiZ 1995, S. 75. 158 So Helmut Kerscher, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.12.1994; Heribert Prantl, in: Süddeutsche Zeitung vom 4.15.2.1995; Michael Reissenberger (Süddeutscher Rundfunk), in: DRiZ 1995, S. 74. 15 Vgl. dazu Wassermann, NJW 1995, S. 303. Während der Beratungen des 00Entwurfs im Jahr 1949 war die Einführung der Richteranklage sehr umstritten. Schrnidt meinte damals, es sei ehrlicher, den Richter gleich mit Weisungen zu versehen, als ihn im nachhinein zu maßregeln, wenn er nicht "das Richtige" getroffen habe (zitiert nach Mar~ua, DRiZ 1995, S. 70). 16 Nach Süddeutsche Zeitung vom 9.3.,16.3.1995.

Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

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6. Die Versetzung Orlets in den Ruhestand Rainer Orlet kam der ParlamentsabstimmWlg über eine Richteranklage zuvor. Am 9.5.1995 stellte er aus gesWldheitlichen Gründen einen Antrag auf Versetzung in den Ruhestand. Orlets Anwälte veröffentlichten eine Erklänmg, wonach die PensionierWlg ,,zur AbwendWlg eines möglichen lebensbedrohlichen Zustandes" beantragt worden sei. "Unzutreffende BehauptWlgen eines Verhaltens aus OpportWlismus oder Angst vor einer möglichen Richteranklage" wiesen sie "entschieden zurück". Am 10.5.1995 genehmigte das Stuttgarter Justizministerium den Antrag Orlets Wld zog damit einen Schluß strich Wlter die öffentliche Debatte zum Mannheimer Urteil. 161 IV. Fazit UntersuchWlgsbedürftige Spitzen der Urteilsschelte beim Mannheimer Urteil bildeten die Vergleiche dieser RechtsprechWlg mit der Justiz im NS-Staat, die deutlich geäußerten ErwartWlgen an die nächste Instanz in einem noch nicht rechtskräftigen Verfahren Wld die ForderWlgen nach einer AblösWlg der Richter. Besonders augenfällig am Mannheimer Urteil sind dessen erhebliche FernwirkWlgen. Die Urteilsdebatte erstreckte sich über einen außergewöhnlich langen Zeitraum von neWl Monaten Wld könnte ein Beispiel für die Macht der Kritik sein. Der berichterstattende Richter sah sich Aktionen wie Schöffenstreik, Mahnwachen, Befangenheitsanträgen Wld der Diskussion über eine Richteranklage ausgesetzt Wld zog mit dem Antrag auf Versetzung in den Ruhestand die Konsequenzen. Die Urteilsschelte nahm auch auf den Gang der Rechtspflege Einfluß. Ein weiterer Prozeß gegen Deckert wurde verlegt. Und niemand weiß, ob der BGH das Mannheimer Urteil in ähnlich scharfen Worten zurückgewiesen hätte, wenn er nicht vorher durch den öffentlichen Schlagabtausch alarmiert worden wäre. Das Nachspiel zum Mannheimer Urteil läßt sich aber nicht einseitig als Rückschlag für die Unabhängigkeit der Justiz deuten. Einzelne Kritiker des Urteils waren durchaus dazu fähig, zwischen ihrer AblehnWlg der EntscheidWlg Wld ihrer WertschätZWlg für den GrWldsatz der richterlichen Unabhängigkeit zu differenzieren. ForderWlgen nach einer AblösWlg von Richtern wurden als schädlich erkannt Wld erfuhren eine breite AblehnWlg. Als einzige legale Möglichkeit der RichterablösWlg wurde differenziert über die ErhebWlg einer Richteranklage diskutiert.

161

Nach Süddeutsche Zeitung vom 11.5.1995.

F. Der Kruzifix-Beschluß von 1995

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F. Der Kruzif'u:-BeschluD von 1995 (BVerfG, EuGRZ 1995, S. 359ff.) L Das Urteil

1. Sachverhalt 162 Im Kruzifix-Beschluß wurde über die VerfassWlgsbeschwerde eines Ehepaars Wld seiner drei schulpflichtigen Kinder entschieden. Die Eltern erziehen ihre Kinder im Sinne der anthroposophischen WeltanschauWlg Rudolf Steiners Wld wandten sich deshalb dagegen, daß ihre Kinder in den Schulräumen dem Anblick von Kruzifixen Wld Kreuzen ausgesetzt seien. Diese Symbole, insbesondere die DarstellWlg eines "sterbenden männlichen Körpers", laufe ihren ErziehWlgsvorstellWlgen zuwider. Den Interessen der Kläger an der EntfernWlg der Kreuze stand § 13 I 3 der bayerischen VolksschulordnWlg entgegen, wonach in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen ist. Der Streit hatte im Jahr 1986 begonnen, als die älteste Tochter des Ehepaars eingeschult wurde. In ihren Klassenzimmer war ein 80cm hohes Kruzifix im Sichtfeld der Tafel angebracht. Auf eine Beschwerde der Eltern hin gab es zunächst einen Kompromiß mit der SchulverwaltWlg: Das Kruzifix wurde gegen ein kleines Kreuz ausgetauscht, das über der Tür aufgehängt wurde. Diese KonfliktlösWlg erwies sich indes nicht als dauerhaft. Als die Tochter die Klasse Wld schließlich auch die Schule wechselte, waren zumindest in einigen Schulräumen wieder große Kruzifixe angebracht.

2. Prozeßgeschichte Im Februar 1991 stellten die Eltern einen Eilantrag beim VG Regensburg, alle Kreuze aus den Räumen zu entfernen, in denen ihre Kinder Unterricht hätten. Das VG lehnte diesen Antrag mit der BegründWlg ab, daß nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz die positive Religionsfreiheit deIjenigen Schüler, die religiös erzogen werden wollten, der n~gativen Bekenntnisfreiheit vorgehe. 163 Auch eine Beschwerde an den VerwaltWlgsgerichtshof blieb erfolglos. Das Gericht sah weder einen AnordnWlgsgrood noch einen AnordnWlgsanspruch als glaubhaft gemacht an. Insbesondere ging der BayVGH auf die BedeutWlg des Kreuzes ein. Das Kreuz, so entschieden die Richter, sei nicht Ausdruck eines 162 Nach BVerfG, EuGRZ 1995, S. 359. Zu den Einzelheiten der kuriosen Vorgeschichte siehe Hans Holzhaider, in: Süddeutsche Zeitung vom 21.8.1995. 163 VG Regensburg, BayVB11991, S. 345.

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

Bekenntnisses zu einem konfessionell gebundenen Glauben, sondern wesentlicher Gegenstand der allgemein christlich-abendländischen Tradition. Das bloße Vorhandensein einer Kreuzesdarstellung verlange weder eine Identifikation mit den dadurch verkörperten Glaubensvorstellungen, noch ein irgendwie sonst darauf gerichtetes aktives Verhalten. Die Schule werde also durch die angebrachten Kruzifixe weder missionarisch tätig noch werde ihre Offenheit fiir andere religiöse und weltanschauliche Werte beeinträchtigt.l64 Während der anhängigen Berufung im Hauptsacheverfahren erhoben die Kläger unter Berufung auf eine Verletzung in ihren Grundrechten aus Art. 4 I, 6 11, 2 I, 19 IV GG beim BVerfG Verfassungsbeschwerde.

3. Entscheidungsgründe 165 Zunächst entschied das BVerfG, daß die Verneinung eines Anordnungsgrundes durch den BayVGH eine Verletzung des Art. 19 IV GG darstelle. Ausführlich widmete sich der Beschluß danach der Frage, ob die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 4 I GO verletzt seien. In seinem Schutzbereich gewähre Art. 4 I GO die negative Glaubensfreiheit und damit auch das Recht, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. Aus Art. 4 I und Art. 6 11 I GO folge das Recht der Eltern zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht. Damit korrespondiere die Befugnis, Kinder von Glaubensüberzeugungen femzuhalten, die den Eltern falsch oder schädlich erscheinen. Schließlich ergebe sich aus Art. 4 I, 3 III, 33 I und 140 GO in Verbindung mit Art. 136 I 4 und Art. 137 GO der Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den verschiedenen Bekenntnissen. Die staatlich angeordnete Anbringung von Kruzifixen greift nach Ansicht des BVerfG in das so definierte Grundrecht ein. ,,zusammen mit der allgemeinen Schulpflicht führen Kreuze in Unterrichtsräumen dazu, daß die Schüler während des Unterrichts von Staats wegen und ohne Ausweichmöglichkeiten mit diesem Symbol konfrontiert sind und gezwungen werden, 'unter dem Kreuz' zu lernen." Dadurch unterscheide sich die Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern von der im Alltagsleben häufig auftretenden Konfrontation mit religiösen Symbolen der verschiedensten Glaubensrichtungen. Das BVerfG verwarf die Deutung des Kreuzes durch den BayVGH. ,,Das Kreuz gehört nach wie vor zu den spezifischen Glaubenssymbolen des Christentums. Es ist geradezu sein Glaubenssymbol schlechthin." Es sei Ausdruck bestimmter christlicher Glau164 BayVGH, NVwZ 1991, S. 1099. 165

BVerfG, EuGRZ 1995, S. 359 (362ff.).

F. Der Kruzifix-Beschluß von 1995

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bensüberzeugungen und stehe auch fiir deren missionarische Ausbreitung. ,,Es wäre eine dem Selbstverständnis des Christentums und des christlichen Kreuzes zuwiderlaufende Profanisierung des Kreuzes, wenn man es, wie in den angegriffenen Entscheidungen, als bloßen Ausdruck abendländischer Tradition oder als kultisches Zeichen ohne spezifischen Glaubensbezug ansehen wollte." Schließlich wirke das Kreuz auf die Schüler ein, indem es appellativen Charakter habe und die von ihm symbolisierten Glaubensinhalte als vorbildhaft und befolgungswilrdig ausweise. ,,Das geschieht überdies gegenüber Personen, die aufgrund ihrer Jugend in ihren Anschauungen noch nicht gefestigt sind, Kritikvermögen und Ausbildung eigener Standpunkte erst erlernen sollen und daher einer mentalen Beeinflussung besonders leicht zugänglich sind." Der Eingriff in das Grundrecht sei nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Zwar habe der Staat gemäß Art. 7 I GG das Recht, Erziehungsziele festzusetzen. Er könne damit religiös-weltanschauliche Fragen zu Unterrichtsinhalten machen. Die Schule dürfe jedoch weder missionarisch tätig werden noch Verbindlichkeit fiir christliche Glaubensinhalte beanspruchen. Diese Grenze sei mit § 13 I 3 BayVSO überschritten. Ebensowenig tauge die positive Religionsfreiheit der anderen Schüler aus Art. 4 I GG zur Rechtfertigung. Entstehende Konflikte ließen sich nicht nach dem Mehrheitsprinzip lösen. Zum einen bezwecke insbesondere die Glaubensfreiheit den Schutz von Minderheiten. Zum anderen verleihe Art. 4 I GG nicht den Anspruch, eine bestimmte Glaubensüberzeugung gerade im Rahmen staatlicher Institutionen zu betätigen. Dieser Mehrheitsmeinung von fünf Richtern des Ersten Senats stellten drei Richter ein Sondervotum entgegen. Sie begründeten ihre andere Auffassung zunächst damit, daß das Schulrecht nach dem GG Sache der Länder sei und diesen deshalb ein weiter Gestaltungsspielraum zustehe. Zum zweiten legten die drei Richter ihrer Beurteilung eine andere Deutung des Kreuzessymbols zugrunde. ,,Das bloße Vorhandensein eines Kreuzes im Klassenzimmer zwingt die Schüler nicht zu besonderen Verhaltensweisen und macht die Schule nicht zu einer missionarischen Veranstaltung." Zuletzt hatte nach Meinung der Senatsminderheit die positive Religionsfreiheit der anderen Schüler Vorrang, zumal "die mentale Belastung, die nichtchristliche Schüler durch die zwangsläufige Wahrnehmung des Kreuzes im Unterricht zu erdulden haben", nur ein verhältnismäßig geringes Gewicht habe.

6 Mishra

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

11. Die Urteilsschelte Das Kruzifix-Urteil bietet sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht ungewöhnlich reiches Anschauungsmaterial für die nachfolgende Untersuchung. Über zwei Wochen war es als Thema in den Schlagzeilen und rief eine unübersehbare Zahl kritischer Stimmen hervor. Die nachfolgende Darstellung kann die Breite der Diskussion nicht erfassen. Ausgewählt wurden besonders aufsehenerregende und drastische Stellungnahmen. 1. Urteilsschelte durch Private

Das Katholische Büro in Bayern, das als Sprachrohr der Bischofskonferenz gilt, griff in einer gemeinsamen Erklärung mit dem Landeskomitee der Katholiken in Bayern Wld dem Katholischen Schulkommissariat zu scharfen Worten, die sich für die nachfolgende Urteilsdebatte als stilbildend erweisen sollten: Die Karlsruher Entscheidung lasse "die verfehlte Tendenz einer staatlich verordneten Religionslosigkeit erkennen" und wecke "ungute Parallelen an die EntfernWlg des Kreuzes unter den diktatorischen Bedingungen des nationalsozialistischen Unrechtsstaates. " Sie stelle einen ,,Angriff auf die christliche Prägung Bayerns" dar und könne "als Signal für einen ideologischen Bildersturm mißverstanden werden, der sich auf das Symbol des Kreuzes im gesamten öffentlichen Bereich erstreckte.'d66 In dieser Erklärung Lassen sich typische ,,zutaten" einer geharnischten Kritik erkennen. Ein Urteil wird von dem zu entscheidenden Einzelfall getrennt, sein Tenor in einen ,,Angriff auf die christliche Prägung Bayerns" umgedeutet. Um das Urteil noch stärker zu perhorreszieren, werden falsche historische Vergleiche bemüht (,Jdeologischer Bildersturm"). Als Höhepunkt werden die Richter Wldifferenziert in eine Reihe mit der nationalsozialistischen Terrorjustiz gestellt. In vielen ZeitWlgen fand sich ähnliche Kritik. 167 Jürgen Busche benutzte in der Süddeutschen ZeitWlg das Kruzifix-Urteil als Anlaß zu einer generellen Abrechnung mit Richtern und Juristen: ,,Das Unfaßliche an diesem Urteil ist der Mangel an formaler Bildung, der bei diesen Juristen erkennbar wird." Die Richter seien überfordert gewesen, "Operationen schon der einfachen Denkschule zu bewältigen.'d68 Hans Maier, ehemaliger 166 Nach Süddeutsche Zeitung vom 11.8.1995. 167 Z.B. in der Deutschen Tagespost (Würzburg) vom 13.8.1995. 168 Süddeutsche Zeitung vom 11.8.1995. Nach Busche wäre der Fall "schon durch bloßes Starren auf das Grundgesetz anders zu entscheiden gewesen. Da das Grundgesetz die Bewohner dieses Landes unter die Verantwortung auch vor Gott stellt, darf wohl die Schule in ähnlicher Weise an Gott erinnern."

F. Der Kruzifix-Beschluß von 1995

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bayerischer Kultusminister und früherer Vorsitzender des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, übte ebenfalls polemische Kritik. Er blieb dabei aber nicht stehen, seine Urteilsschelte mündete vielmehr in einen Boykottaufruf: ,,Die Schöpfer des Grundgesetzes würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie sähen, was aus ihrem Text in den Händen der Richter geworden ist: ein Vorwand fiir die staatlich verordnete Religionslosigkeit (... ) Gegen den puren Unsinn und Übermut auch höchster Gerichte ist Widerstand geboten. ,,169 Diese drei Zitate stehen nur stellvertretend fiir die vielgestaltigen Reaktionen auf das Kruzifix-Urteil. Katholiken aus allen Teilen Bayerns sammelten Unterschriften und veranstalteten am 23.9.1995 in München eine Demonstration unter dem Motto ,,Das Kreuz bleibt - gestern, heute, morgen", an der gut 25000 Menschen teilnahmen. 170 Einen dermaßen geballten Protest habe es nicht einmal beim Streit um den § 218 StGB gegeben, hieß es aus Kirchenkreisen. Leo Kirch, Großaktionär mit 35 Prozent Aktienanteil am Axel Springer-Verlag, forderte vom Verlagsvorstand die Entlassung des Chefredakteurs der Welt, nachdem in der Zeitung ein zustimmender Kommentar zum Kruzifix-Urteil erschienen war. Zeitungen wurden von Leserbriefen überschwemmt, starteten gar eigene Leserbriefaktionen. In erbosten Zuschriften wurden die Richter als "Verbrecher" beschimpft oder aufgefordert, "zum Psychiater" zu gehen. Beim Bundesverfassungsgericht gingen - nachdem die bisherige Höchstmarke bei 600 Reaktionen gelegen hatte - über 2000 meist kritische Zuschriften ein. Ein Gerichtsmitglied konnte sich nach alledem vorstellen "was in Nordirland los ist".171 2. Amtliche Urteilsschelte

Beispiellos und maßlos fielen Politiker über das Kruzifix-Urteil her. Neben der üblichen polemischen Schelte, die hier nicht dargestellt wird, stellten sie erstmalig in der bundesdeutschen Geschichte öffentlich Überlegungen an, wie man das Urteil aus der Welt schaffen könne. Bloße Kritik, so glaubten vor allem CSU-Politiker zu erkennen, genügte nicht mehr, um die Erregung in der

169

Nach Süddeutsche Zeitung vom 14./15.8.1995.

170 Uwe Wesel bezeichnete in der Zeit vom 29.9.1995 die Veranstaltung auf dem Odeonsplatz, bei der die dumpfe Antistimmung gegen das BVerfG weiter geschürt wurde, als ,.Marsch zur Feldhermhalle". 171 Die Informationen sind entnommen: Süddeutsche Zeitung vom 16.8., 19./20.8, 28.8.,25.9.1995; Der Spiegel Nr.35/1995 vom 28.8.1995.

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Bevölkenmg zu kanalisieren Wld sich selbst an die Spitze der Protestbewegoog zu setzen. l72 Möglicherweise den ersten Emotionen zuzuschreiben war der Kommentar des CSU-Landtagsabgeordneten Sepp Ranner aus Bad Aibling, der fiir den Fall der VOllstreckWlg des Urteils Tätlichkeiten androhte: ,,Die Richter Wld die Kläger sollen doch selber herkommen Wld die Kreuze in den Schulen eigenhändig abnehmen. Wir Bayern werden sie jedenfalls gebührend mit Dreschflegeln erwarten.,,173 Der bayerische Kultusminister Hans Zehetmair (CSU) entnahm der "überwältigenden Unterstützung der Bürgerinnen Wld Bürger", daß das BVerfG nicht mehr im Namen des Volkes urteile. Er forderte zu der vom Gericht entschiedenen Frage einen Volksentscheid. 174 Offenbar lag dieser Kritik die weitverbreitete VorstellWlg zugnmde, das BVerfG müsse mit seinen Entscheidung der ,,Friedensstifumg" Wld ,,KonsensbildWlg" dienen Wld habe deshalb durch den Kruzifixbeschluß seine Pflichten verletzt. 17S Gegen dieses falsche Verständnis von richterlicher Tätigkeit wendete sich der Vorsitzende des Ersten Senats, Johann Friedrich Henschel: "Wir haben uns an der VerfassWlg zu orientieren; diese müssen wir auslegen. Das ist Wlser einziger Maßstab. Wir dürfen nicht danach urteilen, ob Wlsere EntscheidWlgen der Mehrheit gefallen. Wenn die VerfassWlg eine EntscheidWlg erzwingt, die gegen die Mehrheit gerichtet ist, haben wir keine Möglichkeit auszuweichen.,,176 Norbert Geis, rechtspolitischer Sprecher der CDU/CSU-BWldestagsfraktion, zweifelte gar - entgegen der insoweit eindeutigen Vorschrift des § 31 BVerfGG - daran, daß das Urteil bindend sei. Es gebe keine Instanz zur Korrektur von BVerfG-EntscheidWlgen, "auch wenn die Richter sich täuschen Wld ihr Urteil verfassWlgswidrig ist." Daher müsse "über die Verbindlichkeit einer solchen EntscheidWlg fiir alle VerfassWlgsorgane des BWldes Wld der Länder sowie fiir alle Gerichte Wld Behörden" nachgedacht werden. 177 Der stellvertretende CSUVorsitzende Wld Europaabgeordnete Ingo Friedrich rief offen zum Boykott des

172

Der bayerische Kultusminister Hans Zehetmair (CSU) entlarvte offen die Motive

für die harsche Urteilsschelte durch Vertreter seiner Partei: ,,Aber mir scheint, die

Richter haben die Dimensionen ihres Urteils weit unterschätzt. Denn das reicht weit über das Kreuz und auch über das Religiöse hinaus (... ) Da wird ein Wertegefühl berührt, dem die CSU auch ihre Wahlsiege verdankt." (Die Welt vom 25.8.1995). 173 Nach Der Spiegel Nr. 33/1995 vom 14.8.1995. 174 Nach Süddeutsche Zeitung vom 14./15.8.1995. 175 Vgl. auch eine entsprechende Aussage des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, in: Der Spiegel Nr. 33/1995 vom 14.8.1995. 176 Die Welt vom 24.8.1995. 177 Nach Süddeutsche Zeitung vom 21.8.1995.

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Urteils auf, bemühte sich aber immerhin noch darum, eine Nichtbefolgung der EntscheidWlg mit dem Anschein juristischer Legitimität zu umgeben. Wenn als Konsequenz aus dem Urteil die Kreuze aus den bayerischen Schulzimmern entfernt werden müßten, wäre die Karlsruher EntscheidWlg selbst verfassWlgswidrig. Dann sei gegen das Urteil ,,nach ernsthafter Prüfung des Gewissens persönlicher Widerstand nach Art. 20 des GrWldgesetzes gerechtfertigt". 178 Auf einen ,juristischen Taschenspielertrick,,179 verfiel Bayerns Ministerpräsident EdmWld Stoiber (CSU): Bayern werde "bis an die Grenzen der rechtlichen Möglichkeiten" gehen, um eine ÄnderWlg "dieses verheerenden Richterspruchs" zu erreichen. Die BVerfG-EntscheidWlg werde ,,keinen Bestand haben". Sein Kabinett werde ein neues Gesetz durch den Landtag bringen, "in dem geregelt ist, daß in unseren Schulen weiterhin Kreuze hängen." Wenn gegen dieses Gesetz geklagt werde, müsse sich das BVerfG erneut mit dem Thema auseinandersetzen. Bei dem neuen Verfahren werde das Gericht nicht um eine ÄnderWlg seiner RechtsprechWlg herumkommen, sagte Stoiber, offenbar mit Bezug zu dem öffentlichen Druck auf die Richter. 180 Auf dem Parteitag der CSU sagte Stoiber, seine StaatsregierWlg werde das Urteil ,,respektieren, aber inhaltlich nicht akzeptieren".181 Später verabschiedete das Kabinett einen Gesetzentwurf, in dem angeordnet wird, daß in jedem Klassenzimmer auch weiterhin Kreuze anzubringen sind. In Konfliktfällen entscheide der Schulleiter, der dabei den Willen der Mehrheit soweit möglich zu berücksichtigen habe. 182 Im Dezember 1995 verabschiedete die CSU-Mehrheit im bayerischen Landtag gegen die Stimmen von SPD Wld Bündnis 90IDie Grünen

178 Nach Süddeutsche Zeitung vom 22.8.1995. Art. 20 IV GG gibt ein Widerstandsrecht nur gegen Maßnahmen, die auf eine endgültige Beseitigung der durch die wesentlichen Strukturbestimmungen des GG gebildeten Verfassungsordnung abzielen (Einzelheiten bei PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 1l03ff.). Damit kommt die Vorschrift offensichtlich nicht als Rechtfertigungsgrund für die Nichtbeachtung eines Urteils in Betracht. 179 So Michael Stiller, in: Süddeutsche Zeitung vom 23.8.1995. 180 Nach Süddeutsche Zeitung vom 21.8.l995. Die wörtlichen Zitate stammen aus einem Interview Stoibers mit der Bild-Zeitung. 181 Nach Süddeutsche Zeitung vom 9.110.9.1995. Diese Formulierung hat Tradition, vgl. die Aussagen nach dem § 218-Urteil von Funcke (siehe oben Erster Teil B II 2) und Fromme (siehe oben Erster Teil B III 1). Auf dem gleichen Parteitag würdigte der Parteitag das Lebenswerk seines ehemaligen Vorsitzenden Franz-Josef Strauß. Dieser hatte nach dem § 218-Urteil das BVerfG eindeutig verteidigt und gesagt, das BVerfG sei zur Änderung politischer Entscheidungen befugt (siehe oben Erster Teil B III 1). An diesem Beispiel zeigt sich, daß das BVerfG meist nur auf Hilfe von der Seite bauen kann, die mit dem Inhalt des jeweiligen Urteils konform geht. 182 Nach Süddeutsche Zeitung vom 27.9.1995.

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dieses Kruzifix-Gesetz. 183 Stoibers Äußenmgen sind bemerkenswert. Ein hochrangiger Politiker und Einser-Jurist unternimmt es hier, eine gerade erst vom Verfassungsgericht verworfene Regelung in inhaltsgleicher Form erneut zu erlassen, um eine rechtlich nicht vorgesehene Revision zu erzwingen. Sodann will er unverhohlen Einfluß auf die Sachentscheidung in dieser Revisionssache nehmen, indem er sich auf dem Höhepunkt der öffentlichen Kritik publikumswirksam in der Bild-Zeitung äußert. Urteilsschelte wird hier bewußt als Mittel eingesetzt, um dem nach Art. 97 I GO sachlich unabhängigen Richter eine bestimmte Entscheidung nahezulegen.

ill. Das Nachspiel

1. Morddrohungen gegen die Kläger Das Kruzifix-Urteil zeigt, daß durch massive Urteilsschelte Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten bedroht sein können. Die Kläger, das Ehepaar Ernst und Renate Seler aus dem oberpfaIzischen Reuting, bekamen Besuch von unzähligen Medienvertretern, danmter sogar ein Fernsehteam aus Japan. Neben positiven und vor allem kritischen Zuschriften gingen nach Angaben der Eheleute über 20 Morddrohungen ein. Die Selers appellierten daraufhin an die Vernunft der Mitmenschen: ,,Man möge uns doch bitte in Frieden lassen.,,184

2. Die Verteidigung des BVerjG Insbesondere nach den Boykottaufrufen erreichte die Diskussion jene zweite Phase, in der die angegriffenen Rechtsprechung Beistand erhält. Zunächst wies 183 Nach NJW 1996, Heft 3, S. XXXVI. Art. 7 m des bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen lautet: ,,Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht. Damit kommt der Wille zum Ausdruck, die obersten Bildungsziele der Verfassung auf der Grundlage christlicher und abendländischer Werte unter Wahrung der Glaubensfreiheit zu verwirklichen. Wird der Anbringung des Kreuzes aus ernsthaften und einsehbaren Gründen des Glaubens. oder der Weltanschauung durch die Erziehungsberechtigten widersprochen, versucht der Schulleiter eine gütliche Einigung. Gelingt eine Einigung nicht, hat er nach Unterrichtung des Schulamtes für den Einzelfall eine Regelung zu treffen, welche die Glaubensfreiheit des Widersprechenden achtet und die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen aller in der Klasse Betroffenen zu einem gerechten Ausgleich bringt; dabei ist auch der Wille der Mehrheit soweit möglich zu berücksichtigen" (nach Detterbeck, NJW 1996, S. 426). 184 Nach Süddeutsche Zeitung vom 16.8.,21.8.1995.

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der Vorsitzende des Ersten Senats, Johann Friedrich Henschel, die Angriffe auf das Gericht zurück: Der Kritik liege die Maxime zugrunde, Gesetze seien dann nicht zu beachten, wenn sie einem nicht paßten. Die Politik "grabe sich ihr eigenes Grab", wenn sie zur Nichtbeachtung des Urteils aufrufe. Es sei dann künftig nur noch schwer zu vermitteln, warum ihre Gesetze auch von denjenigen befolgt werden mfißten, denen diese Gesetze nicht gefielen. 18S Der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Rainer Voss, bezeichnete die Kritik als "üble Agitation", die zu einer Beschädigung von Justiz und Staat gefUhrt habe. 186 Auf dem Deutschen Richtertag sagte Voss: ,,Man kann nicht sonntags die Vorzüge unseres Grundgesetzes preisen und sie werktags, wenn es unpopulär ist oder politisch nicht ins Konzept paßt, verleugnen. ,,187 Die Präsidentin des BVerfG, Jutta Limbach, war vor allem über die historischen Vergleiche entsetzt: ,,Da sind die Grenzen einer sachlichen Kritik erreicht, wenn man eine Nähe zu der Perversion des Rechts im Nationalsozialismus herstellt. Da bin ich und sind andere sehr empfindlich. Hier ist ein Verfassungsorgan tätig geworden, wie es unser Grundgesetz vorsieht. Das hat jeder zu respektieren, auch wenn er die Entscheidung fiir ärgerlich oder falsch hält.,,188 Verbündete fanden die Verfassungsrichter auch bei den Medien. Beispielhaft sei hier der Artikel ,,Fünf Richter auf der Anklagebank" von Christian Bommarius in der Zeit genannt. Der Journalist demonstrierte den fehlenden Respekt der Politiker vor dem Grundsatz der Gewaltenteilung, indem er fiktiv die Rollen von Kritikern und Kritisierten tauschte: ,,Die Geschichte geht dann so: Die Bundesregierung hat ein neues Gesetz durch das Parlament gebracht, der Bundesrat hat sein Plazet erteilt, und mit der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt ist es schließlich in Kraft getreten. Nun aber meldet sich das Bundesverfassungsgericht - ungefragt - mit einer Pressemitteilung zu Wort, in der das Gesetz als vollständig mißlungen, untauglich und unerträglich gegeißelt wird. Angefiigt ist die Empfehlung an den BOrger, den parlamentarischen Unsinn bitteschön zu ignorieren. ,,189 Rückendeckung erhielt das Verfassungsgericht aus der Politik. Dabei zeigte sich, daß die richterliche Unabhängigkeit nicht zwangsläufig immer nur denen ein Begriff ist, die den Inhalt des kritisierten Urteils begrfißen. Denn neben Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) forderten 185 186 187 188 189

Nach Süddeutsche Zeitung vom 18.8.1995. Nach Süddeutsche Zeitung vom 23.8.,25.8.1995. Nach Süddeutsche Zeitung vom 26.9.1995. Nach Der Spiegel Nr. 35/1995 vom 28.8.1995. Die Zeit vom 18.8.1995; ähnlich auch Lamprecht, NJW 1996, S. 971.

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Politiker aller Parteien - z.B. auch der CDU-Rechtsexperte Horst Eylmann - die CSU auf, das Karlsruher Kruzifix-Urteil zu respektieren. Der Parlamentarische Geschäftsfiihrer von Bündnis 90IDie Grünen, Werner Schulz, warf dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber vor, offen zum Verfassungsbruch aufzurufen. Die verfassungsfeindlichen Äußerungen aus der Union würden ein parlamentarisches Nachspiel haben, kündigte er an. l90 Auf Anregung der niedersächsischen Justizministerin Heidi Alm-Merk (SPD) reagierten die Justizminister von neun Bundesländern mit einer gemeinsamen Erklärung auf die massive Urteilsschelte. Sie warnten vor "solcher Kritik, die das Verfassungsorgan BVerID als Institution beschädigt." Das Gericht genieße, wie Umfragen belegten, hohes Ansehen in der Bevölkerung. ,,Nicht wenige von denen, die jetzt zum Widerstand gegen die Kruzifix-Entscheidung aufrufen, nehmen diese Autorität in Fällen, die ihnen geeignet erscheinen, gern in Anspruch. ,,\91 3. Generaldebatte über die Rolle des BVerjG

Das Kruzifix-Urteil gab den Anstoß zu einer Generaldebatte über die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefiige. Ein Vorschlag zielte darauf ab, die Transparenz bei der Richterwahl zu erhöhen und parteipolitische ,,Kungelei" zu erschweren. Die Verfassungsrechtler Ernst Gottfried Mahrenholz und Bodo Pieroth erklärten, die Richterwahl durch den 16köpfigen Wahlmännerausschuß des Bundestages sei verfassungswidrig, und forderten eine Wahl der Karlsruher Richter durch das gesamte Plenum. SPD und FDP machten sich diesen Vorschlag zu eigen und wollten einen entsprechenden Antrag in den Bundestag einbringen. Bündnis 90IDie Grünen forderten, daß sich die angehenden Verfassungsrichter zusätzlich einer Befragung in der Öffentlichkeit stellen müßten. 192 Den meisten Kritikern ging es jedoch darum, die Machtbefugnisse des Gerichts im Verhältnis zu den ersten beiden Staatsgewalten zu beschneiden. Der CDU-Generalsekretär Peter Hintze forderte: ,,Das Bundesverfassungsgericht sollte in eine Selbstbesinnung darüber eintreten, wo man durch die eigene Rechtsprechung die Aufgaben anderer Verfassungsorgane übermäßig beNach Süddeutsche Zeitung vom 18.8.,23.8. 1995. Nach Süddeutsche Zeitung vom 25.8.1995. Neben den SPD-gefiihrten Ländern Brandenburg, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Saarland beteiligten sich an der Initiative auch Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, also Länder mit CDU-Regierungschefs, an der Initiative. 192 Nach Süddeutsche Zeitung vom 21.8., 24.8., 26./27.8.1995. 190

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rührt.'d93 Diese und andere Äußerungen nährten Vennutungen, den Parteien sei nicht an zusätzlicher Transparenz bei der Richterwahl gelegen, sondern im Gegenteil an stärkerem Einfluß auf die Zusammensetzung des BVerfG. Heribert Prantl schrieb in der Süddeutschen Zeitung: "Nach den Querelen um die jüngsten Entscheidungen muß man freilich befürchten, daß die Parteien bei den bevorstehenden Personalentscheidungen in Karlsruhe besonders strikt auf Parteilinie und Parteibuch achten werden. Dies wäre das schlimmste Ergebnis der Kruzifix-Entscheidung.,,194 Nach einem Vorschlag des CDU-Rechtsexperten Horst Eylmann sollten wichtige Entscheidungen vom BVerfG künftig mit ZweiDrittel-Mehrheit, das heißt mit sechs zu zwei Richterstimmen, getroffen werden. 195 Damit wäre es für das Gericht schwerer, vom Parlament beschlossene Gesetze zu Fall zu bringen, die Stellung der gesetzgebenden Gewalt gegenüber der Rechtsprechung wäre gestärkt. Die Stellungnahmen zeigen, daß Urteilsschelte durch Vertreter von Parlament und Regierung bewußt in den Versuch münden kann, die Gewichte zwischen den Staatsgewalten zu verschieben. Sie befördert in der Öffentlichkeit das Bild einer Rechtsprechung, die sich ihr nicht zustehende Befugnisse anmaßt und deren Macht daher einer Begrenzung bedarf. Gelingt es, ein solches Meinungsklima zu schaffen, werden Vorschläge zur Schwächung der dritten Gewalt im gewaltengeteilten Staat hoffähig und durchsetzbar. 4. Diskussion über die Öffentlichkeitsarbeit des BVerjG

Die Debatte über das Kruzifix-Urteil legte Schwächen in der Öffentlichkeitsarbeit des BVerfG bloß. Ohne Presse und Bevölkerung vorzubereiten, hatte das Gericht wie üblich die Kruzifix-Entscheidung an der Pforte ausgelegt, nicht ahnend, welche Emotionen eine Verbannung des Kreuzes aus Klassenzimmern freilegen würde. Ein schwerer Fehler, so befanden die Medien: ,,Einen Beschluß dieser Art kann man nicht einfach vor die Tür legen. Das Gericht hätte über die 'Kruzifix-Sache' intensiv öffentlich verhandeln, der Öffentlichkeit also vorab Gelegenheit zur Diskussion und zur Vergegenwärtigung der Verfassungsrechtslage geben müssen. So aber kam der Kruzifix-Beschluß wie ein Blitz aus heiterem Himmel.,d96

193 194 195 196

Nach Süddeutsche Zeitung vom 14./15.8.1995. Süddeutsche Zeitung vom 14./15.8.1995. Nach Süddeutsche Zeitung vom 14./15.8.1995. Heribert Prand, in: Süddeutsche Zeitung vom 19./20.8.1995.

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Einen erheblichen Vertrauensverlust erlitt das Gericht dadurch, daß es über eine Woche nach Beginn der Debatte einräwnen mußte, daß der Leitsatz zwn ,,Kruzifix-Urteil" wtkorrekt war. In einer Presseverlautbarung nahm der Vorsitzende des Ersten Senats, Johann Friedrlch Henschel, eine bedeutende Präzisierung vor: Nicht die Anbringung eines Kreuzes in Unterrichtsräwnen einer staatlichen Ptlichtschule schlechthin verstoße gegen Art. 4 I GO, sondern nur dessen staatlich angeordnete Anbringung.197 Mochte das Gericht auch betonen, daß der Leitsatz juristisch bedeutungslos sei, so mußte ihm doch bewußt sein, daß eine zur Verknappung geZWWlgene Presse sich bei der Darstellung des Urteils gerade auf den Leitsatz stützen würde. ,,Ein starkes Stück", schimpfte die bayerische SPD-Vorsitzende Renate Schmidt auf das Gericht, das tatenlos zugesehen habe, "wie ein falsch ausgelegtes Urteil in Bayern verständlicherweise große Empörung auslöste.,,198 Um weiteren Schaden vom Gericht abzuwenden, rückte das BVerfG im Verlauf der Debatte über das Kruzifix-Urteil von der bisherigen Praxis einer sparsam betriebenen Pressearbeit ab. Der bislang praktizierten Zurückhaltung lag eine Prämisse zugrunde, der die Öffentlichkeitsarbeit aller Gerichte folgt, die aber nach der Kruzifix-Diskussion auf dem Prüfstand steht. Die Präsidentin des BVerfG, Jutta Limbach, brachte diesen Grundsatz wie folgt auf den Punkt: ,,Ein Richter spricht durch sein Urteil und hat es nicht in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Die Kritik hat er anderen zu überlassen."I99 Bereits vor der Berichtigung des Leitsatzes hatte Johann Friedrlch Henschel selbstkritisch Kommunikationsdefizite zwischen dem BVerfG und der Bevölkerung eingeräwnt. Die Kritik an Entscheidungen des BVerfG habe sich in letzter Zeit summiert, "weil immer wieder besonders sensible Fragen zu entscheiden waren. Das haben wir vielleicht nicht immer genügend bedacht." So habe das Gericht bei dem Beschluß zur Straflosigkeit des Aufldebers "Soldaten sind Mörder" nicht einmal eine Pressemitteilung herausgegeben, "obwohl das auch so eine emotional besetzte Sache war." Es sei schon wünschenswert, "daß wir unsere Entscheidungen klarer rüberbringen. ,,200

197 Nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.8.1995. 198 Nach Süddeutsche Zeitung vom 23.8.1995. In der Süddeutschen Zeitung vom 25.8.1995 wies Helmut Kerscher daraufhin, daß das BVerID nach den Beschlüssen zum Konsum von Haschisch und zur Straflosigkeit des Ausspruchs "Soldaten sind Mörder" bereits zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit eine Entscheidung nachträglich in einer Pressemitteilung erläutern mußte. 199 Jutta Limbach, in: Der Spiegel Nr. 35/1995 vom 28.8.1995. 200 Nach Süddeutsche Zeitung vom 16.8.1995.

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Henschel ärgerte sich aber auch über die Urteilsschelte. ,,Die Politiker nutzen hemmungslos ihren Zugang zu den Medien aus, diffamieren uns, und wir kommen nicht zu Wort", beschwerte er sich. 201 Dem steuerte der Vorsitzende des Ersten Senats mit einer für Verfassungsrichter ungewöhnlichen Medienpräsenz entgegen. So ließ er sich unter anderem in der Welt auf ein ausführliches Streitgespräch mit dem bayerischen Kultusminister Hans Zehetmair über das Kruzifix-Urteil ein. 202 Darin zeigte sich, daß eine Flucht des Richters in die Öffentlichkeit nicht unproblematisch ist. So legte Henschel in dem Gespräch ohne Rücksprache mit den anderen Richtern das Urteil aus. Er betonte zwar, daß er nicht in amtlicher Funktion spreche, Zehetmair hielt die Erklärungen Henschels dennoch für eine "authentische Interpretation". Auch in anderen Passagen exponierte sich der Richter. Er glaube nicht an eine Prozeßlawine, sagte er, weil ,,nur die wenigsten Eltern, die gegen das Kreuz sind, so töricht sein werden, ihre Kinder in eine Außenseiterrolle zu drängen. Und das wäre gerade auf dem Land der Fall, wenn sich Eltern gegen die allgemeine Gepflogenheit stemmen." Damit stellte Henschel die von ihm juristisch miterkämpfte negative Religionsfreiheit als in der Praxis ohnehin nicht durchsetzbar dar, und gab damit - sicher nicht im Sinne der anderen Richter - den Geltungsanspruch des Urteils teilweise preis. Bei einem Treffen diskutierten alle Verfassungsrichter schließlich darüber, wie sich die Öffentlichkeitsarbeit des Gerichts verbessern ließe. Sie sprachen sich gegen Pressekonferenzen aus, setzten sich aber für die Einrichtung einer Pressestelle mit eigenem Pressesprecher sowie für verbesserte Vorinformationen über anstehende wichtige Entscheidungen ein. 203 Einigen Richtern gingen diese Überlegungen nicht weit genug. Die Kommunikationsprobleme seien grundsätzlicher Natur. Die Urteile seien in ihrer sprachlichen Differenziertheit einer oft von Fernsehen und Boulevardzeitungen geprägten Öffentlichkeit nicht mehr zu vermitteln. Die Maxime, daß der Richter durch sein Urteil spreche, sei daher endgültig überholt. Dem habe das BVerfG bereits dadurch Rechnung getragen, daß es seit Juli 1995 bei der Urteilsverkündung Kameras zulasse. Nun müsse das BVerfU verstärkt Übersetzungsarbeit leisten. 204 Nach Süddeutsche Zeitung vom 28.8.1995. Die Welt vom 24.8., 25.8.1995. 203 Beherzigt wurden diese Vorsätze im Zusammenhang mit dem Asyl-Urteil vom 14.5.1996 (Dazu Süddeutsche Zeitung vom 15.116.5.1996). Die Öffentlichkeit war Tage vorher auf den Verkündungstermin vorbereitet worden. Das ZDF übertrug die Verkündung des Urteilstenors live. In dieser Sendung stellte sich auch die neue Presse~echerin des Gerichts, Uta Fölster, den Fragen des Moderators. Dazu Helmut Kerscher, in: Süddeutsche Zeitung vom 28.8.1995. 201 202

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

IV. Fazit

Die von Politikern immer wieder angeheizte Kampagne gegen den KruzifixBeschluß nahm bislang unbekannte Dimensionen an. Zu den polemischen Kommentaren gesellten sich Äußerungen, die über die Ebene der Diskussion hinausgingen. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik zweifelten Politiker die Bindungswirkung des Urteils an und riefen zum Widerstand dagegen auf. Der bayerische Landtag konterkarierte auf Anregung des Ministerpräsidenten Stoiber die Entscheidung, indem er ein Gesetz erließ, das der für verfassungswidrig erklärten Verordnung inhaltsähnlich ist. Offen legten die Kritiker ihre Motive für Urteilsschelte dar: den Wunsch nach parteipolitischem Profit; das Ziel, die Judikative so unter Druck zu setzen, daß sie ihre Entscheidung revidiert. Mit den auf eine Schwächung des Bundesverfassungsgerichts abzielenden Reformvorschlägen schließt sich der Kreis zwischen dem Fernsehstreit von 1961 und dem Kruzifixbeschluß von 1995. Mit diesem Fall ist eine DiskuSsion über die Öffentlichkeitsarbeit der Gerichte in Gang gekommen, die weitere Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage liefert, wie Richter am besten mit Urteilsschelte umgehen sollten.

G. Ergebnis Die sechs ausgewählten Fälle zeichnen vor, auf welche Fragestellungen sich diese Untersuchung konzentrieren muß. Bereits vorgegeben wurde die Grundunterscheidung zwischen privater und amtlicher Kritik. Die in den ,,Nachspielen" dokumentierten Äußerungen zur Verteidigung der richterlichen Unabhängigkeit reagierten zumeist auf die Kritik von Amtsträgern, was nahelegt, daß deren Recht zur Urteilsschelte engeren Grenzen unterworfen ist als das von Privaten. Wie die Bundestagsrede von Helmut Schmidt nach dem § 218-Urteil zeigt, ist dies aber nicht unumstritten. Die meisten Fälle belegen eine Dominanz von Parteipolitikern in der Debatte, wobei die Kritiker nicht selten in Personalunion Parlamentsmitglieder oder Minister sind.. Bei diesen Personen wird zu untersuchen sein, ob sie sich privat oder in amtlicher Funktion geäußert haben. Private Urteilsschelte fällt häufig sehr scharf aus, man denke an die NS-Vergleiche, Begriffe wie "schändlich" oder "pervers", Vorwürfe wie den der Rechtsbeugung. Teilweise griffen solche Äußerungen in ein noch nicht rechts-

G. Ergebnis

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kräftig abgeschlossenes Verfahren ein. Bei der Frage nach den Grenzen der Urteilsschelte werden insbesondere diese hervorstechenden Stelhmgnahmen problematisch sein. Ergibt sich das Recht zur privaten Urteilsschelte auf den ersten Blick aus Art. 5 I GG. so ist bei der Kritik von seiten staatlicher Stellen schon die Legitimation problematisch. Während der Bürger Gnmdrechte wahrnimmt, stützt sich der Amtsträger auf Kompetenzen, die ihm von Medien und Richtervertretem in einigen Fällen abgesprochen wurden. Falls eine amtliche Äußerung zulässig ist, ergibt sich die Frage einer Grenzbestimmung. Aus den sechs Beispielsflllien haben sich besonders problematische Stellungnahmen herauskristallisiert: polemische Kritik, die denen Privater nicht nachsteht; die Diskussion in einer aktuellen Stunde des Parlaments; formelle Beschlüsse einer Staatsgewalt gegenüber einer anderen; Forderungen nach einer Urteilskorrektur durch die nächste Instanz; offen geäußerte Nichtrespektierung von Urteilen. Schließlich geben die Fälle zu Überlegungen Anlaß, wie den ermittelten Grenzen der Urteilsschelte Geltung verschaffi werden kann. Nach dem Behindertenurteil ist ein erfolgreicher juristischer Weg vorexerziert worden, der sich in der Öffentlichkeit freilich zum Bumerang fiir den Richter entwickelt hat. Als Alternative sind verschiedene Möglichkeiten aktiver Öffentlichkeitsarbeit der Gerichte sichtbar geworden, die aber nicht immer den gewünschten Erfolg der Aufklärung und Versachlichung erreicht haben. Sind die sich aus den Beispielsfällen ergebenden Äußerungen zu Zulässigkeit und Grenzen der Urteilsschelte auch widersprüchlich, so läßt eine Analyse doch zwei fiir den Fortgang der Arbeit bedeutende Schlußfolgerungen zu. Erstens ist vom Fernsehurteil bis zum Kruzifixbeschluß eine Parallelität der öffentlichen Debatte unverkennbar. Die Kommunikation verläuft so: Zunächst gehen die Kritiker sehr scharf gegen unliebsame Urteile vor, was auf der ge-sicherten Erkenntnis zu beruhen scheint, daß Urteilsschelte ohne weiteres zulässig ist. Einige Tage später nehmen Medien, Richter und dem Urteil positiv gegenüberstehende Politiker Stellung, indem sie sich gegen Form und Inhalt der Schelte verwehren. Diesem typischen "Nachspiel" liegt die Ansicht zugrunde, daß Urteilsschelte Grenzen hat. Im Dunkeln bleibt aber, wo genau diese Grenzen verlaufen. Das wird am Beispiel des Soldatenurteils besonders deutlich, wo die Stellungnahme des DRB-Vorsitzenden zur richterlichen Unabhängigkeit teils als richtig begrüßt, teils als überempfindlich abgelehnt wurde. Die Zulässigkeit der Urteilsschelte gilt als gesichert, deren Grenzen sind unklar und verschwommen. Aus dieser ersten Beobachtung folgt die zweite. Die Härte der Auseinandersetzung um Gerichtsurteile hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen,

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Erster Teil: Fallbeispiele zur Urteilsschelte

wobei das Soldatenurteil den Wende-, der Kruzifixbeschluß den Höhepunkt markierte. Hielt der Justizminister 1975 höfliche Zwiickhalnmg bei der Kommentienmg noch für selbstverständlich Wld hielt sich nach dem § 218-Urteil selbst der Hauptredner der Demonstration mit der Urteilsschelte zurück, so begrüßte die Justizministerin anno 1994 eine ,,AblösWlg" von Richtern als "ermutigendes Signal", während Medien Wld gesellschaftliche Gruppen bedenkenlos mit verletzenden Worten wie "Schande" oder ,,Perversion" operierten. Urteilsschelte hat sich zunehmend von der Diskussionsebene auf die Ebene einer Kampagne gegen die Richter verlagert. Dieses Klima hat es möglich gemacht, daß 1995 Politiker erstmalig zur Nichtbeachnmg eines ihnen nicht genehmen Gerichtsspruchs aufriefen. Die rechtlich an dieser Stelle noch nicht zu bewertende ,,mangelnde Gesittwlg in der Auseinandersetzung mit Urteilen,,205 hat einen ihrer Gründe in der Wlgeklärten Rechtslage. Daß es Grenzen der Urteilsschelte gibt, wird jeder Kritiker einräumen, daß er diese übertreten habe, wird niemand zugeben wollen. Wenn Wlbekannt ist, wo genau das Recht zur Urteilsschelte endet, kann niemand wegen einer Grenzüberschreinmg "dingfest" gemacht werden. Unfaire Angriffe auf die Justiz werden risiko los, wonmter die Qualität der Auseinandersetzung leidet. Es ist nicht Hauptaufgabe dieser Arbeit, den bedenklichen Zustand der Rechtskommunikation darzustellen Wld Verbessenmgen vorzuschlagen. 206 Dem will die UntersuchWlg aber mittelbar dienen, indem sie das Ziel verfolgt, die Zulässigkeit der Urteilsschelte auf ein solides FWldament zu stellen Wld deren Grenzen fester zu umreißen. Die sechs ausgesuchten Fälle haben gezeigt, daß eine Klänmg der Wlgesicherten Rechtslage ein lohnendes Unterfangen ist.

205 Mahrenholz, NJ 1992, S. 1. 206 Dieser Aufgabe hat sich Castendyk, Rechtliche Begründungen in der Öffentlichkeit, vorbildlich gewidmet.

Zweiter Teil

Private Urteilsschelte Bevor Zulässigkeit Wld Grenzen privater Urteilsschelte Wltersucht werden, ist entsprechend dem zweigliedrigen Aufbau zu fragen, welche ÄußefWlgen als privat Wld welche als amtlich einzustufen sind.

A. Die Einordnung von Äußerungen als staatliche oder private Kritik Die ZweiteilWlg zwischen der durch Art. 5 I GG geschützten Kritik von Privatleuten, Medien Wld gesellschaftlichen Gruppen einerseits Wld der auf einen Kompetenztitel zu stützenden Wld möglicherweise engeren Grenzen Wlterliegenden Urteilsschelte durch Träger öffentlicher Gewalt andererseits liegt juristisch auf der Hand. Die insoweit übersichtliche VerfassWlgsrechtslage begegnet jedoch einer Wlübersichtlichen VerfassWlgswirklichkeit. Die Dominanz der politischen Parteien im Prozeß der öffentlichen MeinWlgsbiidWlg hat die Grenzen zwischen Staat Wld Gesellschaft verschwimmen lassen. Ein Amtsträger gehört heutzutage fast immer auch einer Partei an Wld es sind nicht weniger als vier Rollen denkbar, in die er als Kritiker schlüpfen kann. Ist er erstens Minister, äußert er seine Urteilsschelte in amtlicher Eigenschaft als Mitglied der Exekutive. Die meisten Minister sind zugleich Abgeordnete, so daß sie zweitens amtlich als Mitglieder der Legislative sprechen. Als Parteiftmktionär ist der Kritiker drittens dem privaten Bereich zuzuordnen, darf dort gemäß Art. 5 I GG seine MeinWlg äußern Wld nach Art. 21 I 1 GG an der politischen WillensbildWlg des Volkes mitwirken. Viertens wird der bekannte Politiker gerne behaupten, daß er sich als Privatperson geäußert habe, die wie Millionen andere Deutsche MeinWlgsfreiheit genieße. I

So B\Uldeskanzler Schmidt in der B\Uldestagsdebatte nach dem § 218-Urteil, siehe oben Erster Teil B 11 2; ähnlich Justizstaatssekretär Jahn nach dem Soldatenurteil, siehe oben Erster Teil D III 1.

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

I. Personen, bei denen sowohl eine private als auch eine amtliche Äußerung in Betracht kommt 1. Akzessorietätslehre Um jedem Kritiker eine bestimmte Rolle zuzuordnen, die ihn entweder als Privatmann oder als Träger öffentlicher Gewalt ausweist, bietet sich zunächst ein Rückgriff auf die Theorien an, die im Verwaltungsrecht fiir die Unterscheidung von Privatrecht und öffentlichem Recht herausgebildet worden sind. Für Äußerungen von Beamten gilt danach die sog. Akzessorietätstheorie, wonach zur Abgrenzung die Rechtsnatur des der Äußerung zugrunde liegenden Rechtsgeschäfts und der größere Zusammenhang der Äußerung heranzuziehen sind. Spricht ein Beamter etwa anläßlich der Unterzeichnung eines privatrechtlichen Vertrages, gilt Privatrecht. Äußert er dieselbe Meinung in einem Planfeststellungsverfahren, soll öffentliches Recht einschlägig sein. 2 Ein entsprechender auf den Zusammenhang bezogener Ansatz wäre auf die Urteilsschelte übertragbar. Die Rede am Stammtisch oder auf einem Parteitag wäre dann dem privaten, das Plädoyer im Parlament dem amtlichen Bereich zuzuordnen. 3 2. Personenbezogener Ansatz Es folgt aus Art. 97 I GG, daß ein Urteilskritiker in der Rolle bewertet werden muß, die ihm von den betroffenen Richtern, insbesondere aber der Öffentlichkeit, beigemessen wird. Art. 97 I GG schützt die richterliche Unabhängigkeit vor den Angriffen anderer Gewalten. Daher muß es zunächst darauf ankommen, in welcher Funktion der angegriffene Richter den Urteilskritiker erlebt. Die richterliche Unabhängigkeit ist aber kein Privileg des Richters, sondern als Ausdruck der Justizgewährungspflicht des Staates Privileg der rechtssuchenden Bürger. 4 Somit ist auch deren Empfangerhorizont in die Abwägung einzustellen. Der durch einen Hoheitsträger bewirkte Angriff beschädigt die Justiz in den Augen der Öffentlichkeit stärker als eine private Stellungnahme. Aus Sicht der betroffenen Richter und der Rechtssuchenden ist daher zu fragen, ob die frag-

StelkenslBonk/Sachs, VwVfG, § 1 Rn. 61; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 3 Rn. 23. 3 Diesen Ansatz verfolgt Häußler, Konflikt, S. 231ff. BVerfGE 27, 211 (217); Schmidt-Räntsch, DRiG, § 26 Rn. 21; Schaffer, BayVBl 1991, S. 641 (645); Voss, DRiZ 1994, S. 445 (447ff.); dazu ausführlich unten Dritter Teil B m 1 c dd.

A. Die Einordnung von Äußerungen als staatliche oder private Kritik

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liche Äußerung mit gleichen Auswirkungen auch von einem Privatmann hätte getan werden können. 5 Die schematische Übertragung der Akzessorietätslehre wird unter dieser Prämisse den Besonderheiten des öffentlichen Diskurses um Gerichtsentscheidungen nicht gerecht. Diese Debatte spielt sich nicht im verwaltungsrechtlichen sondern im verfassungsrechtlichen Kräftefeld ab, ihre Akteure sind Verfassungsorgane, Parteien, Medien und Bürger. Dabei erweist sich insbesondere an der Mittlerrolle der Medien in der Urteilsdebatte die Inadäquanz des Abstellens auf den Zusammenhang einer Äußerung. Die Medien verstärken den personalen Aspekt der Kritik. Sie stellen denjenigen als Individuum heraus, der die Kritik geübt hat, wobei der Zusammenhang einer Äußerung in den Hintergrund tritt. Zu folgen ist damit einem personenbezogenen Ansatz. Ein Kritiker ist in der Regel dem amtlichen Bereich zuzuordnen, wenn er vorrangig in seiner Rolle als Inhaber von Staatsgewalt wahrgenommen wird. Der Zusammenhang einer Äußerung ist nur ergänzend heranzuziehen. Die Vorzüge einer personenbezogenen Betrachtung werden am Fall der Kritik des Justizstaatssekretärs Jahn am Soldatenurteil anschaulich. 6 Stellte man auf den Zusammenhang ab, käme es zur Qualifizierung seiner Stellungnahme in der Tat darauf an, ob Jahn persönliches Briefpapier oder den Briefbogen seines Ministeriums benutzt hätte. Die betroffenen Richter und die Öffentlichkeit erfuhren durch die Medien aber nur, daß sich die Person des Staatssekretärs im Justizministerium kritisch zu Wort gemeldet hatte. Bei einem personenbezogen Ansatz äußerte sich hier unabhängig vom verwendeten Briefpapier unzweifelhaft ein Träger öffentlicher Gewalt, was allein interessengerecht ist. Amtlichen Charakter hat danach regelmäßig Urteilsschelte durch den Bundeskanzler, die Bundesminister, ihre Staatssekretäre, den Bundespräsidenten und die Ministerpräsidenten der Länder. Bei diesen Personen übersteigt die Autorität des Staatsamtes diejenige ihres Parteiamtes. Helmut Schrnidts Kritik am § 218-Urteil, zumal im Parlament wiederholt, war damit amtlich. Ebenso verhielt es sich mit Edmund Stoibers Schelte am Kruzifixbeschluß. Stoiber wurde in der Öffentlichkeit in seiner Funktion als bayerischer Ministerpräsident wahrgenommen, auch wenn er sich auf dem Parteitag der CSU äußerte. Abgeordnete werden bei ihren Redebeiträgen im Parlament unzweifelhaft

Eine ähnliche Formel hat Berg, JuS 1984, S. 521 (522f.), für das Abgrenzungsproblem im Verwaltungsrecht entwickelt. 6 Siehe oben Erster Teil D n 2. 7 Mishra

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

als Träger von Staatsgewalt angesehen. Bei StellWlgnahmen außerhalb des Parlaments kann das anders sein, wenn sie in der Öffentlichkeit hauptsächlich als hohe Parteifimktionäre bekannt sind. Im Bereich privater LebensgestaltWlg dürfen sich alle Politiker auf Art. 5 I GG berufen. ÄußefWlgen am Frückstücksoder Stammtisch sowie Privatkorrespondenz (wie z.B. der Brief des BWldespräsidenten von Weizsäcker an Dr. Augst im Soldatenurteil), gehören aber nur dann zu diesem Bereich, wenn sie nicht zum Zwecke des Bekanntwerdens Wld der VeröffentlichWlg entstanden sind. Auch fiir die BeurteilWlg von Zweifelsfällen liefert der Empfängerhorizont von Richtern Wld Bürgern den Maßstab. Um eine UmgehWlg der sich aus Art. 97 I GG Wld dem GewaltenteilWlgsprinzip ergebenden BindWlgen zu verhindern, spricht eine VermutWlg fiir den amtlichen Charakter der ÄußefWlg. 7

11. Personen, die Funktionen in mehreren Staatsgewalten wahrnehmen Das personenbezogene Kriterium der Frage nach der Rolle, in der ein Kritiker von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, läßt sich ebenfalls fruchtbar machen, wenn die ZuordnWlg eines Amtsträgers zur ersten oder zweiten Gewalt zweifelhaft ist. Zu denken ist vor allem an den häufigen Fall, daß bei einer Person Abgeordneten- Wld Ministeramt zusammenfallen. Die VermutWlg spricht hier für die Funktion, die der MeinWlgskundgabe am meisten Gewicht verschafft Wld dadurch für die richterliche Unabhängigkeit am bedrohlichsten ist. Das ist regelmäßig das Ministeramt, das auch im VordergfWld steht, wenn sich der Minister im Parlament äußert.

B. Zulässigkeit privater Urteilsschelte Urteilsschelte durch Private hat vielfältige ErscheinWlgsformen: Journalisten verbreiten ihre MeinWlg in Presse, Hörfunk Wld Fernsehen; Vertreter der politischen Parteien stellen besonders in Wahlkampfzeiten gerne ihre Ansicht zu Urteilen dar, um ihr Profil zu schärfen. Häufig äußern sich auch die beiden großen Kirchen, Arbeitgeber- Wld Arbeitnehmerverbände sowie Gruppen, die von einem Urteil besonders betroffen sind (z.B. Behindertenorganisationen beim Behindertenurteil; Zentralrat der Juden beim Mannheimer Urteil). In diese Richtung auch Kisker, NJW 1981, S. 889 (892).

B. Zulässigkeit privater Urteilsschelte

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Die VerfassWlg schützt kritische MeinungskWldgaben Privater durch Artikel 5 I GO. Auf den ersten Blick scheint es so, als bedürfe es keiner näheren BegründWlg dafür, daß Urteilsschelte vollständig in den Schutzbereich des Artikel 5 I GO fällt. Nahezu einhellig wird insbesondere den Medien das Recht zugebilligt, Kritik an EntscheidWlgen der dritten Gewalt zu üben. 8 Doch bei näherem Hinsehen erweist sich das FWldament dieser Ansicht als brüchig. Bis auf den heutigen Tag werden Argwnente vorgebracht, die eine Legitimation der Urteilsschelte generell in Zweifel ziehen. Diesen Einwänden liegt der Gedanke zugrWlde, daß die Judikative Besonderheiten gegenüber anderen Staatsgewalten aufweise, die zu einer Wlterschiedlichen BewertWlg von Kritik fUhren müßten. Besonders deutlich werden entsprechende Vorbehalte in den Kommentier\U1gen zu § 169 GVG. Zwar geht es in dieser Vorschrift zunächst nur um die Gerichtsöffentlichkeit in Form der Zutrlttsmöglichkeit zum Gerichtssaal. Doch hat die restriktive Interpretation des § 169 GVG direkte Folgen für die Zulässigkeit der Urteilsschelte. Wenn schon die Gerichtsöffentlichkeit eingeschränkt wird, ist schon keine Information über das Zustandekommen des auf dem Inhalt der VerhandlWlg beruhenden9 Urteils und damit erst recht keine Kritik daran möglich. Bei der ErörtefWlg der Zulässigkeit der Urteilsschelte sind daher auch die Argwnente aufzunehmen, die zur Interpretation des § 169 GVG vorgebracht werden.

I. Die Doppelfunktion des Art. 5 I GG in ihrer Bedeutung für die Zulissigkeit der UrteilsscheIte Art. 5 I GO hat zwei Wurzeln, die dafiir sorgen, daß die Kommunikationsfreiheiten besonders fest in der VerfassWlg verankert sind. Als subjektives Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat ist die MeinWlgsfreiheit "Wl des droits les plus precieux de l'homme" (Art. 11 der ErkläfWlg der Menschen- Wld Bürgerrechte von 1789), eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt. In ihrer objektiven BedeutWlg ist die MeinWlgsfreiheit Wlabdingbare VoraussetzWlg der Demokratie, denn sie ermöglicht erst die ständige geistige AuseinandersetzWlg Wld den Kampf der MeinWlgen. Damit ist Art. 5 GO in seiner objektiven Di8 Wolf, GVG, S.212; Wassennann, Justiz Wld Medien, S.21; Schaffer, BayVBI 1991, S. 646; Mahrenholz, NJ 1992, S. 3; Kissel, GVG, § 169 Rn. 82; Brüggemann, Die rechtsprechende Gewalt, S.183. Das haben nach dem Mannheimer Urteil fllhrende Richter noch einmal bestätigt: Sendler, ZRP 1994, S.377 (378); Voss, DRiZ 1994, S. 445f.; Mahrenholz, DRiZ 1994, S. 35; Limbach, NJ 1995, S. 281 (283). 9 Vgl. §§ 286 ZPO, 261 StpO.

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

mension fiir eine freiheitlich-demokratische StaatsordnWlg "schlechthin konstituierend".lo Diese anerkannte Doppelfimktion des Art. 5 I 00 hat Auswirkungen auf die Legitimation der Urteilsschelte. 1. Die subjektiv-rechtliche Dimension

Die ältere Wurzel der MeinWlgsfreiheit entstand in der Gegenbewegung zum Absolutismus. In dieser Zeit sah sich der Einzelne ständig Eingriffen des Staates ausgesetzt Wld bedurfte daher des GrWldrechtsschutzes. Nach Inkrafttreten des GrWldgesetzes ist diese Gefahr zwar geringer geworden. Die subjektive Seite des Art. 5 I 00 ist aber seitdem enger mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 1 I, 2 I GG verknüpft Wld nimmt ZWlächst nur das Individuum in den Blick. Der einzelne Mensch kann sich nur frei entfalten, wenn er frei kommunizieren, anderen seine Gedanken, Ansichten und Wünsche Wlgehindert mitteilen kannY Zwischenmenschliche Unterhaltill1g Wld MeinWlgsaustausch sind daher ein "Wert in sich".12 Ohne sie wäre der Einzelne isoliert, und seine Persönlichkeit drohte zu verkümmern. Bei aller WertschätZWlg, die der Meinungsfreiheit fiir die VerwirklichWlg der Demokratie zugemessen wird, darf dieser individuelle Aspekt nicht vernachlässigt werden. Er führt zu einer bedeutenden Konsequenz fiir die Auslegung des Art. 5 I 00. Entscheidend fiir den Menschen ist, daß er sich überhaupt äußern kann. Dieses Recht ist nur dann wirksam geschützt, wenn inhaltlich jeder sagen darf, was er will. Zwingende Folge des Individualrechtscharakters ist damit, daß der Staat im Schutzbereich des Art. 5 I 00 keine AnforderWlgen an die Qualität Wld an das Thema der MeinWlgsäußerWlg stellen darf. a) Die Qualität der Kommunikation "Jeder soll frei sagen können, was er denkt, auch wenn er keine nachprüfbaren Gründe fiir sein Urteil angibt oder angeben kann", so formuliert das BWl10 BVerfGE 7, 198 (208); 12, 113 (125); 35,202 (221). Zur Doppelfunktion des Art. 500 auch: BVerfGE 20, 162 (175); Herzog, in: MaunzlDürig, 00, Art. 5 1,11, Rn. 3ff.; Schmidt-Jortzig, in: HbStR VI, S. 636ff.; Hoffmann-Riem, in: AK-OO, Art. 5 I, 11, Rn. 8, 11; Grimm, ZRP 1994, S.276; Kloepfer, in: HbStR 11, S. 195; Grimm, NJW 1995, S. 1697 (1698) weist darauf hin, daß das BVerfG den im amerikanischen Verfassungsrecht bis heute gefiihrten Streit über die Wurzeln der Meinungsfreiheit [dazu siehe unten Zweiter Teil C 11 2 a bb (1) (b)] von Anfang an zugunsten einer Doppelbegründung gelöst habe. 11 Dazu insbesondere Schmidt-Jortzig, in: HbStR VI, S. 636ff. 12 Hoffmann-Riem, in: AK-OO, Art. 5 I, 11, Rn. 11.

B. Zulässigkeit privater Urteils schelte

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desverfassungsgericht die Einsicht, daß Qualität im Schutzbereich des Art. 5 I GG kein angängiges DifferenzierungskriteriUIll ist. 13 Menschen äußern sich vielfach emotional, teilweise oberflächlich. manchmal unsinnig. Das macht einen Teil ihrer Persönlichkeit aus und muß daher auch von der subjektivrechtlichen Seite des Art. 5 I GG erfaßt sein. Gerade die Möglichkeit auch unreflektierter Äußerung macht Meinungsfreiheit aus. Entscheidend ist das ,,Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens, des Meinens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung; auf den Wert, die Richtigkeit, die Vernünftigkeit der Äußerung kommt es nicht an". 14 Für die Zulässigkeit der Urteils schelte wird dieser Gesichtspunkt wichtig, wenn an späterer Stelle auf das Ignoranzargument eingegangen wird, wonach fehlende Kompetenz der Kritiker Zweifel an der Zulässigkeit der Urteilsschelte wecke. ls b) Die thematische Einbindung der Kommunikation: ZUIll Einwand des Erfordernisses einer Kritik-Kompetenz Zunehmend haben Rechtsprechung und Literatur die objektiv-rechtliche Dimension des Art. 5 I GG in den Vordergrund ihrer Interpretation gestellt. 16 Das hat Folgen für die subjektiv-rechtliche Komponente des Art. 5 I GG gehabt, die in manchen Kommentierungen ZUIll historischen Beiwerk verkümmert ist. Ergebnis dieser Umdeutung ist die Forderung, daß der Bürger durch seine Meinungsäußerung positiv an der Gestaltung der Demokratie mitwirken müsse. 17 Aus diesem Ansatz heraus werden auch für die Zulässigkeit der Urteilsschelte zusätzliche Bedingungen abgeleitet. Die Öffentlichkeit, so heißt es bei Kissel 18 , bedürfe einer Legitimation, UIll das abgewogene Verhältnis der einzelnen Staatsgewalten zueinander und ihrer Eigenständigkeit im Verhältnis ZUIll Volk zu durchbrechen. Und Martens zweifelt gar grundsätzlich an einer ,juristisch sanktionslosen Kritik-Kompetenz des Volkes" in Bezug auf richterliche Entscheidungen. 19 Damit wird jeder Urteilsschelte die thematische Verpflichtung· BVerfGE 61, 1 (7). BVerfGE 61, 1 (8). Entsprechendes gilt fiir die Pressefreiheit, die nicht auf seriöse Presseerzeugnisse beschränkt ist, sondern auch auf solche, die bloß das Bedürfnis nach oberflächlicher Unterhaltung befriedigen, vgl. BVerfGE 34, 269 (283); 35, 202 (222). IS Siehe unten Zweiter Teil B I 2 c dd. 16 BVerfGE 35, 202 (221f.); Kloepfer, in: HbStR n, S. 177; besonders Ridder, in: Die Grundrechte n, S. 255ff., der diese Interpretation auf eine analoge Anwendung des Art. 21 GG stützt. 17 So etwa Ridder, Die Grundrechte n, S. 258. 18 Kissel, GVG, § 169 Rn. 2. 19 Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 74. 13

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

auferlegt, sich für die VerwirklichWlg des Demokratieprinzips als nützlich zu erweisen. Wenn der Kern der klassischen Grundrechtsftmktion des status negativus erhalten bleiben soll, läßt sich dieser Einwand nicht aufrechterhalten. Die ,,Legitimation" oder ,,Kritik-Kompetenz des Volkes" ergibt sich Wlmittelbar aus der subjektiv-rechtlichen Funktion des Art. 5 I GG Wld ist über jeden Zweifel erhaben. Die objektiv-rechtliche Dimension darf nicht gegen die subjektivrechtliche ausgespielt werden, verstärkt vielmehr die GeltWlgskraft der GrundrechtsgewährleistWlg. 20 Die VerfassWlg ist kein ,,Moralkatalog"21 Wld stellt die FreiheitsausübWlg nicht von vornherein in den Dienst einer "guten Sache". Systematisch wird das durch das System der Grundrechtsschranken deutlich. Staatliche EinbindWlgsverlangen müssen die oft hohe Hürde der Gesetzesvorbehalte nehmen. Ließe man bereits im Schutzbereich des Art. 5 I GG thematische DifferenzierWlgen zu, nähme man dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt des Art. 5 n GG seine BedeutWlg Wld Kraft. 22 Wenn im folgenden weitere Einwände gegen die Zulässigkeit der Urteilsschelte angesprochen werden, so ist die umfassende SchutzwirkWlg des Art. 5 I GG in seiner klassischen FWlktion als Abwehrrecht stets im Auge zu behalten.

2. Die objektiv-rechtliche Dimension: Die .. öffentliche Meinung" als Bestandteil des Demokratieprinzips So eng wie die subjektiv-rechtliche Komponente mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 1 I, 2 I GG verknüpft ist, so fest ist die objektivrechtliche Dimension des Art. 5 I GG mit dem Demokratieprinzip aus Art. 20 I, n GG verbWlden. 23 Die zweite zwar jüngere, aber mittlerweile ebenso fest verankerte Wurzel der MeinWlgsfreiheit gewährleistet die freie BildWlg der "öffentlichen MeinWlg". Unter öffentlicher MeinWlg versteht man die in der BevölkerW1g eines bestimmten Gebietes vorherrschenden Ansichten über Personen, Ereignisse oder Zustände von allgemeinem Interesse. 24 In Bezug auf den Staat im allgemeinen Wld die Justiz im besonderen vermag die öffentliche MeinWlg drei Dinge zur VerwirklichWlg des Demokratieprinzips beizutragen. Sie 20 BVerfUE 7,198 (205); 50,290 (337); Schmidt-Jortzig, in: HbStR VI, S. 640. 21 Starck, in: v.Ma/Kl, 00, Art. 5 I, n, Rn. 5. 22 Vgl. dazu Schmidt-Jortzig, in: HbStR VI; S. 639.

23 Das demokratische Prinzip bildet nach Herzog, in: MaU117lDürig, 00, Art. 5 I, n, Rn. 5 den ,,zweiten Grundakkord", nach Grimm, ZRP 1994, S.276, die "dritte Dimension" des Art. 5 00. 24 Löffler, Presserecht I, S. 254.

B. Zulässigkeit privater Urteilsschelte

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verschafft der dritten Gewalt Legitimation für die AusübWlg ihrer Tätigkeit, sie hat Integrationsfunktion Wld ennöglicht schließlich eine Kontrolle der Judikative. 2' Weitere generelle Einwände gegen die Zulässigkeit der Urteilsschelte sind an diesen drei Funktionen der öffentlichen MeinWlg zu messen. a) Legitimation: Zum Einwand der Legitimation durch Verfahren Unter Legitimation ist juristisch die Frage zu verstehen, worin der Staat Wld seine RechtsordnWlg eine zureichende BegriindWlg findet. 26 Das GrWldgesetz fonnuliert in Art. 20 11 1 darauf eine klare Antwort: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Das heißt, daß jede AusübWlg von Staatsgewalt sich auf ein Handeln des Volkes griinden muß. Dieses Erfordernis demokratischer Legitimation macht es notwendig, daß vom Volk zu den mit Staatsaufgaben betrauten Organen eine WlWlterbrochene Legitimationskette besteht. 27 Im System der repräsentativen Demokratie sind die in Art. 20 11 2 GG genannten Wahlen die wichtigste BegriindWlgsquelle des Staates Wld seiner RechtsordnWlg. Höchst mittelbar, aber immerhin WlWlterbrochen, können auch die zumeist von der Exekutive ernannten Richter ihre RechtsprechWlg ,,im Namen des Volkes" (vgl. §§ 268 I StPO, 311 I ZPO, 117 I 1 VwGO, § 25 IV BVerfGG) auf diese Wahlen zurückführen. 28 Fraglich ist, ob es mit einem Legitimationsverständnis sein Bewenden haben kann, das einseitig auf die in großen Abständen stattfindenden Wahlen fixiert ist. Davon geht Luhmann aus, wenn er fiir das Handeln der Judikative eine ,,Legitimation durch Verfahren" annimmt. 29 Für ihn besteht der Zweck des Gerichtsverfahrens darin, Konflikte zu zerlegen Wld kleinzuarbeiten. Dadurch werde es möglich, Kritik zu absorbieren. Denn wer sich gegen gerichtliche EntscheidWlgen auflehne, sei isoliert, da jedennann schon wegen des ordnWlgsgemäß abgelaufenen Verfahrens die EntscheidWlg durch den unabhängigen Richter als legitim ansehen müsse. 30 Die GerichtsberichterstattWlg durch die Massenmedien Wlterstütze die befriedende Funktion des Verfahrens, indem sie "die notwendige Passivität des Zuschauens" technisch sicherstelle. 31 Bei einem 2' Zu diesen Funktionen der öffentlichen Meinung: BVerfGE 35, 202 (222); Kloepfer, in: HbStR 11, S. 179ff.; Wassermann, Justiz und Medien, S. 20, 30. 26 Zippelius, Legitimation, S. 84. 27 BVerfGE 47, 253 (275). 28 Zur Legitimation durch Gesetzesbindung siehe unten Dritter Teil B m 1 b aa. 29 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, insb. S.121ff. 30 Luhmann, S. 121ff., 128. 31 Luhmann, S. 125.

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

so verstandenen Legitimationsbegriff ist Urteilsschelte ein Störfaktor. Sie formuliert und überspitzt Kritik, wo das Gerichtsverfahren Kritik gerade zügeln soll. 32 Dieser Theorie Luhmanns ist entgegenzuhalten, daß sie die Frage nach der Legitimation auf rein formale Kriterien reduziert. Die gerichtlichen Verfahren bilden zwar das Forum fiir die Beilegung von Streitigkeiten. In einer von Interessengegensätzen geprägten Demokratie sind die eigentlichen Konflikte aber inhaltlicher Natur. Der Bürger wird ein in seinem Namen ergangenes Urteil nur dann auf seine Person zurückfuhren wollen, wenn es materiell Freiheit und Gleichheit verwirklicht. 33 Eine Diskussion in der Öffentlichkeit wirkt der Gefahr entgegen, daß die Judikative auf Dauer in eklatanter Weise wider die Gerechtigkeitsvorstellungen des Volkes als seiner Legitimationsquelle urteilt. Öffentlichkeit und Presse tragen die sich in der Gesellschaft und ihren Gruppen bildenden Meinungen an die politisch handelnden Staatsorgane heran, "die auf diese Weise ihre Entscheidungen auch in Einzelfragen der Tagespolitik ständig am Maßstab der im Volk tatsächlich vertretenen Auffassungen messen können".34 Dieser Legitimationsdruck besteht in gleichem Maße fiir die rechtsprechende Gewalt, die bei ihrem Handeln über erhebliche Beurteilungsspielräume verfUgt und deren Handeln zunehmend politisch aufgeladen ist. 35 Die öffentliche Meinung trägt durch Urteilslob aber eben auch Urteilsschelte gesellschaftliche Wertvorstellungen an die Justiz heran und verschafft der dritten Gewalt durch diese Rückkopplung zusätzliche demokratische Legitimation. 36 b) Integration: Zum Einwand des Vertrauensschadens fiir die Rechtsprechung Während Legitimation ein juristischer Begriff ist, fUhrt die Frage nach der Integrationsfunktion37 der öffentlichen Meinung in den Bereich der Soziologie.

32

Luhmann, S. 128.

33 Zippelius, Legitimation, S. 87f. 34 BVerfGE 20, 162 (175). Auch in der Lehre wird die Bedeutung der öffentlichen

Meinung für die Legitimation des Staates betont: Stein, Staatsrecht, 13. Aufl., § 12 I, 11; MaunziZippelius, Deutsches Staatsrecht, § 11 III 3; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 190; Stern, Staatsrecht I, S. 617f.; Kloepfer, in: HbStR 11, S. 180f. 35 Dazu ausführlich unten Zweiter Teil B I 2 c aa Cl). 36 Speziell dazu Zippelius, Legitimation, S. 84ff.; Wassermann, Justiz und Medien, S.25. 37 Die Terminologie ist nicht einheitlich. Während BVerfGE 35, 202 (22lf.), und Kloepfer, in: HbStR 11, S. 180, von ,,Integration" sprechen, verwendet Zippelius, Allgemeine Staatslehre, §§ 16 I 3, 17 III, die Begriffe "soziologische Legitimation" und

B. Zulässigkeit privater Urteilsschelte

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Gemeint ist folgendes: Für das tatsächliche Funktionieren einer Gesellschaft ist es zweitrangig, ob die AusübWlg der Staatsgewalt juristisch hinreichend legitimiert ist. Von erstrangiger BedeutWlg ist dagegen, ob die Bevölkerung der RechtsordnWlg tatsächlich zustimmt Wld in einem ,'plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt"38 Ja zu ihrem Staat Wld zu dessen rechtsprechender Gewalt sagt. Es fällt auf, daß die Integrationsfunktion der öffentlichen MeinWlg inzwischen als Hauptzweck der Gerichtsöffentlichkeit des § 169 GVG angesehen wird. Indem die VerhandlWlg öffentlich sei, fördere sie das Vertrauen der Öffentlichkeit zur RechtsprechWlg der Gerichte. 39 Hinter § 169 GVG stehe der Wunsch der Öffentlichkeit, daß ihr die Arbeit Wld LeistWlg der Justiz deutlich gemacht werde. 40 Damit wird die Integra-tionsfunktion so stark in den Vordergrwtd gerückt, daß der Schritt zum nächsten grundsätzlichen Einwand gegen die Zulässigkeit der Urteilsschelte nicht mehr weit ist. EntscheidWlgskritik Wltergrabe das Vertrauen in die RechtsprechWlg Wld damit in die rechtsstaatliche OrdnWlg insgesamt. Unter einem solchen Autoritätsverlust hätten wiederum die Öffentlichkeit Wld die Rechtssuchenden zu leiden. 41 Darauf ist mit zwei Argumenten zu antworten. Zum einen wirkt Kritik nicht a priori vertrauenszerstörend. Es ist eine Einsicht der AufklärWlg, daß die Vermmft Wlverstellte AchtWlg nur demjenigen bewilligt, der freie Wld öffentliche Kritik hat aushalten können. 42 Richterliche EntscheidWlgsfindWlg ist in der pluralistischen Gesellschaft nicht mehr nur ein intuitiver subjektiver Akt der Erkenntnis des richtigen Rechts. Der Richter muß vielmehr zahlreiche auch außerrechtliche Informationen sammeln und verarbeitenY Das Echo der Öf,,Konsens". Wassermann, Justiz und Medien, S. 20, hat den lebensnahen Terminus der "vertrauensstabilisierenden Funktion" der öffentlichen Meinung eingeführt. 38 Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 136. Nach Herzog, Akzeptanz des Rechts, S. 128, ist ein Staat auf die freiwillige Befolgung der Rechtsordnung angewiesen, da er nicht hinter jeden zweiten Bürger einen Polizisten stellen könne. Löffler, Presserecht I, S. 256, mißt der öffentlichen Meinung die Funktion eines "Sicherheitsventils" bei, das jeden Überdruck sorgfältig registriere und den Staatsorganen anzeige. Damit übersetzt er die im amerikanischen Verfassungsrecht als "safety valve" bezeichnete Funktion der Meinungsfreiheit ins deutsche Recht, siehe unten Zweiter Teil C 11 2 a bb (1) (b) (ce). 39 BGHSt 9, 280 (281); 22, 297 (301); 23, 176 (178); Kissel, GVG, § 169 Rn. 3; Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 75. 40 Kleinknecht, in: Festschrift für Schmidt-Leichner, S. 112f. . 41 GernerlDeckerlKauffinann, DRiG, § 25 Rn. 5; Wolf, GVG, S. 213; Stürner, JZ 1978, S. 161. 42 Schmid, Einwände, S. 9; Wassermann, Justiz und Medien, S. 35; Wesei, Aufklärungen über Recht, S. 92. 43 Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 165; siehe dazu auch unten Dritter Teil B III 1 b bb (2).

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

fentlichkeit hilft dem Richter, eine Entscheidung zu treffen, die von der Gesellschaft mitgetragen wird. 44 Damit entspricht Urteilsschelte auf ideale Weise der Integrationsfunktion, indem sie dem Richter die Akzeptanz seiner Entscheidung vor Augen fUhrt. Eine Unterscheidung zwischen zulässiger konstruktiver und unzulässiger destruktiver Kritik läßt sich ebenfalls nicht auf die Integrationsfunktion stützen. 4S Sie verstößt gegen den subjektiv-rechtlichen Gehalt des Art. 5 I GG, der jegliche thematische und qualitative Anforderung im Schutzbereich ausschließt. Das zweite Argument zielt auf die Prämisse, die Integrationsfunktion der öffentlichen Meinung zu Lasten ihrer Kontrollfunktion überzubetonen. Meinungsverschiedenheiten sind der Demokratie immanent und machen diese geradezu aus. 46 Medien und Öffentlichkeit spiegeln diese Meinungsvielfalt wieder und schaffen dadurch einen effektiven Kontrollmechanismus. Presse und Öffentlichkeit sollen bei Mißständen im Staat Laut geben. Decken sie Skandale auf, so geht dies zwangsläufig auf Kosten des Vertrauens in staatliches Handeln. Schätzte man die Integrationsfunktion höher ein als die Kontrollfunktion, wäre dies das Ende effektiver demokratischer Kontrolle. Es ist nicht vorrangige Aufgabe der Medien, auf Kosten einer lebendigen Diskussion und einer wirksamen Kontrolle das Vertrauen in die ,,Leistung der Justiz" zu fOrdern. c) Kontrolle Die Kontrollfunktion der öffentlichen Meinung ist die wichtigste Ausprägung der objektiv-rechtlichen Seite des Art. 5 I GG. Insbesondere die Massenmedien nehmen die Kontrollaufgabe wahr, die ihnen in den Landespressegesetzen (z.B. § 3 LPG NW) auch einfach-rechtlich zugewiesen ist. 47 Doch bevor die KonWassermann, Justiz und Medien, S. 37f. Dazu Wassermann, Justiz und Medien, S. 33f. 46 Das legt das Bundesverfassungsgericht seiner Rechtsprechung zugrunde, wenn es inuner wieder die Bedeutung des freien ,.Kampfes" der Meinungen betont: BVerfUE 7, 198 (208); 12, 113 (125); 25, 256 (264 ); 61, 1 (11); 66, 116 (139); 68, 226 (232); so auch MaunziZippelius, Deutsches Staatsrecht, § 11 m 3; Grinun, ZRP 1994, S. 276. 47 Zur Kontrollfunktion der öffentlichen Meinung vgl. BVerfGE 20, 162 (175); 35, 202 (222); Löftler, Presserecht I, S. 25lf.; MaunziZippelius, Deutsches Staatsrecht, § 11 m 1; Kloepfer, in: HbStR 11, S. 181; Stern, Staatsrecht I, S. 191. Die Kontrollfunktion hat den Medien die unpassende Bezeichnung als "vierte Gewalt" eingetragen. Zum einen kennt das GO nach Art. 20 11 2 GO nur die drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative. Mit deren Tätigkeit haben Presse und Runkfunk in der Demokratie zudem nichts gemein. Sie üben keine Staatsgewalt aus, sondern leben gerade davon, daß sie sich im gesellschaftlichen Raum frei bilden und bewegen können. Der Terminus verschleiert daher, daß wichtigste Daseinsbedingung der Medien ihre Staatsfreiheit ist. 44

4S

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trolle staatlichen Handelns überhaupt möglich ist, muß der Meinungsbildungsprozeß in der Öffentlichkeit Vorstadien durchlaufen. Am Anfang steht dabei die Information. Nur wer staatliche Entscheidungen kennt, hat Beurteilungsgrundlagen, auf die er eine eigene Meinung und Kritik stützen kann. Auf die Information folgt die Diskussion. Diese vollzieht sich in Rede und Gegenrede und sorgt fiir einen lebendigen Meinungskampf als Lebenselement des demokratisch verfaßten Staates. 48 Es genügt den Anforderungen des Demokratieprinzips jedoch nicht, daß überhaupt eine Diskussion stattfindet, die zur Bildung irgendeiner öffentlichen Meinung führt. Entscheidend ist vielmehr, daß die öffentliche Meinung frei zustande gekommen ist, insbesondere ohne jede staatliche Beeinflussung. 49 Nur eine freie Meinungsbildung gewährleistet, daß Menschen sich ein richtiges und vollständiges Bild von den Vorgängen im Staat - etwa von einem Gerichtsurteil - machen können und an dem Vorgang teilnehmen, der in Art. 21 I 1 GG als "politische Willensbildung des Volkes" beschrieben wird. Information und Meinungsbildung bedingen einander. Der Bürger kann sich nur dann ein vom Staat unbeeinflußtes freies Urteil bilden, wenn er erstens überhaupt Informationen erhält und zweitens diese Informationen vollständig und aussagekräftig sind. Die Allgemeinheit kann ihre Kontrollfunktion damit nur erfiUlen, wenn sich staatliche Entscheidungsprozesse öffentlich vollziehen und fiir den Bürger durchschaubar sind. so Dieses demokratische Gebot zur Herstellung von Öffentlichkeit und Transparenz hat folgende Ausprägungen: Die Öffentlichkeit von Verhandlungen, Begründungspflichten fiir staatliche EntscheidungenSI und den Auskunftsanspruch der Presse gegenüber Behörden nach den Landespressegesetzen. S2 Information, Meinungsbildung und Kontrolle. Diese drei machen die demokratische Dimension des Art. 5 I GG aus. Ihre Bedeutung reicht weit über den Schutzbereich hinaus. Sie beeinflussen die Auslegung der Schrankenregelung des Art. 5 11 GG und filhren dazu, daß bei einer die Öffentlichkeit berührenden

Vgl. dazu BVerfGE 20, 162 (175); Bethge, in: Sachs, GO, Art. 5 Rn. 66; Groß, Presserecht, S. 35f.; Stettner, JöR 35 (1986), S. 57 (67). 48 Gnmdlegend dazu: BVerfGE 7,198 (208); 12, 113 (125). 49 BVerfGE 20, 56 (97); 44, 125 (139); Kloepfer, in: HbStR 11, S. 177; Lücke, Begriindungszwang und Verfassung, S. 97. so BVerwGE 70, 310 (314); MaunzlZippelius, Deutsches Staatsrecht, § 11 III 1; Stern, Staatsrecht I, S. 618; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 152; Wassermann, Justiz und Medien, S. 19f.; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 23 11 6; Pieroth, in: JarassJPieroth, GO, Art. 20 Rn. 6a. SI ZU diesen beiden: MaunzlZippelius, Deutsches Staatsrecht, § 11 III 1. S2 Dazu Löffler, Presserecht I, S. 262ff.

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Frage die Vermutung fiir die Zulässigkeit der freien Rede spricht. 53 Information, Meinungsbildung und Kontrolle als Funktionen der öffentlichen Meinung bilden ein weiteres tragendes Fundament fiir die Zulässigkeit der Urteilsschelte. aa) Der Einwand der Besonderheit der Gerichtssphäre

Der nächste Einwand zweifelt nicht generell die Kontrollfimktion der öffentlichen Meinung an. Es wird aber ein Unterschied gemacht zwischen der Kritik an Legislative und Exekutive auf der einen sowie der Judikative auf der anderen Seite. Die Verwaltung und insbesondere das Parlament bilden danach den politischen Bereich, zu dessen Kontrolle es einer wirksamen durch die Medien vermittelten Öffentlichkeit bedürfe. Dagegen weise die Gerichtssphäre Besonderheiten auf, da dort über schwierige rechtliche Fragen unbeeinflußt verhandelt und schließlich die Wahrheit gefunden werden müsse. Daraus folge, daß die Tätigkeit der Gerichte in geringerem Maße der Kritik und Kontrolle unterliege als das Handeln des Parlaments. 54 Die hier zu klärende Frage lautet damit, ob die auS dem Demokratieprinzip folgende Verpflichtung des Staates zu einem Kritik erst ermöglichenden öffentlichen und transparenten Handeln an Grenzen stößt, die sich aus dem Wesen der rechtsprechenden Gewalt selbst ergeben. (1) Urteilsschelte als Korrektiv gewachsener Richtermacht

Aus Art. 20 11 2 GG ergibt sich der Ausgangspunkt der Untersuchung. Auch die Judikative übt nach dieser Vorschrift Staatsgewalt aus. Diese Staatsgewalt geht vom Volke aus und unterliegt deshalb auch seiner Kontrolle. Nach der Verfassung sind darin alle Staatsgewalten gleich. Die Demokratie duldet im Prinzip geheime Machtausübung nicht und kennt keine Macht ohne Verantwortlichkeit gegenüber dem Volk. 55 Falsch ist die Vorstellung, daß rechtsprechende Tätigkeit weniger Kontrolle erfordere als gesetzgebende oder verwaltende. Urteilsschelte ist im Gegenteil ein notwendiges Korrektiv ständig gewachsener und noch wachsender Richtermacht. Versucht man, die richterliche Machtfiille näher zu beschreiben, ergeben sich drei wesentliche Gesichtspunkte:

53 BVerfGE 7, 198 (208f.); 61, 1 (11); 66, 116 (139); 68, 226 (232); Herzog, in: Maunz/Dürig, 00, Art. 5 1,11, Rn. lOa; Schmidt-Jortzig, in: HbStR VI, S. 641; zur Vermutungsfonnel siehe ausfiihrlich unten Zweiter Teil C I 4 b. 54 Bockelmann, NJW 1960, S. 217ff.; Schmidt, Justiz und Publizistik, S. 29; Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 74; Kloepfer, in: HbStR 11, S. 200. 55 Bäumler, JR 1978, S. 317 (320).

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Erstens haben Richter zunehmende Entscheidungskompetenzen und Bewteilungsspielräume. 56 Montesquieu beschrieb die Richter noch als den ,,Mund, der die Worte des Gesetzes ausspricht", als "willenlose Wesen", die nur aussprechen müßten, was das Gesetz bereits vorformuliere. 57 Zwischen diesem Bild und der Wirklichkeit der deutschen Rechtsprechung liegen Welten. Der Richter hat Bewteilungsspielräume bei unbestimmten Rechtsbegriffen, viele neuartige Fallkonstellationen zwingen ihn zur Analogie- oder Rechtsfortbildung. Das Bundesverfassungsgericht und andere hohe Gerichte geraten ungewollt in die Rolle des Ersatzgesetzgebers, wenn im Parlament die Mehrheiten fiir eine politische Problemlösung fehlen. Richterliches Handeln ist immer stärker politisch aufgeladen. 58 Daher muß die Öffentlichkeit kontrollieren können, welche Gründe den Richter zu einem Urteil bewegt haben, das nach der Gesetzeslage nur eines von vielen möglichen ist. Zweitens haben richterliche Entscheidungen fiir die Betroffenen erhebliche Auswirkungen. 59 Als Beispiel sei hier· nur genannt, daß die Rechtsprechung ein Monopol zur Verhängung von Freiheitsstrafen besitzt und damit von allen Gewalten am schärfsten in die Grundrechte der Bürger eingreifen darf. Drittens haben Richter im Rechtsstaat das letzte Wort. 60 Fehlgriffe von Richtern werden etwa durch Berufimg und Revision wiederum von anderen Richtern bewteilt. Die Judikative hat im demokratischen Rechtsstaat das Überwachungsmonopol und immer das letzte Wort. Qui custodit custodes, wer aber kontrolliert die Wächter? Die Antwort gibt Art. 20 II 1 GG: das Volk als Urheber und Legitimationsquelle aller demokratischen Staatsgewalt. Zu den Besonderheiten der Gerichtssphäre gehört damit heute auch die gewachsene Richtermacht. Diese Macht erfordert Kontrolle und hat Auswirkungen auf die Auslegung des staatlichen Publizitätsgebotes. (2) Öffentlichkeit und Transparenz des Staatshandelns Aus dem Demokratieprinzip ist die Verpflichtung des Staates abgeleitet worden, seine Akte öffentlich und durchschaubar zu machen. Als Ausprägungen 56 Wassermann, Justiz und Medien, S. 30; Wesei, Aufklärungen über Recht, S. 95ff.; Schreiber, in: Festschrift fiir Jescheck, S. 770; Kramer, ZRP 1976, S. 84ff. 57 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Erster Band, S. 225. 58 Das ist mit dem richtig verstandenen Begriff vom "politischen Richter" gemeint; vgl. Wassermann, Der politische Richter, S. 17; Wolf, GVG, S. 155f.; Wesei, Aufklärungen über Recht, S. 92ff.; Schreiber, in: Festschrift fiir Jescheck, S. 770ff. 59 Wassermann, Justiz und Medien, S. 30. 60 Brüggemann, Die rechtsprechende Gewalt, S. 179; Wassermann, Justiz und Medien, S. 31f.

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wurden die Öffentlichkeit von Verhandhmgen, die Begriindungspflicht für staatliche Entscheidungen und der Auskunftsanspruch der Presse genannt. Es ist zu zeigen, daß diese Ausprägungen des staatlichen Publizitätsgebots für die Judikative in gleicher Weise gelten wie für die beiden anderen Gewalten. Damit erweist sich der Einwand der Besonderheit der Gerichtssphäre in Bezug auf die Kontrolle durch die öffentliche Meinung als gegenstandslos. (a) Die Gerichtsöffentlichkeit und das Demokratieprinzip Gerichtsverhandlungen müssen nach § 169 S. 1 GVG öffentlich stattfinden. Darin unterscheiden sie sich nicht von den Verhandlungen der Parlamente (Art. 42 I 1 GG und entsprechende Normen der Landesverfassungen). Dennoch wird vielfach ein Unterschied zwischen Parlaments- und Gerichtsöffentlichkeit angenommen. Nach allgemeiner Ansicht ist die Parlamentsöffentlichkeit unabhängig von der Vorschrift des Art. 42 I 1 GG im Verfassungsprinzip der Demokratie verankert. 61 Dagegen sei die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung kein Verfassungsrechtssatz, sondern lediglich eine Prozeßmaxime für bestimmte Verfahren. 62 Die Vernachlässigung des Demokratieprinzips hat Auswirkungen auf die Interpretation des § 169 S. 1 GVG gehabt. So wird die Gerichtsöffentlichkeit auch fast 120 Jahre nach ihrer EinfUhrung in Deutschland lediglich als Zutrittsmöglichkeit für Interessierte (Saalöffentlichkeit), nicht aber als Gewährleistung einer umfassenden Information der Bevölkerung (Medienöffentlichkeit) verstanden. 63 Diese restriktive Interpretation der Gerichtsöffentlichkeit wird deren historischer Funktion nicht gerecht. Sie ist weiterhin mit der Kontrollfunktion der öffentlichen Meinung nicht in Einklang zu bringen und geht in hohem Maße ergebnisorientiert vor. Historisch stand hinter der Forderung nach Gerichtsöffentlichkeit das Ziel, ein Geheimverfahren unmöglich zu machen und die Richter kontrollieren zu kön-

61 BVerfGE 70, 324 (355); Pieroth, in: JarasslPieroth, GG, Art. 42 Rn. 1; Kloepfer, in: HbStR 11, S. 198. 62 Das nimmt ohne Begründung das BVerfGE 15, 303 (307), an; ebenso: Kleinknecht, in: Festschrift für Schmidt-Leichner, S. 112; Kloepfer, in: HbStR 11, S.200. 63 Statt aller Kissel, GVG, § 169 Rn. 3. Dagegen leiten andere aus der Verankerung der Gerichtsöffentlichkeit im Demokratieprinzip eine Erweiterung auf die Medienöffentlichkeit ab: Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 71f.; Arndt, NJW 1960, S. 424; Ridder, Die Grundrechte 11, S. 277. In diese Richtung weist auch BVerfGE, NJW 1979, S. 1400 (1401), wenn dort das Recht aller im Pressewesen tätigen Personen bekräftigt wird, "sich über Vorgänge in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung zu informieren und hierüber zu berichten".

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nen. 64 Die Gefahren eines Geheimverfahrens sind verb laßt. An ihre Stelle sind jedoch die Gefahren zunehmender Richtennacht getreten. Damit hat die Kontrollftmktion der Gerichtsöffentlichkeit ihre Bedeutung behalten. Es wurde bereits erwähnt, daß die Hauptftmktion der Gerichtsöffentlichkeit heute in ihrer vertrauensbildenden Wirkung gesehen wird. Damit wird die Integrationsfunktion überbetont und im Ergebnis Kontrolle vereitelt, was dem Demokratieprinzip widerspricht. 65 Hinter der restriktiven Interpretation des § 169 S. 1 GVG steht offenbar die Befürchtung, daß jede Einschränkung der Gerichtsöffentlichkeit unter einen erhöhten Rechtfertigungsdruck gerät. 66 Leitet man jedoch die Gerichtsöffentlichkeit des § 169 S. 1 GVG richtigerweise aus der demokratischen Verpflichtung des Staates zur Herstellung von Öffentlichkeit ab67 , so wird dadurch eine Einschränkung nicht wunöglich. Sie muß nur auf einen Verfassungswert begründet sein, der im Wege praktischer Konkordanz dem Demokratieprinzip Grenzen setzen darf. Eine neuere Entwicklung in der Rechtsprechung stellt die Kontrollftmktion der Gerichtsöffentlichkeit wieder stärker in den Mittelpunkt. Die zunehmende Zahl der Gerichtsverfahren hat dazu gefiihrt, daß in immer mehr Fällen ein schriftliches Verfahren an die Stelle der mündlichen Verhandlung tritt. 68 Um eine Infonnation der Bevölkerung über Urteile in diesen Fällen zu gewährleisten, ist die Justiz verpflichtet, besonders wichtige Gerichtsentscheidungen zu veröffentlichen. 69 Diese Pflicht wird neben dem Rechtsstaatsprinzip ausdrücklich auf das auch dem Demokratieprinzip folgende Gebot zur Herstellung von Öffentlichkeit und Transparenz gestützt. 70 Mit dieser Begründung setzt sich das deutsche Recht auch nicht länger in Widerspruch zu Art. 6 I EMRK. Diese Vorschrift schützt die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens und der UrteilsverkünKissel, GVG, § 169 Rn. 1; Wesei, Aufklärungen über Recht, S. 88. Dazu Wassermann, Justiz und Medien, S. 25f.; Castendyk, Rechtliche Begründungen, S. 72ff.; vgl. dazu oben Zweiter Teil B I 2 b. 66 Das ergibt sich aus den ergebnisorientierten Ausführungen von Kleinknecht, in: Festschrift für Schmidt-Leichner, S. 113; Kissel, GVG, § 169 Rn. 2 und Schilken, GVG, Rn. 159. . 67 Das tun Wesei, Aufklärungen über Recht, S. 98; Fögen, Gerichtsöffentlichkeit, S. 118ff.; Bäumler, IR 1978, S. 317 (320) und mit vorsichtigeren Formulierungen auch Wolf, GVG, S. 244 und Degenhart, in: HbStR m, S. 914f. 68 Wichtigster Fall ist § 128 m ZPO . . 69 OVG Bremen, NJW 1989, S. S. 926 (927); OLG Celle, NJW 1990, S. 2570f.; OVG Berlin, NJW 1993, S. S. 676 (677); VG Hannover, NJW 1993, S. 3282 (3283). Aus der Literatur äußern sich in diesem Sinne: Grundmann, DVBI 1966, S.57 (59); Kramer, ZRP 1976, S. 84 (85f.); Hirte, NJW 1988, S. 1698 (1700f.). 70 OLG Celle, NJW 1990, S. 2570f.; VG Hannover, NJW 1993, S. 3282 (3283); Kramer, ZRP 1976, S. 84 (85f.); Hirte, NJW 1988, S. 1698 (1700). 64 65

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dung und bezweckt damit in erster Linie die Kontrolle der Rechtsprechung durch die Öffentlichkeit. 71 Damit beginnt sich auch in Deutschland die Einsicht durchzusetzen, daß ein auf die Saalöffentlichkeit verengter § 169 S. 1 GVG den aus dem Demokratieprinzip folgenden Publizitätspflichten der Justiz nicht mehr genügt. Die Gerichtsöffentlichkeit hat damit die gleiche Wurzel wie die Parlamentsöffentlichkeit und läßt sich nicht zum Anknüpfungspunkt fiir eine Besonderheit der Gerichtssphäre machen. (b) Die Begründungspflicht Die zweite Ausprägung des Publizitätsgebotes besteht in der Verpflichtung fiir den Staat, seine Entscheidungen zu begründen. Das gilt auch fiir die Urteile der Judikative (§§ 267 StPO, 313 I Nr.5 ZPO, 117 11 Nr.5 VwGO).72 Diese Begründungspflicht hat verschiedene Zwecke. Innerprozessual soll sie den höheren Instanzen eine Überprüfung des Urteils ermöglichen, die richterliche Selbstkontrolle stärken und den Umfang der Rechtskraft festlegen. Außerprozessual sollen die Parteien über das Urteil unterrichtet und bei ihnen um Akzeptanz fiir die Entscheidung geworben werden (Befriedigungsfunktion). Dazu kommt, daß auch in der Öffentlichkeit ein Konsens über das Handeln der Rechtsprechung angestrebt werden soll (Integrationsfunktion). 73 Ein weiteres Motiv fiir die Begründungspflicht ist es schließlich, der Öffentlichkeit eine Kontrolle zu ermöglichen. 74 Kontrolle setzt Information und freie Meinungsbildung voraus. Zu einer vollständigen Information gehört es, daß der Staat nicht nur seine Entscheidung, sondern auch seine Motive dafiir öffentlich macht. Eine wirklich ,,freie" Meinungsbildung setzt ebenfalls voraus, daß der Bürger den ihm durch die Begründung vermittelten Hintergrund der Entscheidung durchschaut. Insofern bestätigt die grundsätzliche Begründungspflicht fiir gerichtliche Entscheidungen, daß auch die rechtsprechende Gewalt ihr Handeln transparent machen muß. 71 So der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in: EuGRZ 1985, S. 225 (228) (,,Axen"); EuGRZ 1985, S. 229 (23lf.) ("Sutter"); EuGRZ 1985, S. 548 (550) (,,Pretto"); Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 71, weist darauf hin, daß in Rechtsordnungen mit demokratischer Tradition (z.B. USA) die demokratische Kontrolle als zentrale Funktion der Gerichtsöffentlichkeit angesehen wird. 72 Dazu Wassermann, Justiz und Medien, S. 25f.; Castendyk, Rechtliche Begründungen, S. 72ff. 73 Zu den Funktionen des Begründungszwangs Castendyk, Rechtliche Begründungen, S. 81ff. 74 Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 99; Hirte, NJW 1988, S. 1698 (1701); Wassermann, in: AK-ZPO, § 313 Rn. 40.

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(c) Der Auskunftsanspruch nach den Landespressegesetzen Nach den Landespressegesetzen (vgl. § 4 I LPG NW) hat die Presse bei konkreten Anfragen einen Auskunftsanspruch gegen die Justiz. 75 Bundesrechtlich bestehen Anspruchsgrundlagen fiir die Übersendung von Urteilsabschriften, z.B. § 29911 ZPO.76 Erneut erweist sich, daß die dritte Gewalt nicht heimlicher vorgehen darf als Gesetzgebung und Verwaltung. Damit ergeben sich aus der Verfassung und den das Demokratieprinzip konkretisierenden Vorschriften keine Anhaltspunkte fiir eine Sonderstellung der Judikative im Hinblick auf Kritik.

(3) Zum Wesen der rechtsprechenden Gewalt Es ist nicht zu bestreiten, daß sich die Aufgabe der Rechtsprechung, nämlich die Wahrheitsfindung in einem Rechtsstreit zwischen den beteiligten Parteien, von den Aufgaben der anderen beiden Staatsgewalten unterscheidet. Vor Gericht treten Menschen auf, die es nicht gewohnt sind, im Licht der Öffentlichkeit zu stehen. Deshalb wird verständlicherweise befiirchtet, daß eine Ausweitung der Gerichtsöffentlichkeit einseitig zu Lasten von Persönlichkeitsrechten und eines fairen Verfahrens geht. 77 Gegen die Zulässigkeit der Urteils schelte sprechen aber auch diese Bedenken nicht. Zum einen droht eine Verletzung von Persönlichkeitsrechten und eine Störung des Verfahrens in erster Linie, wenn Medien sich in schwebende Verfahren einschalten. Urteilsschelte setzt aber regelmäßig erst nach Beendigung des Verfahrens ein und knüpft an die Entscheidung als Ergebnis richterlicher und damit staatlicher Tätigkeit an. Zu diesem Zeitpunkt treten die Besonderheiten des Gerichtsverfahrens zurück, während das Erfordernis der Kontrolle einer verbindlichen hoheitlichen Maßnalune deutlich hervortritt. Zum zweiten werden der Rechtsprechung in den §§ 169ff. GVG sehr großzügig Möglichkeiten an die Hand gegeben, die Öffentlichkeit zum Schutz anderer Rechtsgüter auszuschließen. Allein damit ist dem Wesensunterschied zwischen der dritten Gewalt und den beiden anderen Staatsgewalten - die über solche Möglichkeiten nicht verfügen - bereits hinreichend Rechnung getragen. 78

75 OVG Bremen, NJW 1989, S. 926; OVG Berlin, NJW 1993, S. 676; VG Hannover, NJW 1993, S. 3282 (3283). 76 Dazu ausführlich Hirte, NJW 1988, S. 1698ff. 77 Kissel, GVG, § 169 Rn.14f. 78 Bäumler, JR 1978, S. 317 (320). Zu den §§ 169ff. GVG als Grenzen der Urteilsschelte siehe unten Zweiter Teil C II 2 b. 8 Mishra

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Urteilsschelte ist damit auch zulässig, wenn man die Besonderheiten der Gerichtssphäre berücksichtigt. Die Gerichte haben zum Schutz von Persönlichkeitsrechten und anderen Verfassungswerten ein geeignetes Instrumentarium zur Verfügung. Als Korrektiv gewachsener Richtermacht und als Folge der staatlichen Verpflichtung zu Öffentlichkeit und Transparenz ist Urteilsschelte weiterhin nicht nur zulässig, sondern zu einer wirksamen Kontrolle der Justiz auch notwendig. bb) Der Einwand, daß Richter nicht unmittelbar gewählt werden Ein weiterer Einwand gegen die Zulässigkeit der Urteilsschelte wird daraus abgeleitet, daß die Konstituierung der Rechtsprechungsorgane weitgehend von politischen Wahlentscheidungen abgekoppelt ist. Damit habe man die Justiz gegenüber dem politischen Prozeß und damit verbundener öffentlicher Kritik und Kontrolle immunisieren wollen. 79 Dem ist entgegenzuhalten, daß in Art. 94 I 2 GG, 95 11 GG und den §§ 36 I, 42 I GVG die Richter- und Schöffenwahl durchaus vorgesehen sind. Die meisten Richter werden indes durch die Exekutive ausgewählt. Das muß aber zum genau entgegengesetzten Schluß fUhren. Gerade die nur mittelbare Ableitung der Macht vom Volk verlangt nach einer stärkeren Kontrolle der Rechtsprechung durch die öffentliche Meinung. 80 cc) Der .. Druck der Straße "-Einwand Ein häufig vorgebrachter Einwand weist auf den Konflikt zwischen Meinungsfreiheit und richterlicher Unabhängigkeit hin. Polemisch formuliert klingt dieses Argument so: " ( ... ) ob ein Beschuldigter zu verhaften [ist] ( ... ), weiß man an manchem Stammtisch und in mancher Redaktionsstube weit besser als in den Beratungszimmern der Gerichte." Das fUhre dazu, daß Richter unter den ,,Druck der Straße" geraten. 8l Seriöser ausgedrückt geht die Befürchtung dahin, daß die in Art. 97 I, 1 III GG vorgesehene Bindung des Richters an das Gesetz bei massiver Urteilsschelte einer ,,Bindung an die öffentliche Meinung" weiche. Als Folge daraus drohe eine Verunsicherung der Richter, die sich in einer schwankenden Rechtsprechung äußern könne und damit ende, daß die Justiz als beeinflußbar erscheint und damit ihr Vertrauenskapital verspielt. 82 Die aufgeMartens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 74. Degenhart, in: HbStR m, S. 914. 81 Schmidt, Die Sache der Justiz, S. 24f. 82 Wolf, GVG, S.213; Bockelmann, NJW 1960, S. 220; Kissel, Über die Zukunft der Justiz, S. 15ff.; Stümer, JZ 1978, S. 161ff. 79

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zeigte Gefahr besteht durchaus, wie die Beispiele im ersten Teil belegen. Auf den Schutzbereich des Art. 5 I GG haben diese Bedenken jedoch keinen Einfluß. Die richterliche Unabhängigkeit nach Art. 97 I GG muß vom Gesetzgeber in einem allgemeinen Gesetz geschützt werden, um über Art. 511 GG der Meinungsfreiheit Schranken ziehen zu können. Dazu kommt, daß die Angst vor dem ,,Druck der Straße" ein falsches Verständnis von öffentlichen Meinungsbildungsprozessen offenbart. Zunächst ist es jeder Kritik immanent, daß sie hom, zukünftige Entwicklungen und Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen. So wie die KWlStfreiheit des Art. 5 III GG neben dem Werkbereich auch den Wirkbereich des Kunstwerks schützt83 , so schützt die Meinungsfreiheit des Art. 5 I GG neben der Äußerung selbst auch deren davon nicht zu trennenden Auswirkungen auf die Umwelt. 84 Für den Empfänger der Kritik, in diesem Fall den Richter, ist diese Grundrechtsausübung immer mit dem Druck verbunden, sich mit der Kritik auseinandersetzen zu müssen. Das ist das Stadium der öffentlichen Meinungsbildung, der Rede und Gegenrede, kurz der Verwirklichung des Demokratieprinzips. Darin liegt für den Richter weder etwas Ehrenrühriges noch etwas Gefährliches. Er kann sich vielmehr darauf verlassen, daß die rechtsprechende Gewalt nach Art. 92 GG allein ihm zugewiesen ist. Dem Richter verbleibt die letztverbindliche Entscheidung, mag die Öffentlichkeit auch gegen sein Urteil Sturm laufen. Übersehen wird auch, daß öffentliche Kritik in zweierlei Hinsicht die richterliche Unabhängigkeit festigen kann. Von Mahrenholz stammt der treffende Vergleich, daß der Richter unter der Devise des "aggiomamento" lebt, also wie die Katholische Kirche es für sich im Zweiten Vatikanischen Konzil beschlossen hat - die gesellschaftlichen Verhältnisse in sein Weltbild aufnehmen muß. 85 Urteils schelte fördert den ,,Blutkreislauf" zwischen Volk und dritter Gewalt. Sie bewahrt den Richter vor Erstarrung und Selbstgerechtigkeit, indem er ständig Anregungen erhält, die er aufnehmen oder von sich weisen kann. 86

Siehe dazu BVerfGE 30, 173 (189); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 675. Ausfiihrlich dazu: BVerfGE 7, 198 (210); ebenso: BVerfGE 61, 1 (7); Schmid, Einwände, S. 12; Grimm, NJW 1995, S. 1697 (1698f.). 85 Mahrenholz, NJ 1992, S. 3. 86 Schmid, Einwände, S. 10; ähnlich Wassennann, Justiz und Medien, S. 37. Diesen Gesichtspunkt betont auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, EuGRZ 1979, S. 390 (Sunday-Times-Fall): Das Recht auf freie Meinungsäußerung gelte auch und gerade gegenüber der Justiz, "die den Interessen der ganzen Gesellschaft dient und der Unterstützung einer aufgeklärten Öffentlichkeit bedarf Es wird allgemein an83

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Resonanz aus der Öffentlichkeit bewahrt den Richter zum zweiten davor, in zu große Staatsabhängigkeit zu geraten. Hierin liegt eine historische Wurzel der Forderung nach Gerichtsöffentlichkeit im allgemeinen. 87 Auch der Richter von heute ist über die Mechanismen der Bef6rderung und parteipolitische Abhängigkeiten der Gefahr zu großer Staatsnähe ausgesetzt. Öffentlichkeit in Form der Urteilskritik macht solche Abhängigkeiten sichtbar und damit überhaupt erst eindämmbar. Damit fiihrt auch der ,,Druck der Straße"-Einwand nicht zu einer Begrenzung des Schutzbereichs des Art. 5 I GG. Er liefert jedoch durch seine Fundierung auf Art. 97 I GG wichtige Hinweise fiir die Auslegung des Art. 5 11 GG.

dd) Der Ignoranzeinwand Der langlebigste und gleichzeitig anachronistischste Einwand gegen die Legitimation der Urteilsschelte geht auf Feuerbach zurück und wird bis heute unter Berufung auf seine These aufrechterhalten. "Und ob der Richter das gehörige Gesetz in Anwendung gebracht? ob er dieses richtig ausgelegt habe? ob sein Ausspruch mit dem wahren Recht übereinstimme? ( ... ) Darüber hat niemand ein zuständiges Urtheil, als wer die Weihe der Wissenschaft empfangen und durch vielfache Ausübung seinen Geist in Anwendung derselben geschärft hat. "88 Weiter heißt es: ,,Das Volk ( ... ) lobe oder schelte sein [des Richters, d. V.] Urtheil - der wahre Mann des Rechts fragt nicht danach, und achtet in gewissenhafter Ausübung des Amtes auf keinen anderen Kontroleur als auf denjenigen, der in seinem eignen Innern ihn bewacht. "89 Anders ausgedrückt lautet dieser Einwand: Das Recht und die richterliche Entscheidungsfindung sei zu kompliziert, als daß das Volk sie begreifen könne. Was das Volk aber nicht verstehe, könne es auch nicht kontrollieren. 90 Das Ignoranzargument läßt sich nicht halten. Der historische Vergleich mit Feuerbach hinkt. Mit dem Hinweis auf die Ignoranz ihrer Kontrolleure vererkannt, daß die Gerichte nicht in einem Vakuum funktionieren können." Zu diesem Urteil siehe unten Zweiter Teil C 11 2 a aa (3) (b) (bb). 87 Feuerbach, Betrachtungen, S. 86ff., wendete sich mit seiner Forderung nach Gerichtsöffentlichkeit in erster Linie gegen die Kabinettsjustiz des 19. Jahrhunderts. Dazu aus heutiger Sicht: WeseI, Aufklärungen über Recht, S. 89; Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 166. 88 Feuerbach, Betrachtungen, S. 151. 89 Feuerbach, Betrachtungen, S. 157. 90 Vertreter dieser Meinung sind: Bockelmann, NJW 1960, S. 217; Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 74; Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 124, 126; Kloepfer, in: HbStR 11, S. 200.

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schanzt sich die RechtsprechWlg hinter teilweise von ihr selbst errichteten Verständnisbarrieren. Schließlich ist der Einwand mit dem Schutzbereich des Art. 5 I GG schlechthin Wlvereinbar. (1) Das einseitige Verständnis Feuerbachs Als Feuerbach mit seinem Werk im Jahre 1821 den Anstoß zur Einfiihrung der Gerichtsöffentlichkeit in Deutschland gab, mußte er mancherlei Rücksicht auf die Fürsten seiner Zeit nehmen. Insofern nimmt es WWlder, daß der Hauptgedanke Feuerbachs, nämlich die Kontrolle der RechtsprechWlg durch die Öffentlichkeit, in den Hintergrund gerückt ist, während seiner Einschränkung Wlverhältnismäßig hohe BedeutWlg zugemessen wird. Unterlassen wird ferner eine komplette Analyse des Ignoranzarguments bei Feuerbach. Dieser hat dem Volk nicht schlechthin die Kompetenz zur Urteilsschelte abgesprochen, sondern zwei Ausnahmen gemacht. Zum einen könne der Laie die "äußern Formen Wld Förmlichkeiten" verstehen, sprich: den Gang des Gerichtsverfahrens. Zum zweiten besitze das Volk dort ein "gründliches Wld scharfsichtiges Urtheil", wo es um seine "verfassWlgsmäßigen Rechte" gehe. 91 Feuerbach traut dem Bürger also weit mehr zu, als ihm Wlterstellt wird. Insofern wird er zumindest Wlvollständig zitiert Wld ist als Kronzeuge für das Ignoranzargument Wlgeeignet. (2) Die Barrieren der Rechtskommunikation Castendyk hat in einer neuen Arbeit anhand von 15 Beispielsfiillen die Qualität der öffentlichen Diskussion über Urteile Wltersucht. 92 Obwohl er hauptsächlich Berichte in namhaften ZeitWlgen ausgewertet hat, konstatiert er Mängel in der Rechtskommunikation zwischen Öffentlichkeit Wld RechtsprechWlg. Die BerichterstattWlg sei auf die Stratjustiz konzentriert, neige zu einer starken PersonalisieTWlg Wld verkenne oft die hohe politische BedeutWlg der Justiz Wld ihrer Urteile. Informationen über Rechtsfragen Wld rechtliche Argumente kämen zu kurz. Für diese Verständigoogsprobleme hat Castendyk drei Ursachen ausgemacht: die Sprachbarriere, die Wissensbarriere Wld die Rechtsbewußtseinsbarriere. 93 Fachbegriffe, GliedeTWlg Wld Argumentationsstil in richterlichen EntscheidWlgen richten sprachliche Hürden auf, die selbst die Wlmittelbar am Prozeß Beteiligten kaum überwinden können. 94 Die Wissensbarriere Feuerbach, Betrachtungen, S. 149f. Castendyk, Rechtliche Begründungen, insb. S. 147ff; 283ff. 93 Castendyk, Rechtliche Begründungen, S. 110ff. 94 Ausfiihrlich dazu: Wesei, Juristische Weltkunde, S. 165ff.; Castendyk, Rechtliche Begründungen, S. 111. Franz-Josef Degenhardt beschreibt in seinem Vorwort zu Tucholsky, Politische Justiz, S. 5, die Sprache der Juristen als ,,Mixtum aus identitäts91

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

weist auf den Unterschied zwischen den umfassenden Rechtskenntnissen des Richters lUld dem eher geringen Wissen in der BevölkeflUlg über das positive Recht hin. Als Rechtsbewußtseinsbarriere definiert Castendyk den Unterschied zwischen allgemeinen GerechtigkeitsvorstelllUlgen lUld dem stärker verfahrenslUld subsumtionsorientierten Rechtsbewußtsein der Juristen. Die Fallauswahl im ersten Teil stützt Castendyks Befund, am deutlichsten wird das gegenseitige Unverständnis am Beispiel des Frankfurter Behindertenurteils. 9s Erhält aber damit nicht das Ignoranzargument neue NahrlUlg? Es ist nicht zu bestreiten, daß VerständiglUlgsprobleme zwischen Juristen lUld Nichtjuristen immer bestehen bleiben werden. Das Recht ist zu kompliziert, als daß selbst der Experte - geschweige denn der Laie - noch einen Überblick behalten könnte. Dieser Umstand ist sicher nicht nur auf die ,,RegellUlgswut" des Gesetzgebers, sondern auch auf die ZlUlehmende Komplexität der zu regelnden Sachverhalte zurückzuführen. 96 Es ist aber darauf hinzuweisen, daß die Justiz viele von den VerständiglUlgsbarrieren, die sie als Argument gegen ihre Kritiker ins Feld fUhrt, selbst errichtet hat. Die Sprache der Urteile ist nicht nur eine Fach-, sondern auch eine Kunstsprache, die der Jurist teilweise bewußt als Mittel sprachlicher AbgrenZlUlg zum Volk verwendet. Adressaten eines so formulierten Urteils sind häufig nicht die Prozeßbeteiligten oder gar die Öffentlichkeit, sondern die Richter der nächsten Instanz. Der Jurist segelt sprachlich "durch die Lüfte der hohen Abstraktion, ( ... ) während lUlten das gemeine Volk zurückbleibt, ohne jede Aussicht, ihm dorthin zu folgen".97 Auch zum Abbau der Wissens- lUld Rechtsbewußtseinsbarriere trägt die Justiz wenig bei. Die geringe WertschätZlUlg der Gerichtsöffentlichkeit zeugt davon, wobei ohnehin nur die mündliche VerhandllUlg lUld die UrteilsverkündlUlg, nicht aber die BeratlUlg der Richter öffentlich ist. Auch Justizpressestellen sehen ihre Aufgabe noch stärker in der Abwehr von Kritik als in der AufklärlUlg über rechtliche Fragen. 98 Überspitzt formuliert besteht das Prinzip der Justiz darin, "der Öffentlichkeit das zu präsentieren, was logisch in sich selbst kreisenden Begriffen, großbÜfgerlicher Umgangssprache und Redensarten des 19. und früherer Jahrhunderte". 9S Siehe dazu oben Erster Teil C. 96 Diesen Ausblick gab schon Feuerbach, Betrachtungen, S. 153ff. Allgemein zu den Verständigungsproblemen, die die modeme wissenschaftliche und technische Entwicklung mit sich bringt: Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 164; Castendyk, Rechtliche BegrüDdungen,S.28f 97 Wesei, Aufklärungen über Recht, S. 87ff. Selbstkritisch äußert sich Voss, DRiZ 1994, S. 445 (448), über die Sprache der Juristen. 98 So Wassermann, Justiz und Medien, S. 27; siehe dazu vor allem unten Vierter Teil C 11 3 a.

B. Zulässigkeit privater Urteilsschelte

119

sie nicht versteht Wld vorzuenthalten, was sie begreifen kann. "99 Daß aus selbsterrichteten Barrieren eine Waffe gegen die Kritiker geschmiedet wird, läßt den Ignoranzeinwand geradezu Wlverfroren erscheinen. (3) Der Ignoranzeinwand Wld Art. 5 I GG Der Ignoranzeinwand ist des weiteren an Art. 5 I GG zu messen, wobei sowohl dessen subjektiv- als auch objektiv-rechtliche Prägoog zum Tragen kommen. Schon die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 5 I GG entzieht dem Argument den Boden. Im Schutzbereich der MeinWlgsfreiheit dürfen keine einschränkenden Anforderoogen an Qualität Wld Thema der Äußeroog gestellt werden. Ob Urteilsschelte von kompetenter oder inkompetenter Seite geäußert wird, könnte also frühestens für die Auslegoog der Schranke des Art. 5 11 GG von BedeutWlg sein. Im Schutzbereich ist die Kompetenz des Kritikers Wld die sich daraus ergebende Qualität der Äußeroog kein zulässiges Differenzieroogskriterium. Der Ignoranzeinwand kann auch vor der objektiv-rechtlichen Seite des Art. 5 I GG nicht bestehen. Integrations- Wld Legitimationsfunktion der öffentlichen MeinWlg setzen Verständnis voraus. Wenn aber der Bürger das Handeln der in seinem Namen urteilenden Justiz nicht mehr begreifen kann, verliert sie an Akzeptanz Wld Legitimität Wld stellt sich in der demokratischen Gesellschaft ins Abseits. 100 Ein Vergleich mit der zweifelsfrei anerkannten Kontrollfunktion der öffentlichen MeinWlg beim politischen Handeln von Parlament Wld VerwaltWlg zeigt das Undemokratische des Ignoranzeinwands. Das Publikum ist längst nicht immer willens oder in der Lage, komplizierte politische Probleme zu verstehen. Dennoch genießen auch die Wlverständigsten Menschen das Wahlrecht Wld es wäre offensichtlich verfassWlgswidrig, die AusübWlg desselben an eine bestimmte Qualifikation zu knüpfen. lol Es ist das Unvermeidliche Wld gleichzeitig Humane der Demokratie, daß sie den Bürger mit seinen Schwächen annimmt Wld sich diesen auch aussetzt. 102 Dazu kommt, daß ein umfassendes juristisches Wissen der Kritiker weder eine reale noch eine ideale V orstellWlg ist. Demokratische Kontrolle ist etwas anderes als die Überprüfung etwa einer

99

100 101 102

Fögen, Gerichtsöffentlichkeit, S. 118ff. Schellenberg, ZRP 1995, S. 41 (44). Vgl. dazu Bäumler, JR 1978, 317 (320). Kloepfer, in: HbStR 11, S. 179.

120

Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

korrekten Buchfiibnm.g. 103 Gerade Kritik von Laien ist wertvoll. Sie kann ein grundlegendes Unverständnis zwischen dem Volk und seiner Rechtsordnung zutage f6rdem und der Gefahr der ,,Betriebsblindheit" von Juristen entgegenwirken. 104 Demokratische Kontrolle ist folglich mit juristisch-fachlicher Kontrolle nicht gleichzusetzen. Der Ignoranzeinwand ist mit dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit nicht vereinbar. 3. Ergebnis

Durch eine Untersuchung der Doppelfunktion des Art. 5 I GG wurden sieben Einwände gegen die Zulässigkeit der Urteilsschelte gleichsam auf einen Streich erledigt. Der Einwand des Erfordernisses einer Kritik-Kompetenz scheitert an der subjektiv-rechtlichen Dimension des Art. 5 I GG, da er unzulässigerweise Anforderungen an das Thema der Meinungsäußerung stellt. Der Einwand der Legitimation durch Verfahren ist durch einen materiell verstandenen Legitimationsbegriff ausgeräumt. Der Bürger wird ein in seinem Namen ergangenes Urteil nicht bereits deshalb akzeptieren, weil es verfahrensgemäß zustandegekommen ist. Vielmehr muß die gerichtliche Entscheidung auch materiell Freiheit und Gleichheit verwirklichen. Diejenigen, die durch Urteilsschelte einen Vertrauensschaden fiir die Justiz befiirchten, sind auf die vertrauensstabilisierende Wirkung von Diskussion und die gegenüber der Integrationsfunktion vorrangige Kontrollfunktion der öffentlichen Meinung zu verweisen. Der Einwand der Besonderheit der Gerichtssphäre ist abzulehnen, weil Urteilsschelte Korrektiv gewachsener Richtennacht ist und auch der Judikative die demokratische Verpflichtung zur Herstellung von Öffentlichkeit und Transparenz auferlegt ist. Der Umstand, daß Richter nicht unmittelbar gewählt werden, spricht nicht gegen die Zulässigkeit von Kritik, sondern sogar fiir deren Notwendigkeit. Der ,,Druck der Straße"-Einwand übersieht, daß Art. 5 I GG auch die Wirkung einer Meinung auf andere schützt. Ferner belebt Urteilsschelte den Blutkreislauf zwischen Volk und Justiz und bewahrt die Richter vor Staatsabhängigkeit. Der Ignoranzeinwand schließlich ist weder mit der subjektiv-rechtlichen noch mit der objektiv-rechtlichen Funktion der Meinungsfreiheit vereinbar. Nach Art. 5 I GG dürfen keine einschränkenden Anforderungen an die Qualität der Meinungsäußerung gestellt werden. Ferner versteckt sich die Justiz mit diesem

103 Insofern stimmt der Vergleich von Feuerbach, Betrachtungen, S. 148, nicht: ,,Der Gegenbuchfiihrer [das Volk, d. V.] muß eben so gut Buch zu führen verstehen, als der Buchführer [der Richter, d. V.] selbst." 104 Wassermann, Justiz und Medien, S. 35f.; Schellenberg, ZRP 1995, S. 41 (44).

B. Zulässigkeit privater Urteilsschelte

121

Einwand hinter selbsterrichteten Kommunikationsbarrieren und übersieht, daß gerade Kritik von Laien ein wichtiges Element demokratischer Kontrolle ist.

11. Die Abgrenzung der Schutzbereiche von Meinungs-, Presseund Rundfunkfreiheit (Art. 5 I I, 2 GG) Die öffentliche Diskussion über Gerichtsurteile findet zum überwiegenden Teil über die Printmedien und den Rundfimk statt. Die gesellschaftlichen Gruppen versuchen durch Pressemitteilungen, ihrer Meinung über die Masserunedien Gehör zu verschaffen. Journalisten veröffentlichen ihre Kritik zwar in Presse und Rundfimk, tun damit aber ihre eigene Meinung kund. So ist regelmäßig die Frage aufgeworfen, ob eine Äußerung dem Schutzbereich entweder der Meinungsfreiheit des Art. 5 I 1 GG oder der Presse- bzw. Rundfunkfreiheit des Art. 5 I 2 GG zuzuordnen ist. 1. Wortlaut und Entstehungsgeschichte

Einen ersten Hinweis geben Wortlaut und Entstehungsgeschichte des Art. 5 I 1 GG. Die entsprechenden Art. 143 I 1 der Paulskirchen-Verfassung und Art. 118 der Weimarer Reichsverfassung gewährten noch das Recht, seine Meinung in "Wort, Schrift, Bild und Druck" zu äußern, wogegen das Wort ,,Druck" in Art. 5 I 1 GG nicht mehr auftaucht. Aus den Motiven des Gesetzgebers geht jedoch hervor, daß man die Formulierung geändert hat, weil der Tenillnus "Schrift" auch die gedruckte Meinungsäußerung enthält. Damit schützt schon Art. 5 I 1 GG ausdrücklich Meinungskundgaben in der Presse. lOS Entsprechendes gilt für den Begriff "Wort", der die Hörftmkberichterstattung erfaßt, während "Wort" und ,,Bild" zusammengenommen die Fernsehberichterstattung ausmachen. Wortlaut und Entstehungsgeschichte sprechen dafür, daß Urteilsschelte generell in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fällt. 2. Systematik

Systematisch ist dieses Ergebnis nur plausibel, wenn bei dieser Auslegung für Rundfimk- und Pressefreiheit noch ein eigener Schutzbereich verbliebe. Die Pressefreiheit hat einen über die Meinungskundgabe hinausgehenden Gehalt,

lOS

]öR N.F. 1, S. SOff.; BVerfGE 85, 1 (llf.).

122

Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

indem sie die im Pressewesen tätigen Personen in ihrer Funktion, die institutionell-organisatorischen VoraussetZWlgen und Rahmenbedingungen der Pressearbeit und die Institution einer freien Presse überhaupt schützt. Konkret gesprochen geht es dabei etwa um den Schutz der redaktionellen Sphäre oder um die Verbreitung und den Vertrieb von Presseerzeugnissen. 106 Bei der Rundfunkfreiheit steht der objektiv-rechtliche Gehalt im Vordergrund, der den Staat insbesondere dazu verpflichtet, fiir die Verwirklichung der Meinungsvielfalt Sorge zu tragen. IO ? Damit behalten Presse- und Rundftmkfreiheit auch dann einen Sinn, wenn man die einzelne Meinungsäußerung unabhängig vom Verbreitungsmedium durch Art. 5 I 1 GG als geschützt ansieht. Die systematische Auslegung steht somit einem Vorrang der Meinungsfreiheit nicht entgegen. 3. Sinn und Zweck Ausgehend von Wortlaut und Systematik wird auch der Sinn einer Unterscheidung von Meinungs-, Rundfunk- und Pressefreiheit deutlich. Bei Art. 5 I 1 GG steht die einzelne Meinungsäußerung im Vordergrund. In Art. 5 I 2 GG geht es um die eine einzelne Meinungskundgabe übersteigende Bedeutung von Presse und Rundfunk filr die freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung. l08 Art. 5 I 2 GG regelt also im Verhältnis zu Art. 5 I 1 GG nichts Spezielles l09 , sondern etwas anderes. Beide Schutzrichtungen können zusammenfallen und zu einer kumulativen Anwendung von Art. 5 I 1 und Art. 5 I 2 GG fUhren, wenn neben den Aspekt der individuellen Meinungsäußerung pressespezifische Gesichtspunkte treten. llo So ist es etwa denkbar, daß Arbeitsbedingungen der Presse wie das Erfordernis aktueller und möglichst verständlicher Berichterstattung dazu fUhren, daß an die inhaltliche Qualität der Urteilsschelte geringere Maßstäbe anzulegen sind. Regelmäßig bleibt es aber auch nach einer teleologischen Auslegung dabei, daß die Zulässigkeit einer einzelnen Urteilskritik allein am Maßstab der Meinungsfreiheit des Art. 5 I 1 GG zu messen ist, nicht aber an Art. 5 I 2 GG.lll Die praktische Relevanz dieser AbgrenZWlg ist indes

106 Dazu BVerfUE 85, 1 (12f.); 86, 122 (128); Degenhart, in: BoK-GG, Art. 5 I, n, Rn. 75a. 10? Überblick bei Jarass, in: JarasslPieroth, GG, Art. 5 Rn. 37ff. 108 Vgl. BVerfGE 85,1 (12). 109 So aber Herzog, in: MaunzJDürig, GG, Art. 5 I, n, Rn. 153f. 110 Dazu Degenhart, in: BoK-GG, Art. 5 I, n, Rn. 75a. 111 Zu diesem Ergebnis kommen: BVerfGE 85, 1 (llff.); 86, 122 (127f.); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 624; im Ergebnis auch Heselhaus, NVwZ 1992, S. 740 (741).

C. Grenzen privater Urteilsschelte

123

gering, da alle Kommunikationsfreiheiten Wlter dem Gesetzesvorbehalt des Art. 5 11 GG stehen. 112 Urteilsschelte fiUlt vorbehaltlos in den Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG. Die Frage nach ihren Grenzen ist daher nur durch einen Blick auf die durch Art. 5 11 GG aufgerichteten Schranken der MeinWlgsfreiheit zu beantworten.

C. Grenzen privater Urteilsschelte Dem durch Art. 5 I GG in vollem Umfang geschützten Recht zur Urteilsschelte können nur Wlter den VoraussetzWlgen des Art. 5 11 GG Grenzen gesetzt werden. ZWlächst ist zur Auslegwtg dieser SchrankenregelWlg StellWlg zu nehmen. Anschließend werden einschlägige schrankenkonkretisierende V orschriften angesprochen.

I. Die Schrankenregelung des Art. 5 n GG Das Recht zur Urteilsschelte findet seine Grenzen einerseits in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, andererseits im Recht der persönlichen Ehre.

1. Die allgemeinen Gesetze Wichtigste Wld zugleich umstrittenste Grwtdlage für eine Einschränkwtg der Grwtdrechte aus Art. 5 I GG ist die Schranke der allgemeinen Gesetze. a) Gesetze Ein Eingriff in den Schutzbereich ist nur dann verfassWlgsrechtlich gerechtfertigt, wenn er sich auf ein "Gesetz" stützt. Nach einhelliger AuffasSWlg ist dieser Begriffbei Art. 511 GG in einem weiten Sinn zu verstehen. Es fallen dar-

112

Vgl. Herzog, in: MaunzJDürig, 00, Art. 5 I, 11, Rn. 154a.

124

Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

Wlter sowohl fonnelle als auch materielle Gesetze. 113 Dennoch hat schon das Erfordernis eines Gesetzes eine wichtige Schutzwirkung gegen Eingriffe in Art. 5 I GG. VerfassWlgswerte, die mit der MeinWlgsfreiheit kollidieren, können nur dann wirksame Schranken bilden, wenn sie gesetzlich konkretisiert sind. b) Allgemein Die rechtliche Diskussion zu Art. 5 11 GG dreht sich im wesentlichen um die Auslegoog des Wortes "allgemein". Bereits die entsprechende FonnuliefWlg in Art. 118 I der Weimarer ReichsverfassWlg (WRV) war Ausgangspunkt eines Theorienstreits. Dieser dauert bis heute fort, Wld immer wieder werden neue NuanciefWlgen in die Debatte eingeführt. Die schillernde Definition des BVerfG zu diesem Begriff hat ihren Teil dazu beigetragen, daß der Terminus der "allgemeinen" Gesetze von einer scharfen Konturieroog immer noch weit entfernt ist. Im Wege der VerfassWlgsauslegoog soll der Inhalt des Begriffs erntittelt werden. Maßgeblich ist der objektivierte Wille des Gesetzgebers. Dieser ergibt sich aus dem Wortlaut einer Nonn (grammatische Auslegoog), aus den Gesetzesmaterialien Wld der EntstehWlgsgeschichte (historische Auslegoog), aus ihrem Zusammenhang (systematische Auslegoog) sowie aus Sinn Wld Zweck der Nonn (teleologische Auslegoog). Diese Auslegoogsmethoden schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig. 114 aa) Grammatische Auslegung

Beleuchtet man das Wort "allgemein" Wlter sprachlichen Gesichtspunkten, so ergeben sich drei Interpretationsmöglichkeiten. (1) Allgemeinheit im Sinne einer abstrakt-generellen FonnuliefWlg Naheliegend ist die Annahme, daß ein Gesetz allgemein ist, wenn es generell eine Vielzahl von Personen erfaßt Wld an einen abstrakt fonnulierten Sachverhalt anknüpft, wenn es also mit anderen Worten fiir alle Wld fiir alles gilt. l1s Bei eingehender BetrachtWlg zeigt sich indes, daß diese Auslegoog dem Wortlaut des Art. 5 11 GG gerade zuwiderläuft. Daß eine schrankenziehende Nonn abstrakt-generell fonnuliert sein muß, ergibt sich schon aus dem Wort "Gesetz"

113 BVerwGE 72, 183 (186); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 646; Wendt, in: v.Münch/KWlig, 00, Art. 5 Rn. 73. 114 BVerfGE 11, 126 (130); 35, 263 (278f.). IIS Nachweise zu dieser früher vertretenen MeinWlg bei Hoppe, JuS 1991, S. 734.

c. Grenzen privater Urteilsschelte

125

Wld mußte deshalb nicht eigens betont werden. 116 RegelWlgsbedürftig bleiben allein die Fälle, in denen Wlter dem Deckmantel einer abstrakt-generellen FormulierWlg in Wahrheit ein Einzelfall geregelt wird. Eine solche Rechtsnorm erfiillte zwar den Gesetzesbegriff. Sie wäre aber schon wegen Art. 19 I 1 GG ein verfassWlgswidriger GrWldrechtseingriff. Daraus folgt, daß das Erfordernis abstrakt-genereller FormulierWlg Wld GeltWlg einer Norm Wlabhängig von dem Begriff "allgemein" in Art. 5 II GG gilt. Das Wort wäre demnach überflüssig, Art. 5 II GG wäre nur ein einfacher Gesetzesvorbehalt. Gerade im Wege der granunatischen Auslegoog darf aber kein Terminus in einer Weise interpretiert werden, die ihm jegliche praktische BedeutWlg nimmt. Art. 5 II GG muß also mehr verlangen als eine abstrakt-generelle Formulierung des einschränkenden Gesetzes. Es ist daher nach einer Interpretation zu suchen, die dem Wort "allgemein" einen juristisch relevanten Inhalt gibt. 117 (2) Allgemeinheit im Sinne der Abwägoogslehre Die zu Zeiten der Weimarer Republik von Smend entwickelte Abwägoogslehre fiillt den Begriff mit den Inhalten der AufklärWlg. Danach sind GrWldrechte geistesgeschichtlieh zu interpretieren Wld treffen in der jeweiligen Zeit auf ein bestimmtes Vorverständnis in der BevölkerWlg. Jede Gesellschaft habe sich faktisch auf einen Wertekodex verständigt, so daß die das Zusanunenleben regelnden Rechtsnormen im "sittlichen Bewußtsein lebendig" seien. Bei dieser AusbildWlg gemeinsamer Werte finde auch die MeinWlgsfreiheit einen Rang auf der Wertehierarchie mit der Folge, daß sie bestimmten Rechtsgütern vorgeht, hinter anderen aber zurückstehen muß. Daraus ergibt sich der Kemgedanke der Abwägoogslehre: Allgemein seien solche Gesetze, "die deshalb den Vorrang vor Art. 118 [WRV] haben, weil das von ihnen geschützte gesellschaftliche Gut wichtiger ist als die MeinWlgsfreiheit." Die Allgemeinheit des einschränkenden Gesetzes liege also darin, daß es Allgemeingut ist, daß an ihm "das höhere Allgemeininteresse hängt". 118 In Art. 118 I WRV Wld Art. 5 II GG ist von "allgemeinen" Gesetzen die Rede, nicht von Gesetzen, die im ,,Allgemeininteresse" liegen. Diese beiden Begriffe sind nicht ohne weiteres deckWlgsgleich, so daß die Abwägoogslehre aus sprachlichen Gründen nicht voll überzeugt. Andererseits steht ihr der Schmidt-Jortzig, in: HbStR VI, S. 657. Darüber besteht Einigkeit: Herzog, in: MaunzfDürig, 00, Art. 5 I, 11, Rn. 254; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 646; Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S. 27. 118 Smend, VVDStRL 4 (1928), S. 52. 116 117

126

Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

Wortlaut auch nicht eindeutig entgegen. Da die Abwägungslehre dem Tenninus auch eine inhaltliche Qualität verleiht, ist sie nach der grammatischen Auslegung akzeptabel. (3) Allgemeinheit im Sinne der Sonderrechtslehre Nach der in der Weimarer Zeit herrschenden Sonderrechtslehre stehen den zulässigen "allgemeinen" Gesetzen die unzulässigen "besonderen" Gesetze gegenüber. Verfassungswidrig sind danach Gesetze, die insofern "besonders" sind, als sie sich ausschließlich gegen die Meinungsfreiheit richten, Sonderrecht gegen die Meinungsfreiheit bilden. Unterschiede finden sich in den Formulierungen. Nach Häntzschel sind Gesetze unzulässig, "die eine an sich erlaubte Handlung allein wegen ihrer geistigen Zielrichtung und der dadurch hervorgerufenen schädlichen geistigen Wirkung verbieten oder beschränken."119 Allgemein sind dagegen solche Rechtsnormen, "welche die Ausübung des Rechtes der freien Meinungsäußerung nicht zum Zweck der Unterdrückung des gedanklichen Inhalts der Äußerung, sondern aus allgemeinen, nicht gegen den Gedankeninhalt gerichteten Gründen beschränken. "120 Rothenbücher hält Gesetze fiir verfassungswidrig, "die eine Meinung als solche verbieten und beschränken", sich also gegen eine bestimmte Meinung oder eine bestimmte Verbreitung der Meinung richten. Allgemeine Gesetze sind diejenigen, "die dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen."121 Nennenswerte inhaltliche Differenzen bestehen zwischen den Hauptvertretern der Sonderrechtslehre nicht. 122 Verboten sind zum ersten Gesetze, die sich gegen einen bestimmten Meinungsinhalt richten, was Rothenbücher stärker betont. Zum zweiten sind Normen unzulässig, die an die mögliche "geistige" Auswirkungen einer Meinungsäußerung anknüpfen, worauf Häntzschel den Schwerpunkt legt. Zum dritten muß ein einschränkendes Gesetz der Regelung eines unabhängig von der Meinungsfreiheit bestehenden Themenkomplexes dienen und darf nur bei dieser Gelegenheit - keinesfalls aber zielgerichtet - in das Grundrecht eingreifen. Die Sonderrechtslehre gibt dem Begriff einen juristisch

119 Häntzschel, in: HdbDStR 11, S. 659f. 120 Häntzschel, AöR 49 (1926), S. 233. 121

Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), S. 20.

122 Davon ging als dritter nennenswerter Vertreter der Sonderrechtslehre in der

Weimarer Republik auch Anschütz, VerfdDtR, S. 554, aus, der sich aufHäntzschel und Rothenbücher gemeinsam beruft.

c. Grenzen privater Urteilsschelte

127

relevanten Inhalt. Sprachlich überzeugt sie, weil das Begriffspaar "allgemein"/ "besonders" zum Ausgangsptmkt der Auslegung gemacht wird. Insgesamt steht am Ende der grammatischen Auslegung, daß das Wort "allgemein" nicht nur deklaratorische Bedeutung hat. Die Abwägungs- und die Sonderrechtslehre werden dieser Einsicht gerecht, wobei die Sonderrechtslehre aus sprachlichen Gründen näherliegend ist. bb) Historische Auslegung

Auch Entstehungsgeschichte und Gesetzesmaterialien geben Aufschluß über den Begriff der allgemeinen Gesetze. (1) Der Begriff "allgemein" vor der Weimarer Republik 123 In der Zeit des Vormärz läßt sich der Begriff der allgemeinen Gesetze zum ersten Mal nachweisen. Die Presse hatte sich bereits zu einem wichtigen Kommunikationsmittel entwickelt und galt als Vorkämpferin liberalen Gedankengutes. Deshalb sah sie sich einer scharfen Zensur und zahlreichen staatlichen Eingriffen ausgesetzt. Vorrangiges Ziel liberaler Juristen war es, die Sondergesetzgebung gegen die Presse abzuschaffen. Es ging zunächst nur danun, daß etwa eine in der Zeitung veröffentlichte Beleidigung denselben Gesetzen unterworfen werden sollte wie eine mündlich geäußerte. In einem Referat für die Deutsche Bundesversammlung forderte der Gesandte von Berg, die Presse ausschließlich den "allgemeinen" Gesetzen zu unterstellen, nicht aber solchen, die eigens zur Einschüchterung der Presse erlassen wurden. Was von Berg damit meinte, machte er mit einem Zitat des französischen Philosophen Auguste Comte deutlich: ,,Die Presse kann ein Werkzeug der Beschädigung seyn: alle Welt ist darüber einverstanden. Aber sie hat dieß mit allen Gegenständen gemein, welche sich in den Händen der Menschen befinden, und wenn es genug wäre, daß eine Sache zu einem bösen Zweck gebraucht werden kann, um ein Gesetz über dieselbe notwendig zu machen; so würden wir beinahe eben so viele Gesetze haben, als es Gegenstände in der Natur giebt. Wir hätten ein Feuer-, ein Pulver-, ein Flinten-, ein Säbel- und selbst ein Stimmgesetz. Ein besonderes über die Presse ist folglich unnütz: man muß sich mit dem Bösen, welches geschehen kann, beschäftigen, und sich nicht um das Werkzeug bekümmern, womit es verübt werden kann. "124 Gefordert wurden also Gesetze, die nicht das Werkzeug verbieten, somit Gesetze, die sich nicht gegen die den 123 124

Dazu: Starck, in: Festschrift fUr Weber, S. 189ff. Zitiert nach Starck, in: Festschrift für Weber, S. 194.

128

Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

Regierenden Wlangenehmen geistigen Wirkungen der Presse richten. Allgemeine Gesetze sollten sich vielmehr wn das Böse künunem, was geschehen kann. Das heißt, es mußte ihnen wn den Schutz eines ohne Rücksicht auf die MeinWlgsfreiheit zu schützenden Rechtsgutes gehen. Es findet sich hier eine frühe Definition des Begriffes "allgemein" im Sinne der Sonderrechtslehre, die zwar auf der TagesordnWlg der BWldesversammlWlg vom 12.10.1818 stand, ZWlächst jedoch ohne Einfluß auf die GesetzgebWlg blieb. In der Preußischen VerfassWlg von 1850 bildeten die "allgemeinen Strafgesetze" eine Schranke der Pressefreiheit. Im Jahre 1874 erschien dieselbe Formel in § 20 I des Reichspreßgesetzes. Überwiegend wurden diese RegelWlgen im Sinne von Bergs Wld Comtes interpretiert, nämlich als Verbot von Sonderrecht gegen die MeinWlgsfreiheit. Faktisch konnte sich die Schranke der allgemeinen Gesetze noch nicht durchsetzen. Mit dem "Gesetz gegen die gemeingefährlichen BestrebWlgen der Sozialdemokratie" erging am 21.0ktober 1878 ein "besonderes" Gesetz par excellence m , das § 20 I Reichspreßgesetz als lex posterior verdrängte. (2) Die "Schranken der allgemeinen Gesetze" in Art. 118 I WRV Wie das Wort "allgemein" in den Text der Weimarer VerfassWlg vom 11.8.1919 hineingelangt ist, läßt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen. Teilweise wurde deshalb ein Redaktionsversehen angenommen. 126 Dagegen sprechen aber gewichtige Indizien. Zwn einen hat der Terminus der "allgemeinen" Gesetze - wie gezeigt - eine Vorgeschichte Wld ist schon früher inhaltlich im Sinne der Sonderrechtslehre verstanden worden. 127 Zwn anderen ist die Aussage eines Mitglieds der Redaktionskommission für die WRV überliefert. Danach habe man im vermuteten Einvernehmen mit dem VerfassWlgsausschuß Gesetze verbieten wollen, die sich gegen eine MeinWlg als solche richten, wie sie etwa in der Kulturkampfzeit erlassen worden seien. 128 Dieser Auslegmg

125 § 11 dieses Gesetzes lautete: ,,Druckschriften, in welchen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zu Tage treten, sind zu verbieten." (RGBl. S. 351). 126 Anschütz, VerfdDtR, S.552. 127 Starck, in: Festschrift für Weber, S. 206. 128 Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), S. 19; Starck, in: Festschrift fiir Weber, S. 206.

C. Grenzen privater Urteilsschelte

129

folgte auch die herrschende Lehre der Weimarer Zeit. 129 Dagegen blieb Smend mit der von ihm entwickelten Abwägungslehre l30 in der Minderheit. (3) Die Materialien zur Entstehung des Grundgesetzes Ein eindeutiges Bild liefert auch die Entstehungsgeschichte zu Art. 5 11 des Grundgesetzes nicht. Es läßt sich aber mit einiger Wahrscheinlichkeit behaupten, daß den Mitgliedern des Redaktionsausschusses der Theorienstreit aus der Weimarer Zeit bekannt war und daß dem Art. 5 11 GO die herrschende Sonderrechtslehre zugrunde gelegt wurde. Dafür spricht zunächst die wörtliche Übernahme der Formulierung aus der Weimarer Verfassung. Ferner vertraten die Ausschußmitglieder bei der zweiten redaktionellen Beratung des Artikels den Standpunkt, daß ein Spezialgesetz verboten bleibe, das sich gegen eine bestimmte Meinung richte. Damit bleibe, so hieß es weiter, die Rechtslage der Weimarer Republik bestehen. 131 Das Ergebnis der historischen Auslegung läßt sich wie folgt zusammenfassen: Die Formel der allgemeinen Gesetze tauchte in Verbindung mit der Pressefreiheit bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf und erschien seitdem in verschiedenen Verfassungen und im einfachen Recht wieder. Damit wird das erste Ergebnis der grammatischen Auslegung bestätigt, wonach das Wort nicht überflüssig sein kann, sondern einen ernstzunehmenden rechtlichen Gehalt aufweist. Weiter spricht die Entstehungsgeschichte eindeutig für eine Auslegung des Begriffes im Sinne der Sonderrechtslehre. Als Verbot von Sonderrecht ist das Wort bereits im Vormärz, später dann in Preußen, schließlich in Weimar und Bonn verstanden worden. Da der historischen Auslegung aber nur Bedeutung zukommt, wenn die anderen Auslegungsmethoden noch Zweifel offen lassen 132 , müssen zur Begriffsklärung noch die systematische und die teleologische Auslegung herangezogen werden.

129 Häntzschel, AöR 49 (1926), S. 232ff.; Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), S. 18ff.; Anschütz, VerfdDtR., S. 552ff.; RG JW 1930, S. 268f. 130 Smend, VVDStRL 4 (1928), S. 52f. 131 JöR N.F. 1, S. 87,212; Starck, in: Festschrift fiIr Weber, S. 213. 132 Dazu BVerfGE 1,299 (312).

9 Mishra

130

Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

cc) Systematische Auslegung (1) Die Rahmengesetzgebung des Bundes für das Pressewesen, Art. 75 Nr.2 GG

Ein systematisches Argwnent gegen die Sonderrechtslehre wird aus Art. 75 Nr. 2 GG abgeleitet. Danach hat der Bund die Rahmengesetzgebungskompetenz für die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse und des Films. Nach der Sonderrechtslehre sind aber Gesetze verboten, die nur die Presse treffen. 133 Somit könnten bei Anwendung der Sonderrechtslehre Gesetze, deren Erlaß das GG selbst vorgesehen hat, nicht zulässigerweise beschlossen werden, womit Art. 75 Nr. 2 GG leer liefe. 134 Dieses Argwnent überzeugte nur dann, wenn Gesetze zur Regelung der allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse immer mit einem Eingriff in das Grundrecht der Pressefreiheit verbunden wären. Das ist aber nicht der Fall. Viele Gesetze verhalten sich grundrechtsneutral, in anderen wiederum wird die Presse sogar privilegiert, wie z.B. durch den Auskunftsanspruch nach § 4 LPG NW. Folglich bleibt für Art. 75 Nr. 2 GG ein Anwendungsbereich erhalten, neben dem die Existenz eines Verbots von Sondergesetzen gegen die Presse systematisch denkbar ist. 135 (2) Der Vergleich mit anderen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten Grammatische und historische Auslegung haben ergeben, daß es sich bei den Schranken der "allgemeinen" Gesetze um einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt handelt. Dagegen sind anderen Grundrechten einfache Gesetzesvorbehalte beigefUgt. Analysiert man Formulierung und Wirkungsweise dieser einfachen Schrankenregelungen, ergibt sich ein weiterer Hinweis auf das Verständnis des Art. 5 11 GG. 136 So kann beispielsweise die Versammlungsfreiheit einfach durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden. In AusfUllung der Schrankenregelung des Art. 8 11 GG ist das Versammlungsgesetz ergangen, das in den §§ 5, 13 und 15 Ermächtigungsgrundlagen für Grundrechtseingriffe enthält. Entscheidend ist, daß hier der einfache Gesetzesvorbehalt durch ein Gesetz ausgefonnt wird, das sich ziel gerichtet gegen das geschützte Grundrecht auswirkt. Das Versammlungsgesetz bezieht sich all:Sschließlich auf Versammlungen als solche und eröffnet die Möglichkeit, Versammlungen wegen ihrer

133 134 135 136

27.

BVerfGE 21, 271 (280). Rupp; nach: Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S.27. Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S. 27. Zu diesem Argument: Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S.

C. Grenzen privater Urteilsschelte

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geistigen Zielrichtung zu verbieten (z.B. §§ 5 Nr. 4, 13 I Nr. 4 VersammlG). Es handelt sich also um ein "besonderes" Gesetz, das nach Art. 8 11 GO zulässig ist, wenn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eingehalten ist. Ähnliches gilt für Eingriffe in Art. 12 GO. Zu dessen Einschränkung sind zahlreiche Berufszulassungs- und Berufsausübungsregelungen ergangen, die final in das Grundrecht eingreifen. Gesetze, die aufgrund eines einfachen Gesetzesvorbehalts ergehen, zielen also regelmäßig auf eine Einschränkung des Grundrechts, dem sie beigefügt sind. Wenn in Art. 5 11 GG der qualifizierte Gesetzesvorbehalt der "allgemeinen" Gesetze gilt, so wird diese Regel durchbrochen. Einschränkungen des Grundrechts dürfen gerade nicht in besonderem Maße die Kommunikationsfreiheiten treffen. Genau das aber ist der Inhalt der Sonderrechtslehre, die durch einen systematischen Vergleich zwischen Art. 5 11 GO und den einfachen Gesetzesvorbehalten zusätzlich gestützt wird. (3) Die Einfügung der Schranken des Jugend- und Ehrschutzes Die Grundrechte des Art. 5 I GG finden ihre Schranken nicht nur in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, sondern auch in den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. Zwar fristen diese beiden Schranken in der Rechtsprechung des BVerfG ein Schattendasein, ihre Einfügung in den Text des Grundgesetzes muß aber ernstgenommen werden. Für die Auslegung des Begriffes der allgemeinen Gesetze lassen sie sich wie folgt verwenden: Eine erneute Bestätigung erfährt das bereits durch die grammatische und historische Interpretation gewonnene Ergebnis, daß dem Wort "allgemein" eineeingriffserschwerende inhaltliche Qualität zukommt. Bildeten die allgemeinen Gesetze lediglich einen einfachen Gesetzesvorbehalt, könnten auf dessen Grundlage ohne weiteres einschränkende Gesetze zum Zweck des Jugend- und Ehrschutzes erlassen werden. Die Einfügung in den Text des Grundgesetzes wäre dann gänzlich sinnlos. Der Verfassungstext wäre dann so ausgelegt, daß ihm jegliche praktische Bedeutung genommen wird. 137 Es fragt sich dann aber immer noch, welcher Art die inhaltliche Qualität des Art. 5 11 GO ist. Auch darüber geben die Schranken des Jugend- und Ehrschutzes Auskunft. Die Abwägungslehre sieht solche Gesetze als allgemein an, an denen das höhere Allgemeininteresse hängt. Unabhängig von ihrer Erwähnung in Art. 5 11 GG wären Jugend- und Ehrschutz danach schon allgemeine

137 Herzog, in: MaunzJDürig, 00, Art. 5 I, TI, Rn. 255; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 648.



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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

Gesetze Wld müßten nicht eigens aufgeführt werden. 138 Fraglich ist, ob JugendWld Ehrschutzvorschriften auch nach der Sonderrechtslehre als allgemeine Gesetze einzustufen wären. Zu erinnern ist an Häntzschels Position, wonach eine MeinWlg nicht wegen ihrer schädlichen geistigen Wirkung verboten werden darf. Gesetze zum Schutz der Ehre knüpfen gerade an die als nicht hinnehmbar empfimdene geistige Wirkung von Beleidigwtgen an Wld zielen auf deren UnterbindWlg. Auch ein verantwortWlgsvoll betriebener Jugendschutz bringt es mit sich, daß man bestimmte MeinWlgsinhalte verbietet, weil von ihnen eine schädliche geistige Wirkung auf Kinder Wld Jugendliche befilrchtet wird. Viele Gesetze zum Schutz der Jugend Wld der Ehre wären damit von der Schranke der allgemeinen Gesetze nicht erfaßt, so daß die zusätzlichen Teilschranken in den VerfassWlgstext aufgenommen werden mußten. Die Einfügwtg ist daher nur sinnvoll zu erklären, wenn man der Sonderrechtslehre folgt.139 Damit ist ein gewichtiges systematisches Argument geliefert. Nimmt man den Vergleich zwischen Art. 5 11 GG mit den einfachen Gesetzesvorbehalten hinzu, so spricht die systematische Auslegwtg eindeutig filr die GeltWlg der Sonderrechtslehre.

dd) Teleologische Auslegung Die Auslegwtg des Begriffs hat sich ferner daran zu orientieren, welche BedeutWlg die GewährleistWlg der MeinWlgsfreiheit im demokratischen Staat hat Wld welche Konsequenzen daraus filr die AusgestaltWlg einschränkender Gesetze zu ziehen sind. Dabei ist an die Ausführungen zum Schutzbereich des Art. 5 I GG anzuknüpfen. Die GrWldrechtsgarantie ist filr den Bürger nur wertvoll, wenn das, was ihm durch Art. 5 I GO an Freiheit gegeben wird, ihm nicht ohne weiteres durch ein auf Art. 5 11 GO gestütztes Gesetz wieder genommen werden kann. (1) Die MeinWlgsneutralität des einschränkenden Gesetzes

Aus der subjektiv-rechtlichen Komponente des Art. 5 I GO ist das Recht abgeleitet worden, ohne Rücksicht auf das Thema oder die inhaltliche Qualität MeinWlgen von sich geben zu dürfen. 140 Auch demokratische MeinWlgsbildWlg Wld Kontrolle kann sich nur frei von BeeinflussWlgen vollziehen, wenn der 138 Hoppe, JuS 1991, S. 734 (736). 139 PierothlSchlink, Grundrechte, Rn. 651; Stein, Staatsrecht, S. 315; Hoppe, JuS 1991, S. 734 (736). 140 Siehe oben Zweiter Teil B I 1.

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Bürger zu einem selbst gewählten Thema inhaltlich sagen darf, was er will. Der MeinWlgsinhalt ist im Schutzbereich des Art. 5 I GG kein angängiges Difi'erenziefWlgskriterium Wld darf dies auch nicht über die Hintertür des Art. 5 11 GG werden. Des weiteren ergibt sich aus der BedeutWlg öffentlicher MeinWlgsbildWlg Wld Kontrolle, daß Art, 5 I GG neben der ÄußefWlg selbst auch ihre AuswirkWlgen auf die Umwelt erfaßt. 141 Geschützt werden also die geistige ZielrichtWlg Wld WirkWlgen von Werturteilen, mögen diese fiir den Empflinger auch störend sein. Ein allgemeines Gesetz muß dieser AusprägWlg der MeinWlgsfreiheit RechnWlg tragen. Daraus folgt, daß nach Sinn Wld Zweck der MeinWlgsfreiheit der AuslegWlg des Art. 5 11 GG der Vorzug zu geben ist, die die MeinWlgsneutralität der GrWldrechtsgewährleistWlg am besten wahrt. Indem die AbwägWlgslehre die Allgemeinheit des Gesetzes im Sinne der Aufklärl.U1g als Konsens über das Überwiegen eines bestimmten Rechtsgutes gegenüber der MeinWlgsfreiheit begreift, öffnet sie der EinbeziehWlg des MeinWlgsinhalts in die AbwägWlg Tür Wld Tor. Dieser Theorie liegt gerade der Gedanke zugrWlde, daß die Allgemeinheit bestimmte Inhalte Wld geistige WirkWlgen einer MeinWlgsäußefWlg nicht akzeptiert Wld daß dieser Umstand zum Verbot der ÄußefWlg führen muß. Folgte man dieser Lehre, wäre damit hinsichtlich der MeinWlgsneutralität eine erhebliche RelativiefWlg der Garantien des Art. 5 I GG verbWlden. 142 Nach der Sonderrechtslehre sind Gesetze schon von vornherein verfassWlgswidrig, wenn sie eine bestimmte MeinWlg oder deren schädliche geistige WirkWlgen verbieten, Damit bleibt der Schutzbereich des Art. 5 I GG intakt. Eine Bewertl.U1g des MeinWlgsinhalts Wld dessen geistiger AuswirkWlgen ist bei der Sonderrechtslehre schon per definitionem ausgeschlossen.1 43

(2) Die Zumutbarkeit extremer MeinWlgen Gegen die Sonderrechtslehre wird vorgebracht, daß sie es wegen ihrer vollständigen MeinWlgsneutralität der Allgemeinheit zumute, auch extreme Wld Wlerwiinschte MeinWlgen zu ertragen. l44 Als Beispiel dafiir wird das Tragen nationalsozialistischer Abzeichen angeführt, welches von der großen Mehrheit der BevölkefWlg als Wlerträglich Wld nicht tolerierbar angesehen wird Wld durch §§ 86a LV.m. 86 I Nr. 4 StGB Wlter Strafe gestellt ist. Diese Vorschrift verbiete eine HandlWlg aber allein ihres Inhalts Wld ihrer geistigen ZielrichtWlg 141 142 143 144

Siehe oben Zweiter Teil B I 2 c cc. Huster, NJW 1996, S. 487 (489). Hoppe, JuS 1991, S. 734 (735). Hoppe, JuS 1991, S. 734 (735f.).

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

wegen, stelle deshalb unzulässiges Sonderrecht gegen die Meinungsfreiheit dar. 14' Dieser Einwand ist nicht von der Hand zu weisen, gehört aber zu dem Preis, der für die Existenz der Meinungsfreiheit gezahlt werden muß. Wären im Sinne der Abwägungslehre nur Äußerungen für zulässig, die dem gesellschaftlichen Konsens entsprechen, so bedeutete dies eine erhebliche Entwertung des Grundrechts. Unter Berufung auf die Unzumutbarkeit eines Meinungsinhalts könnten die jeweils Herrschenden ihnen unliebsame Stellungnahmen zu verbieten versucht sein. Ist aber tatsächlich ein Konsens über die Unerträglichkeit bestimmter Äußerungen vorhanden, so sollte sich dann eine Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Ergänzung des Art. 5 11 GO finden lassen. Zu einer Grundgesetzänderung wird es aber nur selten kommen müssen. Auch nach der Sonderrechtslehre gibt es drei Grenzen der Meinungsneutralität. Zulässig sind zum einen Gesetze, die nur die Art und Weise einer Meinungsäußerung betreffen und dabei weder auf deren Inhalt noch auf deren geistige Wirkung abstellen. 146 Wegen dieser traditionsreichen Unterscheidung zwischen Form und Inhalt sind einige Vorschriften des politischen Strafrechts (z.B. § 90 StGB) und des Beamtenrechts (z.B. §§ 53 BBG, 39 DRiG) verfassungsgemäß. Zweitens wird ein bestimmter Meinungsinhalt nicht geschützt, wenn damit zu einer Handlung aufgefordert wird, die rechtmäßigerweise verboten ist. Zielrichtung des Art. 5 I GO einschränkenden Gesetzes ist in diesem Fall nämlich nicht die Meinungsfreiheit, sondern der Schutz des Rechtsgutes, gegen das sich die strafbare Handlung richtet. Damit sind sämtliche Strafvorschriften, die zur Begehung von Straftaten auffordern (z.B. §§ 111; 129a I, III; 131 StGB) auch nach der Sonderrechtslehre allgemeine Gesetze. 147 Eine dritte im einzelnen sehr problematische Grenze bildet gesetzlich konkretisiertes kollidierendes Verfassungsrecht. 148 Den Bürgern wird in der Tat zugemutet, ein breites Meinungsspektrum zu ertragen. Dies gehört aber zum Wesen des Art. 5 I GO und läßt sich - auch wegen der drei genannten Grenzen - nicht als Argument gegen die Sonderrechtslehre verwenden.

14' Hoppe, JuS 1991, S. 734 (735). Auch nach PierothlKampmann, Jura 1986, S. 217 (218ff.), ist § 86 I Nr. 4 StGB ein Sondergesetz und damit verfassungswidrig. 146 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 660; Starck, in: v.Ma/Kl, GG, Art. 5 Rn. 123; kritisch Hoppe, JuS 1991, S. 734 (738). 147 Starck, in: v.Ma/Kl, GG, Art. 5 I, 11, Rn. 125; zustimmend: Jarass, in: JarasslPieroth, GG, Art. 5 Rn. 46; ähnlich auch schon Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), S. 22. 148 Siehe dazu ausfiihrlich unten Zweiter Teil C I 3.

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(3) Die schlechthin konstituierende Bedeutung der Meimmgsfreiheit Ein letztes Argument für die Sonderrechtslehre ergibt sich aus dem hohen Rang des Art. 5 I GG im Verfassungsgefilge. Die Meinungsfreiheit erfüllt eine Doppelfunktion: Sie ist eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt und für einen demokratischen Staat schlechthin konstituierend. 149 Aus dieser grundlegenden Bedeutung ergibt sich, daß die Reichweite des Grundrechts aus der Verfassung selbst abzuleiten ist. Die Meinungsfreiheit darf nicht der Relativierung durch einfaches Gesetz überlassen werden. Erst recht muß verhindert werden, daß weitgehend die nicht unmittelbar demokratisch gewählten Richter über die Grenzen des Art. 5 I GG entscheiden. l5O Mit anderen Worten muß jede Interpretation der "allgemeinen Gesetze" von dem Ziel geleitet sein, die Beurteilungsspielräume für Gesetzgebung und Rechtsprechung möglichst klein zu halten. Daher ist die Schrankenregelung möglichst formal zu definieren, um nicht zu einem Einfallstor für ergebnisorientierte Wertungen zu werden. Es ist zu untersuchen, ob Abwägungs- und Sonderrechtslehre diesen Anforderungen genügen. (a) Abwägungslehre Wenn die Abwägungslehre Gesetze zum Schutz von Rechtsgütern für zulässig hält, die "wichtiger" sind als die Meinungsfreiheit, liegt darin nur scheinbar eine formale Begriffsbestimmung. Es wird kein Kriterium angegeben, mit dessen Hilfe sich der höhere Rang eines Wertes feststellen ließe. Ul Vielmehr bringt es die Definition der Allgemeinheit im Sinne der Aufklärung gerade mit sich, daß die Bestimmung des Rangverhältnisses zwischen Meinungsfreiheit und einschränkendem Gesetz eher eine demoskopische als eine rechtliche Frage ist. Smend selbst hat erkannt, daß das Ergebnis der Abwägung schwanken kann. 152 Interessanterweise machte er dies gerade am Beispiel der Urteilsschelte deutlich: " ( ... ) heute [d.h. im Jahre 1928, d. V.] würde ein Strafgesetz etwa gegen die kritische Berichterstattung über Gerichtsverhandlungen und Gerichtsurteile durch nicht genügend vorgebildete Journalisten verfassungswidrig sein, weil das Getragensein der Justiz von bewußtem, in Kritik und in Bildung öffentlicher Meinung entstehendem vertrauensvollem Gemeinwillen zunehmend gefordert erscheint. In früheren Zeiten ( ... ) wäre diese Frage mindestens nicht mit derselben Gewißheit in diesem Sinne zu beantworten gewesen." Nach dieser Meinung 149 150 151 152

Siehe oben Zweiter Teil B I. BVerfGE 7, 198 (208). Stein, Staatsrecht, S. 315. Smend, VVDStRL 4 (1928), S. 53.

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

wird die Bestimmung der Grenzen der Urteilsschelte zu einer reinen Wertungsfrage. Gesetzgeber und Gerichte hätten grenzenlose Beurteilungsspielräume und könnten einschränkende Gesetze immer mit dem Argument rechtfertigen, daß sie einem Wertewandel Rechnung tragen Wld den allgemeinen Anschauungen in der Bevölkerung entsprechen. Da eine formal-juristische Begriffsbestimmung nicht stattfindet, würde aus Art. 5 11 GG ein jeder Relativierung zugänglicher einfacher Gesetzesvorbehalt. m Die schlechthin konstituierende Bedeutung der Meinungsfreiheit wäre bei Geltung der Abwägungslehre nicht hinreichend berücksichtigt. (b) Sonderrechtslehre (aa) Zum Inhalt der Sonderrechtslehre Die Sonderrechtslehre baut auf formale Kriterien, die an dieser Stelle zusammengefaßt werden sollen.

I'.

(a) Das Gesetz darf sich nicht gegen geistige Zielrichtung und Wirkung einer Meinung richten

Vor allem aus der Bedeutung der öffentlichen Meinungsbildung für die Demokratie ergibt sich, daß auch die Wirkungen einer Meinung auf die Umwelt grundsätzlich geschützt sind. m Sonderrecht gegenüber Art. 5 I GG sind damit auch Gesetze, die eine Äußerung "allein wegen ihrer geistigen Zielrichtung und der dadurch hervorgerufenen schädlichen geistigen Wirkung verbieten oder beschränken. "1'6

(13) Das Gesetz darf sich nicht gegen eine bestimmte Meinung richten Aus der subjektiv-rechtlichen Dimension des Art. 5 I GG ergibt sich, daß die Zulässigkeit einer Äußerung nicht über den Meinungsinhalt bestimmt werden darf. Ein Gesetz muß eine meinungsneutrale Regelung treffen, es darf weder eine Meinung wegen ihrer angeblich fehlenden inhaltlichen Qualität verbieten, noch eine thematische Einbindung der Äußerung verlangen. U7 Das ist gleich-

153 Wendt, in: v.MünchlKunig, GG, Art. 5 Rn. 77; Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S. 28. 154 Vgl. dazu schon oben Zweiter Teil eIl b aa (3). 155 Siehe oben Zweiter Teil B I 2 c cc. 156 Häntzschel, in: HdbDStR 11, S. 659f.; Anschütz, S. 555; Beispiel: Gesetze zum Jugend- und Ehrschutz. 157 Siehe oben Zweiter Teil B I 1.

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bedeutend mit der F onnuiierung aus der Weimarer Zeit, wonach nicht eine bestimmte Meinung als solche verboten werden darf. ls8 (y) Das Gesetz darf sich nicht ausschließlich im Schutzbereich des Art. 5 I GG auswirken

Des weiteren gibt es Nonnen, die allgemein fonnuiiert sind und jedennann gleichennaßen betreffen. Solche Gesetze können sich aber ausschließlich im Schutzbereich eines der in Art. 5 I GG genannten Grundrechte auswirken und stellen in diesem Fall verbotenes Sonderrecht dar. ls9 Indem sie nicht nur einen bestimmten Meinungsinhalt treffen, sondern das Kritikrecht aller beschneiden, sind solche Nonnen für das Grundrecht sogar noch gefiihrlicher. 160 Gesetze dürfen zu Eingriffen in die Meinungsfreiheit ennächtigen. Sie sind aber nur dann allgemein, wenn sie eigentlich einen ganz anderen regelungsbedürftigen Lebenssachverhalt betreffen l61 und der Eingriff in Art. 5 I GG nur "bei Gelegenheit" erfolgt. Rothenbücher hat diesen Teil der Sonderrechtslehre schon in der Weimarer Zeit auf die Fonnel gebracht: ,,Allgemeine Gesetze sind also diejenigen, die dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf die Meinungsfreiheit zu schützenden Rechtsgutes dienen."162 Die Sonderrechtslehre ist durch diese drei fonnalen Kriterien gekennzeichnet. Genügt ein die Meinungsfreiheit einschränkendes Gesetz auch nur einer der Anforderungen nicht, ist es kein "allgemeines" Gesetz im Sinne des Art. 5 11 GG. Bei strenger Anwendung der Sonderrechtslehre sind die Beurteilungsspielräume von Gesetzgebung und Rechtsprechung auf ein Minimum reduziert Der Bedeutung des Grundrechts entspricht diese Theorie daher am besten.

IS8 Vgl. Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), S. 20; Anschütz, S. 554; Beispiel: § 11 des Gesetzes gegen die gemeingeflihrlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21.10.1878 (RGBI S. 351). IS9 Wendt, in: v.MünchlKunig, GG, Art. 5 Rn. 71; Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 278; PierothlKampmann, Jura 1986, S. 217 (219); Schwark, Der Begriff der allgemeinen Gesetze, S. 131. Beispiel: Gesetz, das regierungskritische Äußerungen verbietet. 160 Hoppe, JuS 1991, S. 734 (738); Schwark, Der Begriff der allgemeinen Gesetze, S. 46.

161 Schmidt-Jortzig, in: HbStR VI, S. 657; Stein, Staatsrecht, S. 314, gibt ein anschauliches Beispiel fiir ein allgemeines Gesetz: § 123 StGB schützt den Hausfrieden und hat nur nebenbei zur Folge, daß niemand in fremde Wohnungen eindringen darf, um dort seine Meinung zu äußern. 162 Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), S. 20.

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

(bb) Die Sonderrechtslehre in der Rechtsprechung des BVerfG Zunächst scheint es so, als habe das BVerfG diese Theorie in die Verfassungswirklichkeit umgesetzt. Seine in ständiger Rechtsprechung angewendete Formel sei zur leichteren Analyse in ihre drei Bestandteile zerlegt. Allgemeine Gesetze sind danach solche, die - erstens: ,,nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung einer Meinung als solche richten"; - zweitens: "die vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsgutes dienen"; - drittens: "dem Schutze eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat."163 Obwohl zumindest die ersten beiden Teile der Formel von Vertretern der Sonderrechtslehre stammen, kann von Rechtssicherheit bei der Auslegung des Art. 5 11 in der Verfassungswirklichkeit keine Rede sein. Das liegt daran, daß das BVerfG die Sonderrechtslehre zwar als Argumentationsfigur verwendet, aber nicht konsequent unter deren Voraussetzungen subsumiert. Problematisch ist zunächst die Auslegung, die das BVerfG dem ersten Teil der Formel beilegt. Gesetze richten sich danach gegen eine Meinung als solche oder gegen eine "bestimmte Meinung", wenn sie nur bestimmte Adressaten treffen, beispielsweise die Presse. l64 Zulässig sollen aber Normen sein, die zwar einen bestimmten Meinungsinhalt verbieten, mit diesem Verbot aber jedermann gleichermaßen treffen. So ließ das BVerfG ein Gesetz passieren, das die Einfuhr von Filmen verbot, "die ihrem Inhalt nach dazu geeignet sind, als Propagandamittel gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung ( ... ) zu wirken." (§ 5 GÜV). Das VG Frankfurt legte dem BVerfG diese Vorschrift im Wege der konkreten Normenkontrolle vor, weil es sie filr ein unzulässiges Sondergesetz hielt. Die Norm sei insbesondere gegen sozialistische und kommunistische Gesellschaftsauffassungen gerichtet und verbiete damit eine bestimmte Meinung}6' Das BVerfG hielt dem entgegen, daß § 5 GÜV sich gegen "alle, möglicherweise auf verschiedenen politischen Ansichten beruhenden verfassungsfeindlichen Bestrebungen" richte und deshalb "allgemein" sei. 166 § 5 GÜV kann unter keinen Umständen ein allgemeines Gesetz sein. Legt man die Auf163 164 16' 166

BVerfGE 7, 198 (209f.); st.Rspr. BVerfGE 21, 271 (280). Dokumentiert in: BVerfGE 33, 52 (55). BVerfGE 33,52 (66).

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fassWlg des VG Frankfurt zugrWlde, richtete sich die Vorschrift gegen eine bestimmte - nämlich eine kommWlistisch oder sozialistisch geprägte - MeinWlg Wld war schon deshalb ein Sondergesetz. Aber auch das Argument des BVerfG adelt § 5 GÜV nicht zu einem "allgemeinen" Gesetz. Die Vorschrift wirkte sich ausschließlich im Schutzbereich der MeinWlgs- Wld Filmfreiheit aus. Daß sie jedermann treffen konnte, machte die Norm für das GrWldrecht noch gefiihrlicher Wld mußte erst recht zu ihrer Unzulässigkeit führen. Damit ist der erste Mangel der RechtsprechWlg gekennzeichnet. Nahezu alle Gesetze können Wlter den Teil der Formel subsumiert werden, der das wichtigste Vermächtnis der Weimarer Lehre bildet. Dagegen ist der zweite Teil der Formel stärker in den Blickpunkt der RechtsprechWlg gerückt. Die Gerichte machen sich bei der Prüfung eines Gesetzes direkt auf die Suche nach dem schlechthin zu schützenden Rechtsgut. 167 Damit werden formale Kriterien vollends aufgegeben, da jedes noch so offensichtlich gegen eine bestimmte MeinWlg gerichtete Gesetz zumindest vorgeblich dem Schutz eines anderen Rechtsgutes dienen wird. 168 Womöglich hätte selbst Bismarck seine Sozialistengesetze mit dem Argument rechtfertigen können, daß diese die Rechtsgüter der öffentlichen Sicherheit Wld die verfassWlgsmäßige OrdnWlg als andere Rechtsgüter schützen wollten. Die formale Hürde des BVerfG ist so niedrig, daß erst einer einzigen Vorschrift die Qualität als allgemeines Gesetz abgesprochen wurde. 169 Von der verfassWlgsrechtlich notwendigen Filterfunktion der "allgemeinen Gesetze" ist in der VerfassWlgswirklichkeit nur die Fassade stehen geblieben. 170 Unberechenbar ist die RechtsprechWlg ferner dadurch geworden, daß sie über den dritten Teil der Formel schon in die Prüfung des "allgemeinen Gesetzes" WertW1gsgesichtspunkte einfließen läßt. Das BVerfG prüft, ob einem anderen

167 Besonders deutlich in BVerwGE 43, 9 (23); vgl. auch BVerfGE 28, 191 (200); 28, 282 (292). 168 Frowein, AöR 105 (1980), S. 181; Hoppe, JuS 1991, S. 734 ( 737f.); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 5 Rn. 46. 169 BVerfGE 21, 271 (280) zu § 37 n 3 AVAVG, einer Genehmigungspflicht dafür, aus dem Ausland stammende Stellenangebote für deutsche Arbeitnehmer zu veröffentlichen. 170 Symptomatisch dafür ist der Aufsatz des Verfassungsrichters Grimm über ,,Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts", NJW 1995, S. 1697ff. Dort wird mit keinem Wort auf die Definition des "allgemeinen" Gesetzes durch das BVerfG eingegangen.

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

Rechtsgut "Vorrang" vor der Meinungsfreiheit zukommt. 171 Diese Prüfung ist angesichts der Doppelfimktion des Art. 5 I GG verfassungsrechtlich bedenklich. Sie verstößt gegen die Einsicht, daß wegen der überragend wichtigen Stellung der Kommunikationsfreiheiten die Beurteilungsspielräume fiir den Richter möglichst klein bleiben müssen. Das Ergebnis der Subsumtion unter die "Vorrangformel" nähert sich in seiner Beliebigkeit bereits der Abwägungslehre. Wenn sich ein Gesetz gegen eine bestimmte Meinung richtet, ist es nicht allgemein und es kommt auf eine Güterabwägung nicht mehr an. Richtet sich ein Gesetz nicht gegen einen bestimmte Meinung, so ist es ein allgemeines Gesetz. Die Güterabwägung kommt erst danach ins Spiel und knüpft dogmatisch an die Grundsätze der verfassungskonformen Auslegung und des Übermaßverbotes an. 172 In neueren Entscheidungen trennt das BVerfG die Prüfung, indem es zunächst über die ersten beiden Teile seiner Formel das Vorliegen eines Sondergesetzes ausschließt und erst anschließend tnit Hilfe seiner "Wechselwirkungstheorie" eine Güterabwägung vornimmt. 173 Das ist zu begrüßen. Es fe~t aber noch der verfassungsrechtlich gebotene Schritt, den tnit den ersten beiden Formelteilen verbundenen formalen Kriterien schärfere Konturen zu geben. Viel zu häufig stellt das BVerfG das Vorliegen eines allgemeinen Gesetzes lediglich apodiktisch fest. 174 Auch in neueren Entscheidungen beschränkt sich das BVerfG zu Art. 5 II GG auf die Feststellung, daß ,,in der Regel" eine Güterabwägung vorzunehmen sei. m c) Ergebnis Aus einer grammatischen, historischen, systematischen und teleologischen Auslegung des Begriffes der "allgemeinen" Gesetze in Art. 5 II GG folgt, daß die Schranke im Sinne der Sonderrechtslehre auszulegen ist. Allgemeine Gesetze sind danach solche, die sich weder gegen die geistige Zielrichtung, die

17l Vgl. z.B. BVerfGE 28, 282 (292); 50, 234 (241). Manchmal überspringt das Gericht die ersten beiden Teile seiner Formel und wendet sich direkt der Abwägung zu, vgl. BVerfGE 26, 186 (205); 33, 52 (66). 172 Siehe zur Kritik an der Vorrangformel: Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 281f.; PierothlKampmann, Jura 1986, S. 217 (219); Schmidt-Jortzig, in: HbStR VI, S. 657; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 399; Stern, in: Festschrift für Hübner, S. 821; siehe zur verfassungskonformen Auslegung unten Zweiter Teil C I 4. 173 BVerfGE 59, 231 (264f.); 71, 206 (214); Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), S. 90, meint, das BVerfG habe das Merkmal der Vorrangigkeit bei der Prüfung der allgemeinen Gesetze aufgegeben. 174 Vgl. z.B. BVerfGE 20, 162 (177); 35, 202 (234); 82, 272 (280). m BVerfGE 85, 23 (33); 86,1 (11).

c. Grenzen privater Urteilsschelte

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Wirkung oder den Inhalt einer MeinlUlg richten, noch sich ausschließlich im Schutzbereich der Kommunikationsfreiheiten auswirken. Art. 5 11 00 schreibt einschränkenden Gesetzen insoweit strikte MeinlUlgsneutralität vor. Die vom BVerfG bereits in die Prüfung der allgemeinen Gesetze einfließenden WertlUlgsgesichtspwtkte kommen erst zum Zuge, wenn die schrankenkonkretisierende Norm die Hürde der Sonderrechtsformel genommen hat. 2. Das Recht der persönlichen Ehre

Das ,,Recht der persönlichen Ehre" hat in der RechtsprechlUlg des BVerfG nie eine eigenständige BedeutlUlg gewonnen. Die dem Ehrschutz dienenden §§ 185 StGB, 823, 1004 BGB werden entweder lUlter den Begriff des allgemeinen Gesetzes subsumiert l76 oder sie werden in einem Atemzug lUlter die Schranken der allgemeinen Gesetze lUld das Recht der persönlichen Ehre gefaßt. 177 Dagegen ergibt die Auslegoog des Art. 5 11 00, daß dem Recht der persönlichen Ehre neben den allgemeinen Gesetzen eine eigenständige BedeutlUlg zukommt. Das ergibt sich schon aus dem Wortlaut des Art. 5 11 00. Der Ehrschutz ist in der VerfasSlUlg positiviert. Es verbietet sich aber eine Interpretation, die der Klausel jegliche praktische BedeutlUlg nimmt. Genau diese Konsequenz hat aber die RechtsprechlUlg des BVerfG. 178 An der EntstehlUlgsgeschichte fällt auf, daß der Jugend- lUld Ehrschutz ZlUlächst durch das Wort ,,insbesondere" den allgemeinen Gesetzen angefiigt werden sollte. Das hätte fiir einen bloßen Unterfall gesprochen. Schließlich wurden die Teilschranken aber durch das Wort "lUld" miteinander verblUlden. 179 Es ist demnach fernliegend, den Ehrschutz in den allgemeinen Gesetzen enthalten zu sehen. Entscheidend ist schließlich ein systematisches Argument. Gesetze zum Schutz der Ehre machen gerade schädliche geistige Wirkungen von MeinlUlgsäußeflUlgen zum Gegenstand eines Verbots. 18o Deshalb sind sie im Sinne einer richtig verstandenen Sonderrechtslehre keine allgemeinen Gesetze. Die zusätzliche Schranke mußte folglich eingefiihrt werden, um den Erlaß ehrschützender Gesetze überhaupt zu ermöglichen. 181 BVerfGE 69, 257 (268f.). BVerfGE 47,130 (141); 82,272 (280). 178 Herzog, in: MaunzlDürig, 00, Art. 5 I, TI, Rn. 245; Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 290; Tettinger, JZ 1983, S. 317 (320). 179 Kriele, NJW 1994, S. 1897 (1899). 180 Siehe oben Zweiter Teil C I 1 b cc (3). 181 Gornig, JuS 1988, S. 274 (277); Stern, in: Festschrift für Hübner, S. 823; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 651, 661. 176

177

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

Das Recht der persönlichen Ehre hat damit eine eigenständige Bedeutung. Gesetze mit einem entsprechenden Schutzzweck können sich nur auf diese Schranke stützen, nicht aber auf die der allgemeinen Gesetze. 3. Kollidierendes Verfassungsrecht

Problematisch ist eine dritte Schranke des Art. 5 I GO. Fraglich ist, ob dieses mit einem qualifizierten Gesetzesvorbehalt ausgestattete Grundrecht auch durch kollidierendes Verfassungsrecht einschränkbar ist. a) Zur Einschränkbarkeit des Art. 5 I GG durch kollidierendes Verfassungsrecht Nach herrschender Ansicht steht Art. 5 I GO trotz seines qualifizierten Gesetzesvorbehalts auch unter dem Vorbehalt kollidierenden Verfassungsrechts, sofern dies gesetzlich konkretisiert ist. 182 Begründet wird dies damit, daß vorbehaltlos gewährte Grundrechte ansonsten stärker eingeschränkt werden könnten als Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt. 183 Dem ist nur unter Einschränkungen beizupflichten. Das Argument stimmt nur, wenn der Begriff des kollidierenden Verfassungsrechts so eng ausgelegt wird, daß er die Zielrichtung des qualifizierten Gesetzesvorbehalts nicht unterläuft. l84 Art. 5 11 GO stellt das Erfordernis der Meinungsneutralität einschränkender Gesetze auf. Zählte man wie das BVerfG auch die Zuständigkeitsregelungen der Art. 73, 74 GO zum kollidierenden Verfassungsrecht18$ , so wäre danach die Einführung von Sonderrecht zugunsten jeder der in einer Kompetenznorm genannten Gruppe zulässig, etwa zugunsten der Bundeswehr (Art. 73 Nr. 1 GO), der Wirtschaft (Art. 74 I Nr. 11 GO) oder der Betreiber von Kernkraftwerken (Art. 74 I Nr. lla GO). Die Meinungsneutralität einschränkender Gesetze wäre danach eher Ausnahme denn Regel, das Grundrecht stünde insgesamt zur Disposition des jeweils Regierenden. 186 Die gleichen Bedenken bestehen gegenüber einer Zusammenschau von 182 BVerfGE 66, 116 (136); Schmidt-Jortzig, in: HbStR VI, S. 662; Jarass, in: JarassIPieroth, 00, Art. 5 Rn. 53; Herzog, in: MaumfDürig, 00, Art. 5 I, 11, Rn. 293; im Ergebnis auch Sachs, in: Stern, Staatsrecht IIII2, S. 523. 183 Jarass, in: JarassIPieroth, 00, Vorb. vor Art. 1 Rn. 39. 184 So Sachs, in: Stern, Staatsrecht IIII2, S. 523f., der darauf abstellt, ob der qualifizierte Gesetzesvorbehalt einen abschließenden Charakter hat; ähnlich Lerche, in: HbStR V, S. 78lf., 789. 185 Z.B. BVerfGE 53, 30 (56) zu Art. 74 Nr. 11a. Ablehnend zu dieser Rechtsprechung: BVerfGE 69, 1 [59f. (Sondervotum)]; Jarass, in: JarassIPieroth, 00, Vorb. vor Art. 1 Rn. 38; Selk, JuS 1990, S. 895ff. 186 Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 123f.; Huster, NJW 1996, S. 487 (489f.).

C. Grenzen privater Urteilsschelte

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Verfassungsnormen, aus der Werte wie das "Wohl des Staates" oder der "öffentliche Friede" abgeleitet und zur Grundlage von Eingriffen in die Meinungsfreiheit gemacht werden. Ein derart weite Fassung des Begriffs des kollidierenden Verfassungsrechts verstößt gegen das aus den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten folgende Gebot der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit durch möglichst bestimmte Grundrechtsgrenzen. 187 Kollidierendes Verfassungsrecht, das den Kommunikationsgrundrechten Schranken setzen kann, ist daher nur jedes konkrete Rechtsgut, dessen Schutzanspruch sich eindeutig aus der Verfassung ergibt. 188 Die richterliche Unabhängigkeit nach Art. 97 GG ist solch ein konkretes Verfassungsgut, das im Falle einer ,,Drittwirkung" durch ein Sondergesetz gegen die Meinungsfreiheit geschützt werden könnte. Dies gilt dagegen für ein so vage formuliertes Schutzgut wie das Ansehen der Rechtspflege nicht. 189 b) Richterliche Unabhängigkeit als kollidierendes Verfassungsrecht: Zur ,,Drittwirkung" des Art. 97 I GG Art. 97 I GG kann als kollidierendes Verfassungsrecht der Meinungsfreiheit nur dann Schranken ziehen, wenn die richterliche Unabhängigkeit auch gegenüber Privaten wirkt. Der Streit um die ,,Drittwirkung" des Art. 97 I GG ist von geringer praktischer Relevanz. Kollidierendes Verfassungsrecht muß gesetzlich konkretisiert sein, um ein Grundrecht einschränken zu können. Massive Urteilsschelte mag zwar mit der durch Art. 97 I GG geschützten richterlichen Unabhängigkeit in Konflikt geraten. Es fehlt aber an einer gesetzlichen' V orschrift, die zum Schutz dieser Unabhängigkeit das Recht zur Urteilsschelte einschränkt. Ungeachtet seiner Schutzrichtung bildet die bloße Existenz des Art. 97 I GG damit keine Grundlage für eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. 190 Die Geltung des Art. 97 I GG gegenüber Privaten ist nur für die hypothetische Frage bedeutsam, ob der Gesetzgeber eine Vorschrift zur EinschränWülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 122; Huster, NJW 1996, S. 487 (489f.). Huster, NJW 1996, S. 487 (490); Lerche, in: HbStR V, S. 781f, 789; ähnlich Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 122. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 359f., lehnen bei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalten grundsätzlich eine Schrankenziehung mittels kollidierenden Verfassungsrechts ab. 189 Siehe zur Unterscheidung dieser beiden Schutzgüter im amerikanischen Recht unten Zweiter Teil C 11 2 a bb (2) (b) (aa) und im deutschen Recht unten Zweiter Teil C 112 b. 190 Insoweit geht die Fallösung von KiskerlHöfling, Fälle zum Staatsorganisationsrecht, S. 205 (206ff.), fehl, der die Zulässigkeit privater Urteilsschelte direkt am Maßstab des Art. 97 I GG prüft, ohne Art. 5 I, 11 GG auch nur zu erwähnen. 187 188

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

kung von Urteilsschelte einführen dürfte. 191 Außerdem beeinflußte eine ,,Drittwirkung" der richterlichen Unabhängigkeit die Auslegung bereits bestehender Normen, etwa der §§ 169ff. GVG.192 Nach dem Wortlaut des Art. 97 I GG ist der Richter unabhängig, ohne daß diese Rechtsstellung auf sein Verhältnis zu den anderen Staatsgewalten begrenzt wird. 193 Die Entstehungsgeschichte spricht eine andere Sprache. Als Reaktion auf Kabinettsjustiz und Machtsprüche ist die Unabhängigkeit vor allem gegen eine übermächtige Exekutive erkämpft worden. 194 Die entscheidenden Argumente für eine Drittwirkung liefern die systematische und die teleologische Auslegung. Art. 97 I GG steht im Zusammenhang mit der Staatsfundamentalnorm des Art. 20 GG und von daher erschließt sich sein Sinn und Zweck. Art. 20 11 2, 92 GG weisen die rechtsprechende Aufgaben ausschließlich den Organen der Judikative zu. Damit ist die Allgemeinheit von der Rechtsprechung ausgeschlossen und es ist ihr folglich untersagt, die Tätigkeit des Richters zu steuern. 19S Nach Art. 20 III, 97 I GG sind die Richter nur dem Gesetz unterworfen. Die richterliche Unabhängigkeit dient dem Schutz dieser Gesetzesbindung 196 , die nicht nur durch die anderen Staatsgewalten, sondern auch durch den Druck starker gesellschaftlicher Kräfte bedroht ist. 197 Die Frage nach der Schutzrichtung des Art. 97 I GG ist damit kein klassisches Drittwirkungsproblem, das Gedanken darüber erforderte, ob es sich bei der richterlichen Unabhängigkeit um eine grundlegende Wertentscheidung für die gesamte Gesellschaftsordnung handelt. 198 Bereits aus der Verfassungsentscheidung für die repräsentative Demokratie und aus dem Gesetzesbindungspostulat ergibt sich, daß die richterliche Unabhängigkeit auch gegen Eingriffe von Privaten geschützt ist. 199 Siehe dazu unten Vierter Teil B n. Wolf, GVG, S. 215. KiskerlHöfling, Fälle zum Staatsorganisationsrecht, S. 206. Reiß, Störung der Rechtspflege, S. 17. 19S Herzog, in: Maunz/Dürig, 00, Art. 97 Rn. 12, 39f.; Schaffer, BayVBI 1991, S. 641 (646). Nicht überzeugend ist das Argument von Wassermann, in: AK-OO, Art. 97 Rn. 87, wonach gesellschaftlicher Druck zur Realität der repräsentativen Demokratie gehöre. Dies hat sicher Auswirkung auf die Prüfung, ob private Einflußnahme die richterliche Unabhängigkeit tatsächlich verletzt. Es betriffi jedoch nicht die Vorfrage, ob Art. 97 I 00 überhaupt auf das Verhältnis zwischen Bürger und Judikative anwendbar ist. 196 Siehe zur Gesetzesbindung ausfilhrlich unten Dritter Teil B rn 1 b. 197 Reiß, Störung der Rechtspflege, S. 18. 198 So aber Wolf, GVG, S. 215; Dütz, JuS 1985, S. 744 (749). 199 Eine ,,Drittwirkung" des Art. 97 I 00 nehmen an: Wolf, GVG, S. 215; Herzog, in: Maunz/Dürig, 00, Art. 97 Rn. 12, 39f.; Kisse1, GVG, § 1 Rn. 109, § 16 Rn. 49;

191 192 193 194

C. Grenzen privater Urteilsschelte

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4. Die Wechselwirkungstheorie Trotz der inkonsequenten Anwendung der Sonderrechtsformel hat die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung ein beachtliches Schutzniveau erreicht. Das liegt an der vom BVerfG entwickelten "Wechselwirkungstheorie". Danach müssen die allgemeinen Gesetze ,,in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung ihrerseits im Lichte der Bedeutung dieses Grundrechts gesehen und so interpretiert werden, daß der besondere Wertgehalt dieses Rechts, der in der freiheitlichen Demokratie zu einer grundsätzlichen Vermutung fiir die Freiheit der Rede in allen Bereichen, namentlich aber im öffentlichen Leben führen muß, auf jeden Fall gewahrt bleibt."2°O Die Wechselwirkungstheorie ist eine begriffliche Verselbständigung allgemeiner Grundrechtslehren. Ihr geht die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsprinzips als Schranken-Schranke voraus. Verfolgt ein als "allgemein" einzustufendes Gesetz keinen legitimen Zweck, ist es ungeeignet, nicht notwendig oder nicht angemessen, so ist es bereits aus diesem Grund verfassungswidrig. Meistens werden einschränkende Gesetze aber Tatbestandsmerkmale haben, die nach den Grundsätzen des BVerfG im Lichte der Meinungsfreiheit ausgelegt werden können. 20 1 Dann kommt die Wechselwirkungstheorie ins Spiel, die sich damit als gleichbedeutend mit dem anerkannten Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung erweist. 202 Immer wenn es um die Auslegung eines Gesetzes geht, ergeben sich Beurteilungsspielräume fiir die Richter. Das führt zu Unwägbarkeiten, die angesichts der Bedeutung des Art. 5 I GG auf das unbedingt Notwendige beschränkt bleiben müssen. Zwei Problemkreise sind unter diesen Vorzeichen anzusprechen. Zum einen fragt sich, ob die von den Gerichten vorzunehmende Güterabwägung konkret oder abstrakt vorzunehmen ist. Zum zweiten ist zu klären, welche Maßstäbe bei der verfassungskonformen Auslegung heranzuziehen sind.

Dütz, JuS 1985, S. 744 (749); GemerlDeckerlKauffmann, DRiG, § 25 Rn. 5; Geiger, DRiZ 1979, S. 65 (67); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 97 Rn. 5; Heyde, in: HbVerfR, S. 1619; einschränkend: Reiß, Störung der Rechtspflege, S. 17f.; ablehnend: Wassermann, in: AK-GG, Art. 97 Rn. 85. 200 BVerfGE 7, 198 (208); st. Rspr. 201 "EinbruchsteIlen" sind etwa die Generalklauseln des Zivilrechts; vgl. BVerfGE 7, 198 (206); 71, 261 (269); Jarass, in: JarasslPieroth, GG, Art. I Rn. 25. 202 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 656. Abzulehnen ist die Ansicht, daß die Wechselwirkungstheorie der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG entspreche (so Stein, Staatsrecht, S. 315; Herzog, in: MaunzlDürig, GG, Art. 5 I, II, Rn. 262). Ihr Ziel ist es nämlich, den gesamten Inhalt des Art. 5 I GG auf die Rechtsordnung ausstrahlen zu lassen und nicht nur dessen Wesensgehalt zu wahren. 10 Mishra

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

a) Abstrakte oder konkrete AbwägtUlg Ein Vorschlag geht dahin, bei der AbwägtUlg abstrakt die sich widerstreitenden Rechtsgüter zu suchen und zu gewichten. 203 Das habe gegenüber einer konkreten AbwägtUlg den Vorteil größerer Rechtssicherheit und besserer Vorhersehbarkeit verfassungsgerichtlicher Entscheidungen für sich. 204 Ferner sei der Gefahr vorgebeugt, daß der Meinungsinhalt in die Bewertung einfließe. 20s Die Prämisse dieser Meinung - viel Macht der Verfassung, wenig Macht dem Richter - überzeugt. Jedoch ist von einer abstrakten AbwägtUlg mehr Rechtsklarheit nicht zu erhoffen. Für eine abstrakte AbwägtUlg gibt es keine Maßstäbe, da der Verfassung kein Rangverhältnis von Rechtsgütern zu entnehmen ist. 206 Eine abstrakte AbwägtUlg könnte ferner den Grad der Gefährdung eines Rechtsguts nicht einbeziehen. Sie ginge damit auf Kosten der Einzelfallgerechtigkeit, ohne einen Gewinn an Rationalität zu garantieren. Der konkreten InteressenabwägtUlg ist der Vorzug zu geben. 207 Das gilt auch im Verhältnis von Meinungsfreiheit und dem Recht der persönlichen Ehre. Die Ehre hat nicht schon abstrakt Vorrang vor der Meinungsfreiheit. Vielmehr sind auch ehrschützende Gesetze im Einzelfall verfassungskonform im Lichte der Meinungsfreiheit auszulegen. 208 b) Die Vermutungsformel Um einen letzten Rest von Vorhersehbarkeit zu gewährleisten, sind für die InteressenabwägtUlg aus der Verfassung Maßstäbe abzuleiten. Das BVerfG hat dies getan. Viele seiner AbwägtUlgsergebnisse lassen sich auf die seither ständig erweiterte und verstärkte "Vermutungsformel" zurückfUhren. Danach spricht bei einem Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit berührenden Frage eine Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede. 209 Urteilsschelte bezieht sich meistens auf Prozesse, die die Öffentlichkeit bewegen. 203 Starck, in: V.MaIKl, GG, Art. 5 1,11, Rn. 124; Herzog, in: MaunzlDürig, GG, Art. 5 I, 11, Rn. 260. 204 Herzog, in: MaunzlDürig, GG, Art. 5 I, 11, Rn. 260. 20S Starck, in: v.MalKl, GG, Art. 5 1,11, Rn. 124. 206 Wendt, in: v.MünchIKunig, GG, Art. 5, Rn. 76. Herzogs Versuch einer Kategorisierung (Herzog, in: MaunzJDürig, GG, Art. 5 1,11, Rn. 266ff.) endet doch wieder in Wertungsüberlegungen, die auch bei einer Einzelfallabwägung angestellt werden können. 207 BVerfGE 7, 198 (21Of.), st. Rspr.; Wendt, in: v.MünchIKunig, GG, Art. 5 Rn. 76. 208 BVerfGE 82, 272 (280); Herzog, in: MaunzlDürig, GG, Art. 5 I, 11, Rn. 292; Stern, in: Festschrift für Hübner, S. 826f. 209 BVerfGE 7, 198 (208); 61, 1 (11); 66, 116 (139); 71, 206 (220); st. Rspr.

c. Grenzen privater Urteilsschelte

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Generell läßt sich daher erwarten, daß die Vermutungsformel den Freiheitsraum

fiir die Urteilsschelte erweitert. Es ist daher fiir die weitere Prüfung bedeutsam, ob der Öffentlichkeitsbezug einer Meinungsäußerung verfassungsrechtlich überhaupt ein Indiz fiir ihre Zulässigkeit sein darf. Das wird verschiedentlich bestritten. Mit der Vermutungsformel gebe die Rechtsprechung - so lautet der erste Einwand - die ihr obliegende Meinungsneutralität auf. Der politische Grundrechtsgebrauch werde von Staats wegen privilegiert, was der durch die Sonderrechtslehre verbotenen Bevorzugung einer "bestimmten Meinung" sehr nahe komme. 210 Dem ist entgegenzuhalten, daß das Indiz des Öffentlichkeitsbezugs weder an den Inhalt noch an die geistige Wirkung einer Meinungsäußerung anknüpft. Maßstab ist vielmehr das konununikative Umfeld211 , in dem eine inhaltlich beliebige Äußerung gefallen ist. Nach der Formel kann beispielsweise die politische Stellungnahme, ein Urteil sei falsch, mehr Gewicht beanspruchen als dieselbe Aussage aus dem Mund eines unterlegenen und darüber verärgerten Klägers. Der Inhalt der Äußerung spielt bei der Abwägung keine Rolle. Die Vermutungsformel wahrt damit die Meinungsneutralität der Rechtsprechung. Die Kernfrage lautet aber, ob private Äußerungen überhaupt gegenüber öffentlichen privilegiert werden dürfen. Das wird mit dem Argument bestritten, daß die Privatheit gerade ein Wesenselement der Grundrechte sei und diese Komponente durch die Vermutungsformel abgewertet werde. 212 Es ist aber im Gegenteil so, daß nur der öffentliche Gebrauch der Meinungsfreiheit aufgewertet wird. Eine Abwertung der privaten Äußerung ist damit nicht verbunden, denn diese muß nicht ohne weiteres hinter anderen Rechtsgütem zurücktreten. Verfassungsrechtlich ist diese Differenzierung eine konsequente Folge aus der Doppelfunktion des Art. 5 I GG. Es wird untersucht, ob eine Meinung (nur) in Ausübung des subjektiven Abwehrrechts geäußert wird und damit dem durch das einschränkende Gesetz geschützten Rechtsgut von gleich zu gleich gegenübersteht, oder ob die Meinungsäußerung zusätzliche Verstärkung durch die objektiv-rechtliche Dimension des Art. 5 I GG erhält und deshalb im Ergebnis überwiegen muß. Stellungnahmen in einer die Öffentlichkeit berührenden Frage tragen zur Information über politische Vorgänge, zur Meinungsbildung und schließlich zu demokratischer Kontrolle bei. Sie genießen daher den Schutz beider Funktionen der Kommunikationsgrundrechte. Die Vermutungsformel 210

211

Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 293.

Vgl. dazu Kübler, JZ 1984, S. 541 (545).

212 Stern, in: Festschrift für Hübner, S. 818; Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 293; Kiesel, NVwZ 1992, S. 1129 (1130).

10'

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

setzt die doppelte verfass1lllgsrechtliche Verwurzel1lllg des Art. 5 I GG konsequent wo. 213 Zuletzt hat die Fonnel dem BVerfG den rechtspolitischen Einwand eingetragen, einer Verwildefllllg der politischen Sitten Vorschub zu leisten. 214 In der Tat hat die Härte der politischen AuseinandersetZllllg zugenommen, auch bei der Urteilsschelte ersetzt die plakative Fonnuliefllllg Zllllehmend das überzeugende Argwnent. Man wird dem BVerfG indes kawo die Verantwortllllg für das Mein1lllgsklima aufbürden können. 215 Die Justiz muß sich aber entscheiden, ob sie sich in den öffentlichen Schlagabtausch einmischen will oder ob sie das freie Spiel der Kräfte bevorzugt. Aus guten Gründen geht das BVerfG häufig den letzteren Weg. Der Gefahr einer Sittenverroh1lllg steht nämlich das drohende Übel gegenüber, daß sich Bürger 1llld Politiker aus Angst vor gerichtlichen Sanktionen mit Mein1lllgsäußefllllgen zurückhalten 1llld so die öffentliche Diskussion 1llld Kritik gelähmt wird. 216 Für die Demokratie ist aber der Wettbewerb der Mein1lllgen 1llld die Kontrolle der Regierenden wesentlich. Jede Seite muß daher die Möglichkeit haben, ihren Anschau1lllgen möglichst wirksam Gehör zu verschaffen. So entsteht ein öffentlicher Mein1lllgs-"Kampf". Dieser ist wegen der Reizüberflutllllg217 in der Bevölkefllllg zwangsläufig härter geworden 1llld kann deshalb nicht den "Wohlverhaltensregeln des Freiherrn von Knigge" 1lllterliegen.218 Der Öffentlichkeitsbezug einer Mein1lllgsäußefllllg ist im Rahmen der verfass1lllgskonfonnen Auslegung ein meinungsneutrales, verfass1lllgsrechtlich konsequentes 1llld rechtspolitisch akzeptables Indiz. Die Vennutllllgsfonnel kann daher für die Bestimm1lllg der Grenzen der Urteilsschelte fruchtbar gemacht werden.

213 Zur Begründung der Fonnel mit der Doppelfunktion des Art. 5 I GG: BVertGE 12,113 (125); Grimm, ZRP 1994, S. 276. 214 Stern, in: Festschrift für Hübner, S. 817; Stark, JuS 1995, S. 689 (691); Kriele, NJW 1994, S. 1897 (1900f.); Kiesel, NVwZ 1992, S. 1129 (1133). m Vgl. dazu Grimm, ZRP 1994, S. 276. 216 BVertGE 54,129 (138f.); 60,234 (241); BVertGE 43,130 (136), spricht von der "einschüchternden Wirkung", BVertG, NJW 1995, S. 3303, vom "abschreckenden Effekt", den jede Verurteilung wegen einer Meinungsäußerung für das Grundrecht hätte. Kritisch zu dieser aus dem amerikanischen Verfassungsrecht entlehnten Argumentationsfigur äußert sich Schrnitt Glaeser, NJW 1996, S. 873 (876ff.), der den einschüchternden Effekt für den in seiner Ehre Verletzten für gravierender hält als denjenigen, der von einem Redeverbot ausgeht. 217 Zur ,,Reizüberflutung" als Rechtfertigung für die Vennutungsfonnel: BVertGE 24,278 (286); OLG Frankfurt, NJW 1989, S. 1367. 218 Herzog, in: MaunzfDürig, GG, Art. 5 I, 11, Rn. 278.

C. Grenzen privater Urteilsschelte

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5. Ergebnis

Zusammengefaßt ergibt sich, daß die nun anzusprechenden Gesetze die genannten Schranken verfassungsmäßig konkretisieren müssen. Sie sind erstens nur verfassungsmäßig, wenn sie allgemeine Gesetze sind, das Recht der persönlichen Ehre schützen oder sich auf kollidierendes Verfassungsrecht zurückfiIhren lassen. Zweitens sind diese Normen am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu prüfen und verfassungskonform auszulegen. Dies geschieht durch eine konkrete Abwägung der widerstreitenden Rechtsgüter. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Vermutungsformel, wonach bei einem Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit berührenden Frage eine Vermutung fiir die Zulässigkeit der freien Rede spricht.

n. Schrankenkonkretisierende Vorschriften Die schrankenkonkretisierenden Vorschriften lassen sich nach ihrem Schutzzweck in zwei Gruppen einteilen. Zur ersten Gruppe gehören die Normen, die die Ehre und das allgemeine Persönlichkeitsrecht des durch die Urteilsschelte angegriffenen Richters schützen. Zur zweiten Gruppe sind die Vorschriften zu zählen, die den Schutz der richterlichen Unabhängigkeit und der Würde der dritten Gewalt bezwecken. 1. Persönlicher Schutz des Richters vor Verächtlichmachung

Der Richter ist wie jeder andere Bürger strafrechtlich und zivilrechtlich gegen Ehrverletzungen geschützt. Die hier anzusprechenden Normen bilden die faktisch wichtigste Grenze privater Urteilsschelte, wenngleich sie nur mittelbar dem Schutz unabhängiger richterlicher Entscheidungsfindung dienen. Die Abwägung zwischen dem durch Art. 1 I, 2 I GG geschützten und in Art. 5 11 GG ausdrücklich aufgefilhrten Rechtsgut der Ehre und der in Art. 5 I 1 GG geschützten Meinungsfreiheit gehört zu den aktuellsten und umstrittensten Streitfragen im Grundrechtsbereich. Das BVerfG hat in einigen aufsehenerregenden Fällen die Meinungsfreiheit bevorzugt und sah sich darum gerade in jüngster Zeit scharfen Anfeindungen aus der Literatur ausgesetzt. ,,Die Liquidierung des Ehrschutzes durch das BVerfG", war ein Aufsatz betiteltl l9 , ,,Die verlorene

219

Kiesel, NVwZ 1992, S. 1129.

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

Ehre der BWldesbiirger" ein anderer. 22o Befilrchtet wird ein ,,Marsch von der Liberalität in die Libertinage".221 Rufmord sei in Deutschland so gut wie risikolos, hieß es in einem weiteren Untergangsszenarium222 Wld es wurde die Frage aufgeworfen: "Werden wir ein Eldorado filr Ehrabschneider Wld ein Volk von Ehrlosen?"223 Die Beleidigtmg des Richters bildet nur einen kleinen Ausschnitt aus diesem Problemfeld Wld es ist daher kein Raum, die Bedenken der Kritiker im einzelnen zu würdigen. Gezeigt werden kann indes folgendes: Selbst wenn einzelne höchstrichterliche EntscheidWlgen im Ergebnis Widerspruch herausfordern, so sind die Argumentationsfiguren des BVerfG zur LÖSWlg des Konflikts zwischen MeinWlgsfreiheit Wld Ehrschutz eine konsequente WeiterentwicklWlg der "VermUtWlgsformel". Sie sind damit an der Struktur des Art. 5 I, 11 GO orientiert Wld methodisch zu begrüßen. a) Die Beleidigtmg, §§ 185, 193 StGB Nach der vorgegebenen Definition224 ist Urteilsschelte immer mit einer wertenden StellWlgnahme verbWlden, so daß von den Beleidigtmgstatbeständen vor allem § 185 StGB einschlägig ist Wld hier besprochen wird. Werden im Rahmen der Urteilsschelte bewußt Wlwahre oder nicht erweislich wahre Tatsachen behauptet, sind die §§ 186, 187 StGB zu prüfen. Werden diese Tatsachen gegenüber BWldesverfassWlgsrichtern geäußert, kommt § 187a StGB zur AnwendWlg. Die Auslegtmg des § 185 StGB ist verfassWlgskonform im Lichte des Art. 5 I 1 GO vorZWlehmen. Das gilt nicht nur filr den Rechtfertigtmgsgrund des § 193 StGB, der schlechthin als Ausprägtmg des Grundrechts der freien MeinWlgsäußerWlg verstanden wird. 22s Die AusstrahlWlgswirkWlg des Art. 5 I 1 GO reicht in den Tatbestand des § 185 StGB hinein Wld kann zu dem Ergebnis fUhren, daß eine Äußerung schon ihrem Inhalte nach nicht beleidigend ist. 226

220 Stümer, JZ 1994, S. 865. 221 Sendler, NJW 1993, S. 2157. 222 Kriele, NJW 1994, S. 1897 (1898); vgl. dazu die treffende Erwiderung von Soehring, NJW 1994, S. 2926. 223 Kiesel, NVwZ 1992, S. 1129 (1137). 224 Siehe oben Einleitung. m BVerfGE 42,143 (152); BGHSt 12,287 (293); Lackner, StGB, § 193 Rn. 1. 226 OLG Frankfurt, NJW 1989, S. 1367 (1368); LG Frankfurt, StV 1990, S. 73 (74).

C. Grenzen privater Urteilsschelte

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aa) Tatbestand des § 185 8tGB Es ist auf einzelne Tatbestandsmerkmale einzugehen, die bei der Urteilsschelte häufig Probleme aufwerfen. (1) Beleidigungsflihigkeit (a) Die Kritik an der ,,Justiz" Nicht selten findet Urteilsschelte in der Form allgemeiner Vorwürfe gegen die Rechtsprechung ihren Ausdruck. Es heißt dann etwa, "die Justiz" habe versagt227 oder sei auf dem rechten Auge blind. Eine Beleidigung scheidet in diesen Fällen schon aus, wenn damit überhaupt keine beleidigungsflihige Person angesprochen wird. Zwar sind auch Personengemeinschaften beleidigungsflihig. Das setzt indes voraus, daß sie eine anerkannte soziale Funktion erfüllen und einen einheitlichen Willen bilden können. 228 Bei allgemein gegen die Rechtsprechung erhobenen Vorwürfen fehlt es immer an der zweiten Voraussetzung. Wegen der persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit des einzelnen Richters (Art. 97 I GG) scheidet eine einheitliche Willensbildung der gesamten Justiz aus. Jeder einzelne Richter ist beleidigt, wenn der Angriff auf die Justiz als Beleidigung unter einer Kollektivbezeichnung anzusehen ist. Das wird angenommen, wenn das betroffene Kollektiv so aus der Allgemeinheit herausragt, daß der Kreis der betroffenen Personen klar umgrenzt ist. 229 Daran fehlte es in dem Fall, in dem ein Flugblattschreiber Berliner Justizangehörige als ,,Robenknechte in Moabit" bezeichnet hatte. Dem Begriff ,,Robenknechte" ließ sich kein abgrenzbarer Personenkreis zuordnen. Es konnten damit die Richter in Moabit, alle Berliner Richter, aber auch alle Justizangestellten gemeint sein, die Roben tragen. 230 Zur gleichen Wertung hätte das RG gelangen müssen, als es die Äußerung zu bewerten hatte, das ,,Richtertum Preußens" zähle eine ganze Legion charakterloser Streber. Zum einen war der Kreis der Angegriffenen sehr groß, zum anderen waren Ausnahmen miterklärt, so daß der Bezug auf bestimmte Personen fehlte. 23 \ Entsprechend verhält es sich mit der von Scholz nach dem

227 So etwa der DRB-Vorsitzende Voss nach dem Mannheimer Urteil, siehe oben Erster Teil E m 3 a. 228 BGHSt 6,186; Lackner, StGB, Vor § 185 Rn. 5. 229 BGHSt 36, 83 (85f.); Lackner, StGB, Vor § 185 Rn. 3. 230 KG, JR 1978, S. 422. 23\ So zurecht Herdegen, in: LK-StGB, § 185 Rn. 24; a.A. RGRspr. 1,292.

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

Soldaten-Urteil beklagten ,,Disqualifikation deutscher Richter"232, der Aussage: ,,Alle deutschen Richter beugen das Recht"233 und der nach dem Kruzifix-Urteil erhobenen Behauptung mangelnder formaler Bildung bei "diesen Juristen".234 Der einzelne Richter ist also unter dem Gesichtspunkt der Beleidigung unter einer Kollektivbezeichnung durch pauschale Vorwürfe gegen die Justiz regelmäßig nicht beleidigt. Auch das Merkmal der Beleidigung unter einer Kollektivbezeichnung ist im Lichte der Meinungsfreiheit auszulegen. 235 So ist bei objektiv mehrdeutigen Äußerungen die Auslegung zugrunde zu legen, bei der es an einem beleidigungsfähigen Adressaten fehlt. Der Anprangerung von Zuständen in der Untersuchungshaft mit den Worten, daß ,,hier massiv Recht gebeugt wird", ließ sich nach der Regel ,)n dubio pro libertate" kein Ehrangriff auf den Empfänger des Schreibens, den Vorsitzenden einer bestimmten Strafkammer, entnehmen. Aus dem Brief ging nicht hervor, daß die Mißstände gerade diesem Richter zur Last gelegt werden sollten. 236 (b) Die Ehre der Justiz als Schutzgut der Beleidigungsdelikte Es wird noch zu zeigen sein, daß das deutsche Recht die Unabhängigkeit und das Ansehen der dritten Gewalt nur sehr unvollständig schützt. Im englischen Recht ist das anders, dort werden über das Rechtsinstitut des "contempt of court" dem Richter wirkungsvolle Abwehrmechanismen an die Hand gegeben. 237 Ein Bewunderer des englischen Systems hat deshalb den Vorschlag gemacht, die contempt of court-Regeln in die Beleidigungsvorschriften hineinzuinterpretieren. Bei §§ 185, 193 StBG solle der durch die Urteilsschelte bewirkte "Schaden für die Justiz" zu Lasten des Angeklagten in Anrechnung gebracht werden. 238 Diese Ansicht geht am Schutzzweck der Ehrverletzungsdelikte vorbei. Beleidigungsflihig sind nur Einzelpersonen, einzelne bei einer 232 Siehe oben Erster Teil D II 2. 233 BGHSt 36, 83 (87), bestätigt ausdrücklich, daß diese Aussage keine beleidigungsfähige Person trifft. 234 Siehe oben Erster Teil F II 1. m Dazu ausfiihrlich Androulakis, Sanunelbeleidigung, S. 87ff. Er weist zurecht daraufhin, daß gerade die Kritik an Kollektiven (z.B. an Ärzten und Richtern) häufig einen durch Art. 5 I 1 GG privilegierten Öffentlichkeitsbezug hat. Zu weitgehend folgert er daraus, daß Sanunelbeleidigungen generell zulässig sein müssen; ähnlich Gounalakis, NJW 1996, S. 481 (483f.). 236 OLG Düsseldorf NJW 1989, S. 3030. Ausfiihrlich zum Grundsatz der wohlwollenden Deutung siehe unten Zweiter Teil C II 1 a aa (2) (b). 237 Dazu siehe unten Zweiter Teil C II 2 a aa. 238 Greiff, NJW 1962, S. 64 (65).

C. Grenzen privater Urteilsschelte

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Beleidigung Wlter einer KollektivbezeichnWlg sowie bestimmte Personengruppen. Danmter läßt sich "die Justiz" nicht subswnieren. Sie ist nicht beleidigungsflihig, erleidet daher keinen strafrechtlich relevanten Schaden. Es verbietet sich somit, die RegelWlgslücke des deutschen Rechts durch eine nach Art. 103 11 GG WlZUlässige strafbarkeitserweiternde Analogie zu den §§ 185, 193 StGB auszufüllen. (2) KWldgabe der MißachtWlg oder NichtachtWlg (a) Absprechen des personalen, sittlichen oder sozialen GeltWlgswertes Die Beleidigung wird definiert als KWldgabe der NichtachtWlg oder MißachtWlg. Diese MißachtWlg kommt zwn Ausdruck, wenn dem Betroffenen sein personaler, sittlicher oder sozialer GeltWlgswert abgesprochen wird. 239 (aa) Personaler GeltWlgswert Der personale GeltWlgswert ist verletzt, wenn dem Einzelnen durch die VerwendWlg grober Schimpfwörter elementare menschliche Unzulänglichkeiten Wlterstellt werden. Richterkritik hat gelegentlich solche Formen angenommen. Als die sozial-liberale BWldesregierWlg filrchtete, daß das BVerfG den GrWldlagenvertrag mit der DDR filr verfassWlgswidrig erklären würde, soll der SPDPolitiker Horst Ehmke gesagt haben, von den "acht Arschlöchern in Karlsruhe" werde man sich die Reformpolitik nicht kaputt machen lassen. 24o Auch die BezeichnWlgen ,,irrer Richter"241 oder bestimmte Richter seien "die größten Strolche"242 sprachen den Kritisierten ihren personalen GeltWlgswert ab. (bb) Sittlicher GeltWlgswert Ein Angriff auf den sittlichen GeltWlgswert eines Richters liegt vor, wenn diesem Wlsittliches oder rechtswidriges Verhalten vorgeworfen oder ihm sonst die moralische Integrität abgesprochen wird. Der Vorwurf Wlsittlichen Verhalten taucht häufig auf, wie die Beispiele im ersten Teil der Arbeit gezeigt haben. Vokabeln wie "pervers", "abartig", oder "schändlich" drücken ein entsprechen239 Zu diesen Begriffen und ihrer Definition: Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, § 185 Rn. 2; ähnlich Lackner, StGB, § 185 Rn. 4; Dreherrrröndle, StGB, § 185 Rn. 7. 240 Nach: Häußler, Konflikt, S. 62f. 241 Diese Richterschelte übte CSU-Generalsekretär Erwin Huber am 20.10.1994 gegenüber dem Lübecker Landgericht, das den Begriff der "geringen Menge" Haschisch im BtMG großzügig interpretiert hatte (Quelle: Presseerklärung des LG Lübeck vom 21.10.1994). 242 Vgl. dazu den Fall BVerfGE 42, 234 (235).

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

des Unwerturteil aus. Allerdings steht einer vorschnellen Wertung dieser Begriffe als ehrmindernd das Grundrecht der Meinungsfreiheit entgegen. Scharfe, polemische Formulierungen sind grundsätzlich erlaubt. Als Konsequenz ist zu differenzieren: Bezieht sich die Kritik auf das Urteil und triffi: damit nur mittelbar den dahinter stehenden Richter (sachbezogene Kritik), so ist sie schon ihrem Inhalt nach nicht beleidigend. Sind die Vokabeln direkt auf den Richter bezogen (personenbezogene Kritik), wird diesem damit sein sittlicher Geltungswert abgesprochen. 243 Als nicht beleidigend sind damit schon alle oben zitierten scharfen Wertungen auszuscheiden, da sie sachbezogen waren. Eine Kundgabe der Mißachtung lag dagegen in der Bezeichnung des Mannheimer Richters Rainer Orlet als ,,Richter der Schande". 244 Der Vorwurf rechtswidrigen Verhaltens konzentriert sich beim Richter zumeist darauf, daß ihm Rechtsbeugung24' oder Freiheitsberaubung246 vorgeworfen wird. Eine besonders gravierende Ehrverletzung ist dabei der Vorwurf der Rechtsbeugung, ist dieses als Verbrechen gewertete Delikt (§§ 336, 12 I StGB) schließlich die schlimmste Verfehlung, derer sich ein Richter in Ausübung seines Amtes schuldig machen kann. Ein sonstiger moralischer Vorwurf liegt beispielsweise in der Bezeichnung eines Richters als ,juristisches Gehirn", das zur ,,Erneuerung der moralischen Fundamente des Staates" nicht imstande sei. 247 Die moralische Integrität wird dem Richter auch abgesprochen, wenn er in die gedankliche Nähe zum Nationalsozialismus gerückt wird. Damit wird ein nach rechtsstaatlichen Grundsätzen urteilender Richter mit Personen verglichen, deren Rechtsprechung filr einmaliges Unrecht und Willkür steht. Beleidigend sind danach zunächst die Bezeichnung eines Nürnberger Gerichts als ,,Reichsparteitags-OLG"248 und die Aussagen, ein Richter erinnere an die "schrecklichen Juristen" des dritten Reichs 249 , gehöre "dem Volksgerichtshof zugeordnet"HO oder befinde sich im Kern einer "Neonazigesinnung". m 243 Zu dieser Differenzierung: BVerfGE 42, 143 (abwM 157); Stümer, JZ 1994, S. 865 (875). 244 Siehe oben Erster Teil E n 1 b. W Vgl. Lenckner, in: SchönkeiSchröder, StGB, § 185 Rn. 13. Siehe zum Beispiel die Äußerung von Johannes Gerster (CDU) zum Soldaten-Urteil oben Erster Teil D n 2. 246 Vgl. LG Frankfurt, AnwB11977, S. 169. 247 Nach OLG Frankfurt, NJW 1962, S. 64, beeinträchtigte diese Äußerung den sozialen Geltungswert des betroffenen Richters. Es ist aber eher ein Angriff auf den sittlichen Geltungswert anzunehmen, da zu den Berufspflichten des Richters nur die richtige Gesetzesanwendung, nicht aber die Durchsetzung bestimmter moralischer Maßstäbe gehört. 248 Vgl. BVerfG, NJW 1994, S. 1149; OLG Bamberg, NJW 1994, S. 1972. 249 Siehe den Kommentar zum Behindertenurteil oben Erster Teil C n 1. 2'0 Vgl. OLG Hamburg, JR 1990, S. 515.

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(cc) Sozialer Geltungswert Eine KWldgabe der Mißachtung kann ferner in einem Angriff auf den sozialen Geltungswert liegen. Daß soziale Wld insbesondere berufliche Geltungsansprüche durch die Beleidigtmgsvorschriften geschützt sind, wird darauf gestützt, daß § 187 StGB positiv-rechtlich sogar die KreditgefährdWlg dem VerlewndWlgstatbestand Wlterstellt. m Dieser Fallgruppe sind alle Werturteile zuzuordnen, die dem Richter die Fähigkeit absprechen, seinen Beruf ordnWlgsgemäß wahrzunehmen. Auch bei Äußertmgen mit Bezug zum sozialen Geltungswert darf nicht ohne weiteres der Tatbestand der Beleidigtmg angenommen werden. Von vornherein nicht beleidigend ist Urteilskritik, die - wenn auch möglicherweise in überspitzter Form - den Richtern falsche Rechtsansichten vorwirft. m Quintessenz eines solchen Vorwurfs ist es, daß der Richter einen Fehler gemacht habe. Da jeder Mensch einmal Fehler macht, ist eine solche Äußertmg nicht ehrverletzend. Anders liegt der Fall, wenn dem Richter die grtmdsätzliche Unfiihigkeit zur AusübWlg seines Amtes attestiert wird. Beleidigend ist der Rat an einen Richter, ,,in Rente zu gehen", weil "im Alter der Kalk rieselt"2S4 , die Aussage nach dem Kruzifixurteil, die Richter seien überfordert gewesen, "Operationen schon der einfachen Denkschule zu bewältigen"m , oder die BezeichnWlg eines Richters als "geistig behindert". m Fraglich ist, ob der oft erhobene Vorwurf der Parteilichkeit oder der Voreingenommenheit eine Verletzung des sozialen Geltungswertes darstellt. Gekleidet ist ein solcher Vorwurf in Formuliertmgen wie ,,Interessen- oder Racheurteil"2s7 beziehWlgsweise "politische GesinnWlgsrechtsprechWlg".m Ein aktuelles Beispiel bildet die Kritik des eSU-Politikers Norbert Geis am Lübecker HaschischUrteil: ,,Linke Richter in Lübeck mißbrauchen ihre richterliche Unabhängigkeit zu einem drogenpolitischen Amoklauf. ( ... ) Richter, denen das Zelebrieren ihrer Ideologie wichtiger ist als die BindWlg an Recht Wld Gesetz, ( ... ) zerstören das m Siehe oben Erster Teil E 11 1.

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Arzt, JuS 1982, S. 717 (718). Vgl. LG Frankfurt, AnwB11977, S. 169. Vgl. Lenclener, in: Schönke/Schröder, StGB, § 185 Rn. 13. Siehe oben Erster Teil F 11 1. 2S6 SO Franz Alt in einem Kommentar zum Behindertenurteil, siehe oben Erster Teil C III 2. m Vgl. BVerfGE 35, 35. m So der Kommentar des CDU-Politikers Gerster zum Soldaten-Urteil, siehe oben Erster Teil D 11 2. Ähnlich ("politisches Urteil") äußerte sich auch die Rheinische Post, siehe oben Erster Teil DIll.

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

Fundament unserer Justiz."m Der Vorwurf der Parteilichkeit und der Voreingenommenheit, der in den zitierten Äußerungen ausgedrückt wird, spricht dem Richter die Fähigkeit ab, seiner verfassungsrechtlichen Pflicht gerecht zu werden. Nach Art. 97 I GG ist die Judikative unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. Die Kritik unterstellt dem Richter aber, er sei von seinen Vorurteilen abhängig und habe darüber seine Bindung an das Gesetz vernachlässigt. Dieser Vorwurf beeinträchtigt den Angegriffenen folglich in seinem sozialen Geltungsanspruch. 26O In vielen dieser Fälle greift aber der Rechtfertigungsgrund des § 193 StGB.261 (b) Ausstrahlungswirkung des Art. 5 I 1 GG auf die Deutung der Äußerung Nicht selten sind die Gerichte mit Äußerungen konfrontiert, deren ehrverletzender Charakter zweifelhaft ist. Dann muß eine Auslegung ergeben, ob mit der Meinung unzulässigerweise auf die Ehre des davon Betroffenen gezielt wurde oder ob der sich Äußernde zulässigerweise am Beispiel eines Einzelfalls auf Mißstände aufmerksam machen wollte. Das BVerfG prüft regelmäßig nach, ob die Gerichte diese Abgrenzung sorgfältig getroffen haben. Eine Verurteilung wegen Beleidigung verstößt schon dann gegen Art. 5 I 1 GG, wenn eine Äußerung den Sinn, den das Gericht ihr entnommen und der Verurteilung zugrunde gelegt hat, nicht besitzt. Bei mehrdeutigen Äußerungen darf nicht eine zur Verurteilung fiihrende Deutung zugrunde gelegt werden, ohne daß andere, ebenfalls mögliche Deutungen mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden sind. 262 Schließlich dürfen in der Äußerung verwendete Rechtsbegriffe nicht ohne weiteres im fachlich-technischen Sinne verstanden werden. Vielmehr ist den Umständen zu entnehmen, ob eine alltagssprachliche oder eine technische Begriffsverwendung vorliegt.263 Zusammengefaßt läßt sich daraus der "Grundsatz der wohlwollenden Deutung" entnehmen. Er ruht auf zwei Säulen. Für das Strafrecht ergibt er sich schon aus dem Prinzip ,,in dubio pro reo", wonach im Zweifel die fiir den Angeklagten günstigere Variante anzunehmen ist. Zum zweiten stützt die grundlegende Bedeutung der Meinungsfreiheit den

m Zitat nach Presseerklärung des LG Lübeck vom 21.10.1994; zu diesem Fall siehe oben Zweiter Teil D TI 1 a aa (2) (a) (aa). Im Januar ·1995 stellte der Präsident des LG Lübeck, Hans-Ernst Böttcher, einen Strafantrag gegen Geis und den CSU-Generalsekretär Huber (nach Süddeutsche Zeitung vom 26.1.1995). 260 So im Ergebnis auch OLG Zweibrücken, GA 1978, S. 208. 261 Siehe unten Zweiter Teil D TI 1 a bb (3) (b). 262 BVerfGE 43, l30 (l36); 82,272 (280f.); BVerfG, NJW 1994, S. 2943. 263 BVerfGE 85, 1 (19); BVerfG, NJW 1994, S. 2943.

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Gnmdsatz ab und erweitert damit das ,,in dubio pro reo"-Prinzip wn die Regel des ,,in dubio pro libertate". Der Gnmdsatz der wohlwollenden Deutung gilt sowohl fiir den Tatbestand des § 185 StGB als auch fiir den Rechtfertigungsgrund des § 193 StGB. Es genügt also nicht festzustellen, daß eine Aussage möglicherweise als Absprechen des personalen, sittlichen und sozialen Geltungswerts einzustufen ist, sondern es müssen auch Bedeutungsalternativen bedacht werden. Ein Beispiel für die wohlwollende Auslegung verwendeter Rechtsbegriffe lieferte ein Beleidigungsprozeß vor dem LG Frankfurt264 : Ein Verteidiger hatte fehlende Haftgründe bei dem Angeklagten gerügt und dabei dem Richter gegenüber gesagt, man habe seinen Mandanten der Freiheit beraubt. Das Gericht sah darin nicht den strafrechtlichen Vorwurf der Freiheitsberaubung nach § 239 StGB und damit einen Angriff auf den sittlichen Geltungswert des Richters. Vielmehr habe es sich wn eine zulässige - wenn auch überspitzte - Kritik an einer bestimmten Rechtsauffassung gehandelt. (3) Beleidigungsfreie Sphäre Zwar geht es in dieser Untersuchung hauptsächlich wn die Schelte öffentlich interessierender Urteile. Es ist jedoch kurz auf einen in der Praxis häufig vorkommenden Fall privater Verärgerung über ein Urteil einzugehen. Es geht wn die Richterschelte von Strafgefangenen in Briefen an ihre Angehörigen. Personen, die zu Haftstrafen verurteilt worden sind, empfinden nicht selten Groll gegen ihre Richter und bringen diesen in deutlichen Worten zum Ausdruck. So stammen die ehrenrührigen Bezeichnungen von Richtern als "Strolche" und von Entscheidungen als "Interessen- und Racheurteil" aus Briefen von Strafgefangenen. Durch die Briefkontrolle im Strafvollzug kommen diese Äußerungen auch den angegriffenen Richtern zu Ohren. Das BVerfG hat aus Art. 5 I 1 und Art. 1 I, 2 I GG die Existenz einer beleidigungsfreien Sphäre abgeleitet und nimmt damit solche menschlich nur zu verständlichen265 Wutausbrüche von Strafgefangenen aus dem Tatbestand der Beleidigung heraus. Der Strafgefangene habe nur im Wege des Briefverkehrs die Möglichkeit, sich Vertrauten gegenüber frei und offen auszusprechen. Das mache seine Privatsphäre aus, die durch die (zulässige) Briefkontrolle nicht in

LG Frankfurt, AnwBl1977, S. 169 Vgl. BVerfGE 35, 35 (40): Bei Strafgefangenen seien die Eindrücke vom Verfahren ,,naturgemäß oft subjektiv gefärbt und seine Wertung häufig nicht sachlich." 264 265

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

eine öffentliche Sphäre wndefiniert werde. 266 Umgekehrt gilt der Schutz der Vertraulichkeit auch für Briefe von Vertrauenspersonen an Strafgefangene. 267 Neuerdings legt die Rechtsprechung den Begriff der Privatsphäre weit aus. Der Kreis möglicher Vertrauenspersonen ist danach nicht auf Ehegatten und Eltern beschränkt, sondern wird auch auf ähnlich enge Vertrauensverhältnisse erstreckt. 268 bb) Die Wahrnehmung berechtigter Interessen, § 193 8tGB

Falls eine tatbestandliche Beleidigung vorliegt, ist zu prüfen, ob diese durch § 193 StGB gerechtfertigt ist. (1) Urteilsschelte als "tadelnde Urteile über wissenschaftliche Leistungen"

Im Schrifttum wird Urteilsschelte unter das Merkmal der "tadelnden Urteile über wissenschaftliche Leistungen" subsumiert. Diese Ansicht hat zur Folge, daß die Kritik bis zur Grenze der Formalbeleidigung zulässig wäre. 269 Indessen stößt die Gleichsetzung von Urteilen mit wissenschaftlichen Leistungen auf begriffliche Schwierigkeiten. Urteile verwerten zwar auch Methoden und Ergebnisse der Rechtswissenschaft. Sie sind aber in erster Linie Staatsakte und dienen der rechtsverbindlichen Entscheidung von Streitigkeiten. Ihr Einfluß auf die Wissenschaft ist bloßer Nebenzweck. 270 Außerdem zählt § 193 StGB mit gewerblichen, künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen gerade nur individuelle und gemäß Art. 12,5 III GG grundrechtlich geschützte Tätigkeiten auf, so daß es systemwidrig wäre, auch Staatsakte darunter zu fassen. Dogmatisch ist die Bestimmung der Grenzen der Urteilsschelte daher am Merkmal der "Wahrnehmung berechtigter Interessen" festzumachen.

BVerfUE 35, 35 (40); 42, 234 (236f.). BVerfG, NJW 1995, S. 1015. 268 BVerfG, NJW 1995, S. 1015 (1016). Nach h.M. erstreckt sich die beleidigungsfreie Sphäre nicht auf das Verhältnis eines Mandanten zu seinem Rechtsanwalt, vgl. OLG Hamburg, JR 1990, S. 515; a.A. Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorbem zu § 185ff. Rn. 9. 269 Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, § 193 Rn. 5; Rudolphi, in: SK-StGB, § 193 Rn. 6; Herdegen, in: LK-StGB, § 193 Rn. 14. 270 Mit dieser Begründung lehnt das RGSt 40,347 (348f.), die Subsumtion von Urteilen unter die "wissenschaftlichen Leistungen" ab. 266 267

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(2) Berechtigte Interessen Berechtigt ist jedes Interesse, zu dessen Verfechter sich der Äußernde aufwerfen darf. 271 Auch Interessen der Allgemeinheit berechtigen jeden Bürger zur Stellungnahme. 272 Das ist eine zwingende Folge der im Demokratieprinzip wurzelnden objektiven Seite der Meinungsfreiheit, die jedem Bürger gleiche Teilhabe am Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung einräumt. Die Schelte öffentlich umstrittener Urteile beruht daher zunächst auf einem berechtigten Interesse. (3) Wahrnehmung berechtigter Interessen Weiter ist zu fragen, ob das Interesse des Kritikers im Einzelfall höher zu bewerten ist als die Ehre des Angegriffenen. Für diese Güterabwägung hat die Rechtsprechung Kriterien herausgearbeitet, die auch für das Gebiet der Urteilsschelte gelten. Ausgangspunkt ist dabei die im Ansatz bereits gebilligte "Vermutungsformel", wonach bei einem Beitrag in einer die Öffentlichkeit berührenden Frage die Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede spricht. 273 (a) Die Gewichtung des öffentlichen Interesses Es ist zunächst festzustellen, ob überhaupt ein Interesse der Allgemeinheit an der öffentlichen Diskussion und Meinungsbildung über ein Urteil besteht. Ist dies der Fall, ist das Gewicht des öffentlichen Interesses zu bestimmen. Die politische Brisanz eines Prozesses, dessen Dauer und Intensität und die Ernstlichkeit des allgemeinen Interesses bilden dafür Anhaltspunkte. 274 Alle im ersten Teil dokumentierten Fälle behandelten politisch-moralische Grundfragen von hohem Gewicht. Im Fernsehurteil ging es um ein Vorhaben des Bundeskanzlers, das die Medienlandschaft in der Bundesrepublik erheblich umgestaltet hätte. Der moralische Konflikt zwischen dem Lebensrecht des Ungeborenen und dem Selbstbestimmungsrecht der Frau bildete den Hintergrund des § 218RGSt 63, 229 (231); Lackner, StGB, § 193, Rn. 6. BVerfGE 12, 113 (125); BGHSt 18, 182 (187); Rudolphi, in: SK-StGB, § 193, Rn. 15. 273 Siehe oben Zweiter Teil C I 4 b . . 274 So das OLG Zweibrücken, GA 1978, 208 (209), in einem Fall zur Zulässigkeit der Urteilsschelte. In dem von einem Lokaljoumalisten kritisierten Prozeß ging es darum, daß ein unbeliebter Lehrer sich gegen Schülerstreiche vor seinem Haus mit Warnschüssen zur Wehr gesetzt und dabei einen der Störenfriede verletzt hatte. Das OLG privilegierte hier die Urteilsschelte, weil der Vorgang in der Region für erhebliches Aufsehen gesorgt hatte. 271

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

Urteils. Das Behindertenurteil rückte das Problem des Zusammenleben geslUlder lUld behinderter Menschen in den BlickplUlkt, das Soldatenurteil gab Anstoß zur Frage nach der Rolle der BlUldeswehr im demokratischen Staat. Schließlich warf das Mannheimer Urteil Licht auf ein Stück lUlbewältigter Vergangenheit der Justiz, während der Kruzifixbeschluß die Autonomie der BlUldesländer lUld das Verhältnis von Kirche lUld Staat als Probleme in den Vordergrund rückte. In allen diesen Fällen waren daher die Grenzen der MeinlUlgsfreiheit zugunsten des Kritikers verschoben. (b) Größere Freiheit bei der Kritik an Staatsorganen Die demokratische FlUlktion des Art. 5 I 1 GG verlangt, daß die AusüblUlg staatlicher Gewalt umfassend der Kontrolle der öffentlichen MeinlUlg lUlterliegt. Bei der Kritik an Staatsorganen gilt deshalb ebenfalls eine verstärkte VermutlUlg für die Freiheit. m Dieser GrlUldsatz hat lUleingeschränkt auch gegenüber der Judikative Gültigkeit. 276 Einfluß hat das vor allem auf die Fälle, in denen dem Richter sein sozialer GeltlUlgswert abgesprochen wird. Der Richter steht in dieser Konstellation dem Kritiker nicht nur als beliebiger Berufstätiger gegenüber, sondern gleichzeitig als Vertreter der Staatsgewalt. In dieser Eigenschaft muß er sich eine stärkere Kontrolle gefallen lassen. Insbesondere der Vorwurf der Voreingenommenheit lUld Parteilichkeit277 wird regelmäßig über § 193 StGB gerechtfertigt sein, denn es besteht ein erhebliches öffentliches Interesse daran, daß die Judikative tatsächlich lUlabhängig lUld lUlvoreingenommen urteilt. Deutlich wird das am Beispiel des Mannheimer Richters Orlet. Seine zur Schau gestellte Sympathie mit dem Angeklagten, für die ein teilweise parallel verlaufenes Leben eine plausible ErklärlUlgsmöglichkeit bildet, legte den Verdacht nahe, daß Orlet nicht die notwendige Unparteilichkeit für diesen Fall besaß. 278 In einem Rechtsstaat ist voreingenommenes Urteilen aber nicht hinnehmbar, so daß schon bei entsprechendem Verdacht öffentliche Kritik am richterlichen Verhalten zulässig

m OLG Zweibrücken, GA 1978, S. 208 (209); Lackner, StGB, § 193 Rn. 12; ähnlich Herdegen, in: LK-StGB, § 193 Rn. 14. 276 Siehe oben Zweiter Teil B I 2 c aa. 277 Beispiele siehe oben Zweiter Teil C 11 1 a aa (2) (a) (ce). 278 Siehe oben Erster Teil E 11 1 b. Ähnlich lag der Fall im Lübecker Haschisch-Urteil [vgl. dazu schon oben Zweiter Teil C 11 1 a aa (2) (a) (aa»): Die Lübecker Richter, insbesondere Wolfgang Neskovic, waren schon des öfteren durch Urteile zu Drogenstraftaten aufgefallen, die mehr rechtspolitischem Wunschdenken als dem Wortlaut des Gesetzes entsprachen. Neskovic erfand auch den Begriff des später vom BVerfG abgelehnten ,,Rechts auf Rausch"; vgl. Hill, DRiZ 1995, S. 62 (63».

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sein muß, ohne daß dabei die Furcht vor Bestrafung mitschwingt. Zumal wenn ein Richter wirklich voreingenommen ist, muß man dies sagen dürfen. Entsprechend gelten diese Grundsätze, wenn dem Richter unmoralisches Handeln vorgeworfen wird. 279 Ein Staatsdiener muß akzeptieren, daß sein Verhalten unter stärkerer Beobachtung steht und an höheren sittlichen Maßstäben gemessen wird als das eines normalen Berufstätigen. (c) Weitere Regeln im öffentlichen Meinungskampf Da es Sinn jeder zur Meinungsbildung beitragenden öffentlichen Äußerung ist, Aufmerksamkeit zu erregen, sind angesichts der heutigen Reizüberflutung auch einprägsame und starke, geschmacklose oder banale, verletzende und aggressive Meinungskundgaben zulässig. 280 Namentlich in der spontanen freien Rede darf eine schärfere Gangart gewählt werden. 281 Unerheblich ist, daß der Urteilskritiker seine Schelte auch in milderer Form hätte formulieren können, solange seine Äußerung angesichts der Umstände nicht gänzlich unverhältnismäßig ist. 282 Scharfe Stellungnahmen können auch als Gegenschlag auf vorangegangene ehrverletzende Angriffe zulässig sein. 283 Dieses ,,Recht auf Gegenschlag" ist nicht nur auf gegenseitige Beleidigungen beschränkt. Vielmehr muß jeder, der am öffentlichen Meinungskampf freiwillig teilnimmt, scharfe Reaktionen hinnehmen, da er sich durch diese Teilnahme seiner schützenswerten Privatsphäre begeben hat. 284 Nicht empfindlich darf vor allem derjenige sein, der durch sein Verhalten begründeten Anlaß zur Erhebung der fraglichen Vorwürfe gegeben hat. 285 Ein Paradebeispiel für diese Fallgruppe bietet erneut der Mannheimer Richter Rainer Orlet. Er hatte Journalisten nach dem Urteil freiwillig Rede und Antwort gestanden und durch ungeschickte bis unsägliche Stellungnahmen286

Siehe die Kritik am Behindertenurteil oben Erster Teil C 11 1. BVerfGE 24, 278 (286); OLG Zweibrücken, GA 1978, S. 208 (209). 281 BVerfGE 54, 129 (138f.). 2B2 BVerfGE 24, 278 (286). Anders BVerfGE 42, 243 (151), wonach eine Wertung wegen ihrer überscharfen Form unzulässig sein soll, wenn die Äußerung des gleichen Gedankens auch in milderer Form möglich wäre. Dagegen wendete sich zurecht die Richterin Rupp-v.Brünneck in ihrer abw. Meinung (BVerfGE 42, 143 (157»: ,,Ist es ( ... ) nicht ein gefährlicher Trugschluß zu glauben, daß die 'Zensur' der Form den geistigen Inhalt unberührt läßt?" In der Folgezeit hat das BVerfG bei scharfen Stellungnahmen auf eine strenge ,,Notwendigkeitsprüfung" verzichtet. 283 BVerfGE 12, 113 (125). 284 BVerfGE 54,129 (138). 285 OLG Zweibrücken, GA 1978, S. 208 (209). 286 Siehe oben Erster Teil E 11 1 b. 279

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

den Eindruck bestärkt, im Fall des NPD-Vorsitzenden Deckert befangen gewesen zu sein. Erst danach setzte die personenbezogene Kritik ein, die Orlet die Bezeichnoog als ,,Richter der Schande" eintrug. Nach den Gnmdsätzen des BVerfG zwn Gegenschlag mußte sich Orlet diese tatbestandsmäßige Ehrverletzung gemäß § 193 StGB gefallen lassen, da er sich freiwillig an der öffentlichen Meinoogsbildoog beteiligt hatte ood seine Einlassoogen Widerspruch geradezu herausforderten. Ebenso waren darum Äußeroogen gerechtfertigt, in denen die Richter des Frankfurter Behindertenurteils nach ihrer mißglückten Pressekonferenz als "geistig ood moralisch behindert" bezeichnet wurden. 287 (d) Die Grenze der Schmähkritik Die Meinoogsfreiheit tritt regelmäßig hinter den AchtWlgsanspruch des einzelnen zurück, wenn eine Äußeroog die Grenze zur Schmähkritik überschreitet. 288 Angesichts der konstitutiven BedeutWlg des Art. 5 I 1 GG ist der Begriff der Schmähkritik allerdings restriktiv auszulegen. Eine ausfiillige Kritik nimmt erst dann den Charakter der SChmähoog an, wenn in ihr nicht mehr die AuseinandersetZWlg mit der Sache, sondern die Diffamieroog der Person im VordergrWld steht. 289 Ist eine Äußeroog nicht zweifelsfrei als Schmähkritik einzuordnen, greift zu ihren Gunsten der Gnmdsatz der wohlwollenden DeutWlg. 29o Die Abgrenzung zwischen zulässigen sachbezogenen ood Wlzulässigen diffamierenden Äußeroogen läßt sich an den Beschimpftmgen von Richtern mit NS-Vokabeln illustrieren. Äußerst scharf, aber mit Bezug zwn vorangegangenen Urteil, fiel die Kritik am Behindertenurteil ood am Mannheimer Urteil aus. Die Aussage, die Richter des Behindertenurteils erinnerten an die "schrecklichen Juristen"291 beruhte darauf, daß das Gericht zwischen gesooden ood behinderten Menschen in einer Form differenziert hatte, die fUr manche Kritiker an NS-Zeiten gemahnte. Der Vorwurf, die Mannheimer Richter beBinden sich ,,im Kern einer sogenannten gutbürgerlichen ( ... ) (Neo)Nazigesinnoog"292 war ebenfalls aus Urteilspassagen abgeleitet, aus denen eine Sympathie fUr den neonazistisch gesinnten Täter sprach. Beide Äußeroogen waren daher durch § 193 StGB gerechtfertigt. Die Bemerkung, ein Richter gehöre 287 Siehe oben Erster Teil C III 2. 288 BVerfGE 82, 43 (52); 82,272 (283f.). 289 BVerfGE 82, 43 (52); 82,272 (283f.); BVerfG, NJW 1993, S. 1462. 290 Siehe oben Zweiter Teil C 11 1 a aa (2) (b). Kritisch zur konsequent restriktiven Auslegung des Begriffs der Schmähkritik: Stümer, JZ 1994, S. 865 (875); Kriele, NJW 1994, S. 1897 (1899).

291 Siehe oben Erster Teil C 11 1. 292 Siehe oben Erster Teil E 11 1 a.

C. Grenzen privater Urteils schelte

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"dem Volksgerichtshof zugeordnet", die ein Angeklagter aus Wut über ein von ihm als zu hart empfimdenes Urteil geäußert hatte, ermangelte dagegen jeglichen Sachbezugs, diffamierte ausschließlich die Person und war unzulässige Schmähkritik. 293 Schmähkritik war auch das Wort von den "acht Arschlöchern in Karlsruhe". Die durch nichts substantiierte Äußerung des CDU-Politikers Gerster. das Soldaten-Urteil erfiUle "glatt den Tatbestand der Rechtsbeugung" bildete ebenfalls Schmähkritik. Der W ortwahl läßt sich hier eindeutig entnehmen, daß Gerster den Frankfurter Richtern im rechtstechnischen Sinne die Begehung eines Verbrechens vorwarf, sie damit verleumdete. Ohne Tatsachenfimdierung ging dies weit über die Grenzen des strafrechtlich Zulässigen hinaus. b) Der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz Nach der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung strahlen die Grundrechte über die Generalklauseln in das bürgerliche Recht aus. 294 Wegen des Grundsatzes der Einheit der Rechtsordnung gelten die zu den §§ 185, 193 StGB entwickelten Leitlinien daher auch für den zivilrechtlichen Ehrenschutz. Kurz zu besprechen sind die Rechtsfolgen einer Persönlichkeitsverletzung, insbesondere die Frage, ob die Namensnennung oder Abbildung von Richtern zulässig ist, die an einem umstrittenen Urteil mitgewirkt haben. aa) Delilctische Haftung nach §§ 823 /, II BGB Als sonstiges Recht im Sinne des § 823 I BGB ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht anerkannt. m Ein Unterfall dieses Rechts ist die Ehre, so daß eine Beleidigung auch den Tatbestand des § 823 I BGB erfiUlt. Ob das Verhalten widerrechtlich ist, wird in einer Güter- und Interessenabwägung festgestellt, wobei die Ausstrahlungswirkung des Art. 5 I 1 GG zu berücksichtigen ist. 296 Eine nach § 193 StGB gerechtfertigte Beleidigung stellt keine rechtswidrige Persönlichkeitsverletzung dar. Schließlich setzt § 823 I BGB Verschulden voraus. Weitere Anspruchsgrundlage für Schadensersatz ist § 823 II BGB in Verbindung mit § 185 StGB.

293 294

OLG Hamburg, IR 1990, S. 515. Dazu BVerfGE 7, 198 (205f.); 73,261 (269); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn.

194. 295 BGHZ 13,334 (338); anerkannt von BVerfGE 34, 269 (280ff.) und von der Literatur (vgl. Thornas, in: Palandt, BGB, § 823, Rn. 177). 296 Thomas, in: Palandt, BGB, § 823, Rn. 184.

11·

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

§§ 22, 23 KUG geben fiir die Veröffentlichung von Bildern einen Maßstab, der in seinen Grundgedanken auch auf die Namensnennung übertragen werden kann. 297 Nach § 23 I Nr. 1 KUG ist die Veröffentlichung von Bildern ohne Einwilligung des Abgebildeten zulässig, wenn das Bildnis der ,,zeitgeschichte" angehört. Es läßt sich zwischen absoluten und relativen Personen der Zeitgeschichte unterscheiden. 298 Absolute Personen der Zeitgeschichte sind solche, bei denen an allen Vorgängen, die ihre Teilnahme am öffentlichen Leben ausmachen, ein Informationsinteresse besteht. Das ist etwa bei berühmten Politikern oder Sportlern der Fall. Die Voraussetzungen werden jedoch auf so gut wie keinen Richter zutreffen, da selbst die Verfassungsrichter dem Großteil der Bevölkerung unbekannt sind. Relative Personen der Zeitgeschichte sind Personen, die lediglich in Bezug auf ein bestimmtes Geschehen in das Blickfeld der Öffentlichkeit treten und allein insoweit ein sachentsprechendes Informationsinteresse erwecken. Damit sind Richter, die zu einem aufsehenerregenden Urteil beigetragen haben, als relative Personen der Zeitgeschichte einzuordnen. Die Veröffentlichung von Photos ist bei relativ bedeutenden Personen auf den Zusammenhang mit dem zeitgeschichtlichen Ereignis - in diesem Fall mit dem umstrittenen Urteil - begrenzt, weil nur insoweit ein Informationsinteresse der Bevölkerung anzuerkennen ist. 299 Wird gegen diese Grundsätze verstoßen, so ergibt sich fiir den abgebildeten oder namentlich genannten Richter ein Anspruch nach § 823 I und §§ 823 11 LV.m. §§ 22, 23 KUG.

Im Falle einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts ergibt sich ein Schadensersatzanspruch gemäß §§ 249ff. BGB. Es gilt der Grundsatz der Naturalrestitution, die bei einem ehrverletzenden Angriff in den Medien darin besteht, daß der Ersatzpflichtige beeinträchtigende Tatsachenbehauptungen widerruft. 3°O Der Widerruf ehrverletzender Werturteile kann nicht begehrt werden. 301 Das Grundrecht der Meinungsfreiheit verbietet es nämlich, den Kritiker dadurch zu demütigen, daß man ihn zwingt, seine Meinung zu ändern oder ihm zumindest auferlegt, einen gar nicht vorhandenen Überzeugungswandel nach außen zu bekennen. 302 Für den Schaden, der durch den Widerruf nicht beseitigt werden kann, ist gemäß § 251 BGB Geldersatz zu leisten. Dazu gehört nach § 252 BGB auch Groß, Presserecht, S. 39. Dazu Neumann-Duesberg, JZ 1960, S. 114 (115); Wenzel, Wort- und Bildberichterstattung, Rn. 8.4 ff. 299 Neumann-Duesberg, JZ 1960, S. 114 (115); Wenzel, Wort- und Bildberichterstattung, Rn. 8.4; ähnlich OLG Karlsruhe, NJW 1982, S. 647. 300 Groß, Presserecht, S. 43f. 301 BGH, VersR 1982, S. 904 (905). 302 Wenzel, Wort- und Bildberichterstattung, Rn. 13.6. 297

298

C. Grenzen privater Urteilsschelte

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der dem Verletzten infolge des Presseangriffs entgangene Gewinn. Nach § 847 BGB werden auch immaterielle Schäden ersetzt. Entgegen § 253 BGB haben die Gerichte dem Verletzten einen Schmerzensgeldanspruch zugebilligt, wenn das Persönlichkeitsrecht schwer verletzt und Genugtuung auf andere Weise nicht zu erlangen ist. 303

bb) Quasinegatorischer Beseitigungs- und Unter/assungsanspruch, § 1004 BGB Der Anspruch aus § 1004 BGB setzt voraus, daß der Anspruchsteller in einer der durch die §§ 823 I, 11, 824 BGB geschützten Rechtspositionen verletzt ist. § 1004 BGB gilt damit auch fiir Ehrverletzungen. Der Anspruch besteht unabhängig von einem Verschulden des Anspruchgegners. Ein Beseitigungsanspruch setzt tatbestandlich voraus, daß die Beeinträchtigung der Ehre fortdauert. Droht eine Wiederholung der Ehrverletzung ist der Unterlassungsanspruch einschlägig. § 1004 BGB gibt einen Anspruch auf Unterlassung und Beseitigung. Während der Unterlassungsanspruch sich auf alle nicht durch Art. 5 I 1 GG gerechtfertigten Werturteile bezieht, können mit dem Beseitigungsanspruch in Form des Widerrufs nur Tatsachenbehauptungen bekämpft werden. 304 Ein Beispiel fiir ein entsprechendes Vorgehen im Zusammenhang mit Urteilsschelte bildet die von Richter Otto Tempel eingereichte Klage gegen zwei Passagen in der Prozeßdokumentation von Ernst Klee über das Behindertenurteil. 30S Die Vorschriften zum persönlichen Schutz des Richters vor Verächtlichmachung bilden faktisch die wichtigsten Grenzen der Urteilsschelte. Strafrechtlich greift der Beleidigungstatbestand ein, zivilrechtlich Schadensersatz - und Unterlassungsansprüche. Alle diese Vorschriften sind im Lichte des Art. 5 I GG auszulegen.

2. Der Schutz der richterlichen Unabhängigkeit und des Ansehens der dritten Gewalt Neben den Ehrschutzvorschriften gibt es noch solche schrankenkonkretisierenden Normen, die unmittelbar den Schutz der richterlichen Unabhängigkeit und des Ansehens der dritten Gewalt bezwecken. Im deutschen Recht ist der 303 BGHZ 26, 349; BGH, NJW 1971, S. 698 (699); anerkannt von BVerfGE 34, 369 (284ff.). 304 Siehe oben Zweiter Teil C II 1 b aa. 30S Siehe oben Erster Teil C III 2.

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

Bestand von Nonnen mit diesem Schutzzweck allerdings sehr lückenhaft. Dem steht im angelsächsischen Rechtskreis ein systematischer Schutz der dritten Gewalt gegenüber. Das Rechtsinstitut des "contempt of court" gibt dem englischen und amerikanischen Richter ein juristisches Instrumentarium an die Hand, mit dessen Hilfe er sich gegen verschiedenste Angriffe auf die rechtsprechende Tätigkeit wehren kann. Vor der Untersuchung des deutschen Rechts ist daher der Blick nach Großbritannien und in die USA zu richten. Rechtsvergleichend wird so zunächst deutlich, wie ein umfassendes Konzept zum Schutz der Rechtsprechung aussehen kann. Sichtbar wird jedoch auch, welchen verfassungsrechtlichen Einwänden dieses Konzept ausgesetzt ist. a) Der Schutz der dritten Gewalt im angelsächsischen Rechtskreis aa) Der" contempt 0/ court" in Großbritannien (1) Das Rechtsinstitut des contempt of court (a) Überblick über das Rechtsinstitut306 Der Tatbestand des "contempt of court", der ,,Mißachtung des Gerichts", funngiert als Sammelbegriff fiir eine Vielzahl von Verhaltensweisen, denen gemeinsam ist, daß sie den ordnungsgemäßen Gang des gerichtlichen Verfahrens behindern oder sonst die Tätigkeit der Rechtsprechung stören. Zu unterscheiden ist zwischen zivilrechtlichem und strafrechtlichem contempt of court (c.o.c.). Der civil C.o.C. ist ein Instrument der Zwangsvollstreckung und ennöglicht es dem Richter, bei einem Verstoß gegen seine Verfiigungen Zwangsgeld oder Zwangshaft anzuordnen. Im deutschen Recht findet dieser Teil des contempt-Rechts in den §§ 888, 890 ZPO seine Entsprechung. Beim criminal c.o.c. sind ungebührliche Verhaltensweisen vor Gericht und solche außerhalb des Gerichts zu unterscheiden. Einer Ungebühr vor Gericht (contempt in facie curiae), etwa Zwischenrufen des Angeklagten während der Verhandlung, kann der englische Richter mit sitzungspolizeilichen Maßnahmen begegnen, wie sie vom deutschen Richter nach den §§ 176ff. GVG in ähnlicher Weise getroffen werden können. Der Tatbestand des c.o.c. vor Gericht wird auch durch Zeugen erfiillt, die unentschuldigt der Verhandlung fernbleiben oder ungerechtfertigt die Aussage verweigern. Bei den strafbaren Verhaltensweisen 306 Nach Reynold, Justiz in England, S. 97ff.; Bornkamm, Fairness des Strafverfahrens, S. 25ff.

C. Grenzen privater Urteilsschelte

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außerhalb des Gerichts ist zu trennen zwischen Eingriffen in schwebende Verfahren (sub-judice-Regel) und dem Tatbestand der unzulässigen Justizkritik (scandalising the court). Die nachfolgende Untersuchung konzentriert sich auf den letzteren Tatbestand, der die Urteilsschelte als einen Unterfall der Justizkritik erfaßt.

(b) Der Tatbestand des "scandalising the court" Während das Verbot von Eingriffen in schwebende Verfahren durch den Contempt of Court Act 1981 gesetzlich geregelt wurde, blieb der Tatbestand des "scandalising the court" bis heute ausschließlich im common law verankert. Das angloamerikanische common law ist ein Rechtssystem, das auf "precedents"307 fußt. Dies sind Urteile der höchsten Gerichte, deren Leitsätzen (,,ratio decidendi") für spätere Entscheidungen Bindungswirkung zukommt, während bei Gelegenheit der Entscheidung ausgesprochene obiter dicta nicht bindend sind. 30B Der Tatbestand des "scandalising the court" wird nach ständiger Rechtsprechung definiert als "any act done or writing published which is calculated to bring a court or a judge into contempt or to lower bis authority, or to interfere with the due course of justice and the lawful process of the court. "309 Intendiert ist mit diesem Tatbestand kein zusätzlicher Persönlichkeitsschutz für den Richter. Dieser muß in Fällen der Beleidigung strafrechtlich oder zivilrechtlich gerade gegen die persönliche Ehrverletzung vorgehen. 3IO Der Einfilhrung des Tatbestands des "scandalising the court" liegt vielmehr folgender Gedanke zugrunde: Ständige Angriffe auf die Rechtsprechung erschüttern das Vertrauen der Bevölkerung in. die Unabhängigkeit der Justiz. Ein solcher Vertrauensverlust brächte die Justiz um ihr Ansehen und auf Dauer auch um ihre Macht, Rechtsstreitigkeiten verbindlich zu entscheiden. Dem Autoritätsverfall der Rechtsprechung müsse im Interesse der Öffentlichkeit vorgebeugt werden. Besonders diejenigen, die freiwillig oder zwangsweise mit den Gerichten zu tun haben, sollen in ihrem Vertrauen darauf geschützt werden, daß vor Gericht alles

307 Der deutsche Begriff ,,Präzedenzfall" wird in diesem Kapitel als Übersetzung von "precedent" im rechtstechnischen Sinne des common law gebraucht. 308 James, Introduction to English Law, S. 18. 309 R v Gray (1900) 2 QB 36 (40); Ambard v Attorney-General for Trinidad and Tobago (1936) AC 322 (334f.); Perera v R (1951) AC 482 (488). 310 McLeod v St. Aubyn (1899) AC 549 (561).

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

mit rechten Dingen zugeht. 311 Weiterhin soll der Tatbestand das Recht des Bürgers auf ein faires Gerichtsverfahren schützen, indem der Richter vor Einflußnahmen geschützt wird, die seine Unabhängigkeit beeinträchtigen könnten. Der Tatbestand des c.o.c. war danach nicht durch einen ZeitWlgsartikel erfüllt, der sich mit dem obersten Richter der Bahamas befaßte. Dieser hatte es nach einem Prozeß abgelehnt, von einem Freigesprochenen einige Ananasfrüchte als Geschenk anzunehmen. Das Gericht sah in der sich darüber mokierenden Publikation keinen Angriff auf die gesamte Rechtsprechung und verwies den humorlosen Richter auf den Weg der Beleidigungsklage. 312 (2) Zulässigkeit der Justizkritik Die Aussage, daß sich das Recht zur Justizkritik aus dem Grundrecht der Meinungsfreiheit ergibt, läßt sich fiir das englische Recht nicht ohne weiteres treffen. Zunächst gibt es in England keinen geschriebenen Grundrechtskatalog. Das ist historisch zu erklären. In der englischen Rechtstradition vollzog sich niemals ein grundlegender Bruch, der mit einer Verfassungsurkunde hätte besiegelt werden müssen, wie es in Amerika nach der Unabhängigkeit, in Frankreich nach der Revolution und in Deutschland nach der Nazidiktatur der Fall war. Zu beobachten ist ferner ein tiefsitzendes Mißtrauen zahlreicher englischer Juristen gegenüber einer geschriebenen Verfassung. Häufig wird Jeremy Bentham (1748-1832) mit dem Satz zitiert, eine Erklärung der Menschenrechte sei ,,rhetorical nonsense - nonsense upon stilts".313 Niemand habe etwas von Rechten, die zwar auf dem Papier stehen, aber nicht durchsetzbar sind. Entscheidend sei vielmehr, daß mit jedem Recht ein entsprechender Rechtsweg vor ein unabhängiges Gericht korrespondiere. "Ubi ius, ibi remedium", so lautet der Kerngedanke der englischen Verfassungslehre. 314 Es ist nicht nur die fehlende schriftliche Fixierung, die den selbstverständlich auch in England geltenden Menschenrechten einen geringeren Stellenwert verleiht als er ihnen in den USA und in Deutschland zukommt. Im englischen Recht gilt der Grundsatz der "parliamentary sovereignty". Das Parlament kann tWl und lassen, was es will. Es hat unbegrenzte Kompetenzen und ist insbesondere nicht durch Grundrechte seiner Bürger am Erlaß bestimmter Gesetze ge-

311 R v Davies (1906) 1 KB 32 (40). Ähnlich äußerte sich bereits Lord Wilmot im Jahre 1765, Nachweise bei R v Davies (1906) 1 KB 32 (40f.); Lord Denning, The due process oflaw, S. 3lf. 312 Re Special Reference from the Bahama Islands (1893) AC 138 (148f.). 313 Zitiert nach: de Smith, Constitutional and administrative law, S. 452. 314 De Smith, Constitutional and Administrative Law, S. 452.

C. Grenzen privater Urteilsschelte

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hindert.3\S Der Gefahr eines Machtmißbrauchs durch den Staat halten die Engländer die Vorteile ihres Systems entgegen: Das Parlament könne so als unmittelbares Repräsentationsorgan den Willen des Volkes ohne weiteres verwirklichen. In Staaten mit einer schwer abänderbaren Verfassung komme es dagegen oft zu einem "government by judges", mit dem Verzögerungen, Rechtsunsicherheit und ein Vertrauensverlust in die zu politischen Urteilen gezwungene Rechtsprechung einhergehe. Zu beobachten ist in England auch ein seit Jahrhunderten gewachsenes und selten enttäuschtes Vertrauen, daß die Parlamentarier ihre Macht so ausüben, wie man es von "gentlemen" erwartet, zumal ihnen bei Machtmißbrauch die Abwahl drohe. 316 Der Grundsatz der "parliamentary sovereignty" hat zur Folge, daß der Inhalt von Grundrechten in England nicht positiv definiert wird sondern nach der Differenzmethode zu bestimmen ist. Erlaubt ist alles, was nicht gesetzlich verboten ist. Meinungsfreiheit ist in England die Differenz, die entsteht, wenn man von dem Rederecht die bestehenden Redeverbote subtrahiert. 317 Die Meinungsfreiheit wird im Lichte des einschränkenden Gesetzes interpretiert, nicht aber das einschränkende Gesetz im Lichte der Meinungsfreiheit. Das Recht zur Justiz- und Urteilsschelte gehört fiir die englische Rechtsprechung seit 100 Jahren zu dem Differenzbetrag zulässiger freier Rede. ,,1t is the right of every man, in Parliament or out of it, in the Press or over the Broadcast, to make fair comment, even outspoken comment, on matters of public interest, Those who comment can deal faithfully with all that is done in a court of justice. They can say that we are mistaken, and our decisions .erroneous, whether they are subject to appeal or not", so formuliert der Richter Lord Denning diesen Grundsatz. 3IB Festzuhalten ist zunächst, daß der Kom3\S Zur "parliamentary sovereignty": James, Introduction to English Law, S. 7; Yardley, Introduction to Constitutional and Administrative Law, S. 11. 316 De Smith, Constitutional and Administrative Law, S. 453. 317 Vgl. de Smith, Constitutional and Administrative Law, S. 452; Yardley, Introduction to Constitutional and Administrative Law, S. 106. Der englische Rechtsgelehrte Dicey prägte 1959 die pessimistische Fonnel, daß Meinungsfreiheit in England nicht mehr bedeute als das Recht, "to write or say anything which ajury, consisting oftwelve shopkeepers, think is expedient should be said or written." [zitiert nach Stümer, JZ 1994, S. 865 (870)]. 318 R v Commissioner ofPolice ofthe Metropolis (1968) 2 WLR 1204 (1206). In der Entscheidung Ambard v Attomey-General for Trinidad and Tobago (1936) AC 322 (335), heißt es: ,,1ustice is not a cloistered virtue: she must be a1lowed to suffer the scrutiny and respectful, even though outspoken, comments of ordinary men." In Details abweichende Fonnulierungen, in denen ebenfalls das Recht zur Justizkritik anerkannt wird, finden sich in: McLeod v St. Aubyn (1899) AC 549 (561); R v Gray (1900) 2 QB 36 (40); Attomey-General v Times Newspaper Ltd. (1973) 3 WLR 298 (310).

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

mentar ,,in Parliament" den gleichen Schutz genießt wie die Medienschelte, folglich in der englischen Rechtsprechung nicht zwischen Äußerungen von privaten und von staatlichen Stellen diferenziert wird. Auffällig ist, daß die ,,freedom of speech" in den Präzedenzflillen zum "scandalising the court" eine beliebig verwendbare Argumentationsfigur geblieben ist und nur in den Fällen zur Begründung herangezogen wird, in denen die Gerichte auf Freispruch entschieden haben. 319 Die Aussage von Lord Denning im letzten wichtigen "precedent" zur Justizkritik mag indes einen Wendepunkt zu einer größeren Wertschätzung der Meinungsfreiheit markieren. ,,Let me say at once that we will never use this jurisdiction [zur Bestrafung wegen "scandalising the court", d. V.] as a means to uphold our own dignity (... ). Nor will we use it to suppress those who speak against uso We do not fear criticism, nor do we resent it. For there is something far more important at stake. It is no less than freedom of speech itself." 320 Die MachtfiUle der englischen Gerichte bei der Verurteilung wegen C.O.C. ist in den Präzedenzfällen als weiterer Grund fUr eine weitgehende Zulässigkeit der Urteilsschelte angeführt. Im Gegensatz zu anderen Straftaten werden die contempt-Tatbestände in einem summarischen Verfahren ohne Beteiligung von Geschworenen abgehandelt. 321 Ein Verstoß wird mit Geldstrafe oder mit einer kurzen Freiheitsstrafe geahndet. Es kann vorkommen, daß in einem contemptProzeß Verletzter, Ankläger und Richter in einer Person zusammenfallen, womit sich Parallelen zum Inquisitionsprozeß ergeben. Zumindest aber entscheidet die Justiz immer in eigener Sache. Die englische Rechtsprechung ist sich ihrer MachtfiUle bewußt und versucht selbst, ihr entgegenzusteuem. In fast allen Entscheidungen zum Tatbestand des "scandalising the court" wird betont, daß die contempt-Befugnisse mit äußerster Zurückhaltung ausgeübt werden müssen. 322 Dem Angeklagten sei zunächst Gelegenheit zu geben, zu den Motiven seiner Kritik Stellung zu nehmen. 323 Nach dieser Anhörung muß eine Verwirklichung des Tatbestands noch zweifelsfrei ("beyond reasonable doubt") feststehen. 324

319

(337).

Vgl. etwa Ambard v Attomey-General for Trinidad and Tobago (1936) AC 322

R v Commissioner ofPolice ofthe Metropolis (1968) 2 WLR 1204 (1206). Halsbury's Laws ofEngland, Volume 9, Paragraphen 87ff. 322 R v Gray (1900) 2 QB 36 (41); R v Commissioner of Police of the Metropolis (1968) 2 WLR 1204 (1206); Maharaj v Attomey-General for Trinidad and Tobago (1977) 1 All ER 411 (416). 323 Maharaj v Attomey-General for Trinidad and Tobago (1977) 1 All ER 411 (416). 324 R v Gray (1900) 2 QB 36 (41). 320

321

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171

(3) Grenzen der Justizkritik Trotz dieser grundsätzlichen Einigkeit über die Zulässigkeit der Justizkritik hat sich die bereits vor 100 Jahren geäußerte EinschätZWlg als falsch erwiesen, daß Fälle des "scandalising the court" praktisch obsolet geworden seien. mAus den Präzedenzfällen ergeben sich bedeutende Einschränkungen der Kritikfreiheit, die vereinzelt zur strafrechtlichen Verurteilung geführt haben. (a) Die sich aus den Präzedenzfällen ergebenden Grenzen (aa) Fonn und Inhalt der Kritik Die erste Einschränkung betrifft Fonn und Inhalt der Kritik. Die englische Rechtsprechung privilegiert Urteils- und Richterschelte, wenn diese "temperately and fairly", ,,in good faith"326, ,,respectful", "within the limits of reasonable courtesy"327 , und gestützt durch ,,reasonable argument"328 vorgetragen wird. Wenn sich auch die Fonneln im Laufe der Jahrzehnte kaum geändert haben, so zeigt sich im Laufe der Zeit doch eine meinungsfreundliche Tendenz bei der Auslegung der Begriffe. So handelte sich der Herausgeber einer Zeitung im Jahre 1900 fiIr einen Artikel, in dem ein Richter wegen seiner Prozeßfiihrung ironischerweise als "Verteidiger des Anstands" bezeichnet worden war, noch eine Verurteilung wegen c.o.c. ein. Der Artikel verlasse den Boden zulässiger Kritik und sei als gemeine Schmähung des Richters in seiner Funktion zu bewerten. 329 Zu einem Freispruch kam es 1936 in einem anderen Fall, an dem vor allem erstaunt, daß er überhaupt bis vor das höchste englische Gericht gelangte. 33o Ein Journalist hatte zwei Prozesse beobachtet und miteinander verglichen, in denen wegen Mordversuchs verhandelt wurde. Beide Verfahren endeten mit einem ähnlichen Strafausspruch, obwohl nach Ansicht des Journalisten einer der beiden Fälle wesentlich strafwürdiger war. In äußerst sachlicher Fonn kritisierte der Journalist diese Ungerechtigkeit. Für den Stil seines Artikel ist die abschließende Passage charakteristisch: "Yet we do think that if some way could be devised for the greater equalisation of punishment with the crime committed, a great deal would have been achieved towards the removal of one frequent cause for criticism of the sentences passed in our various criminal m Lord Morris, in: McLeod v st. Aubyn (1899) AC 549 (561). In diesem Fall war ein Richter immerhin als "Clown" bezeichnet worden. 326 Ambard v Attomey-General for Trinidad and Tobago (1936) AC 322 (335, 337). 327 R v Commissioner ofPolice ofthe Metropolis (1968) 2 WLR 1204 (1206f.). 328 R v Gray (1900) 2 QB 36 (40). 329 R v Gray (1900) 2 QB 36 (39f.). 330 Ambard v Attomey-General for Trinidad and Tobago (1936) AC 322.

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

courts." Diese Zeilen entsprachen den V orstelhmgen des House of Lords von gemäßigter Wld respektvoller Kritik. Es hob die VerurteilWlg wegen "scandalising the court" auf Wld bezeichnete die entgegengesetzte EntscheidWlg der Vorinstanz als "schweren Justizirrtum". Eine weitere LiberalisieTWlg vollzog sich 32 Jahre später im Fall R v Commissioner 0/ Police 0/ the Metropolis.33\ Der Parlamentsabgeordnete Quintin Hogg hatte in einem ZeitWlgsartikel beklagt, daß ein Gesetz zur Bekämpfung von Spielhallen durch die WlTealistischen, widersprüchlichen Wld - in den Präzedenzfällen - falschen EntscheidWlgen der Gerichte Wldurchführbar geworden sei. Diese Urteile seien ein merkwürdiges Beispiel für die Blindheit, die manchmal die besten Richter beschleiche. Auch in anderen Passagen war dieser Artikel von höflicher AuseinandersetzWlg weit entfernt. Dennoch entschieden die Richter auf Freispruch. Selbst weitreichende, scharfe Wld aggressive Kritik könne sich noch in den Grenzen des guten Glaubens halten. Das gebiete das GrWldrecht der MeinWlgsfreiheit, das achtsam vor EinschränkWlgen geschützt werden müsse. 332 Damit ist das House of Lords in seinen Ergebnissen nicht mehr weit von der RechtsprechWlg des BVerfG entfernt, wonach wegen der ZWlehmenden ReizüberflutWlg auch einprägsame Wld starke, geschmacklose oder banale, verletzende Wld aggressive StellWlgnahmen zulässig sind. 333 In dem selben Urteil wird aber auch deutlich, warum die englische RechtsprechWlg bis heute gTWldsätzlich am Erfordernis höflicher Kritik festhält. Sie geht von dem Bild eines Richters aus, der möglichst zurückgezogen Wld von öffentlichen StellWlgnahmen abgeschirmt seine EntscheidWlgen trifft. Bei Lord Denning klingt diese CharakterisieTWlg wie folgt: ,.All we would ask is that those who criticise us will remember that, from the nature of our office, we cannot reply to their criticisms. We cannot enter into public controversy. Still less into political controversy. We must rely on our conduct itselfto be its own vindication. "334 Dieses Richterbild schließt es aus, daß die Judikative auf öffentliche Kritik öffentlich reagiert. Offizielle ErkläTWlgen des Gerichts, Interviews von Richtern oder gar ein publizistischer Gegenschlag kommen als Reaktionsmöglichkeiten auf Urteilsschelte nicht in Betracht. Sein Selbstverständnis läßt dem englischen Richter nur die gleichermaßen Wlerfreulichen AlternaR v Commissioner ofPolice ofthe Metropolis (1968) 2 WLR 1204. R v Commissioner ofPolice ofthe Metropolis (1968) 2 WLR 1204 (1207f.). 333 BVerfUE 24, 278 (286). 334 R v Commissioner ofPolice ofthe Metropolis (1968) 2 WLR 1204 (1206). Ähnlich äußert sich Lord Edmund Davies (S. 1208): Dem angegriffenen Richter sei es verwehrt, sich selbst zu verteidigen. 331

332

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tiven, Kritik widerspruchslos hinzunehmen oder bei Grenzüberschreitungen eine Strafe zu verhängen. (bb) Der Vorwurf der Voreingenommenheit Wld Parteilichkeit Das Recht auf Justizkritik stößt anerkanntennaßen an seine Grenze, wenn dem Richter der Vorwurf der Voreingenommenheit oder Parteilichkeit gemacht wird. 335 Im wichtigsten Präzedenzfall336 hatte die Zeitung ,,New Statesman" ein von einem gewissen Richter Avory geBilltes Urteil kritisiert. Avory hatte Marie Stopes, eine Vorkämpferin für die Geburtenkontrolle, zu einer SchadensersatzzahlWlg von 200 Pfund verurteilt. In dem Artikel hieß es: "The serious point in this case, however, is that an individual owning to such views as those of Dr. Stopes cannot apparently hope for a fair hearing in a Court presided over by Mr. Justice Avory - and there are so many Avorys." Der in dieser ÄußerW1g versteckte Vorwurf der Voreingenommenheit auf seiten Richter A vorys erfiillte nach Ansicht des Gerichts den Tatbestand des "scandalising the court". Dürften solche Aussagen Wlgestraft erfolgen, käme die gesamte Richterschaft in den Ruf der Voreingenommenheit Wld Parteilichkeit. Die RechtsprechWlg verlöre dadurch zunächst ihr Ansehen, bald darauf ihre Autorität. Opfer dieser EntwickIWlg wäre der Bürger, der um den Schutz seiner Rechte nachsucht. Aus den "precedents" läßt sich folgender Stand der englischen RechtsprechWlg entnehmen. GrWldsätzlich besteht für jedennann das Recht zur Justizkritik Wld damit auch zur Urteilsschelte. Die Kritik darf jedoch das Vertrauen in die Justiz nicht zerstören, muß daher gemäßigt, fair Wld in gutem Glauben erfolgen. Bei der BestimmWlg der Grenzen der Urteilsschelte spricht die MeinWlgsfreiheit im Zweifel zugWlsten des Kritikers. Als "scandalising the court" strafbar ist der Vorwurf der Voreingenommenheit Wld Parteilichkeit gegenüber einem Richter. (b) Der Tatbestand des "scandalising the court" auf dem Rückzug Der letzte wichtige Präzedenzfall zum "scandalising the court" datiert aus dem Jahre 1968, so daß die aktuelle Bedeutung dieses Straftatbestands schwer

m R v New Statesman (1928) 441LR 301; Ambard v Attomey-General for Trinidad and Tobago (1936) AC 322 (335). Die Empfindlichkeit der englischen Rechtsprechung gegenüber Vorwürfen der Voreingenommenheit und Parteilichkeit läßt sich auch den Entscheidungen Maharaj v Attomey-General for Trinidad and Tobago (1977) 1 All ER 411 und Attomey-General v Channel Four Television Co. (1987) Halsbury's Abridgment 1987, Paragraph 405, entnehmen. 336 R v New Statesman (1928) 44 TLR 301.

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

einzuschätzen ist. In der Zwischenzeit ist aber das übrige contempt-Recht sowohl in Großbritannien selbst als auch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) unter starken Liberalisierungsdruck geraten. Diese Entwicklung wird hier dargestellt, da sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit aufneuere Fälle zur Justizkritik auswirken würde. (aa) Kritik in Großbritannien In der englischen Literatur wird die Auslegung der contempt-Regeln vielfach als grundrechtsfeindlich kritisiert. Beklagt wird insbesondere der Einschüchterungseffekt des Rechtsinstituts auf die Medienberichterstattung. Dafür ist bezeichnend, daß die "Sunday Times" in den 70er Jahren eigens einen Juristen mit der Selbstzensur ihrer Gerichtsberichte betraute. 337 Umstritten ist auch die Strafbarkeit des Vorwurfes der Parteilichkeit oder Voreingenommenheit. Wenn ein Richter wirklich voreingenommen sei, müsse man dies im öffentlichen Interesse sagen dürfen. 338 Betroffen von dieser Fallgruppe sind vor allem die Anwälte. Äußern sie im Interesse ihres Mandanten Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit der Richter, begeben sie sich in Gefahr, wegen c.o.c. bestraft zu werden. Die begründete Furcht des Anwalts vor einer Strafe kann aber eine wirksame Verteidigung des Angeklagten erheblich erschweren. 339 Das von der Regierung eingesetzte Phillimore Committee on Contempt of Court hielt den Tatbestand des "scandalising the court" ebenfalls für stark reformbedürftig und machte im Jahre 1974 Änderungsvorschläge. Danach sollte der Tatbestand gesetzlich geregelt und über Verstöße vor einem Geschworenengericht verhandelt werden. Das summarische Verfahren sei nicht angemessen, da auf Justizkritik normalerweise nicht besonders schnell reagiert werden müsse. Nach Ansicht der Kommission sollte ferner ein Rechtfertigungsgrund für Justizkritik eingeführt werden, die wahr ("true") sei und deren Veröffentlichung im öffentlichen Interesse liege. 34o Bis heute sind diese Vorschläge aber nicht in die Tat umgesetzt worden.

337

3]8 339

]40

Nach Scherer, JuS 1979, S. 470 (473). Smith&Hogan, Criminal Law, S. 747. Dazu ausführlich Pannick, Advocates, S. 75ff. Nach Cross and Jones, Introduction to criminallaw, Rn. 13.11.

c. Grenzen privater Urteilsschelte

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(bb) Das "Sunday Times"- Urteil des EGMR. und sein Einfluß auf die Interpretation des contempt-Rechts Das Urteil des EGMR. im "Sunday Times"-Fall hat das gesamte Rechtsinstitut des c.o.c. schwer erschüttert. 341 Hintergrund des Falles war der englische Conterganskandal. Die Firma ,,Distillers Co. Ltd", die das Medikament in Großbritannien vertrieben hatte, stand damals mit den Opfern der Tragödie in Vergleichsverhandlungen, von denen noch nicht abzusehen war, ob sie in einen Schadensersatzprozeß münden würden. Die "Sunday Times" widmete dem Skandal eine ganze Serie. Dabei rügte sie die geringen Entschädigungsangebote der Firma und kündigte einen Artikel an, in dem Untersuchungen zur Kausalität des Medikaments fiir die schweren Mißbildungen bei Kindern vorgestellt werden sollten. Daraufhin erwirkte die Firma Distillers eine einstweilige Anordnung, durch die der "Sunday Times" untersagt wurde, den angekündigten Artikel zu veröffentlichen. Das House of Lords bestätigte dieses Urteil letztinstanzlich. 342 Der Artikel sei ein unzulässiger Eingriff in ein schwebendes Verfahren und bilde damit einen c.o.c. Der EGMR. überprüfte dieses Urteil am Maßstab der Meinungsfreiheit des Art. 10 I EMRK. Dieses Recht kann gemäß Art. 10 11 EMRK durch Gesetze eingeschränkt werden, die notwendig sind, um das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten. Im vorliegenden Fall entschied sich die Mehrzahl der Richter filr den Vorrang der Meinungsfreiheit. Das Recht auf freie Meinungsäußerung gelte wie gegenüber anderen staatlichen Stellen auch gegenüber der Justiz, "die den Interessen der ganzen Gesellschaft ·dient und der Unterstützung einer aufgeklärten Öffentlichkeit bedarf." Der EGMR. korrigierte auch das englische Bild vom öffentlichkeitsscheuen Richter: ,,Es wird allgemein anerkannt, daß die Gerichte nicht in einem Vakuum funktionieren können. "343 Das EGMR. schrieb den englischen Richtern entgegen deren bisheriger Praxis eine Abwägung der widerstreitenden Rechtsgüter im Einzelfall vor und ließ ähnlich wie das BVerfU in seiner Vennutungsformel - das große öffentliche Interesse an dem Fall den Ausschlag zugunsten der Meinungsfreiheit geben. Insbesondere die Familien der Opfer der Tragödie hätten ein Interesse daran

341 Zum Sachverhalt und zu den EntscheidungsgrOnden: EGMR, EuGRZ 1979, S. 386ft'.; vgl. dazu auch die Urteilsbesprechung von Stümer, EuGRZ 1980, S. 49ft'. 342 Attomey-General v Times Newspaper Ltd. (1973) 3 WLR 298. 343 Diese Formeln sind wörtlich der amerikanischen Rechtsprechung zum contempt of court entnommen, siehe unten Zweiter Teil C 11 2 a bb (1) (c).

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

gehabt, über die Rechtsprobleme des Falles informiert zu werden. In solchen Fällen dürfe die Informationsverbreitung nur WlterbWlden werden, wenn diese mit absoluter Sicherheit das Ansehen der RechtsprechWlg gefiihrde. Die Tatsachen hörten ,,nicht allein deshalb auf, eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses zu sein, weil sie den Hintergrood eines schwebenden Rechtsstreits bildeten." Mit diesem in deutlichen Worten abgefaßten Urteil ging der EGMR darüber hinweg, daß seine vom kontinentalen Recht geprägte Auslegung dem englischen Recht wesensfremd ist. Er hat den zu geringen GrWldrechtsbezug bei AnwendWlg Wld Auslegung des englischen contempt-Rechts als großes Defizit offengelegt. (cc) Reaktionen der britischen GesetzgebWlg Wld RechtsprechWlg GesetzgebWlg Wld RechtsprechWlg in Großbritannien haben die Kritik des EGMR angenommen. Das Parlament reagierte durch den Erlaß des Contempt of Court Act 1981, die Gerichte durch eine stärkere Berücksichtigung der MeinWlgsfreiheit. (a) Der Contempt ofCourt Act 1981

Mit dem Erlaß des Contempt of Court Act 1981, der die Strafbarkeit der BeeinflussWlg schwebender Verfahren regelt, hat das Parlament zwei Rechtfertigungsgründe positiv-rechtlich verankert. Zum einen sind inhaltlich richtige Wld faire Berichte über öffentliche GerichtsverhandlWlgen zulässig, die zeitgleich mit dem Prozeß Wld in gutem Glauben veröffentlicht werden (C.o.C. Act 1981, section 4). Zum zweiten sind alle Publikationen gerechtfertigt, die sich in gutem Glauben mit der Diskussion öffentlicher Angelegenheiten befassen, wenn das Risiko der BehinderWlg oder BeeinflussWlg eines bestimmten Verfahrens bloße Nebenfolge der Diskussion ist (C.o.C. Act 1981, section 5). Damit ist in England nWl kraft Gesetzes das öffentliche Interesse an einem Prozeß zugoosten des Kritikers zu berücksichtigen.

(13) Neuere Urteile zur MeinWlgsfreiheit Die englische RechtsprechWlg zum contempt-Recht hat diese StärkWlg der MeinWlgsfreiheitin ihren EntscheidWlgen nachvollzogen. Die Gerichte hoben zwei VeröffentlichWlgsverbote zu schwebenden Verfahren auf, weil ein beträchtliches Wld legitimes öffentliches Interesse an den Prozessen bestehe. Im ersten Fall ging es um drei Sozialarbeiter, die des Kindesmißbrauchs angeklagt waren344 , der zweite Fall drehte sich um Drogendelikte im ZusaIDmenhang mit der Modedroge ,,EcstaSy".345 Die den Fällen zugroodeliegenden Ereignisse

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hatten nationales Aufsehen erregt. Die höchsten Gerichte setzten hier die Einsicht des EGMR wn, daß .diese Angelegenheiten nicht deshalb ihre öffentliche Bedeutung verloren, weil sie zum Gegenstand eines Prozesses wurden. Einen weiteren überraschenden Schwenk hat das House of Lords in einem Fall vollzogen, in dem es wn die Zulässigkeit von Korruptionsvorwürfen gegen eine Verwaltungsbehörde ging. Es gebe ein großes öffentliches Interesse daran, daß ein demokratisch gewähltes Regienmgsorgan ungehinderter öffentlicher Kritik ausgesetzt sei, befindet das höchste englische Gericht. Ein Erfolg der vom Kläger angestrengten zivilrechtlichen Verlewndungsklage gegen den Kritiker hätte einen ,,Abschreckungseffekt" ("chilling effect") fiir denjenigen, der von seiner Meinungsfreiheit Gebrauch machen wolle, so daß die Klage abzuweisen sei. 346 In der Urteilsbegründung greift die britische Rechtsprechung erstmalig auf diese von der amerikanischen Rechtsprechung entwickelte Argumentationsfigur zurück, der eine stark grundrechtsverstärkende Bedeutung zukommt. Das House of Lords legt Wert auf die Feststellung, daß dieses Ergebnis ohne Rückgriff auf Art. 10 EMRK erzielt worden sei. Vielmehr bleibe der Schutz der Meinungsfreiheit im englischen Recht nicht (mehr) hinter dem Schutz durch Art. 10 EMRK zurück. Damit hat sich die britische Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit der liberalen deutschen und amerikanischen Auslegung angenähert. Es ist zu vermuten, daß ein neues Urteil zum Tatbestand des "scandalising the court" die Anregungen der inzwischen meinungsfreundlicheren Gesetzgebung und Rechtsprechung aufnehmen würde. Danach spricht bei Angelegenheiten von öffentlichem Interesse, die zum Gegenstand eines Prozesses werden, eine Vermutung fiir die Zulässigkeit der lustizschelte. Der erhebliche Abschrekkungseffekt, der von der Strafdrohung ausgeht, müßte ebenfalls zugunsten des Kritikers wirken. In Großbritannien gibt es ein weitgehendes Recht zur Urteilsschelte. Bis auf die Fallgruppe des Vorwurfes der Parteilichkeit oder Voreingenommenheit ist vom Tatbestand des "scandalising the court" nicht mehr viel geblieben.

R v Beck (1992) Halsbury's Abridgment 1992, Paragraph 2042. Ex P Daily Telegraph (1993) Halsbury's Abridgment 1993, Paragraph 2071. 346 Derbyshire County Council v Times Newspaper Ltd and Others, EuGRZ 1993, S. 197 (198). 344

34S

12 Mishra

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Zweiter Teil: Private Drteilsschelte

bb) Der" contempt 0/ court" in den USA Das ursprünglich von den Engländern übernommene Rechtsinstitut des c.o.c. hatte in den USA von Anfang an einen schweren Stand. Insbesondere die Bestraftmg außergerichtlicher Justizkritik stieß auf verfassungsrechtliche Bedenken. Augenfällig war ZlUlächst das Spannungsverhältnis zwischen den contempt-Regeln und der im 1. Amendment von 1791 festgeschriebenen Meinungsund Pressefreiheit. Hieran zeigt sich der Unterschied zur Rechtslage in England. In den USA gibt es einen geschriebenen Grundrechtskatalog, an dem auch Akte des Gesetzgebers gemessen werden. Damit sind einschränkende Gesetze immer im Lichte des dadurch eingeschränkten Grundrechts auszulegen. Wegen seiner Nähe zwn Inquisitionsprozeß geriet auch das summarische Verfahren bald in Verruf. Dieses stand in offenem Widerspruch zwn 6. Amendment der Verfassung, dem Recht auf eine Verhandlung vor dem Geschworenengericht. Schon im Jahre 1831 begrenzte deshalb ein Bundesgesetz den Tatbestand des c.o.c. auf ungebührliche Verhaltensweisen, die sich vor Gericht oder in unmittelbarer Nähe des Gerichts zugetragen hatten. Über eine sehr großzügige Auslegung des Begriffes der "Nähe" verhalf die amerikanische Rechtsprechung dem Straftatbestand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwar zu einer zwischenzeitlichen Blüte, verlangte aber seit 1941 wieder eine streng geographische Nähe der unerlaubten Handlung zwn Gericht. 347 In den einzelnen Bundesstaaten sind dagegen die dem common law entstammenden Befugnisse zur Bestraftmg außergerichtlicher Justizschelte häufig erhalten geblieben. Daher hat der Supreme Court mehrfach zwn Konflikt zwischen dem contemptRecht und der Verfassung Stellung beziehen müssen. Die Präzedenzfälle betreffen dabei alle Arten außergerichtlicher Kritik, unabhängig davon, ob es sich wn Eingriffe in schwebende Verfahren oder wn Urteilsschelte handelt. (1) Zulässigkeit der Justizkritik

Die Zulässigkeit auf die Justiz einströmender Kritik ist in den USA grundsätzlich anerkannt. Dieser Grundsatz wird mit historischen und philosophischen Argumenten untermauert, die auch den Einwand der Besonderheit der Gerichtssphäre widerlegen.

347 Nye v. Dnited States 313 D.S. 33 (1941). Im Fall Toledo Newspaper Co. v. Dnited States 247 D.S. 402 (1918) hatte der Supreme Court noch auf die Relevanz der Einwirkung abgestellt. Zur historischen Entwicklung siehe Bomkamm, Pressefreiheit, S. 10111'.; Medina-Report, S. 2f.

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(a) Das historische Argument: Abgrenzungswille vom englischen Recht Die langjährige Akzeptanz des c.o.c. in England spricht nach Ansicht des Supreme Court nicht dafUr, daß dieses Rechtsinstitut in den USA in gleicher Weise zulässig ist. Historisch wird vielmehr der Umkehrschluß gezogen: Ziel der Revolution und der Unabhängigkeitserklärung sei es gerade gewesen, das restriktive englische common law zur Einschränkung der Meinungsfreiheit aus dem Weg zu räumen. Die Bill of Rights habe das eindeutige Ziel verfolgt, allen Bürgern der Vereinigten Staaten ein größeres Maß an Meinungsfreiheit zu gewähren, als den Bürgern Großbritannien jemals zuteil geworden sei. 348 Mit diesem historischen Argument zu Beginn des wichtigsten Präzedenzfalles zur Justizkritik stellte der Supreme Court die Weichen für eine betont grundrechtsfreundliche Auslegung des ungeliebten Rechtsinstituts. (b) Philosophische Grundlagen des Rechts auf freie Meinungsäußerung Der Text des 1. Amendments gibt für die Auslegung des Grundrechts wenig her. "Congress shall make no law... abridging the freedom of speech, or of the press", lautet die wenig aussagekräftige Formulierung. So wurde bald die Notwendigkeit erkannt, die Meinungsfreiheit auf ein solides philosophisches Fundament zu stellen, um die Interpretation daran zu orientieren. Die Theorien zu Sinn und Zweck des Grundrechts werden dargestellt, da sie die Argumentation der Gerichte stark beeinflussen und die hohe Wertschätzung erklären, die Meinungs- und Pressefreiheit im amerikanischen Verfassungsrecht genießen. (aa) Die "self-fulfi1lment"-Theorie Nach der ersten Theorie dient die Meinungsfreiheit der Selbstentfaltung und Selbsterfii1lung des Einzelnen. Dieser "self-fulfi1lment"-Gedanke entspricht dem, was zur subjektiv-rechtlichen Ausprägung des Art. 5 I GG gesagt worden ist. 349 Nur wer sich frei äußern darf, kann sein Wesen und seine Fähigkeiten entwickeln. Die besondere Bedeutung gerade der Meinungsfreiheit für die Würde der Person ergibt sich daraus, daß jeder Mensch vorwiegend über das symbolische System der Sprache mit anderen kommuniziert. Das Grundrecht ist danach Weg und Ziel der Selbstverwirklichung, das Geheimnis auf dem Weg zum Glücklichsein. 350 Die Selbsterfilliungstheorie sieht sich zwei Einwänden Bridges v. Califomia 314 U.S. 252, 264f. (1941). Siehe oben Zweiter Teil B I 1. 350 Siehe zu dieser Theorie: Justice Brandeis, in Whitney v. Califomia 274 U.S. 357, 375 (1927); Emerson, The system of freedom of expression, S. 6; Stone/SeidmanJ SunsteinlTushnet, Constitutional Law, S. 1021. 348 349

12*

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

ausgesetzt. Sie könne nicht erklären, wanun gerade die Meinungsfreiheit privilegiert wird, obwohl der Mensch durch unterschiedlichste, in den Schutzbereich anderer Grundrechte fallende, Aktivitäten sein Glück suche. 351 Zum anderen vernachlässige diese Lehre die Bedeutung des Grundrechts für die Demokratie. m An diesen Einwänden trifft zu, daß die "self-fulfillment"-Theorie allein die konstitutive Bedeutung der Meinungsfreiheit nicht erklären kann. (bb) Die "self-governance"-Theorie Den Gegenpol zur "self-fulfillment"-Lehre bildet die "self-governance"Theorie, die das Grundrecht der freien Meinungsäußerung ganz in den Dienst des Demokratieprinzips stellt. In einer demokratischen Gesellschaft geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Es stehe daher allein den Bürgern zu, sich selbst zu regieren, indem sie Entscheidungen treffen und kontrollieren. Voraussetzung für einen demokratischen Entscheidungsprozeß sei, daß jeder Bürger das gleiche Recht habe, seine Meinung zu äußern und damit seinen Teil zum staatlichen Handeln beizutragen. 3s3 Diese von Alexander Meiklejohn entwickelte Theorie, die noch sehr an das demokratische Urideal von der Bürgerversammlung auf dem Marktplatz erinnert, betont damit gleichzeitig Legitimations- und Kontrollfunktion der öffentlichen Meinung. 3s4 Die "self-governance"-Theorie mag dem ursprünglichen Ideal der Verfassungsväter entsprechen, wird aber als von der geschichtlichen Entwicklung überholt angesehen. Gerade in Amerika sei realer Einfluß auf die politische Willensbildung nur noch über gut organisierte "pressure groups" zu erlangen, die Politiker in Washington in ihrem Sinne zu beeinflussen versuchen. Im Konzert der Meinungen zähle die Stimme des einzelnen kaum noch etwas. 3SS Weiterhin wird dieser Theorie entgegengehalten, daß sie private Meinungsäußerungen gegenüber politischen Stellungnahmen abqualifiziere und damit nur einen kleinen Bereich möglicher Redeinhalte theoretisch abstütze. 3S6 Für sich genommen bildet daher auch die "self-governance"Lehre kein tragfahiges Konzept.

Vgl. Stone/SeidmanlSunsteinffushnet, Constitutional Law, S. 1022. Tribe, American Constitutional Law, S. 788. 3S3 Vgl. zu dieser Theorie: Stone/SeidmanlSunsteinffushnet, Constitutional Law, S. 1019; Emerson, The system offreedom of expression, S. 7. 3S4 Siehe dazu oben Zweiter Teil B I 2 a und c. 3SS Vgl. Stone/SeidmanlSunsteinffushnet, Constitutional Law, S. 1021. 3S6 Tribe, American Constitutional Law, S. 786f.; vgl. Stone/SeidmanlSunsteini Tushnet, Constitutional Law, S. 1019. 3S1

3S2

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(ce) Die "safety valve"-Theorie Die "safety valve" Theorie entspricht vollinhaltlich dem Gedanken der Integrationsfunktion der öffentlichen Meimmg. 357 Danach fUhrt die Gewährleistung der MeinWlgsfreiheit zu einem größeren Zusammenhalt in der Gesellschaft. Menschen seien eher bereit, fiir sie Wlangenehme staatliche EntscheidWlgen zu akzeptieren, wenn sie durch ihre MeinWlgsäußerWlg an dem EntscheidWlgsprozeß beteiligt waren. Das GrWldrecht bilde ein "Sicherheitsventil", so daß die Gesellschaft sich durch Diskussion fortentwickeln könne, ohne sich selbst zu zerstören. ,,1t is an essential mechanism for maintaining the balance between stability and change. "358 Kritiker dieser Theorie meinen, daß ein scharfer öffentlicher MeinWlgskampf eher zur ZersplitterWlg der Gesellschaft als zu ihrem Zusammenhalt fUhrt. 359 Auch die Integrationsfunktion der öffentlichen MeinWlg kann das GrWldrecht nicht sinnvoll erklären. Insbesondere stellt eine ÜberbetonWlg dieses Aspekts die Kontrolle der öffentlichen Gewalt immer Wlter den Vorbehalt, daß sie das Vertrauen der Bürger in die staatlichen Organe nicht beschädigen darf. (dd) Die "seareh for truth"-Theorie Die "seareh for truth"-Theorie ist die in RechtsprechWlg Wld Literatur am meisten rezipierte GrWldlage der Meinungsfreiheit. Sie nimmt den geistesgeschichtlichen Hintergrund der amerikanischen VerfassWlg auf, indem sie dem aufklärerischen Ideal anhängt, daß die Wahrheit aus der offenen Diskussion verschiedener MeinWlgen durch vernunftbegabte Individuen hervorgeht. Der Richter (,,Justice") Holmes hat das wie folgt formuliert: ,,( ... ) the ultimate good desired is better reached by free trade in ideas - ( ... ) the best test of truth is the power of the thought to get itself accepted in the competition of the market. "360 Diese Lehre wird teilweise mit dem Schlagwort des ,,marketplace of ideas" bezeichnet, auf dem immer die Kraft der Vernunft siege. Aus dieser Theorie folgt aber nicht, daß nur vernünftige und inhaltlich zutreffende ÄußerWlgen geschützt sind. Enthält eine MeinWlg sowohl wahre als auch falsche Elemente, ist sie schützenswert, da sie zumindest einen Teil zur WahrheitsfindWlg beiträgt. Auch Wlwahre Aussagen sind geschützt. Sie sorgen dafiir, daß auch über anerSiehe oben Zweiter Teil B I 2 b. Emerson, The system of freedom of expression, S. 7. 359 Vgl. Stone/Seidman/SunsteiniTushnet, Constitutional Law, Ist edition, S. 937. 360 Abrams v. United States 250 U.S. 616, 630 (1919). Elemente dieser Theorie finden sich in dem zu Art. 5 I GG entwickelten Gedanken, daß die Meinungsfreiheit der Information der Bevölkerung und der freien Meinungsbildung dient, siehe oben Zweiter Teil C I 2 c. 357

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

kannt wahre Tatsachen immer wieder diskutiert werden muß und diese nicht zwn leblosen Dogma erstarren. 361 Kritiker werfen der "seareh for truth"-Theorie vor, daß sie den Charakter moderner Kommunikation verkenne. Über die Medien nähmen unvernünftige und emotionale Äußerungen erheblich größeren Einfluß auf das Denken der Menschen als die vernünftige und rationale Stellungnahme. Auch sei der Marktplatz der Ideen durch den Einfluß mächtiger Gruppen weitgehend außer Kontrolle geraten. 362 Ferner vernachlässigt diese Theorie die Bedeutung des Grundrechts für die individuelle Selbstentfaltung und kann daher nicht das alleinige Fundament der Meinungsfreiheit sein. (ee) Die Kombination der Theorien Im Laufe der Zeit hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß alle vier genannten Lehren einen Teil des Grundrechts erklären und daher nebeneinander anzuwenden sind. 363 Selbsterfiillung und Suche nach persönlichem Glück bilden die subjektiv-rechtliche Ausprägung, demokratische Selbstbestimmung, Integration der Gesellschaft und Wahrheitssuche die objektive Dimension des 1. Amendment. Wegen dieser mehrfachen philosophischen Absicherung gilt in Amerika die Meinungsfreiheit als eine "preferred freedom" und kann bei der Abwägung mit kollidierenden Verfassungs gütern oft höheres Gewicht beanspruchen. Diesem meinungsfreundlichen Ansatz ist der Supreme Court auch bei der Auslegung der contempt-Befugnisse gegenüber außergerichtlichen Einflußnahmen gefolgt. (c) Der Einwand der Besonderheit der Gerichtssphäre Im Sondervotum zwn Bridges-Urteil, dem wichtigsten "precedent" zur Justizkritik, wird die These vertreten, daß Kritik an Gerichten nicht mit der ohne weiteres zulässigen Kritik an Regierung und Parlament gleichgesetzt werden darf. Nach diesem Einwand der Besonderheit der Gerichtssphäre364 ist ein Prozeß kein Marktplatz der Ideen, sondern ein Ort, an dem der Diskussion strikte prozessuale Grenzen gesetzt sind. 365 Zwar erkennt auch die Mehrheit des Supreme Court an, daß Prozesse nicht wie politische Wahlen gewonnen werden, indem sich die Beteiligten in Versammlungshallen, Rundfunk oder Presse MiH, On Liberty and Utilitarianism, S. 19ff. Vgl. Stone/SeidmanlSunstein!fushnet, Constitutional Law, S. 1018. 363 Stone/SeidmanlSunstein!fushnet, Constitutional Law, S. 1024; Tribe, American Constitutional Law, S. 789; Emerson, The system of freedom of expression, S. 7. 364 Zu dem entsprechenden Einwand in Deutschland siehe oben Zweiter Teil B I 2 c 361

362

aa.

365

Justice Frankfurter, in: Bridges v. Califomia 314 U.S. 252,283 (1941).

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äußern. 366 Dennoch müsse sich die Justiz wie alle anderen Staatsgewalten der Kritik stellen. 367 Der Supreme Court hat sein Bild von einem offenen Verfahren mit Worten ausgedrückt, die der EGMR später in seiner Rechtsprechung zu Art. 10 I, 11 EMRK wörtlich übernommen hat368 : Die Justiz könne nicht in einem Vakuum funktionieren. "The administration ofthe law is not the problem ofthe judge or prosecuting attorney alone, but necessitates the active cooperation of an enlightened public ( ... )" Zudem bilde die öffentliche Diskussion ein Gegengewicht zu politischem und wirtschaftlichem Druck, dem die Justiz in aufsehenerregenden Fällen regelmäßig ausgesetzt sei. 369 Kritik bedeutet demnach eine Hilfe für die Arbeit der Rechtsprechung, nicht nur eine Gefahr. Sie ist als Ausdruck der Kontrollfunktion der öffentlichen Meinung Korrektiv gewachsener Richtermacht und darf als solche auch falsch, herabsetzend. sarkastisch oder gemein sein. 370 Die Zulässigkeit der Urteils schelte sieht sich damit in Amerika keinen prinzipiellen Einwänden mehr ausgesetzt. (2) Grenzen der Justizkritik (a) Der dogmatische Ansatz bei der Schrankenziehung Sind sich Rechtsprechung und Literatur in ihrer Wertschätzung der Meinungsfreiheit noch einig, so bilden die theoretischen Ansätze zur Bestimmung der Grenzen des Grundrechts ein verwirrendes Bild. Zwar ist angesichts der unzählbaren sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten und vielfältigster potentieller Auswirkungen einer Meinungsäußerung nur schwer eine scharfe Grenze zu ziehen. Ein Mindestmaß an Vorhersehbarkeit muß aber erstrebt werden, wenn die Reichweite des Grundrechts nicht vollständig von Ermessenserwägungen der Gerichte bestimmt werden soll. Es haben sich im wesentlichen drei verschiedene Interpretationsansätze herausgebildet.

Bridges v. Califomia 314 U.S. 252,283 (1941). Craig v. Hamey 331 U.S. 367, 374 (1947). 368 Vgl. EGMR, EuGrZ 1979, S. 386 (390), im Sunday Times-Fall; siehe oben Zweiter Teil C 11 2 a aa (3) (b) (bb). 369 Wood v. Georgia 370 U.S. 375, 390f. (1962); vgl. EGMR, EuGRZ 1979, S. 386 (390). 370 Justice Murphy, in: Pennekamp v. Florida 328 U.S. 331, 370 (1946). Ähnlich äußert sich im Ergebnis auch Justice Frankfurter in Bridges v. Califomia 314 U.S. 252, 289 (1941): "Therefore judges must be kept mindful of their limitations and of their ultimate public responsibility by a vigorous stream of criticism expressed with candor however blunt." 366 367

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

(aa) Die absolute Theorie Aus dem Verfassungstext ("Congress shall make no law... ") entnehmen einige, daß eine gesetzliche Einschränkung der Meinungsfreiheit schlechthin unzulässig sei. 311 Diese Ansicht hat zwar den Vorteil einer klaren Grenzziehung fiir sich, ordnet aber die Meinungsfreiheit pauschal allen noch so wichtigen Verfassungsrechten über. Damit wurde sie dem Einzelfall nicht gerecht und erwies sich als unpraktikabel. (bb) Die "ad hoc balancing"-Theorien Die Gegenposition geht davon aus, daß im Einzelfall eine Abwägung vorzunehmen ist, bei der von vornherein weder die Meinungsfreiheit noch das kollidierende Verfassungsrecht Vorrang beanspruchen kann. lustice Frankfurter folgte dieser Lehre in seinem Sondervotum zu einem c.o.c.-Fall. ,,A free press is not to be preferred to an independent judiciary, nor an independent judiciary to a fair press. Neither has primacy over the other; both are indispensable to a free society. "312 Ausgehend vom "ad hoc balancing test" sind einzelne Richter im Gegensatz zur Senatsmehrheit zur Zulässigkeit der contempt-Bestrafung gelangt. Dieser Ansatz geht auf Kosten der Meinungsfreiheit, der die konstitutive Bedeutung abgesprochen wird, die ihr nach der historischen und philosophischen Analyse zukommt. Er hat sich in der Rechtsprechung des Supreme Court nicht durchgesetzt. (cc) Vermutungsformeln zugunsten der Meinungsfreiheit Verschiedene, in Einzelheiten unterschiedliche, Ansätze313 gehen von der Annahme aus, daß zwar eine Einzelfallabwägung stattfmden muß, dabei aber der herausragenden Bedeutung der Meinungs- und Pressefreiheit Rechnung zu tragen ist. Dieser Abwägung liegt eine weitere Differenzierung zugrunde. Die Gerichte unterscheiden zunächst danach, ob ein Verbot "content-neutral" oder "content-based" ist. "Content neutral" sind alle Einschränkungen, die eine Meinung unabhängig von ihrem Gedankeninhalt betreffen. 314 In diesem Bereich dürfen Schranken eher gezogen werden als im Bereich von Regelungen, die 311 Hauptvertreter dieser Lehre war Justice Black, vgl. dazu Beauhamais v. Illinois 343 U.S. 250, 275; ausführlich Bornkamm, Fairness des Strafverfahrens, S. 121ft". 312 Pennekamp v. Florida 328 U.S. 331,355 (1946); ähnlich Justice Harlan in Wood v. Georgia 370 U.S. 375,396 (1962). 313 Einen Überblick gibt Brugger, Einführung in das öft". Recht der USA, S. 139ft". 314 Z.B. Regelungen, die aus Gründen der Sauberkeit der Straßen oder der Flüssigkeit des Verkehrs erlassen werden; dazu Brugger, Einführung in das öft". Recht der USA, S; 146ft".

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eine Meinung gerade wegen ihres Inhalts oder ihrer schädlichen geistigen Wirkungen verbieten wollen. "Content-based restrictions" sind also solche, die im deutschen Recht schon nach Art. 5 11 GG als Sondergesetze gegen die Meinungsfreiheit unzulässig wären. "Content-based restrictions" werden wiederum danach unterschieden, ob sie wertvolle oder wertlose Gedankeninhalte betreffen. Wertlose Äußerungen ("low value speech")375 dürfen eher unterbunden werden als wertvolle (,,high value speech").376 Ein Verbot von Justizkritik betrifft eine Äußerung gerade ihres Inhaltes und ihrer geistigen Wirkungen wegen und ist daher "content-based". Als in der Demokratie zulässige Kritik an einer Staatsgewalt ist Urteilsschelte regelmäßig auch als ,,high value speech" einzustufen und gehört damit dem Bereich der Rede an, der nach dem 1. Amendment in höchstem Grad geschützt ist. Vor diesem Hintergrund ist der Supreme Court in allen Fällen zur Justizkritik den "dear and present danger test" angewendet. Außergerichtliche Einflußnahmen dürfen danach nur bestraft werden, wenn sie eine klare und gegenwärtige Gefahr für den ordnungsgemäßen Gang der Rechtsprechung darstellen, für diese ein empfindliches Übel ("substantive evil") bedeuten. Im Bridges-Urteil heißt es noch weiter einschränkend: " (... ) the substantive evil must be extremely serious and the degree of imminence extremely high before utterances can be punished. "377 Mit dieser Definition ist das Ergebnis der Einzelfallabwägung vorgezeichnet. Nur ein ganz eindeutiges Überwiegen der Interessen der Rechtsprechung rechtfertigt eine Bestrafimg wegen c.o.c. Bleiben geringste Zweifel am Vorliegen einer klaren und gegenwärtigen Gefahr, geht die Abwägun.g zugunsten der Meinungsfreiheit aus. 378 (b) Die Abwägungskriterien im Rahmen des "dear and present danger test" Die Einzelfallabwägung im Rahmen des "dear and present danger test" ist rechtsvergleichend von besonderem Wert. Die Präzedenzfälle geben Zeugnis 375 Z.B. konunerzielle Rede und obszöne Darstellungen; im einzelnen dazu Brugger, Einführung in das öfI. Recht der USA, S. 14ifI. 376 Stone/SeidmanlSunsteinlTushnet, Constitutional Law, S. 1024; Brugger, Einführung in das öfI. Recht der USA, S. 138. 377 Bridges v. Califomia 314 U.S. 252, 263 (1941). Der "c1ear and present danger test' kam erstmals im Fall Schenck v. United States 249 U.S. 47 (1919) zur Anwendung. 378 Im Fall Craig v. Hamey 331 U.S. 367, 376 (1947) heißt es dazu: "The danger must not be remote or even probable; it must inunediately imperil." Im Fall Pennekamp v. Florida 328 U.S. 331, 370 (1946) wird auf die negative Kettenreaktion ("chain reaction") hingewiesen, die jede einzelne contempt-Verurteilung fiir das Grundrecht der Meinungsfreiheit hätte.

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davon, welche VerfassWlgsgüter bei der Justizkritik der MeinWlgsfreiheit gegenüberstehen. Es wurden verschiedene Kriterien entwickelt, die für oder gegen die Zulässigkeit der Urteilsschelte sprechen. Gefahren exzessiver Kritik werden benannt, aber zum größten Teil relativiert. Im Ergebnis addierten sich die Umstände in den Präzedenzfällen niemals zu einer klaren Wld gegenwärtigen Gefahr beziehWlgsweise zu einem empfindlichen Übel. Der Supreme Court hat alle contempt-VerurteilWlgen der Vorinstanzen aufgehoben. 379 (aa) Die BestimmWlg der mit der MeinWlgsfreiheit kollidierenden Schutzgüter Die englische RechtsprechWlg zum contempt of court läßt sich seit jeher von der generellen Annahme leiten, daß das Rechtsinstitut dem Schutz des Ansehens sowie der Unparteilichkeit der RechtsprechWlg zu dienen bestimmt sei. Allein das Vorliegen eines der beiden Schutzzwecke rechtfertigt die Einschränkung der MeinWlgsfreiheit. Wegen der verfassWlgsrechtlichen Garantie im 1. Amendment ist der amerikanische Supreme Court dagegen zur GewichtWlg Wld Abwägwtg der einander gegenüberstehenden Rechtsgüter gezwungen. Er trennt die beiden genannten Schutzzwecke Wld kommt so zu einer wesentlich präziseren BeschreibWlg des juristischen Problems. (0.) Das Ansehen der RechtsprechWlg

Das höchste amerikanische Gericht hält einen durch Justizkritik drohenden Ansehensverlust der RechtsprechWlg grWldsätzlich nicht für eine Gefahr, die eine Einschränkung der MeinWlgsfreiheit rechtfertigt. Es gehöre zu den Rechten jedes Amerikaners, öffentliche Institutionen freimütig zu kritisieren. Dieser Kontrolle dürfe sich die RechtsprechWlg nicht durch die Berufimg auf einen drohenden Ansehensverlust entziehen. Schon die VorstellWlg, daß HochachtWlg vor der Justiz durch eine AbschirmWlg der Richter vor öffentlicher Kritik erreicht werden könne, hält der Supreme Court für verfehlt. Ein erzwungenes Schweigen rufe in stärkerem Maße VerstimmWlg, Argwohn Wld MißachtWlg hervor, als es das Ansehen der RechtsprechWlg steigere. 38o Das Gericht stellt sich auf den Standpunkt Kants, daß Ansehen nur derjenige verdient, der öffentliche Kritik hat überstehen können Wld bezieht sich damit ausdrücklich auf die AufldärWlg als FWldament der amerikanischen VerfassWlg. Es entzieht dem

379 Dabei spielte wohl auch das Mißtrauen gegen das sununarische Verfahren eine Rolle, vgl. Iustice Murphy, in: Craig v. Hamey 331 U.S. 367, 383 (1947); Emerson, The system of freedom of expression, S. 456. 380 Bridges v. Califomia 314 U.S. 252, 270f. (1941).

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contempt-Tatbestand der unzulässigen Justizkritik damit seine längst nicht mehr zeitgemäße Hauptrechtfertigung. (ß) Unabhängigkeit der Rechtsprechung und fairer Prozeß

Der legitime Schutzzweck des contempt-Rechts besteht darin, im Interesse der Rechtssuchenden die Unabhängigkeit der Richter und einen fairen Prozeßverlauf zu gewährleisten. Das Recht des Bürgers auf einen fairen Prozeß genießt wegen seiner Verankerung im 14. Amendment von 1868 einen hohen Stellenwert. Mit Hilfe seiner contempt-Befugnis kann der Richter verhindern, daß Medien und Öffentlichkeit zu Lasten der Prozeßbeteiligten das Tribunal zur Szene machen. 381 Aus der Eingrenzung des Schutzbereichs ergibt sich zunächst, daß Kritik während schwebender Verfahren besondere Gefahren mit sich bringt. Dagegen beeinflußt Urteilsschelte nach Beendigung des Verfahrens regelmäßig nicht mehr das Recht auf einen fairen Prozeß. Im Fall Pennekamp v. Floridal 82 hatte ein Richter eine Anklage wegen Vergewaltigung aus formellen Gründen nicht zur Hauptverhandlung zugelassen und wurde daraufhin in einer Zeitung scharf kritisiert. Die Bürger müßten sich fragen, so hieß es in dem Artikel, ob die Gerichte zum Zufluchtsort filr Rechtsbrecher heruntergekommen seien. Zusätzlich stellte eine begleitende Karikatur die Justiz als Gehilfin des Verbrechens dar. Der Supreme Court wertete hier zugunsten der Zeitung, daß die Kritik sich auf eine abgeschlossene juristische Entscheidung bezogen habe. Obwohl der Vergewaltigungsprozeß mit hoher Wahrscheinlichkeit noch zur Verhandlung gelangen werde, liege kein Eingriff in ein schwebendes Verfahren ("pending litigation") vor. Der Begriff des schwebenden Verfahrens wird - wie es im angloamerikanischen Rechtskreis üblich ist - wörtlich ausgelegt, Entscheidend ist laut Justice Frankfurter, daß die Kritik in dem Moment Gewicht in die Waagschale wirft, in dem das entscheidende Gericht den Fall noch selbst abwägt. In diesem Fall habe sich die Waagschale durch die Entscheidung des Richters gegen eine Verfahrenseröffnung bereits endgültig geneigt, als die Kritik einsetzte. 383 Mit der Eingrenzung des Schutzzwecks und der engen Definition des Begriffs "pending litigation" sind die Weichen filr eine grenzenlose Zulässigkeit der Urteils schelte gestellt. Ist ein Urteil gesprochen, kann die danach einsetzende

381 382 383

Vgl. Bridges v. Califomia 314 U.S. 252, 271 (1941). Pennekamp v. Florida 328 U.S. 331 (1946). Pennekamp v. Florida 328 U.S. 331, 369 (1946).

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Zweiter Teil: Private Urteils schelte

Kritik die Unabhängigkeit der Rechtsprechung und das faire Verfahren nonnalerweise nicht mehr beeinträchtigen. Ein möglicher Ansehensverlust der Justiz taugt nicht als Rechtfertigung für eine Bestrafung. Richtet sich die Schelte gegen ein Urteil, gegen das noch Berufung möglich ist, oder gegen eine Zwischenentscheidung in einem laufendenProzeß, ist sie ebenfalls zulässig, da sie nach der Auslegung des Supreme Court kein schwebendes Verfahren im engeren Sinne betrifft. (bb) Der Öffentlichkeitsbezug der Kritik Im Grundsatzurteil Bridges v. California384 stützt sich der Supreme Court auf einen Gedankengang, der die gesamte Rechtsprechung zur Meinungs- und Pressefreiheit wie ein roter Faden durchzieht. Danach sind Äußerungen zu privilegieren, wenn sie öffentliche, insbesondere politische Angelegenheiten betreffen. Im Bridges-Verfahren hatte das Gericht wegen der gleichen verfassungsrechtlichen Problemstellung zwei Fälle zusammengezogen. Der erste betraf einen Artikel der ,,Los Angeles Times". Darin hatte ein Journalist ein Gericht kurz vor der Entscheidung über die Strafzwnessung davor gewarnt, bei zwei wegen gefährlicher Körperverletzung an ihren Arbeitskollegen verurteilten Männern die Strafen zur Bewährung auszusetzen. Unter der Überschrift ,,Probation for gorillas?" wurde die Verwerflichkeit der begangenen Taten beschworen und einem namentlich genannten Richter mitgeteilt, ein Gnadenerweis gegenüber den Verurteilten wäre ein schwerer Fehler. Im zweiten Fall hatte Harry Bridges, Chef einer Hafenarbeitergewerkschaft, während eines laufenden Arbeitskampfes in einem Telegramm an den Arbeitsminister ein für seine Gewerkschaft nachteiliges Urteil als "schändlich" bezeichnet. In dem der Presse zugespielten Text kündigte er ferner an, daß seine Gewerkschaft für den Fall der Vollstreckung dieses Urteils den Hafen von Los Angeles lahmlegen und die gesamte Pazifikküste bestreiken werde.

Der anband dieser beiden Fälle entwickelte Gedanke des Öffentlichkeitsbezugs der Kritik hat drei Ausprägungen. (a) Die Bedeutung des Diskussionsthemas

Je bedeutender der Gegenstand eines Prozesses für die Öffentlichkeit ist, desto weiter reicht das Recht auf Kritik. Häufig betreffen Prozesse Streitfragen, die in der Öffentlichkeit schon vorher heftig diskutiert wurden. Nähme man ein Gericht während des laufenden Verfahrens vollständig in Schutz, so wäre damit 384

Bridges v. Califomia 314 U.S. 252 (1941).

C. Grenzen privater Urteils schelte

189

ein Diskussionsverbot für das gesamte die Öffentlichkeit interessierende Thema verbooden. Bei wichtigen Themen muß daher auch während des Verfahrens eine weitgehende Redefreiheit bestehen. 385 Im Fall des Gewerkschaftsführers Harry Bridges waren die ÄußefWlgen im Rahmen eines Arbeitskampfes gefallen, der neben den Gerichten auch die Bürger Kaliforniens stark beschäftigt hatte. Das GrWldrecht der Meinoogsfreiheit gebot daher, daß dieses für die Öffentlichkeit bedeutsame Thema weiterhin frei diskutiert werden konnte. (ß) Der Zeitpunkt der Kritik

Weiterhin darf Kritik an gerichtlichen Entscheidoogen nicht zu der Zeit 00terbooden werden, zu der das öffentliche Interesse an dem Fall auf seinem Höhepunkt ist. 386 Damit nimmt der Supreme Court die GrWldregeln moderner Massenkommunikation in seine Rechtsprechoog auf. Die meisten Themen beschäftigen die von den Medien ooterrichtete Öffentlichkeit nur für kurze Zeit ood verlieren schnell an Aktualität. Gerade die Eröffnoog eines spektakulären Prozesses kann der Zeitpunkt sein, an dem das allgemeine Interesse seinen Höhepunkt erreicht. Ein gerade in diesem Moment einsetzendes Kritikverbot wäre ein schwerer Eingriff in das GrWldrecht. Es wäre unrealistisch, die Medien auf die Möglichkeit früherer oder späterer BerichterstattWlg zu vertrösten. Jedes Thema hat eine kurze Blütezeit ood wird entweder dann oder überhaupt nicht mehr diskutiert. Es droht die Gefahr, daß wichtige Diskussionsgegenstände ooter den Tisch fallen, was dem Zweck des 1. Arnendment gerade zuwiderläuft. Im Fall Bridges sprach auch dieses Argument zugWlSten des Gewerkschaftschefs. Mit dem Urteil gegen die Gewerkschaft ood dessen drohender VollstreckWlg trieb der Arbeitskampf auf seinen Höhepunkt zu. Die Verhängoog einer contempt-Strafe hätte die GrWldrechtsausüboog gerade in dem Zeitpunkt getroffen, in dem sie für Medien ood Öffentlichkeit am wichtigsten war. (y) Kritik, die ohnehin zu erwarten war

Die Kriterien der Bedeutung des Diskussionsthemas ood des Zeitpunktes öffentlicher Kritik haben über die "Vermutungsformel" auch in die deutsche Rechtsprechoog Eingang gefunden. 387 Die dritte Folge, die der Supreme Court aus dem AbwägoogsgfWldsatz des Öffentlichkeitsbezugs abgeleitet hat, ist

m Bridges v. Califomia 314 U.S. 252, 268f., 277f. (1941); Wood v. Georgia 370 U.S. 375, 392 (1962). 386 Bridges v. Califomia 314 U.S. 252, 268f. (1941); Wood v. Georgia 370 U.S. 375, 392 (1962). 387 Siehe dazu oben Zweiter Teil C I 4 b.

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

dagegen nicht rezipiert worden. Danach muß sich ein Gericht verstärkt Kritik gefallen lassen, wenn diese ohnehin zu erwarten war. So sprach es in dem Fall der Vorabkritik der ,,Los Angeles Times" an einer Strafaussetzung zur Bewähnmg für die Zulässigkeit der freien Rede, daß die Zeitung wegen ihres Einsatzes für ,Jawand order" bekannt war und der Richter von deren Seite für jedes milde Urteil Schelte zu erwarten hatte. 388 Was hinter dieser Argwnentationsfigur steht, macht der Supreme Court im Fall des Harry Bridges deutlich: Dem mit dem Prozeß gegen die Gewerkschaft betrauten Gericht hätte klar sein müssen, daß die Arbeitnehmer auf ein negatives Urteil mit einem - nach kalifornischem Recht zulässigen - Streik reagieren würden. Die explizite Streikdrohung habe nur den ohnehin zu erwartenden Gang der Dinge bestätigt, ihre Einschüchtenmgswirkung sei mithin gering gewesen. "If there was electricity in the atmosphere, it was generated by the facts; the charge added by Bridge's telegram can be dismissed as negligible. "389 Erneut wird hier auf die Kommunikationsbedingungen abgestellt. Eine ohnehin stark aufheizte öffentliche Diskussion darf danach nicht durch contempt-Bestrafungen abgekühlt werden, wenn die Gerichte nur bei Gelegenheit dieser Debatte unter Druck geraten. 390 (cc) Die Person des Kritikers Die amerikanische Rechtsprechung differenziert ferner nach der Person des Kritikers. Dabei sind Stellungnahmen von Privaten, insbesondere der Medien, und Schelte durch Amtsträger zu unterscheiden. (0.) Medienkritik

Medienkritik an der Justiz darf nicht nur herabsetzend, sarkastisch und unfair3 91 sein. Der Supreme Court äußert auch Verständnis für inkompetente Äußenmgen. Die Rechtsprechung darf sich nicht unter Hinweis auf die Ignoranz ihrer Kontrolleure der Kritik entziehen. 392 Normalerweise würden Gerichtsberichte von juristischen Laien geschrieben, so daß Ungenauigkeiten nicht tadelnswert und sogar unvermeidlich seien. ,,For the law, as lawyers best know, Bridges v. California 314 U.S. 252, 273 (1941). Bridges v. California 314 U.S. 252, 278 (1941). 390 Vollständig überzeugend ist das Kriterium der Kritik, die ohnehin erwartet werden durfte, im Fall von Harry Bridges indes nicht. Zurecht weist Justice Frankfurter in seinem Sondervotum [314 U.S. 252, 303 (1941)] darauf hin, daß ein erheblicher Unterschied besteht zwischen der abstrakt bestehenden Möglichkeit einer Urteilsschelte durch Streik und der konkret ausgesprochenen Drohung, die gesamte Westküste der Vereinigten Staaten zu bestreiken. 391 Zur Zulässigkeit unfairer Kritik: Craig v. Harney 331 U.S. 367, 376 (1947). 392 Zum Ignoranzargument in Deutschland siehe oben Zweiter Teil B I 2 c dd. 388

389

C. Grenzen privater Vrteilsschelte

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is full of perplexities." Ein gewisses Maß an unrichtiger Darstellung müsse hingenommen werden, da die Presse sonst ihrer demokratischen Kontrollftmktion beraubt werde, die sich auf die Rechtsprechung wie auf jede andere Ausübung von Regierungstätigkeit erstrecke. 393

(ß) Kritik durch Amtsträger Das Problem einer Urteilsschelte durch Amtsträger war im Fall Wood v. Georgia394 zu lösen. Ein Gericht in Bibb Country/Georgia hatte während des laufenden Wahlkampfes ein Verfahren wegen Wahlfiilschung eröffnet, in dem sich ausschließlich Bürger schwarzer Hautfarbe zu verantworten hatten. Der um seine Wiederwahl kämpfende Sheriff des Ortes sah daraufhin die Gelegenheit gekommen, sich bei der farbigen Bevölkerung Sympathien zu verschaffen. Er warf den Richtern vor, sie betrieben mit der Eröffnung des Verfahrens Rassenhetze. Das Vorgehen gegen die Angeklagten gemahne an Ku Klux Klan-Methoden. Obwohl der Sheriff eine staatliche Stelle bekleidete, wurde ihm ohne weiteres die Berufung auf das 1. Amendment zugestanden. Im weiteren gingen die Ansichten auseinander. Die Richter Harlan und Clark wiesen in ihrer abweichenden Meinung darauf hin, daß der Sheriff nach dem Recht von Georgia für die Vollstreckung von Gerichtsbeschlüssen verantwortlich sei und die Ordnungsgewalt im Gerichtssaal ausübe. Daher schwinge in seinen kritischen Worten über das Gericht ein amtlicher Unterton mit, der seiner Äußerung mehr Gewicht gäbe als derjenigen eines einfachen Bürgers. 39S Die Richtermehrheit im Supreme Court hielt dem Amtsträger dagegen zugute, daß er nicht in seiner Eigenschaft als Sheriff Stellung bezogen habe und deshalb von seinem Verhalten keine größere Gefahr für die Unabhängigkeit der Rechtsprechung und den fairen Prozeß ausgegangen sei als von der Kritik irgendeines Privatmannes. Die Vermutung für die freie Rede werde sogar dadurch verstärkt, daß der Sheriff im politischen Leben stehe. Wegen ihrer bedeutenden Rolle in der Demokratie dürften sich gewählte Repräsentanten des Staates zu allen Fragen von öffentlichem Interesse frei äußern. 396 Stellungnahmen aus dem Munde eines Amtsträgers bilden somit kein Indiz für das Vorliegen einer "clear and present danger". Für den Vergleich mit dem deutschen Recht ist festzuhalten, daß nach der Rechtsprechung des Supreme

393 394 395 396

Pennekamp v. Florida 328 V.S. 331, 371f. (1946). Wood v. Georgia 370 V.S. 375 (1962). Wood v. Georgia 370 V.S. 375,401 (1962). Chief Iustice Warren, in: Wood v. Georgia 370 V.S. 375, 393f. (1962).

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

Court gewählte staatliche Repräsentanten viehnehr als zur Ausübung des Grundrechts besonders Berufene gelten. (dd) Die Person des Kritisierten Urteilsschelte kann sich auf Berufsrichter und Laienrichter - in den USA in der Regel Geschworene - beziehen. (a) Der Berufsrichter

In den Fällen Bridges, Pennelcamp und Craig standen jeweils Berufsrichter im Mittelpunkt der Schelte. Es war daher zu klären, welches Maß an Kritik einem Richter zugemutet werden kann, ohne daß dessen Unabhängigkeit in Gefahr gerät. Da die Anwendung des contempt-Rechts nicht vom Grad der Empfindlichkeit des jeweils angegriffenen Richters abhängig sein kann, mußte ein genereller Maßstab gefunden werden. Eine Minderheit im Supreme Court hielt dabei Richter im gleichen Maße wie andere Menschen für anflUlig gegenüber öffentlicher Einflußnahme. "Judges are not merely the habitations of bloodless categories of the law which pursue their predestined ends", heißt es bei Justice Frankfurter. 397 Je nach Typ könnten empfindliche Richter bei massiver Kritik entweder sofort nachgeben oder gerade umgekehrt an einer falschen Auffassung festhalten, um nicht der Unschlüssigkeit oder Schwäche geziehen zu werden. Nach Ansicht von Justice Jackson besteht die Gefahr, daß Richter sich in vorauseilendem Gehorsam den Erwartungen der Öffentlichkeit anpassen, um Lob für ihre Entscheidungen zu ernten: "Who does not prefer good to ill report of his work? And if fame - a good public name - is, as Milton said, the 'last infinnity of the noble mind', it is frequently the first infinnity of a mediocre one."398 Dagegen folgt die Senatsmehrheit auch in diesem Punkt ihrer grundrechtsfreundlichen Linie, indem sie an die Persönlichkeit des Richters höhere Erwartungen knüpft. Das contempt-Recht sei nicht zum Schutze solcher Personen geschaffen worden, die für Einflüsse der öffentlichen Meinung besonders empfänglich sind. Dem englischen Ideal des in größter Abgeschiedenheit urteilenden Richters der Krone stellt der Supreme Court sein Bild vom unerschütterlichen, in der öffentlichen Auseinandersetzung gestählten Richters entgegen: ,,Judges are supposed to be men of fortitude, able to thrive in a hardy cli-

397 Craig v. Hamey 331 U.S. 367, 392 (1947). 398 Craig v. Hamey 331 U.S. 367, 396 (1947).

C. Grenzen privater Vrteilsschelte

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mate. "399 Einem dennaßen beschaffenen Berufsrichter ist ein großes Maß an Kritik zuzumuten, bevor Zweifel an seiner Unabhängigkeit erlaubt sind.

(ß) Die Geschworenen Im Fall Wood bestand nicht nur die Besonderheit, daß ein Amtsträger Urteilsschelte übte. Hinzu kam, daß die Kritik zwar zunächst den Richter traf, in Wahrheit aber Einfluß auf die Geschworenen nahm, die über die Anklage wegen Wahlfiilschung zu entscheiden hatten. Daraus zog eine Mindenneinung im Gericht den Schluß, daß eine klare und gegenwärtige Gefahr fiir einen fairen Verfahrensablauf und die Unabhängigkeit der Geschworenen gegeben sei. Für einen Geschworenen könnten nicht die gleichen Maßstäbe gelten wie fiir einen Berufsrichter. Ein Laie müsse sich beeinflußt fühlen, wenn er aus dem Munde eines Amtsträger höre, daß die fiir die Verfahrenseröffnung verantwortlichen Richter Rassisten seien. 4°O Auch die Mehrheit des Gerichts hält Kritik an Geschworenen fiir gefährlicher als Kritik an Berufsrichtem. Doch stellt sie den Gedanken in den Vordergrund, daß auch ein Geschworenengericht nicht in einem Vakuum funktionieren könne. 401 Ein zwingendes Indiz fiir das Vorliegen einer "clear and present danger" läßt sich aus der Person des Kritisierten damit nicht gewinnen. Kritik an Geschworenen darf regelmäßig nicht als c.o.c. bestraft werden, selbst wenn sie von einer staatlichen Stelle geäußert wird.

(ee) Verbot von Zwang und Einschüchterung Trotz der Freisprüche in allen Präzedenzfällen ist es fiir den Supreme Court theoretisch denkbar, daß es wegen außergerichtlicher lustizschelte zu einer Verurteilung wegen c.o.c. kommen kann. Die Grenze zur "clear and present dang er" ist fiir den Gerichtshof dort überschritten, wo die Kritik in Zwang ("coercion") oder Einschüchterung ("intimidation") umschlägt.402 Allerdings sprechen die Fälle Bridges, Pennekamp, Craig und Wood40J eine deutliche Sprache. Wenn die Ankündigung des Gewerkschaftschefs Harry Bridges, die amerikanische Westküste lahmzulegen, nicht als ,,zwang" gewertet wird, sind 399 Craig v. Hamey 331 V.S. 367, 376 (1947). 400 Wood v. Georgia 370 V.S. 375,402 (1962). 401 Wood v. Georgia 370 V.S. 375, 390 (1962); im einzelnen siehe oben Zweiter Teil C n 2 a bb (1) (b) (ee). 402 Pennekamp v. Florida 328 V.S. 331, 346 (1946); ähnlich Bridges v. Califomia 314 V.S. 252,291 (1941). 403 Der Supreme Court hat die Grundsätze aus diesem Vrteil zuletzt im Fall Landmark Communications, Inc. v. Virginia 435 V.S. 829, 845 (1978) bestätigt. Zustimmung zu dieser Rechtsprechung bekundet auch die Literatur: Emerson, The system of freedom of expression, S. 457ff; Medina-Report, S. 10f. 13

Mishra

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

schwerlich Fälle von Zwangswirkung denkbar. Wenn der Vorwurf von Ku Klux Klan-Methoden von seiten eines Amtsträgers die Geschworenen nicht einschüchtert, was soll sie dann noch das Fürchten lehren? Die amerikanische Rechtsprechung bevorzugt im Konfliktfall die Meinungsfreiheit. Der contemptTatbestand der unzulässigen Justizkritik ist praktisch abgeschafft. Amerika darf als das Land der unbegrenzten Urteilsschelte gelten. b) Der Schutz der dritten Gewalt im deutschen Recht Im deutschen Recht gibt es kein dem contempt of court entsprechendes Rechtsinstitut. Vereinzelt finden sich Vorschriften, die zum Schutz der dritten Gewalt mittelbar das Recht zur Urteilsschelte einschränken. Zu denken ist vor allem an die §§ 169ff. GVG, die den Ausschluß der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen regeln und damit den Zugang zur Information über das Zustandekommen eines Urteils versperren. Diese Vorschriften beschränken nicht das Grundrecht der Meinungsfreiheit sondern die Informationsfreiheit, da sie es dem Bürger bereits verbieten, sich über die allgemein zugängliche Informationsquelle "Gerichtsverhandlung" ungehindert zu unterrichten. 404 Soweit sie Medienvertretern den Zugang versperren, stellen sie einen Eingriff in die Presse- beziehungsweise Rundfreiheit dar. Beide Grundrechte erlauben den in diesen Medien tätigen Personen, sich über Vorgänge in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung zu informieren und darüber zu berichten. 405 Maßstab fiir die Zulässigkeit der §§ 169ff. GVG bleibt damit aber in jedem Fall Art. 5 11 GG.

Nach Art. 5 11 GG dürfen Gesetze das Recht zur Urteilsschelte nur einschränken, wenn sie zum ersten allgemein und zum zweiten zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sind. Zweck der hier untersuchten Normen ist der Schutz der dritten Gewalt. Genauer gesagt geht es um zwei Zwecke, die getrennt untersucht werden: den Schutz des Ansehens der Rechtsprechung und den Schutz der richterlichen Unabhängigkeit.

aa) Schutzzweck des Ansehens der Rechtsprechung (1) Gewichtung des Schutzzwecks Jede staatliche Einrichtung hat ein Interesse daran, in der Öffentlichkeit in möglichst gutem Licht zu erscheinen. Ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen 404 405

Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 639. BVerfG, NJW 1979, S. 1400 (1401); BVerfG, NJW 1995, S. 184 (185).

c. Grenzen privater Urteilsschelte

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den Bürgern und den Gerichten ist in der Demokratie ein erstrebenswerter Zustand. Auch ist es ein Zweck der Meinungsfreiheit, eine Integration zwischen Staatsvolk und Staatsgewalt anzustreben. 406 Der Schutz des Ansehens und der Würde der Rechtsprechung ist demnach ein legitimer Zweck. Damit ist jedoch noch nicht ausgesagt, wie hoch dieses Schutzgut zu bewerten ist, wenn es mit den Grundrechten aus Art. 5 I GG in Konflikt gerät. Für eine Wertschätzung. dieses Schutzgutes spricht, daß eine der Lächerlichkeit oder der Verachtung preisgegebene Justiz Schwierigkeiten hätte, die ihr übertragene Aufgabe der Wahrung und Durchsetzung der Rechtsordnung wahrzunehmen. 407 Ein Mindestmaß an Beachtung äußerer Formen gegenüber den Richtern ist auch im Gerichtssaal erforderlich, damit aus dem Prozeß der Wahrheitsfindung kein Schauspiel wird. 408 Diese anzuerkennenden Prämissen zeigen aber gerade, daß die Würde den Gerichten nicht um ihrer selbst willen zusteht. Vielmehr benötigen sie den Respekt der Rechtsgemeinschaft, um ihre Funktion erfiillen zu können. Gerichte sollen tatsächlich und rechtlich die Wahrheit ermitteln. Zu diesem Zweck müssen Richter, Prozeßbeteiligte und Zeugen vor Einflußnahmen und der Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts geschützt werden, im Gerichtssaal muß ein sachliches Verhandlungsklima bestehen. Eine nicht im Dienst des fairen Verfahrens stehende, begriffiich davon getrennte Würde des Gerichts ist hingegen nicht schützenswert. Wie andere staatliche Gewalten haben Gerichte keinen Anspruch auf einen besonderen Achtungserweis. Eine Besonderheit der Gerichtssphäre in Bezug auf Kritik ist nicht anzuerkennen. 409 Die Integrationswirkung der öffentlichen Meinung spricht ebensowenig fiir den Schutzzweck des Ansehens der Rechtsprechung. Im Konfliktfall hat die Kontrollfunktion der Meinungsfreiheit Vorrang, selbst wenn die Aufdeckung von Mißständen den Bürger mißtrauisch macht. Sähe man die Würde einer Staatsgewalt als gleichwertiges Schutzgut gegenüber der Meinungsfreiheit an, wäre das bewußt gegen den Staat erkämpfte Grundrecht weitgehend entwertet. 4lO Hinzu kommt, daß ein Kritikverbot zur Erreichung des Zwecks eines höheren Ansehens der Rechtsprechung ungeeignet wäre. Würde kann nicht kraft Amtes bestehen und auf juristischem Wege erzwungen werden, sie wird vielmehr erworben. Es sind die Richterpersönlichkeiten, die durch ihr Verhalten 406 407 408 409 410

13*

Siehe oben Zweiter Teil B I 2 b. Wolf, GVG, S. 26lf. Kissel, GVG, § 178 Rn. 10. Siehe oben Zweiter Teil B I 2 c aa. Siehe oben Zweiter Teil B I 2 b.

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

bestimmen, wie es um das Ansehen der Judikative bestellt ist. 4Il Eine Abschirmung des Richters vor Kritik vermittelt dem Bürger den Eindruck, die Justiz wolle sich demokratischer Kontrolle entziehen. Sie stärkt daher nicht das Vertrauen, sondern - und diese Erkenntnis des amerikanischen Supreme Court gilt auch fiir die bundesdeutsche Demokratie uneingeschränkt - sie ruft Argwohn und Mißachtung erst hervor. 412 Im Ergebnis zeigt sich, daß allein der Zweck, das Ansehen der Justiz zu schützen, nicht genug Gewicht hat, um Einschränkungen des Art. 5 I GG zu rechtfertigen. Ein Gesetz mit diesem Schutzzweck ist entweder mangels Geeignetheit unverhältnismäßig oder muß verfassungskonform interpretiert werden.

(2) Gesetze mit diesem Schutzzweck Dem Ansehen der Rechtsprechung dient § 175 I GVG und nach einer Auffassung auch § 178 I GVG. Wie alle GVG-Vorschriften über den Ausschluß der Öffentlichkeit sind sie allgemeine Gesetze. 413 Sie verbieten weder bestimmte Meinungsinhalte, noch knüpfen sie an die geistige Wirkung von Meinungsäußerungen an. Sie betreffen jede Form von ungebührlichem und würdelosen Verhalten und wirken sich damit nicht allein im Schutzbereich des Art. 5 I GG aus. Ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung dienen sie dem Schutz des Ansehens der Rechtsprechung beziehungsweise dem Prozeß der Rechts- und Wahrheitsfindung. Nach § 175 I GVG kann Personen der Zutritt zu einer öffentlichen Gerichtsverhandlung verwehrt werden, wenn sie "in einer der Würde des Gerichts nicht entsprechenden Weise" erscheinen. Schutzgut der Vorschrift ist das Ansehen des Gerichts als Institution in der sozialen Gemeinschaft. 414 Diese Vorschrift ist mit Art. 5 I GG nur vereinbar, wenn sie eng ausgelegt wird. Angesichts der Bedeutung der Gerichtsöffentlichkeit fiir die Kontrolle der dritten Gewalt ist ein Ausschluß nur angemessen, wenn das unwürdige Verhalten geeignet ist, den geordneten Ablauf der Verhandlung und damit die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen. Da die Maßstäbe fiir ein der Würde des Gerichts angemessenes Auftreten sich ständig ändern, setzt dies voraus, daß der Zutritt Begehrende selbst minimale Standards nicht einhält. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Sarstedt, JZ 1969, S. 152 (153); Gmelch, Ungebühr vor Gericht, S. 161. Vgl. oben Zweiter Teil C II 2 a bb (2) (b) (aa) (0.). 413 BVerfG, NJW 1979, S. 1400 (1401); BVerfG, NJW 1995, S. 184 (186); BVerfG, NJW 1996, S. 310. 414 OLG Nümberg JZ 1969, S. 150; KleinknechtIMeyer-Goßner, § 175 GVG Rn. 3. 411

412

c. Grenzen privater Urteilsschelte

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Personen in betrunkenem oder verwahrlostem Zustand vor Gericht erscheinen. 41S Eine weitere Grenze der Urteilsschelte bildet § 178 GVG, wonach gegen Personen, die sich während der Sitzung einer Ungebühr schuldig machen, Ordnungsgeld oder Ordnungshaft verhängt werden kann. Der Schutzzweck dieser Vorschrift ist umstritten. Nach einer Auffassung schützt § 178 GVG allein die Würde des Gerichts. 416 Die Gegenmeinung geht davon aus, daß § 178 GVG nur die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung bezweckt und damit dem Schutzzweck der §§ 176, 177 GVG entspricht. 417 Dieser Streit beeinflußt unmittelbar die Auslegung des § 178 GVG. Ist Schutzzweck die Ordnung in der Sitzung, können nur Verhaltensweisen bestraft werden, die sich negativ auf den Ablauf der Verhandlung auswirken. Die andere Ansicht erweitert den Anwendungsbereich der Vorschrift auf alle Verhaltensweisen, die zwar die Verhandlung nicht stören, einem Gericht gegenüber jedoch als "ungebührlich" erscheinen. Die Ausführungen zum Schutzzweck des Ansehens der Rechtsprechung haben gezeigt, daß ein auf den Schutz der Würde verengte § 178 GVG gegen Art. 5 I GG verstoßen würde. Er wäre zur Steigerung des Ansehens der Justiz ungeeignet, jedenfalls aber eine unangemessene Beschränkung der Freiheiten des Art. 5 I GG. Folglich ist der Begriff der Ungebühr verfassungskonform auszulegen. Art. 5 GG läßt es nicht zu, daß Richter um ihrer selbst willen vor öffentlicher Kontrolle geschützt sind. Das Gericht ist kein ,,magischer Würdenträger"418, vielmehr steht die Sache der Prozeßbeteiligten im Vordergrund. Für dieses Verständnis des Schutzzwecks spricht ein weiteres Argument. Das erkennende Gericht selbst setzt das Ordnungsmittel des § 178 GVG ein. Diente die Vorschrift dem Schutz der Würde, könnte jeder Richter seine individuellen Vorstellungen von der ihm gebührenden Achtung zum Maßstab machen. Der Richter entschiede unzulässigerweise in eigener Sache. 419 Schutzzweck des

m Vgl. dazu Kissel, GVG, § 175 Rn. 7; Wolf, GVG, S. 251; KleinknechtlMeyerGoßner, StPO, § 175 GVG Rn. 3. 416 So OLG Nümberg, JZ 1969, S. 150 (151); Schilken, GVG, Rn. 213; Wolf, GVG, S.26lf. 417 Sarstedt, JZ 1969, S. 152 (153); Schneider, MDR 1975, S. 622 (623); Kissel, GVG, § 178 Rn. 7ff. Eine vermittelnde Position, wonach § 178 GVG sowohl die Ordnung in der Sitzung als auch die Würde des Gerichts zu schützen bezweckt, vertreten KleinknechtIMeyer-Goßner, StPO, § 178 GVG Rn. 2; Mayr, in: Karlsruher Kommentar, § 178 GVG Rn. 2. 418 Sarstedt, JZ 1969, S. 152 (153). 419 Vgl. Kissel, GVG, § 178 Rn. 7. Der Grundsatz, daß niemand Richter in eigener Sache sein darf, folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip, BVerfGE 3, 377 (381); SchmidtAßmann, in: HbStR I, S. 1026.

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Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

§ 178 GVG ist folglich die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung. Ordnungsmittel dürfen mit anderen Worten nur filr ein Fehlverhalten verhängt werden, das verfahrensrelevant ist. 420 Meinungsäußerungen in der Verhandlung sind an diesem Maßstab zu messen. So sind etwa spontane Beifalls- oder Mißfallenskundgebungen im Gerichtssaal421 nicht von vornherein ungebührlich, sondern nur dann, wenn sie ein solches Maß erreichen, daß eine sachgerechte Verhandlung nicht mehr möglich ist. Ansonsten erfolgen sie in zulässiger Ausübung des Rechtes auf freie Meinungsäußerung. bb) Schutzzweck der Unabhängigkeit der Justiz Viele der in diese Gruppe eingeordneten Vorschriften verfolgen mehrere Schutzzwecke. Deutlich wird dies an den sitzungspolizeilichen Befugnissen der Gerichte nach den §§ 176, 177 GVG. Sie sollen in jeder Hinsicht den ordnungsgemäßen Gang der Rechtspflege gewährleisten. Zeugen und andere Verfahrensbeteiligte sollen vor Persönlichkeitsrechtsverletzungen geschützt werden, damit sie wahrheitsgemäß aussagen. Es soll auf eine ruhige und sachliche Verhandlungs atmosphäre hingewirkt werden, damit das Gericht ungestört die wahren Tatsachen und die Rechtslage ermitteln kann. Zumindest mittelbar dienen die Vorschriften dem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit, die durch ungehemmte Einflüsse auf den Richter vor allem während der Verhandlung gefährdet wäre. 422 Es ergibt sich aus Art. 97 GG, daß der Schutz der richterliche Unabhängigkeit ein legitimer Zweck ist, zu dessen Erreichung der Gesetzgeber geeignete, erforderliche und angemessene Normen erlassen darf. (1) Strafrechtliche Normen

§ 90b StGB schützt unter anderem die Verfassungsgerichte des Bundes und der Länder und deren Mitglieder gegen Verunglimpfimgen, die das Ansehen des Staates soweit schädigen, daß dessen Bestand gefährdet ist. Die Vorschrift wirkt sich zwar lediglich im Schutzbereich der Kommunikationsfreiheiten aus. Sie ist jedoch ein allgemeines Gesetz, da sie nicht den Inhalt sondern die Form der Meinungsäußerung betrim. Unabhängig davon wird § 90b StGB als Staatsschutzdelikt wegen seiner engen Voraussetzungen kaum jemals als praktische Grenze der Urteilsschelte in Erscheinung treten.

420 Kissel, GVG, § 178 Rn. 10. 421 Siehe dazu Kissel, GVG, § 178 Rn. 26; Mayr, in: Karlsruher Kommentar, § 178 Rn. 3; OLG Saarbrücken NJW 1961, S. 890. 422 Vgl. zu den Schutzzwecken der §§ 176, 177 GVG: Schilken, GVG, Rn. 210.

C. Grenzen privater UrteilsscheIte

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In den §§ 105, 106 StGB werden das BWldesverfassWlgsgericht Wld die einzelnen VerfassWlgsrichterdavor geschützt, mit Gewalt oder durch DrohWlg mit Gewalt an der AusübWlg ihrer Befugnisse gehindert zu werden. Bei diesem Spezialfall der Nötigoog ist der Gewaltbegriff im Sinne eines lebendigen politischen MeinWlgskampfes eng auszulegen Wld erfaßt nur Verhaltensweisen, die geeignet erscheinen, eine verantwortWlgsbewußte Staatsführung zum Zurückweichen zu zwingen. 423 Alle anderen Richter sind durch § 240 StGB vor Nötigoog geschützt. Denkbare Verletzungen setzen auch hier tätliche Angriffe voraus Wld müssen damit über reine Urteilsschelte hinausgehen. Für das Recht der freien Rede bedeuten sie keine Begrenzung. Nach § 353d Nr. 3 StGB ist es verboten, Anklageschriften oder ähnliche amtliche Schriftstücke im Wortlaut mitzuteilen, bevor sie in öffentlicher VerhandlWlg erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist. Umstritten ist die VerfassWlgsmäßigkeit dieses Strafgesetzes. Bezweifelt wird, ob die V orschrift geeignet ist, ihren Zweck - den Schutz der Unbefangenheit der Verfahrensbeteiligten Wld den Schutz der vom Verfahren Betroffenen vor einer BloßstellWlg424 - zu erreichen. 42S VerfassWlgsrechtlich scheitert die Norm aber bereits am Erfordernis des allgemeinen Gesetzes. Sie wirkt sich als Verbot bestimmter ,,MitteilWlgen" ausschließlich im Schutzbereich des Art. 5 I GG aus, ist damit Sonderrecht gegen die MeinWlgsfreiheit. 426 Die heftige verfassWlgsrechtliche Diskussion steht indes in keinem Verhältnis zur geringen praktischen BedeutWlg der Norm. § 353d Nr. 3 StGB lädt die Presse zu UmgehWlgen geradezu ein, da nur die wörtliche, nicht aber die sinngemäße Wiedergabe von Schriftstücken Wlter Strafe gestellt ist. Die Vorschrift ist daher nach einhelliger MeinWlg kriminalpolitisch verfehlt427 Wld für die Urteilsschelte eine nur Wlbedeutende BeschränkWlg. 423 BGHSt 32, 165 (169); Lackner, StGB, § 105 Rn. 3, § 81 Rn. 5; Dreher/Tröndle, StGB, § 105 Rn. 3. 424 Träger, in: LK-StGB, § 353d Rn. 38f.; Dreher/Tröndle, StGB, § 353d Rn. 1. 42S AG Hamburg, NStZ 1984, S. 265. Wegen der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers hält BVerfG, NJW 1986, S. 1239 (1240), diese Bedenken für unbegründet. 426 Ähnlich Hoffinann-Riem, JZ 1986, S. 494. Erneut zeigen sich die Konsequenzen der unklaren Begriffsbestimmung durch das BVerfG. Dieses räumt in BVerfG, NJW 1986, S. 1239, zwar ein, daß durch § 353d Nr. 3 StGB "bestimmte Berichte über den Inhalt amtlicher Schriftstücke unmittelbar verboten" werden. Da die Norm jedoch dem Schutz eines schlechthin zu schützenden Rechtsguts diene, sei sie ein allgemeines Gesetz. Zurecht kritisiert Hoffmann-Riem, JZ 1986, S. 494, daß das Erbe der Sonderrechtslehre vom BVerfG immer dann fallengelassen wird, wenn das Gericht die Beschränkung einer bestimmten Meinung für legitim hält. 427 Lenckner, in: SchönkeiSchröder, StGB, § 353d Rn. 41; Dreher/Tröndle, StGB, § 353d Rn. 6; Lackner, StGB, § 353d Rn. 4.

200

Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

(2) Die Vorschriften über den Ausschluß der Gerichtsöffentlichkeit Die zahlreichen Gründe fiir den Ausschluß der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen bilden weitere Grenzen der Urteilsschelte. In einzelnen Verfahrensordnungen ist die Öffentlichkeit bereits kraft Gesetzes ausgeschlossen, etwa in den §§ 60 BDO, 63 I DRiG, 135 BRAO, 8 FGG.428 Im Geltungsbereich des GVG gilt zwn Schutz der Privat- und Intimsphäre ebenfalls ein Ausschluß der Öffentlichkeit kraft Gesetzes. Nach § 170 GVG sind die Verhandlungen in Kindschafts- und Familiensachen nicht öffentlich. Nach § 48 I JGG finden weiterhin Jugendstrafverfahren hinter verschlossenen Türen statt. In anderen Fällen liegt es im Ermessen des Gerichts, den Ausschluß der Öffentlichkeit anzuordnen. Zu nennen sind hier die Verfahren in Unterbringungssachen nach § 171a GVG, Verfahren gegen Heranwachsende nach § 109 I 2 JGG und andere Fälle, in denen es um den Schutz der Privatsphäre geht (§ 171 b GVG). Schließlich enthält § 172 GVG einen Katalog von Ausschlußgründen. Diese sind durch Geheimhaltungspflichten nach §§ 17411, III GVG flankiert, deren Verletzung in den §§ 353d Nr. 1 und 2 StGB unter Strafen gestellt ist. In allen diesen Fällen ist von den Gerichten zu verlangen, daß sie die Grundrechte der interessierten Öffentlichkeit aus Art. 5 I GG in die Ermessensprüfung einstellt. Sorgfältig bedacht werden muß auch die Möglichkeit, einzelnen Interessierten nach § 175 11 GVG Zutritt zu nicht öffentlichen Verhandlungen zu gewähren. Die großzügige Anwendung dieser Vorschrift auf Medienvertreter kann zu einem gerechteren Ausgleich zwischen den Interessen der Öffentlichkeit an Information und demokratischer Kontrolle sowie den Interessen der Richter und Verfahrensbeteiligten an ordnungsgemäßer Wahrheitsfmdung fUhren. 429 Wichtige Grenze der Rundfimkberichterstattung über Urteile ist § 169 S. 2 GVG, der Ton- und Filmaufnahmen während der Verhandlung verbietet. Diese Vorschrift wurde zuletzt rechtspolitisch und verfassungsrechtlich stark diskutiert. Das BVerfG läßt neuerdings während der Verkündung des Urteilstenors Kameras ZU. 430 Im Sinne der Pressefreiheit besteht bei die Allgemeinheit in-

428 Die Öffentlichkeit von bestimmten Verfahren in der freiwilligen Gerichtsbarkeit ergibt sich aber aus Art. 6 EMRK; dazu Wolf, in: MüKo zur ZPO, § 169 GVG Rn. 22. 429 Dazu Kissel, GVG § 169 Rn. 83; LG Frankfurt, ZIP 1983, S. 344; Wolf, in: MüKo zur ZPO, § 175 GVG Rn. 7. 430 Dazu ausführlich Wolf, NJW 1994, S. 681ff., der diese Praxis fiir unzulässig hält. Dem widerspricht Eberle, NJW 1994, S. 1637ff. Das BVerfG, NJW 1996, S. 581ff., lehnte zwar im Prozeß gegen ehemalige SED-Größen den Erlaß einer einstweiligen Anordnung zugunsten des Fernsehsenders n-tv ab. Es hielt jedoch eine Verfassungsbeschwerde auf Zulassung von Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen im Hinblick auf

c. Grenzen privater Urteilsschelte

201

teressierenden Prozessen zudem ein erweitertes Recht, vor und nach der Verhandlung sowie in den Verhandlungspausen zu filmen. 431 Eine bedeutende Grenze der Urteilsschelte markieren die §§ 176, 177 GVG, die die sitzungspolizeilichen Befugnisse der Gerichte regeln. Danach obliegt die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung dem Vorsitzenden. Er darf zu diesem Zweck Anordnungen treffen und notfalls Personen aus dem Sitzungssaal entfernen. Unter Ordnung ist der Zustand zu verstehen, der dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten eine störungsfreie Ausübung ihrer prozessualen Rechte ermöglicht, die Aufinerksamkeit der übrigen Anwesenden in der öffentlichen Verhandlung und damit den Kontrollzweck der Öffentlichkeit nicht beeinträchtigt und allgemein einen gebührlichen Ablauf sichert. 432 Geschützt werden darf nur die Ordnung in der Sitzung. Das hatte offenbar ein Amtsrichter übersehen, als er einen Pressevertreter von zwei Öffentlichen Verhandlungen ausschloß. Er stützte seine Anordnung darauf, daß die Zeitung, fiir die der Ausgeschlossene arbeitete, sich in einem Artikel mit dem Titel ,,Ein Tag im Leben des Richters W." kritisch zu seiner Verhandlungsfiihnmg geäußert hatte. Diese als Ordnungsmaßnahme mühsam getarnte Maßregelung eines mißliebigen Journalisten erklärte das BVerfG fiir unzulässig. Schon dem Wortlaut nach seien die §§ 176, 177 GVG nicht anwendbar. Selbst wenn ein Richter sich über einen Bericht ärgere, sei mit der Anwesenheit eines Journalisten der störungsfreie äußere Ablauf der Verhandlung, die "Ordnung in der Sitzung" nicht gefährdet. Sähe man die Maßnahme als vom Wortlaut noch gedeckt an, verstoße sie jedenfalls gegen das Grundrecht der Pressefreiheit. Eine frühere oder künftige negative Berichterstattung dürfe nicht Gegenstand einer Ordnungsmaßnahme nach §§ 176, 177 GVG sein, da dem Richter anderenfalls das Recht eingeräumt werde, Pressevertreter fiir die Art ihrer Berufsausübung zu belohnen oder zu bestrafen. Damit gewänne der Richter unzulässigerweise Einfluß auf den Inhalt zukünftiger Veröffentlichungen. 433 Daraus folgt, daß die §§ 176, 177 GVG dem Richter kein Selbsthilferecht gegen vergangene oder zukünftige Urteils- und Richterschelte geben. Auch auf Rechtsfolgenebene sind die sitzungspolizeilichen Befugnisse verfassungskonform iril Lichte des Art. 5 I GG zu interpretieren. Die Ordnungsmaßnahmen stehen im Ermessen des Gerichts und müssen daher dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Das hat das BVerfG

den kontrovers diskutierten § 169 S. 2 GVG nicht für unzulässig oder offensichtlich unbegründet; vgl. die Urteilsbesprechung von Huff, NJW 1996, S. 571ff. 431 BVerfG, NJW 1995, S. 184. 432 Wolf, GVG, S. 258. 433 BVerfG, NJW 1979, S. 1400f.

202

Zweiter Teil: Private Urteilsschelte

für die Rundfunkberichterstattung weiter ausgeführt. So war beim aufsehenerregenden Prozeß gegen Erich Honecker und andere Funktionäre des SED-Regimes ein auf § 176 GVG gestütztes generelles Filmverbot unangemessen, da das Informationsinteresse der ÖtIentlichkeit groß war und die Angeklagten als Personen der Zeitgeschichte ihre Abbildung dulden mußten. Filmaufnahmen vor und nach der Verhandlung sowie während der Verhandlungspausen waren als Ausprägung des Grundrechts der Rundfunkfreiheit zwnindest in begrenztem Umfang zuzulassen. 434

D. Ergebnis Urteilsschelte durch Private und durch gesellschaftliche Gruppen fällt in vollem Umfang in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit, da sie Ausdruck sowohl der subjektiv-rechtlichen als auch der objektiv-rechtlichen Dimension des Art. 5 I GO ist. In der Gestalt als Abwehrrecht erlaubt Art. 5 I 1 GO Kritik unabhängig von ihrem Inhalt und ihrer Qualität. Als Ausdruck des Demokratieprinzips gewährleistet die ötIentliche Meinung die Legitimation der Judikative für ihre Arbeit, deren Integration im Verhältnis zum Volk sowie die Kontrolle der dritten Gewalt. Die Grenzen der Urteilsschelte ergeben sich aus den Vorschriften, welche die Schranke des Art. 5 11 GO konkretisieren. Dabei zeigte sich, daß der Schutz der Justiz unzusammenhängend und lückenhaft ist. Das gilt insbesondere für Gesetze mit dem Schutzzweck des Ansehens der Rechtsprechung und der richterlichen Unabhängigkeit. Es fehlt den Richtern namentlich an Befugnissen, die es ihnen erlaubten, Verhaltensweisen außerhalb des Gerichts zu sanktionieren. Eine im englischen und amerikanischen Recht vorgesehene Bestrafungsmöglichkeit wegen contempt of court existiert im deutschen Recht nicht. Die Analyse der Rechtslage in Großbritannien und in den USA hat jedoch ergeben, daß von der Vorbildfunktion des contempt-Rechts keine Rede mehr sein kann, da sich das Rechtsinstitut dort wegen der Wertschätzung der Meinungsfreiheit auf dem Rückzug befindet. Die wichtigste Grenze privater Urteilsschelte wird in Deutschland durch die Vorschriften zum Ehrschutz gebildet. Eine gewisse Bedeutung haben darüber hinaus noch die GVG-Vorschriften zum Ausschluß der GerichtsötIentlichkeit. Da alle einschränkenden Gesetze im Lichte der Meinungsfreiheit auszulegen sind, verletzen nur besondere Entgleisungen die schrankenziehenden Gesetze. So waren die im ersten Teil aufgeführ434 BVerfG, NJW 1995, S. 184ff. In diese Richtung deutete bereits die einstweilige Anordnung, BVerfG, NJW 1992, S. 3288.

D. Ergebnis

203

ten privaten Unmutsäußenmgen über Urteile zwar nicht immer inhaltsreich oder stilvoll, geschahen aber ganz überwiegend in zulässiger Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußenmg.

Dritter Teil

Amtliche Urteilsschelte A. Zulässigkeit amtlicher Urteilsschelte Es besteht Einigkeit darüber, daß Amtsträgem, die sich in gerade dieser Funktion äußern I , nicht der Grundrechtsschutz des Art. 5 I GG zugute kommt. Die Grundrechte bilden Freiheitsgarantien, die der Bürger gegenüber dem Staat geltend machen kann. Dagegen vollzieht sich die Kritik von Amtsträgem im Binnenbereich des gewaltengeteilten Staates und bedarf zu ihrer Zulässigkeit emer besonderen Kompetenzzuweisung. 2 Die Frage nach der Legitimation der Urteilsschelte stellt sich für den staatlichen Bereich also neu. Das gilt umso mehr, als sich viele Argumente, die private Urteilskritik als notwendig erscheinen lassen, nicht auf das Innenverhältnis zwischen den drei Gewalten übertragen lassen. Während eine lebendige öffentliche Meinungsbildung vertrauensstabilisierende Wirkung hatl , wird ein zwischen Staatsgewalten ausgetragener Streit eher den vertrauensmindernden Eindruck hinterlassen, die Einheit des Staates sei in Gefahr. Während der Bürger als potentieller Beteiligter beispielsweise eines Strafverfahrens zur dritten Gewalt in einer grundrechtlichen Gefahrdungslage steht', üben Legislative und Exekutive durch die Befugnis zum Erlaß von Rechtsnormen über die daran gebundene Judikative (Art. 20 III, 97 I GG) eine Machtstellung aus. Schließlich schützt private Urteilsschelte die Richter vor zu großer Staatsabhängigkeit5 , während Kritik von Amtsträgem gerade geeignet ist, die Rechtsprechung dem Verdacht von Parlaments- und Kabinettsjustiz auszusetzen. Angesichts dieser gewandelten Interessenlage ist zunächst generell zu fragen, welche Argumente für die Notwendigkeit und Legitimation gerade amtlicher Kritik sprechen. Im Lichte der dabei gewonnenen Ergebnisse Zur Abgrenzung zu privaten Äußerungen siehe oben Zweiter Teil A I. Bethge, NJW 1985, S. 721; Jarass, in: JarasslPieroth, GG, Art. 5 Rn. 6; Degenhart, in: BoK-GG, Art. 5 Abs. 1 und 2, Rn. 185; BVerwG, NJW 1984, S. 2591; BVerfG, NJW 1996, S. 210 (211). 1 Siehe oben Zweiter Teil B I 2 b. Siehe oben Zweiter Teil B I 2 c aa (1). Siehe oben Zweiter Teil B I 2 c cc.

A. Zulässigkeit amtlicher Urteilsschelte

205

ist auf die speziellen Kompetenztitel für einzelne Träger von Hoheitsgewalt einzugehen.

I. Notwendigkeit und Legitimation der Urteilsschelte im staatlichen Bereich Die grundsätzliche Zulässigkeit der freien Rede im Binnenbereich der Staatsgewalten läßt sich von zwei Richtungen her ableiten. Ausstrahlungswirkung könnte zum einen dem Bürger-Staat-Verhältnis zukommen. Es ist schwerlich denkbar, daß einer vom lebendigen öffentlichen Meinungskampf geprägten Gesellschaft ein durch Redeverbote gekennzeichneter staatlicher Binnenbereich gegenübersteht. Zum anderen ist die verfassungsrechtliche Grundentscheidung für das Verhältnis der Gewalten untereinander zu beleuchten, das Gewaltenteilungsprinzip nach Art. 20 11 2 GG. Es fragt sich, wie danach eine kritische Auseinandersetzung zu bewerten ist.

1. Die Entscheidung des GG für die freie öffentliche Meinungsbildung Das Verhältnis des Bürgers zu den Staatsorganen wird im GG an einigen Stellen als freier Prozeß öffentlicher Meinungsbildung und Kontrolle beschrieben. Die Grundrechte, das Demokratieprinzip und die Stellung der politischen Parteien bilden die Eckpfeiler dieser Beziehung. Die damit getroffenen verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen haben Einfluß auf den Umgang der Staatsgewalten miteinander. a) Die Kommunikationsgrundrechte und das Demokratieprinzip In seiner objektiven Dimension enthält vor allem das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 I GG die Entscheidung des GG für einen freien Prozeß der Bildung öffentlicher Meinung. Es gibt jedem Bürger das Recht, aufgrund eines möglichst ungehinderten Zugangs zu Informationen eine eigene Meinung zu bilden, diese zu äußern und damit zur Kontrolle aller drei Staatsgewalten beizutragen. Die Meinungsfreiheit ist konstituierend für die freiheitliche Demokratie schlechthin, sie ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung und den Kampf der Meinungen. 6 Ergänzt wird der Schutz der freien Bildung

Siehe ausfilhrlich oben Zweiter Teil B I.

206

Dritter Teil: Amtliche Urteilsschelte

der öffentlichen Meinung durch die anderen Kommunikationsgrundrechte: die Informationsfreiheit (Art. 5 I 1 00), die Versammlungsfreiheit (Art. 8 00), die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 00) und die Petitionsfreiheit (Art. 17 00).7 Unmittelbar gelten die Grundrechte zwar nur im Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Sie bilden aber gleichzeitig eine objektive Werteordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt, und von der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung Richtlinien und Impulse empfangen. 8 Es hieße die staatsorganisationsrechtlichen Bindungen verleugnen, wollte man den Kommunikationsgrundrechten Drittwirkung auch für das Verhältnis der Staatsgewalten untereinander zumessen. Es ist jedoch ebenso undenkbar, daß einer von der freien Diskussion geprägten Gesellschaft Staatsorgane gegenüberstehen, die weder auf Anregungen aus der Bevölkerung noch auf gegenseitige Herausforderungen verbal reagieren dürfen. Staat und Gesellschaft sind vor allem durch den Wahlakt so eng verknüpft, daß sich die freie öffentliche Meinungsbildung in Parlament und Regierung fortsetzt. Der Bundestag ist im Idealfall das Forum der Nation, in dem das Volk "sich wiedererkennt und ausgedrückt findet, was es beschäftigt".9 Die Beobachtung der gesellschaftlichen Entwicklung obliegt auch der Bundesregierung. Ihre Aufgabe ist es, Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu erkennen und durch formelle und informelle Maßnahmen abzustellen. 10 Aus dieser Einsicht heraus hat das BVerfG anerkannt, daß die Öffentlichkeitsarbeit von Regierung und Parlament ,,nicht nur zulässig, sondern auch notwendig ist, um den Grundkonsens im demokratischen Gemeinwesen lebendig zu erhalten".11 Dem folgt das BVerwG, indem es das Recht der politischen Meinungsäußerung zu den "ureigenen verfassungsmäßigen Rechten der Regierung" zählt. 12 Aufsehenerregende Gerichtsurteile enthalten Richtungsentscheidungen, die zu Unzufriedenheit führen können, zumindest aber Diskussionsbedarf aufzeigen. Wenn Parlament und Regierung diese Urteile schelten, entsprechen sie damit ihrem verfassungsmäßigen Recht, die Meinungen in der Gesellschaft zu beobachten. Sie greifen mit ihrer Kritik ein Thema auf, das die Bürger und Wähler beschäftigt.

7

Allgemein zur Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte: Kloepfer, in: HbStR

11, S. 196f.

8 BVerfGE 7, 198 (205); v. Münch, in: v.MünchIKunig, GG, Vorb. Art. 1-19, Rn. 22. 9 Klein, in: HbStR 11, S. 347; ähnlich Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 572ft'. 10 BVerwGE 82,76 (70); Herzog, in: MaunzJDürig, GG, Art. 20, V., Rn. 102. 11 BVerfGE 44, 125 (147f.); 63, 230 (242); BVerwGE 82, 76 (80). 12 BVerwG, NJW 1984, S. 2591.

A. Zulässigkeit amtlicher Urteilsschelte

207

Infonnation, Meinungsbildung und Kontrolle sind ferner nur möglich, wenn der Staat sein Handeln öffentlich und durchschaubar macht. 13 Dieser Publizitätspflicht muß ein Recht der Staatsorgane entsprechen, durch Redebeiträge und Öffentlichkeitsarbeit der Bevölkerung Infonnationen zu liefern und die Gründe für ihr Handeln transparenter zu machen. 14 Diese Aufgabe obliegt nicht allein der Rechtsprechung als Urheberin der umstrittenen Urteile, zumal diese damit schon organisatorisch überfordert wäre. Da umstrittene Gerichtsentscheidungen häufig den Anstoß zu rechtspolitischen Diskussionen geben, greifen sie in den originären Kompetenzbereich der beiden Gewalten ein, denen die politische Staatsleitung obliegt.ls So dürfen auch Parlament und Regierung zu den Akten der dritten Gewalt Stellung nehmen. Ferner besteht gerade bei juristischen Fragen ein großes Bedürfnis nach Transparenz in Fonn von Übersetzungsarbeit. Wenngleich Urteilskritiker praktisch nur selten zur Versachlichung und Erklärung beitragen, liefern sie dem Bürger durch ihre Meinung im Sinne des Demokratieprinzips doch zusätzliche Infonnationen, die dieser verwerten oder verwerfen kann. b) Die Stellung der politischen Parteien nach Art. 21 I 1 GG Aus den Parteien gehen die politischen Führungspersonen hervor, die sich in der Bevölkerung um eine Mehrheit bemühen, um in ein Staatsamt gewählt zu werden. Da dieser Prozeß faktisch bei den Parteien monopolisiert ist, bilden diese das Bindeglied zwischen dem Volk und den Staatsorganen. 16 Gelangen Parteivertreter in ein öffentliches Amt, bleibt der Dialog zwischen ihnen und dem Bürger im Parlament bestehen. Sie werden dort als Vertreter der Regierungspartei für ihre Arbeit werben, die Oppositionsvertreter werden sich bemühen, durch überzeugende Alternativen zu den Regierungsentwürfen mehrheitsfähig zu werden. Die Parteien profilieren sich in erster Linie durch diejenigen ihrer Mitglieder, die Ämter innehaben und liefern so erst dem Bürger die Infonnationsgrundlagen für seine Wahlentscheidung. Gerade den Politikerpersönlichkeiten kommt in der Parteiendemokratie eine Schlüsselrolle zu. Daher, so hat der amerikanische Supreme Court gefolgert, müsse den gewählten

Siehe oben Zweiter Teil B I 2 c. BVerffiE 44, 125 (147); 70, 324 (355); Klein, in: HbStR 11, S. 344; Schneider, in: AK-OO, Art. 38 Rn. 12. IS Zur politischen Staatsleitung siehe auch unten Dritter Teil A 11 2. 16 Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 169; BVerffiE 44, 125 (145); Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 57; v. Münch, in: v.MünchlKunig, 00, Art. 21 Rn. 25. . 13

14

208

Dritter Teil: Amtliche Drteilsschelte

Repräsentanten des Staates eine weitgehende Redefreiheit zustehen. 17 Parteien bleiben damit auch bei der institutionalisierten Willensbildung in Parlament und Regierung Garanten fiir einen offenen politischen Prozeß.18 Das bedeutet nicht, daß die amtliche Sphäre durch die Mitwirkung der Parteien in eine private umdefiniert würde. Die Grenze vom privatrechtlichen Wirken als Partei zum amtlichen Handeln der Parteivertreter in Legislative und Exekutive ist jedoch durchlässiger geworden. Art. 21 I 1 GG begrenzt die Mitwirkung der Parteien auf die "politische" Willensbildung. Politische Willensbildung ist die im gesellschaftlichen Raum erfolgende Vorformung der öffentlichen Meinung und ist im System der repräsentativen Demokratie von der staatlichen Willensbildung zu unterscheiden, die nach Art. 20 11 2 GG durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung erfolgt.19 Die Entscheidungstätigkeit der Gerichte ist Staatswillensbildung, an der mitzuwirken den Parteien versagt ist. 20 Das ergibt sich auch aus anderen Verfassungsvorschriften. Nach Art. 20 III, 97 I GG sind die Richter an Gesetz und Recht und nicht an die Meinung von Parteien gebunden. 21 Die Integrität des Zustandekommens der Staatswillensbildung durch die Judikative wird auch durch die Garantie der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit der Richter geschützt.22 Nur eine Parteien nicht steuerbare Justiz kann eine wirksame Kontrolle der ersten beiden Gewalten garantieren, deren Vertreter sich fast ausnahmslos aus den Parteien rekrutieren. 23 Wegen der strikten Trennung von staatlicher und politischer Willensbildung ist es den Parteien verboten, Gesetze zu beschließen, Verwaltungsakte zu erlassen und Gerichtsurteile zu fällen. Die Begleitung der Tätigkeit der Staatsorgane mit Anregung und Kritik ist dagegen dem Bereich der politischen Willensbildung zuzuordnen. 24 Parteien ist von Verfassungs wegen die Aufgabe zugewiesen, auf die Einstellung der Bevölkerung zu einer politisch umstrittenen

17 Wood v. Georgia 370 D.S. 375, 393f. (1962); dazu ausführlich oben Zweiter Teil

eil 2 a bb (2) (b) (cc) (ß). 18

Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 169.

19 BVerfGE 8, 104 (113); 44, 125 (139f.); Preuß, in: AK-OO, Art. 21 Abs. 1,3, Rn.

28; Kunig, in: HbStR 11, S. 131; Pieroth, in: larasslPieroth, 00, Art. 21 Rn. 8. 20 Kunig, in: HbStR 11, S. 131; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 170; Pieroth, in: larasslPieroth, 00, Art. 21 Rn. 9; Henke, in: BoK-OO, Art. 21 Rn. 183. 21 Kunig, in: HbStR 11, S. 131; v. MÜflCh, in: v. MÜflCh/Kunig, 00, Art. 21 Rn. 44. 22 Vgl. BVerfGE 44, 125 (140). 23 Henke, in: BoK-OO, Art. 21 Rn. 183; Grimm, in: HbVerfR, S. 647. 24 Henke, in: BoK-OO, Art. 21 Rn. 71.

A. Zulässigkeit amtlicher Urteilsschelte

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Frage Einfluß zu nehmen, selbst wenn diese den Hintergnmd oder den Gegenstand eines Gerichtsurteils bildet. 25 Ein bei Gelegenheit dieser Diskussion in Öffentlichkeit, Parlament lUld RegierlUlg entstehender Einfluß auf zukünftige RechtsprechlUlgstätigkeit ist daher lUlvenneidlich lUld wird von der AufgabenzuweislUlg des Art. 21 I 1 GG noch erfaßt. Soweit Partei vertreter den Raum der StaatswillensbildlUlg nicht betreten26 , ist ihnen Urteils schelte folglich erlaubt. Aus der von den Kommunikationsgnmdrechten gebildeten objektiven WerteordnlUlg, dem Demokratieprinzip lUld der durch Art. 21 I 1 GG vorgesehenen Mitwirkung der Parteien an der politischen WillensbildlUlg folgt, daß eine generelle Schweigepflicht für Amtsträger in Bezug auf Urteile nicht besteht. Zur Reichweite des damit auch für die Staatsgewalten geltenden Rechts zur MeinlUlgsäußerlUlg sind der Analyse des Bürger-Staat-Verhältnisses dagegen keine konkreten Aussagen zu entnehmen. 2. Das Recht zur Urteilsschelte und das Gewaltenteilungsprinzip Das GewaltenteillUlgsprinzip zeichnet das Kräfteverhältnis zwischen den drei Gewalten Legislative, Exekutive lUld Judikative vor. Es ist in Art. 20 11 2 GG als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips verankert lUld lUlterfällt der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III GG. Schon deshalb ist es ein "tragendes OrganisationslUld Funktionsprinzip" des GrlUldgesetzes. 27 Dennoch mag es bereits zweifelhaft sein, ob einem so allgemeinen GrlUldsatz wie dem der GewaltenteillUlg Richtlinien für ein so spezielles Problem wie das der Urteilsschelte zu entnehmen sind. ,,Maßstablosigkeit lUld Antriebsschwäche"28 wurde dem Prinzip vorgehalten lUld sogar Montesquieus Aussage zur BedeutlUlg der RechtsprechlUlg auf das GewaltenteillUlgsprinzip übertragen: Sein Wert sei "en quelque fa~on nulle".29 Den Kritikern ist zwar einzuräumen, daß die Annahme einer strikten TrennlUlg zwischen Legislative lUld Exekutive durch das parlamentarische RegierlUlgssystem, die in beiden Gewalten tonangebenden Mehrheits-

25 In der Praxis fUhren gerade die Urteile zu einer regen Debatte, denen politischmoralische Fragestellungen zugrunde liegen, vgl. dazu die Fallbeispiele im ersten Teil sowie Zweiter Teil C nl a bb (3) (a). Zu weitgehend daher Henke, in: BoK-GG, Art. 21 Rn. 181:fI., der die von der Rechtsprechung zu beurteilenden Fragen für gänzlich unpolitisch hält. 26 Wo genau die Schwelle verläuft, wird unten erörtert, Dritter Teil B n und rn. 27 BVerfGE 34, 52 (59). 28 Ossenbühl, DÖV 1980, S. 545. 29 Leisner, DÖV 1969, S. 405. Vgl. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, I. Band, S.220. 14 Mishra

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Dritter Teil: Amtliche Urteilsschelte

parteien Wld die daraus resultierende "Staatsleitung zur gesamten Hand"30 viel von seiner Überzeugoogskraft eingebüßt hat. Die Judikative ist jedoch verhältnismäßig deutlich von diesen beiden Gewalten getrennt, so daß sich fiir die Zulässigkeit von Übergriffen in deren Bereich Ergebnisse erwarten lassen. Stettner führt den Bedeutungsverlust des GewaltenteilWlgsprinzips auf einige Fehlerquellen zurück, die nachfolgende UntersuchWlg zu vermeiden haben wird. Die "babylonische BegriffsverwirrWlg" wird von ihm als erste ,,Plage" kenntlich gemacht. 3\ Inhaltlich unklare Begriffe wie GewaltentrennWlg, -gliederWlg, -hemmWlg, -zuordnWlg, Wld -verknüpfung werden in die Debatte eingefUhrt, der Terminus "Gewalt" wird teilweise durch ,,Funktion" ersetzt, was zu BegriffsbildWlgen wie ,,funktionelle FWlktionenteilWlg"32 führt. Als weitere Plage erscheint, daß "GewaltenteilWlg" als Schlagwort auf alle Bereiche staatlicher Organisation übertragen worden ist Wld in dieser Bedeutung alle V orgänge meint, die zu einer Kontrolle, Mäßigoog Wld BalancierWlg der Staatsgewalt beitragen. In der VerfassWlgswirklichkeit haben sich zahlreiche Machtfaktoren herausgebildet, die - wie z.B. die Medien, der Föderalismus, die kommWlale Selbstverwaltung - als Elemente der GewaltenteilWlg bezeichnet worden sind. 33 Drittens - so Stettner - trage das Prinzip schwer an seinem historischen Erbe. 34 So ist ein Rekurs auf die historischen Zwecke des GewaltenteiIWlgsprlnzip nicht nur der Gefahr ausgesetzt, dessen konkrete verfassWlgsrechtliche AusformWlg aus dem Blickfeld zu verlieren. Auch hat sich seit Aristoteles, Locke Wld Montesquieu das Umfeld erheblich verändert, in dem der GewaltenteilWlgsgrWldsatz Geltung beansprucht. Montesquieu entwickelte sein System fiir den absolutistischen Staat Wld wollte die Interessen von König, Adel Wld Bürgertum zum Ausgleich bringen. Heute gilt die DreiteilWlg im demokratischen Staat, der auf Rousseaus Grundsatz der Volkssouveränität Wld der von AbM Sieyes eingeführten UnterscheidWlg zwischen "pouvoir constituant" Wld "pouvoir constitue" aufbaut. 35 Damit ging eine Neudefinition der Aufgaben der Gewalten einher. Das Handeln der Legislative beschränkt sich heute nicht mehr auf den Kembestand des Straf- Wld Zivilrechts, das der Exekutive nicht mehr 30 Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 432; Stern, Staatsrecht n, S. 544.

Stettner, JöR 35 (1986), S. 57 (60ff.). Stern, Staatsrecht n, S. 529. 33 Stettner, JöR 35 (1986), S. 57 (68ff.). 34 Stettner, JöR 35 (1986), S. 57 (62ff.). Ein Beispiel für diese begriffliche Ungenauigkeit bilden die Ausführungen von Peters, Die Gewaltentrennung in moderner Sicht, S. 23ff. 35 Zur Geschichte des Gewaltenteilungsprinzips: Stern, Staatsrecht n, S. 513ff.; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, V., Rn. 18ff. 31

32

A. Zulässigkeit amtlicher Urteilsschelte

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auf Außenpolitik und Heereswesen. Die Maßnahmen der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt haben auf alle Bereiche der Politik übergegriffen. Dadurch ist insbesondere der Rechtsprechung eine umfassende Kontrollbefugnis zugewachsen, die aus dieser Gewalt weit mehr gemacht hat als den bloßen ,,Mund des Gesetzes". Der Begriffsverwirrung wird im folgenden durch eine KeIUlZeichnung des in Art. 20 11 2 GG niedergelegten Prinzips als "Gewaltenteilung" vorgebeugt werden. Differenziert wird lediglich nach der Vorgabe des Art. 20 11 2 GG zwischen der Rechtsprechungsfunktion und den Rechtsprechungsorganen. 36 Weiterhin bleibt diese Untersuchung bei der grundgesetzlich vorgesehenen Dreiteilung und klammert andere Phänomene aus, die eine Mäßigung und Balancierung der Staatsgewalt bewirken. Um Verwicklungen mit der langen Geschichte des Prinzips zu vermeiden, wird der Begriff schließlich weiter eingegrenzt. Wenn im folgenden vom Gewaltenteilungsprinzip die Rede ist, ist damit dessen konkrete verfassungsrechtliche Verankerung im GG gemeint, nicht seine geschichtlichen Implikationen. Einen historischen Ansatz wählt dagegen das BVerfG, wenn es davon spricht, daß das prinzip der Gewaltenteilung im GG nicht "streng durchgeführt"37 beziehungsweise nicht ,,rein verwirklicht" sei. 38 Nur aus Art. 20 11 2 GG und den zahlreichen Spezialbestimmungen ergeben sich jedoch die fiir das deutsche Verfassungsrecht geltenden Inhalte des Prinzips und der Rahmen, den es fiir den Umgang der Staatsgewalten miteinander festlegt. Die im Grundgesetz angelegten gegenseitigen Verschränkungen der drei Staatsgewalten sind darum auch nicht als ,,Durchbrechungen" eines historisch verstandenen Gewaltenteilungsprinzips zu werten, sondern bilden dessen Inhalt. 39 Erst wenn die Artikel des Grundgesetzes mehrdeutig oder lückenhaft sind, dürfen historische Inhalte und Zwecke als Auslegungshilfe herangezogen werden. 40 36 Siehe unten Dritter Teil A I 2 a. 37 BVerfGE 7, 183 (188). 38 BVerfGE 3, 225 (247); 34, 52 (59). Ein Beispiel für diese Rechtsprechung bildet

auch BVerfGE 68,1 (86). Dort legte die Senatsmehrheit den Art. 59 11 1 GO "im Lichte des Art. 20 11 2 GO" aus. In seiner abweichenden Meinung [BVerfGE 68, 1 (129)] bemängelte Mahrenholz zurecht: ,,Der Senat legt den Art. 59 11 GO im Lichte des Art. 20 11 GO aus, ohne zuvörderst den Art. 20 11 GO im Lichte des Art. 59 11 GO auszulegen. Art. 59 11 GO ist selbst eine Positivierung des Gewaltenteilungsprinzips des GO. Die Reichweite dieses Prinzips kann daher nicht von einem ideell vorgestellten Gewaltenteilungsschema bestimmt werden." 39 Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 481; Bleckmann, Staatsrecht I, Rn. 561f.; Schwerdtfeger, Öffentliches Recht, Rn. 606; Jarass, Politik und Bürokratie, S. 7; Stettner, JöR 35 (1986), S. 57 (75f.). 40 Maun7lZippelius, Deutsches Staatsrecht, § 13 rn 1. 14"

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Dritter Teil: Amtliche Urteilsschelte

Somit ist die StellWlg der RechtsprechWlg durch eine Einzelanalyse der sie betreffenden Vorschriften zu ermitteln. Das GG eröffnet den beiden ersten Gewalten personelle Wld sachliche Eingriffsmöglichkeiten gegenüber der Judikative, die fiir die Zulässigkeit der Urteilsschelte sprechen Wld in diesem Kapitel A. zunächst Wltersucht werden. Andere Bereiche der Judikative sind durch das GG dem Einfluß von Legislative Wld Exekutive entzogen. Aus diesen BestimmWlgen, die Wlten in Kapitel B. näher behandelt werden, erwachsen Grenzen der Urteilsschelte. a) Die KonstituiefWlg von drei Gewalten nach Art. 20 11 2 GG Nach Art. 2011 2 GG ist die AusübWlg der Staatsgewalt besonderen Organen der GesetzgebWlg, der vollziehenden Gewalt Wld der RechtsprechWlg übertragen. Damit wird die nach Art. 20 11 1 GG vom Volk ausgehende staatliche Macht auf drei Gewalten oder Funktionen übertragen (funktionelle GewaltenteilWlg). Innerhalb dieser Funktionen werden die Aufgaben wiederum durch besondere Organe wahrgenommen (organisatorische GewaltenteilWlg). In Art. 2011 2 GG ist die Geschichte des Prinzips noch lebendig. "Toute societe dans laquelle ( ... ) la separation des pouvoirs (n'est pas) determinee, n'a point de Constitution", hieß es in Artikel 16 der französischen ErkläfWlg der Menschenrechte von 1789 Wld die deutsche Nachkriegsgesellschaft zeigte durch die HervorhebWlg dieses GrWldsatzes in den Art. 2011,79 III GG, daß sie an das Erbe demokratischer VerfassWlgen anknüpfen wollte. ,,Balancing the power of government by placing several parts of it in different hands", lautete schon am Ende des 17. JahrhWlderts das Ziel von John Locke. 41 Durch Art. 20112 GG wird die Macht auf mehrere Schultern verteilt: auf die drei Funktionen Legislative, Exekutive Wld Judikative sowie auf mehrere Organe. So konstituiert das GG verschiedene Machtträger, die jeweils fiir die ihnen zugewiesene Aufgabe besonders prädestiniert sind Wld deren EntscheidWlgen daher eine gewisse Richtigkeitsgewähr enthalten. 42 Vor allem wird aber durch die Vergabe kleinerer Machtanteile ein Mißbrauch von Staatsgewalt Wlwahrscheinlicher Wld - dort wo er doch erfolgt - WlgefährlicherY

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S.lf.

Zitiert nach: Stern, Staatsrecht 11, S. 517. Dazu siehe ausführlich unten Dritter Teil B 11 2 b bb (2). Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, V., Rn. 4; Jarass, Politik und Bürokratie,

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b) Das Verhältnis zwischen den drei Gewalten Die Konzeption des Gnmdgesetzes besteht jedoch nicht in einer strikten TrennWlg der drei Gewalten. Charakteristisch ist vielmehr das "verwirrende Netz von VerbindWlgen'