Zufall: Rechtliche, philosophische und theologische Aspekte [1 ed.] 9783428586219, 9783428186211

Was ist Zufall? Gibt es Zufälle oder ist alles determiniert? Welche Relevanz hat Zufall für die Beurteilung menschlichen

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German Pages 206 [207] Year 2022

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Zufall: Rechtliche, philosophische und theologische Aspekte [1 ed.]
 9783428586219, 9783428186211

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Philosophische Schriften Band 109

Zufall Rechtliche, philosophische und theologische Aspekte Herausgegeben von Konstantina Papathanasiou

Duncker & Humblot · Berlin

KONSTANTINA PAPATHANASIOU (Hrsg.)

Zufall

Philosophische Schriften

Band 109

Zufall Rechtliche, philosophische und theologische Aspekte Herausgegeben von Konstantina Papathanasiou

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-18621-1 (Print) ISBN 978-3-428-58621-9 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes gehen auf die interdisziplinäre Tagung „Zufall – rechtliche, philosophische und theologische Aspekte“ zurück, die am 4. und 5. März 2021 in Regensburg (aufgrund der Coronapandemie leider nur digital) stattfand.1 Zwei Tage lang konnten sich Juristen, Philosophen und Theologen konstruktiv und bereichernd austauschen. Es wurden auch Bezüge zur Physik hergestellt. Die Reihenfolge des Tagungsprogramms wurde für die Publikation beibehalten. Der Referentin und den Referenten danke ich herzlich für ihre Bereitschaft zur Mitwirkung. Ich bedanke mich ebenso sehr bei den digital Teilnehmenden, die mit ihrer aktiven Teilnahme nach jedem Vortrag für spannende und ertragreiche Diskussionen gesorgt haben. Einen großen Dank möchte ich an dieser Stelle auch der Universität Regensburg aussprechen, welche im Rahmen der Zielvereinbarung mit dem Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst sowie des Professorinnenprogramms III des Bundes und der Länder die Verwirklichung des Zufall-Projektes durch die Bewilligung einer punktuellen HiWi-Stelle sowie eines Druckkostenzuschusses für die Publikation des Tagungsbandes großzügig unterstützte. Der Regensburger Jurastudentin Karima Henß danke ich für die wertvolle Hilfe bei der Vorbereitung dieses Bandes. Der vorliegende Tagungsband ist sicher kein Werk des Zufalls. Dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, gerade diese Zeilen lesen, auch nicht. Was ist aber Ihre eigene Vorstellung – gibt es den Zufall? Ich würde mich über Ihre Antwort (per Mail an [email protected]) sehr freuen! Vaduz / Feldkirch, den 14. 2. 2022

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Vgl. Tagungsbericht Rehm, ZJS 2022, 129–134.

Konstantina Papathanasiou

Inhaltsverzeichnis Konstantina Papathanasiou, Vaduz Einleitung – Zufall, Wissen und Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Walter Hehl, Thalwil Der Zufall – die Kreativität, die aus der Physik kommt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Hans Rott, Regensburg Was ist Zufall? Kontingenz – Unvorhersagbarkeit – Koinzidenz . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Holger Leuz, Regensburg Vom Zufall zur Teleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Niki Pfeifer, Regensburg Die Zähmung des Zufalls: Ein Streifzug durch die Geschichte der Philosophie . . . . 60 Urs Kindhäuser, Bonn Zufall und Notwendigkeit in der strafrechtlichen Zurechnungslehre . . . . . . . . . . . . . . 77 Thomas Meyer, Berlin Kausalität, Zufall und Kontrolle – philosophische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Boris Burghardt, Berlin Zufällig erlittenes Leid und der personalisierte Unrechtsbegriff des Strafrechts . . . . . 108 Thomas Spitzlei, Trier Die Verteilung des Corona-Impfstoffs nach dem Zufallsprinzip – gerechtes Entscheidungskriterium oder staatliche Willkür? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Judith Hahn, Bonn Magie in Recht und Religion. Über nichtkausale Wirkungszusammenhänge in rechtlichen und religiösen Ritualen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Christoph Wiesinger, Heidelberg Zufall und Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Placidus Bernhard Heider, Regensburg / Ulm Zufällig Subjekt – Perspektivische Identitäten und Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . 175 Kurt Wuchterl, Stuttgart Philosophische Überlegungen zur Bedeutung des Religiösen in einer chaotischen Welt 189

Einleitung – Zufall, Wissen und Willensfreiheit Konstantina Papathanasiou, Vaduz „Un coup de dés jamais n’abolira le hasard“ Stéphane Mallarmé 1

Ob die Begegnung mit der großen Liebe am Flughafen aufgrund langer Wartezeiten oder die ex ante hoffnungsvolle Bewerbung bei einem ex post als Narzisst erwiesenen Chef, ein beruflicher Erfolg oder ein persönliches Desaster, die letzte Eintrittskarte für ein sensationelles Spektakel bei der Comédie Française oder eine spontane tragische Einladung am 13. 11. 2015 zu einem Konzert in Bataclan. Jeder Mensch muss mindestens einmal in seinem Leben starr vor verblüffend Unerklärlichem gestanden und darüber nachgedacht haben, inwiefern er / sie zum richtigen oder falschen Zeitpunkt am richtigen oder falschen Ort war. Anders gesagt: Inwiefern etwas, das passiert ist, Zufall oder Schicksal war. Dürrenmatt hätte an dieser Stelle in dramaturgischem Ton gesagt: „Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen“.2 Zufall und Schicksal beschäftigen seit eh und je auch sämtliche Wissenschaftsdisziplinen, wobei die Wörter Kontingenz (ursprünglich eine Latinisierung des aristotelischen Möglichkeitsbegriffs) und Notwendigkeit / Determiniertheit in bestimmten wissenschaftlichen Kontexten bevorzugt werden. Von der týche (τύχη3; „Glück“) und anágke (begriffliche Assoziation mit den drei Schicksalsgöttinnen „Moiren“) der griechischen Antike bis zu den heutigen Algorithmen und KI-Anwendungen gelingt es dieser höchst interdisziplinären Thematik, das Interesse aller stets wach zu halten. Die Frage, in welchem Ausmaß das Leben und die Welt in ihren vielfältigsten Erscheinungsformen Kontingenz bzw. Notwendigkeit in sich aufnehmen, wird nicht selten selbst innerhalb ein und derselben Disziplin kontrovers diskutiert. So sorgten bekanntermaßen die Erkenntnisse der Physik mit der Unbestimmtheitsrelation Heisenbergs 1927 hinsichtlich der atomaren Welt der kleinsten Teile für eine radikale Wende bei der damaligen naturwissenschaft-

1 Mallarmé, Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Ein Würfelwurf niemals tilgt den Zufall. 2 So lautet der 8. von den „21 Punkten zu den Physikern“; siehe Dürrenmatt, Werkausgabe in dreißig Bänden, Bd. 7, S. 91. 3 Zu einer Auflistung einschlägiger Zitate aus der altgriechischen Literatur s. Liddell / Scott, Griechisch-englisches Großwörterbuch, Band IV, S. 404 f.

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lichen Weltwahrnehmung4, während Einstein seine feste Überzeugung von dem Ursache-Wirkung-Prinzip durch den im Laufe der Zeit berühmt gewordenen Satz zum Ausdruck brachte, der Gott würfele nicht.5 Was ist Zufall? Nach meinem Verständnis ist Zufall etwas, das unvorhersehbar eintritt, das auf nichts anderes Bekanntes zurückgeführt werden kann, das letztendlich überraschend kommt. Für die deutsche Sprache erklärt DUDEN den Zufall als „etwas, was man nicht vorausgesehen hat, was nicht beabsichtigt war, was unerwartet geschah“.6 Ausführlicher ist die ältere Definition bei Meyers Konversations-Lexikon: „Zufall (lat. Casus), im gewöhnlichen Leben alles, was uns nicht als notwendig oder beabsichtigt erscheint, oder für dessen Eintreten wir einen Grund nicht nachweisen können, das also nach unsrer Meinung ebensogut in andrer Weise und zu andrer Zeit hätte geschehen können. Demgemäß wird die Zufälligkeit bald der Notwendigkeit, bald der Wesentlichkeit, bald der Absichtlichkeit entgegengesetzt“.7 Besonders treffend finde ich aber die französische Definition bei Larousse: Zufall sei ein glückliches oder unglückliches Ereignis, das aufgrund einer Reihe unvorhersehbarer Umstände eintrete. Zufall kann nach Larousse zugleich als Ursache verstanden werden, die Ereignissen zugeschrieben wird, welche als logisch unerklärlich gelten und nur dem Gesetz der Wahrscheinlichkeiten unterliegen.8 Eine solche Interpretation durch die normale Sprache (ordinary language) weist allem voran auf eine Art „subjektive Erkenntnislücke“ hin, nämlich darauf, dass wir in der Regel einfach nicht wissen, wie und warum ein Ereignis eingetreten bzw. zustande gekommen ist; Ursachen für dieses Ereignis gibt es trotzdem immer bzw. meistens. Ein aktuelles Beispiel dafür ist Corona: Die rasante Verbreitung des Virus um die ganze Welt vor zwei Jahren brachte zugleich verheerende finanzielle Konsequenzen mit sich – von den psychologischen oder gesellschaftlichen ganz zu schweigen. Das Geschehen der Pandemie wirkte sich als Unvorhersehbares aus, etwa für Musiker, die plötzlich ihre Konzerte absagen mussten. Diese hätten damit nicht rechnen können. Jedoch entstand die Pandemie nicht aus dem Nichts, sondern geht freilich auf ganz bestimmte Entstehungsprozesse und Kausalketten zurück, ist mithin kein Zufall. Ob und inwiefern die Ursachen vollständig recherchierbar und die Kausalketten nachweisbar sind, ist eine andere Frage.

4 Vgl. Emter, Literatur und Quantentheorie, S. 43. Siehe auch Heisenberg, Quantentheorie und Philosophie, S. 62 ff. („Quantenmechanik und Kantsche Philosophie“). 5 Vgl. auch Schleiff, Schöpfung, Zufall oder viele Universen?, S. 54 Fn. 21. 6 Verlinkt unter https://www.duden.de/rechtschreibung/Zufall (zuletzt abgerufen am 9. 1. 2022). 7 Verlinkt unter https://meyers.de-academic.com/154871/Zufall (zuletzt abgerufen am 9. 1. 2022). 8 Larousse, Dictionnaire encyclopédique illustré, S. 742: „Hasard: événement heureux ou fâcheux, dû à un ensemble de circonstances imprévues. Cause attribuée aux événements considérés comme inexplicables logiquement et soumis seulement à la loi des probabilités“.

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Diesen Zustand des nicht hinreichenden Wissens über die Ursachen würde ich epistemische Lücke nennen, um das Geschilderte von der umgekehrten Konstellation des zufälligen Wissens abzugrenzen, das streng genommen auch kein Wissen ist. In der theoretischen Philosophie spricht man dabei von dem sog. epistemischen Zufall (epistemic luck9). Jahrhundertelang wurde Wissen aufgrund einer bestimmten Passage in Platon’s Dialog Theätet10 als justified true belief (JTB), d. h. als wahre, gerechtfertigte Meinung (klassische Analyse des Wissens, KAW) verstanden. Es wurde insbesondere von folgender Prämisse ausgegangen: Eine Person P weiß, dass a, nur dann, wenn: (i) es wahr ist, dass a; (ii) P glaubt, dass a; und (iii) P ist gerechtfertigt in ihrem Glauben, dass a. Gettier hat jedoch 1963 in einem gerade nur dreiseitigen Paper11 aufgrund einzelner konstruierter Beispiele gezeigt, dass die drei besagten Bedingungen zwar notwendig, aber keinesfalls hinreichend für Wissen sind. Dies lässt sich durch das ganz einfache, auf Russell zurückgehende Kirchenturmuhrbeispiel verdeutlichen. Weil ich selbst als Kind dieses Beispiel tatsächlich erlebt habe, erlaube ich mir, es in einem autobiografischen Kontext wiederzugeben: Meine Heimatstadt Ägion liegt in einem erdbebengefährdeten Gebiet und wurde am 15. 6. 1995 besonders stark (Richterskala ~6,3) erschüttert. Die Uhrzeit des Erdbebens ließ sich auch ohne die seismografische Meldung exakt beziffern: Die seismischen Wellen stoppten die sonst zuverlässig funktionierende Kirchenturmuhr der Faneromeni Kathedrale (ein Werk des deutschen Architekten Ernst Ziller) um 3:15 Uhr. Am nächsten Tag hätte ich um 15:15 Uhr auf die Frage „Wie spät ist es?“ richtig antworten können. Der KAW zufolge hätte ich nämlich das Wissen, dass es 15:15 Uhr war, denn (i) es war wahr, dass es 15:15 Uhr war, (ii) ich glaubte, dass es 15:15 Uhr war und (iii) ich war gerechtfertigt in meinem Glauben, dass es 15:15 Uhr war. Die angezeigte Uhr war allerdings nur zufällig richtig.12 Gettier wies darauf hin, dass die drei notwendigen Bedingungen (i), (ii) und (iii) um eine vierte (iv) ergänzt werden müssen, damit alle gemeinsam eine hinreichende Bedingung des Wissens darstellen können. Erforderlich ist es insbesondere, zu ermitteln, wann sich eine Rechtfertigung wesentlich auf eine falsche Meinung bezieht bzw. im Zusammenhang mit einer solchen steht. Durch die Bedingung 9

Siehe näher unter https://iep.utm.edu/epi-luck/ (zuletzt abgerufen am 2. 1. 2022). Apelt (Hrsg.), Platon Sämtliche Dialoge, Bd. 4: Theätet, Parmenides, Philebos, S. 128–130 (Theätet, 201–202): Was επιστήμη sei, lautet μετά λόγου αληθής δόξα (meta logou alêthês doxa), also mit Erklärung verbundene wahre Meinung. 11 Gettier, Is Justified True Belief Knowledge?, Analysis 1963, S. 121 ff. [ins Deutsche übersetzt von Stoecker, in: Bieri (Hrsg.), Analytische Philosophie der Erkenntnis, S. 91 ff.]. 12 Andere Konstellationen, wo das Gleiche passiert, ist z. B. der Fall einer „Wahrsagerin“ oder unter Umständen der Fall eines Anwaltsplädoyers (wenn ein Verteidiger von der Schuld seines eigentlich unschuldigen Mandanten ausgeht, im Plädoyer aber für dessen Freispruch plädiert). 10

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Konstantina Papathanasiou

(iv) müsste dann dieser Fall ausgeschlossen sein.13 Es ist also in erkenntnistheoretischer Hinsicht essenziell, mit Irrtümern umgehen zu können, weil nicht jeder Irrtum zwingend auch keine Grundlage für Wissensansprüche sein könnte.14 Mit anderen Worten ist davon auszugehen, dass eine Meinung zwar gerechtfertigt, aber trotzdem falsch sein kann.15 Wäre eine Wahrheitsgarantie in der Rechtfertigung einer Meinung inbegriffen, wäre Wissen letztendlich kaum möglich.16 Die Abgrenzung der epistemischen Lücke vom epistemischen Zufall leitet uns zu der umfassenden und eigentlich übergeordneten Frage über, inwiefern die epistemische Lücke für die Diskussion über die Willensfreiheit eine Relevanz hat. Aufgrund der epistemischen Lücke wirken nämlich Geschehnisse zufällig auf uns, obwohl es dafür freilich gesetzesmäßige Ursachen gibt. Wie wir mit den so wahrgenommenen Zufällen umgehen oder was wir letztendlich daraus für die eigenen Lebensentwürfe lernen, ist jedoch eine autonome und bewusste Entscheidung. Ob der Mensch autonom und bewusst, mithin freiverantwortlich für seine Handlungen entscheidet, lässt sich nicht unisono beantworten. Seit über 2.500 Jahren bemüht man sich in der Philosophie darum, das Stattfinden von Ereignissen zu erklären, um daraus ethische Schlussfolgerungen für den Menschen und die Welt zu ziehen. Der Vorsokratiker Demokrit war der erste Determinist der Antike. Wie Aristoteles in seiner Schrift „Περὶ ζῴων γενέσεως“ (789b 2) ausführt, wollte Demokrit alles auf eine natürliche Notwendigkeit zurückführen.17 Für die aristotelische Analyse ethisch relevanten Verhaltens sind dagegen die Begriffe ἑκούσιον καὶ ἀκούσιον (hekousion / Willentliches und akousion / Unwillentliches) von zentraler Bedeutung.18 Man begegnet einer Person, die etwas unwillentlich getan hat, mit Nachsicht oder sogar Mitgefühl; Lob und Tadel – genauso wie Belohnung und Strafe – bekommt nur diejenige Person, die willentlich gehandelt hat.19 Mit den Worten Aristoteles’ gilt als unfreiwillig, „was unter Zwang und auf Grund von Unwissenheit geschieht. Dementsprechend darf als freiwillig das gelten, dessen 13

In der theoretischen Philosophie haben sich bisher mehrere Ansätze entwickelt, Einigkeit herrscht allerdings nicht – und es ist auch nicht absehbar, dass dies der Fall sein wird. Ein überzeugender Ansatz ist m. E. jener der „Methode der geeigneten kontrafaktischen Beziehung“. Dazu s. nur Nozick, in: Bieri (Hrsg.), Analytische Philosophie der Erkenntnis, S. 167–174. 14 Zu den Irrtümern im Strafrecht siehe Papathanasiou, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale. 15 Vgl. näher Russell, Probleme der Philosophie, S. 106 ff. (12. Problem: „Wahrheit und Falschheit“). 16 Für die Relevanz dieser Tatsache für Strafurteile siehe Papathanasiou, Wie viel Konsens verträgt der Strafprozess? 17 Prantl (Hrsg.), Aristoteles’ Werke, Griechisch und Deutsch und mit facherklärenden Anmerkungen, Bd. 3, Fünf Bücher von der Zeugung und Entwickelung der Thiere, S. 405: „Demokritos aber hat die Zweckursache außer Acht gelassen, und führt Alles, was die Natur gebraucht, auf die Nothwendigkeit zurück“. Im Original: „Δημόκριτος δὲ τὸ οὗ ἕνεκεν ἀφεὶς λέγειν πάντα ἀνάγει εἰς ἀνάγκην οἷς χρῆται ἡ φύσις“ (S. 404). 18 Zum Folgenden und zur nächsten Seite vgl. bereits Papathanasiou, Plädoyer gegen das praxistheoretische Akteursverständnis, S. 21 ff., 27 ff. 19 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch III, 1109b 30–34.

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bewegendes Prinzip in dem Handelnden selbst liegt, wobei er ein volles Wissen von den Einzelumständen der Handlung hat.“20 Somit gilt der Mensch selbst als Ursprung (Archē) seiner Handlungen.21 Aber zurechnungsfähig sind unter den freiwilligen Handlungen nur solche, die aus einer Prohairesis (προαίρεσις) hervorgehen.22 Bei diesem grundlegenden Begriff handelt es sich um das überlegte Entscheiden bzw. Vorziehen nach rationalem Mitsich-zu-Rate-gehen (bouleuesthai).23 Bedingung der sittlichen Zurechnung ist erst die Wahlfreiheit nach bedachtsamer Überlegung und reflektierter Abwägung von Zwecken und Mitteln.24 Aristoteles interessiert sich nicht dafür, ob unsere Wahl „frei“ ist, sondern dafür, dass die Handlungen „bei uns“ liegen. Die Annahme, alles geschehe aus Notwendigkeit, wird von ihm konsequenterweise abgelehnt, zumal die Ursprünge unserer Handlungen dann ins Unendliche zurückführbar sein müssten und sorgfältiges bouleuesthai sinnlos wäre.25 Dank der Stoiker fand die griechische Philosophie Eingang in Rom und mithin in die römische Rechtswissenschaft; die Schuldlehre des römischen Strafrechts ist letztendlich eine vorzüglich gelungene Übertragung der aristotelischen ethischen Grundsätze in das Juristische.26 Der Begriff des „bösen Willens“ (dolus malus) wird in den Vordergrund gestellt und mithin gilt der Wille nun als Träger einer jeden strafrechtlichen Verantwortlichkeit.27 Repräsentativ für das damalige Verständnis ist der durch Hadrian ausgesprochene Grundsatz in maleficiis voluntas spectatur, non exitus28, dass nämlich bei Straftaten der Wille, nicht der Ausgang beurteilt werde. Diese Entwicklung wird als „eine der wichtigsten Thatsachen der Weltgeschichte“ betrachtet.29 So gesehen ist es stets die Entscheidung bzw. die Befähigung zur Reflexion und Abwägung von Gründen für oder gegen eine Handlung gewesen, die uns 2.500 Jahre hindurch zu verantwortlichen Akteuren macht. Die wechselseitige Anerkennung der Entscheidung bzw. der Befähigung zur Reflexion und Abwägung von Gründen stellt zugleich die Basis von Selbstachtung und Achtung gegenüber anderen dar.30 Diese Abwägung ist autonom und nicht lediglich die rein naturwis 20

Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch III, 1111a 20–21. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch III, 1112b 32 („ἄνθρωπος εἶναι ἀρχὴ τῶν πράξεων“). 22 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, 1138a 21.  23 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch III, 1111b 5 ff., insb. 1112a 30–31. 24 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch VI, 1139a 32. 25 Vgl. Meyer / Hause, in: Heidbrink et al. (Hrsg.), Handbuch Verantwortung, S. 87 ff. (91) mit Verweis u. a. auf die Metaphysik des Aristoteles. 26 Löffler, Die Schuldformen des Strafrechts in vergleichend-historischer und dogmatischer Darstellung, Bd. I, Abt. I, 1895, S. 69, 73. 27 Löffler, Die Schuldformen des Strafrechts, S. 86. 28 Zitiert nach Berner, Grundlinien der criminalistischen Imputationslehre, S. 269. 29 Löffler, Die Schuldformen des Strafrechts, S. 68. 30 Einige zeitgenössische Philosophen gehen von einem radikaleren Verständnis von Selbstachtung und Achtung aus. Etwa Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, 21

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senschaftlich betrachtete, kausale Folge von Vorprägungen genetischer und biografischer Art oder von Umweltbedingungen – auch wenn wir derentwegen eine bedingte Freiheit genießen.31 Freiheit ist nicht beweisbar, weil empirisch nicht fassbar. Die neuronalen Synapsen in unserem Gehirn sind außerdem zu komplex, um sich vorhersehen zu lassen, und die Gegenposition, wir seien eine Art determinierte Bioautomaten, lässt sich ebenso wenig beweisen.32 Treffend wurde hierzu bemerkt – auch mit Blick auf die KI-Entwicklungen: „Die Hirnforschung erklärt uns nicht, wie wir uns als geistige Wesen verstehen sollen. Und dass unser neuronales Geschehen indeterministisch verläuft, bedeutet nicht, dass wir wie parallel verschaltete Roboter über unser neuronales Netz am Faden eines Zufallsgenerators baumeln, wenn wir uns in unseren Strategien festgefahren haben. Ein künstliches neuronales Netz muss neu würfeln. Doch wir können umdenken, anhand der Erwägung von Gründen. Natürlich kann die kognitive Neurowissenschaft versuchen, Gründe als Ursachen zu modellieren. Doch was dies dann über unsere wirklichen Handlungsmotive besagt, liegt im Nebel“.33 Vor diesem Hintergrund handelt es sich um folgende zentrale Frage: Steht die Annahme von gesetzesmäßigen Ursachen im Sinne von Determiniertheit der Anerkennung autonomer und bewusster Entscheidungen entgegen? Je nachdem, wie die Antwort darauf lautet und ob darüber hinaus zusätzliche Bedingungen gesetzt werden, bilden sich noch heute – insb. in der englischsprachigen Literatur – die unterschiedlichsten philosophischen Strömungen.34 Die zwei großen Kategorien sind der Inkompatibilismus und der Kompatibilismus. Inkompatibilisten gehen davon aus, dass Willensfreiheit und Determiniertheit nicht verneinbar sind, weil sonst dem Menschen jegliche Möglichkeit des Anders-Könnens entzogen wäre. Innerhalb dieser Kategorie wird deshalb jeweils entweder die Willensfreiheit oder die Determiniertheit für falsch gehalten und mithin grundsätzlich zweierlei vertreten: Entweder gibt es keinen freien Willen und deshalb keine moralische Verantwortung (sog. harter Determinismus)35 oder die Welt ist nicht deterministisch

argumentiert für das Streben nach einer „anständigen“ Gesellschaft, deren Institutionen die Menschen nicht demütigen. Achtung sei dem Menschen „nicht dafür zu zollen, in welchem Grad er sein Leben tatsächlich zu verändern vermag, sondern allein für die Möglichkeit der Veränderung“ (S. 92). 31 Aus der einschlägigen philosophischen Literatur vgl. Nagel, Geist und Kosmos: Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. 32 Vgl. Papathanasiou, in: Bock, Stefanie et al. (Hrsg.), Strafrecht als interdisziplinäre Wissenschaft, S. 53 ff. (63 ff.) m. w. N. 33 Falkenburg, Mythos Determinismus, S. 413. 34 Siehe statt anderer Quellen nur das Lemma „free will“ bei der Stanford Encyclopedia of Philosophy (online verfügbar unter https://plato.stanford.edu/entries/freewill/#LibeAccoSour; zuletzt abgerufen am 9. 1. 2022). Zu den Standardwerken zählt u. a. Kane (Hrsg.), The Oxford Handbook of Free Will. Aus der deutschen Literatur siehe neuerdings Walter (Hrsg.), Grundkurs Willensfreiheit. 35 Näher hierzu Kane, A Contemporary Introduction to Free Will, S. 67 ff.

Einleitung – Zufall, Wissen und Willensfreiheit

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(sog. Liber­tarismus)36. Kompatibilisten halten hingegen Willensfreiheit und Determiniertheit für vereinbar. Dabei wird das wesentliche Erfordernis des Anders-Könnens entweder als Spielraum bei alternativen Möglichkeiten (leeway-based conceptions) betrachtet oder durch den auf Aristoteles zurückgehenden Gedanken des Menschen als Ursprung seiner Entscheidungen (sourcehood conceptions) ersetzt.37 Von grundlegender Bedeutung sind freier Wille und Autonomie zwangsläufig auch für die normative Rechtswissenschaft, die Pflichten und Verantwortung verteilt und dabei den Zufall in bestimmten Konstellationen durchaus anerkennt und möglichst präzise zu regeln versucht. Ausgegangen wird nach tradiertem juristischem Verständnis von der Prämisse des freiverantwortlichen Menschen, der selbstbestimmt aufgrund bewusster Entscheidungen handelt. Ein Strafrechtler interessiert sich im Wesentlichen für die Schuld des Täters, nämlich für dessen bewusste, freie und ihm persönlich vorzuwerfende Entscheidung für das Unrecht. Bestraft wird anerkanntermaßen nur schuldhaftes Verhalten (nullum crimen sine culpa).38 Der Zufall kann aber außerdem für die deliktsaufbaumäßig vorgelagerte Frage relevant sein, ob der Täter überhaupt Unrecht getan hat – und wenn ja, in welchem Ausmaß. Ein Standartbeispiel aus den Lehrbüchern: A und B verabreichen unabhängig voneinander und ohne Rücksprache je 3 mg Gift in den Kaffee des C, weil sie ihn töten wollen. Das Gift wirkt erst ab einer Dosis von 6 mg tödlich, was weder A noch B wusste. Haben sie sich wegen Totschlags strafbar gemacht? Mit anderen Worten stellt sich hier die Frage, ob der Tod des C dem A und dem B zuzurechnen ist. Der Begriff der Zurechnung ist von zentraler Bedeutung für die Strafrechtswissenschaft.39 Eine weitere besondere Konstellation, wo der Zufall entscheidend vorkommt, ist jene des beendeten Versuchs: Hat der Täter alles Notwendige zur Tatbestandsverwirklichung getan, trägt er das Risiko eines selbst „nur“ zufälligen Erfolgseintritts. Ganz praktische Fragen stellen sich darüber hinaus für das Strafverfahrensrecht in Bezug auf sog. Zufallsfunde. Dabei handelt es sich um Erkenntnisse, die während der Ermittlung einer bestimmten Straftat (z. B. mittels Telekommunikationsüberwachung) „zufällig“ i. S. von „ungeplant“ bzw. „bei dieser Gelegenheit“ gewonnen werden und auf die Verübung einer anderen Straftat hindeuten.40 Gerade die rechtsphilosophische Grundlagenfrage der Willensfreiheit war der Katalysator für die Konzeption und Organisation der diesem Band zugrundeliegenden Tagung. Und weil die Philosophie sowohl mit der Rechtswissenschaft als

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Näher hierzu Kane, A Contemporary Introduction to Free Will, S. 32 ff. Vgl. Kane, A Contemporary Introduction to Free Will, S. 6. Näher hierzu Timpe, in: K ­ evin Timpe et al. (Hrsg.), Routledge Companion to Free Will, S. 213 ff. 38 Strafe setzt Schuld voraus. Grundlegend hierzu BGHSt 2, 194 (200) und BVerfGE 123, 267 (413). 39 Hierzu siehe Puppe, Die Erfolgszurechnung im Strafrecht, passim. 40 Grundlegend BGH 27. 11. 2008 – 3 StR 342/08, NStZ 2009, 224. 37

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auch mit der Theologie sehr eng verbunden ist, wurde diese Schnittstelle zum Einschränkungskriterium für die Analyse des Zufallsbegriffs.41 Die folgenden 12 Beiträge beleuchten je einen Aspekt des Zufallsbegriffs, ausgehend von der eigenen Fachsprache. Ein Ergebnis der Tagung ist die Erkenntnis, dass trotz fachspezifischer Begrifflichkeiten das Interesse an und der Gewinn von dem interdisziplinären Austausch sehr groß ist. Ob ein Würfelwurf niemals den Zufall tilgt, wie Mallarmé am Titel seines eingangs zitierten Werkes schreibt, kann allerdings eine aporetische Frage bleiben.

Literatur Apelt, Otto (Hrsg.): Platon Sämtliche Dialoge, in Verbindung mit Hildebrandt, Kurt / R itter, Constantin / Schneider, Gustav, mit Einleitungen, Literaturübersichten, Anmerkungen und Registern versehen von Apelt, Ott, Bd. 4: Theätet, Parmenides, Philebos, Lizenzausgabe 2013. Aristoteles: Nikomachische Ethik, Reclam Universal-Bibliothek Nr. 8586, 2015. Berner, Albert Friedrich: Grundlinien der criminalistischen Imputationslehre, 1843. Dürrenmatt, Friedrich: Werkausgabe in dreißig Bänden, Bd. 7, 1980. Emter, Elisabeth: Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925–1970), 1995. Falkenburg, Brigitte: Mythos Determinismus. Wieviel erklärt uns die Hirnforschung?, 2012. Gendolla, Peter / Kamphusmann, Thomas (Hrsg.): Die Künste des Zufalls, 1999. Gettier, Edmund: Is Justified True Belief Knowledge?, Analysis 1963, S. 121 ff. [ins Deutsche übersetzt von Stoecker, Ralf, in: Bieri, Peter (Hrsg.), Analytische Philosophie der Erkenntnis. 1997, S. 91 ff.]. Heisenberg, Werner: Quantentheorie und Philosophie. Vorlesungen und Aufsätze, hrsg. von Busche, Jürgen, 1979. Kane, Robert: A Contemporary Introduction to Free Will, 2005. Kane, Robert (Hrsg.): The Oxford Handbook of Free Will, 2nd ed., 2011. Larousse: Dictionnaire encyclopédique illustré, 1997. Lejeune, Denis: Qu’est-ce que le hasard? Psychologie, science, arts, philosophie, société: comment le hasard guide les hommes, 2007. Liddell, Henry / Scott, Robert: Griechisch-englisches Großwörterbuch, übers. ins Griechische durch Mosxou, Xenofon Bd. IV, Neuauflage 2001. 41 Vgl. etwa die anders geschnittenen interdisziplinären Publikationen Lejeune, Qu’est-ce que le hasard? Psychologie, science, arts, philosophie, société: comment le hasard guide les hommes; Gendolla / Kamphusmann (Hrsg.), Die Künste des Zufalls.

Einleitung – Zufall, Wissen und Willensfreiheit

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Löffler, Alexander: Die Schuldformen des Strafrechts in vergleichend-historischer und dogmatischer Darstellung, Bd. I, Abt. I, 1895. Mallarmé, Stéphane: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Ein Würfelwurf niemals tilgt den Zufall, 1995. Margalit, Avishai: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, übers. von Schmidt, Gunnar / Vonderstein, Anne, 2012. Meyer, Susan Sauvé / Hause, Jeffrey: Der Begriff der Verantwortung in der Antike und im Mittelalter, in: Heidbrink, Ludger et al. (Hrsg.), Handbuch Verantwortung, 2017, S. 87 ff. Nagel, Thomas: Geist und Kosmos: Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, übers. von Wördemann, Karin, 2016. Nozick, Robert: Bedingungen für Wissen, in: Bieri, Peter (Hrsg.), Analytische Philosophie der Erkenntnis, 1997, S. 167 ff. Papathanasiou, Konstantina: Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale. Eine Verortung der subjektiven Zurechnung innerhalb der verfassungsrechtlichen Koordinaten des Bestimmhtheitsgrundsatzes und des Schuldprinzips, 2014. Papathanasiou, Konstantina: Neurobiologische Befunde vs. Strafrechtliches Schuldprinzip, in: Bock, Stefanie et al. (Hrsg.), Strafrecht als interdisziplinäre Wissenschaft, 2015, S. 53 ff. Papathanasiou, Konstantina: Plädoyer gegen das praxistheoretische Akteursverständnis  – Zur Notwendigkeit der Annahme des Triptychons aus Autonomie, Initiative und Verantwortung, RphZ 2019, S. 21 ff. Papathanasiou, Konstantina: Wie viel Konsens verträgt der Strafprozess?  – Eine philoso­ phische Annäherung anlässlich der Verständigung nach § 257c StPO, ZStW 2022 (134), S. 242 ff. Prantl, Carl (Hrsg.): Aristoteles’ Werke, Griechisch und Deutsch und mit facherklärenden Anmerkungen, Bd. 3, Fünf Bücher von der Zeugung und Entwicklung der Thiere, übers. und erläutert von Aubert, Hermann / Wimmer, Friedrich, 1860. Puppe, Ingeborg: Die Erfolgszurechnung im Strafrecht. Dargestellt an Beispielfällen aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 2000. Russell, Bertrand: Probleme der Philosophie, übers. von Bubser, Eduard, 27. Aufl., 2019. Schleiff, Matthias: Schöpfung, Zufall oder viele Universen? Ein teleologisches Argument aus der Feinabstimmung der Naturkonstanten, 2019. Timpe, Kevin: Leeway vs. Sourcehood Conceptions of Free Will, in: Timpe, Kevin et al. (Hrsg.), Routledge Companion to Free Will, 2017, S. 213 ff. (auch online verfügbar unter https://kevintimpe.com/wp-content/uploads/sites/26/2018/12/CompanionFW.pdf; zuletzt abgerufen am 9. 1. 2022). Walter, Sven (Hrsg.): Grundkurs Willensfreiheit, 2018.

Der Zufall – die Kreativität, die aus der Physik kommt Walter Hehl, Thalwil Vortrag nach dem Buch vom gleichen Autor: Zufall in Physik, Informatik und Philosophie, Springer Heidelberg, 2021 Der Zufall ist verbunden mit Wissen und Nichtwissen, bekannter oder unbekannter Ursache. Wir zeigen, dass der Zufall nicht nur existiert, sondern dass er den Fortschritt der Welt und den unseres Lebens bestimmt im Rahmen der nichtzufälligen Naturgesetze. Der Zufall bestimmt die Richtung der Zeit und es gibt vom Anbeginn der Welt im Urknall nichts Neues ohne den Zufall. Als Folge davon ist überall um uns Zufall, oft und letzten Endes im Kleinen als ein Rauschen in allen Dingen, so in den Wellen des Meeres, dem Laub der Bäume und im Zittern der Teilchen bei der Brownschen Bewegung. Auch menschliche Kreativität entsteht mit und im Zufall. Der Zufall in uns gehört zu unserer Identität. Der amerikanische Philosoph Charles Peirce hat diese moderne Deutung der Welt im 19. Jahrhundert vorhergesehen.

Geschichte des Zufalls in der Physik Antike:  „Alles, was im Weltall existiert, ist die Frucht von Zufall und Notwendigkeit.“

Demokrit von Abdera, griechischer Philosoph, ca. 460 v. Chr. bis 370 v. Chr.

Aufklärung:

„Le hasard et un mot vide de sens; rien ne peut exister sans cause.“



Der Zufall ist ein leeres Wort ohne Sinn; es gibt nichts ohne Ursache.



Voltaire, französischer Philosoph, 1694–1778.

(Post-)Moderne: „Die mehr als 100jährige Erfolgsgeschichte der Quantentheorie hat indes die Physiker gelehrt, inzwischen wie selbstverständlich mit dem Faktor Zufall umzugehen.“

Norbert Lossau, deutscher Physiker, in der „Welt“ vom 28. 12. 2007.

Diese drei Zitate entsprechen drei Epochen der Physik, aber auch der Weltanschauung als Ganzes und der Erkenntnistheorie. Allerdings ist Demokrit, der Vertreter der Antike hier in den Zitaten, nur eine großartige Nebenrichtung der griechischen Philosophie.

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Antike und Zufall Die antike Hauptrichtung der Auffassung vom Zufall vertritt Aristoteles, der auch im Buch „Physik“ dem Zufall ein Kapitel widmet. Für Aristoteles gibt es den Zufall beim Zusammentreffen von zwei Geschehnissen, die nicht in einer „des­ wegen“-Beziehung bestehen. Das Attribut „deswegen“ vermischt Kausalität und Sinn, auch seine Diskussion vermischt physikalischen Fakt und menschliche Bewertung; der gute Zufall ist eine „Fügung“. Danach klassifiziert Aristoteles den Zufall recht komplex, zum Glück mit sehr bildhaften Beispielen. Seine Definitionen und seine Diskussionen sind dem Alltag nahe. Er definiert anschaulich: „Das eine (das Zufallsereignis) hat seine Ursache außerhalb seiner, das andere (das Naturereignis) in sich selbst.“ Aristoteles in „Physik, Vorlesung über Natur“.

Diese Definition ist für manche alltägliche Ereignisse sinnvoll, etwa wenn zwei Autos zusammenstossen per Zufall, aber schon nicht mehr, wenn ein Auto auf der Autobahn zufällig stehen bleibt aus Treibstoff- (oder Strom-) Mangel. „Fügungen“ sind Untermengen des Zufalls für Menschen: Es sind glückliche Zufälle, vielleicht von Göttern arrangiert. Viel erstaunlicher ist die Lehre des Demokrit, der antike philosophische Atomismus. Demokrit baut den Zufall nämlich klar in das Weltmodell ein. Bereits außerordentlich ist die Vorstellung von Atomen als die kleinsten Teilchen der Welt, der materiellen wie der geistigen, und dies aus philosophischen Gründen. Die anderthalb Jahrtausende vorgedachte Analogie geht (korrekt) weiter: Die Atome haben verschiedene Formen und Haken zur Verbindung. Es gibt Atome mit spontaner Geschwindigkeit (Lichtteilchen?) und ganz leichte, seelische Atome. Diese Atome verflüchtigen sich beim Tod und damit das Leben. Etwas gewagt kann man darin auch die Atome der Information sehen, die Bits. Noch eine weitere antike Vorstellung ist wieder Vorahnung: Die gedachten Atome bewegen sich chaotisch im leeren Raum. Es ist genauso in Gasen: In Luft bewegen sich in jedem Fingerhut voll Luft Myriaden von Molekülen und stossen laufend zusammen, fliegen auseinander usf. Die meisten dieser Körperchen sind Hanteln aus zwei Atomen (Sauerstoff oder Stickstoff), dazu auch einzelne Kügelchen von Edelgas Argon. Es ist eine gigantische Menge von Zufall und Bewegung. Wie erklären die antiken Atomisten die zufällige Bewegung? Es gebe das Clinamen, eine spontane, ständige, zufällige innere Zitterbewegung der Atome, die ohne weitere Begründung einfach da ist. Ohne Clinamen wäre die Welt langweilig und die Atome würden sich im Gleichschritt bewegen, mit Clinamen gibt es laufend Neues. Durch das Clinamen „tanzen die Atome wie Staubkörner im Lichtstrahl“, hat sie der römische Dichter und Atomist Lukrez beschrieben. Das ist in der Tat richtig: Die echten Atome tanzen unermüdlich, sind aber nicht

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Abb. 1: Typisches Bild einer Brownschen Bewegung, vergleichbar der Bewegung der demokritischen Atome. Aufnahme der Zufallsbewegungen von Teilchen von weißer Tusche in Wasser unter dem Mikroskop. Bild: Fakultät Physik, LMU München

zu sehen im Licht, erst Staubteilchen im Zimmer werden sichtbar. Es ist offensichtlich, was die rationalen Römer über die Atomisten denken mussten: Es sind Sonderlinge. Aber heute kann jeder den Tanz sehen im Mikroskop als Zittern von kleinen Teilchen, die in einem Wassertropfen schweben; es ist die Brownsche Bewegung (Abb. 1). Der Botaniker Robert Brown hat das Phänomen 1827 entdeckt und gesehen – 1.800 Jahre nach den Ideen des Demokrit. Er hielt es für das Sexualleben der Pflanzen.

Aufklärung und Zufall Für das praktische Leben war Demokrit der Ansicht des Voltaire: Wir nennen Vorgänge dann Zufall, wenn wir die Ursachen nicht erkennen können. Die Auffassung von Voltaire vom Zufall als leerem Wort ist nicht nur die Auffassung der Aufklärung, sondern sie bestimmt noch unser Denken. Das Wort „Zufall“ ist leer, weil Voltaire dahinter immer eine Ursache sieht (Determinismus). Genauer: Wir müssen eine Ursache sehen, so hat uns die Evolution als Jäger und Sammler gebaut (Hehl, 2019). Die Religion bietet eine konsequente Lösung an: Die Kette von Ursachen geht nicht ewig in die Vergangenheit weiter zurück, es gibt einen Anfangspunkt, Gott, den man per Edikt nicht hinterfragen darf. Die Frage wäre ein Syntax-Fehler. Religion kann das „leere Wort“ Zufall immer ausfüllen: Das unerklärliche Gute wie das Böse kann Gottes Wille sein. Aber gerade die Religion bringt ein Prob-

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lem, indem sie die Kette der Ursachen unterbricht mit einem per Definition „irgendwie“ akausalen, nicht definierten, aber gefühlten Element, dem freien Willen des Menschen. Es ist für die Religion selbst ein Paradoxon zur Allmacht Gottes. Die Epoche der Aufklärung hat das Problem, dass sich der Fortschritt der Wissenschaften lange nur auf die materielle Seite bezieht, im Wesentlichen auf die Physik. Da der freie Wille aber in die intellektuelle, informationstheoretische Seite der Welt gehört, die es noch kein Jahrhundert gibt, war keine Lösung der Frage „Haben wir einen freien Willen?“ möglich. Oft wurde der Zufall hinzugezogen, um den Willen „frei zu machen“. Aber dies ist paradox – der Zufall ist erst recht und per Definition nicht der Wille einer Person. Der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (Abb. 2) bringt es logisch klar auf den Punkt (Heinrich, 2011): Der Begriff des freien Willens ist logisch ein Zirkelschluss (s. u.), kurz ausgedrückt in dem Zitat von Albert Einstein, eine popularisierte Version der Argumentation von Schopenhauer (Miller-Waldner, 2011): „Ich glaube nicht an die Freiheit des Willens. Schopenhauers Wort: ‚Der Mensch kann wohl tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will‘, begleitet mich in allen Lebenslagen und versöhnt mich mit den Handlungen der Menschen, auch wenn sie mir recht schmerzlich sind. Diese Erkenntnis von der Unfreiheit des Willens schützt mich davor, mich selbst und die Mitmenschen als handelnde und urteilende Individuen allzu ernst zu nehmen und den guten Humor zu verlieren.“

Wir werden den Zirkelschluss des freien Willens unten noch mit einem modernen Philosophen analysieren. In der Aufklärung entwickeln sich die Wissenschaften vom Zufall in Mathematik und Physik, die Stochastik oder Wahrscheinlichkeitstheorie einerseits und die statistische Physik andrerseits. Der Zufall ist nichts Beunruhigendes: Je größer die Anzahlen von Objekten sind, umso besser lässt er sich erfassen. Die Begriffe der Aufklärung wie Raum, Zeit, Materie und Zufall entsprechen weitestgehend unserer alltäglichen Erfahrung. Die Wissenschaft am Ende der Aufklärung hat einerseits das Gefühl, im Wesentlichen beinahe alles zu wissen, was erfassbar ist, und genau zu wissen, was nicht erfassbar ist. Der einzelne Zufall ist nur eine Störung. Aber es gibt Vorzeichen, dass grundsätzliche Probleme im Zusammenhang mit Zufall die Sicherheit der Aufklärung bedrängen, etwa – als erstes die Entdeckung der Evolution, einer Maschinerie für Neues mit Zufall, – die Entropie: Sie ist ein Sammelmaß für den Grad von Zufall, und sie wächst an, – die Chaostheorie: Sie zeigt, dass nicht alles berechenbar ist und – die Radioaktivität: Sie demonstriert den idealen Zufall und zeigt den Weg zur neuen Physik, zur Quantentheorie.

Der Zufall – die Kreativität, die aus der Physik kommt 

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Abb. 2: Arthur Schopenhauer 1852 Daguerreotype vom 3. September 1852. Photoatelier Eberhard Mayer-Wegelin, Frankfurt. Bild: Schopenhauer 1852, Wikimedia Commons, Jakop Seib

Moderne Physik und Zufall „Die Quantenmechanik ist sehr achtunggebietend. Aber eine innere Stimme sagt mir, dass das noch nicht der wahre Jakob ist. Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass der nicht würfelt.“ Albert Einstein in einem Brief an Max Born, 1926.

Dies ist eines der bekanntesten Zitate der Wissenschaft und insbesondere zum Zufall. Einstein spricht darin sicher nicht von einem persönlichen Gott, den er explizit ausschloss, aber er hatte das Gefühl, dass nicht alles Zufall sein kann. Allerdings wissen wir heute: Die Quantentheorie ist probabilistisch, der radioaktive Zerfall ist ein einfaches Beispiel. Die Natur liefert „echte“ Zufallszahlen. Wann ein bestimmter radioaktiver Atomkern zerfällt, ist unbestimmt – bei Milliarden von Kernen bildet sich eine wohldefinierte Kurve aus. Einstein ist zwischen Aufklärung und klassischer Physik einerseits und moderner Physik andrerseits gespalten: Bei den Begriffen von Raum und Zeit ist er modern, in der Quantenphysik eher konventionell. Wir sind vom Zufall überall umgeben, wirklich überall. Der pragmatische Grund ist, dass die Welt aus so vielen Teilchen aufgebaut ist, die wechselwirken. Schon die Subsysteme enthalten viele Teilchen: Die Moleküle in der Luft, Elek-

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Abb. 3: Sichtbarer Zufall Ein analoger Fernseh-Bildschirm ohne Programmsignal und deshalb mit Rauschen. Bild: TV_Noise, Wikimedia Commons, Mysid

tronen im Halbleiter, Wassermoleküle im Wasserglas und Wellen im Meer. Eine laufende Wechselwirkung mit Zufall lässt sich oft beobachten oder hören: Es ist das Rauschen. Rauschen ist überall. Es lässt sich prinzipiell auch mit dem besten Supercomputer nicht berechnen. Die Welt ist chaotisch; die Wettervorhersage ist ein Beispiel dafür: Nach etwa zwei Wochen wird es unberechenbar. Physikalisch gilt: „Alles rauscht“ oder panta rhoizei in Analogie zum Spruch des Heraklit „Alles fließt – panta rhei“. Das Rauschen begrenzt die Vorhersehbarkeit der Welt, aber es ist auch die Quelle von Neuem.

Definition und Eigenschaften des Zufalls Wir definieren den Zufall als ein einbrechendes Ereignis. Eine mathematische Version ist ein Strom von Zahlen, die erscheinen ohne die Möglichkeit, hinter ihr Erscheinen zu sehen. Sie sind einfach da. Beispiel sind die Zahlen der Lottomaschine. Es gibt per Definition keine Möglichkeit, sie vorauszuberechnen oder zurück zu verfolgen. Ein Zufall ist ein Ereignis ohne Vergangenheit; Würfel, Kartenmischen und Lottomaschinen dienen dazu, Zustände zu schaffen, die keine Vergangenheit haben. Ein Beispiel wäre, wenn die Folge der Zahlen 3, 14, 15, 9, 26 auf dem Bildschirm erschiene. Bemerkt der Leser, dass diese Folge die Sequenz der Ziffern der Zahl π ist, so ist der Zufall zerstört. Ein kleines Programm könnte unendlich viele Ziffern von π erzeugen. Daraus folgt umgekehrt: – Bei einer Zufallsfolge ist die Folge selbst das einzige „Programm“, das die Folge produziert.

Der Zufall – die Kreativität, die aus der Physik kommt 

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Der Zufall hängt damit eng mit Wissen oder Nichtwissen zusammen. – Da der Zufall keine Vergangenheit hat, ist er auch ein Indikator für die Richtung der Zeit. – Und er bringt das Neue, nicht Berechenbare und nicht Vorhersagbare in die Welt. Durch die enge Verknüpfung mit der Zukunft und mit dem Unerklärlichen ist der Zufall nicht nur ein wichtiges Element in der Physik sondern auch für das menschliche Leben, für die Philosophie und für die Religion. Zufall ist überall, aber es gibt Nester mit konzentriertem Zufall. Wir nennen sie in Anlehnung an den Informatiker Alan Turing „Orakel“. Zwei Nester von Zufall haben wir schon erwähnt: Die Brownsche Bewegung in einem Wassertropfen (Abb. 1) und das Rauschen einer Elektronik (Abb. 3). Das allererste Orakel war die Blase des Universums beim Big Bang; in dieser extremen Kompression mit ihren Zufallsschwankungen war das ganze Universum vorhanden. Für uns Menschen und unser Leben sind dazu zwei Orakel besonders wichtig, das Gehirn und der weibliche Schoß bei der Befruchtung. Das Gehirn ist ein lebendiges, funkelndes System von etwa 90 Milliarden Zellen mit 100 Billionen Verbindungen: Zufall in zeitlicher Form im Rauschen und in räumlicher Form in den Verdrahtungen. Dies wird eine Komponente der menschlichen Kreativität sein und insbesondere menschlicher Entscheidungen.

Zufall und die Kreativität der unbelebten Natur „Da stets, wenn es zu schneien anfängt, die ersten Schneeteilchen die Figur von sechsstrahligen Sternen zeigen, muss es eine bestimmte Ursache dafür geben. Denn wäre es Zufall, warum fallen sie nicht fünfstrahlig oder siebenstrahlig, warum immer sechsstrahlig?“ Johannes Kepler, aus De nive sexangula „Vom sechseckigen Schnee“, 1611.

Die Natur hat zwei große Methoden der Kreativität, zum einen in der unbelebten Natur und zum anderen in biologischen Systemen. Die beiden Verfahren sind gänzlich verschieden, ja entgegengesetzt. Das obige Zitat betrifft ein eindrucksvolles Beispiel aus der physikalischen Natur: die Entstehung von Schneeflocken. Es ist aus einer naturphilosophischen Arbeit zu Schneeflocken von Johannes Kepler, dem Mathematiker des Kaisers in Prag, entnommen. Kepler hat das Problem verstanden: Schneekristalle entstehen in sechsstrahliger Symmetrie als Sterne oder Täfelchen, jede Flocke ist verschieden, keine zwei Flocken sind identisch. Die Kreativität der Natur ist im Rahmen der Symmetrie unbeschränkt. Es kann nicht allein Notwendigkeit sein, aber auch nicht allein Zufall. Kepler versteht auch das Prinzip der Entstehung. In heutigen Begriffen: In der Luft bewegen sich Wassermoleküle einerseits zufällig, aber sie lagern sich

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andrerseits an schon vorhandene Eismoleküle in favorisierte Richtungen an. Diese Richtungen werden durch die innere Struktur der H2O-Moleküle bestimmt. Kepler denkt an „Globuli“ des Wassers, also in etwa Atome. Eine derartige Bildung von geordneten Strukturen unmittelbar aus sich (d. h. der Physik heraus) nennen wir Selbstorganisation. Das Zusammenwirken von Zufall und Struktur sieht für den Beobachter so aus, als habe der Zufall eine Neigung. Der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce (1839–1914) und insbesondere der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper (1902–1994) nennen diese Neigung eine „Propensity“; ein klassisches Beispiel dafür sind gezinkte Würfel mit der Neigung, mehr Sechsen zu ergeben als in einem Sechstel der Würfe. Wir nennen die unbelebte Natur nach Popper auch „die Welt I“.

Zufall und die Kreativität der belebten Natur „Evolution ist nicht nur ‚Zufall, im Flug aufgefangen‘. Es ist nicht nur Flickschusterei, Bastelei oder Stückwerk. Es ist Struktur, die durch die Selektion geehrt und verfeinert wird.“ Stuart Kauffman, amerikanischer Biologe und Philosoph, geb. 1939.

Die Methode der Kreativität der belebten Natur ist die Evolution. Sie beruht ebenfalls auf dem Zufall, aber sie ist komplizierter und viel mächtiger. Die Grundlage ist eine fundamentale Erfindung der Natur: Die Einführung von Techniken der Informationsverarbeitung mit Kopieren, Speichern und Steuern. Dies gibt der Natur die Möglichkeit, komplexere Strukturen aufzubauen und damit ganz Neues, Emergentes, mehr als es nur mit physikalisch-chemischer Selbstorganisation möglich ist. Wir bezeichnen frei nach Karl Popper dies als Welt II. Dazu gehört alles Leben und die digitale Welt des Computers. Damit ist die Evolution selbst ein gewaltiges, interagierendes Softwaresystem. Die Methode selbst, das selbsttätige Finden einer optimalen Lösung einer Aufgabe durch Zufall ohne tieferes Wissen, ist in der digitalen Softwaretechnik ein bekanntes Lösungsverfahren. Die Grundlage ist ein Ozean an Zufällen, die im Zusammenwirken der gesamten Population „günstige“ Organismen hervorbringen. Dies soll die Abb. 4 veranschaulichen, die den Raum der möglichen Spezies aufspannt. Nach „oben“ ist ein Maß für den Grad der Lebenstüchtigkeit aufgetragen; jeder Gipfel entspricht einer Spezies. Die Gesamtheit der Gipfel demonstriert die Menge der Lebewesen zu einem Zeitpunkt. Der Unterschied zu einer technischen Software ist, dass bei der technischen Aufgabe der Sinn vorgegeben wird. In der Evolution entsteht der Sinn einer neuen Funktion erst nach dem erfolgreichen Programmieren in der Bewährung in der Umwelt. Die Evolution ist damit sozusagen „abwärts kausal“.

Der Zufall – die Kreativität, die aus der Physik kommt 

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Abb. 4: Der Raum der biologischen Spezies. Jeder Gipfel entspricht einer Art. Bild: Rastrigin function, Wikimedia Commons, Diegotorquemada

Es war eine geniale Leistung von Charles Darwin, den Mechanismus zu verstehen und zu beweisen, dies gegen das etablierte Weltbild der festen und unveränderlichen Arten und ohne das Wissen um Gene und Vererbung und ohne Computer. „Die biologische Evolution ist wohl das großartigste Schauspiel des Zufalls, das wir kennen, mit den verschiedensten Formen des Lebens einschließlich von uns Menschen.“ Walter Hehl, Physiker, in „Der Zufall in Physik, Informatik und Philosophie“, 2021.

Darwin schreibt dazu, „es war wie einen Mord zu bekennen.“ Er ahnt, dass es Milliarden Jahre dafür gebraucht haben muss. Aber die zeitgenössische Physik glaubte, dass die Erde nur seit einigen Dutzend Millionen Jahren bestehe (und die Kirche gab nur etwa 6000 Jahre für alles). Darwin ist zum Glück fest bei der Idee der Evolution mit und durch Zufälle geblieben. Es ist nicht der blinde Zufall, der die Evolution regiert. Der wird in der Literatur durch einen Maschine schreibenden Affen symbolisiert, der versucht, per Zufall ein Shakespeare-Sonett zu schreiben. Die Evolution probiert nicht immer alles aus, sondern es ergeben sich in der Wechselwirkung bevorzugte Richtungen. Es bleibt die Grundfrage: Wieviel Notwendigkeit steckt in der Entwicklung, wieviel ist Zufall? Es sieht so aus, als ob kleine und mittlere Erfindungen sich immer wiederholen, etwa die Entwicklung eines Gesichtssinns. Es bleibt die große Frage: Würde sich unter ähnlichen Voraussetzungen auf der Erde immer wieder Leben entwickeln? Sogar in ähnlicher Form? Oder entsprechend auf Exoplaneten?

Zufall und menschliche Kreativität Menschliche Kreativität Die ersten Formen der Erzeugung von Neuem mit Zufall sind grobe kombinatorische Verfahren durch zufällige Rekombination von Bausteinen. Das wohl erste Beispiel dazu stammt vom katalanischen Philosophen Ramon (1232–1316). Llull konstruierte eine logische Maschine, die aus bis zu sieben um das Zentrum

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drehbaren Scheiben bestand. Auf jeder der Scheiben waren Wörter einer Kategorie geschrieben, die Eigenschaften, Tugenden oder Wahrheiten bezeichneten. Der Philosoph und Theologe wollte damit durch neue, ungeahnte Kombinationen neue göttliche Weisheiten finden. Am bekanntesten sind musikalische Zufallsspiele geworden, vor allem das „musikalische Würfelspiel“ von Mozart. Kleine Musikstücke werden nach gewürfelten Zahlen zu einem ganzen Musikstück zusammengesetzt. Es können etwa 25 Billiarden mehr oder weniger verschiedene Walzer entstehen.

Computerkreativität und Kunst Computer schaffen seit mehr als einem halben Jahrhundert Kunst in wachsender Raffinesse und Lebendigkeit. Letzten Endes ist es wieder das Prinzip: Notwendigkeit und Zufall. Die Notwendigkeit können musikalische Regeln sein oder Elemente im Stile eines Komponisten oder malerische Regeln oder seit einigen Jahren sogar dreidimensionale Regeln zum Schaffen einer Skulptur mit dem 3DDrucker. Der Zufall bestimmt dann zum einen die großen Züge des Kunstwerks und mit unendlichem Fleiß die kleinen Einzelheiten, Blätter am Baum oder Wellen auf dem Meer. Die Abb. 5 zeigt ein frühes Bild, eine Vase mit Blumen, hergestellt vom Programmsystem Aaron, einem der ältesten und produktivsten Programme für künstliche Intelligenz für Kunst (Kurzweil, 2016). Dazu einige nützliche Definitionen, allerdings keine Definition für Kunst. Gerade der Maler am Computer, Harold Cohen, sagte, für diese „Was ist KunstFrage“ habe er keine Geduld (Kurzweil, 2016). Wir definieren im Zusammenhang mit Zufall die Begriffe: Kreativität ist die Fähigkeit, sinnvolles Neues zu schaffen oder zu denken. Der Kontext bestimmt, was sinnvoll ist. Intelligenz ist die Fähigkeit, eine komplexe Aufgabe zu lösen, auch wenn in der Aufgabenstellung oder im Lösungsweg noch Unsicherheiten bestehen. Eine Strategie ist ein kleines System von Regeln, das Handeln erlaubt, ohne einen vollen Überblick über eine Situation zu haben. Der Zufall und die Unsicherheit, die er bringt, ist für all diese Begriffe der Knackpunkt. Nehmen wir den Zufall heraus, so erhalten wir eine Vorschrift, die man linear abarbeiten kann: Ein Algorithmus ist eine Arbeitsvorschrift, der man einfach ohne zu denken folgen kann.

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Abb. 5: „Vase“ von Harold Cohen. Bild kreiert mit dem Programmsystem Aaron 1995. Computer History Museum, Boston Mit freundlicher Genehmigung

Computer und Mensch entscheiden mit dem Zufall „Ich denke, dass das Gehirn im Wesentlichen ein Computer ist und das Bewusstsein so etwas wie ein Computerprogramm. Es wird stoppen, wenn der Computer abgeschaltet wird.“ Stephen Hawking, britischer Physiker, 1942–2018.

Im Sinne des Vergleichs modellieren wir „eine Entscheidung treffen“ in der Analogie zu einer Entscheidung, die ein „Präsident“ mit seinem Team fällt. Der Prozess ist in Abb. 6 in den Grundzügen illustriert. Der Präsident hat einen Stab von Beratern mit verschiedenen Expertisen und verschiedenen Gewichten für eine Entscheidung. Die kritische Phase ist die sog. Zeit der Inkubation mit der Umwälzung verschiedener Ideen und Einflüsse, die schließlich zur Entscheidung führen. Im Bild ist noch ein Block „Veto“, der aktiv wird wenn die anvisierte Lösung auf ein außerordentliches Hindernis trifft. Auf die Entscheidung folgt die Aktion und parallel dazu (oder nach dem amerikanischen Physiologen Benjamin Libet leicht verspätet) wird sie bewusst über den Block „Presseamt“. Das Presseamt liefert auch die externe Begründung für die Entscheidung. Aber das Gehirn und damit Menschen sind keine digitalen Computer, vieles ist unscharf, von Gefühlen und unsicheren Informationen und damit von inneren oder äußerlichen Zufällen abhängig. Die verschieden stark unscharf geränderten Blöcke deuten die Unschärfe der zugehörigen Aussagen an. Ein Grenzfall der Entscheidungsfindung ist ein bekanntes philosophisches Problem, meistens bekannt als der „Esel des Buridanus“ nach dem französischen Scholastiker Jean Buridan (1300–1358). Der Esel verhungert zwischen zwei gleich attraktiven Heuhaufen. Das Problem gibt es in vielen, auch älteren Versionen, bei anderen Autoren, etwa bei Aristoteles mit einem Menschen zwischen gleich appe-

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Abb. 6: Ein Analogon zur Entscheidungsfindung. Die Grafik ist verwendbar für eine Entscheidung in einer menschlichen Gruppe mit Vorsitzenden, aber auch als Analogon für eine menschliche Entscheidung. Die unscharfen Umrandungen deuten die Unschärfe der jeweiligen Funktion durch den Zufall an. Bildidee nach Ray Kurzweil (2012) und Walter Hehl (2016)

titlichem Essen oder Trinken. Der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza ist wohl für die heutige Version mit dem Esel zuständig; es ist eine kleine Verspottung der scholastischen Philosophie. Eine saubere Lösung des Problems hatte schon um das Jahr 1100 der persische Philosoph Al-Ghazali gegeben wenn er ganz im modernen Sinn schreibt: „Nehmen wir an, vor einem Mann sind zwei ähnliche Datteln. Er sehnt sich nach ihnen, kann aber nicht beide nehmen. Aber er wird sicher eine nehmen, denn er hat eine Eigenschaft in sich, die auch zwischen zwei ganz ähnlichen Dingen unterscheiden kann.“

Diese Eigenschaft in uns hat es überall in der analogen Welt, es ist das Rauschen, hier in unserem Gehirn und im Nervensystem. Nur im digitalen Computer muss man solche Blockierungen künstlich auflösen, etwa mit dem Einbringen von künstlichem Zufall, wie dies etwa im Übertragungsprotokoll „Äthernetz“ geschieht.

„Freier“ Wille und Zufall „Freier Wille ist die Fähigkeit des Gehirns, aus inneren Beweggründen heraus, also nicht aufgrund von reaktiven Reflexen (Fluchtreflex) oder äußerem Zwang, Handlungen vorzunehmen und unabhängige Entscheidungen zu treffen.“ Peter Ulmschneider, deutscher Astronom, geb. 1938.

Einen derartig freien Willen zu haben oder besser zu spüren ist normal und gut. Aber die Definition ist ein Zirkelschluss verursacht durch die „inneren Beweggründe“. Die Definition hat zwei Teile: Das Handeln und die „inneren Beweggründe“. Dort wird entschieden, eigentlich sitzt dort im Innern der freie Wille. Es

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Abb. 7: Das kartesische Theater des Daniel Dennett. Die unendliche Regression von inneren Betrachtern (Homunkuli). Bild: Infinite regress of homunculus, Wikipedia, Original work: Jennifer Garcia, User: Reverie, Derivative work, User: Pbroks13, Derivative work of derivative work, User: Was a bee

ist so, als wäre dort ein kleiner Mensch, ein Homunkulus (lat. „Menschlein“), der die inneren Beweggründe redigiert. Damit das ganze Konstrukt „frei“ ist, hat der Homunkulus einen freien Willen – und das Spiel wiederholt sich. Der amerikanische Philosoph Daniel Dennett (geb. 1942) hat dies bildlich gemacht mit der Idee des kartesischen Theaters (Abb. 7). Das kleine Männchen in uns ist eigentlich unser freies, geistiges Ich, aber solange wir Körper und Geist trennen, erklärt es nichts. In der Realität ist das Ich eine Art von verschachteltem Softwaresystem, das aber nicht digital und exakt verbunden ist wie in einem Computer, sondern nur vage verknüpft und mit verrauschtem, zufälligem Untergrund. Und die wichtigste Idee von allen: Wir stehen nicht neben dem Computer, sondern wir sind der Computer. Es gilt diese Weisheit: „Es gibt so was wie freien Willen nicht, aber es ist besser wir glauben daran.“ Schlagzeile eines Artikels im The Atlantic, Juni 2016.

Allerdings gehören alle Zufallsgeneratoren in uns und alle Entscheidungen, die wir treffen, ob aus Zufall oder aus Notwendigkeit, auch zu uns und wir müssen uns dafür verantworten.

Zufall als Fundament der Welt „Die endlose Mannigfaltigkeit in der Welt ist nicht per Gesetz geschaffen. Es entspricht nicht der Natur der Uniformität, Variationen hervorzubringen, noch der des Gesetzes, den Einzelfall zu erzeugen. Wenn wir auf die Mannigfaltigkeit der Natur starren, blicken wir direkt in das Gesicht einer lebendigen Spontaneität.“ Charles Peirce, amerikanischer Philosoph, 1839–1914.

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Abb. 8: Der Philosoph Charles Sanders Peirce Charles Peirce (1839–1914) etabliert in seiner Philosophie des Tychismus den Zufall als Fundament der Welt. Bild: Charles Sanders Peirce theb3558, Wikimedia Commons, NOAA / Dept of Commerce

Der Philosoph Karl Popper nennt Charles Peirce einen der größten Philosophen aller Zeiten. Damit hat die Entwicklung des Universums zwei Pfade: Die Gesetze der Natur und die Entwicklung von Zufällen zu Zufällen. Charles Peirce nennt die Konzentrate des Zufalls „die Schoße der Unbestimmtheit“. Der berühmteste „Schoß“ des Zufalls in Wissenschaft und Philosophie ist der „little warm pond“, der kleine warme Tümpel, den Darwin als Ursprung des Lebens vermutete. Die deterministischen Gesetze können nicht erklären, wie es dazu kommt, dass in der Welt die Komplexität insgesamt laufend wächst. Eng damit verbunden ist die eine feste Richtung der Zeit in die Zukunft – die Gesetze der Physik, die keinen Zufall enthalten, lassen sich umkehren und würden auch in die Vergangenheit laufen. Die Ausnahme in der klassischen Physik ist der Satz vom Wachstum der Entropie, der Unordnung, und dies hat mit dem Zufall in gigantischem Ausmass zu tun. Insbesondere ist mit dem Zufall aus der unbelebten Welt I die belebte Welt II entstanden, die zu einer Explosion von Komplexität geführt hat, einschließlich zu uns Menschen. Wir Menschen können diese Entwicklung von Komplexität nun selbst in großem Stil weiterführen, einmal in der digitalen Software und zum andern in der Gentechnologie. Peirce nennt seine Lehre, dass der Zufall zentral für den Lauf und die Entwicklung der Welt ist, Tychismus (Reynolds, 1996). Der Name ist nach der griechischen Göttin Tyche gewählt, die für das Schicksal von Menschen und Städten zu­ständig ist. Zu der Zeit, als Peirce den Zufall als zweite Säule der Welt erhob, war die Wissen­

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schaft noch im Stadium der Aufklärung und es herrschte der Determinismus als Prinzip. Peirce erhob umgekehrt schon damals den Zufall zum Prinzip. Es war eine philosophische Kuriosität. Die Welt ist also sowohl deterministisch wie indeterministisch, aber die deterministische Sicht ist nur eine Näherung. Selbst das Sonnensystem wird, wenn wir lange genug hinsehen, indeterminiert. Aber die Welt ist kausal in dem Sinn, dass alles nach den Naturgesetzen abläuft, jedenfalls ohne deren Verletzung. Die Naturgesetze sind ein Rahmen für den Lauf der Welt wie das feste felsige Bachbett für den rauschenden Wildbach. Für das menschliche Leben fassen wir zusammen: Wir sind mit oder gar im Zufall entstanden, unser ganzes Leben ist vom Zufall geprägt, wir werden laufend mit Zufall konfrontiert. Der Philosoph Daniel Dennett (Dennett, 2003) hat dies kompakt zusammengefasst: Zur Bestimmung durch die Vorgaben der Natur und der Umwelt kommt der erlebte Zufall, und dann sagt er beinahe poetisch: „Der Zufall ist überall um uns in unserer verrauschten Welt, die ohne Grund Münzen wirft, und damit die offenen Lücken füllt in den Möglichkeiten für unser Leben, die unsere Gene und die Umgebung uns lassen.“ Eigene Übersetzung

Literatur Dennett, Daniel: Freedom evolves, New York 2003. Hehl, Walter: Gott kontrovers: Was noch in Würde zu glauben ist, Zürich 2019. Heinrich, Milan: Das Problem der Willensfreiheit nach Arthur Schopenhauer und dessen zeitgenössische Relevanz, 2011; www.grin.com/document/179207. Kurzweil, Ray: Harold Cohen in Memoriam, 2016; www.kurzweilai.net/harold-cohen-inmemoriam. Miller-Waldner, Jutta: Juttas Zitateblog: Einstein, Schopenhauer und der freie Wille, 2011; juttas-zitateblog.blogspot.com/2011/04/einstein-schopenhauer-und-der-freie. Popper, Karl: Three Worlds: The Tanner Lecture on Human Values, 1978; tannerlectures.utah.​ edu/lecture-library-php. Reynolds, Andrew: Peirce’s Cosmology and Thermodynamics, Trans. of the Charles Peirce Society, Vol. 32, Nr. 3, 1996, S. 403 ff. Insbesondere: Hehl, Walter: Der Zufall in Physik, Informatik und Philosophie, Heidelberg 2021.

Was ist Zufall? Kontingenz – Unvorhersagbarkeit – Koinzidenz Hans Rott, Regensburg

A. Einleitung: David Hume über Zufall und Determinismus „Though there be no such thing as Chance in the world; our ignorance of the real cause of any event has the same influence on the understanding, and begets a like species of belief or opinion.“1

David Hume, von dem dieses Zitat stammt, hätte sich nicht deutlicher äußern können. Am Beginn von Abschnitt 6 der Untersuchung über den menschlichen Verstand genügt ihm ein Nebensatz, um zu sagen, dass es keinen Zufall in unserer Welt gibt, und das ist für ihn offenbar so selbstverständlich, dass er keinerlei Argumentation dafür für nötig hält. Hume war einer der prominentesten klassischen Vertreter des sog. Kompatibilismus. Dieser besagt, dass Freiheit und Determinismus zusammen möglich sind, das heißt, dass es eine mögliche Welt gibt, in der Freiheit und Determinismus koexistieren. Hume behauptete sogar, dass es in unserer Welt tatsächlich Freiheit (verstanden als die Abwesenheit von Zwang) gibt und dass gleichzeitig unsere Welt deterministisch verfasst ist. Diese Deutung von Hume als Deterministen ist nicht völlig unkontrovers. James Harris (2003, 2005) bestritt, dass Hume einen Determinismus vertreten habe, und zwar mit zwei Argumenten: Die berühmte Humesche Idee, wonach Notwendigkeit und Kausalität in beobachteten Regelmäßigkeiten und darauf sich automatisch einstellenden Schlüssen von vermeintlichen Ursachen auf vermeintliche Folgen bestünden, sei erstens keine adäquate Basis für einen universellen Determinismus. Zweitens könne die Unveränderlichkeit der Naturgesetze nicht bewiesen werden. 1 Hume (1748, 6.1, S. 56). Übersetzung (S. 66): „Obgleich es in der Welt so etwas wie Zufall nicht gibt – so hat unsere Unkenntnis der wirklichen Ursache eines Ereignisses denselben Einfluß auf den Verstand und erzeugt eine ähnliche Art von Glauben oder Meinung.“ Vgl. auch Hume (1748, 8.25, S. 69; dt. S. 107 f.): „chance, when strictly examined, is a mere negative word, and means not any real power, which has any where, a being in nature. […] liberty, when opposed to necessity, not to constraint, is the same thing with chance; which is universally allowed to have no existence.“ In Humes Kompatibilismus wird Freiheit nicht als Gegensatz zu Notwendigkeit, sondern als Gegensatz zu Zwang gesehen.

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Peter Millican (2010) hat darauf geantwortet und Harris’ Argumente meines Erachtens überzeugend zurückgewiesen. Im deutschen Sprachraum hat prominent Geert Keil die Einordnung von Hume als Deterministen bezweifelt. Es gebe bei Hume nur eine „begrenzte Gleichförmigkeit“2, er vertrete keinen „echten Determinismus“3, seine Regularitäten seien „von ausnahmslosen deterministischen Verlaufsgesetzen weit entfernt“4 und seine Auffassung bleibe „deutlich hinter dem laplaceschen Determinismus zurück“5. Soweit ich sehe, führt Keil für diese Thesen nur eine einzige Belegstelle an: „Gleichförmigkeit in jeder Einzelheit gibt es nirgends in der Natur.“6

Humes oben zitierter expliziter Ausschluss von Zufall impliziert eine deterministische Position. Aber das steht offensichtlich im Widerspruch zu Keils Interpretation der Humeschen Position. War Hume hier also inkonsistent? Nein. Denn Keils Interpretation beruht auf einem Missverständnis, seine Belegstelle ist aus dem Zusammenhang gerissen. Dies ist der Kontext, nun im englischsprachigen Original: „We must not, however, expect, that this uniformity of human actions should be carried to such a length, as that all men, in the same circumstances, will always act precisely in the same manner, without making any allowance for the diversity of characters, prejudices, and opinions. Such a uniformity in every particular, is found in no part of nature.“7

Es gibt also keine ausnahmslose Gleichförmigkeit von Handlungen, wenn man Charakter, Vorurteile und Ansichten der handelnden Person nicht berücksichtigt. Aber für Hume ist es selbstverständlich, dass letztere berücksichtigt werden müssen, denn „the actions of the will […] have a regular conjunction with motives and circumstances and characters, and […] we always draw inferences from one to the other“.8 Die von Keil angeführte Belegstelle erlaubt also keineswegs den von ihm gezogenen Schluss, Hume sei kein echter Determinist gewesen. Sie zeigt nur, we 2

Keil (32017, S. 52 und 65; 22018, S. 72; 2019, S. 349). Keil (32017, S. 65; 22018, S. 72). 4 Keil (32017, S. 65; 22018, S. 72; 2019, S. 349). 5 Keil (22018, S. 71). 6 Keil (32017, S. 65; 22018, S. 71; 2019, S. 349) mit Verweis auf Hume (1748, 8.10, S. 62). Die von Keil verwendete deutsche Übersetzung stammt von Herbert Herring. 7 Hume (1748, 8.10), meine Hervorhebungen. Übersetzung (S. 96): „Immerhin dürfen wir nicht erwarten, diese Gleichförmigkeit im menschlichen Handeln werde so weit gehen, daß alle Menschen unter gleichen Umständen stets genau in derselben Weise handelten, ohne die Verschiedenheit der Charaktere, der Vorurteile und Meinungen in Betracht zu ziehen. Solch eine Gleichförmigkeit in jeder Einzelheit findet sich auf keinem Gebiete in der Natur.“ Man kann sich fragen, wie sich die von Hume so betonte Gleichförmigkeit – gleich(artig)e Ursachen haben gleich(artig)e Wirkungen – zur Determiniertheit des Geschehens – eine bestimmte Ursachenkonstellation kann nur eine bestimmte Wirkungskonstellation nach sich ziehen – verhält. Wir lassen diese Frage hier offen. 8 Hume (1748, 8.22). Übersetzung (S. 105): „die Handlungen des Willens [zeigen] offenbar einen regelmäßigen Zusammenhang mit Beweggründen, Umständen und Charakteranlagen […], und […] wir [leiten] stets das eine aus dem anderen her[…]“. 3

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nig überraschend, dass man die Verschiedenheit der Charaktere, Vorurteile und Meinungen mit in Rechnung stellen muss, wenn man deterministische Regularitäten identifizieren will. Ich werde in diesem Beitrag drei Fragen zu beantworten versuchen, und zwar nicht als Hume-Interpret oder Philosophiehistoriker, sondern wie sie sich aus heutiger Sicht stellen: (i) Wie konnte Hume wissen, dass es keinen echten Zufall gibt? (ii) Was heißt „Zufall“ überhaupt? (iii) Wenn die Welt aber, wie Hume glaubte, deterministisch ist, inwiefern ergibt es dann noch Sinn, von „Zufall“ zu reden – so wie wir das offenbar häufig und einigermaßen erfolgreich tun? Es wird sich erweisen, dass der Zufallsbegriff mehrere Lesarten hat und der Zusammenhang von Determinismus und Zufall dementsprechend komplexer ist, als man zunächst annehmen könnte. Die Konsequenzen einer „zufälligen Handlung“ für Freiheit, Verantwortung, Schuld und Strafe könnten demgemäß je nach Lesart durchaus verschieden sein.

B. Die Mehrdeutigkeit des Wortes „Zufall“ In einem ersten Versuch könnte man sagen: Was aus Zufall geschieht, geschieht unerwartet, es ist nicht vorherzusagen und nicht zu erklären. Es bereitet uns eine Überraschung. Dies reicht jedoch nicht hin, um Zufall zu charakterisieren. Was also ist Zufall? Wenn man den relevanten Eintrag in der renommierten, sehr umfassenden Stanford Encyclopedia of Philosophy sucht, steht man vor der Frage, was die beste englische Übersetzung von „Zufall“ ist. Im Englischen gibt es mindestens zwei Begriffe, die als Kandidaten für die Übersetzung von „Zufall“ dienen können: chance und randomness.9 In der SEP gibt es verblüffenderweise aber weder einen Eintrag zu „chance“ noch zu „randomness“, dafür einen Eintrag mit dem Titel „Chance versus randomness“. Dieser sehr ausführliche, ausgezeichnete Artikel von Antony Eagle (2018) signalisiert schon durch seinen Titel, dass es hier ein Problem gibt: Offenbar gibt es zwei verschiedene englische Begriffe, die die Rolle des einen deutschen Begriffs „Zufall“ spielen können. Etwas verwirrender ist, dass der Arti-

9 Weitere Kandidaten, die in Wörterbüchern zu finden sind, seien hier einfach nur alphabetisch aufgeführt: accident, arbitrariness, coincidence, concurrence, contingency, fluke, fortuitousness, fortune, hap, happenstance, hazard, luck. „Chance“ kann auch Chance, Möglichkeit, Gelegenheit, Wahrscheinlichkeit oder Risiko heißen, „randomness“ Zufälligkeit oder Wahllosigkeit.

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kel mit der „Allgemeinplatzthese“ (Commonplace Thesis) beginnt, wonach etwas genau dann random ist, wenn es by chance geschieht. Um diese These überhaupt verstehen zu können, müssen erst die beiden Konzepte von chance und randomness entwickelt werden: Chance beziehe sich auf singuläre Prozesse, randomness auf eine (endliche oder unendliche) Folge von Resultaten wiederholter Ereignisse oder Prozesse. Während chance an den (mathematisch explizierten) Wahrscheinlichkeitsbegriff gebunden sei, könne die randomness einer Folge daran festgemacht werden, dass der kürzeste Algorithmus, der diese Folge produziert, nicht kürzer ist als die Folge selbst (intuitiv gesprochen: die in der Folge enthaltene Information kann also nicht durch eine komprimierte Regel dargestellt werden). Eagle diskutiert eine stattliche Reihe von Explikationen sowohl von chance als auch von randomness und kommt zu dem Schluss, dass die Allgemeinplatzthese in keinem Fall zu halten sei: Chance ist jedenfalls etwas anderes als randomness. Wir sind damit gewarnt und sollten von vornherein nicht damit rechnen, dass das Wort „Zufall“ im Deutschen einen einheitlichen Begriff bezeichnet. Die Angelegenheit wird dadurch noch komplizierter, dass unklar ist, von welcher Seite eine Explikation des Begriffes oder der Begriffe des Zufalls kommen sollte. Wer hat die Autorität, uns zu sagen, was „Zufall“ eigentlich bedeutet? Philosoph:innen? Physiker:innen? Mathematiker:innen? Andere Fachwissenschaftler:innen? Oder handelt es sich überhaupt nicht um einen Terminus technicus, sondern ist es einfach unser gewöhnlicher, alltäglicher Sprachgebrauch, der den Ausschlag geben soll? Ich tendiere zu Letzterem, werde aber, da der normale Sprachgebrauch von den Fachdiskursen ja keineswegs abgetrennt ist, Antworten aus der Philosophie und den Wissenschaften mit einbeziehen. Wir wollen in diesem Beitrag keine so feine Verästelung von Interpretationen des Zufallsbegriffs nachverfolgen, wie wir sie etwa bei Eagle finden. Im Folgenden möchte ich vielmehr dafür plädieren, dass das Wort „Zufall“ in mindestens dreierlei deutlich unterschiedenen Bedeutungen verstanden werden kann. Damit werden wir uns hauptsächlich der zweiten von Hume inspirierten Frage zuwenden. Antworten auf die anderen beiden Fragen werden sich – in aller Kürze – auf dem Wege der Beschäftigung mit der zweiten Frage nahelegen.

I. Zufall als Indeterminiertheit oder Kontingenz „Echter Zufall“ oder „genuiner Zufall“ kann mit Indeterminiertheit oder, auf Deutsch, mit Unbestimmtheit gleichgesetzt werden. Es handelt sich hier um einen physikalischen oder metaphysischen Begriff, je nachdem, ob man annimmt, dass das Vorliegen von Zufall empirisch verifizierbar ist oder nicht (ich tendiere zu letzterer Annahme). Ein Ereignis, das genuin zufällig stattfindet, hat keine Ursachen, auch keine versteckten oder unbekannten Ursachen. Auch bei festliegender Vergangenheit ist das Stattfinden verschiedener Ereignisse naturgesetzlich möglich. Jedes dieser Ereignisse ist möglich, keines ist notwendig, solche Ereignisse sind

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also kontingent. Im Nachhinein sagt man „Es hätte auch anders kommen können, als es gekommen ist.“ Graphisch kann man die Zukunft in diesem Sinne als einen sich verzweigenden Pfad oder Baum von Möglichkeiten darstellen. Im Englischen ist hierfür das Wort „chance“ am Platze. Zuständig für die Frage, ob die Welt deterministisch ist oder nicht, ist heute nicht mehr die Philosophie, sondern die Physik, genauer: die besten aktuellen Theorien der Physik, die wir haben. Es erscheint als ziemlich klar, dass für die Beantwortung der Determinismusfrage die vor knapp 100 Jahren aufgekommenen Theorien der Quantenphysik am relevantesten sind. Diese sind empirisch bestens bestätigt, aber ihre inhaltliche Interpretation bleibt hochumstritten. Diese Interpretation kann zur Physik selbst, aber auch zur Philosophie der Physik gerechnet werden, was die – naturwissenschaftlich fundierte! – Philosophie gewissermaßen wieder rehabilitiert. Es ist wohl fair zu sagen, dass die Quantentheorie überwiegend als eine indeterministische Theorie verstanden wird. Genuiner Zufall wird etwa durch das quantenmechanisch beschreibbare Phänomen des radioaktiven Zerfalls nahegelegt. Es ist unbestimmt, ob ein bestimmtes Atom eines radioaktiven Stoffs in der nächsten Stunde zerfallen wird und, wenn ja, wann es das tun wird. Aber: Mit der Theorie der verborgenen Variablen von David Bohm (1952) und der VielweltenInterpretation von Hugh Everett III (1957, 1973) liegen gleich zwei konkurrierende deterministische Versionen der Quantentheorie vor. Wenn sich eine von ihnen am Ende durchsetzt, kann die Quantenwelt als deterministisch aufgefasst werden (ohne zufällige „Kollapse“ bei Messungen). Dass die Ansätze von Bohm und Everett in der zeitgenössischen Physik lebendige Optionen darstellen, geht gut aus dem zugänglichen Buch Quantum Ontology von Peter Lewis (2016) hervor. Nicht nur die Quantenphysik, sondern schon die klassische Physik erlaubt Indeterminismus.10 Heute wird diese Tatsache oft mit „Nortons Kuppel“ illustriert (s. Abb. 1). In diesem Gedankenexperiment sitzt eine Kugel auf einer Kuppel mit einer ganz bestimmten Krümmung. Es ist, so Norton (2003, 2008), mit der klassischen Newtonschen Physik ebenso konsistent, dass die Kugel in irgendeiner Richtung mit einer bestimmten Geschwindigkeit die Kuppel hinabrollt, wie, dass sie unbewegt auf der Kuppel verbleibt. Die Frage, die sich uns stellt, ist nun, ob und, wenn ja, wann und in welche Richtung die Kugel zu rollen beginnt. Die klassische Newtonsche Physik lässt das offen und ist in diesem Sinne indeterministisch, so Norton.11 Es ist jedoch strittig,

10 Diese These vertraten dem Namen nach schon Popper (1950) und Born (1955), sie hatten jedoch ein extrem epistemisiertes Verständnis von „Determinismus“ als Vorhersagbarkeit. Vgl. auch Fußnote 13. 11 Nach Norton (2003, S. 9 f.) kann man über die Richtungen immerhin noch eine sinnvolle Wahrscheinlichkeitsverteilung definieren, über die möglichen Zeitpunkte, wann das Rollen der Kugel beginnt, sei das nicht möglich.

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Abb. 1: Nortons Kuppel12

was genau als Bestandteil der Newtonschen Physik zu zählen ist. So wurde zum Beispiel vorgeschlagen, zur Newtonschen Physik die Forderung zu zählen, dass jede Kraft eine erste „Ursache“ habe oder dass alle involvierten Funktionen lokal Lifschitz-stetig sein müssen. Wenn man dies tut, dann ergibt sich, dass die Kugel an der Spitze der Kuppel bleibt (vgl. Werndl 2016). Die Frage, inwieweit die klassische Physik – entgegen der üblichen Narrative – indeterministisch war, wird gegenwärtig lebhaft diskutiert (vgl. Del Santo 2021 und van Strien 2021). Während quantentheoretische Unbestimmtheit, wenn es sie denn gibt, die ganze Wirklichkeit durchzieht, sind Situationen wie Nortons Kuppel, die ein extrem präzise eingestelltes Gleichgewicht voraussetzen, in der Realität vermutlich sehr selten. 12

Diese extrem oberflächliche Bewertung der Auskunft der Physik ist natürlich nicht sehr befriedigend. Dennoch dürfen wir vielleicht sagen: Die Physik gibt uns keinen eindeutigen Aufschluss darüber, ob es echten Zufall gibt oder nicht, d. h. ob die Welt deterministisch ist oder nicht. Wenn wir diesen Befund akzeptieren, können wir auch schon unsere erste Frage zu Hume beantworten, und zwar, indem wir ihre Präsupposition zurückweisen: Hume konnte überhaupt nicht wissen, dass es keinen echten Zufall gibt.

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Quelle der Graphik: sites.pitt.edu/~jdnorton/Goodies/Dome (abgerufen am 04. 11. 2021).

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Die beiden anderen Arten von Zufall, die im Folgenden aufgeführt werden, stellen, wie ich sagen möchte, keinen genuinen, echten Zufall dar. Doch werden die entsprechenden Phänomene in der Umgangssprache häufig als zufällig bezeichnet, und darin liegt keine irreführende oder missbräuchliche Sprachverwendung. Manchmal sprechen wir selbst dann von Zufall, wenn uns bekannt ist, dass eine Determination durch Ursachen vorliegt (zum Beispiel bei deterministischen Zufallsgeneratoren). Und das ist vielleicht eine durchaus überraschende Einsicht: In diesem Sinn gibt es auch dann Raum für Zufälle, wenn unsere Welt deterministisch verfasst ist.

II. Zufall als absolute Unvorhersagbarkeit Als zufällig wird oft etwas bezeichnet, mit dem man „nicht rechnen“ kann, das unvorhersehbar ist. Es genügt hier nicht, dass man es faktisch nicht vorhergesehen hat und also überrascht ist, denn dies kann auch aus Bequemlichkeit und Nachlässigkeit geschehen. Zufällige Ereignisse sind solche, deren Eintreten auch bei bestem und engagiertestem Bemühen nicht absehbar ist. Es handelt sich also um eine absolute Unvorhersagbarkeit, und zwar so, dass auch keine approximative Vorhersage möglich ist, die das Ereignis nicht genau, aber doch in ähnlicher Form erwarten lässt. Unvorhersagbarkeit ist eine Form des Unwissens, es handelt sich hier also um einen epistemischen Zufallsbegriff. Dieser Begriff ist mit dem Determinismus durchaus verträglich: Wir können ohne Widerspruch annehmen, dass der Lauf der Welt „in Wirklichkeit“, also physikalisch oder metaphysisch, vollkommen determiniert ist, wir jedoch nicht in der Lage sind, ihn im Vorhinein zu erkennen. Es ist an dieser Stelle wichtig, noch einmal zu betonen, dass der genuine Zufall, der sich im Indeterminismus findet, kein epistemischer, sondern ein (meta-)physischer Begriff ist. Es geht hier nicht um mangelndes Wissen und mangelnde Voraussagbarkeit, sondern um wirkliche, uns jedoch eventuell für immer unzugängliche Unbestimmtheit. Deshalb ist auch Karl Popper zu widersprechen, der in seinen Schriften immer wieder den, wie er es nennt, „physikalischen Determinismus“ in epistemischen Begriffen charakterisierte.13 Unbestimmtheit impliziert zwar Unvorhersagbarkeit, aber die umgekehrte Richtung ist nicht gültig. In diesem Abschnitt geht es uns um Unvorhersagbarkeit, die nicht in Unbestimmtheit begründet ist. Drei Quellen einer solchen Unvorhersagbarkeit können benannt werden: Unvorhersagbarkeit aufgrund von (a) Unwissenheit bezüglich der dem Ereignis vorangehenden „Anfangsbedingungen“, (b) Unwissenheit bezüglich der relevanten Naturgesetze und (c) Unfähigkeit, die für eine Vorhersage nötigen Berechnungen 13

Siehe Popper (1950, S. 117, 120 ff.; 1966, S. 221 f.; 1982, S. 1 f., 29 ff.). Popper war sich der Existenz chaotisch-deterministischer Systeme zweifellos bewusst, aber er schien sie in seinen (im Übrigen hochinteressanten) Überlegungen überhaupt nicht zu berücksichtigen. Für eine ausführliche Diskussion dieser Problematik vgl. Rott (1994).

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schnell genug oder überhaupt auszuführen. In der Philosophiegeschichte ist Zufall häufig auch über die Unkenntnis der Ursachen eines Ereignisses bestimmt worden (Hobbes, Spinoza, Leibniz sowie Hume – man vergleiche das diesen Beitrag einleitende Zitat), doch damit werden nur (a) und vielleicht (b), nicht aber (c) benannt. Die Unwissenheit bezüglich der Anfangsbedingungen ist vielleicht am gravierendsten: kleine Unterschiede in den Ursachen, große Unterschiede in den Wirkungen. In diesem Zusammenhang hat sich im 20. Jahrhundert die Chaostheorie entwickelt, die überaus deutlich unterstrichen hat, dass es in einer deterministischen Welt Unvorhersagbarkeit ohne genuinen (metaphysischen oder physika­ lischen) Zufall gibt. An dieser Stelle ist das Chaos zu lokalisieren, welches das Verhalten instabiler oder eben chaotischer dynamischer Systeme kennzeichnet.14 Kleinste Abweichungen in den Anfangsbedingungen haben mehr oder weniger schnell drastisch verschiedene Folgen, und das macht eine Vorausberechnung prinzipiell oder praktisch unmöglich. In vielen Fällen ist die Empfindlichkeit des Systemverhaltens gegenüber solchen Abweichungen so groß, dass unsere bestmöglichen Vorhersagen über die (Wahrscheinlichkeit der) Ergebnisse von den konkret vorliegenden Anfangs­ bedingungen ganz unabhängig sind, weil diese aufgrund der rapiden, „chaotischen“ Vermischung der Zustände sehr schnell irrelevant werden.15 Henri Poincaré (1907, S. 259 f., 274) führte sogar als eine Definition von zufälligen Ereignissen ein, dass bei ihnen kleine Abweichungen in den Ausgangsbedingungen große Abweichungen in den Resultaten zur Folge haben, dass also auch kleinere Unsicherheiten bezüglich der ersteren zu einer völligen Unwissenheit bezüglich letzteren führt. In chaotischen Systemen geht es fast immer nur um Unvorhersagbarkeit vom Typ (a) und (c), der Typ (b) spielt kaum eine Rolle. Das Modell des Zufälligen in dieser Lesart ist die Lottotrommel: Man kann sich sehr gut vorstellen, dass alle physikalischen Gesetze, die für das Ergebnis der Ziehung relevant sind, deterministisch und vollständig bekannt sind. Doch es gibt keine Hoffnung auf eine Vorhersage, selbst dann, wenn man für die Berechnung jahrelang Zeit hätte. Das System, also die genaue Anordnung der Lottokugeln in der Trommel, ist gegenüber kleinsten Änderungen der Anfangspositionen so empfindlich, dass diese niemals in genügender Präzision ermittelt werden können.16

14 Der oben echt genannte, metaphysische oder physikalische Zufallsbegriff hat hingegen mit Chaos nichts zu tun. 15 Wo die inhaltlichen und mathematischen Schwierigkeiten nicht zu groß sind, können Wahrscheinlichkeitsverteilungen über die Anfangsbedingungen Grundlage für Wahrscheinlichkeitsverteilungen über die zu erwartenden Resultate sein. 16 Das Beispiel der Lottoziehung hat gegenüber einem Münz- oder Roulettewurf den Vorteil, dass nicht einmal die schwer abgrenzbaren „Anfangsbedingungen“ einer spontanen menschlichen Bewegung in Betracht gezogen werden müssen. Ein wissenschaftlicheres Modell liefert die Theorie des idealen Gases als Bewegung einer sehr großen Menge sehr kleiner Teilchen (Poincaré).

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Im Zitat, das diesen Beitrag einleitete, haben wir gesehen, dass Hume Zufall mit Unwissenheit in Zusammenhang brachte. Ihm war natürlich vollständig klar, dass Menschen mit ihren Handlungen ihre Mitmenschen immer wieder sehr überraschen. Dies hielt ihn nicht davon ab, Determinist zu sein. Humes Position ist hierbei völlig konsistent, denn, wie wir gesehen haben, ist das Moment der Überraschung nur notwendig, nicht hinreichend für echten Zufall. Die Überraschung, die menschliche Entscheidungen und Handlungen häufig hervorrufen, führte Hume auf das Phänomen chaotischer Ursachen zurück, wobei er es terminologisch allerdings nicht unter den Bereich des Zufälligen subsumierte. „[…] philosophers, observing, that, almost in every part of nature, there is contained a vast variety of springs and principles, which are hid, by reason of their minuteness or remoteness, find, that it is at least possible the contrariety of events may not proceed from any contingency in the cause, but from the secret operation of contrary causes. This possibility is converted into certainty by farther observation; when they remark, that, upon an exact scrutiny, a contrariety of effects always betrays a contrariety of causes, and proceeds from their mutual opposition.“17

Wir kennen alle Entscheidungen, die „auf der Kippe stehen“: komplexe Faktoren, von denen unklar ist, ob diejenigen, die für eine Handlung sprechen, überwiegen oder diejenigen, die dagegen sprechen. Kleinste und entlegenste Ursachen können entscheidend dafür sein, welche Seite die Oberhand gewinnt und ob eine Handlung ausgeführt wird oder nicht.

III. Zufall als Koinzidenz Der dritte Zufallsbegriff ist weder metaphysischer noch epistemischer Natur. Selbst wenn die Welt deterministisch verfasst ist und selbst wenn wir die Fähigkeit zur Vorhersage der betreffenden Ereignisse haben, kann noch von Zufall gesprochen werden. Denn wir zerlegen in unserer Wahrnehmung und Auffassung die Summe des Weltgeschehens in für uns sinnvolle Teile, in Kausalketten oder Kausalnetze überschaubarer Größe, die wir je einzeln als zusammenhängend und damit verständlich empfinden. Zufall liegt dann vor, wenn zwei unabhängige, je für sich gar nicht zufällige Kausalketten sich „überkreuzen“, das heißt, wenn sich ein Ereignis oder Objekt als Resultat von zwei als unzusammenhängend begriffenen Kausalketten ergibt. Dies ist der einfache Fall; es können auch mehr als zwei Kausalketten beteiligt sein, und es ist nicht ausgeschlossen, dass innerhalb der 17

Hume (1748, 8.13, S. 63), in beinahe wortidentischer Übernahme einer Passage aus Hume (1739, 1. 3. 12.5, S. 90 f.). Übersetzung (S. 97 f.): „Die Philosophen […] beobachten, daß fast in jedem Stück Natur eine große Mannigfaltigkeit von wirkenden Kräften und Prinzipien enthalten ist, die wegen ihrer Geringfügigkeit oder Entlegenheit verborgen bleiben; und so halten sie es wenigstens für möglich, daß der Widerstreit in den Ereignissen nicht von einer Zufälligkeit in der Ursache herrührt, sondern von der geheimen Wirksamkeit widerstreitender Ursachen. Weitere Beobachtung verwandelt diese Möglichkeit in Gewißheit; denn es zeigt sich, daß bei genauer Prüfung ein Widerstreit in den Wirkungen stets einen Widerstreit in den Ursachen enthüllt und aus deren wechselseitigem Gegensatz entspringt.“

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Kausalketten selbst zufällige Elemente identifizierbar sind. Hier handelt es sich um eine Koinzidenz,18 ein als zufällig empfundenes Zusammenfallen (sozusagen „Zu-fallen“) von Ereignisfolgen, die intuitiv nichts miteinander zu tun haben. Das Zufällige betrifft also nicht, wie bisher, für sich betrachtete Ereignisse, sondern solche, die als Glieder von zwei oder mehreren Ereignisfolgen verstanden werden. Ein verbreitetes Beispiel ist das des Ziegels, der vom Dach auf den Kopf eines Passanten fällt. Die erste Verwendung dieses Beispiels in der uns interessierenden Funktion ist wohl in § 24 von Arthur Schopenhauers Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde aus dem Jahr 1813 zu finden: „Das Aufeinanderfolgen in der Zeit von Begebenheiten, die nicht in Kausalverbindung stehn, ist eben was man Zufall nennt, welches Wort vom Zusammentreffen, Zusammenfallen, des nicht Verknüpften genommen scheint. Ich trete vor die Hausthür und darauf fällt ein Ziegel vom Dach, der mich trifft; so ist zwischen dem Fallen des Ziegels und meinem Heraustreten keine Kausalverbindung, aber dennoch die Succession, daß mein Heraustreten dem Fallen des Ziegels vorherging, in meiner Apprehension objektiv bestimmt […]“.19

Schopenhauer hat dieses Beispiel wohl von Baruch von Spinoza20 übernommen, der es im Anhang zu Lehrsatz 36 seiner Ethik verwendet, aus dessen Beweis wiederum Schopenhauer in § 8 seiner Dissertation zitiert. Das Beispiel zieht sich jedenfalls durch die weitere Philosophie- und Geistesgeschichte. Mit Bezug auf den Zufallsbegriff findet es sich in ähnlicher Form bei Friedrich Albert Lange,21 Antoine Augustin Cournot,22 Henri Bergson,23 Henri Poincaré,24 Heinrich Emil Timerding,25 Walter Hollitscher,26 Robert Havemann27 und Jacques Monod.28 Stellen mit Anklängen an dieses Beispiel finden sich des Weiteren schon in einer späten Vorlesung Immanuel Kants,29 dann bei Johann Wolfgang von Goethe,30 Sören Kierkegaard,31 Friedrich Nietzsche,32 Robert Musil33 sowie Martin Walser.34 18

Engl. coincidence, oder synonym concurrence. Schopenhauer (1813, § 24, S. 51). Diese Stelle bleibt fast wörtlich in der stark überarbeiteten zweiten Auflage von 1847 erhalten (Haffmans-Ausgabe, § 23, S. 97). 20 Spinoza (1677, dt. S. 89), Anhang zu Lehrsatz 36. Bei Spinoza fällt ein Stein vom Dach. 21 Lange (1866, S. 8). 22 Cournot (1875, S. 306 ff.). 23 Bergson (1907, S. 254) und Bergson (1932, S. 155). 24 Poincaré (1907, S. 265 f.). 25 Timerding (1915, S. 7 f.). 26 Hollitscher (1949/50, 1991, S. 49). 27 Havemann (1964, 7. Vorlesung 29. 11. 1963, S. 84 ff.). 28 Monod (1970, S. 128; dt. 1977, S. 107). Bei Monod fällt der Hammer eines Klempners vom Dach. 29 Kant (1793–94), S. 502. 30 Goethe (1822, S. 505 und 511). 31 Kierkegaard (1843, S. 26). 32 Nietzsche (1881, zweites Buch, § 130, S. 121). 33 Musil (1922, S. 1077). Musil hatte Timerding und die Wahrscheinlichkeitstheoretiker von Mises und Reichenbach gelesen. 34 Walser (1964, S. 185). 19

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Die Idee vom Zufall als dem „Zusammentreffen, Zusammenfallen des nicht Verknüpften“ wird hier nur beiläufig formuliert. Sie findet sich detaillierter ausgeführt in Schopenhauers Kritik der Kantischen Philosophie (1819, S. 645 ff.), die als Appendix zur Welt als Wille und Vorstellung erschien und in der zweiten Auflage derselben noch einmal erweitert wurde (1844, besonders S. 590 ff.), sowie viel später in der kleinen Schrift „Transcendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen“ (1851, besonders S. 209 ff.). Hier bestimmt Schopenhauer Zufall und Notwendigkeit als relative Begriffe und betont, dass, objektiv gesehen, die vielen „in der Richtung der Zeit fortschreitenden Kausalketten ein großes, gemeinsames, vielfach verschlungenes Netz“ (1851, S. 216) bilden. Zufälligkeit sei „eine bloß subjektive Erscheinung […], entstehend aus der Begränzung des Horizonts unseres Verstandes“ (1844, S. 596). Der einflussreichste Vertreter der Idee des Zufalls als Koinzidenz (rencontre) war wohl der französische Mathematiker und Philosoph Antoine-Augustin Cournot, der sie in die Wahrscheinlichkeitstheorie hineintrug und sich zeit seines Lebens damit auseinandersetzte. War für den einflussreichen Deterministen Laplace Zufall noch eine rein epistemische Angelegenheit gewesen, lag der entscheidende Punkt für Cournot woanders. Ganz den Schopenhauerschen Gedanken weiterführend schrieb er „Les événements amenés par la combinaison ou la rencontre de phénomènes qui appartiennent à des séries indépendantes, dans l’ordre de la causalité, sont ce qu’on nomme des événements fortuits ou des résultats du hasard.“35 „Les événements amenés par la combinaison ou la rencontre d’autres événements qui appartiennent à des séries indépendantes les unes des autres, sont ce qu’on nomme des événements fortuits, ou des résultats du hasard.“36 „[…] l’idée de hasard est l’idée d’une rencontre entre des faits rationnellement indépendants les uns des autres, rencontre qui n’est elle-même qu’un pur fait, auquel on ne peut assigner de loi ni de raison.“37 „[…] le mot de hasard n’est pas sans relation avec la réalité extérieure; il exprime une idée qui a sa manifestation dans des phénomènes observables […] Cette idée est celle de l’indépendance actuelle et de la rencontre accidentelle de diverses chaînes ou séries de causes.“38 35 Cournot (1843, S. 73). Deutsche Übersetzung in Cournot (1849, S. 63): „Die Erscheinungen aber, welche durch ein Zusammentreffen oder durch eine Vereinigung mehrerer hinsichtlich der Kausalität von einander unabhängiger Erscheinungen hervorgebracht werden, nennt man zufällige Erscheinungen oder Wirkungen des Zufalles.“ (Diese Übersetzung übergeht den von Cournot verwendeten Begriff der Serie oder Reihe von Erscheinungen). 36 Cournot (1851, S. 38). Übersetzung: „Ereignisse, die durch die Kombination oder das Zusammentreffen anderer Ereignisse, die zu unabhängigen Reihen gehören, hervorgerufen werden, nennt man zufällige Ereignisse oder Ergebnisse des Zufalls.“ 37 Cournot (1861, Band 1, S. 93 f.). Übersetzung: „die Idee des Zufalls ist die Idee eines Zusammentreffens von Tatsachen, die rational voneinander unabhängig sind, ein Zusammentreffen, das selbst eine reine Tatsache ist, der kein Gesetz oder Grund zugeordnet werden kann.“ 38 Cournot (1875, S. 305 f.). Übersetzung: „das Wort ‚Zufall‘ ist nicht ohne Bezug zur äußeren Realität; es drückt eine Idee aus, die sich in beobachtbaren Phänomenen manifestiert […]

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Mir ist nicht bekannt, ob Cournot Schopenhauer gelesen hat. Er nannte ­Boethius, Thomas von Aquin und Jean la Placette (1639–1718) als Vorgänger seiner Zufallsdefinition,39 die (noch heute) in der maschinellen Erzeugung von Zufallszahlen eine passende Anwendung findet. Auch bei der Idee des Zusammentreffens von als unabhängig kategorisierten Kausalketten gibt es chaotische Effekte, wenn nicht innerhalb der Ketten selbst, dann doch in ihrem präzisen Zusammentreffen. Hätte sich etwa der Dachziegel nur drei Sekunden später gelöst, dann wäre zwar der Vorgang des Herabfallens nicht wesentlich anders verlaufen, doch würde das Opfer heute noch leben und vielleicht wertvolle Beiträge für die Gesellschaft leisten. Die Lockerung des Dachziegels ist, so nehmen wir an, ein naturgesetzlich bestimmter Prozess, und die Bewegungen des Opfers verliefen in einer normalen, sinnvollen und festen Bahn. Die ganze Zufälligkeit, aber auch die ganze Bedeutsamkeit des Unfalls liegt darin, dass sich diese Bahn mit der des Dachziegels in fataler Weise kreuzte. Kleine Änderungen der Ursachen haben deshalb eine große Änderung in der Wirkung zur Folge. Obwohl der zweite und der dritte Zufallsbegriff mit dem Determinismus vereinbar sind, sind diese beiden Zufallsbegriffe klar zu unterscheiden und logisch voneinander unabhängig. Einerseits ist der Vorgang in der Lottotrommel unvorhersagbar, ohne dass es eine zweite Kausalkette gäbe, die mit ihm interferiert. Andererseits gibt es Koinzidenzen auch bei prinzipieller Vorhersagbarkeit. Denn selbst wenn man in der Lage ist, neben den Verläufen der beiden Kausalketten – der Herauslösung des Ziegels und des Laufwegs des Opfers – sogar ihr Zusammentreffen im Voraus präzise zu berechnen, würde man ante factum nicht daran denken, sich an solcherart Berechnungen zu machen, denn es erschiene einem sinnlos, uninteressant, irrelevant. Erst wenn die Koinzidenz stattgefunden hat, wird die Bedeutung der einzelnen Ketten erkannt. Die Isolation von (linearen) Kausalketten oder (vorwärts und rückwärts verzweigten) kausalen Modellen im eigentlich holistischen Kausalnexus40 ist abhängig von unseren Interessen und Perspektiven. Dasselbe gilt für die „(Un-)Abhängigkeit“ von Kausalketten.41 Dieser dritte Zufallsbegriff kann deshalb pragmatisch oder hermeneutisch genannt werden.

Diese Idee ist die der tatsächlichen Unabhängigkeit und des zufälligen Zusammentreffens verschiedener Ketten oder Reihen von Ursachen“. 39 Cournot (1851, S. 41). 40 Noch besser als „Kausalnexus“ wäre wohl die Bezeichnung „Kausalfluss“, um den kontinuierlichen Charakter raumzeitlicher Prozesse zu betonen. Schon das Ansetzen von Ereignissen zu diskreten Zeitpunkten kann eine anthropomorphe Idealisierung darstellen. 41 Vgl. aber Pearl (2009, Kap. 5, 9) zur empirischen Überprüfbarkeit von kausalen Modellen.

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C. Zusammenfassung und Schluss Wir beantworten nun, soweit es uns an dieser Stelle möglich ist, die von Hume aufgeworfenen und in Abschnitt A. formulierten Fragen. (i) Hume konnte überhaupt nicht wissen, dass es keinen genuinen Zufall gibt. Die heutige Physik deutet wohl eher darauf hin, dass diese Behauptung falsch ist, aber es gibt noch heute, knapp drei Jahrhunderte, nachdem Hume die Behauptung aufgestellt hat, keine konklusive Evidenz hierzu. Dass wir echten Zufall (nichtdeterminierte Ereignisse) nicht von Notwendigkeit (determiniert verursachten Ereignissen) unterscheiden können, liegt an der Komplexität der Welt. (ii) Die Rede vom „Zufall“ ist systematisch mehrdeutig. Es gibt – mindestens – drei verschiedene Gebräuche des Worts „Zufall“ im umgangssprachlichen (und wohl auch im philosophischen und im wissenschaftlichen) Diskurs: den metaphysischen „eigent­lichen“ Zufall, den „uneigentlichen“ Zufall im Sinne der Unvorhersagbarkeit und den „uneigentlichen“ Zufall im Sinne eines Zusammentreffens unabhängiger Kausalketten. In den Fällen uneigentlichen Zufalls tritt uns die Welt oft als eine „chaotische“ gegenüber: Wenn man gewisse Ursachen nur ein kleines bisschen geändert hätte, hätten sich ganz andere Konsequenzen ergeben. (Gewissermaßen ein Umschlag von Quantität in Qualität.) (iii) Auch wenn es in der Welt, wie Hume glaubte, tatsächlich keinen echten Zufall gibt, d. h. wenn die Welt deterministisch ist, ergibt es trotzdem noch guten Sinn, von „Zufall“ zu reden. Der Zufall ist dann nur kein „echter“ oder „eigentlicher“ mehr im Sinne einer Indeterminiertheit, sondern einer, der unsere menschlichen Beschränkungen und Perspektiven reflektiert. Unsere Welt ist chaotisch: Sie hält sich meist nicht an unsere Erwartungen, und oft ist es nicht einmal möglich, vernünftige Erwartungen auszubilden. In dieser epistemischen Lage befinden wir uns zum Beispiel gegenüber Vulkanen und dem Wetter, am allermeisten aber natürlich gegenüber unseren Mitmenschen (und vielleicht auch gegenüber uns selbst). Für uns ist es nicht schwer zu erkennen, dass die Welt chaotisch ist. Aber es sei hier noch einmal wiederholt: Daraus, dass unsere Welt chaotisch ist, folgt nicht, dass es echten Zufall gibt in dem Sinne, dass die Welt indeterministisch verfasst wäre. Ich weiß nicht, ob die Welt deterministisch verfasst ist oder nicht. Und ich bin recht sicher: Wir wissen es nicht, die Philosophie und die Wissenschaft wissen es nicht. Aber gleichviel, ob die Welt deterministisch verfasst ist oder nicht, im Alltag betrachten wir es als unproblematisch, dass es Zufall in der Welt gibt. Tag für Tag reden wir über zufällige Ereignisse und Ergebnisse. Unsere normale Rede vom Zufall ist nicht fehlerhaft, sondern konstituiert die Bedeutung des Zufallsbegriffs, der kein technischer Begriff ist. „Zufall“ meint umgangssprachlich nicht

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nur echten, indeterministischen Zufall, sondern lässt auch andere, dem Menschen nähere Ausdeutungen zu. Es ist nicht so, als ob eine der drei oben gegebenen Auslegungen des Wortes „Zufall“ die richtige und alle anderen falsch wären. Mir scheint, dass alle ihre Berechtigung haben und dass der natürliche Sprachgebrauch leicht und mühelos zwischen der einen und der anderen Lesart wechselt. Im Alltag mag das keine Schwierigkeiten hervorrufen, von einem wissenschaftlichen Standpunkt sind solche Ambiguitäten jedoch problematisch. Dies betrifft auch die Anwendung des Zufallsbegriffs in der Rechtswissenschaft. Im deutschen Strafrecht kann eine Person nur dann für eine Handlung zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie die Handlung aus freien Stücken vollzogen hat und zwar so, dass sie – unter den gegebenen Umständen – auch anders hätte handeln können.42 Dieses starke Konzept der Willens- und Handlungsfreiheit scheint mit dem Determinismus nicht verträglich zu sein. Doch ist es ein vielleicht überraschendes Faktum, dass viele zeitgenössische Philosophinnen und Philosophen glauben, dass Willensfreiheit und Determinismus sehr wohl miteinander verträglich sind. Für diese Anhänger des eingangs schon erwähnten Kompatibilismus ist es möglich, unser Bild als frei verantwortliche und also strafmündige Akteure auch dann aufrecht zu erhalten, auch wenn sich herausstellen sollte, dass unsere Welt deterministisch verfasst ist.43 Intuitiv wohl ebenso überraschend wie die kompatibilistische These in der Willensfreiheitsdebatte ist die in diesem Artikel betonte Tatsache, dass die zweite und dritte Konzeption des Zufalls ebenfalls mit der Annahme des Determinismus verträglich sind. Die Debatte um die Willensfreiheit im Strafrecht betrifft die Quellen einer Handlung: Wie kommt sie zustande, liegen ihre Ursachen in der handelnden Person oder kann diese „nichts dafür“? Die Rolle einer Durchbrechung des Determinismus, also des Vorliegens von genuinem Zufall ist hier nicht ganz deutlich, denn wie sollten ausgerechnet Zufallsprozesse – vermutlich im Gehirn des Menschen – seine moralische und rechtliche Verantwortlichkeit gewährleisten? Klarer ist die Rolle, die („unechter“) Zufall der zweiten und dritten Art spielen kann: Dass ein Täter den Charakter und die Motive hat, die er bei der Ausübung der Tat nun einmal hat, ist in vielen Fällen nicht vorauszuberechnen und resultiert möglicherweise aus einer unglücklichen Kreuzung von sich ganz unabhängig entfaltenden Ereignisketten. Insofern können die Ursachen einer Tat als zufällig angesehen werden. Ein solcher Zufall scheint strafrechtlich aber keine Relevanz zu haben und wirkt nicht strafbefreiend oder -mindernd wie etwa fehlender Vorsatz, fehlende Einsicht in die Unrechtmäßigkeit des Handelns, seelische Störungen oder die Unreife eines kindlichen Täters.

42 Vgl. hierzu und insbesondere zur Situation angesichts neuerer Erkenntnisse der Hirnforschung Hillenkamp (2015) und Papathanasiou (2015). 43 Die aktuelle Debatte ist sehr gut aufbereitet in Walter (2018).

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Die Rolle des Zufalls scheint mir ähnlich zu liegen bei den Folgen einer Handlung. Ob ein Mordanschlag erfolgreich ist, hängt von den Umständen ab. Zufällige Ereignisse zwischen der Initiierung der Tat durch den Täter und dem intendierten Eintritt eines Tat-„Erfolgs“ können dazu führen, dass dieser ausbleibt. Das Opfer kann dem Anschlag entgehen, weil es zufällig genau zur rechten Zeit niesen muss und der Schuss daneben geht, weil es aus einer plötzlichen Laune heraus darauf verzichtet, den vergifteten Kuchen zu essen, oder weil der Messerstich des Täters die Hauptschlagader um einen Millimeter verfehlte. Die Folgen einer Tat können also ebenfalls oft als zufällig angesehen werden. Die strafrechtliche Relevanz ist aber wieder gering. Nach § 23 des deutschen Strafgesetzbuchs ist der Versuch eines Verbrechens stets strafbar. Wenn der Versuch – in vielen Fällen: zufällig – nicht zum intendierten Erfolg führt, kann er milder bestraft werden als die vollendete Tat. Er muss dies aber nicht. Im Zusammenhang mit strafrechtlichen Erwägungen mag man übrigens die Diskussion eines weiteren Zufallsbegriffs erwarten, der seit dem Aufsatzpaar von Williams (1976) und Nagel (1976) in der Philosophie prominent geworden ist: den des moralischen Zufalls (moral luck). Hierunter versteht man den Sachverhalt, dass eine Person für ihre Handlung oder die Folge ihrer Handlung (zu Recht) verantwortlich gemacht wird auch dann, wenn die Handlung(sfolge) von Faktoren abhängt, die außerhalb der Kontrolle der Person liegen. So hat die Person nur „Glück“ oder „Pech“, wenn ihre Handlung aufgrund solcher Faktoren zustande kommt und bestimmte positive bzw. negative Folgen zeitigt, und dennoch werden ihr diese Folgen zugerechnet. In unserem Zusammenhang bringt der Begriff des moralischen Zufalls allerdings nichts Neues: Dass etwas nicht der Kontrolle der handelnden Person unterliegt, bedeutet noch nicht, dass es zufällig geschieht – es kann perfekt determiniert, voraussehbar und interpretierbar sein. Aber in vielen Fällen wird es auch zufällig in einem der drei oben genannten Sinne sein, typischerweise, weil das betreffende Ereignis entweder nicht vorhergesehen oder nicht in Zusammenhang mit der eigenen Handlung gebracht werden konnte. Dann ist der moralische Zufall die Inkarnation einer der drei Arten von Zufall, die wir identifiziert haben. Wir fassen zusammen. In diesem Beitrag wurde eine konzeptuelle Klärung des Zufalls versucht. Es wurden drei deutlich verschiedene Lesarten des Wortes „Zufall“ identifiziert, die begrifflich scharf auseinandergehalten werden sollten. Ob diese verschiedenen Bedeutungen auch praktisch verschiedene Rollen spielen und zu differenzierenden Behandlungen der Zufallsvarianten in der Rechtsprechung führen sollten, ist eine interessante und wichtige Frage, die jedoch über den Skopus des vorliegenden Beitrags hinausgeht.44

44 Ich danke den Teilnehmern der Tagung „Zufall – rechtliche, philosophische und theologische Aspekte“ und insbesondere Konstantina Papathanasiou für hilfreiche Kommentare. Dieser Beitrag ist dem Gedenken an meinen Freund Christoph Karl Maria Busch gewidmet.

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Vom Zufall zur Teleologie Holger Leuz, Regensburg

A. Einleitung In dieser kurzen Arbeit soll gezeigt werden, dass objektive Wahrscheinlichkeiten einerseits den Zufall messen, aber andererseits und überraschenderweise auch teleologischen, also zielgerichteten Charakter haben. Somit soll das Konzept der Teleologie als naturwissenschaftliches Konzept rehabilitiert werden. In Abschnitt B geht es um vorbereitende begriffliche Klärungen, die auch den Zusammenhang von Zufall und Wahrscheinlichkeit herstellen sollen. In Abschnitt C wird das wahrscheinlichkeitstheoretische Gesetz der Großen Zahl als der wesentliche empirische und somit objektive Aspekt von Wahrscheinlichkeiten begründet und darauf aufbauend eine modalisierte Formulierung dieses Gesetzes vorgeschlagen und verteidigt, die modale Häufigkeitsinterpretation. In Abschnitt D wird begründet, dass die modale Häufigkeitsinterpretation eine Zielgerichtetheit, also einen teleologischen Charakter, aufweist. Das Ergebnis der Arbeit wird in Abschnitt E kurz zusammengefasst.

B. I. Begriff des Zufalls Zunächst definiere ich, was ich für die Zwecke dieses Aufsatzes unter Zufall verstehen möchte. Definition Als Zufall bzw. einen Zufall bezeichne ich ein beliebiges Ereignis X dann und nur dann, wenn das Eintreten von X (zeitlich) vor dem Eintreten von X nicht durch irgendwelche Ursachen oder Vorbedingungen determiniert war. Der Begriff der Determination wird hier in intuitiver Weise gebraucht. Im Rahmen der Modallogik kann man diesen Begriff präzise bestimmen. Eine modallogische notwendige Bedingung für A determiniert B ist jedenfalls, dass in allen relevanten möglichen Welten, in denen A der Fall ist, auch B der Fall ist. Weiter möchte ich hier nicht auf modallogische Details eingehen. Die Definition bestimmt ein ontisches Konzept von Zufall und entspricht dem metaphysischen Zufall im Beitrag von Hans Rott, Was ist Zufall? Kontingenz – Un-

Vom Zufall zur Teleologie

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vorhersagbarkeit – Koinzidenz, in diesem Band. Zufall wird als etwas bestimmt, dessen Vorkommen in der Realität unabhängig davon ist, ob eine Person in irgendeiner Form daran denkt oder es wahrnimmt. Als Folgerung aus der obigen Definition ergibt sich, dass ein Zufall nicht exakt prognostiziert werden kann, etwa durch Herleitung oder Berechnung in einer Theorie. Ein doxastisches Konzept von Zufall ergibt sich, wenn man Zufall durch Nicht-Prognostizierbarkeit definiert. In diesem Fall ist es theorieabhängig, ob ein bestimmtes Ereignis Zufall ist oder nicht. Eine Prognose für dieses Er­ eignis mag in einer Theorie nicht berechenbar sein und in einer anderen dagegen schon.

B.II. Wahrscheinlichkeiten Wenn Zufälle auch nicht exakt vorhersehbar sind, so entziehen sie sich doch nicht einer systematischen wissenschaftlichen Theoriebildung. Der beste bekannte Ansatz dafür ist die Angabe von Wahrscheinlichkeiten für Zufallsereignisse. Die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses X ist abstrakt betrachtet eine reelle Maßzahl zwischen Null und Eins, symbolisch ausgedrückt als P(X). Welchen Bedingungen solche Zahlen P(X) genügen müssen, um formal als Wahrscheinlichkeiten zu gelten, legt man in der Mathematik durch Axiome der Wahrscheinlichkeitslehre fest. Hier gelten die Axiome von Kolmogorow als Standard. Es gibt aber auch abweichende Non-Standard-Axiomensysteme für Wahrscheinlichkeiten. Für diesen Aufsatz werden keine mathematischen Details benötigt. Es genügt mir die Feststellung, dass P(X) eine mathematisch-logisch wohldefinierte Größe ist. Anwendungen der Wahrscheinlichkeitslehre sind etwa Berechnungen zum Glücksspiel (optimale Strategien), die Quantentheorie, Informationstheorie, Qualitätsprüfung, und überhaupt jedes Anwendungsfeld statistischer Methoden. David Hume hat in seinem Treatise of Human Nature (part III, section II) eine beachtenswerte Beobachtung über die Anwendung von Wahrscheinlichkeiten gemacht. Man kann sinnvolle Wahrscheinlichkeitsaussagen nur machen, wenn die wahrscheinlichen Ereignisse (Hume glaubte nicht an echten Zufall im Sinne der Definition aus B.I, siehe Rott [dieser Band]) in deterministische Rahmenbedingungen eingebettet sind. Ein einfaches Beispiel hierzu ist das Würfeln mit einem Würfel. Man gibt jedem möglichen Ergebnis, also jeder möglichen Augenzahl, die Wahrscheinlichkeit 1/6. Diese Angabe ist sinnvoll, unter anderem weil wir die deterministische Annahme machen, dass wir den Würfel werfen können und er daraufhin rollt und schließlich liegenbleibt und eine eindeutige Augenzahl anzeigt. Man kann sich beliebig viele Rahmenbedingungen einfallen lassen, die dazu wiederum erfüllt sein müssen. Der Würfel darf sich nicht plötzlich pulverisieren. Die Augenzahlen auf den sechs Seiten müssen stabil bleiben. Der Würfel darf nicht manchmal nach dem Wurf in der Luft stehen bleiben, nach oben wegfliegen, etc.

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In einer möglichen Welt, in der jedes Ereignis Zufall ist, wird es also schwer, Wahrscheinlichkeiten zu bestimmen. An dieser Stelle lassen wir es offen, ob und wie es in so einer Welt überhaupt Wahrscheinlichkeiten geben könnte.

B.III. Interpretation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs Die Wahrscheinlichkeitslehre wendet man an, indem man unter Berücksichtigung der Axiome von Kolmogorow oder anderer Axiome Berechnungen anstellt. Aber wie soll man den Begriff der Wahrscheinlichkeit überhaupt deuten? Hierbei ist zwischen subjektiver und objektiver Wahrscheinlichkeit zu unterscheiden, so wie man beim Zufall zwischen ontischem und doxastischem Zufall unterscheiden muss. Man deutet eine Wahrscheinlichkeitsaussage der Form Wahrscheinlichkeit für Ereignis X beträgt y, symbolisch P(X) = y, im Sinne einer subjektiven Wahrscheinlichkeit, falls P eine Bewertung, durch ein denkendes Subjekt, der Glaubwürdigkeit, Erwartbarkeit oder Plausibilität des Eintretens von X ausdrückt und y die Stärke dieser Glaubwürdigkeit etc. für das bewertende Subjekt bemisst. Die formalen, und somit durchaus objektiven, Regeln der Wahrscheinlichkeitslehre geben in dieser Interpretation dann vor, wie solche Bewertungen rationalerweise auszusehen haben. Deutet man Wahrscheinlichkeiten als objektiv, so muss P eine objektive Größe sein, also eine Größe, die unabhängig von beobachtenden und bewertenden Subjekten existiert und die durch eine reelle Zahl y gemessen wird. P(X) = y drückt dann einen objektiv bestehenden Sachverhalt aus. Es ergeben sich somit kombinatorisch vier Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeitsaussagen zu deuten: 1. objektive Wahrscheinlichkeit für einen ontischen Zufall 2. objektive Wahrscheinlichkeit für einen doxastischen Zufall 3. subjektive Wahrscheinlichkeit für einen ontischen Zufall 4. subjektive Wahrscheinlichkeit für einen doxastischen Zufall Alle vier kombinatorischen Möglichkeiten sind durchaus philosophisch sinnvoll. Wir wollen uns im folgenden nur mit der ersten Option befassen.

C. I. Das Gesetz der Großen Zahl Was für ein objektiver Sachverhalt soll nun bei der objektiven Deutung von Wahrscheinlichkeiten für ontische Zufälle durch P(X) = y ausgedrückt werden? Hierzu gibt es eine Reihe von philosophischen Vorschlägen. Wahrscheinlichkeiten

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könnten etwa als relative Häufigkeiten interpretiert werden, oder aber als objektive Tendenzen zu Realisierung von Zufallsereignissen. Für eine ausführlichere Diskussion verschiedener Interpretationen sei auf den Beitrag von Niki Pfeifer, Die Zähmung des Zufalls, in diesem Band verwiesen, sowie auf Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen. Eine Untersuchung objektiver Wahrscheinlichkeitsbegriffe, und auf van Fraassen, The Scientific Image. Um ein tieferes Eintauchen in die komplexe metaphysische Diskussion des Wahrscheinlichkeitsbegriffs ein Stück weit zu umgehen, wollen wir hier eine empiristische Herangehensweise verfolgen. Das bedeutet, wir wollen herausfinden, was an Wahrscheinlichkeiten objektiv sein könnte, indem wir fragen, was denn an ihnen objektiv beobachtbar ist. Die Verknüpfung von Empirie und Wahrscheinlichkeitstheorie wird durch das Gesetz der Großen Zahl ermöglicht. Dies ist die empirisch bestätigte These, dass sich bei Zufallsexperimenten die relative Häufigkeit eines möglichen Ergebnisses X (also die Anzahl der Durchführungen des Experiments mit Ergebnis X geteilt durch die Gesamtanzahl an Durchführungen des Experiments) immer besser an die Wahrscheinlichkeit P(X) annähert, je öfter das Experiment durchgeführt wird. Das Gesetz der Großen Zahl ist kein Axiom der Wahrscheinlichkeitslehre (nach den Standard-Axiomen von Kolmogorow), sondern eine Folgerung aus ihr. Durch diese Folgerung wird die empirische Adäquatheit der Wahrscheinlichkeitslehre nachgewiesen, denn die charakteristische Beobachtung bei Zufallsexperimenten ist die Annäherung von relativen Häufigkeiten an einen bestimmten Grenzwert, die entsprechende Wahrscheinlichkeit (Krengel, Einführung in die Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik, S. 58 f.). Beispiele: 1. Wirft man eine normale Münze immer öfter, so nähert sich das Verhältnis von Kopf zu Zahl allmählich immer besser an 1 : 1 an. 2. Wirft man einen normalen Würfel immer öfter, so nähert sich die Verteilung der Ergebnisse allmählich immer besser der Gleichverteilung an, d. h. jede der sechs Augenzahlen tritt in 1/6 der Würfe als Ergebnis auf. 3. Lässt man viele Kügelchen (oder Sand) durch ein Nagelbrett nach unten fallen, so nähert sich die Verteilung der Kugeln auf Orte des Auftreffens am Boden allmählich immer besser der Gaußschen Normalverteilung an. 4. In sogenannten Doppelspaltexperimenten in der Quantenmechanik schickt man einen Strahl (z. B. aus Elektronen oder aus Photonen, also Licht) durch einen Doppelspalt in einer undurchlässigen Platte auf einen Detektorschirm. Auf diesem Schirm zeigt sich ein Interferenzmuster. Theoretisch kann man für den Ort des Auftreffens eines Teilchens auf dem Schirm eine Wahrscheinlichkeitsverteilung errechnen, die dem gemessenen Interferenzmuster entspricht. Sendet man jedoch statt eines Strahls aus vielen Teilchen einzelne Teilchen nacheinander

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durch den Doppelspalt, so treffen diese Teilchen an zufällig verteilten Orten auf den Schirm. Wenn man jedoch immer mehr Teilchen auf den Schirm schickt, so zeichnet sich allmählich immer deutlicher das Interferenzmuster ab, das ein Strahl aus vielen Teilchen sofort erzeugen würde. Das bedeutet, dass sich die Verteilung einzelner Teilchentreffer auf dem Schirm mit zunehmender Anzahl an Teilchen immer besser der theoretisch errechneten Wahrscheinlichkeitsverteilung annähert. Es ist schwer zu sehen, wie und warum solche häufig beobachteten und gut bestätigten Erscheinungen auf subjektiven Wahrscheinlichkeiten beruhen sollten. Wo sollen hier Bewertungen durch Menschen eine Rolle spielen? Aus diesem Grund soll nun die These vorgeschlagen werden, dass das ganz klar empirisch bestätigte Gesetz der großen Zahl den harten Kern der objektiven Realität von Wahrscheinlichkeiten ausmacht. Nun ist aber noch nicht klar genug geworden, welche genauen Werte objektive Wahrscheinlichkeiten annehmen müssen. Denn relative Häufigkeiten verändern sich ja mit jeder erneuten Durchführung eines Versuchs und gerade am Anfang einer Versuchsreihe entsprechen relative Häufigkeiten oft ganz und gar nicht den theoretisch errechneten Wahrscheinlichkeiten. Ein extremes Beispiel: nach nur einem Wurf eines Würfels ist die relative Häufigkeit für eine Augenzahl gleich 1 und für die anderen fünf Augenzahlen ist sie 0. Eine modale Formulierung des Gesetzes der Großen Zahl schafft Abhilfe und liefert eindeutige Wahrscheinlichkeitswerte.

C.II. Modales Gesetz der Großen Zahl Bas van Fraassen formulierte speziell für die Anwendung von Wahrscheinlichkeiten in der Quantentheorie eine modale Häufigkeitsinterpretation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs (van Fraassen, Bas: The Scientific Image, Oxford 1980, § 4.4). Der Idee van Fraassens folgend wird nun eine modalisierte Formulierung des Gesetzes der Großen Zahl vorgeschlagen. P(X) = y bedeutet: Je öfter man ein Experiment mit möglichem Ausgang X wiederholen würde, desto besser würde sich die relative Häufigkeit des Ergebnisses X bzgl. der Gesamtanzahl an Wiederholungen dem Wert y annähern. Die Modalität dieser These besteht in der Verwendung des Konditionals vom Typ würde …, dann würde … Wie schon in B. I. soll in dieser Arbeit nicht näher auf die logische Theorie solcher modalen Aussagen eingegangen werden, da dies den Rahmen sprengen würde. Nur so viel: soll die vorgeschlagene Interpretation auch ihrem Namen gerecht objektive Wahrscheinlichkeiten erklären, so müssen die verwendeten lo­

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gischen Modaloperatoren auch durch objektive Wahrheitsbedingungen semantisch interpretiert sein. Ein interessantes Korollar aus der modalen Häufigkeitsinterpretation ist somit, dass hier Konditionalsätze nicht als bedingte Wahrscheinlichkeitsaussagen gedeutet werden dürfen, weil die Interpretation sonst zirkulär würde.

C.III. Verteidigung der modalen Interpretation Die Hauptkonkurrenten der vorgeschlagenen modalen Interpretation sind die subjektive Interpretation von Wahrscheinlichkeiten und die objektive Interpretation von Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen. Im Vergleich zur modalen Interpretation spricht gegen die Tendenz-Interpretation ganz einfach Ockhams Messer. Die modale Interpretation muss keine zusätzliche Entität, d. h. keine Tendenz, postulieren, während die Alternativtheorie besagt, dass zum Beispiel in einem Würfel eine Tendenz oder Disposition existiert, eine Gleichverteilung von Augenzahlen hervorzubringen. Bei einer subjektiven Interpretation liefern theoretisch berechnete Wahrscheinlichkeiten für Ereignisse die Grade, in denen man rationalerweise an das Eintreten der Ereignisse glauben sollte. Es stellt sich die Frage, warum man sich überhaupt – angeblich vernünftigerweise – an diese Norm halten sollte, die von der Wahrscheinlichkeitstheorie vorgegeben wird. Inwiefern würde man falsch denken, wenn man etwa zum Grade 0.95 glaubte, dass ein Wurf eines normalen Würfels die Augenzahl 3 ergeben wird, und die anderen fünf möglichen Ergebnisse je zum Grade 0,01 glaubte? Die beste Antwort, so jedenfalls der hier vertretene Vorschlag, ist der Verweis auf die Empirie. Man sollte deshalb jedes Ergebnis zum Grade 1/6 für plausibel halten, weil die Beobachtung immer wieder gezeigt hat, dass sich langfristig eine Gleichverteilung der relativen Häufigkeiten der sechs Augenzahlen eingestellt hat. Rationale subjektive Glaubensgrade beruhen somit auf beobachteten oder gemessenen objektiven Häufigkeiten.

D. I. Teleologischer Charakter objektiver Wahrscheinlichkeiten Nehmen wir an, die bisherigen Überlegungen zur Interpretation objektiver Wahrscheinlichkeiten seien korrekt und die modale Häufigkeitsinterpretation sei zutreffend. Dann, so lautet die Hauptthese dieser Arbeit, trägt objektive Wahrscheinlichkeit deutliche teleologische Züge. Was ist damit gemeint? Definition Eine teleologische Erklärung für Ereignis X erklärt X durch Angabe eines zielgerichteten Prozesses, zu dem X gehört.

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Erläuterung: Dabei kann X sowohl der Zielzustand selbst sein als auch zu dem Prozess gehören, der zum Zielzustand hinführt. Die modale Häufigkeitsinterpretation definiert nun Wahrscheinlichkeiten mittels beliebig fortsetzbarer Wiederholungen eines Experiments, die bei ausreichender Anzahl auf einen bestimmten Zielzustand hinauslaufen würden: Übereinstimmung von relativer Häufigkeit und (errechneter) Wahrscheinlichkeit. Diese teleologische Erklärung kann per definitionem im Falle von Zufallsexperimenten wie in den Beispielen nicht durch eine kausale Erklärung ersetzt oder ergänzt werden. Sie ist also wesentlich teleologisch. Denn bei einer kausalen Erklärung müsste man erklären, wie die einzelnen Zufallsereignisse, die die letztendlichen relativen Häufigkeiten ergeben, kausal determiniert sind, im Widerspruch dazu, dass es wie gesagt Zufallsereignisse sind. Bei Zufallsexperimenten mit Objekten wie Würfeln, Münzen, Kugeln auf Nagelbrettern, etc. könnte man vermuten, dass der Ablauf der Experimente tatsächlich durch deterministische mechanische Naturgesetze kausal determiniert ist, dass die entsprechenden mechanischen Bewegungsabläufe aber schlicht zu kompliziert sind, um sie durch eine explizite Berechnung effektiv zu prognostizieren. Bei Quantenexperimenten ist dieses Argument jedoch nicht anwendbar, da durch das sogenannte Bell-Theorem der Quantenmechanik hinreichend, wenn auch nicht apodiktisch geklärt ist, dass zufällig scheinenden Quantenereignissen keine klassisch mechanisch-deterministischen Systeme zugrunde liegen können, die bisher bloß noch nicht erkannt wurden. (Stanford Encyclopedia of Philosophy: https:// plato.stanford.edu/entries/bell-theorem/, Abruf 5. 9. 2021, 22:10 h MESZ) Die Quantentheorie, wie sie derzeit bekannt ist, lässt also nicht zu, dass Quantenzufälle tatsächlich doch durch irgendwelche un­erkannten Ursachen determiniert werden.

D.II. Teleologie ohne Zwecke und Absichten Teleologische Erklärungen gelten in der Naturwissenschaft heute als diskreditiert. Dies liegt vermutlich daran, dass teleologische Erklärungen im Allgemeinen mit einem bestimmten Spezialfall teleologischer Erklärung identifiziert werden, der Erklärung durch Absichten und Zwecksetzungen. Will man zum Beispiel erklären, warum eine mechanische Uhr ihre spezielle innere Struktur aufweist, so kann man dies sehr gut erklären, indem man etwa darauf hinweist, dass die Uhr von einer Uhrmacherin gebaut worden ist, die beim Bau beabsichtigt hat, ein Instru­ ment fertigzustellen, das möglichst leicht und gut tragbar ist und möglichst genau die Uhrzeit anzeigt. Diese Erklärung verweist offensichtlich auf die Absichten und Zwecksetzungen eines denkenden Wesens, die Uhrmacherin, das die Uhr geplant und dann gebaut hat. Würde man in der Naturwissenschaft natürliche Prozesse durch Absichten und Zwecke erklären, würde man somit voraussetzen, dass die zu erklärenden Naturprozesse von einem denkenden Wesen beabsichtigt und geplant

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worden sind. Die teleologische Erklärung würde so zu einer theolo­gischen Erklärung. Dies möchten viele in der Naturwissenschaft jedoch vermeiden. Betrachtet man die Definition teleologischer Erklärung in D. I. oben, so wird deutlich, dass diese allgemeine Definition im Definiens nur „zielgerichtete Prozesse“ erwähnt, aber keine Absichten und Zwecke. Es ist nicht notwendig, und nicht im Allgemeinen richtig, dass Zielgerichtetheit Absichten oder Zwecke voraussetzt. Somit ist die Teleologie objektiver Wahrscheinlichkeiten logisch unabhängig von theologischen Propositionen, die eine Planung oder Schöpfung natürlicher Prozesse durch ein denkendes Wesen aussagen.

E. Ergebnis Aus den Überlegungen in B bis D ergibt sich also: Will man objektive Wahrscheinlichkeiten ontischer Zufälle erklären, so ist die modale Häufigkeitsinterpretation eine empirisch adäquate und ontologisch sparsame Erklärung. Die modale Häufigkeitsinterpretation ist wesentlich teleologisch, denn sie besagt, dass bei Prozessen, wo Zufallsexperimente wiederholt werden, ein bestimmter Endzustand (in Form einer bestimmten Verteilung relativer Häufigkeiten) erreicht werden wird, ohne dass es eine kausale Erklärung geben kann, mit der sich bestimmen oder prognostizieren ließe, wie der Endzustand sich „Stück für Stück“ allmählich aus einzelnen kausalen Teilprozessen zusammensetzen wird. Die teleologische Erklärung objektiver Wahrscheinlichkeiten lässt sich also nicht durch eine kausale Erklärung ergänzen. So weit, wie die Anwendung der Wahrscheinlichkeitstheorie in der heutigen Naturwissenschaft bedeutend ist, so weit ist somit durch die modale Häufigkeitsinterpretation auch das scheinbar naturwissenschaftlich obsolete Konzept der Teleologie rehabilitiert.

Literatur van Fraassen, Bas: The Scientific Image, Oxford 1980. Krengel, Ulrich: Einführung in die Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik, 3. Aufl., Braunschweig 1991. Pfeifer, Niki: Die Zähmung des Zufalls: Ein Streifzug durch die Geschichte der Philosophie, dieser Band. Rosenthal, Jacob: Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen. Eine Untersuchung objektiver Wahrscheinlichkeitsbegriffe, Paderborn 2003. Rott, Hans: Was ist Zufall? Kontingenz – Unvorhersagbarkeit – Koinzidenz, dieser Band.

Die Zähmung des Zufalls: Ein Streifzug durch die Geschichte der Philosophie Niki Pfeifer, Regensburg „‚Kopf oder Wappen‘, sagte Rasmus und hielt Pontus einen Fünfer unter die Nase. ‚Wird’s Kopf, dann gehen wir zum Läusemarkt, und wird’s Wappen, gehen wir auch zum Läuse­markt. Wenn der Fünfer aber hochkant stehen bleibt, dann gehen wir nach Hause und machen Schularbeiten.‘“ (Lindgren, 1987, S. 12)

A. Einleitung Das obige Zitat beschreibt eine Entscheidungssituation: Das Ergebnis eines Münzwurfs bestimmt die weitere Tagesplanung der beiden Buben. Die Entscheidung wird somit dem Zufall überlassen. Allerdings wird der Entscheidungsmechanismus von Rasmus so festgelegt, dass die Wahrscheinlichkeit des Eintretens der erhofften Entscheidung („Wenn Kopf oder Wappen, dann Spaß beim Läusemarkt“) maximal ist und die des Eintretens der unerwünschten Entscheidung („Wenn die Münze hochkant stehen bleibt, dann kein Spaß, sondern Schularbeiten machen“) praktisch null ist. Ob letztere Wahrscheinlichkeit auch genau null sein kann und dann das Eintreten des Ereignisses dennoch logisch möglich sein kann, werden wir unten diskutieren. In diesem Kapitel gehe ich der Frage nach, was Zufall aus philosophischer Sicht ist. Bevor wir uns einer philosophischen Begriffsanalyse zuwenden, nähern wir uns dem Begriff aus alltagssprachlichen, juristischen und historischen Perspektiven. Laut Duden1, dem Standardwerk der deutschen Sprache, wird unter dem Wort Zufall zum einen „etwas [mit „etwas“ ist hier vermutlich ein Ereignis gemeint], was man nicht vorausgesehen hat, was nicht beabsichtigt war, was unerwartet geschah“

verstanden. Zum anderen wird unter Zufall ein „plötzlich auftretender Anfall“ verstanden. Letztere Bedeutung ist jedoch veraltet und wird im vorliegenden Kapitel nicht weiter behandelt.

1

https://www.duden.de/rechtschreibung/Zufall, zuletzt abgerufen am 10. September 2021.

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Das Wort Zufall ist im Dudenkorpus „durchschnittlich mehr als 10 Mal in einer Million Wortformen“2 belegt. Dies entspricht der dritten aus fünf Häufigkeits­ klassen und bedeutet, dass es sich um ein durchschnittlich oft gebrauchtes Wort in einer Vielzahl unterschiedlicher Textsorten (die den Dudenkorpus konstituieren) handelt. Zufall wird auch im Kontext von Glücksspielen verwendet. So spricht man beispielsweise davon, dass „Würfel oder Münzen zufällig geworfen werden“, „Ergebnisse zufällig“ sind oder dass die Frage, wer im Spiel gewinnt, nicht nur vom Können, sondern auch „vom Zufall abhängt“. Mögliche finanzielle Aspekte des Glücksspiels verleihen dem Zufall auch eine juristische Dimension. So steht beispielsweise im Österreichischen Glücksspielgesetz: „Ein Glücksspiel im Sinne dieses Bundesgesetzes ist ein Spiel, bei dem die Entscheidung über das Spielergebnis ausschließlich oder vorwiegend vom Zufall abhängt.“ (§ 1 Abs. 1 öGSpG; Hervorhebung hinzugefügt)

Ähnlich lautet es im Deutschen Glücksspielstaatsvertrag: „Ein Glücksspiel liegt vor, wenn im Rahmen eines Spiels für den Erwerb einer Gewinnchance ein Entgelt verlangt wird und die Entscheidung über den Gewinn ganz oder überwiegend vom Zufall abhängt.“ (§ 3 Abs. 1 S. 1 GlüStV; Hervorhebung hinzugefügt)

Ferner wird hier durch eine hinreichende Bedingung näher bestimmt, was die Abhängigkeit vom Zufall bedeuten kann: „Die Entscheidung über den Gewinn hängt in jedem Fall vom Zufall ab, wenn dafür der ungewisse Eintritt oder Ausgang zukünftiger Ereignisse maßgeblich ist.“ (§ 3 Abs. 1 S. 2 GlüStV; Hervorhebung hinzugefügt)

Hier ist der ungewisse Eintritt eines zukünftigen Ereignisses wesentlich. Partielles oder unvollständiges Wissen über ungewisse oder zukünftige Ereignisse kann mathematisch durch Wahrscheinlichkeiten präzisiert werden. Daher werden wir uns auch dem Wahrscheinlichkeitsbegriff, dessen historischer Entwicklung und seinen philosophischen Interpretationen widmen. Der erwähnte Deutsche Glücksspielstaatsvertrag fordert zudem, dass spielrelevante Informationen den Glücksspielenden zugänglich gemacht werden. Als zentraler Bestandteil der spielrelevanten Informationen gilt dabei der Zufallsmechanismus des jeweiligen Glücksspiels: „Als spielrelevante Informationen kommen insbesondere in Betracht: […] das Verfahren, nach dem der Gewinner ermittelt wird, insbesondere die Information über den Zufallsmechanismus, der der Generierung der zufallsabhängigen Spielergebnisse zu Grunde liegt“ (§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 7 GlüStV; Hervorhebung hinzugefügt)

Dies wirft die philosophische Frage auf, was ein Zufallsmechanismus, also ein dem Zufall zugrunde liegender Mechanismus, ist. Ontologische Antworten können 2

Vgl. Fußnote 1 und zur Worthäufigkeit siehe https://www.duden.de/hilfe/haeufigkeit, zuletzt abgerufen am 3. Jänner 2022.

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sein, dass es ein objektiv-existierender Mechanismus oder bloß ein Denkkonstrukt ist. Epistemische (d. h. erkenntnistheoretische) Antworten zielen darauf ab, was man über den Zufallsmechanismus wissen kann, etwa ob alle möglichen Ereignisse gleich wahrscheinlich sind oder nicht. Die meisten vor-neuzeitlichen Quellen verwendeten metaphysische Begriffe für Glück und Zufall, wie etwa „Göttin Fortuna“ oder „Rad des Schicksals“: „Nearly all writing about chance before modern times was in terms of fortune, fate, the goddess Fortuna, and the Wheel of Fortune“ (Franklin, 2015, S. 336)

Somit hatte der Zufall im Glücksspiel im Übergang zur Neuzeit eine wichtige säkularisierende Rolle. In seiner neuzeitlichen Abhandlung über Glücksspiele relativierte beispielsweise Giovanni Rizzetti den Einfluss von Fortuna und argumentierte, dass der Spielausgang berechnet werden kann: „We have demonstrated in … this Treatise, that Fortune has not that Power in Play which is commonly ascribed to her; … All Games of Chance are governed so much by an Art of Conjecturing, that it may be certaintly determined by Calculation how much the Players shall win or lose after being a long Time at Play.“ (Rizzetti (1725); zitiert nach Seymour, 1729, S. iv–v)

Der spanische Renaissanceschriftsteller Antonio de Torquemada verneinte den Einfluss von Fortuna gänzlich und verwendete direkt den Begriff des Zufalls im Spielkontext: „…gewißlich ist keine Fortun auf dem Spiel  / wann nicht der Zufall des gewinnens oder verlierens darzu kömpt.“ (de Torquemadas Hexameron, 1652; zitiert nach Zollinger, 1997, S. 41)

Zufall als veränderliche Größe wurde in einem Buch über höfische Verhaltenskodizes von Rudolph de Caillière wie folgt beschrieben: „Chance being the Soul of Gaming, it would not be Chance, if it did not oftentimes change“ (De Callère (1675); zitiert nach Zollinger, 1997, S. 42).

Im 18. Jahrhundert verfestigte sich die Idee vom „Glück des Tüchtigen“: Das Leistungsprinzip galt als Ersatz für Zufall. Glück im Spiel wurde nun losgelöst von religiöser Vorsehung gesehen (Zollinger, 1997, S. 41). Wahrscheinlichkeit wurde als Bindeglied zwischen dem „irrationalen“ Glücksspiel und der Vernunft aufgefasst. So schrieb beispielsweise Adolph Freiherr von Knigge im bekanntesten deutschsprachigen Buch über Benimmregeln Über den Umgang mit Menschen (1790): „…hohes Geld dem Ungefähr preiszugeben, ist Narrheit […] wollen wir aber gar keine Wahrscheinlichkeit annehmen, so bleibt der Erfolg ein Werk des Zufalls, und wer wird denn vom Zufalle abhängen wollen?“ (Freiherr von Knigge (1790); zitiert nach Zollinger, 1997, S. 42)

Auch wenn wir den Begriff „Zufall“ im Alltag ohne Verständnisschwierigkeiten verwenden, werden wir sehen, dass der Begriff aus philosophischer Sicht alles andere als klar und eindeutig ist. In unserem Streifzug durch die Geschichte der

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Philosophie des Zufalls werden wir unterschiedliche erkenntnistheoretische und metaphysische Positionen kennenlernen. Zunächst beschäftigen wir uns mit der Frage, was Zufall mit Erkenntnis zu tun hat. In der Erkenntnistheorie kann man grob zwei Strömungen unterscheiden: die traditionelle und die probabilistische. Die Hauptfragen der traditionellen Erkenntnistheorie sind – Was ist Wissen? – Wie kann Wissen gerechtfertigt werden? Hier liegt Wissen eine binäre (daher nicht graduelle)  Vorstellung zugrunde: entweder weiß ich, dass A, oder ich weiß nicht, dass A, wobei „A“ für eine Proposition steht. Wissen wird in der traditionellen Erkenntnistheorie als wahrer und gerechtfertigter Glaube definiert. Das heißt: Ich weiß A genau dann, wenn ich A glaube (i), A wahr ist (ii) und wenn ich eine Rechtfertigung für A habe (iii). Diese Definition wurde bereits im Dialog Theaitetos von Platon diskutiert und galt lange als philosophische Standarddefinition von Wissen. Edmund Gettier (1963) argumentierte überzeugend,3 dass es grundsätzlich sein kann, dass alle drei Bedingungen (i)–(iii) erfüllt sind, man aber dennoch nicht von Wissen sprechen kann. Betrachten wir als Beispiel ein Gedankenexperiment, bei dem ein Glaube vorliegt, der wahr und gerechtfertigt ist, der jedoch nicht zwingend mit Wissen zusammenfällt. Stellen wir uns vor, dass wir gefragt werden, ob wir wissen, wie spät es ist. Wir glauben, dass es 11:46 Uhr ist (Bedingung (i) ist erfüllt), es ist tatsächlich 11:46 Uhr (Bedingung (ii) ist erfüllt) und wir haben einen guten Grund, dies zu glauben, da eine als zuverlässig wahrgenommene Uhr genau diese Zeit anzeigt (Bedingung (iii) ist erfüllt). Nun könnte man meinen, dass wir wissen, dass es 11:46 Uhr ist. Stellen wir uns jedoch weiter vor, dass die Uhr am Vortag um Punkt 11:46 Uhr wider Erwarten stehen geblieben ist, also nur zufällig die richtige Uhrzeit anzeigt. Nun würden wir nicht mehr sagen, dass wir wissen, dass es 11:46 Uhr ist, sondern dass wir zufällig richtigerweise daran glauben, dass es 11:46 Uhr ist. Eine Lehre aus diesem Beispiel ist also, dass beim Wissen der Zufall keine essentielle Rolle in der Begründung spielen sollte.4

3 Die Überzeugung, dass aufgrund der Gettier-Fälle Wissen nicht durch wahren, gerechtfertigten Glauben definiert werden kann, wird in der analytischen Philosophie vorwiegend geteilt: allerdings gibt es auch vereinzelt Kritik daran (siehe etwa Weatherson, 2003; Turri, 2012). 4 Bereits Bertrand Russell verwendete ein Uhrenbeispiel, um zu zeigen, dass die Definition von Wissen durch wahren Glauben [ohne expliziten Bezug auf Bedingung (iii)] zu weit gefasst ist: „‚Knowledge‘ is sometimes defined as ‚true belief‘, but this definition is too wide. If you look at a clock which you believe to be going, but which in fact has stopped, and you happen to look at it at a moment when it is right, you will acquire a true belief as to the time of day, but you cannot be correctly said to have knowledge.“ (Russell, 1948, S. 113).

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Aufgrund der binären Vorstellung von Wissen können viele Ansätze der traditionellen Erkenntnistheorie als qualitativ aufgefasst werden: Anstatt erkenntnistheoretische Begriffe messbar zu machen – was einer quantitativen Auffassung entsprechen würde –, werden diese hinsichtlich ihrer Eigenschaften oder Qualität untersucht. Wenn die Folgerichtigkeit von Argumenten aus formaler Sicht analysiert wird, spielt traditionell die zweiwertige, wahrheitsfunktionale Logik eine wichtige Rolle. Die Folgerichtigkeit von Argumenten wird dabei durch die logische Gültigkeit definiert. Ein Argument ist logisch gültig genau dann, wenn es unmöglich ist, dass alle Prämissen wahr sind und die Konklusion falsch ist. Aus dieser Definition folgt: Wenn alle Prämissen wahr sind und das entsprechende Argument logisch gültig ist, dann muss die Konklusion zwingend wahr sein. Argumente, die logisch gültig sind und deren Prämissen alle wahr sind, nennt man logisch perfekt (oder „stichhaltig“; im Englischen: sound). Ein Beispiel für eine logisch gültige Argumentform ist der Modus Ponens (für probabilistische Versionen des Modus Ponens und Zusammenhänge mit dem Begriff der logischen Gültigkeit siehe beispielsweise Pfeifer / Kleiter, 2006, 2009 und Sanfilippo / Pfeifer /  Gilio, 2017): (Prämisse 1) Wenn A, dann B. (Prämisse 2) A. (Konklusion) B. Formal kann aus dem Konditionalsatz A → B (Prämisse 1) und A (Prämisse 2) zwingend auf die Konklusion B geschlossen werden, wobei A und B für Aussagesätze stehen und „A → B“ das materiale Konditional bezeichnet, welches logisch äquivalent zu nicht-A oder B ist. Wenn beide Prämissen wahr sind, so ist auch zwingend die Konklusion wahr, da die Argumentform Modus Ponens logisch gültig ist. Was ist jedoch, wenn unklar ist, ob die Prämissen wahr sind? Wenn beispielsweise die Prämissen nur mit Wahrscheinlichkeiten bewertet werden können? Die letzten beiden Fragen führen uns zur probabilistischen Erkenntnistheorie, da sie mit der zweiwertigen, wahrheitsfunktionalen Logik nicht sinnvoll beantwortet werden können. Im Gegensatz zur traditionellen, qualitativen Erkenntnistheorie ist die probabilistische Erkenntnistheorie quantitativ. Epistemische Glaubenszustände können hier graduell sein (siehe beispielsweise Weisberg, 2021). Während in der traditionellen Erkenntnistheorie die einzelnen Prämissen entweder wahr oder falsch sein können, erlaubt die probabilistische Erkenntnistheorie unsichere Prämissen. Die Glaubensgrade  – also wie stark man glaubt, dass die jeweilige Prämisse stimmt – werden üblicherweise mit Wahrscheinlichkeiten bewertet beziehungsweise gemessen. Wahrscheinlichkeitslogik verknüpft nun die logische Eigenschaft des folgerichtigen Schließens mit der Möglichkeit, unter unvollständigem Wissen beziehungsweise unter epistemischer Unsicherheit zu schließen. Anstatt die logische Gültigkeit eines Argumentes festzustellen, dient die Wahrscheinlichkeitslogik dazu, die Unsicherheit von den Prämissen auf die Konklusion

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zu übertragen. So kann beispielsweise beim probabilistischen Modus Ponens aus den beiden Prämissen P(B|A)=0,9 und P(A)=0,9 auf die Konklusion 0,81 ≤ P(B) ≤ 0,91 geschlossen werden. Hier wird der Konditionalsatz (Wenn A, dann B) als bedingte Wahrscheinlichkeit interpretiert (P(B|A)), und nicht als Wahrscheinlichkeit des materialen Konditionals (i. e., P(A → B)). Die Wahrscheinlichkeitslogik legt den Fokus auf die Wahrscheinlichkeitsbewertung der Konklusion und nicht auf die logische Gültigkeit des Arguments (siehe beispielsweise Pfeifer, 2021; Pfeifer /  Kleiter, 2006, 2009). Während die zweiwertige, wahrheitsfunktionale Logik nur qualitative Bewertungen von Prämissen und Konklusionen zulässt, lassen sich in der Wahrscheinlichkeitslogik Brücken von quantitativen zu qualitativen Bewertungen schlagen; beispielsweise, indem man sich in der Bewertung auf die extremen Wahrscheinlichkeitswerte 0 und 1 beschränkt. Wenn man etwa überzeugt ist, dass alle Prämissen wahr sind, kann man den Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Prämissen den Wahrscheinlichkeitswert 1 zuordnen. Umgekehrt gilt dies jedoch nicht: Wird A mit der Wahrscheinlichkeit 1 bewertet, bedeutet dies nicht unbedingt, dass A wahr ist.5 Im Spezialfall, wenn T eine Tautologie6 ist, spricht man auch gerne vom sicheren Ereignis, welches mit dem höchstmöglichen Wahrscheinlichkeitswert, also 1, bewertet werden muss: P(T)=1. Wahrscheinlichkeiten dienen dazu, das Eintreten von Ereignissen unter Unsicherheit zu bewerten und einzuschätzen. Dem Zufall wird üblicherweise eine wichtige Rolle in der Verursachung künftiger oder unsicherer Ereignisse zugeschrieben. So spricht man in der Statistik gerne von einem sogenannten Zufallsprozess, der letztlich für das Eintreten oder Nichteintreten von Ereignissen verantwortlich ist, beziehungsweise diese „generiert“. Insofern die Wahrscheinlichkeiten des Eintretens von Ereignissen bestimmt werden können, lässt sich, metaphorisch gesprochen, der Zufall „zähmen“. Wir werden uns später den philosophischen Wahrscheinlichkeitsinterpretationen widmen, die sich mit der Frage beschäftigen, was Wahrscheinlichkeiten, onto­ logisch gesprochen, sind. Dabei geht die Bandbreite von bloßen Denkkonstrukten bis hin zu objektiv in der Welt existierenden Größen, wie etwa den Gravitations 5 Wenn die Wahrscheinlichkeitswerte 0 und 1 per definitionem für das unmögliche beziehungsweise das sichere Ereignis reserviert werden, spricht man von sogenannten regulären Wahrscheinlichkeiten. Diese willkürliche Einschränkung kann manche Berechnungen zwar vereinfachen, führt jedoch zu einer unnötigen Reduktion der Anwendbarkeit der Theorie. Daher will ich hier reguläre Wahrscheinlichkeiten nicht berücksichtigen. 6 Eine Tautologie ist eine logische Wahrheit, wie beispielsweise folgende Disjunktion: A oder nicht-A. Diese Disjunktion ist unter allen Interpretationen von A wahr.

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kräften. Im folgenden Abschnitt begeben wir uns auf einen kurzen Streifzug durch die Geschichte des Wahrscheinlichkeitsbegriffs.

B. Historische Wahrscheinlichkeitsbegriffe Beginnen wir unseren Streifzug in der Antike. So findet sich in der Niko­ machischen Ethik von Aristoteles ein Gegensatz zwischen strengen mathema­ tischen Beweisen und rhetorischer Argumentation, welche auf wahrscheinlichen Prämissen beruht: „[…] παραπλήσιον γὰρ φαίνεται μαθηματικοῦ τε πιθανολογοῦντος ἀποδέχεσθαι καὶ ῥητορικὸν ἀποδείξεις ἀπαιτεῖν“ (Buch I, B.3.(25)). „[…] es wäre geradeso verfehlt, wenn man von einem Mathematiker Wahrscheinlichkeitsgründe annehmen, als wenn man von einem Redner in einer Ratsversammlung strenge Beweise fordern wollte“ (Übersetzung von Rolfes, 1911).

Ähnlich übersetzt7 W. D. Ross die griechische Zitatstelle mit explizitem Bezug auf Wahrscheinlichkeit (probable reasoning): „[I]t is evidently equally foolish to accept probable reasoning from  a mathematician and to demand from a rhetorician demonstrative proofs“ (zitiert nach Franklin, 2015, S. 65; Übersetzung von Ross, 1918).

Cicero definiert das Wahrscheinliche wie folgt: „That is probable which for the most part usually happens (quod fere solet fieri) or which is the general opinion or which has in itself some likeness to these, whether it be true or false“ (Cicero, De Inventione 1.46–48; Übersetzung zitiert nach Franklin, 2015, S. 116).

Zum einen entspricht hier das Wahrscheinliche einem Default, also etwas, das meistens oder normalerweise passiert. Beispielsweise, wo es blitzt und donnert, wird es auch normalerweise regnen. Diese Defaultauffassung kann auch als Indiz für eine frühe frequentistische, also häufigkeitsbasierte, Wahrscheinlichkeitsauffassung interpretiert werden. Zum anderen definiert Cicero das Wahrscheinliche als die allgemeine Meinung. Die allgemeine Meinung setzt sich aus jenen Meinungen zusammen, die die meisten Menschen für wahr halten. In antiken Gerichten wurden zwar Standards an die juristische Beweisführung gestellt, es wurde jedoch keine absolute Sicherheit vorausgesetzt (siehe Franklin, 2016, S. 35). Im Talmud setzte beispielsweise eine Verurteilung zwei direkte Zeu 7 In der Übersetzung dieser Stelle von A. Lasson steht ein Appell an das Gefühl anstelle eines Bezuges zu Wahrscheinlichkeiten: „Es ist nahezu dasselbe: einem Mathematiker Gehör [zu] schenken, der an die Gefühle appelliert, und von einem Redner [zu] verlangen, daß er seine Sätze in strenger Form beweise“ (Übersetzung von Lasson, 1909; durchgesehen von Holzinger, 2013). Konstantina Papathanasiou bestätigte mir freundlicherweise, dass es hier „ganz sicher nicht“ um Gefühle geht.

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gen voraus (Franklin, 2016). Hier liegt vermutlich die Annahme zugrunde, dass sich ein Zeuge täuschen kann, es jedoch eher unwahrscheinlich ist, dass sich zwei (glaubwürdige) Zeugen täuschen. Im Rahmen des Römischen Rechts wurde folgendes Prinzip vertreten: „[A] conviction may not be ‚on suspicion‘, for ‚It is better to permit the crime of a guilty person to go unpunished than to condemn one who is innocent.‘“ (Franklin, 2016, S. 35)

Dieses Prinzip prägte später den berühmten Spruch: In dubio pro reo. Für den Strafprozess bedeutet dies, dass nach Abschluss der Beweiswürdigung im Falle berechtigten Zweifels von einer Verurteilung abgesehen werden soll. Nicht nur Rechtswissenschaft sondern auch Ethik wurden in der Antike und später im Mittelalter als nicht präzise Wissenschaften aufgefasst. Nach dem Theologen und Mystiker Jean Gerson (um 1400) kann man moralische Sicherheit durch das gewinnen, was meistens passiert, was Autoritäten sagen oder was man selber gelernt hat (siehe Franklin, 2016, S. 36 f.). Probabilis (wahrscheinlich), verisimilis (wahrheitsähnlich), credibilis (glaubwürdig), opinabilis (konventionell bzw. der Meinung nach) sind nach Schuessler (2019) Beispiele eines probabilistischen Vokabulars aus dem Mittelalter, während ut frequenter, ut in pluribus und frequentius einem frequentistischen Vokabular angehören. Im Mittelalter wurde das Wort probabilis nicht ausschließlich für Sätze, Propositionen und Meinungen verwendet. Auch Zeichen, Ereignisse und Personen wurden als probabel bezeichnet (so versteht man etwa unter philosophi probabiliores die glaubwürdigeren beziehungsweise respektierteren Philosophen). Albertus Magnus verwendete in seinem Werk Logica den Begriff verisimilis als Synonym für probabilis. Andere Philosophen des Mittelalters verbanden jedoch probabilis mit pithanon (überzeugend, übernehmbar) und verisimilis mit eikos (wahrheitsähnlich). Opinio bezog sich in mittelalterlichen Redeweisen auf Propositionen, die zwar für wahr gehalten wurden, von denen aber gleichzeitig die Person – welche eine solche Proposition für wahr hielt – fürchtete, die Proposition könnte doch nicht wahr sein (Schuessler, 2019). Diese Auffassung von opinio entspricht einer zwar für wahr gehaltenen, aber grundsätzlich anfechtbaren Meinung. Also wieder eine Art Default. Im Mittelalter waren probabilistische Begriffe typischerweise binär (X ist probabel oder X ist nicht-probabel) oder komparativ (X ist probabler als Y), jedoch selten quantitativ (also kein Maß dafür, wie probabel X ist; eine Ausnahme bilden beispielsweise geheimgehaltene Schriften zum Teilungsproblem um 1400, siehe Shafer, 2018, S. 282). Zudem wurde es für möglich gehalten, dass eine Proposition X von einem Experten als probabel angesehen wird, jedoch gleichzeitig ein anderer Experte die Negation von X ebenfalls als probabel ansieht (Schuessler, 2019). Hier ist es wichtig festzuhalten, dass es sich um zwei Experten handelt, die ganz offensichtlich unterschiedlicher Meinung sind. Aus heutiger wahrscheinlichkeitstheoretischer Sicht wäre es inkohärent, wenn eine Person gleichzeitig P(A) > .5 und P(nicht-A) > .5 behauptet, da gemäß den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitstheorie P(A) + P(nicht-A) = 1 sein muss.

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Der quantitative Wahrscheinlichkeitsbegriff entwickelte sich verstärkt in der Neuzeit (Sylla, 2016). Jakob Bernoullis Ars Conjectandi von 1713 spielte hierbei eine wichtige Rolle. Teil 1 von Bernoullis Werk setzt sich aus der von ihm kommentierten Reproduktion der ersten wahrscheinlichkeitstheoretischen Analyse von Würfelspielen in Buchform von Christiaan Huygens (De Ratiociniis in Ludo Aleae, 1657) zusammen. Huygens Arbeit verallgemeinert die Probleme, die im Briefwechsel von Pascal und Fermat diskutiert werden (Sylla, 2016). So wird beispielsweise die Bestimmung der Wahrscheinlichkeit analysiert, mit einem Würfel in vier Versuchen mindestens eine Sechs zu erhalten (671/1296 = 0,518). Zudem beschäftigte sich Huygens mit dem Teilungsproblem. Die Formulierung des Teilungsproblems wird meist Luca Pacioli (Summa de Arithmetica, Geometria, Proportioni et Proportionalita, 1494) zugeschrieben und behandelt die Frage, wie bei vorzeitigem Spielabbruch die Spieleinsätze gerechterweise unter den Spielenden aufzuteilen sind. Wer wahrscheinlich gewonnen hätte, sollte demgemäß am meisten ausbezahlt bekommen. Dieses Teilungsproblem wurde interessanterweise bereits etwa 200 Jahre vor dem berühmten Briefwechsel von Pascal und Fermat aus heutiger Sicht mathematisch gelöst (Shafer, 2018). So finden sich beispielsweise in der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek entsprechende anonyme Handschriften, die um 1400 entstanden sind (Franci, 2002; siehe auch Meusnier, 2007). In Teil 2 der Ars Conjectandi stellt Bernoulli relevante Aspeke der Permutations- und Kombinationsmathematik vor, die er dann im dritten Teil seiner Analyse des Glücksspiels anwendet. Teil 4 handelt von Anwendungen seiner Analysen auf gesellschaftliche, moralische und wirtschaftliche Probleme und beinhaltet einen Beweis des schwachen Gesetzes der großen Zahlen (i. e., Konvergenz der relativen Häufigkeit gegen die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses). Bernoulli kombiniert epistemische Wahrscheinlichkeiten mit der Mathematik der Erwartungswahrscheinlichkeit im Glücksspiel (siehe Sylla, 2016). Ein weiteres wichtiges neuzeitliches Werk ist die Doctrin of Chances (1718) von Abraham de Moivre. Dort findet sich beispielsweise, dass sich alle möglichen Ereignisse auf 1 aufaddieren müssen. Die Disjunktion aller möglicher Ereignisse ist äquivalent mit dem sicheren Ereignis, das den maximalen Wahrscheinlichkeitswert (i.e, 1) haben muss: „The Fractions which represent the Probabilities of happening and failing, being added together, their Sum will always be equal to Unity“ (de Moivre, 1718; zitiert nach Sylla, 2016, S. 64).

Aus diesem Zitat geht zudem hervor, dass de Moivre Wahrscheinlichkeiten als relative Häufigkeiten interpretiert. Thomas Bayes, ein Zeitgenosse de Moivres, beschäftigte sich in seinem posthum erschienenen Aufsatz An Essay towards solving a Problem in the Doctrine of Chances (1763) mit folgendem Problem: „Given the number of times in which an unknown event has happened and failed [… Find] the chance that the probability of its happening in a single trial lies somewhere between any two degrees of probability that can be named“ (Bayes, 1763, S. 376).

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Unter Bayesianismus werden heute unter anderem8 subjektivistische Wahrscheinlichkeitsansätze verstanden, die Wahrscheinlichkeiten als Glaubensgrade (degrees of belief) und nicht als relative Häufigkeiten auffassen. Viele Wegbereiter der Wahrscheinlichkeitstheorie wären noch zu nennen, wie etwa Pierre Simon-Laplace, der unter anderem auch eine Bayesianische Interpretation von Wahrscheinlichkeit im statistischen Kontext entwickelte. Beenden wir nun den historischen Streifzug mit dem berühmten Credo von Joseph Butler, das besagt, dass aufgrund der allgegenwärtigen Unsicherheit und Unvollständigkeit der uns vorliegenden Informationen, Wahrscheinlichkeit der eigentliche Leitfaden des Lebens ist: „That which chiefly constitutes Probability is expressed in the word Likely, i. e. like some truth [Fußnote: Verisimile], or true event […] Probable evidence, in its very nature, affords but an imperfect kind of information and is to be considered as relative only to beings of limited capacities. For nothing which is the possible object of knowledge, whether past, present, or future, can be probable to an infinite Intelligence; since it cannot but be discerned absolutely as it is in itself, certainly true, or certainly false. But to Us, probability is the very guide of life“ (Butler, 1736/1791, S. 2 f.).

Im folgenden Abschnitt beschäftigen wir uns mit den philosophischen Interpretationen des Begriffs „Wahrscheinlichkeit“ beziehungsweise damit, wie Wahrscheinlichkeiten aufgefasst werden sollen, um metaphysische Auffassungsmöglichkeiten von Zufall besser verstehen zu können.

C. Interpretationen von Wahrscheinlichkeit und Zufall In klassischen Interpretationen von Wahrscheinlichkeit wird die Wahrscheinlichkeit von Ereignis A als die Anzahl der A-Fälle dividiert durch die Anzahl aller möglichen Fälle definiert. Beispielsweise ist beim Münzwurf die Wahrscheinlichkeit für „Kopf“ gleich 1/2, da es bei der Münze eine „Kopf“-Seite und eine „Zahl“Seite gibt, also können üblicherweise insgesamt zwei mögliche Fälle in Betracht gezogen werden. Vertreter der klassischen Wahrscheinlichkeitsinterpretation sind unter anderem Abraham de Moivre, Pierre-Simon Laplace, Blaise Pascal, Jakob I Bernoulli, Christiaan Huygens und Gottfried Wilhelm Leibniz. Die zugrunde liegende Annahme, dass alle möglichen Grundereignisse gleichwahrscheinlich sind, ist charakteristisch für die klassische Wahrscheinlichkeitsinterpretation. Dies ermöglicht, a priori eine objektive Wahrscheinlichkeitsbewertung zu erstellen, die sehr einfach ist, da neben der genannten Definition nur die Anzahl der möglichen Grundereignisse bestimmt werden muss. Diese Annahme der Gleichwahrscheinlichkeit ist jedoch problematisch. Warum sollen alle möglichen Grundereignisse gleich wahrscheinlich sein? Beispielsweise kann man davon ausgehen, dass es bei 8 Irving John Good zeigte, wie 46656 Arten des Bayesianismus unterschieden werden können (Good, 1983, S. 20 f.).

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einer vollständig und korrekt durchgeführten Prüfung zwei mögliche Ausgänge gibt – entweder wurde die Prüfung bestanden oder nicht. Hier ist offensichtlich, dass es absurd wäre, anzunehmen, dass grundsätzlich die Wahrscheinlichkeit des Bestehens einer Prüfung bei 1/2 liegt. Ebenso absurd wäre die Annahme, dass die Wahrscheinlichkeit für die Note „sehr gut“ grundsätzlich bei 1/5 liegt, da die übliche Notenskala von „sehr gut“ bis „nicht genügend“ fünfstufig ist. Eine Möglichkeit, Wahrscheinlichkeitsbewertungen ebenfalls durch eine objektive Methode zu erstellen, jedoch mit gewichteten Wahrscheinlichkeiten anstelle von Gleichwahrscheinlichkeiten zu arbeiten, bietet die Klasse der sogenannten logischen Wahrscheinlichkeitsinterpretationen. Ihre Vertreter sind beispielsweise William Ernest Johnson, John Maynard Keynes, Harold Jeffreys und Rudolf ­Carnap. Charakteristisch für die logische Wahrscheinlichkeitsinterpretation ist, dass Wahrscheinlichkeiten objektiv und a priori bestimmbar sind, aber auch gewichtet werden können. Alan Hájek (2019) führt folgendes Beispiel an, wie die Gewichtung im logischen Wahrscheinlichkeitsbegriff erfolgen kann: Betrachten wir drei Objekte (a, b und c), die die Eigenschaft F aufweisen können (z. B. Fa, wenn a die Eigenschaft F hat) oder nicht (~Fa, wenn a die Eigenschaft F nicht hat). Nun gibt es acht mögliche Fälle, auch Zustandsbeschreibungen genannt, die sich gegenseitig ausschließen, Z1: Fa und Fb und Fc Z2: ~Fa und Fb und Fc Z3: Fa und ~Fb und Fc Z4: Fa und Fb und ~Fc Z5: ~Fa und ~Fb und Fc Z6: ~Fa und Fb und ~Fc Z7: Fa und ~Fb und ~Fc Z8: ~Fa und ~Fb und ~Fc Aus diesen acht möglichen Fällen ergeben sich vier Strukturbeschreibungen, die durch die jeweiligen Zustandsbeschreibungen wahr gemacht beziehungsweise verifiziert werden: S1: „Alle drei Objekte haben die Eigenschaft F“ (wird durch Z1 verifiziert) S2: „Genau zwei Objekte haben die Eigenschaft F“ (wird durch Z2, Z3 und Z4 verifiziert) S3: „Genau ein Objekt hat die Eigenschaft F“ (wird durch Z5, Z6 und Z7 verifiziert) S4: „Kein Objekt hat die Eigenschaft F“ (wird durch die Z8 verifiziert)

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S1 und S4 sind homogen, da sie durch genau eine Zustandsbeschreibung verifiziert werden. Strukturbeschreibungen sind heterogen, wenn sie durch mehrere Zustandsbeschreibungen verifiziert werden (hier sind S2 und S3 homogen; vgl. Hájek, 2019). Alle Strukturbeschreibungen werden gleich gewichtet. Im gegenwärtigen Beispiel ist der Wert von S1 bis S4 jeweils 1/4, da im Beispiel vier Strukturbeschreibungen betrachtet werden. Dadurch werden die Zustandsbeschreibungen durch die homogenen Strukturbeschreibungen im logischen Wahrscheinlichkeitsmaß stärker gewichtet, als durch die heterogenen: Z1 und Z8 erhalten den Wert 1/4, wohingegen Z2 bis Z7 jeweils den Wert 1/12 erhalten. Daher ist beim logischen Wahrscheinlichkeitsbegriff eine Gewichtung möglich. Wie von Wahrscheinlichkeitsmaßen gefordert, ergibt die Summe der Werte von Z1 bis Z8 den Wert 1 (für mehr Details siehe Hájek, 2019). Beim logischen Wahrscheinlichkeitsbegriff ist die Willkürlichkeit der Regel problematisch, da homogene Strukturbeschreibungen stärker gewichten als heterogene. Zudem ist problematisch, dass der logische Wahrscheinlichkeitsbegriff abhängig von der Wahl des Vokabulars ist: Die Bewertungen sind letztlich abhängig von der Anzahl der Objekte und von den Eigenschaften, die betrachtet werden. Eine weitere Wahrscheinlichkeitsinterpretation, die objektiv ist, aber nicht a priori, ist die frequentistische Wahrscheinlichkeitsinterpretation; zu ihren Vertretern zählen beispielsweise John Venn, Hans Reichenbach und Richard von Mises. Für den frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff ist charakteristisch, dass Wahrscheinlichkeiten mit relativen Häufigkeiten identifiziert werden. Mit den Worten John Venns: „Probability is nothing but […] proportion“ (Venn, 1876, S. 84).

Beobachtete relative Häufigkeiten nähern sich, so die Annahme, der objektiven Wahrscheinlichkeit an. Bei dieser Wahrscheinlichkeitsinterpretation ist problematisch, dass unklar ist, wie viele Beobachtungen relativer Häufigkeiten für diese Annäherung hinreichend sind. Wann soll in einer Reihe von relativen Häufigkeiten die objektive Wahrscheinlichkeit erreicht sein? Zudem erlaubt es die frequentistische Wahrscheinlichkeitsinterpretation nicht, Aussagen über die Wahrscheinlichkeit von Einzelereignissen zu treffen, da diese hier undefinierbar sind. Die Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten des Eintretens von Einzelereignissen ist jedoch ein wesentlicher Anwendungsbereich von Wahrscheinlichkeitstheorie und -logik. Hierzu zwei Beispiele von Einzelereignissen: Wenn wir einen Spaziergang planen, wollen wir die Regenwahrscheinlichkeit für genau dieses singuläre Ereignis Spaziergang auf einer bestimmten Strecke während eines festgelegten Zeitraumes

wissen. Auch medizinische Diagnosen betreffen Einzelereignisse, da sie die Krankheitswahrscheinlichkeit von Einzelpersonen betreffen. Die modale Häufigkeitsinterpretation versucht Probleme der frequentistischen Wahrscheinlichkeitstheorie zu vermeiden (mehr zu dieser Interpretation siehe den Beitrag von Holger Leuz in diesem Band, S. 52 ff.).

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Zu den objektiven Wahrscheinlichkeitsinterpretationen zählen auch Propensitätsinterpretationen. Ihre prominentesten Vertreter sind Charles Sanders Peirce und Karl Popper. Charakteristisch für diese Auffassungen von Wahrscheinlichkeit ist die Propensität oder Verwirklichungstendenz, die auch auf Einzelfälle anwendbar ist. Betrachten wir als Beispiel eine Wahrscheinlichkeitsbewertung im Rahmen eines Würfelwurfs. Laut Peirce ist hier die Propensität eine Eigenschaft des Würfels selbst, wohingegen Propensität für Popper eine Eigenschaft der gesamten Konfiguration des Würfelwurfs ist. Propensität kann somit als Maß für kausale Tendenzen aufgefasst werden. Dies führt jedoch zum Problem der Paradoxie von Humphreys: Da Kausalität asymmetrisch ist, verletzen Propensitäten das Theorem von Bayes (Humphreys, 1985), das inverse Wahrscheinlichkeiten auszurechnen erlaubt, P(A|B) = (P(B|A)P(A)) / P(B), sofern P(B)>0. Schließlich kommen wir zur subjektiven Wahrscheinlichkeitsinterpretation. Vertreter sind beispielsweise Augustus De Morgan, Frank Plumpton Ramsey, Bruno de Finetti, Leonard J.  Savage und Richard Jeffrey. Charakteristisch für diese Interpretation ist, dass Wahrscheinlichkeit keine objektive Größe ist, sondern ein Glaubensgrad: „By degree of probability, we really mean, or ought to mean, degree of belief“ (De Morgan, 1847, S. 172).

Provokanter schrieb Bruno de Finetti im Vorwort seiner zweibändigen Wahrscheinlichkeitstheorie: „Probability does not exist“ (de Finetti, 1970/1974, S. xi).

Diese Aussage ist ontologisch zu verstehen: Wahrscheinlichkeiten sind subjektiv und somit keine objektiv existierende Größe. Üblicherweise wird die subjektive Wahrscheinlichkeit über Wettquotienten (Vermeidung von „Dutch Books“, also Wetten, die mit Sicherheit zu Verlust führen) oder über sogenannte proper scoring rules definiert. Das Adjektiv „subjektiv“ kann zu Missverständnissen führen, wenn beispielsweise die Interpretation von Wahrscheinlichkeit mit der Wahrscheinlichkeitsbewertung verwechselt wird. Sobald die Prämissenwahrscheinlichkeiten bewertet sind, stehen objektive Verfahren zur Übertragung der Unsicherheit auf die Konklusion zur Verfügung. Die Bestimmung der Prämissenwahrscheinlichkeit erfolgt letztlich a posteriori (also durch Erfahrung, wie etwa durch Beobachtungen oder durch evolutionär Erlerntes). Ohne Vorwissen kann in der Wahrscheinlichkeitstheorie einem unbekannten kontingenten Ereignis das Einheitsintervall [0,1] zugeschrieben werden. Da allgemein gilt: P(A) in [0,1] genau dann, wenn P(~A) in [0,1], wird bei dieser Bewertung weder eine informative Aussage über die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von A noch über die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von nicht-A getroffen. Nur wenn A anstelle eines kontingenten Ereignisses das sichere

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(Ω) oder unmögliche Ereignis (Ø) bezeichnet, verlangt die Wahrscheinlichkeitstheorie a priori die Zuordnung von 1 beziehungsweise 0: i.e, P(Ω)=1 und P(Ø)=0. Neben den oben diskutierten Wahrscheinlichkeitsinterpretationen gibt es auch viele Sonder- beziehungsweise Mischformen, wie etwa den objektiven Bayesia­ nismus (siehe beispielsweise die Arbeiten von Jaynes, 2003 oder Williamson, 2010) oder Auffassungen, die neutral bezüglich der Subjektivität beziehungsweise Objektivität sind. Solche neutralen Auffassungen finden sich beispielsweise in Schulbüchern, bei denen Wahrscheinlichkeitsaxiome à la Kolmogoroff (1933) vorgestellt werden, ohne auf die Interpretation einzugehen. Auch innerhalb der subjektiven kohärenzbasierten Wahrscheinlichkeitstheorie gibt es eine „syntaktische“ (im Sinne von nicht interpretierte)  Variante (siehe Coletti / Scozzafava, 2002). Schließlich sei auch erwähnt, dass es Ansätze gibt, die dafür plädieren, sowohl subjektive als auch objektive Wahrscheinlichkeitsmaße zu verwenden und diese zu kombinieren (beispielsweise Schurz, 2015). Nun wollen wir die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Wahrscheinlichkeitsinterpretationen auf den Begriff des Zufalls anwenden. So kann Zufall als ein objektiver ergebnisproduzierender Prozess aufgefasst werden. Hier stellt sich die Frage, ob dieser Prozess grundsätzlich epistemisch zugänglich ist oder nicht. Ist er epistemisch nicht zugänglich, stellt sich die Frage, ob der Begriff des Zufalls überhaupt für Forschungszwecke sinnvoll ist. Eine alternative Auffassung wäre der Zufall als subjektives Konstrukt, wie es etwa der französische Philosoph der Aufklärung Paul Henri Thiry d’Holbach 1770 in seinem System der Natur oder von den Gesetzen der Physischen und Moralischen Welt formulierte: „man uses the word chance to cover his ignorance of those natural causes which produce visible effects, by means of which he cannot form an idea; or that act by a mode of which he does not perceive the order“ (d’Holbach 1770, zitiert nach Galavotti, 2005, S. 126).

Wird Zufall als methodisches Hilfskonstrukt verstanden, stellt sich auch die Frage, ob es sich um einen echten Zufall oder um einen Pseudozufall handelt, wie etwa bei computergenerierten Zufallszahlen. Die Website www.random.org (zuletzt abgerufen am 19. September 2021) bietet Zufallszahlen an, die durch atmosphärisches Rauschen generiert sind. Diese Website wirbt damit, anstelle von computergenerierten Pseudozufallszahlen echte Zufallszahlen anzubieten und diese auch frei zugänglich zu machen. Wenn die Signale des atmosphärischen Rauschens nicht kausal miteinander verbunden oder verursacht sind, wäre der entsprechende „echte Zufall“ konsistent mit John Stuart Mills Auffassung. Mill interpretierte in seinem Buch A system of logic (1843) Zufall als alles, was nicht kausal verbunden ist. Hier stellt sich die ontologische Frage, ob Kausalität eine objektive Eigenschaft der Welt oder ein Denkkonstrukt ist. Mehr zur Problematik, ob es echten Zufall gibt, siehe auch den Beitrag von Hans Rott in diesem Band, S. 34 ff.

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In diesem Abschnitt präsentierte ich eine Auswahl möglicher Interpretationen von Wahrscheinlichkeit und Zufall. Zusammenfassend kann Zufall als metaphy­ sisches Gegenstück zur Wahrscheinlichkeit aufgefasst werden. Beispielsweise würden Realisten in Bezug auf den Zufall diesen als tatsächlich existierenden Prozess auffassen, der (wahren) objektiven Wahrscheinlichkeitsbewertungen zugrunde liegt. Subjektivisten würden sich hingegen auf die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie beschränken und sich keine Aussage über die Existenz des Zufalls erlauben oder gar die Existenz des Zufalls ganz verneinen. Zudem sind Auffassungen denkbar, die objektive und subjektive Elemente kombinieren: etwa, dass der Zufall objektiv existiert jedoch epistemisch nicht zugänglich ist und daher eine subjektive Wahrscheinlichkeitsauffassung vertreten wird.

D. Zusammenfassung Wir haben gesehen, dass Zufall eine wesentliche Rolle im Glücksspiel einnimmt. Damit sind auch rechtliche Fragen mit dem Zufall verknüpft, die sich in Gesetzestexten zum Glücksspiel widerspiegeln. Wahrscheinlichkeit hat sich über die Jahrhunderte von zunächst qualitativen und komparativen Begriffen zu einem quantitativen Begriff, im Rahmen von modernen Wahrscheinlichkeitstheorien, entwickelt. Philosophische Interpretationen von Wahrscheinlichkeit können subjektiv oder objektiv sein, so wie Auffassungen des Begriffs des Zufalls (Pseudozufall, objektiver / echter Zufall, Zufall als bloßes Denkkonstrukt beziehungsweise als Ausdruck von partiellem Nichtwissen, etc.). Zufall kann durch Wahrscheinlichkeitstheorie und Wahrscheinlichkeitslogik gezähmt werden. Es liegt nahe, den Zufall als metaphysisches Gegenstück zur Wahrscheinlichkeit aufzufassen, allerdings bleibt im Lichte der diversen Interpretationsmöglichkeiten der metaphysische Status von Zufall unklar.

Danksagung Der Autor dankt dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung für die Förderung des Projekts „Logische und wissenschaftstheoretische Grundlagen des Schließens unter Unsicherheit“ (BMBF Projekt: 01UL1906X) im Rahmen der Förderschiene „Kleine Fächer – Große Potenziale“. Zudem sei den Teilnehmenden der Tagung „Zufall – rechtliche, philosophische und theologische Aspekte (Universität Regensburg, 4. März 2021), des „Seminario di Logica  e Filosofia della Scienza“ (Universität Palermo, 31. März 2021) und des Oberseminars „Aktuelle Themen der Theoretischen Philosophie“ (Universität Regensburg, 29. Oktober 2021) für wertvolle Kommentare zu dieser Arbeit herzlich gedankt.

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Zufall und Notwendigkeit in der strafrechtlichen Zurechnungslehre Urs Kindhäuser, Bonn

A. Zum Problem Ausführungen zur Rolle des Zufalls in der strafrechtlichen Zurechnungslehre müssen notwendig mit einem Diktum Gustav Radbruchs, einem der großen Rechtsphilosophen und Strafrechtswissenschaftler des vergangenen Jahrhunderts, beginnen, dem Diktum nämlich, Fahrlässigkeit sei „verschämte Zufallshaftung“. Radbruch führt hierzu aus: „Von zwei Personen, die mit Feuer und Licht genau gleich unvorsichtig umgehen und genau gleich fähig zur Voraussicht des daraus drohenden Unheils waren, wird derjenige, bei dem die ‚Tücke des Objekts‘ die Entstehung eines Brandes gewollt hat, bestraft, während der andere frei ausgeht. Nicht die bei beiden ja gleiche Schuld, sondern der bei gleicher Schuld bald eintretende, bald ausbleibende, also zufällige Erfolg entscheidet über die Strafbarkeit.“1 Radbruchs Charakterisierung der Fahrlässigkeit als „verschämte Zufallshaftung“ bezieht sich etwa auf eine Situation der folgenden Art: An einem heißen Sommertag durchqueren die Wanderer V und W ein ausgetrocknetes Waldgebiet. Beide rauchen und werfen ihre Zigarettenkippen anschließend achtlos weg. Jedoch entzündet sich nur bei W das Gebüsch; es kommt zu einem großflächigen Waldbrand. Hier hätten also V und W gleichermaßen damit rechnen können und müssen, durch ihr Verhalten einen Brand auszulösen, doch nur W erfüllt den Straftatbestand der Brandstiftung (§ 306 Abs. 1 Nr. 5 i. V. m. § 306d StGB).2 Da es um eine strafrechtliche Beurteilung des Falles geht, sei vorab noch angemerkt, dass der Zufall hier nur problematisch sein kann, wenn er sich zum Nachteil einer Person auswirkt. Das Strafrecht will Schäden vermeiden, und daher ist das Ausbleiben eines Schadens, welchem glücklichen Zufall dies auch immer zu verdanken sein mag, aus strafrechtlicher Perspektive irrelevant. Glück nimmt das Strafrecht nicht wahr, jedenfalls nie zu Lasten dessen, der keinen Schaden anrichtet. Tritt dagegen ein Schaden ein, so dient die Prüfung strafrechtlicher Verantwort 1 Radbruch, in: Birkmeyer et al. (Hrsg.), Vergleichende Darstellung, BT, Bd. V, S. 201 f. mit Fn. 2. 2 Ein Parallelbeispiel wird von Burghardt, Zufall und Kontrolle, S. 24 f., unter dem Stichwort „moral luck“ tiefschürfend behandelt, worauf im hiesigen Kontext aus Raumgründen nicht angemessen eingegangen werden kann.

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lichkeit der Idee nach dem Ausschluss des Zufalls. Strafe darf keine Reaktion auf einen unglücklichen Zufall – also Pech – sein. Dies sei in der folgenden kleinen Skizze der strafrechtlichen Zurechnungslehre näher dargelegt, wobei der Blick der Einfachheit halber nur auf solche Delikte gerichtet sei, die in der gesetzlichen Formulierung einen Schadenseintritt als Strafbarkeitsvoraussetzung nennen. Delikte dieser Art, wie z. B. Totschlag, Körperverletzung oder Brandstiftung, werden als Erfolgsdelikte bezeichnet. In Widerspruch zu der soeben aufgestellten Behauptung, dass das Strafrecht allein die Vermeidung von Schäden zum Gegenstand habe, scheinen allerdings Fälle zu stehen, in denen sich jemand strafbar gemacht hat, obgleich er nicht nur keinen Schaden, sondern eventuell sogar Nützliches bewirkt hat. Zur Veranschaulichung mag ein literarisches Beispiel aus dem 17. Jahrhundert dienen: John Aubrey hält in einer Reisebeschreibung fest: „Eine Frau (es war, glaube ich, in Italien) beabsichtigte ihren Mann zu vergiften (der an Wassersucht litt), indem sie in seiner Suppe eine Kröte mitkochte; was ihn jedoch heilte.“ Aubrey merkt dann noch an: „Und so wurde die entsprechende Arznei entdeckt“.3 Objektiv hat die Frau – sie sei einmal F genannt – etwas getan, das dem Schutz der hier relevanten Güter Leben und Gesundheit diente. Gleichwohl hätte sie sich, jedenfalls nach heutigem Recht, strafbar gemacht, und zwar wegen versuchten Totschlags. (Der Klarstellung halber: Einen strafbaren Versuch gibt es nur bei Vorsatz-, nicht bei Fahrlässigkeitsdelikten, daher bleibt der Wanderer V im Eingangsbeispiel straflos.) Im Krötenfall gibt es nichts, was der F, von einem Standpunkt ex post factum aus gesehen, als Schadensfolge zugerechnet werden könnte; sie hat auch in keiner Weise etwas für ihren Mann, er sei kurz M genannt, objektiv Gefährliches unternommen. Ließe sich deshalb sagen, für die Schuld der F mache es keinen Unterschied, ob M gestorben sei, unbeschadet überlebt habe oder gar geheilt worden sei? In diese Richtung geht jedenfalls auch Radbruchs Rede von der gleichen Schuld beider Täter im Brandstiftungsfall. Eine solche nachgerade „blinde“ Erfolgshaftung liefe jedoch auf den Grundsatz hinaus: „versanti in re illicita imputantur omnia, quae ex delicto sequuntur“ („Wer sich auf verbotenes Terrain begibt, dem werden alle Folgen zugerechnet, die sich aus seinem unerlaubten Tun ergeben“, und zwar, so lässt sich hinzufügen, auch dann, wenn diese zufällig eintreten).4 Dieses auf das frühe kanonische Recht zurückgehende Zurechnungsprinzip ist jedoch mit dem heute geltenden Strafrecht, das sich notabene als „Schuldstrafrecht“ versteht, schlechthin unvereinbar. Und auch Radbruch hat ein solches Prinzip nicht im Sinn, da er ja allen Akteuren hinreichende individuelle Vorhersehbarkeit eines Brandes als Verhaltensfolge unterstellt. Das mag erklären, warum er nur von einer „verschämten“ Zufallshaftung spricht. 3

Vgl. Dick, Das Leben: Ein Versuch, S. 22. Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Jan C. Joerden habe ich für den Hinweis auf diesen Fall zu danken. 4 Näher hierzu mit umf. Nachweisen Stuckenberg, Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht, S. 517 ff.

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Die Dinge klären sich, wenn unter Schuld der Inbegriff aller Voraussetzungen strafrechtlicher Zurechnung verstanden wird. Dann bedeutet Schuld bezogen auf einen Erfolg, dass alle Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen ein Erfolg zugerechnet werden könnte, falls er eintritt. Sofern er jedoch, wie im Krötenbeispiel, objektiv gar nicht eintreten kann, hätte dies zur wenig befriedigenden Konsequenz, dass sich F strafbar gemacht hätte, ohne dass der Schuldvorwurf irgendeinen äußerlich fassbaren Niederschlag gefunden hätte. Dies wäre jedoch ein nach heutigem Recht inakzeptables reines Gesinnungsstrafrecht. Auch der F muss also ein Schaden zurechenbar sein, der allerdings in keiner kontingenten Verhaltensfolge liegen darf, wenn man sich nicht in einem vitiösen Zirkel bewegen will. Vielmehr muss sich der Schaden bereits aus der Bedeutung ergeben, die das Verhalten selbst zum Ausdruck bringt. Das Verhalten ist dann, so gesehen, der Bedeutungsträger dieser Schuldzuschreibung. Und dies heißt wiederum, dass die Schuldzuschreibung begrifflich notwendig den fraglichen Schaden impliziert. Dies besagt: Die allgemeine Straftatlehre hat sich mit der Zurechnung zweier unterschiedlicher Schadensarten zu befassen. Zum einen sind die Voraussetzungen zu bestimmen, unter denen eine Person für eine mit ihrem Verhalten kausal verknüpfte Beeinträchtigung von Gütern einzustehen hat, zum anderen geht es um die Bedingungen, unter denen einem Verhalten die Bedeutung zugeschrieben werden kann, als solches schädigend zu sein. Nach der Unterscheidung von David Hume betrifft die Zurechnung im ersten Fall „matters of fact“, also das empi­rische Verhältnis von Ursache und Wirkung, im zweiten Fall „relations of ideas“, also eine logische Grund-Folge-Beziehung.5 Die Verantwortlichkeit für beide Schäden wird gleichermaßen mit dem Begriff der Schuld erfasst. Zur Erläuterung dieses Zusammenhangs sei zunächst ein Blick auf den kausal bedingten Schaden, in der strafrechtlichen Terminologie „Erfolg“ genannt, und die Regeln seiner Zurechnung geworfen.

B. Zur Erfolgszurechnung Im StGB werden die Strafbarkeitsvoraussetzungen der sog. Erfolgsdelikte mit Hilfe von Handlungsverben formuliert: töten, verletzen, in Brand setzen usw. Solche Handlungsverben verknüpfen die für sich gesehen kontingenten Ereignisse eines bestimmten Verhaltens und eines bestimmten Erfolgs zu einer begrifflichen Einheit, das Verb töten etwa den Eintritt des Todes eines Menschen und das den Todeseintritt zu einem bestimmten Zeitpunkt herbeiführende Verhalten. Diese begriffliche Verbindung unter einem bestimmten Handlungsverb impliziert jedoch mehr als die Beschreibung einer bloßen kausalen Verknüpfung zweier zeitlich aufeinander folgender Ereignisse.

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Hume, An Inquiry Concerning Human Understanding, S. 40.

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Zur Verdeutlichung dieses Mehr sei ein weiterer Beispielsfall gebildet: A gibt dem B in einem Porzellangeschäft unversehens einen Stoß, B stürzt, wertvolles Geschirr geht zu Bruch. Bei dieser Konstellation lässt sich unschwer ein Ereignis identifizieren, das als Schaden zu bewerten ist: das zerbrochene Porzellan. Auch ein Verhalten lässt sich feststellen, das mit dem Schadensereignis in einem Kausal­ nexus steht. Gleichwohl wäre es verfehlt zu sagen, B habe eine fremde Sache beschädigt. Warum? Von dem englische Rechtsphilosophen H. L. A. Hart stammt die These, die Zuschreibung einer Handlung habe die Funktion, jemanden für ein Geschehen verantwortlich zu machen; diese Zuschreibung lasse sich jedoch entkräften.6 An den Argumenten, mit denen die Berechtigung der zugeschriebenen Verantwortlichkeit mehr oder weniger widerlegt werden kann, könne wiederum abgelesen werden, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um die fragliche Handlung berechtigt zuschreiben zu können.7 Im Beispielsfall könnte B, folgt man Hart, die mit der Zuschreibung, das Porzellan beschädigt zu haben, ausgedrückte Verantwortlichkeit für das zerbrochene Geschirr mit dem Argument vollständig entkräften, der Schaden sei für ihn eine zufällige Folge seines Verhaltens gewesen. Denn als zufällig wird im Strafrecht – dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechend8 – ein singulärer, keiner finalen Steuerbarkeit unterliegender Geschehensverlauf bezeichnet. Das zerbrochene Geschirr ist zwar – isoliert betrachtet – ein Schaden, kann aber nicht als Resultat der Handlung „eine Sache beschädigen“ angesehen werden. Es geht bei der Zuschreibung von Verantwortlichkeit nicht um die Frage des „Warum“ eines Schadenseintritts im Sinne einer kausalen Erklärung. Die Kausalität wird ja von der Beschreibung bereits als gegeben impliziert. Der Satz „B hat eine Sache beschädigt, ohne den Schaden verursacht zu haben“ wäre in sich widersprüchlich. Vielmehr wird mit der Zuschreibung, die Handlung einer Sachbeschädigung vollzogen zu haben, zugleich zum Ausdruck gebracht, dass der Akteur sein zum Schaden führendes Tun auch hätte unterlassen können, genauer: dass er den Eintritt des Schadens als Folge seines Verhaltens auch gezielt hätte vermeiden können. Der hierbei verwendete Handlungsbegriff baut auf dem Begriff des Verhaltens auf.9 Als ‚Verhalten‘ sei die Existenz des Körpers eines und desselben Menschen zwischen zwei Zeitpunkten bezeichnet. Ein Mensch verhält sich mit anderen Worten ununterbrochen während seines gesamten Lebens. Jeder zeitliche Ausschnitt

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Hart, in: Proceedings of the Aristotelian Society, S. 171 ff. Vgl. hierzu nur Feinberg, in: Black (Hrsg.), Philosophy in America, S. 134 ff.; Geach, Ascriptivism, S. 221 ff. 7 Zur Bestimmung der Zurechnungskriterien mit Hilfe des Zusammenspiels von Vorwurf und Widerlegung grundlegend Austin, in: Austin (Hrsg.), Philosophical Papers, S. 175 ff. 8 Hierzu knapp Burghardt, Zufall und Kontrolle, S. 35 f. m. w. N. 9 Näher hierzu Kindhäuser, Zur Alternativstruktur des Kausalbegriffs, S. 573, 584 f.; Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, S. 77 ff., jew. m. w. N.

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aus diesem Verlauf ist ein bestimmtes Verhalten. Ein Mensch verhält sich also stets, gleich, ob er Geige spielt, Holz hackt oder während eines Vortrags über den Zufall einschläft. Besteht die Möglichkeit, dass sich eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort statt in einer Weise auch in einer anderen Weise verhalten kann, so hat sie eine Verhaltensalternative. Die Menge der Verhaltensalternativen, die eine Person in einem bestimmten Zeitpunkt zu ergreifen vermag, kann man ihren Verhaltensspielraum zu diesem Zeitpunkt nennen. Zum Verhaltensspielraum einer Person zum Zeitpunkt t mögen etwa die Verhaltensweisen Geige spielen und Holz hacken gehören. Wenn eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Lage ist, statt ihres tatsächlichen Verhaltens wenigstens eine Verhaltensalternative zu ergreifen, so sei ihr tatsächliches Verhalten ‚Handlung‘ genannt. Eine Handlung ist nach dieser Definition ein Verhalten, das auf einer (realisierten) Entscheidung gegen zumindest eine Verhaltensalternative beruht. Demnach ist jede Handlung ein Verhalten, aber nicht jedes Verhalten eine Handlung. Wer tief schläft, verhält sich in einer bestimmten Weise, aber er handelt nicht, weil er sich während des Schlafes nicht zu einem alternativen Verhalten entscheiden kann.10 Mit Hilfe des dargelegten analytischen Handlungsbegriffs lassen sich nun auch die Begriffe des Tuns und Unterlassens definieren. Wer sich unter wenigstens zwei Alternativen für ein Verhalten entscheidet und damit handelt, unterlässt das alternative Verhalten. Exemplarisch: Gehören in einer bestimmten Situation Geige spielen und Holz hacken zum Verhaltensspielraum einer Person, so unterlässt die Person das Holzhacken, wenn und indem sie Geige spielt – und vice versa. Ein Unterlassen ist also nicht etwa ein Nichtstun, sondern ein Verhalten, das durch das Nichtergreifen einer Verhaltensalternative charakterisiert wird. Das Unterlassen, Geige zu spielen, kann im Falle des Holzhackens recht aktiv ausfallen. Jede (realisierte) Entscheidung zu einem Unterlassen impliziert damit die (realisierte) Entscheidung zu einem Tun und jede (realisierte) Entscheidung zu einem Tun impliziert die (realisierte) Entscheidung zu einem Unterlassen. Dass dem B im Porzellanfall nicht die Verantwortlichkeit für das beschädigte Geschirr qua Handlung zugeschrieben werden kann, liegt damit auf der Hand: B hatte zu seinem das Geschirr kausal beschädigenden Verhalten keine Alternative, zu der er sich hätte entscheiden können. Wenn eine Handlungszuschreibung auf zwei alternative Kausalverläufe bezogen wird, einen realen und einen hypothetischen, so wird verständlich, warum ein Ereignis als Verhaltensfolge in einer Hinsicht als zufällig, in einer anderen gerade nicht als zufällig angesehen werden kann. Da ein Akteur den durch sein Verhal-

10

Die Möglichkeit, sich zu einem bestimmten Verhalten statt zumindest zu einem (beliebigen) anderen Verhalten entscheiden zu können, ist eine wesentliche Voraussetzung, um jenes Verhalten als Handlung interpretieren zu können, näher hierzu Kindhäuser, Intentionale Handlung, S. 153 ff. m. w. N.

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ten bedingten realen Kausalverlauf stets mehr oder weniger aus der Hand gibt und der Eintritt des Erfolgs daher zum Tatzeitpunkt noch mehr oder weniger unsicher ist, mag man den Eintritt des Erfolgs insoweit – je nach Umständen – als zufällig ansehen. Dies scheint auch Radbruch vorzuschweben, wenn er den Ausbruch eines Brandes nach dem unachtsamen Umgang mit Feuer der Tücke des Objekts in die Schuhe schiebt. Um jedwede Zufallshaftung auszuschließen, negiert eine radikal subjektive Zurechnungslehre sogar jegliche Relevanz des Erfolgs für die Bestimmung des strafrechtlichen Unrechts. Nach dieser Ansicht soll allein das Täterverhalten – genauer: der dieses Verhalten steuernde Wille – Gegenstand der strafrechtlichen Verantwortlichkeit sein.11 Doch diese Ansicht übersieht, dass bei der Zurechnung eines Erfolgs als Handlungsergebnis neben dem faktischen, den Erfolg verursachenden Verhalten, zugleich auf ein alternatives Verhalten Bezug genommen wird, bei dessen Ergreifen der Erfolg nicht eingetreten wäre, sich also hätte vermeiden lassen. Nicht die Verursachung allein, sondern auch und gerade die dem Akteur unterstellte Vermeidbarkeit des Erfolgseintritt begründet die Erfolgszurechnung. Im Wandererbeispiel war der Ausbruch des Brandes daher für W kein Zufall, weil es hierzu nicht gekommen wäre, wenn W seine Zigarettenkippe nicht ins trockene Gebüsch geworfen hätte. Damit ist ein Punkt angesprochen, auf dem das gesamte Gebäude der Zuschreibung von Verantwortung im Strafrecht beruht: das Denken in Alternativen. Aus der rechtlichen und sonderlich der strafrechtlichen Perspektive wird der Verlauf der Welt nicht eindimensional betrachtet, sondern als Abfolge rechtlich relevanter Entscheidungen zwischen Verhaltensalternativen gesehen. Das Recht ist eine Ordnung zwischen Menschen, die sich zwischen Alternativen entscheiden können und müssen. Jede Entscheidung zu einem Verhalten ist notwendig eine Entscheidung gegen mehr oder minder viele Verhaltensalternativen. Könnte menschliches Verhalten nicht unter der Hypothese einer möglichen Verhaltensalternative, sondern nur eindimensional als Abfolge kontingenter Ereignisse verstanden werden, so wäre nicht nur ein Verantwortung zuschreibendes Strafrecht, sondern Recht schlechthin nicht denkbar. Die Zurechenbarkeit eines Erfolgs aufgrund seiner Vermeidbarkeit ist die Grundlage der tradierten Vergeltungstheorie der Kriminalstrafe. Das ius talionis – das Auge um Auge, Zahn um Zahn – bezieht sich einerseits auf eine wie auch immer zu deutende Kompensation des vom Täter angerichteten Schadens, dient aber auch der Begrenzung des Strafmaßes. Nur im Umfang des Schadens, für den man verantwortlich ist, darf einem auch ein Strafübel zugefügt werden. Nach dieser Straftheorie dürfte der Graf von Monte Christo nicht auf unbestimmte Zeit in einen Kerker geworfen werden, sondern müsste nur das Brot ersetzen, das

11 Vgl. Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, S. 124; ferner Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte, S. 71, 88, 92; maßgeblich bereits Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, S. 105 ff.

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er entwendet hatte. Und auch nur mit Blick auf die Schadenszurechnung kann Strafe im Sinne Kants als zweckfrei und nur der Gerechtigkeit dienend gedeutet werden.12

C. Vermeidbarkeit 1. Aus den bisherigen Überlegungen folgt indessen lediglich, dass Vermeidbarkeit das zurechnungsrelevante Kriterium des Ausschlusses von Zufall ist, denn Zufall hindert umgekehrt Zurechenbarkeit. Offen ist freilich zum einen noch, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein Erfolgseintritt als vermeidbar anzusehen ist, und zum anderen, warum er vermieden werden soll. Vor allem aber dürfte längst augenfällig geworden sein, dass die Vermeidbarkeitshypothese auf einem bedenklich schwachen Fundament ruht, nämlich auf dem irrealen Konditionalsatz, dass etwas bei alternativem Verhalten hätte vermieden werden können, was durch das reale Verhalten nicht vermieden worden ist. Wenden wir uns zunächst dieser Problematik kurz zu. Vermeidbarkeit ist eine Disposition und als solche eine gesetzesartige Hypothese über die Fähigkeit einer Person, sich unter bestimmten Bedingungen in einer bestimmten Weise zu verhalten. So wird mit der Qualifizierung einer Glasscheibe als zerbrechlich die Hypothese aufgestellt, sie werde beim Auftreffen einer bestimmten Kraft zerbrechen. Eine Disposition manifestiert sich also in spezifischen, für sie symptomatischen Verhaltensweisen, mit deren Hilfe sich die Disposition explizieren lässt. Die Schwierigkeiten mit der Disposition „vermeidbar“ liegen nun darin, dass sie sich im Kontext einer Zurechnung ex post gerade nicht manifestiert hat. Denn die Verhaltensalternative, durch die sich der eingetretene Erfolg hätte vermeiden lassen, hat der Akteur ersichtlich nicht ergriffen. Da die Fähigkeit sich handlungswirksam zwischen Alternativen zu entscheiden, eine der Bedingungen der Möglichkeit kontrafaktischer rechtlicher Regelungen ist, muss das Recht seinen Adressaten notwendigerweise diese Fähigkeit unterstellen, und es muss zudem durchsetzen, dass seine Adressaten diese Fähigkeit nach Maßgabe rechtlicher Wertungen auch in die Tat umsetzen. Mit anderen Worten: Das Recht hypostasiert Rechtstreue und garantiert kontrafaktisch, dass seine Adressaten wechselseitig rechtstreues Verhalten erwarten können. Um die Bodenhaftung in der Lebenswirklichkeit nicht zu verlieren und ins Blaue hinein Fähigkeiten zu fingieren, benennt das Strafgesetz bestimmte Bedingungen, unter denen die Fähigkeit zur Schadensvermeidung entweder generell oder zumindest unter den gegebenen Umständen nicht zu erwarten ist. Letzteres wäre etwa der Fall, wenn mit der Entscheidung zu alternativem Verhalten die Gefahr verbunden ist, existenzielle Güter einzubüßen – also in einer Notstandslage. 12

Kant, in: Weischedel (Hrsg.), Immanuel Kant, Bd. II, S. 453 f.

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Dass die Zurechnungshypothese der Vermeidbarkeit allein auf die strafrecht­ lichen Anforderungen an rechtlich richtiges Verhalten bezogen ist und insbesondere nichts zur Klärung der Bedingungen eines freien menschlichen Willens beitragen kann und will, liegt auf der Hand. An die Stelle beweisbarer Willensfreiheit tritt der bescheidene Nachweis, dass die Voraussetzungen vorlagen, unter denen von einem rechtstreuen Normadressaten ohne bestimmte psychische Defekte und ausgestattet mit den Kenntnissen und der Physis des konkreten Täters eine handlungswirksame Entscheidung zu alternativem Verhalten zu erwarten war.13 2. Wie lässt sich nun die Vermeidbarkeitshypothese präzisieren? Sie erfordert zunächst eine Prognose über die Wirkungen wenigstens zweier Alternativen eines gegebenen Verhaltensspielraums bezüglich eines Ereignisses e. Hierbei muss die handelnde Person P davon ausgehen, dass e mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bei Ergreifen der Alternative v eintritt, bei Ergreifen einer möglichen Verhaltensalternative aber ausbleibt. Wenn P will, dass e nach Möglichkeit nicht als Folge ihres Verhaltens eintritt, muss sie folglich v unterlassen. Demnach lässt sich aus der Perspektive von P die Vermeidbarkeit von e in der Form eines praktischen Syllogismus14 darstellen. Dieses auf Aristoteles15 zurückgehende Schlussschema16 ist formal dem logischen Syllogismus17 nachgebildet. Es nennt in der Oberprämisse das Ziel einer Person, also ihr intentionales Objekt. Die Unterprämisse formuliert die einschlägigen Kenntnisse der Person zur Erreichung ihres Ziels durch ein bestimmtes Verhalten. Und in der Konklusion wird die Handlung bezeichnet, welche die Person nach ihrem Kenntnisstand zur Erreichung ihres Zieles ausführen oder unterlassen muss. Dieser Schluss hätte also für eine Person P, die einen Erfolg e vermeiden will, folgende Gestalt: Oberprämisse: P will e als Folge ihres Verhaltens vermeiden. Unterprämisse: P nimmt an, dass sie (wahrscheinlich) e nicht vermeiden kann, wenn sie v tut. Konklusion: Also muss P v unterlassen. Im Gegensatz zu einem logischen Schlusssatz ist beim praktischen Syllogismus die Ableitung der Konklusion aus den Prämissen (vor Ausführung der dort genannten Handlung) nicht logisch notwendig. Es ist denkbar, dass P annimmt, die in der Konklusion genannte Verhaltensalternative unterlassen zu müssen, um ihre Intention zu realisieren, und diese Verhaltensalternative dennoch ergreift. Insoweit vermittelt der Schluss nur eine praktische Notwendigkeit in dem Sinne, 13

Hierzu Kindhäuser, Analytische Strafrechtswissenschaft, Bd. 2, S. 735 ff. Von Wright, Handlung, Norm und Intention, S. 42 ff. 15 Ethica Nikomachea, VII 5, 1147a, mit dem Beispiel, Süßes kosten zu müssen. 16 Broadie, The Practical Syllogism, S. 26; Kenny, Practical Inference, S. 65 f. 17 Hierzu Joerden, Logik im Recht, S. 327 ff. 14

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dass sich P in einer bestimmten Weise verhalten müsste, wenn sie ihre Intention realisieren wollte. Das physische Vermögen und die erforderlichen Kenntnisse, um bei entsprechendem Willen ein Ziel zu erreichen, sei Handlungsfähigkeit genannt. Im Normalfall sind hierbei physisches Können und erforderliches Wissen in einer konkreten Tatsituation gegebene Größen, während der Wille, einen Erfolg zu vermeiden, erst noch zu bilden ist. Vermeidefähigkeit verlangt also notwendig neben der Handlungsfähigkeit noch die Fähigkeit, den Vermeidewillen zu bilden und handlungswirksam in die Tat umzusetzen. Die Fähigkeit, die Intention zur Vermeidung eines Erfolgs zu bilden und allen möglichen konkurrierenden Intentionen handlungswirksam vorzuziehen, sei Motivationsfähigkeit genannt. Motivationsfähigkeit in diesem Sinne ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Handlungsfähiger ein Ereignis vermeiden kann: Nur wer in der Lage ist, die Intention zur Vermeidung eines Erfolg e zu bilden und zu realisieren, kann e gezielt vermeiden.18 3. Eine letzte Frage ist noch offen: Aus welchem Grund ist die Intention zur Vermeidung eines bestimmten Erfolgs e handlungswirksam zu bilden? Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Weil e von Rechts wegen vermieden werden soll. Doch eine explizite Normformulierung dieses Inhalts kennt das Strafrecht nicht. Gesetzlich ist nur festgelegt, dass jemand, der einen anderen Menschen tötet, bestraft werden soll. Die Gesetze formulieren also nur Sanktionsnormen, enthalten aber keine an den Bürger gerichteten Verhaltensnormen. Allerdings lässt sich den Sanktionsnormen entnehmen, dass ein Verhalten, das zu bestrafen ist, auch verboten ist. Doch führt dieser Schluss zu einem weiteren Problem. Ob sich jemand im Sinne des Tötungsverbots normwidrig verhalten hat, lässt sich erst ex post feststellen. Erst wenn das Opfer tot ist, wurde es getötet. Wie sich der Adressat des Tötungsverbot ex ante verhalten soll, ist begrifflich nicht fixiert und kann aus logischen Gründen auch gar nicht fixiert werden. Selbst wenn im Krötenbeispiel der Ehemann gestorben wäre, weil die Suppe tatsächlich vergiftet war, gibt es vor dem Todeseintritt keine Beschreibung eines möglichen Verhaltens der F, das dem Tötungsverbot begrifflich unterfiele. Nun spricht nichts dagegen, das Tötungsverbot pragmatisch als verbindliche Zielvorgabe für rechtmäßiges Verhalten zu deuten. In diesem Sinn kann das Verbot als Verpflichtungsgrund für Handlungen verstanden werden, wobei mit Pflicht die Bindung des Normadressaten an die Norm nach Maßgabe seiner Handlungsfähigkeit bezeichnet wird. Pflichtgemäß handelt demnach, wer die Norm als verbindliche Zielvorgabe in die Tat umsetzen will, während pflichtwidrig handelt, wer durch sein tatsächliches Verhalten ausdrückt, die Norm nicht als verbindlichen Grund seines Handelns anerkennen zu wollen. Zur Verdeutlichung dieser Zusam 18

Zu einem solchen zweistufigen Modell Frankfurt, in: Bieri (Hrsg.), Analytische Philosophie des Geistes, S. 287 ff.; vgl. auch Dennett, in: Bieri (Hrsg.), Analytische Philosophie des Geistes, S. 162 ff.; ders., in: Bieri (Hrsg.), Analytische Philosophie des Geistes, S. 303 ff.; Kindhäuser, Analytische Strafrechtswissenschaft, Bd. 1, S. 423 ff.

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menhänge lässt sich wiederum auf den praktischen Syllogismus zurückgreifen. Es muss nun nur das Gesollte in die Oberprämisse des Schlusssatzes eingefügt werden. Der Syllogismus könnte dann lauten: Oberprämisse: P will, weil es gesollt ist, e als Folge ihres Verhaltens vermeiden. Unterprämisse: P nimmt an, dass sie (wahrscheinlich) e nicht vermeiden kann, wenn sie v tut. Konklusion: Also muss P v unterlassen. Wenn P nun v tut, obwohl sie laut Unterprämisse davon ausgeht, dass sie, wenn sie v tut, e (wahrscheinlich) nicht vermeiden kann, dann ist das Vermeiden von e nicht das von ihr dominant Gewollte. Sie erkennt mit anderen Worten das von der Norm Gesollte nicht als verbindlichen Grund ihres Handelns an und widerspricht damit ihrer sich aus der Norm ergebenden Pflicht. Die in der Unterprämisse genannten Kenntnisse berechtigen dazu, das Verhalten der P als Pflichtverletzung anzusehen. 4. Wird der praktische Syllogismus in diesem Sinne nun auf das Verhalten der F im Krötenbeispiel bezogen, so zeigt sich, dass es für die der F zugeschriebene Pflichtverletzung ohne Belang ist, ob der Erfolg, der Tod des M, eingetreten ist oder, wie im konkreten Fall, wegen der objektiven Untauglichkeit des eingesetzten Mittels gar nicht eintreten konnte. Denn F hätte zum Tatzeitpunkt die Kröte nicht in der Suppe kochen dürfen, wenn sie um der Befolgung des Tötungsverbotes willen den Tod ihres Mannes hätte vermeiden wollen. Daraus folgt, dass die berechtigte Annahme, eine Person P habe die sich aus einer Verhaltensnorm ergebende Pflicht verletzt, die Zurechenbarkeit des von der Norm genannten Erfolgs begründet, sofern dieser tatsächlich eintritt. Tritt er ein, so kann sich P nicht mehr mit dem Argument entlasten, dies sei Zufall gewesen. Denn der Erfolg wäre nicht eingetreten, wenn P die entsprechende Norm als verbindlichen Grund ihres Verhaltens handlungswirksam anerkannt hätte.19 Tritt der Erfolg dagegen nicht ein, so ist die Pflichtverletzung gleichwohl nicht belanglos. Denn mit ihrem Verhalten hat P ja zum Ausdruck gebracht, die Norm nicht als verbindlichen Grund ihres Handelns anerkennen zu wollen, und damit die in sie gesetzte Erwartung rechtstreuen Verhaltens enttäuscht. Ein solches vorwerfbares Defizit an hinreichender Rechtstreue ist ein anderes Wort für Schuld im strafrechtlichen Sinne. Mit dieser Feststellung kommen wir zurück zu der eingangs aufgeworfenen Frage nach der Bestimmung des Schadens, der mit dem Schuldvorwurf notwendig verbunden ist. Es ist dies die mit einer Pflichtverletzung verbundene Beeinträchtigung faktischer Normgeltung. Eine Norm gilt faktisch, wenn sie in hinreichendem Maße befolgt wird, um als Orientierungsmuster in einer Gesell 19 Im Brandstiftungsfall kann daher nur dem W der objektiv belegbare Vorwurf gemacht werden, er habe sich anders verhalten müssen, als er sich verhalten hat, um den tatsächlich eingetretenen Waldbrand zu vermeiden.

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schaft zu dienen. Faktische Geltung ist mit m.a.W. die kognitiv begründete Erwartung, eine Norm werde in so hohem Maße handlungswirksam anerkannt, dass man sich bei der Planung seiner eigenen Handlung auf ein entsprechendes Verhalten der anderen verlassen kann. Mehr als normkonformes Verhalten ist hierzu nicht erforderlich. Wird dagegen die sich aus einer Norm ergebende Handlungspflicht verletzt, so wird das Vertrauen in die allgemeine Befolgung der Norm enttäuscht. Der Wert der Norm als Orientierungsmuster wird zumindest fallweise gemindert. Diese Geltungseinbuße der Norm ist ein eigenständiger Schaden neben der durch die Tat gegebenenfalls eingetretenen Güterbeeinträchtigung. Nicht zuletzt kommt dies sprachliche durch den Begriff der Pflichtverletzung zum Ausdruck. Der Normgeltungsschaden ist ein Schaden, dessen Verhinderung eine spezifische Aufgabe des Strafrechts ist, und zwar mit einer präventiven Zwecksetzung: Mit der Strafe als Reaktion auf normwidriges Verhalten soll gezeigt werden, dass sich eine Pflichtverletzung nicht lohnt. Hierdurch soll die allgemeine Bereitschaft zur Normbefolgung bestärkt werden. Adressat dieser Prävention ist also weniger der potenzielle Rechtsbrecher, der vor künftigen Taten abgeschreckt wird, als vielmehr der bislang rechtstreue Bürger, der sehen soll, dass es vorzugswürdig ist, sich weiterhin normgemäß zu verhalten. Dieser mit Blick die Sicherung fortdauernder (faktischer) Normgeltung gerichtete Strafzweck wird als positive Generalprävention bezeichnet.20 Damit mag die doppelte Relevanz des strafrechtlichen Schuldvorwurfs deutlich geworden sein. Mit ihm wird zum einen begründet, warum ein Verhalten als Ausdruck der Desavouierung einer Norm mit Strafe beantwortet wird, die dem Täter symbolisch die Kosten für den hiermit verbundenen sozialen Konflikt auferlegt. Zum anderen rechtfertigt der Schuldvorwurf aber auch die Zurechnung der Güterbeeinträchtigung, die der Täter mit seinem pflichtwidrigen Verhalten herbeigeführt hat. Notwendig für die Strafbarkeit ist der Eintritt dieses Schadens nicht. Er ist jedoch, falls er eintritt, nicht als zufällige Verhaltensfolge anzusehen. In diesem Fall macht der eingetretene Erfolg das Ausmaß des sozialen Konflikts, den der Täter zu verantworten hat, sinnfällig.

D. Fahrlässigkeit Die bisherigen Ausführungen bedürfen vielleicht noch mit Blick auf das Eingangsbeispiel der Brandstiftung einer kleinen Ergänzung. Die Konstellation des Wandererbeispiels unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von dem Krötenfall. Da F in diesem Fall davon ausgeht, dass ihr Mann durch den Genuss der vermeintlich vergifteten Suppe sterben werde, müsste sie, wenn sie das Tötungsverbot befolgen wollte, es unterlassen, die Suppe zu servieren. Im Fall der Brandstiftung 20 Detailliert entfaltet wird diese Theorie bei Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 6 ff. und passim.

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hat sich W dagegen nicht darum gekümmert, ob seine Zigarettenkippe noch glüht, so dass er auch nicht annahm, durch deren Wegwerfen ins trockene Gebüsch einen Waldbrand auslösen zu können. Da ihm die mit seinem Verhalten verbundene konkrete Gefahr nicht bewusst war, hatte er auch keinen Anlass, das Wegwerfen der Zigarettenkippe um der Vermeidung eines Waldbrandes willen zu unterlassen. Grundsätzlich gilt bei der strafrechtlichen Zurechnung der Grundsatz „ultra posse nemo obligatur“21, niemand ist über sein Können hinaus verpflichtet. Hier: Dem W fehlt die nötige Einsicht in die mit seinem Verhalten verbundene Gefahr, so dass er deren Realisierung auch nicht bewusst gezielt vermeiden kann. Von dem Grundsatz, dass Unkenntnis entlastet, macht das Strafrecht jedoch Ausnahmen.22 Es schneidet einer Person die Berufung auf ihre aktuelle Unfähigkeit zu norm­ gemäßem Handeln ab, wenn diese Unfähigkeit ihrerseits vermeidbar gewesen wäre, und zwar dann, wenn die Person in dem von ihr zu erwartenden Maße für ihre Fähigkeit zur Normbefolgung Sorge getragen hätte. In diesem Falle wird das Fehlen der zur Erfolgsvermeidung erforderlichen aktuellen Kenntnis der Gefahrenlage durch den Vorwurf, die Unkenntnis beruhe auf mangelnder Sorgfalt, ersetzt. Dies ist im Fall der Brandstiftung die Zurechnung eines Erfolgs qua Fahrlässigkeit. Dem W wird vorgeworfen, er habe die Gefährlichkeit seines Verhaltens zwar nicht erkannt, wohl aber erkennen können und müssen, wenn er hinreichend sorgfältig gewesen wäre. Bei den Anforderungen, die an die Sicherung oder den Erwerb der kognitiven Voraussetzungen der Vermeidefähigkeit gestellt werden, handelt es sich um die Sorgfalt, die einzuhalten von einem gewissenhaften und vernünftigen Norm­ adressaten erwartet wird, der sich in einem Risikobereich bewegt.23 Zu beachten ist hierbei: Die mangelnde Sorgfalt, die W im Brandstiftungsfall vorzuwerfen ist, betrifft nur seine Vermeidefähigkeit und ist keine kausale Bedingung des Brandes, wie sich unschwer an folgender Überlegung zeigt: W hätte, wenn er aufmerksam gewesen wäre und erkannt hätte, dass seine Zigarettenkippe noch glüht, sie dennoch ins Gebüsch werfen können, um einen Waldbrand herbeizuführen und so seine pyromanischen Gelüste zu befriedigen. Wenn man ungenau davon spricht, W habe durch Unachtsamkeit einen Waldbrand ausgelöst, so beruht dies auf der unausgesprochenen Unterstellung, dass W die glühende Zigarette nicht weggeworfen hätte, wenn er erkannt hätte, dass dies in dem trockenen Wald einen Brand hätte auslösen können. Hinter dieser Hypothese steht das normative Prinzip, dass man sich zu seiner Verteidigung nicht auf unlautere Motive oder rechtswidrige Verhaltensalternativen berufen darf. 21

Genauer: impossibilium nulla est obligatio, Celsus D. 50. 17. 185. Vgl. auch §§ 17 und 35 StGB. Die Vermeidbarkeit ändert ja nichts daran, dass der Täter zum Zeitpunkt der Tatbestandsverwirklichung kein Unrechtsbewusstsein hatte bzw. sich in einer Notstandssituation wähnte. 23 Näher zur Funktion von Sorgfaltsnormen Kindhäuser, Analytische Strafrechtswissenschaft, Bd. 1, S. 499 ff. 22

Zufall und Notwendigkeit in der strafrechtlichen Zurechnungslehre 

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Kausalität, Zufall und Kontrolle – philosophische Perspektiven Thomas Meyer, Berlin

Auch wenn die Ausdrücke ‚Kausalität‘, ‚Zufall‘ und ‚Kontrolle‘ an sich keine klare Bedeutung haben und vieldeutig sind, so scheinen folgende Aussagen zumindest intuitiv plausibel zu sein: vieles von dem, was wir kontrollieren, was wir kontrolliert tun können, steht in Verbindung mit Kausalprozessen. Auch sind es Kausalprozesse, die möglicherweise zufällig oder notwendigerweise so ablaufen, wie sie ablaufen. Schließlich scheinen Kausalprozesse, die zufällig ablaufen, von uns nicht in einem genuinen Sinne kontrolliert werden zu können. Natürlich wird auch bereits für die intuitive Plausibilität dieser Aussagen ein gewisses Verständnis der zentralen Ausdrücke vorausgesetzt. Allerdings muss dafür kein explizites Bedeutungswissen vorliegen. Problematisch wird es nun allerdings, wenn bestimmte Kontexte eine genauere Klärung dieser Ausdrücke bedingen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn es um normative Fragen der Verantwortlichkeit geht. Hier spielt es sowohl eine zentrale Rolle, ob eine Person einen bestimmten Zustand auch tatsächlich verursacht hat oder nicht, als auch, ob die Person, wenn sie Ursache des fraglichen Zustandes war, dies auch hat kontrollieren können. Für gewöhnlich würde Verantwortlichkeit ausgeschlossen werden, wenn die Person den Zustand auf keine Weise hätte verhindern können. Wenn wir also etwa fragen, ob eine Person einen (moralischen) Vorwurf verdient oder in stärker formalisierten normativen Praxen wie dem Recht, ob sie bestraft werden darf, dann wird die Klärung von Ausdrücken wie ‚Kontrolle‘, ‚Zufall‘ oder ‚Kausalität‘ so bedeutend, dass man sich nicht mehr einfach auf die alltägliche Sprachintuition verlassen kann. Im Folgenden sollen Begriffsklärungen von „Kausalität“, „Zufall“ und „Kontrolle“ so vorgenommen werden, dass sie die intuitive Plausibilität der gemachten Aussagen erklären und für normative Fragen auf zufriedenstellende Weise herangezogen werden können. Der weitere Interessenskontext dieses Vorhabens betrifft also Fragen nach moralischer und rechtlicher Verantwortlichkeit. Insbesondere sollen in diesem Text handlungs- und kausalitätstheoretische Grundlagen des sogenannten Problems des moralischen Zufalls erarbeitet werden. Genauer soll ein Zufallsbegriff entwickelt werden, der gerade für das menschliche Handeln und dessen Bewertung (moralisch und rechtlich) eine Rolle spielt.

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Thomas Meyer

Aus diesem Grund wird in einem ersten Schritt dieser weitere Kontext so weit vorgestellt werden, dass er eine Klärung der eigentlichen Fragen dieses Aufsatzes ermöglicht (A). In einem zweiten Schritt wird dann ein Verständnis von Kausalität vorgeschlagen, das es ermöglicht, einen bestimmten Zufallsbegriff, und zwar den der Koinzidenz einzuführen (B). Der dritte Schritt soll dann aufzeigen, inwiefern Kausalität und Zufall in dem dann normierten Sinne relevant für ein kontrolliertes Handeln sind (C). Diese Normierungen sind jedoch nicht so zu verstehen, dass die Rede von Zufall und Kausalität einfach den Zwecken unserer Zuschreibungspraxen angepasst werden. Im Gegenteil – der Anspruch ist, den Bedeutungskern dieser Ausdrücke zu erfassen, wie er auch außerhalb normativer Rede gebräuchlich ist.1 In einem ausblickhaften letzten Schritt schließlich sollen die erarbeiteten Ergebnisse auf das Thema des moralischen Zufalls bezogen werden (D). Zwei Bemerkungen seien vorweg gemacht. Die Überlegungen, die ich anstelle, weisen eine Nähe zu rechts-, insb. strafrechtswissenschaftlichen Begrifflichkeiten auf. Allerdings erheben diese nicht den Anspruch, aus der Perspektive des Strafrechts verstanden zu werden. Wenn ich also Fälle oder Beispiele anführe, die eine ganz bestimmte (Be-)Deutung innerhalb der Strafrechtsdogmatik haben, kann es durchaus sein, dass ich sie für die eigenen Überlegungen heranziehe. Wenn aber nicht die Strafrechtsdogmatik und die Theorie über das Strafrecht leitend sind, welche Überlegungen sind es dann? Das ist nicht so leicht zu beantworten, da es hierbei um die Zwecke oder Erkenntnisinteressen der Philosophie und der philosophischen Theoriebildung geht. Man könnte sagen, es geht darum, das Wesen bestimmter Phänomene, des Handelns, des Zufalls, der Kausalität zu erfassen. Oder aber darum, Überzeugungen über verschiedene Gegenstandsbereiche in einen möglichst kohärenten Zusammenhang zu bringen.2 Um es aber negativ – und im Gegensatz zum Strafrecht – zu sagen: es geht nicht um rechtlich reguliertes Verhalten. Es geht auch nicht um möglichst valide Prüfverfahren für Strafbarkeitsbedingungen. Weiteres wird hoffentlich aus meinen Ausführungen deutlich.3 Die zweite Bemerkung betrifft die Art philosophischer Reflexion, die ich vornehmen werde: ich steuere keinen direkten Beitrag zu einer bestehenden Debatte bei. Zwar nehme ich meinen Ausgang bei der Debatte um moralischen Zufall, aber nur, um eine allgemeinere Frage zu stellen. Auch werde ich nichts groß Neues sagen; wenn, dann besteht das eigene eher darin, bestimmte Überlegungen und Debattenstränge zu verbinden. 1

Es geht also nicht um auf normative Kontexte zugeschnittene Bestimmungen von Kausalität und Zufall, sondern um solche Klärungen, die ebenfalls der nicht normativen Bedeutung der Begriffe entsprechen. 2 Hier ist natürlich die Gefahr groß, allzu Allgemeines wiederzugeben. Für eine ungefähre Orientierung sollte es jedoch ausreichen. 3 In gewissem Sinne geht es um moralischen wie rechtlichen Praxen zugrundeliegende allgemeine kausalitäts- und handlungstheoretische Grundlagen, so wie es auch Karl Ludwig Michelet bereits in seinem System (Michelet 1828) gemacht hat. Für eine Rekonstruktion der Position Michelets siehe jetzt Battistoni / Meyer 2021.

Kausalität, Zufall und Kontrolle – philosophische Perspektiven 

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A. Zum Zusammenhang von Zufall und moralischer Bewertung (moral luck) Seit der Veröffentlichung zweier „Moral Luck“ betitelter Aufsätze von Bernard Williams und Thomas Nagel 1976 wird das Thema des moral luck in der Philosophie diskutiert. Dabei handelt es sich um eine ganze Sammlung verschiedener Fragen und Probleme, die – allgemein formuliert – um die Frage kreisen, ob Zufälliges für die moralische Bewertung von Personen eine Rolle spielen darf. Diese Frage wird durch eine beobachtete Spannung innerhalb unserer Moralund Rechtspraxis veranlasst. Einerseits gehen wir faktisch davon aus, dass man für etwas moralisch und / oder rechtlich nur dann verantwortlich ist, wenn man es auch kontrollieren konnte. Sofern aber zufällige Ereignisverläufe eine Kontrolle derselben ausschließen, können zufällige Ereignisverläufe auch nicht der Verantwortung einer Person zugeordnet werden. Aus dieser Beobachtung ergibt sich das sogenannte Kontrollprinzip: „(CP) We are morally assessable only to the extent that what we are assessed for depends on factors under our control. […].“ „(CP-Corollary) Two people ought not to be morally assessed differently if the only other differences between them are due to factors beyond their control.“ (Nelkin 2021, S. 3)

Soweit gibt es kein Problem. Immer dann, wenn eine Kontrolle ausgeschlossen werden kann, ist auch eine Verantwortungszuschreibung unangemessen. Das Problem beginnt mit einer zweiten Beobachtung, dass wir nämlich häufig (zumindest scheint es so zu sein) gegen genau dieses Prinzip verstoßen, dass wir auch bei fehlender Kontrolle für Ereignisverläufe bzw. deren Resultate Verantwortung zuschreiben. Nelkin führt einmal das Beispiel zweier Personen an, die jeweils die Absicht ausbilden, jeweils eine Person zu töten, und auch handelnd tätig werden, diese Absicht umzusetzen. Die eine Person scheitert aufgrund zufälliger Ereignisverläufe, die andere hingegen setzt ihre Absicht voll um. Im ersten Fall handelt es sich dann um einen versuchten Totschlag, der möglicherweise milder geahndet wird als der vollendete. Das zweite Beispiel betrifft zwei LKW-Fahrer:innen, die beide der Vorsorgepflicht, den Wagen zu warten, nachkommen und auch entsprechend der Geschwindigkeitsbeschränkungen fahren. Der einen Person läuft ein Hund auf die Straße und wird von dieser erfasst, der anderen Person geschieht so etwas nicht. Sofern wir in unserer Bewertung dieser Fälle einen Unterschied machen, wäre auch dies ein Beispiel dafür, dass wir (zumindest manchmal) den Zufall entgegen dem Prinzip in unsere Bewertung einbeziehen. Allerdings bedeutet diese zweite Beobachtung zunächst nur, dass dies eben Verstöße gegen das Kontrollprinzip sind, die vermieden werden sollten. Problematisch wird es, wenn diese Verstöße gegen das Prinzip selbst als angemessen, als rechtmäßig betrachtet werden.

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Thomas Meyer „(ML) moral luck occurs when an agent can be correctly treated as an object of moral judgment, despite the fact that a significant aspect of what he is assessed for depends on factors beyond his control.“ (Nelkin 2021, S. 4)

Grundlegendes Ziel in der Debatte ist es, diese unserer Moral- und Rechtspraxis inhärente Spannung zu erklären oder aufzulösen. Thomas Nagel hat dazu verschiedene Arten des Zufalls als Kontrolle ausschließende Faktoren unterschieden, die zu verschiedenartigen Fällen der genannten Spannung führen (Nagel 1976): i. Zufall der Folgen (resultant luck) ii. Zufall der Umstände (circumstantial luck) iii. Zufall der Konstitution (constitutive luck) iv. Zufall kausaler Akteurschaft (causal luck) Da für diesen Aufsatz lediglich der Zufall der (Handlungs-)Folgen von Relevanz ist, seien die anderen drei Arten nur knapp benannt. Der Zufall der Umstände bezieht sich auf die sozio-historische Situation, in der man sich befindet. Manche Situationen begünstigen moralisch vorbildliches, manche moralisch verwerfliches Handeln. Auf die Situation hat man jedoch nur bedingt Einfluss, so dass bestimmte Taten möglicherweise durch Umstände bedingt waren, die selbst nicht kontrolliert werden konnten. Der Zufall der Konstitution betrifft die Charaktereigenschaften und Dispositionen einer Person. Diese sind nur sehr bedingt kontrollierbar, haben aber zugleich keinen unerheblichen Einfluss auf die Handlungen der Person. Schließlich betrifft der Zufall kausaler Akteurschaft die kausalen Vorbedingun­ gen des jeweils eigenen Tuns. Hier beginnen Fragen nach der Willensfreiheit, danach also, ob und inwiefern wir überhaupt Kontrolle über unser Tun ausüben, wenn dieses vielleicht selbst nur verursacht ist. Der im Folgenden nur interessierende Zufall der Folgen betrifft unsere Handlungsfolgen, also alle Effekte unseres Tuns. Nochmal in den Worten Dana Nelkins ausgedrückt: „Resultant luck is luck in the way things turn out. Examples include the pair of would-be murderers just mentioned as well as the pair of innocent drivers described above. In both cases, each member of the pair has exactly the same intentions, has made the same plans, and so on, but things turn out very differently and so both are subject to resultant luck. If in either case, we can correctly offer different moral assessments for each member of the pair, then we have a case of resultant moral luck.“ (Nelkin 2021, S. 5 f.)

Bei dieser Art von Zufall geht es um Fälle, die im Strafrecht unter dem Titel „Erfolgsdelikte“ abgehandelt werden. Das sind solche Straftaten, die über bestimmte Kausalfolgen der Handlung (mit)definiert werden. Eine Fallgruppe betrifft nichtvollendete Erfolgsdelikte, wobei die Vereitelung des Erfolgs vom Zufall abhängt,

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eine andere Fallgruppe betrifft hingegen vollendete Erfolgsdelikte, wobei dann der Erfolg, also die Vollendung vom Zufall abhängt. Schränken wir also das Problem des moralischen Zufalls auf den Zufall der Folgen ein, stellen wir fest, dass wir in manchen Fällen einen Unterschied in der Bewertung einer Person bezüglich der Folgen ihres Tuns machen, obwohl diese Folgen oder ihr Ausbleiben vom Zufall abhingen und damit nicht kontrolliert werden konnten. In diesen Fällen verstoßen wir gegen das Kontrollprinzip. Um nun genauer zu sehen, worin das Problem besteht, bzw. ob und wenn ja wie diese Spannung gelöst werden könnte, müssen zwei Fragen unterschieden werden: Frage 1: Wie hängen Zufall und Kontrolle miteinander zusammen? Frage 2: Wann und weshalb spielen Zufall und Kontrolle eine und wann keine Rolle für die Bewertung des Handelns? Auf diese dem Problem des moralischen Zufalls zugrundeliegenden Fragen geht der anschließende Abschnitt ein, indem zunächst eine Theorie der Kausalität eingeführt wird (B.). Hierbei handelt es sich um die NESS- oder INUS-Theorie der Kausalität, eine Variante einer Bedingungstheorie. Mit Mitteln dieser Theorie soll dann ein Begriff des Zufalls eingeführt werden, der es erlaubt, Verantwortung konstituierende Kontrolle zu definieren.

B. Kausalität: Die NESS / INUS-Theorie der Kausalität und der Begriff der Koinzidenz Um die genannten Fragen zu beantworten, soll zunächst der Begriff der Kausalität geklärt werden. Denn alle Problemfälle für das Thema des moralischen Zufalls der Handlungsfolgen setzen voraus, dass es zumindest einen Kausalzusammenhang zwischen dem zufällig eingetretenen Ereignis / Zustand und der in Frage stehenden Handlung gegeben hat. Das wiederum setzt dann aber ein Verständnis davon voraus, worin ein solcher Kausalzusammenhang besteht. Erst mit einer Kausalitätstheorie lässt sich also ein Verständnis davon entwickeln, worin sich verantwortbare von nicht-verantwortbaren Handlungsfolgen unterscheiden. Zu diesem Zwecke soll eine Bedingungstheorie der Kausalität präsentiert werden, mit deren Mitteln sich der Unterschied „verantwortbar / nicht-verantwortbar“ gut einfangen lässt. Dieser Theorietyp wird manchmal auch unter dem Label „Regularitätstheorie“ der Kausalität gefasst, wobei mir die Einordnung als Bedingungstheorie angemessener zu sein scheint. Prominente Vertreter:innen dieses Ansatzes sind John Stuart Mill, John Mackie, Richard Wright und Ingeborg Puppe. In meiner Darstellung der Theorie folge ich im Wesentlichen Mackie.4 4 Mackie hat die Grundidee in einem Aufsatz entwickelt (Mackie 1965) und später monographisch ausgearbeitet (Mackie 1974). Für eine ausführlichere Rekonstruktion siehe Meyer 2020, S. 111 ff. Siehe auch Hüttemann 2018, Kap. 4.3.

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Wie der Ausdruck „Bedingungstheorie“ bereits anzeigt, wird für die Analyse des Kausalitätsbegriffs die Rede von Bedingungen bemüht. Man kann wenigstens zwei Arten des Bedingungsverhältnisses unterscheiden: Etwas ist für etwas entweder eine notwendige oder eine hinreichende Bedingung.5 Mackie setzt nun an und fragt, inwiefern wahre Kausalaussagen vom Typ ‚Ereignis a verursachte Ereignis b’6 eines dieser beiden Bedingungsverhältnisse ausdrücken. Ganz methodisch prüft er dann die verschiedenen Optionen anhand der Beispielaussage ‚Der Kurzschluss hat den Hausbrand verursacht‘. Das Ergebnis der Überprüfung besagt, dass ein konkreter Kurzschluss weder notwendige noch hinreichende Bedingung für einen Hausbrand gewesen ist und damit natürlich erst recht nicht beides zusammen. Anstatt nun aber den Versuch, Kausalaussagen als Bedingungsverhältnisse zu analysieren, aufzugeben, analysiert Mackie weiter, inwiefern Aussagen des genannten Typs bedingungstheoretisch analysiert werden können. Zwar ist der Kurzschluss nicht notwendige Bedingung für einen Hausbrand, da ein solcher natürlich auch bei Ausbleiben eines Kurzschlusses verursacht werden kann. Nichtsdestotrotz scheint doch der Kurzschluss im gegebenen Fall für diesen konkreten Hausbrand notwendig gewesen zu sein. Zugleich muss zudem auch etwas hinreichend für den Hausbrand gewesen sein, da er nun einmal stattgefunden hat. Das Ergebnis der Analyse besagt, dass zwar nicht ein einzelnes Ereignis für sich, aber doch ein Bündel an Ereignissen und Zuständen gemeinsam hinreichend gewesen sein muss für den Hausbrand. Und jedes Element eines solchen Bündels ist dann wiederum notwendig gewesen. Dies führt Mackie zu dem bekannten Akronym der INUS-Bedingung: INUS: jeder Teil des Bedingungsbündels ist ein „insufficient but non-redundant part of an unnecessary but sufficient condition“.7 Was allerdings bei Mackie noch unklar bleibt, ist, wofür genau das jeweilige Element notwendig ist. Hier hat Richard Wright eine wichtige Präzisierung vorgenommen und zugleich das ähnliche Akronym der NESS-Bedingung geprägt: NESS: jedes als Ursache zitierbare Ereignis ist ein „necessary element of a sufficient set“.8 Der Vorteil der Analyse Wrights ist, dass es bei der Notwendigkeit um eine schwache Notwendigkeit „weak-necessity“ geht. Damit soll gemeint sein, dass die einzelne Bedingung notwendig dafür ist, dass das Bündel hinreichend ist, und nicht 5 Natürlich kann auch etwas sowohl notwendige wie auch hinreichende Bedingung sein, allerdings ändert sich dadurch nichts an den zwei grundlegenden Arten. 6 Der Einfachheit halber werde ich hier immer von Ereignissen als Kausalrelata ausgehen, wobei man den Ausdruck ‚Ereignis‘ auch durch ‚Zustand‘ oder sonst mögliche Kausalrelata ersetzen kann. 7 Mackie 1974, S. 62. 8 U. a. Wright 2013.

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notwendig für das entsprechende Wirkungsereignis.9 Nehmen wir für den Fall des Hausbrands einmal folgenden gesetzmäßigen Zusammenhang an: ABC → P Beispielsweise sei A = Kurzschluss, B = Vorhandensein brennbaren Materials, C = Vorhandensein von Sauerstoff und P = Hausbrand. Der Satz soll gelesen werden als: für jeden Fall, in dem A, B und C instanziiert sind, ist auch P instanziiert, wobei die Instanziierung von ABC zeitlich vor der Instanziierung von P liegen muss.10 In diesem Fall ist dann das Bedingungsbündel bestehend aus A, B und C hinreichend für das fragliche Ereignis, während A, B und C jeweils für sich notwendig dafür sind, dass das ganze Bündel hinreichend sein kann. Mackies Überlegung, dass der Kurzschluss nicht hinreichend war, weist nun darauf hin, dass es neben einem solchen hinreichenden Bedingungsbündel noch andere, alternative hinreichende Bedingungsbündel geben könnte. Dies ließe sich durch folgende disjunktive Erweiterung darstellen: (ABC ˅ DEF ˅ GHI) → P Schließlich lässt sich festlegen, dass es eine solche abgeschlossene Disjunktion gibt, so dass das Bedingungsverhältnis dann zu einer Äquivalenz würde, wobei sich die prinzipiell endliche Menge einzelner hinreichender Bedingungsbündel schematisch durch einen Buchstaben ausdrücken ließe11: (AX ˅ Y) ↔ P So gesehen scheint nun kein Raum für Zufälle übrig zu bleiben, zumindest drücken die einzelnen Bedingungsgefüge (durch Allquantifizierung ausgedrückte) gesetzmäßige Zusammenhänge aus. Und zumindest intuitiv scheint der Begriff des Zufalls den Begriff der Gesetzmäßigkeit gerade auszuschließen. Wie kommen wir nun also mit einem solchen Begriff von Kausalität zu einem Begriff von Zufall, der Kontrolle ausschließen und den Unterschied zwischen verantwortbaren und nicht-verantwortbaren Folgen zu erklären vermag? Um den Begriff des Zufalls mit Mitteln der INUS / NESS-Theorie zu entwickeln, sollen drei Fallbeispiele benannt werden, die später mittels des Zufalls- und des dann eingeführten Kontrollbegriffs erklärt werden.

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In Wrights Worten: „necessary for the sufficiency“ (Wright 2013, S. 15). Der Pfeil und diese formale Schreibweise dienen lediglich der Abkürzung. Der Pfeil soll für das umgangssprachliche ‚wenn…dann…‘ stehen und semantisch nicht weiter ausgedeutet werden. Es soll hier also keine wahrheitsfunktionale Lesart des Konditionals vorausgesetzt werden. 11 ‚Y‘ übernimmt hier also die vollständige Disjunktion aller weiteren Konjunktionen von INUS-Bedingungen. 10

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A mischt B eine tödliche Menge Gift in den Kaffee, B trinkt den Kaffee und stirbt.

(Unwetter) A schickt B durch ein Unwetter ins nächste Dorf, B wird von einem umkippenden Baum erschlagen. (Stein)

A wirft einen Stein in einen Wald, B läuft in die Flugbahn und wird schwer am Kopf verletzt.

In allen drei Fällen gibt es zum einen ein Wirkungsereignis („vergiftet werden“, „erschlagen werden“, „am Kopf verletzt werden“) und jeweils eine Handlung, die zumindest einen kausalen Beitrag zum jeweiligen Ereignis geleistet hat. Für das jeweilige Wirkungsereignis, so nehme ich an, lässt sich jeweils eine Ursache im Sinne eines hinreichenden Bedingungsbündels feststellen, so dass das Eintreten des Ereignisses gesetzmäßig stattfand. Wenn aber Gesetzmäßigkeit so etwas wie Zufall ausschließt, läge in all diesen Fällen kein Zufall vor. Intuitiv würden wir allerdings nicht alle drei Fälle gleich bewerten. Um nun den Unterschied unserer Bewertung zu explizieren, soll ein Begriff von Koinzidenz eingeführt werden. Ein Kausalgesetz im Sinne der INUS-Theorie besteht aus einer Menge von Antezedensbedingungen, die, wenn sie zugleich in­ stanziiert sind, die Instanziierung des Wirkungsereignisses zur Folge haben. Damit ist allerdings nichts dazu gesagt, ob und wenn ja weshalb die verschiedenen Antezedensbedingungen zu einem Zeitpunkt instanziiert sind. Zunächst soll jede zeit­ gleiche Instanziierung von INUS-Bedingungen eine Koinzidenz genannt werden.12 Entgegen einer weitläufigen Verwendung sollte diese Rede von Koinzidenz noch nicht mit dem Begriff des Zufalls gleichgesetzt werden. Denn auch das zeit­ gleiche Eintreten einzelner INUS-Bedingungen erfolgt nicht grundsätzlich wahllos. So, wie die zeitgleiche Instanziierung der einzelnen INUS-Bedingungen eines minimal hinreichenden Bedingungsgefüges erklärt, weshalb das Wirkungsereignis eintrat, so kann man auch die zeitgleiche Instanziierung der einzelnen INUS-­ Bedingungen erklären. Allerdings müssen hier zwei Bedeutungen einer solchen Erklärung differenziert werden. Die additive Erklärung: seien A, B und C INUS-Bedingungen für ein P. Für jedes einzelne a, b oder c ließe sich wieder prinzipiell eine solche Kausalaussage bilden, die bei Vollständigkeit alle INUS-Bedingungen für dieses a, b oder c zitieren würde (z. B. DEF → A).

12 Man könnte versucht sein, jedes zeitgleiche Auftreten zweier Ereignisse eine Koinzidenz zu nennen. Eine solche würde dann auch vorliegen, wenn diese zwei Ereignisse in keinem Kausalzusammenhang stünden. Genau in diesem Sinne normiert David Owens den Ausdruck ‚coincidence‘, um ihn als Kontrastbegriff für den Begriff der Kausalität zu verwenden (Owens 1992). Hier soll aber im Gegensatz dazu der Ausdruck ‚Koinzidenz‘ für solche zeitgleichen Instanziierungen reserviert sein, die durch ihr gemeinsames Auftreten einen Kausalprozess in Gang setzen.

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Die summarische Erklärung: eine summarische Erklärung würde die gebündelte Instanziierung aller INUS-Bedingungen für ein Ereignis als explanandum haben. Die nicht-Erklärbarkeitsthese würde dann besagen, dass sich keine solche Erklärung der gebündelten Instanziierung als ganzer anführen lässt. Dies bedeutet dann, dass eine Koinzidenz additiv, aber nicht summarisch erklärt werden kann. Schließt dann aber auch jede Koinzidenz bereits Kontrolle aus? Nicht jede Koinzidenz in diesem Sinne kann Zufall sein, zumindest nicht in dem Sinne, dass Kontrolle dadurch ausgeschlossen ist. Dies kann durch folgendes Argument gezeigt werden: (P1) Notwendigerweise gilt: Jedes (erfolgsbezogene)  Tun unsererseits setzt (im Falle des Erfolgs) eine von mehreren INUS-Bedingungen. (P2) Wenn notwendigerweise die Instanziierung eines jeden Bedingungsbündels eine Koinzidenz ist und jede Koinzidenz Kontrolle ausschließender Zufall wäre, dann würden wir nie etwas kontrolliert handelnd hervorbringen. (P3) Wir können Dinge kontrolliert handelnd hervorbringen. (K) Eine Koinzidenz ist kein Kontrolle ausschließender Zufall. Prämisse 1 ergibt sich zunächst aus dem Begriff eines erfolgsbezogenen Tuns. Jedes Tun ist erfolgsbezogen, wenn ein von dem Tun unabhängiger Zustand in der Welt durch dieses Tun hervorgebracht worden sein muss, damit eine bestimmte Art eines solchen Tuns vorliegt. Natürlich ist dies dem Begriff des Erfolgsdeliktes sehr ähnlich, nur, dass erfolgsbezogenes Tun nicht auf strafrechtlich sanktioniertes Handeln eingeschränkt sein soll. Wenn es solche Handlungen gibt, dann bedeutet dies, dass ein erfolgreicher Vollzug eines solchen Handlungstyps die Verursachung des den Handlungstyp definierenden Erfolgszustandes impliziert. Dies wiederum bedeutet, dass das Tun Ursache sein muss. Gegeben die INUS-Theorie der Kausalität bedeutet dies dann aber zugleich, dass jedes erfolgsbezogene Tun eine INUSBedingung des den Erfolg definierenden Zustandes sein muss. Prämisse 2 besagt nun, dass der eingeführte Koinzidenzbegriff Kontrolle ausschließt und in dem Sinne mit dem Begriff des Zufalls gleichzusetzen ist. Durch indirekten Beweis, also den Nachweis, dass unter dieser Annahme ein Widerspruch abzuleiten ist, wird dann auf das Gegenteil geschlossen – also auf die These, die zu beweisen ist. Um nun jedoch den Widerspruch ableiten zu können, benötigen wir die weitere Prämisse 3, also die These, dass wir kontrolliert handelnd Dinge hervorbringen können. Diese Prämisse halte ich für selbstevident. Tagtäglich handeln wir und meist bringen wir dadurch Dinge in der Welt hervor. Wir kochen uns Kaffee, putzen unsere Zähne, wir saugen oder machen uns Notizen auf einem Zettel. Erstens sind dies alles handelnde Veränderungen und zweitens kontrollieren wir diese Veränderungen auch. Wir können uns Notizen auf einem Zettel machen.

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Es folgt dann also, dass eine Koinzidenz im eingeführten Sinne nicht per se Kontrolle ausschließt.13 Zugleich sollen Koinzidenzen als Ganze nicht summarisch erklärbar sein. Wie kann das aber sein, dass Koinzidenzen summarisch nicht erklärt werden können und dennoch Kontrolle zulassen? Obwohl es kein Gesetz gibt, das nochmals das gebündelte Auftreten selbst erklärt, gibt es regelhaft auftretende Koinzidenzen. Dies liegt auch daran, dass aus der Menge der einzelnen Bedingungen eines Bedingungsgefüges diachron relativ stabile Bedingungen an Kausalprozessen beteiligt sind (für das obige Beispiel des Hausbrandes bedeutet dies: Häuser bestehen nun mal für gewöhnlich auch aus brennbarem Material und das über einen längeren Zeitraum hinweg). Dies gilt auch für das Handeln anderer Menschen, das ebenfalls Teilbedingung sein kann (am Straßenverkehr nehmen auch andere Teil). Für die Kontrolle ist also nicht die vollständige Erklärbarkeit, sondern lediglich eine relativ zuverlässige Antizipierbarkeit notwendig. Damit lassen sich nun die Begriffe von Zufall, Kontrolle und Fähigkeit weiter erläutern.

C. Zufall und Kontrolle: Fähigkeiten als Grenzbegriff Bereits in Prämisse 3 ist der Ausdruck des ‚Könnens‘ verwendet worden. Wenn wir kontrolliert handelnd Dinge hervorbringen können, dann besitzen wir eine Fähigkeit. Den Begriff der Fähigkeit würde ich gerne wie folgt bestimmen: Fähigkeit: Ein Subjekt S besitzt die Fähigkeit zu Φen genau dann, wenn S in hinreichend vielen Fällen, in denen S beabsichtigt, zu Φen, auch tatsächlich erfolgreich Φt (wobei der Handlungstyp Φ konstitutive Folgen hat).14 Der regelhafte Erfolg ist also konstitutiv für das Verfügen über eine Handlungsfähigkeit. Die Rede von konstitutiven Folgen eines Handlungstyps besagt, dass es sich um ein erfolgsbezogenes Tun handelt. Wenn ein Subjekt S die Fähigkeit in diesem Sinne hat, zu Φen, dann soll auch gesagt werden, dass S den Vollzug von Φ kontrolliert. Bis hierhin ist allerdings noch nichts dazu gesagt, von welchen Bedingungen es etwa abhängt, ob man in hinreichend vielen Fällen im Verfolgen eines Zweckes auch erfolgreich sein wird. Jetzt setzen viele Handlungstypen für einen kontrollierten Vollzug sowohl bestimmte basale physische Fähigkeiten voraus als auch mehr oder weniger komplexes Kausalwissen. Von Letzterem ist dann beispielsweise abhängig, ob man eine Fähigkeit zu Φen besitzt oder nicht. Wenn mir der kausale Weg von bestimmten 13 Im Gegenteil, Koinzidenzen im eingeführten Sinne sind für unser erfolgsbezogenes Tun gerade konstitutiv. 14 Ich folge hier der Theorie Romy Jasters, wobei ich die Rede von „in hinreichend vielen Fällen, in denen S beabsichtigt zu Φen“ nicht weiter ausdeute. Jasters Definition, die sie mit einer Mögliche-Welten-Semantik belegt, lautet: „SUCCESSAA. an agent S has an agentive ­ability to ϕ if and only if S ϕ’s in a sufficiently high proportion of the relevant possible situations in which she intends to ϕ.“ (Jaster 2020, S. 95).

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Basishandlungen zu einem bezweckten Erfolg nicht bekannt ist, werde ich zumindest nicht in hinreichend vielen Fällen Erfolg haben. Es lässt sich nun also mit dem bereits eingeführten Begriff der Koinzidenz eine Untergruppe von Koinzidenzen bestimmen, die für das Thema dieses Aufsatzes relevant ist. Es gibt nämlich Koinzidenzen derart, dass sie nicht antizipiert werden können, da sie extrem selten oder auch extrem unregelmäßig auftreten. Zufällige Handlungsfolgen sollen nun solche genannt werden, zu deren handelnden Verursachung man keine Fähigkeit besitzt, aber auch nicht besitzen kann.15 Eine ähnliche Idee, allerdings ohne Vermittlung über den Fähigkeitsbegriff und bezogen auf strafrechtswissenschaftliche Zwecke, hatte bereits Johannes von Kries am Ende des 19. Jahrhunderts formuliert: „Es ist vielmehr noch erforderlich hinzuzufügen, daß das rechtswidrige Verhalten mit dem verursachten Erfolg in einem generellen Zusammenhange stehe, daß es, gemäß den allgemeinen Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft, generell geeignet sei, derartige Verletzungen herbeizuführen. Man kann die Verursachung in solchem Falle eine adäquate nennen und wird im Gegensatze dazu von einer nicht adäquaten oder zufälligen Verursachung sprechen, wenn ohne einen allgemeinen Zusammenhang nur bezüglich des Einzelfalles sich behaupten lässt, daß der Erfolg bei Fehlen einer gewissen rechtswidrigen Handlung nicht eingetreten wäre.“ (von Kries 1889: 532)

Der über den Begriff der Fähigkeit eingeführte Zufallsbegriff in Verbindung mit dem Begriff der Koinzidenz scheint die Idee der Geeignetheit sehr gut einzufangen.16 Nun scheint es ein Kontinuum zwischen absolut (zum Erreichen bestimmter Zwecke) geeigneten und absolut ungeeigneten (weil völlig zufällig mit den bezweckten Folgen verbundenen) Handlungen zu geben. Schematisch lässt sich das Ganze in folgender Tabelle darstellen: Ψen, um zu Φen (den für Φ konstitutiven Zustand herbeizuführen)17 Absolut geeignet

Mittel geeignet

Absolut ungeeignet

P(Φ|Ψ) = 1

P(Φ|Ψ) = 0.5

P(Φ|Ψ) = 0

15 Hier müsste streng genommen noch ein Zeitindex eingeführt werden. Es mag bestimmte Folgen bestimmten Tuns geben, über die wir insgesamt (alle Menschen) noch kein Wissen besitzen, so dass auch niemand de facto eine Fähigkeit zur Hervorbringung dieser Folgen besitzen kann. Das wäre aber verträglich damit, dass irgendwann später einmal ein solches Wissen verfügbar und also auch die Ausbildung der entsprechenden Fähigkeit möglich wäre. Solche Fälle müssten also unterschieden werden von prinzipiell zufälligen Folgen. 16 Wobei es hierbei um den Folgenaspekt bestimmter Handlungstypen geht. Natürlich kann die Geeignetheit oder Ungeeignetheit selbst über kategoriale oder dispositionale Eigenschaften der verwendeten Mittel eingefangen werden. 17 Die Ausdrücke „P(X|Y) = Z“ sind zu lesen als: unter der Bedingung, dass X vollzogen wird, wird auch Y vollzogen, in nahezu allen Fällen (für Z = 1), in etwa jedem zweiten Fall (für Z = 0.5), in nahezu keinem Fall (für Z = 0).

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Wichtig ist hierbei, dass man zwei Tätigkeiten unterscheidet. Zum einen das basalere Tun, welches wir kontrolliert ausführen können müssen und dann die sich daraus ergebenden Folgen, so dass man etwaig ein weiteres Tun, einen weiteren Handlungstyp vollzieht. Beispielsweise ist „Anschauen“ ein Handlungstyp, der allerdings nicht dazu geeignet ist, etwa ein Brot zu schneiden. An diesem Beispiel sieht man auch, dass die Ungeeignetheit des einen Tuns für das andere Tun nicht selbst ausschließt, dass es ein alternatives Tun gibt, das für das weitere geeignet ist. Bevor nun das Erarbeitete auf die Eingangsthematik des moralischen Zufalls angewendet wird, muss noch ein philosophisch grundlegender Unterschied angesprochen werden. Bezüglich des Verhältnisses zwischen Kausalzusammenhängen und handelnder Hervorbringung lassen sich nämlich zwei grundverschiedene Auffassungen vertreten. Die realistische Auffassung geht davon aus, dass die Welt kausal-gesetzmäßig geordnet ist und dass diese Tatsache wiederum erklärt, weshalb wir Dinge kontrolliert handelnd hervorbringen können. Die anti-realistische Auffassung hingegen geht davon aus, dass sich die Begriffe der Kausalität und damit auch die Idee einer kausal-gesetzmäßigen Welt gar nicht unabhängig des Handlungsbegriffs und des kontrolliert handelnden Hervorbringens etablieren lassen.18 Die Art und Weise, wie ich die Begriffe der Kausalität, des Zufalls, der Kontrolle und der Fähigkeit verwende, legt ein realistisches (im Sinne der Unabhängigkeit von menschlichen Leistungen) Verständnis nahe. Allerdings soll ein Realismus hiermit nicht behauptet werden. Es soll hier also offengelassen werden, ob der Begriff der Kausalität abhängig vom Handlungsbegriff ist oder aber handelndes Hervorbringen bereits eine bestimmte Charakteristik von Kausalprozessen voraussetzt. Der Anspruch ist also, dass die Analyse verträglich damit ist, dass man den Begriff der Kausalität selbst erst (so wie bei Hartmann) über den Begriff handelnden Hervorbringens einführt. Wenn man dies nämlich tut, dann wird die INUSIdee nachrangig. Wichtig ist festzuhalten, dass der Gewinn meines Vorschlags in der Bestimmung des Zufallsbegriffs mit Mitteln einer INUS-Theorie besteht. Dieser würde auch dann bestehen bleiben, wenn man zunächst einen Handlungsbegriff und davon abhängig den Kausalitätsbegriff einführen würde.

D. Moralischer Zufall der Folgen – ein Ausblick Möglicherweise handelt es sich bei den vorangegangenen Ausführungen überhaupt nicht um wesentlich Neues. Das ist zumindest nicht der Anspruch gewesen. Der Anspruch ist, vermittelst einer Kausalitätstheorie und der dann entsprechend verwendeten Begriffe von Koinzidenz, Kontrolle und Fähigkeit eine bereits gän 18

Klassisch hat diese Position einer sogenannten interventionistischen Kausalitätstheorie Georg Henrik von Wright vertreten in von Wright 1971. Aktuell wird eine ähnliche Position im Rahmen einer anti-realistischen Philosophie von Dirk Hartmann (Hartmann 2021) vertreten.

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gige, vielleicht auch in der Strafrechtspraxis etablierte Idee explizit zu machen und zu erklären. Wichtig ist zunächst zu betonen, dass diese Idee noch keine normativen Gesichtspunkte enthält. Was bisher zunächst nur festgehalten wurde ist: Viele Handlungssituationen sind derart, dass bestimmte Koinzidenzen eine gewisse Wahrscheinlichkeit haben. Wie mit diesen Fällen umzugehen ist, ist selbst eine normative Frage. Was folgt nun also aus dem Bisherigen für die drei Fallgruppen? Die erste Fallgruppe betrifft Fälle absolut ungeeigneter Handlungen. A schickt B durch ein Unwetter ins nächste Dorf, B wird von einem umkippenden Baum erschlagen. Hier ist zu fragen, ob der Handlungstyp ‚Jemanden durch ein Unwetter schicken‘ selbst geeignet dazu ist, den Tod der Person durch einen umkippenden Baum herbeizuführen. Das Kontrollprinzip gilt wenigstens für Fälle absolut ungeeigneter Handlungen (Unwetter). Sicherlich leistet die Ausgangshandlung des Schickens einen kausalen Beitrag zu dem Tod der Person, die von einem Baum erschlagen wird. Allerdings handelt es sich bei der den Tod verursachenden Koinzidenz um eine solche, die nicht regelhaft, kontrolliert herbeigeführt werden kann. Aus diesem Grund gibt es dann auch nicht so etwas wie eine Fähigkeit des Durch-ein-Unwetter-Schickens-und-dadurch-durch-einen-herabstürzendeBaum-Erschlagens.19 Wenn dem aber so ist, dann schließt diese Art von Zufall Kontrolle klarerweise aus, so dass das Kontrollprinzip als notwendiges Verantwortungselement greift. Dies bedeutet, in einem solchen Fall ist A für den Tod von B nicht verantwortlich zu machen.20 Die zweite Fallgruppe betraf Fälle absolut geeigneter Handlungen (Gift): A mischt B eine tödliche Menge Gift in den Kaffee, B trinkt den Kaffee und stirbt. Hierbei handelt es sich um Fälle absolut geeigneter Handlungen. Denn sofern die Menge Gift hinreichend für den Tod eines Menschen ist, wird das Beifügen des Giftes zum Kaffee (natürlich gegebenes Kontextwissen über die Person, um deren Kaffee es geht) regelmäßig zu dem beabsichtigten Effekt führen und also das Vergiften kontrolliert handelnd herbeigeführt werden können. Wenn aber die Handlung, die auch in diesem Fall einen ausschlaggebenden kausalen Beitrag geleistet hat, in dem Sinne geeignet ist, ist auch Kontrolle über den Kausalverlauf zu konzedieren und Zufall also auszuschließen. Dies bedeutet, dass in einem solchen Fall die Kontrollbedingung der Verantwortung erfüllt ist und zumindest nicht aufgrund des Kontrollprinzips Verantwortungszuschreibungen auszuschließen sind. Die letzte und auch schwierigste Fallgruppe betrifft die Mischfälle relativ geeigneter Handlungen (Stein): A wirft einen Stein in einen Wald, B läuft in die Flugbahn und wird schwer am Kopf verletzt. Natürlich hat auch hier die Ausgangshandlung 19 Man könnte meinen, dass sich diese Unmöglichkeit auch bereits an einer solchen sprachlichen Benennung zeigt. Allerdings wäre es natürlich denkbar, für diesen Handlungstyp ein eigenes Prädikat einzuführen, wie etwa das des Erschickens. 20 Das schließt nicht aus, dass A allein nur für das Ausbilden der Absicht, einen Menschen zu töten, und vielleicht auch dafür, tatsächlich zum Tod einer Person beigetragen zu haben, (moralischen) Tadel verdient.

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einen entscheidenden kausalen Beitrag geleistet. Sofern es sich bei der Lauf­strecke von B um eine gängige Joggingstrecke handelt, ist allerdings die Koinzidenz, dass B in die Flugbahn des Steines läuft, nicht ganz so unwahrscheinlich wie das Getroffen-werden von einem Blitz. In den Mischfällen von Handlungen, die weder völlig ungeeignet noch völlig geeignet dazu sind, bestimmte Zustände hervorzubringen, gibt es sicherlich einen Spielraum, wie mit diesen umzugehen ist.21 Hier kommen nun weitere normative Gesichtspunkte ins Spiel, die weitere zu klärende Fragen aufwerfen, wie etwa: – Ist Achtsamkeit geboten, dass man mit dem eigenen Handeln nicht einen Beitrag zur Koinzidenz eines einen Schaden verursachenden Bedingungsgefüges leistet? – Ist in manchen Fällen vielleicht sogar ein Unterlassen geboten? – Ist ein bestimmtes Handeln noch erlaubt oder schon verboten? – Falls verboten: rechtfertigt der zu vermeidende Schaden die Freiheitseinschränkung? – Falls erlaubt: rechtfertigt der zu vermeidende Schaden die Einschränkung durch die Achtsamkeitsanforderung? Ereignisse ein und desselben Typs können durch Verschiedenes verursacht sein. Eine Ursache im Sinne der INUS-Theorie ist ein Bündel an Bedingungen, so dass das gesamte Bündel minimal hinreichend für das Ereignis ist, die einzelnen Teilbedingungen hingegen notwendig dafür, dass das gesamte Bündel hinreichend sein kann. Für den Bereich menschlichen Handelns spielen Kausalzusammenhänge für wenigstens zwei Bereiche eine zentrale Rolle, nämlich für die Prognose und damit für Fragen der Machbarkeit / Realisierbarkeit bestimmter Absichten sowie für die retrospektive Bewertung von Handlungen.22

21 Es ist vielleicht wichtig zu bemerken, dass selbst für die eindeutigen Fälle, also die Extreme der vollen Kontrolle und Geeignetheit, und der völligen Kontrolllosigkeit und Ungeeignetheit, diese Merkmale für sich noch keine normativen Forderungen begründen. Allein aus der Behauptung, dass S das Hervorbringen des Zustandes d vollkommen kontrolliert hat, folgt noch nicht, dass S für d (gegeben weitere Verantwortungsbedingungen) verantwortlich ist und vielleicht Tadel oder Lob verdient. Allerdings scheint mir die normative Begründung in den eindeutigen Fällen weniger problematisch zu sein als in den Mischfällen. 22 Für diese beiden Funktionen und die dritte der Erklärung siehe Honoré / Gardner 2010: „One function, perhaps fundamental, is forward-looking: that of specifying what will happen and by what stages if certain conditions are present together. This use of cause serves to provide recipes and make predictions. It also yields the idea of a causal process. Another function is backward-looking and explanatory: that of showing which earlier conditions best account for some later event or state of affairs. A third function is attributive: that of fixing the extent of responsibility of agents for the outcomes that follow on their agency or intervention in the world“.

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Für prospektive Zwecke ist Kausalwissen wichtig. Dieses erlangen wir entweder methodisch kontrolliert in Experimentalpraxen (hier spielt der interventionistische Kausalbegriff eine Rolle) oder im Alltag durch ein Ausprobieren (oder aber durch das Zeugnis anderer über ein bereits erfahrenes Regularitätswissen). Auf Grundlage von Kausalwissen in Zusammenhang mit Überzeugungen über Normatives lassen sich dann wiederum Gebots-, Erlaubnis- oder Verbotsnormen begründen. Handeln hat Folgen, intendierte wie nicht intendierte. Diese Folgen werden immer (gemäß der INUS-Theorie) durch hinreichende Bedingungsgefüge verursacht, von denen die Handlung ein Element war. Sofern bei einem Ereignis nachweislich nur ein hinreichendes Bedingungsgefüge realisiert war, war die Handlung dadurch automatisch notwendige Bedingung des Ereignisses, so dass dieses durch Unterlassen hätte vermieden werden können. Damit ein solches Bedingungsgefüge kausale Arbeit leisten kann, müssen alle jeweils notwendigen Bedingungen gleichzeitig instanziiert sein. Dass dies der Fall ist, ist aber selbst nicht nochmal durch ein weitergehendes Gesetz determiniert, genauer: das gemeinsame Auftreten aller Bedingungen lässt sich zwar additiv, aber nicht summarisch erklären. Das gleichzeitige Instanziiertsein der verschiedenen Bedingungen kann damit zunächst als Koinzidenz gefasst werden. Obwohl es kein Gesetz gibt, das nochmals dieses gebündelte Auftreten selbst erklärt, gibt es regelmäßig auftretende Koinzidenzen. Dies liegt auch daran, dass aus der Menge der einzelnen Bedingungen eines Bedingungsgefüges diachron relativ stabile Bedingungen an Kausalprozessen beteiligt sind. Dies gilt auch für das Handeln anderer Menschen, das ebenfalls Teilbedingung sein kann. Der Zufallsbegriff kann nun in Verbindung mit dem Begriff der Kontrolle dadurch erläutert werden, dass man den Begriff der Fähigkeit mit hinzunimmt. Eine Person besitzt die Fähigkeit den Handlungstyp Φ zu vollziehen genau dann, wenn sie in hinreichend vielen Fällen, in denen sie beabsichtigt, Φ zu vollziehen, Φ auch tatsächlich erfolgreich vollzieht. Nun gibt es verschiedene Merkmale, die festlegen, ob und weshalb eine Person eine Fähigkeit besitzt oder nicht. Das Wissen über Kausalverläufe etwa ist hierfür zentral. Wenn eine Person eine bestimmte Handlungsfähigkeit deshalb nicht besitzt, weil ein regelmäßiger erfolgreicher Vollzug der Handlung nicht möglich ist, weil der Erfolg von einer Koinzidenz abhängt, die nicht regelhaft antizipiert werden kann / auf die man sich nicht regelhaft verlassen kann, dann handelt es sich um eine zufällige Koinzidenz. In diesem Fall wäre dann auch nicht mehr von Kontrolle zu reden. Vielleicht hat A den Onkel B ziemlich unter der Kontrolle und weiß genau, wie A B dazu bringen kann, bestimmtes zu tun und sicherlich ist auch die Todesfolge eines Menschen, nachdem er von einem Baum erschlagen wurde, eine ganz regelhafte Ereignisfolge. Aber dass eine Person von einem Baum erschlagen wird, nachdem sie mit der Absicht nach draußen geschickt wurde, von einem Baum erschlagen zu werden, ist kein Ereignisverlauf, der in dem Sinne kontrolliert wird, dass eine Handlungsfähigkeit vorliegt, dass also in hinreichend vielen Fällen, in denen die Person dies beabsichtigt, ihr Tun auch zum Erfolg führt.

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Nun könnte man einwenden, dass wir dies aber vielleicht ja doch können, wir wissen nur noch nicht genau, wie wir das Herabstürzen eines Baumes genau vorhersehbar machen. Genau deshalb ist das jeweilige Wissen auch zentral für die Kontrollierbarkeit und damit für den Begriff des Zufalls, der eine Bewertung ausschließt. Ändert sich also etwa unser Wissen und damit auch der Status der Kon­ trollierbarkeit bestimmter Ereignisverläufe, dann wird sich auch unser normativer Umgang mit solchen Fällen ändern. Um die Ausgangsfragen noch einmal aufzugreifen: Frage 1: Wie hängen Zufall und Kontrolle miteinander zusammen? Frage 2: Wann und weshalb spielen Zufall und Kontrolle eine und wann keine Rolle für die Bewertung des Handelns? Ad 1: der hier definierte Zufallsbegriff schließt Kontrolle aus. Dies liegt daran, dass er so bestimmt ist, dass er eine regelhafte, wiederholbare zuverlässige handelnde Hervorbringung eines bestimmten Zustandes verunmöglicht. Umgekehrt bedeutet das aber nicht, dass Kontrolllosigkeit immer auch auf einen solchen Zufall zurückzuführen ist. Viele – wenn nicht alle – Fähigkeiten müssen erst erworben werden, und, solange ich eine gewisse Fähigkeit nicht besitze, habe ich auch keine Kontrolle über den entsprechenden Handlungstyp und zwar auch dann nicht, wenn kein Zufall involviert ist. Ad 2: Der Zufall spielt im Sinne des Verantwortungsausschlusses dann eine Rolle, wenn er die Kontrollierbarkeit unmöglich macht. In den Fällen hingegen, in denen er Kontrolle nicht prinzipiell ausschließt, kommen zusätzliche normative Kriterien mit ins Spiel. Für die Verantwortungszuschreibung ignoriert werden kann ein Zufall dann, wenn er zumindest prinzipiell hätte antizipiert werden können. Die Antizipierbarkeit wiederum bringt die Kontrollierbarkeit der Verhinderung mit sich. Wenn ich einen Stein in einen Wald werfe, dann mag es zwar Zufall sein, dass genau in dem Moment eine Joggerin in die Flugbahn läuft. Allerdings ist eine solche Koinzidenz denkbar (Menschen gehen eben manchmal im Wald joggen), so dass die Verletzung durch einfaches Unterlassen hätte vermieden werden können. Das bedeutet, in diesen Fällen ist die Vermeidung etwa eines Schadens kontrollierbar. Nun ließe sich einwenden, dass dies doch auch für die Fälle ganz strikter Zufälle und völlig ungeeigneter Handlungen gilt. Hätte nicht auch der Neffe den Tod des Onkels vermeiden können, hätte er ihn nicht in das Unwetter geschickt? Dies trifft zwar zu, allerdings kommt hier ein normativer Gesichtspunkt ins Spiel. Wenn man nämlich so argumentiert, ließen sich sehr viele Handlungen verbieten, da viele Handlungen potentiell Schäden verursachen können, gegeben solche Zufälle. Hier müsste dann aber zwischen dem Wert, möglichst viele Handlungen zuzulassen und damit individuelle Freiheit zu ermöglichen, und dem Schutz vor den etwaigen Schäden abgewogen werden.23 23

Im Strafrecht ist hierbei von dem Setzen eines erlaubten Risikos die Rede.

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Literatur Battistoni, Giulia / Meyer, Thomas: Handlung, Vorsatz, Schuld. Karl Ludwig Michelet als Interpret der hegelschen Handlungstheorie, in: Hegel-Studien 55 (2021), S. 41 ff. Burghardt, Boris: Zufall Und Kontrolle. Eine Untersuchung zu den Grundlagen der moral­ philosophischen und strafrechtlichen Zurechnung, Tübingen 2018. Hartmann, Dirk: Neues System der philosophischen Wissenschaften im Grundriss. Band II. Mathematik und Naturwissenschaft, Mentis 2021. Hommen, David: Mentale Verursachung, Innere Erfahrung und handelnde Personen. Eine Verteidigung des Epiphänomenalismus, Mentis 2013. Honoré, Antony / Gardner, John: Causation in the Law, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2010 Edition), Edward N. Zalta (ed.), https://plato.stanford.edu/archives/ fall2019/entries/causation-law/ (zuletzt abgerufen: 30. 12. 2021). Hüttemann, Andreas: Ursachen, 2. Aufl., Berlin / Boston 2018. Jaster, Romy: Agent’s Abilities, Berlin 2020. Kries, Johannes von: Über die Begriffe der Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit und ihre Bedeutung im Strafrecht, in: ZStW 9 (1889), S. 528 ff. Mackie, John L.: Causes and Conditions, in: American Philosophical Quarterly 2 (1965), S. 245 ff. Mackie, John L.: The Cement of the Universe, Oxford 1974. Meyer, Thomas: Verantwortung und Verursachung. Eine moral- und rechtsphilosophische Studie zu Hegel, Hamburg 2020. Michelet, Karl Ludwig: Das System der philosophischen Moral, mit Rücksicht auf die juri­ dische Imputation, die Geschichte der Moral und das christliche Moralprinzip, Berlin 1828. Nagel, Thomas: Moral Luck, in: Proceedings of the Aristotelian Society Suppl. I (1976), S. 137 ff.; wieder abgedruckt in: ders., Mortal Questions, Cambridge 1979, S. 24 ff. Nelkin, Dana K.: Moral Luck, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2021 Edition), Edward N.  Zalta  (ed.), https://plato.stanford.edu/archives/sum2021/entries/moralluck/ (zuletzt abgerufen: 30. 12. 2021). Owens, David: Causes and Coincidences, Cambridge 1992. Williams, Bernard: Moral Luck, in: Proceedings of the Aristotelian Society Suppl. I (1976), S. 115 ff.; wieder abgedruckt in: ders., Moral Luck. Philosophical Papers 1973–1980, Cambridge 1981, S. 20 ff. Wright, Georg Henrik von: Explanation and Understanding, 1971. Wright, Richard: The NESS Account of Natural Causation: A Response to Criticisms, in: Kahmen, Benedikt / Stepanians, Markus (Hrsg.), Critical Essays on „Causation and Responsibility, Berlin / Boston 2013, S. 13 ff.

Zufällig erlittenes Leid und der personalisierte Unrechtsbegriff des Strafrechts Boris Burghardt, Berlin1

A. Einleitung Der Beitrag möchte drei Thesen vorstellen und erläutern: 1. Zufällig erlittenes Leid wird von den Menschen in den normativen Basis­ kategorien von Recht und Unrecht bzw. gerecht und ungerecht erfahren. Diese subjektive Erfahrung ist unabhängig von der Rückführbarkeit des Leids auf andere Menschen als verantwortliche Verursacher und drängt auf eine Kontrastierung, nicht zuletzt durch das Recht. 2. Der strafrechtliche Unrechtsbegriff ist durch eine Verkürzung gekennzeichnet. Praktisch unangefochtener Ausgangspunkt strafrechtlichen Denkens ist, dass strafrechtliches Unrecht nur durch Menschen verwirklicht werden kann. Diese Personalisierung wird als Ausdruck einer Rationalisierung gedeutet. Übersehen wird allerdings, dass der strafrechtliche Unrechtsbegriff dadurch die subjektive Unrechtserfahrung nicht adressiert, die bereits in dem zufällig erlittenen Leid liegt. Diese Beschränkung des Unrechtsbegriffs führt zu „blinden Flecken“ der strafrechtlichen Diskussion. 3. Die Defizite des herrschenden Unrechtsbegriffs werden noch einmal potenziert, wenn – wie verschiedentlich vorgeschlagen – der Unrechtsbegriff nicht nur auf menschliches Verhalten beschränkt, sondern überdies an weitere Voraussetzungen geknüpft wird. In einer solchen zusätzlichen Personalisierung des Unrechtsbegriffs offenbaren sich grundsätzliche Missverständnisse über Sinn und Zweck strafrechtlicher Normen und Kategorienbildung.

1 Der Beitrag beruht in weiten Teilen auf Überlegungen aus meiner Habilitationsschrift, vgl. Burghardt, Zufall und Kontrolle, S. 56 ff.

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B. Der Zufall als existenzielle Unrechtserfahrung I. Die Geschichte von Hiob Die erste These soll anhand der Geschichte von Hiob verdeutlicht werden. Hiob wird im gleichnamigen Buch des Alten Testaments als mustergültig gläubiger und damit tugendhafter Mann vorgestellt, dessen Vorbildlichkeit in seiner sozialen Stellung, in der allgemeinen Anerkennung und dem familiären Glück seine Entsprechung findet.2 Als Gott in einer Diskussion mit Satan Hiob als Beispiel für einen Menschen anführt, der Gott verehre, wie es sich ziemt, fordert der Teufel Gott heraus: Hiob verhalte sich nur deswegen so vorbildlich, weil es ihm so gut gehe. Wenn Gott Hiob alles nehme, werde sich zeigen, dass es mit seiner Vorbildlichkeit und Gottesverehrung nicht allzu weit her sei.3 Gott lässt sich tatsächlich auf diese Wette zu Lasten von Hiob und seiner Familie ein. In einer Reihe von Schicksalsschlägen nimmt er Hiob alles mit Ausnahme des nackten Lebens: Die Sabäer stehlen Rinder und Esel, ein Feuer fällt vom Himmel und tötet die Schafe, die Chaldäer rauben seine Kamele, sein Gesinde kommt bei diesen Ereignissen zu Tode, ein Unwetter lässt das Haus eines Sohnes einstürzen, dabei sterben sämtliche Kinder Hiobs, sieben Söhne und drei Töchter.4 Schließlich erkrankt Hiob selbst an „bösen Geschwüren von der Fußsohle an bis auf seinen Scheitel“.5 Selbst seine Frau beginnt nun, ihn zu verachten. Als sie versucht, ihn dazu zu überreden, dem Gott zu lästern, der derartiges Unglück über ihn gebracht hat, kann sich Hiob dazu nicht entschließen.6 Aber als ihn drei Freunde aufsuchen, um ihm Trost zu spenden, wird deutlich, dass es ihm nicht gelingt, wieder ins Leben zu finden. Hiob hadert mit seinem Schicksal und mit Gott.7 Die Freunde beschwören Hiob: Er dürfe Gott keine Vorwürfe machen. Vielmehr solle er in sich gehen und sich fragen, was er falsch getan habe, dass Gott ihn derart strafe.8 Aber Hiob beharrt darauf, unschuldig zu sein. Was ihm geschehen ist, sei daher Unrecht. Denn er – Hiob – habe stets alle Gebote Gottes beachtet. Es dürfe nicht sein, dass er alles verliere, während andere sich weiter ihres Lebens freuten, obwohl sie sich viel schlechter verhielten.9 2

Hiob, Kapitel 1, Vers 1. Vgl. dazu Oberhänsli-Widmer, Hiob in jüdischer Antike und Moderne, S. 21. 3 Hiob, Kapitel 1, Verse 6–12. Vgl. dazu z. B. Lux, Hiob, S. 58 ff.; Müller, Das Hiobproblem, S. 41 ff. 4 Hiob, Kapitel 1, Verse 13–19. 5 Hiob, Kapitel 2, Vers 7 (Lutherbibel 2017). 6 Hiob, Kapitel 2, Verse 9 f. 7 Hiob, Kapitel 2, Verse 11–13, Kapitel 3. 8 Hiob, Kapitel 4 und 5. 9 Hiob, Kapitel 9, Vers 17, Kapitel 10, Verse 7 und 15; Kapitel 13, Vers 21.

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Die Freunde erklären Hiob daraufhin wortreich und mit zunehmender Schärfe, es sei ausgeschlossen, dass ihm sein Schicksal schuldlos widerfahre. Wenn er sein Unglück nicht dadurch verdient habe, was er zuvor getan habe, so doch zumindest dadurch, wie er sich danach verhalten habe, durch seine uneinsichtige Reaktion auf das erlittene Leid.10 Daraufhin wird Hiob erst recht wütend. Er besteht darauf, im Recht zu sein und nennt Gott einen Verbrecher, weil er zugelassen habe, dass ihm so viel Unglück geschehen sei.11 Nun tritt unvermittelt noch eine weitere Person auf, der junge Elihu, der Hiob zurechtweist. Er dürfe nicht an Gottes Gerechtigkeit zweifeln, nur weil sich diese nicht nach den kurzsichtigen Maßstäben der Menschen ermessen lasse.12 Genau das ist es, was dann auch Gott selbst Hiob noch einmal vorführt: Seine Gerechtigkeit funktioniert nach anderen, umfassenderen Maßstäben als diejenige, die Hiob geltend macht.13 Das sieht endlich auch Hiob ein und leistet Abbitte.14 Und so wendet Gott am Ende noch einmal Hiobs Geschick und gibt ihm schließlich „doppelt soviel, wie er gehabt hatte“.15

II. Deutung des Hiobs-Mythos Die Geschichte Hiobs wird traditionell als eine Auseinandersetzung mit der Frage gedeutet, wie die Existenz Gottes als allmächtige und gütige Kraft mit dem Leiden in der Welt vereinbar ist (Problem der Theodizee).16 Die Erzählung ist aber auch einer säkularen Deutung zugänglich. Danach erzählt die Geschichte Hiobs von allgemein menschlichen Grunderfahrungen, die sich aus dem religiösen Kontext lösen lassen. Dass Hiob ein gläubiger Mensch ist, dessen Glauben durch die Schicksalsschläge herausgefordert wird, ihm zugleich aber spezifische Möglichkeiten eröffnet, mit dem erlittenen Leid umzugehen, ist für diese Deutung sekundär. Entscheidend sind bei einem säkularen Verständnis der Geschichte vier Punkte: 10

Hiob, Kapitel, 4, Vers 7, Kapitel 8, Verse 3, 5 f., 20, Kapitel 11, Vers 6, Kapitel 22, Verse 4 f., 23, 30. 11 Hiob, Kapitel 16, Vers 17, Kapitel 27, Vers 6, Kapitel 31, Vers 6. 12 Hiob, Kapitel 33, Verse 8–12, Kapitel 36, Verse 23 und 26, Kapitel 37, Verse 5, 23 f. 13 Vgl. insbesondere Hiob, Kapitel 40, Vers 8. Zum Verhältnis der Rede Elihu und Gottes Erwiderung auf Hiob existieren unterschiedliche Deutungen, vgl. z. B. Keel, Jahwes Entgegnung an Ijob, S. 11; Kaiser / Mathys, Das Buch Hiob, S. 125 f.; van Oorschot, in: Krüger u. a. (Hrsg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen, S. 179 ff.; Remus, Menschenbildvorstellungen im Ijob-Buch, S. 64. 14 Hiob, Kapitel 42, Vers 3.  15 Hiob, Kapitel 42, Vers 10. 16 Vgl. z. B. Kaiser / Mathys, Das Buch Hiob, S. 25; Kegler, in: Westermann (Hrsg.), Der Aufbau des Buches Hiob, S. 21 f.; Lux, Hiob, S. 14 ff.

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1. Schicksalsschläge als Zufall Die Schicksalsschläge, die Hiob erleidet, sind für ihn Zufall, und zwar in dem Sinne, dass er keinerlei Kontrolle über sie ausübt. Der Hiob-Stoff erzählt unabhängig von jeder religiösen Deutung davon, dass der Mensch dem Zufall ausgeliefert ist: Unser Leben kann in jedem Moment durch Kräfte von Grund auf umgestürzt werden, über die wir keine Kontrolle haben. Das Buch Hiob beschreibt die Erfahrung des existenziellen Ausgeliefertseins der Menschen. 2. Schicksalsschläge als Unrechtserfahrung Die Hiob-Geschichte erzählt zugleich etwas darüber, wie wir darauf reagieren, wenn sich dieses Ausgeliefertsein in der Weise manifestiert, dass unser Leben durch Ereignisse jenseits unserer Kontrolle umgestürzt wird. Hiob erfährt die Schicksalsschläge, die ihn treffen und sein Leben verwüsten, nicht einfach als Leid. Er erfährt sie als Unrecht. Für Hiob ist dies die prägende Dimension seines Leids. Sie nimmt in seiner Klage und in den Streitgesprächen weit mehr Raum ein als der erlittene Verlust selbst.17 Er ist überzeugt: Ihm ist Unrecht geschehen. Deshalb klagt er nicht bloß; Hiob klagt an. Unablässig kehrt er in der Beschreibung seines Leids zu den Kategorien von Recht und Unrecht zurück.18 Dabei ist der Adressat seiner Anklage Gott. Es wäre aber ein Missverständnis zu glauben, dass Hiob das zufällig erlittene Leid nur deswegen als Unrecht erfährt, weil er gläubig ist. Sein Glaube gibt ihm einen Adressaten, an den er seine Klage über das erfahrene Unrecht richten kann. Die Erfahrung des Leids als Unrecht ist aber unabhängig von der Gläubigkeit der Person, die Leid erfährt. Unabhängig davon, ob wir an einen Gott oder an ein Walten höherer Mächte glauben oder für solche metaphysischen Anwandlungen gänzlich unmusikalisch sind, evaluieren wir das Leid, das unser Leben in tiefgreifenderem Maß nachteilig prägt, in normativen Basismaßstäben der Ungerechtigkeit und des Unrechts. „Warum ich?“, ist der universell und zeitenübergreifende Ausruf derjenigen, die ein Schicksalsschlag trifft.19 Hiob empfindet sein Schicksal nicht deshalb als Unrecht, weil er an Gott glaubt und in ihm den eigentlichen Urheber allen Geschehens erkennt, sondern er hadert mit Gott, weil er sein Schicksal als Unrecht empfindet.

17

Vgl. in diesem Sinne auch Bittner, in: Krüger u. a. (Hrsg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen, S. 458; Hoffman, in: Krüger u. a. (Hrsg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen, S. 22 f.; Kaiser / Mathys, Das Buch Hiob, S. 65; Westermann, Der Aufbau des Buches Hiob, S. 76. 18 Vgl. Hiob, Kapitel 13, Vers 18, Kapitel 16, Vers 21, Kapitel 19, Vers 6, Kapitel 26, Vers 2, Kapitel 27, Vers 6. 19 Vgl. Shklar, The Faces of Injustice, S. 51.

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3. Der Kern der Unrechtserfahrung: Verdienstwidrigkeit des Leids Um den Freunden zu beweisen, dass ihm Unrecht widerfahren sei, betont Hiob seine Unschuld und seine tadellose Lebensführung. Er will damit verdeutlichen, dass er sein Schicksal nicht verdient habe.20 Dabei rekurriert Hiob nicht auf einen bestimmten Verdienstbegriff. Er maßt sich nicht an, angeben zu können, was er verdient. Er beharrt lediglich darauf, dass das ihm Geschehene unverdient sei. Sein Begriff setzt unspezifisch voraus, dass Recht und Gerechtigkeit notwendig einen Bezug zum individuellen Verdienst aufweisen müssen und dass sich das zufällig erlittene Leid einer Person nicht sinnvoll als das Verdiente verstehen lässt. Dass ihn das Erlittene unverdient trifft, verdeutlicht Hiob durch den Vergleich mit dem Schicksal anderer. Die Verdienstfremdheit des erlittenen Leids manifestiert sich in seiner Gleichheitswidrigkeit. Diese Unrechtserfahrung ist in ihrem Kern unabhängig davon, ob sich die nachteilige Veränderung der Lebensumstände jemand anderem als dessen Werk zuschreiben lässt. Auch insoweit ist die Geschichte von Hiob verallgemeinerbar und unabhängig von der glaubensbedingten Rückführung allen Geschehens auf einen allmächtigen Gott. Die Berechtigung zu der Frage „Warum ich?“ hängt nicht davon ab, ob jemand eine andere Person für den Schicksalsschlag verantwortlich machen kann. Die Ursache des Leids ändert nichts an dem intersubjektiv anzuerkennenden Umstand, der das Kernelement der subjektiven Unrechtserfahrung ausmacht: das verdienstfremde Erleiden einer gravierend nachteiligen Veränderung der Lebensumstände. Die Behauptung, mir sei Unrecht geschehen, muss daher nicht notwendig mit der Aussage verbunden werden, jemand habe mir Unrecht getan.21 „Life is unfair“ – diese Redensart enthält nicht ohne Grund beides: Dass wir gelernt haben, an das Schicksal könnten vernünftigerweise keine normativen Erwartungen gestellt werden, und zugleich das Eingeständnis, dass wir nicht umhinkönnen, das, was uns geschieht, dennoch in normativen Basiskategorien zu bewerten. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten: Der Kern der subjektiven Erfahrung des Zufalls als Unrecht ist, dass dem Betroffenen verdienstfremd etwas widerfährt, das seine Lebensführung nachteilig verändert. Diese Erfahrung ist unabhängig davon, ob das Geschehen einem anderen Menschen als sein Werk zugeschrieben werden kann. Sie hängt lediglich davon ab, dass gewisse normative Grunderwartungen bestehen. Das ist aber nicht nur gegenüber anderen Menschen oder sogar nur gegenüber Personen der Fall, die gewisse kognitive und intellektuelle Voraussetzungen erfüllen, sondern bereits gegenüber dem Leben selbst. Es gibt  – gleichsam als Kehrseite zu der Erfahrung des existenziellen Ausgeliefertseins an ein Schicksal, 20

Vgl. Hiob, Kapitel 21, Verse 7–9, 22–25. Ähnlich z. B. Kleinig, The Concept of Desert, S. 71; Rössler, in: Münkler / Llanque (Hrsg.), Konzeptionen der Gerechtigkeit, S. 348. 21

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das wir nicht kontrollieren – eine individuelle Grunderwartung an das Leben, dass es uns im Großen und Ganzen fair behandeln werde oder doch jedenfalls nicht völlig unfair. Melvin J. Lerner hat das als „belief in a just world“ bezeichnet.22 Die Vernünftigkeit dieser Erwartung ist sekundär. Sie betrifft die Frage nach dem angemessenen individuellen und kollektiven Umgang mit der Unrechtserfahrung, aber nicht die Angemessenheit der Erfahrung selbst. 4. Unrechtserfahrungen verlangen nach normativer Kontrastierung Hiob ist es nach den Schicksalsschlägen unmöglich, seinen Schmerz zu vergessen und die Kraft für ein Weiterleben zu finden. Als gläubiger Mensch wusste er stets um sein Ausgeliefertsein. Nun aber hat dieser Gedanke alles Tröstliche verloren, denn Hiob hat Gottes Wirken als ungerecht erfahren. Sein Los ist in der Hand von Kräften, die Glück und Unglück willkürlich verteilen. Hiob verliert den Glauben, durch sein Handeln das Gelingen seines Lebens in bedeutsamer, nachhaltiger Weise beeinflussen zu können. Damit fällt er aus der Welt. Erst nachdem Gott selbst ihm wieder vor Augen geführt hat, dass sein Leid zumindest aus der Perspektive Gottes nicht wahl- und sinnlos ist, selbst wenn sich diese Perspektive dem Menschen nicht erschließt, findet Hiob wieder in das Leben zurück. Auch in dieser Hinsicht erzählt das Buch Hiob von einer menschlichen Grunderfahrung, die sich jenseits eines religiösen Kontextes verstehen lässt. Die Erkenntnis, dass wir in unserem Lebensglück von Kräften abhängig sind, die wir nicht beeinflussen können und die ohne (erkennbaren) Bezug zu unserem Tun stehen, ist trivial. Ihre Trivialität mindert aber nicht ihre Schrecklichkeit. Es ist eine Einsicht, die dann, wenn sie ernst genommen wird, nur schwer erträglich ist. Wir müssen ihre Bedeutung schmälern, sie vergessen, in den Hintergrund drängen, sie darf unser Selbstbild nicht beherrschen, wenn wir Tatkraft entfalten und glücklich sein wollen. Dazu bedienen wir uns, was sich in Anlehnung an ­Hermann Lübbe als Zufallsbewältigungspraktiken bezeichnen lässt.23 Unter diesen Begriff lassen sich sämtliche Lebenspraktiken fassen, die funktional zumindest auch als Mittel verstanden werden können, um mit der Zumutung umzugehen, die darin liegt, dass unser Leben jederzeit dem Zufall ausgeliefert ist und dass der Einfluss des Zufalls sich ungleich und ohne Rücksicht auf Verdienst geltend macht. 22 Lerner, The effect of responsibility and choice on a partner’s attractiveness following failure, S. 178 ff., 319 ff.; ders., The Belief in a Just World. 23 Lübbe selbst spricht von „Kontingenzbewältigungspraxis“, vgl. Lübbe, in: Oelmüller u. a. (Hrsg.), Diskurs: Religion, S. 323 f.; ders., Religion nach der Aufklärung, S. 149 f., 160. Odo von Marquard spricht in einem ähnlichen Zusammenhang von „Entlastungen“, vgl. Marquard, Apologie des Zufälligen, S. 13.

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Dabei können drei Typen von Zufallsbewältigungspraktiken unterschieden werden: (1) Es lassen sich Maßnahmen ergreifen, um den Einfluss des Zufalls faktisch zu verringern (externe Zufallsbewältigungspraktiken). (2) Es können Sinndeutungen bereitgestellt werden, welche die Hinnahme des Zufallsgeschehens erleichtern (interne Zufallsbewältigungspraktiken). (3) Das als Unrecht empfundene Geschehen kann normativ kontrastiert werden. Im Folgenden konzentrieren sich die Ausführungen auf den letzten Typus der Zufallsbewältigung, weil er eine Funktion des Rechts betrifft. Normative Kontrastierung meint, dass dem zufallsgeprägten Ist-Zustand ein kontrafaktischer Soll-Zustand gegenübergestellt wird, der als Bewertungsmaßstab des faktischen Geschehens dient und zugleich Anleitung bieten soll, wie mit dem zufallsgeprägten Ist-Zustand praktisch umzugehen ist. Normative Kontrastierung erfolgt vor allem durch Moral und Recht und kann unterschiedlich weit greifen. Sie kann sich auf die Klarstellung beschränken, dass ein Geschehen, das eine Person nicht kontrolliert, ihren normativen Status nicht beeinflusst. Das zufällig erlittene Leid Hiobs ändert nichts an der Bewertung seiner Person als einem nach Lebensführung und Charakter vorbildlichen Mann. Die ihm geschuldete soziale Achtung bleibt von den Schicksalsschlägen unberührt. Darüberhinausgehend kann normative Kontrastierung ausdrücklich Handlungsgründe für die Überwindung des zufallsgeprägten Ist-Zustands schaffen und damit in einem weitergehenden Sinne aufheben. Dies gelingt, indem das Zufallsgeschehen als „schlecht“, „ungerecht“, als „rechtswidrig“, als „Unrecht“ bewertet wird. Zumeist verknüpfen Recht und Moral diese Bewertung zudem mit der Aussage, dass Ausgleichs- und Kompensationsleistungen wünschenswert oder sogar geboten sind. Besonders offensichtlich ist eine normative Aufhebung des Zufallsgeschehens, wenn das für den Geschädigten zufällige Geschehen anderen Personen als ihr Verhalten bzw. Folge ihres Verhaltens zugerechnet und eine Ersatzpflicht begründet wird. Die Geschichte von Hiob erzählt nicht zuletzt, dass derjenige, dem zufällig Leid widerfährt, die Erwartung hat, dass sein Leid durch Moral und Recht normativ kontrastiert werde. Moral und Recht sollen anerkennen, dass ihm Schlimmes geschehen ist, ohne dass er dafür etwas konnte und ohne dass das widerfahrene Unglück seinen sozialen Anspruch auf Anerkennung irgendwie schmälert. Zugleich erzählt die Hiob-Geschichte beispielhaft, was geschehen kann, wenn die soziale Umwelt dem Leidenden diese normative Kontrastierung durch Moral oder Recht versagt.24 Wenn moralische oder rechtliche Beurteilungen ihrer­seits 24

Vgl. Hiob, Kapitel 19, Verse 11–22, Kapitel 30, Verse 9–11.

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Gesichtspunkte berücksichtigen, die zufällig und daher verdienstfremd sind, dann fügen sie der primären Unrechtserfahrung durch zufälliges Geschehen noch eine weitere Dimension hinzu. Rechtliche Beachtung findet dieses Phänomen in der Kriminologie bereichsweise unter dem Stichwort der sekundären Viktimisierung.25

III. Zwischenfazit Die Hiob-Geschichte zeigt, dass zufällig erlittenes Leid subjektiv als Unrecht erfahren wird, weil es verdienstfremd erlitten wird. Als Unrechtserfahrung verlangt das zufällig erlittene Leid nach Aufhebung. Dabei richtet sich der Blick der Betroffenen nicht zuletzt auf Moral und Recht, die das Leid normativ kontrastieren können. Dies kann insbesondere dadurch geschehen, dass das zufällig erlittene Leid als Handlungsgrund für die Gemeinschaft oder einzelne Mitmenschen anerkannt wird, um Maßnahmen zu ergreifen, die den Betroffenen ein Weiterleben erleichtern.

C. Der strafrechtliche Unrechtsbegriff I. Unrecht als Grundkategorie strafrechtlicher Systembildung Im Strafrecht ist die Kategorie des Unrechts ein Grundbegriff mit zentraler Bedeutung für die Systembildung und Strukturierung strafrechtlichen Denkens. Die Details sind hier nicht von Interesse. Es reichen insoweit die folgenden Hinweise: Charakteristisch für das deutsche Strafrechtsdenken ist seit vielen Jahrzehnten, wenngleich nie völlig unumstritten, die Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld. Unrecht ist danach grundsätzlich die vorgängige Kategorie und erfasst die Verwirklichung eines in einem Strafgesetz tatbestandlich erfassten Geschehens aufgrund einer entsprechenden Willensentscheidung, ausnahmsweise die tat­bestandlich geregelte fahrlässige Herbeiführung der Verletzung oder konkreten Gefährdung eines Rechtsguts, jeweils sofern nicht besondere Umstände bestehen, die das eigentlich als Unrecht vertypte Handeln ausnahmsweise als rechtlich erlaubt erscheinen lassen. Die Kategorie der Schuld konkretisiert dann, ob einer Person das durch sie verwirklichte Unrecht individuell vorwerfbar ist und daher – grundsätzlich – zum Anknüpfungspunkt von Strafe gemacht werden kann.26 25

Vgl. z. B. Kunz / Singelnstein, Kriminologie, § 18, Rn. 20; Newburn, Criminology, S. 370 ff. Zur Kritik an der kriminalpolitischen Nutzung der sekundären Viktimisierung als Argumentationsfigur vgl. Kölbel / Bork, Sekundäre Viktimisierung als Legitimationsformel. 26 Vgl. zusammenfassend z. B. Eisele, in: Schönke / Schröder, Strafgesetzbuch, Vorbemerkungen zu den §§ 13 ff., Rn. 12 ff., 47; Paeffgen / Z abel, in: NK-StGB, Vorbemerkungen zu §§ 32 ff. StGB, Rn. 6; Puppe, in: NK-StGB, Vorbemerkungen zu §§ 13 ff. StGB, Rn. 16, 19; Rönnau, Drei- oder zweistufiger Verbrechensaufbau?, S. 499; Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, Rn. 181 ff.

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II. Die Beschränkung des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs auf menschliche Handlungen Bereits aus diesen kurzen Erläuterungen ergibt sich: Es gibt kein strafrecht­ liches Unrecht, ohne ein handelndes Subjekt, dem das Geschehen als Unrecht zugerechnet werden kann.27 Das ist für sich betrachtet auch noch nicht sonderlich überraschend. Das Strafrecht ist die Rechtsmaterie, die regeln soll, unter welchen Voraussetzungen und wem gegenüber eine Rechtsgemeinschaft Strafe verhängen darf. Es liegt daher prima facie auf der Hand, dass sich das Strafrecht nicht näher für ein Geschehen interessiert, in denen ein möglicher Adressat für Strafe überhaupt nicht erkennbar ist. Darüber hinaus trifft zumindest das deutsche Strafrecht weitere Beschränkungen, die nicht zwingend sind, hier aber nicht weiter in Frage gestellt werden sollen. Insbesondere können (bislang) allein Menschen Zurechnungssubjekte des Strafrechts sein.28 Für die zur Hiob-Geschichte angestellten Überlegungen bedeutet ein solcher Unrechtsbegriff aber: Hiobs Grunderfahrung hat im Strafrecht keinen Platz. Dass wir zufällig erlittenes Leid als zu Unrecht erlittenes Leid erfahren und deshalb insoweit nach normativer Kontrastierung verlangen, nimmt das Strafrecht nicht wahr. Wen ein Baum erschlägt, der durch einen Sturm umgerissen wird, dem geschieht kein Unrecht. Strafrechtlich betrachtet ist dieses Ereignis ein Nullum, sofern sich nicht zeigen lässt, dass es nicht jemanden gab, der beim Pflanzen des Baumes, der Pflege desselben oder bei der Verursachung des Sturmes irgendwie pflichtwidrig gehandelt hat. Günter Jakobs, einer der renommiertesten deutschen Strafrechtler, der das Beispiel des umstürzenden Baumes selbst verwendet, schreibt dazu, dass „sich bei dem stürzenden Baum das Geschehen im Äußeren erschöpft“.29 Und er fährt fort: „Eine Norm bedeutet etwas, hat einen Sinn, nämlich eine bestimmte Gestaltung der Welt solle sein und eine gegenteilige nicht sein. Eine Norm kann deshalb nicht durch Fakten übertreten, gebrochen werden (ein bloßes Faktum übertritt nichts und widerspricht nicht), sondern nur durch sinnhafte Gestaltung.“30 Jakobs behauptet also, dass ein Ereignis, das sich nicht auf ein menschliches Verhalten zurückführen lasse, keinen kommunikativen Sinn und deswegen auch keine 27

Klassisch Merkel, Kriminalistische Abhandlungen, S. 42, 44. Zur Diskussion um eine strafrechtliche Verantwortlichkeit juristischer Personen, vgl. zusammenfassend z. B. Joecks / Scheinfeld, in: Münchener Kommentar zum StGB, Vorbemerkung zu § 25, Rn. 16 m. w. N. Zur inzwischen lebhaften geführten Diskussion um die strafrechtliche Verantwortlichkeit autonomer technischer Systeme, vgl. etwa Gaede, Künstliche Intelligenz – Rechte und Strafen für Roboter?; Gless / Weigend, Intelligente Agenten und das Strafrecht, S. 561 ff.; Seher, in: Gless / Seelmann (Hrsg.), Intelligente Agenten und das Recht, S. 45 ff. 29 Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung, S. 13. 30 Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung, S. 22 (Hervorhebung im Original). 28

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normative Bedeutung habe. Es ist ein Geschehen, das sich „im Äußeren erschöpft“. Es kann daher auch keine Normen übertreten und daher auch kein Unrecht sein. Die Gegenposition wird dabei seit mehr als hundert Jahren als irrational diskreditiert. Sie kreiere, so hat es Johannes Nagler bereits 1911 in einer seither immer wieder zitierten Wendung formuliert, ein „Gespenst der widerrechtlich waltenden Natur“.31 Wer für einen von menschlichen Handlungen gelösten Unrechtsbegriff argumentiert, ist danach nicht weit von Xerxes entfernt, als er das Meer am Hellespont auspeitschen ließ, weil es ihm seine Schiffbrücken versenkt hatte.32

III. Zu den blinden Flecken dieses Unrechtsbegriffs Den zitierten Aussagen von Günter Jakobs ist zu widersprechen. Sie sind kennzeichnend für Verkürzungen des Strafrechts in seiner Erfassung der sozialen Wirklichkeit. Die Hiob-Geschichte verdeutlicht: Wo zufälliges Leid erfahren wird, erschöpft sich das Geschehen nicht im Äußeren. Dies gilt auch dann, wenn eine Rückführbarkeit des Geschehens auf menschliches Verhalten ausgeschlossen ist. Es entsteht zumindest das subjektive Bedürfnis der Betroffenen nach normativer Kontrastierung. Und dieses subjektive Bedürfnis ist auch nicht irrational: Es ist auch aus der Perspektive eines nichtbetroffenen Dritten richtig, dass das Leid unverdient erlitten wird. Ein Geschehen, das Leid verursacht, schafft daher potentielle Handlungsgründe für die Mitmenschen. Es ist normatives Geschehen qua Leidverursachung. Die vergangenen zwei Jahre sollten uns diese Grunderkenntnis noch einmal nachdrücklich in Erinnerung gerufen haben: Das Sterben von hunderttausenden Menschen an einer Pandemie ist kein normatives Nullum, selbst wenn sich dafür an keiner Stelle Personen finden ließen, deren Handlungen als diesbezügliches Fehlverhalten konstruiert werden können. Das heißt noch nicht, dass die Rechtsgemeinschaft das Bedürfnis der Betroffenen nach normativer Kontrastierung anerkennen muss. Erst recht heißt es nicht, dass speziell das Strafrecht sich dieser Aufgabe widmen muss. Aber es wäre gut, wenn sich eine Rechtsgemeinschaft bewusst bliebe, dass sie damit eine an das Recht gestellte Erwartung nicht einlöst. Der hier markierte blinde Fleck des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs betrifft aber nicht nur ein Defizit in der Erfassung der Erwartungen, die an das Recht herangetragen werden. Er führt überdies dazu, dass sich das Strafrecht – gemeint ist natürlich: das Strafrechtsdenken – selbst nicht auf die Schliche kommt. Er führt zu einem Mangel an Selbstaufklärung. Denn stellenweise sind die subjektiven Erwartungen an eine rechtliche Kontrastierung zufälligen Leids so stark, dass auch die strafrechtliche Praxis und die Strafrechtswissenschaft bereit sind, sie zu be 31 32

Nagler, in: Festschrift Karl Binding, Bd. 2, S. 334. So Herodot, Historien 7, 35.

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rücksichtigen. Das beginnt damit, welches Geschehen wir überhaupt als Ergebnis menschlicher Handlungen rekonstruieren, und setzt sich in der retrospektiven Begründung von Sorgfaltspflichten fort. Ein Beispiel: 2012 verurteilte das Tribunale dell’Aquila sieben italienische Seismologen der staatlichen Kommission für Risikoeinschätzung (Commissioni Grandi Rischi) zu mehrjährigen Haftstrafen, weil sie nicht mit hinreichender Deutlichkeit vor den Erdbebenrisiken gewarnt hatten, die sich dann in einem verheerenden Erdbeben in L’Aquila am 6. April 2009 auf schreckliche Weise realisierten und mehr als 300 Todesopfer forderten.33 Der strafrechtliche Unrechtsbegriff insinuiert, dass der gedankliche Prozess der Rekonstruktion dieses Geschehens als Straftat seinen Anfang bei dem sorgfaltspflichtwidrigen Verhalten der Seismologen genommen hätte. Das Erdbeben gewinnt demnach normative Relevanz nur dadurch, dass die Seismologen seinerzeit falsch gehandelt haben. Das ist nicht sehr überzeugend. Eine weitaus plausiblere Beschreibung der sozialen Deutungszusammenhänge in diesem Beispielsfall wie in anderen, ähnlich gelagerten Fällen dürfte vielmehr sein: Weil ein Ereignis großes Leid verursacht, sucht eine Gesellschaft nach Verantwortlichen, damit dieses Leid auch als personales Unrecht adressiert werden kann.34 Es lassen sich weitere Beispiele finden: Warum ist fahrlässiges Handeln regelmäßig nur dann strafbar, wenn es zum Eintritt eines Verletzungserfolges führt?35 Warum sieht das deutsche Strafrecht für eine Körperverletzung mit Todesfolge eine härtere Strafe vor als für eine Körperverletzung durch eine vorsätzlich lebensgefährdende Behandlung? Diese Fragen werden in der deutschen Strafrechtswissenschaft seit vielen Jahrzehnten diskutiert.36 Ohne dass an dieser Stelle näher auf die unterschiedlichen Begründungsversuche und ihre Kritik eingegangen werden kann, bleibt nüchtern zu konstatieren: Das geltende Strafrecht selbst erkennt die normative Relevanz des reinen Erfolgseintritts an. Wenn der Erfolgseintritt als solcher sich tatsächlich – wie es Jakobs meint – in einem äußeren Geschehen erschöpfte, wäre nicht begründbar, 33

Siehe Spiegel Online v. 22. 10. 2012, Gericht verurteilt Erdbebenforscher zu langen Haftstrafen, abrufbar unter: https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/prozess-zu-l-aquila-erd beben-verurteilt-wissenschaftler-zu-haftstrafen-a-862762.html (zuletzt: 15. 12. 2021). Die Schuld­ sprüche wurden in höherer Instanz aufgehoben, vgl., Neue Züricher Zeitung v. 10. 11. 2015, Seismologen letztinstanzlich freigesprochen, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/panorama/ seismologen-letztinstanzlich-freigesprochen-1.18650342 (zuletzt: 15. 12. 2021). 34 In diesem Sinne auch Duttge, in: Münchener Kommentar zum StGB, § 15 Rn. 2; Fahl, Zur Notwendigkeit des Wiedererlernens der Akzeptanz von Unglück in der Welt, S. 808. 35 Klassisch dazu Radbruch, in: v. Birkmeyer u. a. (Hrsg.), Vergleichende Darstellung, BT, Bd. V, S. 201 Anm. 2. 36 Vgl. dazu zuletzt umfassend und mit zahlreichen Nachweisen auch aus dem anglo-amerikanischen Schrifttum Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung, S. 116 ff.

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warum das Strafrecht in diesem Umstand einen normativen Grund für eine andere rechtliche Bewertung erkennt. Nochmals ist zu betonen: Damit wird keineswegs befürwortet, die strafrecht­ liche Kategorie des Unrechts aus der Frage personalisierter Zurechenbarkeit zu lösen und den Unterschied zwischen subjektiver Unrechtserfahrung und strafrechtlichem Unrecht begrifflich einzuebnen. Bereits in der subjektiven Dimension des Erleidens macht es einen Unterschied, ob sich ein Zurechnungssubjekt identifizieren lässt, das als verantwortlicher Verursacher des Leids angesprochen werden kann: Die Erwartung einer normativen Kontrastierung durch das Recht ist offenbar deutlich größer, wenn sich Menschen erkennen lassen, denen das leidverursachende Ereignis als Ergebnis ihres Verhaltens, als ihre Tat zugeschrieben werden kann. Erst recht ist die Zurechenbarkeit wesentlich für die Frage, was eine vernünftige Antwort der Rechtsgemeinschaft auf die Leidenserfahrung des Einzelnen ist. Allerdings sollte es zumindest eine rechtliche Basiskategorie geben, durch die anerkannt wird, dass es diese subjektiven Erwartungen gibt und dass diese Erwartungen nicht irrational sind, selbst wenn sie durch das Strafrecht letztlich nicht adressiert werden. Nur wenn die strafrechtliche Systembildung eine andere, dünnere Kategorie bereithält, die diesen Aspekt aufnimmt und sichtbar werden lässt, wird es der Strafrechtswissenschaft gelingen, die eigenen Widersprüche zu erfassen.

IV. Unmöglichkeit schuldlosen Unrechts? 1. „Wie Sonne und Regen“ Der Mangel an Selbstaufklärung, der bereits in der Verkürzung des Unrechtsbegriffs auf menschliche Handlungen und dem Verzicht auf eine dem Unrechtsbegriff vorgängige Kategorie zur Erfassung subjektiv kontrastierungsbedürftigen Leids liegt, findet eine Fortsetzung und Übersteigerung in einer Ansicht des strafrechtlichen Schrifttums, die sich für eine weitere Personalisierung des Unrechtsbegriffs stark macht. Der strafrechtliche Unrechtsbegriff soll kategorial nicht nur auf menschliche Handlungen beschränkt sein, sondern auf schuldhafte menschliche Handlungen. Schuldloses Unrecht, so die These, könne es nicht geben.37 Dabei ist diese Aussage nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie darauf bezogen, wie das geltende Recht den Begriff des Unrechts versteht. Es geht den Vertreter*innen um Aussagen systemtranszendenter Vernünftigkeit. Ein vernünftiges Strafrecht – so lautet die These – sollte einen Begriff des Unrechts haben, der die

37

Vgl. z. B. Freund, in: Münchener Kommentar zum StGB, Vorbemerkung zu § 25, Rn. 138; Jakobs, Der strafrechtliche Handlungsbegriff, S. 41 ff.; Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, S. 259 ff.; Rostalski, Der Tatbegriff im Strafrecht, S. 112 ff.; Walter, Der Kern des Strafrechts, S. 116 f.

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konstruktive Möglichkeit schuldlosen Unrechts ausschließt. Von Unrecht sollte erst dann die Rede sein können, wenn Menschen schuldhaft handeln. Die Schärfe und Selbstsicherheit, mit der diese Ansicht formuliert und begründet wird, ist durchaus bemerkenswert. Tonio Walter schreibt etwa: „Deswegen kann auch ein Unzurechnungsfähiger kein Unrecht tun: die Äußerungen eines Geisteskranken bedeuten dem Recht so viel wie Sonne und Regen.“38 Anders formuliert: Nicht nur der im Sturm umgestürzte Baum, Sonne und Regen, sondern auch die Handlungen eines Unzurechnungsfähigen sind ein strafrechtliches Nullum. Die Implikationen dieser Auffassung lassen sich am Beispiel des Falles von James Bulger verdeutlichen, der sich am 12. Februar 1993 in der westenglischen Kleinstadt Bootle ereignete. Bulger war ein fast dreijähriger Junge, der von zwei zehnjährigen Jungen, Jon Venables und Robert Thompson, entführt wurde, als seine Mutter gerade an der Fleischtheke eines Einkaufszentrums etwas einkaufte und daher abgelenkt war. Venables und Thompson führten den kleinen James aus dem Einkaufszentrum und an den Rand einer Bahnstrecke, wo sie ihn mit Schlägen, Tritten, Ziegelsteinen und schließlich mit Eisenstangen über eine Stunde misshandelten. Das pathologische Gutachten ergab 42 Verletzungen an Gesicht und Kopf, darunter 10 Schädelfrakturen. Den leblosen Körper legten Thompson und Venables auf Zuggleise, den Kopf bedeckten sie mit Steinen. Der Leichnam von James Bulger wurde zwei Tage später gefunden, ein Güterzug hatte den Leib in zwei Hälften geteilt. Wenn sich dieser Fall in Deutschland ereignet hätte, wäre es auf der Grundlage der Auffassung, schuldloses Unrecht sei unmöglich, falsch, das Geschehen als Mord zu bezeichnen. Die beiden 10-Jährigen wären nach deutschem Strafrecht nicht strafmündig und daher nicht zurechnungsfähig. Das strafrechtliche Verbot, keinen Menschen zu töten, richtete sich – so meinen die Vertreter dieser Auffassung – gar nicht an sie. Denn es wäre unvernünftig, wenn sich strafrechtliche Verbote an diejenigen richten würden, von denen die Rechtsgemeinschaft erkennt, dass sie zumindest in der Tatsituation nicht in der Lage waren, sich durch das Verbot motivieren zu lassen. Strafunmündige oder sonst Schuldunfähige verletzten daher durch ihr Verhalten auch keine Rechtsnorm. Denn dieses Verbot richtete sich an sie so wenig wie an das erbebenbedingt einstürzende Haus oder den tödlichen Blitzschlag. 2. Eine normtheoretische Zurückweisung Es liegt der Einwand nahe, dass ein solcher Unrechtsbegriff frei von Empathie mit denjenigen ist, die durch das Verhalten unzurechnungsfähiger Personen einen Schaden erleiden oder einen Angehörigen verlieren. Er widerspricht nicht nur dem 38

Walter, Der Kern des Strafrechts, S. 116.

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geltenden Recht, sondern vor allem sehr grundsätzlichen moralischen Intuitionen und dem laienhaften Sprachgebrauch.39 Das wird von Vertreter*innen der These einer Unmöglichkeit des schuldlosen Unrechts auch nicht bestritten, für eine genuin strafrechtliche Betrachtung allerdings für irrelevant erklärt. Beispielhaft und in keineswegs zufälliger Variation des zuvor zitierten Vergleichs („wie Sonne und Regen“) schreibt etwa Frauke Rostalski: „Der Verweis auf Alltagsanschauungen ist im Grundsatz verfehlt: Welcher Erkenntnisgewinn ist mit einem solchen verbunden – abgesehen von dem Befund der nicht selten auseinanderklaffenden Sicht rechtlich geschulter und rechtlich nicht geschulter Personenkreise? Relevant ist aber eines: Wird das Verhalten Schuldloser mit reinen Naturereignissen gleichgesetzt, ist damit ausschließlich eine rechtliche Bewertung gemeint. Schuldlose vermögen ebenso wenig einen Normverstoß zu realisieren wie Wind und Wetter (…).“40 Gegen diese Aussage lässt sich auf verschiedenen Ebenen Widerspruch erheben. An dieser Stelle soll aber nur ein Einwand etwas näher ausgeführt werden. Der Einwand konzentriert sich eine normtheoretische Betrachtung. Gerade aus einer solchen Betrachtung soll die These von der Unmöglichkeit schuldlosen Unrechts nach Ansicht ihrer Vertreter*innen ihre rationale Überzeugungskraft gewinnen. Der Einwand knüpft daher unmittelbar an die Überlegungen an, die bereits der Beschränkung des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs auf ein durch menschliches Verhalten verursachtes Geschehen entgegengehalten wurden. Die von Günther Jakobs ausformulierte These lautete, zufällig erlittenes Leid, das sich nicht als Resultat menschlicher Handlungen rekonstruieren lässt, sei normativ ohne Belang, weil es keine Norm übertrete. Dem wurde bereits insofern widersprochen, als eine normative Bedeutung jedenfalls nicht nur einem Geschehen zukommt, das sich als Ergebnis eines Handelns nach Gründen verstehen lässt, sondern bereits solchem Geschehen, das unabhängig von seiner Ursache Gründe für ein Handeln schafft, beispielsweise, weil es unverdientes Leid hervorruft. Das normtheoretische Grundverständnis, das sich in den Überlegungen von Günther Jakobs spiegelt, ist aber noch in einer weiteren Hinsicht defizitär. Wenn Jakobs schreibt: „Eine Norm bedeutet etwas, hat einen Sinn, nämlich eine bestimmte Gestaltung der Welt solle sein und eine gegenteilige nicht sein.“, dann ist dieser Satz richtig; er impliziert freilich noch nicht, dass die abweichende Gestaltung der Welt nur durch menschliche Handlungen bewirkt werden kann. Normen, namentlich strafrechtliche Normen, lassen sich Aussagen zur gesollten Gestaltung der Welt entnehmen, die jenseits der Verhaltens- und Sanktionsnormen liegen, auf die sich die gängige normtheoretische Betrachtung beschränkt. 39

Vgl. in diesem Sinne z. B. Greco, Wider die Relativierung der Unterscheidung von Unrecht und Schuld, S. 643. 40 Rostalski, in: Schneider / Wagner (Hrsg.), Normentheorie und Strafrecht, S. 115, Fn. 23 (Hervorhebung im Original).

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Aus § 212 Abs. 1 StGB ergibt sich nicht nur das Verbot, einen anderen Menschen vorsätzlich zu töten, und einen Verstoß gegen dieses Verbot mit einer Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren zu ahnden. Dem Gesetz ist zugleich die normative Aussage zu entnehmen, dass das Leben eines Menschen durch das Recht als ein Wert anerkannt wird, der schützenswert ist, eine rechtliche Relevanz hat.41 Diese Aussage ist nicht allein an jene adressiert, die in einer bestimmten Situation als strafrechtlich zurechnungsfähige Personen im Begriff stehen, durch willensbedingtes Verhalten unerlaubte Risiken für das Leben anderer zu setzen. Es ist vielmehr eine normative Aussage, die sich unabhängig von ihrer situativen strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit an alle Subjekte richtet, denen überhaupt die Möglichkeit zuerkannt wird, sich durch menschliche Kommunikation motivieren zu lassen. Das schließt auch Strafunmündige und Schuldunfähige ein. Nicht zutreffend ist darüber hinaus, wenn Jakobs fortfährt, dass bloße Fakten keiner normativen Aussage widersprechen könnten, weil sie – als bloße Fakten – keine sinnhafte Gestaltung der Wirklichkeit seien. Auch tatsächliches Geschehen kann einen Sinn und eine Bedeutung haben. Natürlich nicht im Sinne einer ontologischen Eigenschaft, die dem Geschehen selbst innewohnt. Sondern weil auch faktisches Geschehen von sinnkonstituierenden Subjekten wahrgenommen, erlitten und zum Anlass einer Reaktion gemacht werden kann. Ein Geschehen, durch das ein Mensch gegen seinen Willen sein Leben verliert, kann daher durchaus als Widerspruch zu einer Norm rekonstruiert werden, zu der Norm nämlich, dass das menschliche Leben kostbar und schützenswert ist. Die These, es gebe kein schuldloses Unrecht, übersteigert die defizitäre normtheoretische Rekonstruktion von strafrechtlichen Regelungen noch einmal. Ihr liegt das Missverständnis zugrunde, dass die im Pflichtbegriff gespiegelten prospektiven Erwartungen an ein normgemäßes Verhalten bruchlos dem retrospektiven, im Begriff der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit bzw. Schuld reflektierten Urteil über die Möglichkeit und Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens entsprechen müssten. Sie meint daher, die Existenz eines Strafgesetzes als Norm beginne erst dort, wo das Gesetz im Sinne einer Binding’schen Verhaltensnorm zu einem zurechnungsfähigen Subjekt spricht. Aber bis wir bei der Frage nach einem zurechnungsfähigen Subjekt angelangt sind, hat das Strafgesetz bereits eine Menge relevanter normativer Aussagen getroffen, die in sich bestens begründbar und vernünftig sind: Wo der Straftatbestand 41 Vgl. in diesem Sinne bereits Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, S. 195 f., der insoweit vom „logische(n) Prius des Strafgesetzes“ spricht (wobei es eben nicht nur um ein logisches, sondern um ein normatives Prius geht). Mezger, Die subjektiven Unrechtselemente, S. 241 ff.; ders. Strafrecht, S. 166, bezeichnet diese vorgängige Wertung als „Bewertungsnorm“, die ein „unpersönliches Soll“ zum Ausdruck bringt. Renzikowski, in: Alexy (Hrsg.), Juristische Grundlagenforschung, S. 125, erkennt an, dass ein solches Geschehen jedenfalls dem Zuweisungsgehalt von subjektiven Rechten widerspreche, sich mithin also nicht im äußeren Geschehen erschöpfe.

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eine interpersonelle Rechtsverletzung betrifft, ist es zu einem Geschehen gekommen, das subjektiv kontrastierungsbedürftiges Leid verursacht hat und durch die Rechtsordnung als Verlust eines schutzwerten Interesses anerkannt wird. Dieses Leid stellt sich als Ergebnis bewusster Handlungsentschlüsse von Menschen dar, die dadurch an sie gestellte Verhaltenserwartungen enttäuscht haben. Die Tatsache, dass das Leid auf das Verhalten bestimmter Menschen rückführbar ist, steigert das Bedürfnis nach normativer Kontrastierung des Erlittenen. Richtig ist, dass das Strafrecht sich mit diesen Schritten nicht zufriedengibt und weitere Fragen stellt. Diese weiteren Fragen zielen darauf ab, die Begründbarkeit der spezifisch strafrechtlichen Reaktionsformen (namentlich: Strafe) zu überprüfen. Es ist aber ein frappantes Missverständnis zu glauben, nur weil es im Strafrecht angemessen erscheint, weitere Fragen zu stellen, seien die bis dahin bereits getroffenen Aussagen normativ uninteressant und daher für die strafrechtliche Kategorienbildung außer Acht zu lassen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Gerade dann, wenn für das Strafrecht auf der Notwendigkeit des Vorliegens weiterer Voraussetzungen für eine Strafbarkeit beharrt werden soll, ist es notwendig, durch vorgelagerte Begriffskategorien die Erwartungen anzuerkennen, die nicht oder nur unvollständig durch das Strafrecht adressiert werden. Es ist daher gut, dass das geltende Strafrecht durch die Differenzierung von Unrecht und Schuld unterschiedliche Kategorien aufweist, die sich durch eine unterschiedliche Zurechnungstiefe kennzeichnen. Noch besser wäre es, wenn der strafrechtliche Begriffsapparat darüber hinaus auch über eine Kategorie verfügte, die das unverdiente Erleiden von Schäden und Einbußen in der Lebensführung und den dadurch bestehenden Wunsch nach normativer Kompensation erfasste.

Literatur Bittner, Rüdiger: Hiob und Gerechtigkeit, in: Krüger, Thomas u. a. (Hrsg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen, Beiträge zum Hiob-Symposium auf dem Monte Verità vom 14.–19. August 2005, Zürich 2007, S. 455 ff. Burghardt, Boris: Zufall und Kontrolle, Eine Untersuchung zu den Grundlagen der moralphilosophischen und strafrechtlichen Zurechnung, 2018. Erb, Volker / Schäfer, Jürgen (Hrsg.): Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl., 2020. Fahl, Christian: Zur Notwendigkeit des Wiedererlernens der Akzeptanz von Unglück in der Welt, JA 2012, S. 808 ff. Gaede, Karsten: Künstliche Intelligenz – Rechte und Strafen für Roboter? Plädoyer für eine Regulierung künstlicher Intelligenz jenseits ihrer bloßen Anwendung, 2019. Gleß, Sabine / Weigend, Thomas: Intelligente Agenten und das Strafrecht, ZStW 126 (2014), S. 561 ff. Greco, Luís: Wider die Relativierung der Unterscheidung von Unrecht und Schuld, GA 2009, S. 636 ff.

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Grosse-Wilde, Thomas: Erfolgszurechnung in der Strafzumessung, Die verschuldeten Auswirkungen der Tat gemäß § 46 Abs. 2 StGB in einer regelgeleiten Strafmaßlehre, 2017. Herodot: Historien. Neu übersetzt, herausgegeben und erläutert von Heinz-Günther Nesselrath, 5. Aufl., 2017. Hoffman, Yair: The Book of Job as a Trial: A Perspective from a Comparison to Some Relevant Ancient Near Eastern Texts, in: Krüger, Thomas u. a. (Hrsg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen, Beiträge zum Hiob-Symposium auf dem Monte Verità vom 14.–19. August 2005, Zürich 2007, S. 21 ff. Jakobs, Günther: Der strafrechtliche Handlungsbegriff, 1992. Jakobs, Günther: System der strafrechtlichen Zurechnung, 2012. Kaiser, Gerhard / Mathys, Hans-Peter: Das Buch Hiob, Dichtung als Theologie, 2010. Kaufmann, Armin: Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954. Keel, Othmar: Jahwes Entgegnung an Ijob, Eine Deutung von Ijob 38–41 vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Bildkunst, Göttingen 1978. Kegler, Jürgen: Hauptlinien der Hiobforschung seit 1956, in: Westermann, Claus, Der Aufbau des Buches Hiob, 2. Aufl., 1977, S. 9 ff. Kindhäuser, Urs / Neumann, Ulfrid / Paeffgen, Hans-Ullrich (Hrsg.): Strafgesetzbuch, Kommentar, 5. Aufl., 2017. Kleinig, John: The Concept of Desert, in: American Philosophical Quarterly, Vol. 8 No. 1, University of Illinois Press 1971. Kölbel, Ralf / Bork, Lena: Sekundäre Viktimisierung als Legitimationsformel, 2012. Kunz, Karl-Ludwig / Singelnstein, Tobias: Kriminologie, 7. Aufl., 2016. Lerner, Melvin J.: The Belief in a Just World, A Fundamental Delusion, 1980. Lerner, Melvin J.: The effect of responsibility and choice on a partner’s attractiveness follow­ ing failure, Journal of Personality Volume 33 Issue 2, S. 178 ff. Lübbe, Herrmann: Religion nach der Aufklärung, 1986. Lübbe, Herrmann: Religion nach der Aufklärung, in: Oelmüller, Willi u. a. (Hrsg.), Diskurs: Religion, 1979, S. 315 ff. Lux, Rüdiger: Hiob, Im Räderwerk des Bösen, 2. Aufl., 2013. Marquard, Odo: Apologie des Zufälligen, 1986. Merkel, Adolf: Kriminalistische Abhandlungen, 1867. Mezger, Edmund: Die subjektiven Unrechtselemente, Gerichtssaal 89 (1924), S. 207 ff. Mezger, Edmund: Strafrecht, 3. Aufl., 1949. Müller, Hans-Peter: Das Hiobproblem, Seine Stellung im alten Orient und im Alten Testament, 1978. Nagler, Johannes: Der heutige Stand der Lehre von der Rechtswidrigkeit, in: Festschrift für Karl Binding zum 4. Juni 1911, Bd. 2, 1911.

Zufällig erlittenes Leid und der personalisierte Unrechtsbegriff des Strafrechts

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Die Verteilung des Corona-Impfstoffs nach dem Zufallsprinzip – gerechtes Entscheidungskriterium oder staatliche Willkür? Thomas Spitzlei, Trier*1 Der Beitrag bewertet den Zufall aus der öffentlich-rechtlichen Perspektive. Insofern soll der Zufall als ein Verteilungskriterium in einer Knappheitssituation beleuchtet werden. Anwendungsbeispiel ist die Impfkampagne zur Bekämpfung des Corona-Virus.

A. Einleitung Die Corona-Pandemie hat das gesellschaftliche Leben in Deutschland seit dem Jahr 2020 und bis gegenwärtig fest im Griff. Als sich im Herbst 2020 abzeichnete, dass Impfstoffe einen zuverlässigen Schutz gegen eine Infektion mit COVID-19 bieten würden, stand der Staat vor einer schwierigen und dringlichen Verteilungsentscheidung: Es bestand kein Zweifel, dass es viele Monate dauern würde, bis ausreichend Impfstoff für alle Impfwilligen vorhanden wäre. Es galt daher, das knappe Gut in der Bevölkerung nach gerechten Kriterien zu verteilen. Die in dem Titel aufgeworfene Frage, ob das Zufallsprinzip als ein solches Kriterium in Betracht kommt oder – im Gegenteil – eine zufällige Verteilung des Impfstoffs staatlicher Willkür gleichkäme, soll in diesem Beitrag beantwortet werden. Um das komplexe Thema auch dem interessierten (öffentlich-)rechtlichen Laien nahe bringen zu können, soll zunächst der juristische Hintergrund der Impfstoffverteilung entfaltet werden. Dazu wird die Auflösung einer Knappheitssituation aus öffentlich-rechtlicher Perspektive beleuchtet (B.). Sodann werden die Vor- und Nachteile sowie die daraus resultierenden verfassungsrechtlichen Grenzen von Zufallsentscheidungen untersucht (C.). Bei der Analyse der Verteilung des CoronaImpfstoffs im Jahr 2021, vor allem im Frühjahr dieses Jahres, liegt das Hauptaugenmerk auf der Frage, welche Verteilungskriterien maßgeblich waren (D.). Abschließend werden die Impfstoffverteilung kritisch gewürdigt und die Zulässigkeit einer stärker zufallsbasierten Verteilung des Impfstoffs eruiert (E.). Ein knappes Fazit rundet den Beitrag ab (F.).

* Der Beitrag befindet sich auf dem Stand September 2021.

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B. Die Verteilungsentscheidung zur Auflösung einer Knappheitssituation Einer Zufallsentscheidung geht eine Knappheitssituation voraus, bei der die Befriedigung der Nachfrage nach einem nur begrenzt vorhandenen Gut nicht allein dem Markt überlassen wird.1 Gerade in grundrechtssensiblen Lebensbereichen ist es regelmäßig am Staat, die Knappheitssituation durch eine Verteilungsentscheidung aufzulösen bzw. zumindest in bestimmte Bahnen zu lenken. Die Rechtsordnung wird in diesen Fällen zu einer Verteilungsordnung.2 Exemplarisch können dafür das Sozial-, Medizin- und Gesundheitsrecht genannt werden.3 Ob die Knappheit der Rechtsordnung vorgelagert ist (sog. natürliche Knappheit) oder erst durch die Rechtsordnung künstlich begründet wird (sog. gewillkürte Knappheit), spielt im Ausgangspunkt keine Rolle.4 Zuständig für die Verteilungsentscheidung ist in erster Linie der demokratisch legitimierte parlamentarische Gesetzgeber.5 Dementsprechend ist das einfache Gesetz regelmäßig die erste Anlaufstelle bei Verteilungsentscheidungen. Dies darf indes nicht so verstanden werden, dass jedes Gesetz durch das Abstellen auf bestimmte Tatbestandsmerkmale eine Knappheitssituation auflöst. Im Gegenteil wird man von einer „echten“ Verteilungsentscheidung nur sprechen können, wenn die Differenzierung auf der abstrakt-generellen Ebene noch nicht ausreicht, um die Anzahl der Nachfragenden so weit zu beschränken, dass diese die Menge des vorhandenen Gutes nicht länger übersteigt. Charakteristisch für eine Knappheitssituation ist also, dass sie nicht schon durch das Abstellen auf allgemeine sachlich-­inhaltliche oder persönliche Merkmale und Voraussetzungen aufgelöst werden kann. Jede Rechtsnorm erfasst letztlich nur einen bestimmten Ausschnitt der Lebenswirklichkeit und differenziert somit. Bei der Auswahlentscheidung im eigentlichen Sinne6 ist der Kreis der Berechtigten mit Blick auf den mit der Verteilung verfolgten Zweck zielgerichtet so weit zu reduzieren, dass die Anzahl der Nachfragenden der Menge des knappen Gutes entspricht und eine Zuteilung erfolgen kann.7 Entscheidend für diese Reduzierung ist das Verteilungskriterium. Etabliert hat sich eine Unterscheidung zwischen materiellen und formellen Verteilungskriterien. 1

So Kupfer, Die Verteilung knapper Ressourcen im Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 102. Treffend Voßkuhle, „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst!“, S. 21 (23 f.). 3 S. dazu und zu weiten Beispielen Wollenschläger, Verteilungsverfahren. Speziell zum Gesundheitswesen Kingreen, Knappheit und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen, S. 152 (155 ff.). Die Konfliktträchtigkeit gerade im Gesundheitsrecht betonend Huster /  Kohlenbach / Stephan, Von Priorisierungsgruppen und Impfdränglern, S. 197. 4 Näher zur Unterscheidung Mösinger, Auswahlkriterien der Standplatzvergabe unter rechtlicher und ökonomischer Analyse, S. 7 f. 5 Näher Kupfer, Die Verteilung knapper Ressourcen im Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 117 ff. 6 So die Formulierung von Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, S. 277 (308). 7 S. zum Gesamten bereits Spitzlei, Der Zufall als Entscheidungskriterium, S. 439 (443 f.). 2

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Bei materiellen Kriterien hängt die Verteilung von einem oder mehreren sachlichinhaltlichen Kriterien ab; Beispiele sind die Leistungsfähigkeit, die Bedürftigkeit, die Zuverlässigkeit, die fachliche Eignung, die Attraktivität etc. Formelle Kriterien blenden die insofern bestehenden Unterschiede zwischen den Nachfragenden aus, indem etwa auf den Zeitpunkt der Nachfrage um das Gut abgestellt wird (sog. Prioritätsprinzip8). Es besteht die Möglichkeit, mehrere Kriterien zu kombinieren.9 Es liegt auf der Hand, dass auch der Zufall als formelles Entscheidungskriterium zu qualifizieren ist. Mehr noch: Der Zufall gilt als das sach- und wertneutralste Kriterium überhaupt.10

C. Der Zufall als Entscheidungskriterium Ob eine Knappheitssituation nach dem Zufallsprinzip aufgelöst werden darf, ist im juristischen Schrifttum umstritten, kann aber grundsätzlich bejaht werden (I.). Entscheidend ist damit nicht, ob, sondern unter welchen Voraussetzungen Zufallsentscheidungen zulässig sind (II.).

I. Der Zufall als Bankrotterklärung des Rechts? Zufallsentscheidungen lassen sich treffend mit einer „objektiven Willkürlichkeit“11 beschreiben. Einerseits  – die objektive Komponente  – blendet man alle Stärken und Schwächen der Nachfragenden aus, andererseits scheint gerade darin der Vorwurf der Willkür begründet. Es ist die Rede von einem Scheitern des Rechtsstaats12, vom Staat als „Glücksfee“13 und – so die wohl bekannteste Wendung – einer „Bankrotterklärung des Rechts“14. In offenen Widerspruch zu diesen vernichtenden Urteilen treten Einschätzungen, nach denen Losentscheidungen in 8

Grundlegend dazu Voßkuhle, „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst!“, S. 21 ff. Berg, Die Verwaltung des Mangels, S. 1 (29) sieht in der Kombination die Möglichkeit, der Komplexität der Verteilungsproblematik gerecht zu werden. Eine solche Kombination ist zumindest geboten, wenn nur so der Zweck der Verteilung erreicht werden kann, vgl. BVerfG, Urt. v. 19. 12. 2017 – 1 BvL 3/14, 1 BvL 4/14, BVerfGE 147, S. 253 (308 f.). Für ein generelles „Gebot der Entwicklung und Anwendung eines kriterienpluralen, allseitig ausgewogenen Verteilungsmaßstabes“ Pitschas, Die Zulassung von Schaustellern zu Volksfesten nach Gewerbeund bayerischem Gemeinderecht, S. 641 (645). 10 Vgl. statt vieler Roth, Rechtliche Probleme der Zulassung von Schaustellern zu Volksfesten, Spezialmärkten und Jahrmärkten, S. 46 (53). Beim Prioritätsprinzip kann man eine „Leistung“ darin sehen, dass man sich um eine rasche Bewerbung um das knappe Gut bemüht hat. In diese Richtung Berg, Die Verwaltung des Mangels, S. 1 (24). Bei Zufallsentscheidungen gibt es demgegenüber keine Möglichkeit der Einflussnahme auf die Erfolgschance. 11 Depenheuer, Zufall als Rechtsprinzip?, S. 171 (175). 12 Kirchhof, in: Isensee / K irchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts V, § 99 Rn. 62. 13 Schneider, Spreu oder Weizen?, S. 297 (304). 14 Dürig, in: Maunz / Dürig, GG, Erstkommentierung von Art. 3 Abs. 1 Rn. 231; diesem folgend Kupfer, Die Verteilung knapper Ressourcen im Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 410. 9

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besonderem Maße gleichheitsgerecht seien15 und der Gleichheitsstaat mitunter gar seine Erfüllung im Losentscheid finde16. Mit Blick auf die beachtliche Historie (1.) von Zufallsentscheidungen ist dieser Dissens überraschend. Da Zufallsentscheidungen sowohl im Zivilrecht17 als auch im Öffentlichen Recht18 Teil der Rechtsordnung sind, dürfte die Wahrheit – wie häufig bei einem juristischen Meinungsstreit – zwischen den beiden Positionen liegen (2.). 1. Die Historie von Zufallsentscheidungen Bereits in der athenischen Demokratie im 5. Jahrhundert vor Christus waren Zufallsentscheidungen etabliert. Das Los entschied über die Besetzung der Volksgerichtshöfe, des Rates der Fünfhundert und der Beamtenstellen.19 Auch in der deutschen Rechtstradition ist die Auswahlentscheidung durch das Los verankert. So wurde etwa bis zum 19. Jahrhundert die alljährliche Landverteilung durch das Los entschieden.20 Während das Kleroterion, eine eigens für die Ämtervergabe im antiken Griechenland entwickelte Losmaschine, in der heutigen Zeit ausgedient hat21, haben manche Verfahrenstechniken die Zeit überdauert. Das Werfen einer Münze ist bis heute eine probate Vorgehensweise, wenn die Fallhöhe nicht ganz unwesentlich ist und eine harte Unterlage zu einem unkontrollierten Drehen oder Umschlagen der Münze führt.22 Vergleichsweise neuartig ist demgegenüber der Einsatz eines Computers, etwa unter Zuhilfenahme des Tabellenkalkulationsprogramms „Excel“ von Microsoft.23 Dieser rudimentäre Überblick über die Historie von Zufallsentscheidungen und die verwendeten Verfahren wirft ein Schlaglicht auf einen ganz entscheidenden Aspekt: Eine Zufallsentscheidung setzt die Einbettung in ein 15

So etwa Schwarz, Neues vom Wochenmarkt, S. 289 (292); Windoffer, Die Vergabe von Standplätzen auf gemeindlichen Märkten und Volksfesten, S. 265 (267). 16 So Depenheuer, Zufall als Rechtsprinzip?, S. 171 (178). 17 Genannt seien die ausgelobte Belohnung (§ 659 Abs. 2 Satz 2 BGB), die Aufhebung der Gemeinschaft (§ 752 Satz 2 BGB) und die Auseinandersetzung der Miterbengemeinschaft (§ 2042 Abs. 2 BGB). 18 Hervorzuheben sind § 5 Satz 3 BWahlG für die Wahl in den Wahlkreisen, § 6 Abs. 2 Satz 5 BWahlG für die Wahl nach Landeslisten und § 2 Abs. 2 Satz 6 GOBT bei der Wahl des Bundespräsidenten. In allen Fällen ist die Auflösung einer Pattsituation bei Stimmengleichheit durch das Los vorgesehen. S. zu weiteren vergleichbaren Beispielen Buchstein, Lostrommel und Wahlurne, S. 384 (384 f.). 19 Näher Buchstein, Lostrommel und Wahlurne, S. 384 (386). 20 Depenheuer, Zufall als Rechtsprinzip?, S. 171 (173) m. w. N. 21 Stattdessen werden die Pattsituationen im Wahlrecht gewöhnlich durch das Ziehen von verdeckten Zetteln mit den Namen der Bewerber aufgelöst, vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 16. 6. 2005 – 7 LC 201/03, NVwZ-RR 2006, S. 177 (178). 22 So VGH München, Beschl. v. 13. 2. 1991 – 17 P 90.3560, NJW 1991, S. 2306 (2307) für den Wurf eines 1 DM-Stücks auf Kopfhöhe und einer Fallhöhe von 70 cm auf eine Resopaltischplatte. 23 Vgl. zum Ablauf OVG Bautzen, Beschl. v. 20. 8. 2018 – 2 B 304/18, NVwZ-RR 2019, S. 467 (468).

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objektives Verfahren voraus.24 Die Auswahlentscheidung als solche muss frei sein von menschlicher Einflussnahme. Andernfalls verkäme die „objektive Willkür“ zu einer in jedem Fall unzulässigen (subjektiven) Willkür in Reinform. 2. Das Rationale im Zufälligen Die soeben beschriebene Objektivität des Verfahrens findet in dem sach- und wertneutralen Entscheidungskriterium des Zufalls ihre Entsprechung. Insofern lassen sich folgende Aussagen treffen: Materielle Kriterien müssen zwar nicht in ein subjektives Verfahren eingebettet sein, doch führt daran regelmäßig kein Weg vorbei. Die objektive Bewertung eines materiellen Kriteriums setzt voraus, dass dieses in irgendeiner Form messbar / quantifizierbar ist. Auf die klassischen materiellen Kriterien der Attraktivität, Leistungsfähigkeit, Eignung etc. trifft dies regelmäßig nur eingeschränkt zu. Ein formelles Kriterium wie der Zufall darf hingegen gar nicht subjektiv bewertet, sondern muss allein objektiv festgestellt werden. Führt man sich dies vor Augen, so treten einige Vorteile der zufallsbedingten „objektiven Willkür“ zu Tage. Maßgeblich sind die Interessen der Bewerber, der Verwaltung und der Allgemeinheit.25 Ein objektives Verfahren bietet am ehesten die Gewähr, den rechtsstaatlichen Anforderungen der Transparenz und Neutralität zu genügen.26 Subjektive Verfahren werden im Schrifttum mitunter treffend als „Schönheitswettbewerb“ bezeichnet, bei dem nicht der Beste, Bedürftigste usw. das knappe Gut erhält, sondern derjenige, der sich gekonnt als der Beste oder Bedürftigste präsentiert.27 Verstärkt wird dieses Problem durch den Umstand, dass es die Bewerber häufig in der Hand haben, welche Informationen sie überhaupt preisgeben, und einer Überprüfung durch den Entscheidungsträger oft zeitliche und nahezu ausnahmslos personelle und finanzielle Grenzen gesetzt sind.28 Gerade bei knappen oder sehr eiligen Entscheidungen und erst recht bei Pattsituationen begegnen materielle Kriterien und subjektive Verfahren daher rechtlichen Bedenken.29 Bei einem objektiven Losverfahren stellen sich diese skizzierten Probleme nicht, da sie alle darauf zurückzuführen sind, dass man versucht, eine nach materiellen Kriterien gerechte Entscheidung zu treffen. Losverfahren beanspruchen daher 24

Näher zu der Unterscheidung von objektiven und subjektiven Verfahren Malaviya, Verteilungsentscheidungen und Verteilungsverfahren, S. 135. 25 S. Wollenschläger, Verteilungsverfahren, S. 37 f. m. w. N. 26 Näher zu den Anforderungen Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, S. 277 (306 f.). Speziell im Kontext von Losentscheidungen Malaviya, Verteilungsentscheidungen und Verteilungsverfahren, S. 137; Wollenschläger, Verteilungsverfahren, S. 558. 27 Vgl. Naab, Die Versteigerung knapper Ressourcen durch den Staat, S. 50 f. 28 Naab, Die Versteigerung knapper Ressourcen durch den Staat, S. 52 f. 29 Vgl. Zuck, Politische Sekundärtugenden (III): Die Kunst, das Los zu werfen, S. 297 (298).

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weniger Zeit, sind demzufolge kostengünstiger und somit unter dem Strich effizienter als subjektive Verfahren.30 Dies ist sowohl im Interesse der Allgemeinheit als auch der Behörde und der Nachfragenden. Speziell aus dem Blickwinkel der Behörde ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass eine Zufallsentscheidung weitgehend maschinenbasiert möglich ist und der Begründungsaufwand denkbar gering ist.31 Die Begründung erschöpft sich darin, dass der Bewerber in einem Zufallsverfahren (nicht) ausgewählt worden ist. Der Nachfragende profitiert von einer niedrigschwelligen Zugangsbarriere32, da er lediglich fristgerecht sein Interesse bekunden und ggf. nachweisen muss, dass er zu dem Kreis der Berechtigten33 gehört; die regelmäßig zeit- und kostenaufwändige Präsentation der eigenen Stärken /  Bedürftigkeit entfällt. Willkürlich ist eine Zufallsentscheidung nach alldem nicht. Sie ist nicht beliebig, da die Behörde die Entscheidung nicht dem Zufall überlässt, sondern sich für den Zufall entscheidet.34 Aufgrund der Effizienz der Zufallsentscheidung ist diese auch nicht irrational, sondern – im Gegenteil – als rational zu bewerten. Damit ist nicht gesagt, dass Zufallsentscheidungen (stets) rechtlich zulässig sind. Die Praktikabilität wird dadurch erkauft, dass die inhaltlichen Unterschiede zwischen den Nachfragenden ausgeblendet werden.

II. Voraussetzungen und Grenzen von Zufallsentscheidungen Nach den bisherigen Erkenntnissen sind Zufallsentscheidungen weder generell zulässig noch allgemein unzulässig. Es gilt daher im Folgenden, die Voraussetzungen und Grenzen von Zufallsentscheidungen zu beleuchten. Dreh- und Angelpunkt dafür ist der allgemeine Gleichheitssatz (1.). Nur in wenigen Ausnahmefällen (2.) erweisen sich Zufallsentscheidungen als  – in besonderem Maße  – gleichheits­ gerecht; im Regelfall (3.) bedürfen sie der Rechtfertigung.

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Vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 16. 6. 2005 – 7 LC 201/03, NVwZ-RR 2006, S. 177 (178); Braun, Zulassung auf Märkten und Veranstaltungen, S. 747 (752); Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, S. 96. 31 Vgl. wiederum OVG Lüneburg, Urt. v. 16. 6. 2005 – 7 LC 201/03, NVwZ-RR 2006, S. 177 (178). 32 S. zu einer differenzierten ökonomischen Analyse Mösinger, Auswahlkriterien der Standplatzvergabe unter rechtlicher und ökonomischer Analyse, S. 116 ff. 33 Dies kann bspw. bedeuten, dass die deutsche Staatsbürgerschaft oder der Wohnort in einer bestimmten Gemeinde nachzuweisen ist. 34 So auch schon Spitzlei, Der Zufall als Entscheidungskriterium, S. 439 (453).

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1. Art. 3 Abs. 1 GG als Maßstab für Zufallsentscheidungen Das Epizentrum einer Verteilungsentscheidung ist der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.35 Die Verteilungsentscheidung ist eine Auswahlentscheidung, bei der  – heruntergebrochen auf zwei Nachfragende  – der eine das knappe Gut erhält und der andere leer ausgeht. Der Einwand des Unterlegenen wird regelmäßig und richtigerweise nicht (allein) darauf gerichtet sein, dass ihm das knappe Gut zusteht. Er muss vielmehr (zumindest auch) vortragen, dass ihm und nicht dem Mitbewerber das knappe Gut zusteht. Beides ist freilich inhaltlich miteinander verbunden, aber gleichwohl differenziert zu bewerten. Entscheidend ist, dass das knappe Gut regelmäßig tatsächlich auch dem Unterlegenen zusteht; beide Bewerber erfüllen nämlich typischerweise die sachlichen und personellen Voraussetzungen. Dies wurde bereits als entscheidende Voraussetzung der Knappheitssituation herausgearbeitet, da nur in einem solchen Fall eine „echte“ Verteilungsentscheidung überhaupt notwendig ist.36 Die Auswahlentscheidung ist daher richtigerweise kein Freiheits-, sondern ein Gleichheitsproblem37: Legt man die Freiheitsgrundrechte zugrunde, so gelangt man zu dem Zwischenergebnis, dass beide Anspruch auf die Zuteilung des knappen Gutes haben. Die schlussendliche Bevorzugung des einen und die gleichzeitige Benachteiligung des anderen ist primär am allgemeinen Gleichheitssatz zu messen. Art. 3 Abs. 1 GG verlangt, dass wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln ist. Was aber wesentlich (un-)gleich ist, beantwor­ tet der Gleichheitssatz gerade nicht; er ist für sich betrachtet inhaltsleer. Die entscheidende Frage, ob eine Auswahlentscheidung gleichheitsgerecht ist, kann nur anhand verfassungsrechtlicher Wertmaßstäbe beantwortet werden, die vor allem den Freiheitsgrundrechten zu entnehmen sind. In den verfassungsrechtlichen Grenzen hat ferner der Gesetzgeber die Möglichkeit – und den Auftrag –, in der Rechtsordnung bereichsspezifische Gerechtigkeitsmaßstäbe zu normieren. So kommt bei der Vergabe von Studienplätzen etwa dem Kriterium der Eignung der Studienplatzbewerber zentrale Bedeutung zu.38 Bei der Lizenzerteilung im Bereich der Telekommunikation sind Zuverlässigkeit, Fachkunde und Leistungs­fähigkeit der Unternehmen entscheidend. Die Vergabe öffentlicher Ämter hat nach Art. 33 Abs. 2 GG auf Grund der Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung der Bewerber zu erfolgen.39

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Treffend Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, S. 49. S. dazu unter B. 37 Vgl. auch Wollenschläger, Verteilungsverfahren, S. 34 ff. 38 Vgl. BVerfG, Urt. v. 19. 12. 2017 – 1 BvL 3/14, 1 BvL 4/14, BVerfGE 147, S. 253 (308). 39 Becker, Die Versteigerung der UMTS-Lizenzen: Eine neuartige Form der Allokation von Rechten, S. 1 (7). S. zu weiteren Beispielen Spitzlei, Der Zufall als Entscheidungskriterium, S. 439 (454 f.). 36

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2. Ausnahme: Gleichheitsgerechtigkeit einer Zufallsentscheidung Mitunter verbietet die Verfassung aber auch gerade eine Differenzierung nach bestimmten materiellen Merkmalen. So lässt sich erklären, dass dem Losverfahren im Wahlrecht eine bedeutende Rolle zukommt. Es gibt schlichtweg keine andere zulässige Möglichkeit, um eine Pattsituation im Wahlrecht aufzulösen und zu einem sinnvollen Ergebnis zu gelangen.40 Das Los fungiert als „tie-breaker“41, da das Entscheidungskriterium zwingend ein formelles sein muss, um der in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG bzw. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG sowie den Landesverfassungen verbürgten strengen und formalen Wahlgleichheit gerecht zu werden42. Zu keiner anderen Bewertung gelangt man im Ergebnis in dem (seltenen) Fall, dass eine Zufallsentscheidung einen Eigenwert hat.43 3. Regelfall: Rechtfertigungsbedarf einer Zufallsentscheidung Blendet man die seltenen Spezialfälle aus, in denen Zufallsentscheidungen gleichheitsgerecht sind, so sind Zufallsentscheidungen rechtfertigungsbedürftig, weil sie nicht nach dem verfassungsrechtlich vorgegebenen, sachlich-inhaltlichen Merkmal differenzieren. Wer aus diesem fehlenden Sachbezug auf das Vorliegen staatlicher Willkür schließt44, der wird dem formellen Entscheidungskriterium nicht gerecht. Zufallsentscheidungen sind denklogisch nie sachgerecht, da sie sachlich-inhaltliche Kriterien aus Gründen der Praktikabilität ausblenden. Richtigerweise ist daher nicht zu verlangen, dass die Zufallsentscheidung dem verfassungsrechtlich und / oder einfachgesetzlich vorgegebenen sachlich-inhaltlichen Kriterium gerecht wird.45 Es gilt vielmehr zu überprüfen, ob die mit der Zufallsentscheidung verbundenen Vorteile, die Praktikabilitätserwägungen, die damit einhergehenden Nachteile, die materielle Ungerechtigkeit, aufwiegen oder nicht.46 40

So auch BVerwG, Urt. v. 15. 5. 1991 – 6 P 15/89, BVerwGE 88, S. 183 (188). S. zu zahlreichen weiteren denkbaren Entscheidungsregeln, die entweder nicht zu einem akzeptablen Ergebnis führen oder nicht zulässig sind Schmidt, Die Entscheidung trotz Stimmgleichheit, S. 133 (135 ff.). 41 So Buchstein, Lostrommel und Wahlurne, S. 384 (386). 42 Der Zufall dient so der Gewähr der Unparteilichkeit, s. Depenheuer, Zufall als Rechtsprinzip?, S. 171 (179). 43 Zu denken ist hier insbesondere an polizeiliche allgemeine Verkehrskontrollen, bei denen zufällig Fahrzeuge kontrolliert werden. Eben weil die Auswahl zufällig erfolgt, kann niemand bestimmte „Vorkehrungen“ treffen. Einzuräumen ist indes, dass die Verkehrskontrolle keine Verteilungsentscheidung im engeren Sinne darstellt. 44 In diese Richtung Jarass, Losverfahren und Grundrechte, S. 273 (279 f.). So allgemein auch Schneider, Spreu oder Weizen?, S. 297 (304). 45 Vgl. auch BVerwG, Urt. v. 27. 4. 1984 – 1 C 26/82, NVwZ 1984, S. 585 (586). 46 S. zu dieser Abwägung Gröpl, Ökonomisierung von Verwaltung und Verwaltungsrecht, S. 459 (478 ff.); vgl. ferner Winter, Vom Nutzen der Effizienz im öffentlichen Recht, S. 300 (308). S. zu den verschiedenen Formen der Berücksichtigung von Effizienz bei administrativem Handeln Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, S. 11 (44 ff.).

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Schauplatz der insofern nötigen Abwägung ist die Prüfung der Angemessenheit im Rahmen der Verhältnismäßigkeitskontrolle.47 Als Vorteil einer Zufallsentscheidung ist stets das konkrete Ausmaß der vereinfachenden Wirkung, also der Gewinn an Praktikabilität und Effizienz, zu ermitteln. Diesem Nutzen lassen sich auf der Kosten-Seite das qualitative und das quantitative Ausmaß an Ungerechtigkeit gegenüberstellen.48 Insofern gelten folgende Leitlinien: Je stärker das Grundgesetz auf die Differenzierung nach einem bestimmten materiellen Kriterium drängt, desto größer ist das qualitative Ausmaß der Ungerechtigkeit einer Losentscheidung. Eindeutige verfassungsrechtliche Wertentscheidungen werden sich regelmäßig nicht unter Verweis auf Praktikabilitätserwägungen überschreiben lassen.49 Die Ungerechtigkeit ist aufgrund des subjektiven Charakters der Grundrechte aus der Perspektive des – sachlich-inhaltlich: zu Unrecht – benachteiligten Nachfragenden zu beurteilen. Doch auch mit Blick auf Belange des Gemeinwohls ist die Zufallsentscheidung regelmäßig ungerecht, da der sachlich-inhaltlich „eigentlich“ Berechtigte regelmäßig den größeren Nutzen aus dem knappen Gut ziehen wird.50 Die mit Abstand größte Bedeutung kommt der Homogenität bzw. Heterogenität der Gruppe der Nachfragenden zu, da von diesem Merkmal sowohl das Ausmaß der vereinfachenden Wirkung als auch der Ungerechtigkeit abhängt.51 Da das formelle Kriterium des Zufalls die bestehenden inhaltlichen Unterschiede nivelliert, verhält sich das Ausmaß der Ungerechtigkeit proportional zu dem Ausmaß der – bei sachlich-inhaltlicher Betrachtung – wesentlichen materiellen Unterschiede. Genau umgekehrt ist das Verhältnis zu dem Ausmaß des typischerweise zu erwartenden Gewinns an Praktikabilität: Je homogener die Bewerber um das knappe Gut sind, desto schwieriger wäre eine inhaltliche Differenzierung und desto größer ist die vereinfachende Wirkung einer Zufallsentscheidung. Ausgangspunkt für die Bewertung der Homogenität ist der abstrakt-generelle Zuschnitt der Gruppe der Berechtigten. Soweit der Zufallsentscheidung – im Fall einer Kombination mit materiellen Verteilungskriterien – eine Vorauswahl vorausgeht, ist dies freilich zu berücksichtigen. Eine grobe Vorauswahl nach einem materiellen Kriterium schmälert zwar den Praktikabilitätsgewinn der späteren Zufallsentscheidung, reduziert aber zugleich erheblich die Ungerechtigkeit der Verteilungsentscheidung, weil die Vorauswahl eine vergleichsweise homogene Gruppe an Nachfragenden ergibt. Abgerundet wird die Abwägung durch das quantitative Ausmaß der mit einer Zufallsentscheidung verbundenen Ungerechtigkeit. Ob der Gesamtzahl der von einer rechtfertigungsbedürftigen (Un-)Gleichbehandlung Betroffenen eine Bedeutung 47 Generell ist die Angemessenheit der Ort der Gleichheitskontrolle, s. Britz, Einzelfall­ gerechtigkeit versus Generalisierung, S. 164. 48 Ausführlich dazu bereits Spitzlei, Der Zufall als Entscheidungskriterium, S. 439 (467 ff.). 49 Ähnlich für das Prioritätsprinzip Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, S. 110. 50 So bereits Berg, Die Verwaltung des Mangels, S. 1 (18 f.). 51 Näher Spitzlei, Der Zufall als Entscheidungskriterium, S. 439 (467 ff.).

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zukommt, ist umstritten52, kann vorliegend aber dahinstehen. Von Interesse ist im hiesigen Kontext, welche Auswirkungen eine teilweise Verlosung des knappen Gutes auf das Ausmaß der Ungerechtigkeit und der Effektivität der Vergabe hat. Damit ist eine Kombination von einem oder mehreren materiellen Kriterien und einer Verlosung angesprochen, bei der die verschiedenen Verteilungskriterien nicht hintereinandergeschaltet werden, sondern nebeneinander Anwendung finden. Durchdenkt man verschiedene mögliche Konstellationen, so wird deutlich, dass die Verteilung eines Großteils nach materiellen Kriterien und eines geringen Teils nach dem Zufall in hohem Maße gleichheitsgerecht und praktikabel zugleich sein kann.53 Dies gilt jedenfalls dann, wenn sich innerhalb der Nachfragenden nach sachlich-inhaltlichen Kriterien ein dringend zu begünstigender Kreis abzeichnet, der vollständig mit einem Großteil des knappen Gutes bedient werden kann. Wenn die verbleibende Kapazität des Gutes nur noch unter hohem Aufwand und überdies nach weniger drängenden materiellen Kriterien vergeben werden könnte, dann bietet sich ein Losverfahren aufgrund der zahlenmäßig und qualitativ geringen Ungerechtigkeit sowie der vergleichsweise großen Vereinfachungswirkung in besonderem Maße an.

D. Die Verteilung des Corona-Impfstoffs im Jahr 2021 Nachdem die Voraussetzungen und Grenzen einer Güterverteilung durch den Zufall dargestellt worden sind, kann nunmehr der Blick auf die Verteilung des Corona-Impfstoffs im Jahr 2021 gerichtet werden. Eine Differenzierung zwischen den verschiedenen Impfstoffen aufgrund der unterschiedlichen Zulassungen und Empfehlungen54 kann unterbleiben, da eine eingeschränkte Zulassung unmittelbar Einfluss auf den berechtigten Personenkreis hat und dies der Auswahlentscheidung vorgreift. Die gesetzliche Regelung der Impfstoffverteilung wird zunächst dargestellt (I.) und sodann im Hinblick auf die verwendeten Verteilungskriterien analysiert (II.).

I. Grundzüge der Impfstoffverteilung Die Verteilung des Corona-Impfstoffs ist seit Dezember 202055 in der mehrmals aktualisierten56 Verordnung zum Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Corona 52

Vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 8. 10. 1991 – 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, S. 348 (360). Näher Spitzlei, Der Zufall als Entscheidungskriterium, S. 439 (469 f.). 54 Dies war in der Vergangenheit vor allem bei dem Vektor-Impfstoff von AstraZeneca relevant, da sich die Empfehlungen dort mehrmals geändert haben. Gegenwärtig sind nur die Impfstoffe von BioNTech und Moderna für Minderjährige ab 12 Jahren zugelassen. S. zu einer Übersicht des Paul-Ehrlich-Instituts https://www.pei.de/DE/arzneimittel/impfstoffe/covid-19/ covid-19-node.html (zuletzt abgerufen am 2. 9. 2021). 55 CoronaImpfV v. 18. 12. 2020, bekannt gemacht am 21. 12. 2020. 56 Änderungen durch CoronaImpfV v. 8. 2. 2021 und 10. 3. 2021, jeweils bekannt gemacht am selben Tag, sowie durch Verordnungen v. 31. 3. 2021, 1. 6. 2021 und 30. 8. 2021, jeweils am Folgetag bekannt gemacht. 53

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virus SARS-CoV-2 (Coronavirus-Impfverordnung – CoronaImpfV) geregelt. Ausgeblendet werden kann im hiesigen Rahmen die viel diskutierte Frage57, ob die Verteilung des Impfstoffs auf Grundlage einer Rechtsverordnung mit dem Vorbehalt des Gesetzes vereinbar ist, da sich insofern keine zufallsspezifischen Probleme58 ergeben. Ebenfalls außen vor bleiben können die Änderungen der CoronaImpfV nach dem Frühjahr 2021, da die hier interessierende Priorisierung im Juni 2021 vollständig aufgegeben wurde, weil seither ausreichend Impfstoff vorhanden und eine Verteilungsentscheidung daher nicht länger erforderlich ist. Einschlägig für die Verteilungsentscheidung waren die §§ 2–4 CoronaImpfV a. F. Die Paragraphen differenzierten zwischen Personen mit „höchster“, „hoher“ und „erhöhter“ Priorität. Nach § 1 Abs. 1 CoronaImpfV hatten zwar – vereinfacht formuliert – alle Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort in Deutschland haben, Anspruch auf eine Schutzimpfung. Doch sah § 1 Abs. 2 Satz 1 CoronaImpfV a. F. vor, dass der Impfstoff zunächst an die Anspruchsberechtigten mit höchster Priorität, dann mit hoher Priorität, anschließend erhöhter Priorität und schließlich an alle übrigen Anspruchsberechtigten verteilt werden sollte. § 1 Abs. 1 CoronaImpfV umriss mithin den Kreis der Anspruchsberechtigten, während § 1 Abs. 2 CoronaImpfV a. F. in Verbindung mit §§ 2–4 CoronaImpfV a. F. eine „echte“ Auswahlentscheidung trafen. Mit höchster Priorität anspruchsberechtigt waren nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 Corona­ ImpfV a. F. Personen, die das 80. Lebensjahr vollendet hatten, ferner Pflegebedürftige und ihre Pfleger (Nr. 2 und 3) sowie medizinisches Personal mit regelmäßigem Kontakt zu besonders gefährdeten Personen (Nr. 4 und 5). In die zweite Gruppe fielen zunächst einmal Personen, die das 70. Lebensjahr vollendet hatten (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 CoronaImpfV a. F.) und Personen, die aufgrund bestimmter Krankheiten ein hohes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf aufwiesen (Nr. 2). Neben näher bezeichneten Personen im pflegerischen oder medizinischen Bereich (Nr. 3–5) waren ferner auch Polizisten (Nr. 6) oder Personen, die (unter anderem) in Kinderbetreuungseinrichtungen und Grundschulen tätig waren (Nr. 9), prioritär anspruchsberechtigt. Mit derselben Regelungstechnik führte § 4 Abs. 1 CoronaImpfV a. F. die Anspruchsberechtigten auf, die mit erhöhter Priorität Anspruch auf eine Schutzimpfung hatten: Unter anderem Personen ab Vollendung des 60. Lebensjahres (Nr. 1), Personen mit bestimmten Krankheiten (Nr. 2), Mitglieder von Verfassungsorganen (Nr. 4) und Lehrer, die nicht von § 3 Abs. 1 CoronaImpfV a. F. erfasst waren (Nr. 8).

57

Vgl. Leisner-Egensperger, Impfpriorisierung und Verfassungsrecht, S. 202 (203 ff.), die von der Verfassungswidrigkeit ausgeht. Im Überblick Huster / Kohlenbach / Stephan, Von Priorisierungsgruppen und Impfdränglern, S. 197 (198). 58 S. zu solchen spezifischen Problemen Spitzlei, Der Zufall als Entscheidungskriterium, S. 439 (456 ff.).

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Soweit die Verteilungsentscheidung auf das Alter einer Person zurückzuführen war, eröffnete § 2 Abs. 2 CoronaImpfV a. F. – und über einen Verweis auch § 3 Abs. 2 CoronaImpfV a. F. und § 4 Abs. 2 CoronaImpfV a. F. – die Möglichkeit, die Impfberechtigten getrennt nach Geburtsjahrgängen, beginnend mit den ältesten Jahrhängen, zur Impfung einzuladen. Eine Durchbrechung der Verteilungskriterien war nach § 1 Abs. 3 Satz 1 CoronaImpfV a. F. insbesondere bei drohendem Verwurf des Impfstoffs zulässig.

II. Analyse der Impfstoffverteilung „Die Schwächsten zu schützen, das ist das erste Ziel unserer Impfkampagne“, wurde der Bundesgesundheitsminister Ende 2020 zitiert.59 Dieses Ziel kommt in den §§ 2–4 CoronaImpfV a. F. deutlich zum Ausdruck. Da alte und kranke Personen typischerweise ein hohes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf bei einer Infektion mit dem Corona-Virus aufweisen, sollten diese als erstes geschützt werden. Dasselbe Motiv kommt auch in der frühen Impfung des pflegerischen und medizinischen Personals zum Ausdruck. Der Verordnungsgeber hat sich ersichtlich darauf konzentriert, das Leben der vulnerablen Personen zu schützen. Die Verteilung des Impfstoffs nach dem – materiellen – Kriterium der Vulnerabilität und Dringlichkeit findet eine starke verfassungsrechtliche Stütze: Art. 2 Abs. 2 GG drängt darauf, besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen vorrangig zu schützen.60 Sowohl der unmittelbare Lebensschutz durch die Impfung der Hochrisikogruppen als auch der mittelbare Lebensschutz durch die Impfung derer, die zwangsläufig Kontakt zu der Hochrisikogruppe haben, ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass der Verordnungsgeber aber auch auf andere materielle Verteilungskriterien zurückgegriffen hat. So lässt sich beispielsweise die Priorisierung von Polizisten aufgrund des Erfordernisses der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung rechtfertigen, welche in den Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG, allen voran dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG, eine Stütze findet. Dass Lehrer und Erzieher als Personen mit hoher oder zumindest erhöhter Priorität eingestuft worden sind, lässt sich auf das hohe verfassungsrechtliche Gewicht von Kindeswohlbelangen (Art. 6 GG) und der schulischen Erziehung (Art. 7 GG) zurückführen. Neben dem Schutz besonders vulnerabler Personen hat der Staat sich und seine Einrichtungen also in gewisser Weise auch selbst geschützt.

59

https://www.bundesregierung.de/breg-de/mediathek/die-schwaechsten-zuerst-schuetzen1830946 (zuletzt abgerufen am 2. 9. 2021). 60 Vgl. Bildsdorfer / Sigel, Meilenstein und Stolperstein zugleich?, S. 594 (596 f.); Huster /  Kohlenbach / Stephan, Von Priorisierungsgruppen und Impfdränglern, S. 197 (198); Taupitz, Verteilung medizinischer Ressourcen in der Corona-Krise: Wer darf überleben?, S. 440 (444).

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Aufgrund des breiten Spielraums, den die Verfassung dem Verordnungsgeber belässt61, sind die verschiedenen Verteilungskriterien isoliert betrachtet und in Gesamtschau verfassungsrechtlich zulässig.62 Das Grundgesetz enthält mit dem von Art. 2 Abs. 2 GG garantierten Lebensschutz das materielle Leitmotiv für die Verteilung des Impfstoffs. Wenngleich der Verordnungsgeber die Wahl zwischen mehreren möglichen Strategien hat, ist er stets an diesem Ziel zu messen. Die weiteren materiellen Verteilungskriterien haben ebenfalls verfassungsrechtliches Gewicht und sind jedenfalls subsidiär zu dem Lebensschutz nicht zu beanstanden.

E. Kritische Würdigung der Impfstoffverteilung: Mehr Zufall wagen? Die Analyse der Impfstoffverteilung hat gezeigt, dass eine Orientierung an materiellen Verteilungskriterien verfassungsrechtlich vorgegeben ist. Eine Impfstoffverteilung nach dem Zufallsprinzip ist daher zunächst einmal zweifelsohne individual-ungerecht und somit rechtfertigungsbedürftig. Im Folgenden sollen einige Szenarien durchgespielt werden, um die Frage zu beantworten, ob man bei der Impfstoffverteilung hätte mehr Zufall wagen können oder gar müssen. In Erwägung gezogen werden zunächst eine Verteilung des Großteils (I.) und eines geringen Teils (II.) des Impfstoffs nach dem Zufall. Besonders lohnenswert ist eine nähere Analyse einer – in mehrerer Hinsicht – zeitlich nachgelagerten Zufallsentscheidung (III.).

I. Breit angelegte Verteilung nach dem Zufall Ruft man sich die bereits erarbeiteten Voraussetzungen und Grenzen von zufallsbasierten Verteilungsentscheidungen in Erinnerung63, so gilt für eine breit angelegte Verteilung des Impfstoffs nach dem Zufallsprinzip Folgendes: Die Orientierung an den genannten materiellen Verteilungskriterien ist verfassungsrechtlich stark determiniert. Das qualitative Ausmaß der Ungerechtigkeit einer Zufallsentscheidung wäre überdies groß, da die Gruppe der Berechtigten sehr heterogen ist. Um dies deutlich zu machen: Bei einer Zufallsentscheidung wäre hinzunehmen, dass ein gesunder Mensch mittleren Alters, der bei einer Infektion mit dem Corona-Virus regelmäßig nur leichte Krankheitssymptome hätte, einem vorerkrankten Menschen hohen Alters mit einem ungleich höheren Sterblichkeitsrisiko die 61

Allgemein zu der Offenheit des Sozialstaatsprinzips in diesem Zusammenhang Kingreen, Knappheit und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen, S. 152 (175 f.). 62 In diese Richtung zumindest für die erste Gruppe Leisner-Egensperger, Impfpriorisierung und Verfassungsrecht, S. 202 (203). Insgesamt Huster / Kohlenbach / Stephan, Von Priorisierungsgruppen und Impfdränglern, S. 197 (198). 63 S. unter C. II. 3.

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Impfdosis „wegnehmen“ würde. Führt man sich überdies vor Augen, dass der Praktikabilitätsgewinn in dem genannten Beispiel aufgrund der guten Unterscheidbarkeit der beiden Personen nur gering wäre, so gelangt man zu dem Ergebnis, dass eine breit angelegte Verteilung des Impfstoffs nach dem Zufallsprinzip mit dem allgemeinen Gleichheitssatz unvereinbar gewesen wäre.

II. Klein angelegte Verteilung nach dem Zufall Auch der – ansonsten oft gangbare – Weg, nur einen geringen Teil, zum Beispiel 10 %, der jeweils verfügbaren Impfdosen über den Zufall zu verteilen und den absoluten Großteil nach den materiellen Kriterien zu vergeben, begegnet durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Dies ist maßgeblich auf den enormen Impfstoffmangel Anfang des Jahres 2021 zurückzuführen. Da es zu Beginn der Impfkampagne Monate dauerte, um allein die in höchstem Maße Schutzbedürftigen mit Impfstoff zu versorgen, hätte jede fehlende Impfdosis den Schutz dieser Bevölkerungsteile weiter hinausgezögert. Die Herausnahme eines geringen Teils des knappen Gutes bietet sich vor allem dann an, wenn die rest­liche Kapazität ausreicht, um die nach materiellen Verteilungskriterien zwingend zu versorgenden Nachfragenden auch tatsächlich (zeitnah) versorgen zu können. Dies war zwar bis zum Frühjahr 2021 nicht gewährleistet, deutet aber darauf hin, dass eine entscheidende Frage nicht lautet, ob, sondern wann Zufallsentscheidungen möglich gewesen wären.

III. Zeitlich nachgelagerte Verteilung nach dem Zufall Der Anwendungsbereich von Zufallsentscheidungen lässt sich unter dem Oberbegriff der zeitlich nachgelagerten Verteilung zusammenfassen. Dies bedeutet zunächst einmal, dass mit zeitlichem Fortschritt der Impfkampagne eine Zufallsverteilung zunehmend berechtigt gewesen wäre (1.). Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Impfstoffverteilung durch übersteigerte Gerechtigkeitsideale ausgebremst wurde (2.), obwohl eine zügige Impfstoffverteilung dringend geboten war (3.). Vermeintliche „Zufälle“ bei der Impfstoffverteilung hätten durch eine „echte“ Zufallsverteilung verhindert werden können (4.). Daraus resultiert ein nicht unerheblicher Anwendungsbereich für Zufallsentscheidungen bei der Impfstoffverteilung (5.). 1. Zeitliches Voranschreiten und schwindender Einfluss der materiellen Verteilungskriterien Die soeben unter II. angestellten Überlegungen zeigen eine Möglichkeit für eine zufallsbasierte Impfstoffverteilung de lege ferenda auf: Mit zeitlichem Voran­ schreiten der Impfkampagne und einer ständig zunehmenden Menge an verfüg-

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barem Impfstoff bei gleichzeitig abnehmender Zahl der besonders schutzbedürftigen vulnerablen Personen, hat das materielle Verteilungskriterium  – Art. 2 Abs. 2 GG  – zunehmend an Bedeutung verloren. Bei breiten Teilen der dritten Gruppe mit einem erhöhten Anspruch erfolgte die Verteilung ohnehin nicht mehr orientiert an Art. 2 Abs. 2 GG, sondern etwa an Art. 6 oder 7 GG (Lehrer und Erzieher) oder Art. 20 Abs. 3 GG (Polizisten). Man wird insofern von einer weitaus schwächeren materiellen Richtungsvorgabe in der Verfassung ausgehen müssen. Jedenfalls aber gegen Ende der Impfpriorisierung im Mai und Juni 2021, als auch sonstige Beschäftigte im Öffentlichen Dienst ein Impfangebot bekommen haben, war die Impfstoffverteilung in dieser Form alles andere als zwingend vorgegeben. Es sei nochmals betont, dass es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, wenn der Staat sich in gewisser Weise selbst schützt, indem er die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst bevorzugt mit Impfstoff versorgt. Doch ist diese Verteilungsentscheidung bei Lichte betrachtet nicht mehr weit entfernt von einer zufälligen, im Sinne einer beliebigen, Verteilung. Wer etwa „zufällig“ neben dem Studium als studentische Hilfskraft an einer Professur beschäftigt war oder gar kurzerhand einen solchen Vertrag abschloss, der erhielt über diese Schiene ein Impfangebot. Man mag dies kritisieren oder darauf verweisen, dass vereinzelte Ungerechtigkeiten in Massenverwaltungsverfahren nie auszuschließen sind. Dies kann letztlich aber dahinstehen, da nicht entscheidend ist, nach welchen materiellen Kriterien gegen Ende der Impfpriorisierung ausgewählt wurde, sondern dass überhaupt noch materielle Kriterien maßgeblich waren. 2. Überforderung der Verwaltung durch übersteigerte Gerechtigkeitsvorstellungen Dass das eigentliche Problem bildlich gesprochen auf einer anderen Ebene liegt, wird deutlich, wenn man die Alternative zu der materiellen Impfstoffverteilung, eine zufallsbasierte Verteilung, in Erwägung zieht: Einer dringenden verfassungsrechtlichen Notwendigkeit der Bevorzugung sämtlicher Beschäftigter im Öffentlichen Dienst wird wohl niemand das Wort reden wollen. In ähnlicher, etwas abgeschwächter Form, lässt sich dies auch bezüglich der Gruppe der über 60-Jährigen oder Personen mit Vorerkrankungen sagen, bei denen oftmals nur eine vage Vermutung bezüglich der gesteigerten Vulnerabilität besteht. Gleichwohl ist ein enormer Verwaltungsaufwand betrieben worden, um die Berechtigung der jeweiligen Nachfragenden zu überprüfen und entsprechende Impfangebote zu unterbreiten.64 Steht man der – hier bejahten – Möglichkeit einer Abwägung zwischen materieller Gerechtigkeit und Praktikabilitätserwägungen kritisch bis ablehnend 64

S. zur Forderung der deutlichen Vereinfachung des Deutschen Hausärzteverbandes https://hausaerzteverband.de/fileadmin/user_upload/publikationen/Stellungnahmen_Verband/ 2021_03_04_Deutscher_Hausaerzteverband_Stellungnahme_Corona_ImpfVO.pdf (zuletzt abgerufen am 2. 9. 2021).

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gegenüber, so mag man einwenden, dass auch eine materiell-rechtlich (nur) gut vertretbare Entscheidung den Verwaltungsaufwand wert ist. Jedenfalls bei der Impfstoffverteilung war dies im Ergebnis aber nicht der Fall, da bereits Ende Februar 2021, also zu einem relativ frühen Zeitpunkt der Impfkampagne, nicht länger der verfügbare Impfstoff, sondern die Terminvergabe der Flaschenhals der Impfstoffverteilung war.65 3. Gebot einer zügigen Impfstoffverteilung Hindert das Ziel einer (vermeintlich) möglichst gerechten Impfstoffverteilung eine hinreichend zügige Impfstoffverteilung, so ist sie unter dem Strich ungerecht. Bei einer „gewöhnlichen“ Zufallsentscheidung fallen sowohl eine individuelle Ungerechtigkeit als auch Nachteile für die Allgemeinheit ins Gewicht. Bei der Impfstoffverteilung ist die Abwägung hingegen bei Lichte betrachtet anders gelagert. Eine möglichst rasche und effiziente Verteilung des Impfstoffs konfligiert nicht (lediglich) mit dem Primärziel des Lebensschutzes, sondern dient diesem Primärziel zugleich – sowohl auf individueller Ebene als auch bezogen auf die Allgemeinheit. Nicht ausgeblendet werden darf nämlich die überindividuelle Komponente des Impfens: Mit jeder Impfung eines etwas weniger Schutzbedürftigen anstelle eines etwas mehr Schutzbedürftigen profitieren letztlich alle – also auch derjenige mit einem marginal größeren Schutzbedürfnis. Der Gemeinwohlnutzen einer jeden Impfung wurde spätestens im Sommer 2021 deutlich, als sich das Verhältnis zwischen verfügbarem Impfstoff und Impfwilligen endgültig in sein Gegenteil verkehrt hatte: Der einstige Impfstoff-Mangel hatte sich zu einem Impfwilligen-Mangel gewandelt. Seither wird an die soziale Verantwortung der noch nicht Geimpften appelliert, die bei einem individuell geringen Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs andere – vor allem (unfreiwillig) nicht geimpfte – vulnerable Personen gefährden. Dass die Impfstoffverteilung im Detail mitunter gut gemeint, aber schlecht gemacht war, zeigt sich besonders deutlich an den Regelungen in den jeweils zweiten Absätzen der §§ 2–4 CoronaImpfV a. F. Die dort eingeräumte Möglichkeit der weiteren Untergliederung der Impfberechtigten nach dem Geburtsjahrgang ist tatsächlich in vielen Ländern praktiziert worden.66 Unabhängig davon belegt schon allein die Aufnahme einer solchen Regelung, dass der Verordnungsgeber die Praktikabilität der Impfstoffverteilung vernachlässigt hat. Der Mehrwert einer 65

S. zu entsprechenden Berichten etwa https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/coronaimpfstoff-lasst-endlich-profis-ran-a-dc9bf381-574c-40f4-a03b-b0e7eba68cb7 und https://www.faz. net/aktuell/politik/inland/corona-impfstoff-macht-gerechtigkeit-deutschland-langsam-17224 203.html (beide zuletzt abgerufen am 2. 9. 2021). 66 S. etwa zu Bayern Ruschemeier, Algorithmenbasierte Allokation im Gesundheitswesen am Beispiel der COVID-19-Impfpriorisierung, S. 750 (751). In Bremen priorisierte die Senatorin für Gesundheit innerhalb der Gruppen nochmals nach medizinischen und infektiolo­gischen Erkenntnissen, s. § 1 Abs. 3 BremCoV-ImpfAG.

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Bevorzugung des 88-Jährigen gegenüber einem 87-Jährigen um wenige Tage geht fraglos gegen Null; der damit einhergehende organisatorische Mehraufwand ist enorm, selbst wenn ein Algorithmus über die Terminvergabe entscheidet.67 Termine müssen freigehalten und bei entsprechender Belegung auch geblockt werden. Die Überprüfung der Berechtigung kurz vor der Impfung68 kostet Zeit und falls sich dann herausstellt, dass der Nachfragende gar nicht berechtigt ist, dann platzt der Termin. 4. Fragwürdige „Zufälligkeiten“ bei der Impfstoffverteilung In hohem Maße ungerecht waren schließlich zwei Begleiterscheinungen der praktizierten Impfstoffverteilung. Zum einen erhielt der Zufall in einigen Ländern auf eine fragwürdige, nicht beabsichtigte und nicht berechtigte Weise Einzug in das Verfahren. Soweit die Nachfragenden  – bei entsprechender materieller Berechtigung – in einem ersten Schritt nicht lediglich ihr Interesse an der Impfung bekunden konnten, sondern sogleich ein Termin reserviert wurde, entschieden oftmals letztlich Durchhaltevermögen und Hartnäckigkeit in der Warteschleife am Telefon oder bei dem Aufrufen einer Internetseite über den Zeitpunkt der Impfung. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass sich de lege lata eine Zufallsentscheidung zumindest bei dem drohenden Verwurf des Impfstoffs geradezu aufgedrängt hätte, aber nicht überall praktiziert wurde. Im Frühjahr 2021 häuften sich Berichte über das „Vordrängeln“ bei der Impfung; vor allem Bürgermeister und selbst Bischöfe hatten – weit vor ihrem „eigentlichen“ Impftermin – dem drohenden Verwurf von Impfstoff entgegengewirkt und kurz vor Schließung von Impfzentren den übrig gebliebenen Impfstoff erhalten.69 Diese Ungerechtigkeiten hätten mit einer der materiellen Verteilungsentscheidung nachgelagerten Zufallsentscheidung verhindert werden können.70 67

S. zu Beispielen und den damit verbundenen rechtlichen Problemen Ruschemeyer, Algorithmenbasierte Allokation im Gesundheitswesen am Beispiel der COVID-19-Impfpriorisierung, S. 750 (751 ff.). 68 Dies setzt freilich voraus, dass man im Impfzentrum überhaupt zu einer entsprechenden Kontrolle berechtigt ist, was wiederum von der landesrechtlichen Organisation abhängt und im Detail unterschiedlich bewertet wird, vgl. Huster / Kohlenbach / Stephan, Von Priorisierungsgruppen und Impfdränglern, S. 197 (200 f.). 69 Statt vieler sei hier der Cottbuser Oberbürgermeister genannt, s. https://www.tagesspiegel. de/berlin/es-gibt-einen-anfangsverdacht-staatsanwaltschaft-ermittelt-gegen-cottbuser-oberbuerger meister/27155634.html (zuletzt abgerufen am 2. 9. 2021). In Halle sind neben dem Oberbürgermeister auch noch zahlreiche Mitglieder des Stadtrates geimpft worden, s. https://www.mdr.de/ nachrichten/sachsen-anhalt/halle/halle/stadtratssitzung-impfskandal-dienstverbot-wiegand100.html (zuletzt abgerufen am 2. 9. 2021). 70 Der Ansicht, dass man im Einzelfall „auch gegen eine ‚willkürliche‘ Verwendung keine Einwände erheben“ könne, s. Huster / Kohlenbach / Stephan, Von Priorisierungsgruppen und Impfdränglern, S. 197 (202), wird hier ausdrücklich widersprochen. Das Bereithalten einer Liste mit Personen, die nach zufälliger Auswahl binnen kurzer Zeit für eine Impfung bereitstehen müssen, ist eine praktikable und gerechte Alternative.

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5. Fazit: Spielraum für eine Verteilung des Impfstoffs durch den Zufall Materiell-rechtlich fragwürdige und allenfalls schwach verfassungsrechtlich determinierte Verteilungskriterien, vor allem die Priorisierung sämtlicher Beschäftigter im Öffentlichen Dienst, dienen kaum der Verteilungsgerechtigkeit, sondern sind dieser tendenziell abträglich, weil sie die Vergabegeschwindigkeit reduzieren. Die Herausnahme solcher Gruppen und die damit verbundene früher mögliche Zufallsverteilung an alle verbleibenden Impfberechtigten wäre gleichheitsgerechter gewesen. Auch eine allzu detaillierte und perfektionistische Feinabstufung nach dem Kriterium der Vulnerabilität ist kontraproduktiv und aufgrund der damit verbundenen Verzögerung der Impfstoffverteilung weniger gerecht als eine zufällige Verteilung des Impfstoffs innerhalb der nach den Kriterien der höchsten, hohen oder erhöhten Vulnerabilität gebildeten Gruppen. Schließlich hätte der Verordnungsgeber gut daran getan, zumindest eine zufällige Verteilung des vom Verfall bedrohten Impfstoffs zu normieren.

F. Fazit Der Verteilung des Corona-Impfstoffs kommt – vor allem im Frühjahr 2021 – aufgrund der enormen Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage und auch mit Blick auf das zahlenmäßige Ausmaß und die Dringlichkeit der Impfung zweifelsohne eine Ausnahmestellung innerhalb der vielgestaltigen Verteilungsentscheidungen zu. Nichtsdestotrotz – oder: gerade deswegen – sollte man daraus für künftige ähnliche gelagerte Verteilungsverfahren Lehren ziehen. Das Bestreben, den Impfstoff ganz überwiegend nach individualgerechten Kriterien zu verteilen, ist verfassungsrechtlich geboten und somit rechtlich nicht zu beanstanden. Gleichwohl zeigt die Analyse, dass dem – vermeintlich ungerechten, weil willkürlich anmutenden – Zufall als Verteilungskriterium schon in einem frühen Stadium der Impfkampagne eine nicht zu unterschätzende Bedeutung hätte zukommen können und nach der hier vertretenen Auffassung auch hätte zukommen müssen. Die Verteilung des Corona-Impfstoffs offenbart eindrucksvoll die Schwächen materieller Verteilungskriterien und die Vorzüge des „formalsten Kriteriums der Welt“ – dem Zufall. Eine fein ziselierte Vergabe nach materiell-gerechten Kriterien steht stets unter dem Vorbehalt der Durchführbarkeit. Mit einem individual-gerechten System ist auch den insofern Begünstigten nicht geholfen, wenn das System so komplex ist, dass eine – im Fall der Impfstoffverteilung dringend gebotene – rasche Versorgung mit dem knappen Gut nicht mehr gewährleistet ist. Bei einer lediglich groben Vorauswahl nach materiellen Kriterien und einer anschließenden breit angelegten Verlosung des Impfstoffs wäre das Ausmaß der Ungerechtigkeit aufgrund der geringen sachlich-inhaltlichen Unterschiede zwischen den verbleibenden Nachfragenden gering und der Gewinn an Praktikabilität groß gewesen.

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Da jede durchgeführte Impfung auch dem Schutz aller nicht Geimpften dient, wäre eine Beschleunigung des Verfahrens letztlich im Interesse aller gewesen.

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Magie in Recht und Religion. Über nichtkausale Wirkungszusammenhänge in rechtlichen und religiösen Ritualen Judith Hahn, Bonn Auf den ersten Blick haben Recht und Religion nicht viel gemeinsam. Ein zweiter Blick offenbart faszinierende Parallelen. Denn sowohl Recht als auch Religion setzen auf das Zustandekommen bestimmter Wirkungen, indem sie einen direktionalen Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen besagen, die nicht kausal verkettet sind. Solche Zusammenhänge kann man auch „zufällige“ nennen. Sie bringen rechtliche oder religiöse Realitäten ins Dasein, indem sie eine Verbindung zwischen einem Ereignis und einem anderen Ereignis behaupten, obwohl sich deren Beziehung nicht kausal erklären lässt. Der systematische Theologe Hermann Häring sprach vom Zufall als der „Unbestimmbarkeit einer Sache in einem bestimmten Zusammenhang“1. Durch eine solche letztlich nicht kausal determinierbare Verknüpfung einer bestimmten Handlung mit einer bestimmten Rechtsfolge verwandelt beispielsweise eine Unterschrift Menschen in Ehepartner oder Eigentümerinnen. Das Aussprechen einer Eidesformel macht Privatpersonen zu Staatsdienerinnen bzw. Staatsdienern.2 Religiöse Individuen glauben, dass spezifische Riten ihnen Heil bringen. Muslimische Gläubige gehen beispielsweise davon aus, dass die Überwindung einer Wegstrecke nach Mekka Gottes Segen bewirkt. Christinnen und Christen nehmen an, dass das Übergießen mit Wasser aus einem Kind ein Mitglied ihrer Gemeinschaft macht. Hindus vertrauen darauf, dass ein Bad im Ganges sie spirituell reinigt.3

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Häring, Glücklicher Zufall. John Searle nennt in seinem Buch Making the Social World eine Vielzahl solcher und ähnlicher Beispiele – vor allem aus dem Feld des Rechts –, wie Menschen mithilfe von deklarativer Sprache die Realität verändern; Charles Taylor greift unter anderem diese sprechakttheoretischen Überlegungen auf, um die menschliche Fähigkeit darzutun, die soziale Welt umfänglich mithilfe von Sprache zu gestalten: vgl. Taylor, The Language Animal. 3 Diese und ähnliche Beispiele nennt Joseph Martos im Rahmen seiner komparatistischen Studien zur katholischen Sakramententheologie: vgl. Martos, Doors to the Sacred, S. 13. 2

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Magische Wirkungen „Magie“ ist ein Begriff, der sowohl in Soziologie, Anthropologie und Ethnologie4 als auch in der Rechtswissenschaft5 in diesem Zusammenhang Verwendung findet. Er bezeichnet soziale Praktiken, die zwischen zwei in keinem (oder keinem bekannten) kausalen Zusammenhang stehenden Ereignissen oder Zuständen eine wirkmächtige Verbindung herstellen. Diese unbestimmbaren und daher zufälligen Verbindungen sind freilich nicht irrational und ebenso wenig unbeherrschbar. Vielmehr werden sie bewusst gewählt und mithilfe von Magie kontrolliert. So verwendet, ist der Begriff „Magie“ nicht negativ konnotiert, wie unser Alltagssprachgebrauch nahelegt, sondern bezeichnet die soziale Kraft, jenseits naturgesetzlicher Kausalität belastbare Wirkungszusammenhänge zu erzeugen, um aus ihnen soziale Wirkungen zu gewinnen. Erst im 19. Jahrhundert erhielt „Magie“ eine überwiegend negative Konnotation als irrationale Praktik, wie die Rechtswissenschaftlerin Jessie Allen aufzeigt. Magie wurde banalisiert und zur Gegenkraft der rationalen Wissenschaft stilisiert. Allen kritisiert diese „Victorian anthropological definition of magic as a kind of false science“6. Befreie man „Magie“ aus dieser Engführung einer Antipode zur Wissenschaft und begreife sie als wirkmächtige soziale Praxis, werde deutlich, dass „Magie“ keineswegs irrational sei, sondern mithilfe symbolischer Kommunikationen auf diverse soziale Bedarfe und Bedürfnisse antworte. Auch katholische Sakramente sind in diesem Sinne „magisch“, auch wenn dieser Sprachgebrauch in Theologie und Kirche aufgrund der dominierenden pejorativen Alltagsverwendung des Magiebegriffs verpönt ist. Denn Sakramente sind soziale Handlungen mit sozialen Wirkungen, deren Wirkungszusammenhang jedoch rätselhaft bleibt, da der Konnex von Handlung und Wirkung nicht unmittelbar einleuchtet. Der katholische Sakramententheologe Joseph Martos versteht als sakramentale Magie in diesem Sinne das Phänomen, dass sich bei der Spendung von Sakramenten eine Ursache und eine Wirkung benennen lässt, der Wirkungszusammenhang jedoch unerklärbar bleibt.7 Er beobachtet: „Ordination turns a man into a priest; a wedding changes a man and women into a married couple; confession effects the forgiveness of sins; anointing of the sick bestows God’s healing; baptism turns a pagan into a Christian; confirmation strengthens one in the faith. In all these instances, we see the effective sign and we perceive the sacramental effects without understanding how the sacramental action produced the effect.“8 4

Vgl. u. a. Mauss, A General Theory of Magic; Durkheim, The Elementary Forms of Religious Life; Malinowski, Magic, Science and Religion. 5 Vgl. u. a. Gurvitch, Magic and Law, S. 104–122; Allen, A Theory of Adjudication, S. 773– 831; Corcos (Hrsg.), Law and Magic; Neuwirth, Law and Magic, S. 139–190; Alvarez-Nakagawa, Law as Magic, S. 1247–1275; De Sutter, On the Magic of Law, S. 123–142. 6 Allen, A Theory of Adjudication, S. 775. 7 Vgl. Martos, Catholic Rituals. 8 Martos, Sacramental Magic.

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Die Ritualtheoretikerin Catherine Bell schlägt für Rituale im Generellen ein ähnliches Magieverständnis vor, das sie aus der Lektüre von Michel Foucault gewinnt. Foucault, wie Bell bemerkt, habe erkannt, dass Menschen in der Regel wüssten, was sie tun, und ebenfalls wüssten, mit welchem Ziel sie rituell handelten, dass sie sich aber in der Regel nicht über die Wirkweise der Handlung auf dem Weg zur erstrebten Wirkung im Klaren seien. Bell schreibt: „people know what they do and they know why they do what they do, but they do not know what what they are doing does“9. In ähnlicher Weise bemerkt der Anthropologe Pascal Boyer über die Wirkweise von magischen Ritualen: „The causal link is obvious but its mechanism is difficult to describe. Some undeniably real but inscrutable cause is thought to have produced  a visible effect. There is something in initiation that turns boys into men, although no one can say what it is. There seems to be something in the wedding ceremony that really turns people into a couple, in a way that remains mysterious.“10

Folgt man diesen Ansätzen, so lassen sich als magische Handlungen jene sozialen Praktiken verstehen, die eine Ursache mit einer Wirkung verknüpfen, hierbei jedoch wenig Klarheit darüber erzeugen, worin ihr Zusammenhang besteht. Joseph Martos nennt Beispiele aus Recht und Religion. In Bezug auf rechtliche Magie bezieht er sich unter anderem auf die vom Ethnologen Arnold van Gennep beschriebenen so genannten Übergangsriten als solchen Ritualen, die den Übergang einer Person von einem rechtlichen oder sozialen Status in einen anderen rechtlichen oder sozialen Status vollziehen.11 Er notiert: „Many human ceremonies, e­ specially rites of passage, have this same magical quality. When the candidate recites the oath of office with one hand raised and the other on a Bible, he is transformed from a private citizen to a public official. When the graduate receives her diploma, she is transformed from being a student to being a certified expert.“12 Ähnliche Vorgänge kann man bei religiösen Übergangsriten beobachten. Aus christlicher Sicht wird ein Kind durch das Übergießen mit Wasser ein Mitglied der Kirche, ohne dass sich einfachhin erklären ließe, wie dies geschieht. Warum der Körperkontakt mit Wasser im Kontext der Taufe gliedschaftsrechtliche Folgen auslöst, ist – von außen betrachtet – eine eher überraschende Wendung.

Deklarative Sprechakte Dergestalt magische Handlungen in Recht und Religion sind performative Akte. Sie bewirken, was sie bezeichnen, indem sie Symbole einsetzen, um auf eine Realität zu verweisen und diese Realität in der symbolischen Darstellung real werden 9 Bell, Ritual Theory, Ritual Practice, S. 108, unter Bezugnahme auf Michel Foucault, Afterword. The Subject and Power, in: Dreyfus / Rabinow (Hrsg.), Michel Foucault. Beyond Structuralism and Hermeneutics, 2. Aufl., Chicago 1983, S. 225. 10 Boyer, Religion Explained, S. 256. 11 Vgl. Gennep, The Rites of Passage. 12 Martos, Catholic Rituals.

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zu lassen.13 Thomas von Aquin nannte Sakramente daher „causae significandi“ und „causae efficiendi“, insoweit sie die göttliche Gnade besagen und sie hierdurch zugleich im Hier und Jetzt wirksam werden lassen.14 Die so symbolisch dargestellte und erzeugte Realität kann eine spirituelle Wirklichkeit sein, wie der in den Sakra­ menten erfolgende göttliche Gnadenzuspruch, aber auch eine rein menschliche Status­veränderung. Im Sinne der Sprechakttheorie sind Rechtsmagie wie Sakramente „things we do in saying something“15, gemäß der Definition, mit der John Austin, der Vater der Sprechakttheorie, die performative Wirkung von Sprache zu fassen versuchte. Die von ihnen besagte Realität bringen Rechtsmagie und Sakramente durch deklarative Sprechakte hervor. Sie bezeichnen, was sie bewirken, und bewirken, was sie bezeichnen, durch die Deklaration der Realität des Bezeichneten. Für den Philosophen John Searle sind Deklarationen Sprechhandlungen, die die Grundlage aller Institutionen bilden. Denn mittels deklarativer Sprechakte entstehen so genannte Statusfunktionen. Als Statusfunktionen versteht Searle sprach­ bewirkte Statusveränderungen von Personen oder Sachen, die diesen Funktionen oder Kompetenzen verleihen, die über ihre natürlichen Funktionen oder Fähigkeiten hinausgehen und allein darin begründet sind, dass sie einem bestimmten deklarativ erzeugten Status sozial zuerkannt werden. Searle erläutert dies am Beispiel von deklarativen Akten, die einem Stück Papier die Statusfunktion als Zahlungsmittel verleihen oder eine Privatperson zum Präsidenten eines Landes machen.16 Er notiert: „We create private property, money, government, marriage, and a thousand other phenomena by representing them as existing.“17 Durch die Verleihung von Statusfunktionen werden Personen oder Sachen zu Institutionen. Sie erhalten per Deklaration eine „deontische Kraft“. Diese „deontic powers“ sind die diversen Sollensansprüche, die sich mit Institutionen verbinden: Verantwortlichkeiten, Kompetenzen, Ermächtigungen, Erfordernisse, Obliegenheiten, Rechte und Pflichten.18 Es sind vor allem diese institutionellen Realitäten, die offenlegen, dass Recht und Religion die Fähigkeit teilen, mithilfe von performativ-rituellem Handeln soziale Fakten zu schaffen und diese mit normativen Ansprüchen zu verbinden. Die dergestalt erzeugten rechtlichen und religiösen Institutionen sind vielgestaltig. Sie umfassen Mitgliedschaften, öffentliche Ämter, Ehen, Rechte und Pflichten der Staatsbürgerinnen und -bürger, Kompetenzen der Amtsträgerinnen und Amtsträger, die staatliche und kirchliche Strafgewalt. Sprechakttheorie und Ritualtheorie haben viel Mühe darauf verwendet, näherhin zu klären, wie die performative Erzeugung von Realität gelingt. John Austin 13

Zum Zusammenhang von Symbol und Ritual vgl. u. a. Gerholm, On Ritual, S. 198; ­Chauvet, Symbol and Sacrament, S. 325. 14 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae III, q. 66 art. 5, in: Editio Leonina 12, S. 68. 15 Austin, How to Do Things with Words, S. 108. 16 Vgl. Searle, Making the Social World, S. 7. 17 Searle, Making the Social World, S. 86. 18 Vgl. Searle, Making the Social World, S. 89.

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beschrieb die Bedingungen erfolgreicher Sprechakte wie folgt: „There must exist an accepted conventional procedure having a certain conventional effect, that procedure to include the uttering of certain words by certain persons in certain circumstances“19. Der Anthropologe Roy Rappaport hielt für die Ritualtheorie eine ähnliche Beobachtung fest, wie Rituale ihre Wirkungen erzielen, indem er für formalisierte Rituale notierte: „The formality of liturgical orders helps to ensure that whatever performatives they may incorporate are performed by authorized people with respect to eligible persons or entities under proper circumstances in accordance with proper procedures.“20 Performative Akte verlangen also sowohl aus der Perspektive der Sprechakttheorie als auch aus der der Ritualtheorie ein durch Konventionen normiertes Verfahren, das eine durch Konventionen definierte Wirkung hervorbringt, wobei für das Verfahren genauer zu regeln ist, wer kompetent zu handeln befugt ist, welche Worte und rituellen Gesten die Handlung erfordert und wie der Kontext beschaffen sein muss, in den das performative Ritual eingebettet ist. Es sind diese Bedingungen, auf deren Basis performatives Handeln mithilfe deklarativer Sprache und Gestik Realitäten – also rechtliche Institutionen, soziale Fakten und religiöse Wirklichkeiten – erschafft. Durch Rituale des Rechts entsteht die rechtliche Realität.21 Soziale Riten bringen soziale Statusfunktionen hervor. In religiösen Liturgien wird ein spirituelles Ereignis erzeugt und vermittelt.

Nicht-Kausalität Das Vorgenannte klärt freilich noch nicht darüber auf, wie man den Wirkungszusammenhang zwischen performativer Handlung und ihren institutionellen Wirkungen zu verstehen hat. Um dies näher zu beleuchten, ist erneut auf die Eingangs­ behauptung Bezug zu nehmen, die performative Verknüpfung eines Ereignisses mit einem anderen Ereignis oder Zustand sei nicht-kausal.22 Gegen diese Behauptung, performative Handlungen brächten rechtliche oder religiöse Wirkungen hervor, obwohl sich diese Effekte nicht kausal auf die Handlung zurückführen lassen, mag man nämlich einwenden, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Akt und Ef 19

Austin, How to Do Things with Words, S. 14. Der systematische Theologe Mervyn Duffy griff die von Austin erarbeiteten Kriterien auf und wendete sie auf die katholischen Sakramente, v. a. auf die kanonische Eheschließung, an, vgl. Duffy, How Language, Ritual and Sacraments Work, S. 44–47. 20 Rappaport, Ecology, Meaning, and Religion, S. 190. 21 Vgl. hierzu u. a. Olivecrona, Law As Fact, S. 217–239; Kurzon, It is Hereby Performed. 22 Mein folgendes Argument beschreibt den nicht-kausalen Zusammenhang von Handlung und Wirkung performativer Rituale im Recht, verhält sich aber nicht zu den Debatten um Kausalität im Recht, für die vor allem die ursächliche Zurückführung eines Schadens oder einer Rechtsverletzung auf eine bestimmte Handlung oder Unterlassung und damit die Zuschreibung von Verantwortung für den Schaden oder die Rechtsverletzung zentral ist, vgl. hierzu u. a. Hart / Honoré, Causation in the Law; Hellner, Causality and Causation in Law, S. 111–134; Fumerton / Kress, Causation and the Law, S. 83–106; Moore, in: Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy.

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fekt offensichtlich ist. Der Erfolg performativer Handlungen steht schließlich kaum in Abrede. Immerhin treten die Wirkungen performativer Rituale zuverlässig ein, wenn man die Handlungen korrekt vollzieht. Ob Ernennung zur Staatsbeamtin, Eheschließung oder Taufe – all diese deklarativen Akte führen ja weitgehend unbezweifelt zu ihrer erstrebten Wirkung. Sie bringen die Institution Verbeamtung, Ehe oder Kirchengliedschaft hervor und mit ihr all die mit diesen Institutionen verbundenen Statusfunktionen wie Amtsgewalt, eheliche Rechte oder Christenpflichten. In diesem Sinne sprach Pascal Boyer in dem bereits genannten Zitat in Bezug auf performative Rituale nachvollziehbar von einem „causal link“23 zwischen einer mysteriösen Wirkursache und ihrer offenkundigen Wirkung. Auch in der scholastischen Sakramentenlehre ist vielfach von den „causae“ die Rede, die Sakramente bedingen. Nach scholastischer Lehre kann man die sakramentalen Formeln als Formursache („causa formalis“) der Sakramente verstehen. Die sakra­mentale Materie gilt als ihre Materialursache („causa materialis“). Christi Erlösungshandeln und das es an den Empfängerinnen und Empfängern imitierende Handeln der Spenderin bzw. des Spenders sind Wirkursachen („causa efficiens“) der Sakramente. Ihre Zweckursachen („causa finalis“) sind das Heil der Menschen und die Verherrlichung Gottes. Die Sakramente, so formuliert es in Folge die kirchliche Doktrin, sind „Ursache der Gnade“. Sie bewirken das Heil. Gleichwohl ist kaum naturgegeben, dass eine Waschung mit Wasser Heil verspricht. Und genauso wenig ist es notwendige Folge einer Waschung, dass sie Kirchengliedschaft bewirkt. Es lässt sich nicht als natürliches und notwendiges Ergebnis einer bestimmten Handlung nachvollziehen, dass ein Eid mit der Hand auf der Bibel eine Privatperson zum Staatsoberhaupt macht. Während Beobachtungen nahelegen, dass zwischen dem Akt und seinem Effekt ein unmittelbarer Zusammenhang besteht, erscheint dieser – zumindest von außen betrachtet – doch eher als zufällig. Aus der Innenperspektive hingegen würden die Betroffenen widersprechen. Es ist keine Glückssache, dass die Taufe Heil verheißt, sondern – zumindest aus Sicht von gläubigen Christinnen und Christen – ein verlässliches Geschehen. Es ist ein regelgeleiteter Akt und kein purer Zufall, dass ein Eid eine Privatperson zum Staatsoberhaupt macht. Denn Zufall folgt keiner Regel. Performative Handlungen hingegen sind stark reguliert. Ihr Gelingen hängt sogar unmittelbar davon ab, dass ihre Regeln genaue Beachtung finden. Denn nur unter Beteiligung geeigneter Personen, bei Ablauf des korrekten Verfahrens und unter den richtigen Umständen gelingt Rechtsmagie und werden Sakramente gültig gefeiert. Diese Beobachtung, dass die Wirkungen performativer Handlungen zuverlässig eintreten, wenn man die die performativen Handlungen konstituierenden Regeln einhält, legt nahe, dass hier eine Form von Kausalität am Werk ist. John Austin würde dies auch bejahen. Er bedient sich nämlich eines weiten Kausalitätsbegriffs. 23

Boyer, Religion Explained, S. 256.

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Zwar müsse man bei der Rede von Kausalität zwischen linguistisch-performativer und technisch-physikalischer Kausalität differenzieren: „the sense in which saying something produces effects on other persons, or causes things, is a fundamentally different sense of cause from that used in physical causation by pressure etc.“24. Während technisch-physikalische Kausalität auf einen quasi-natürlichen oder automatischen Kausalzusammenhang zwischen Akt und Effekt setze, seien Sprechakte auf der Basis sprachlicher Konventionen wirksam, indem sie andere mithilfe von Sprache beeinflussten. Dies schließt für Austin aber nicht aus, sowohl für physikalische als auch für spracherzeugte Wirkungszusammenhänge den Begriff der „Kausalität“ zu nutzen. Er sieht sogar das breitere Kausalitätsverständnis, wie es sich in der traditionellen katholischen Sakramentendoktrin spiegelt, als das ursprüngliche an und verwahrt sich gegen eine mechanistische oder deterministische Verengung von „Kausalität“.

Konventionalität Folgt man Austin in dieser Hinsicht, lässt sich der Zusammenhang von sakramentaler Handlung und sakramentaler Wirkung adäquat als „kausal“ verstehen. Die Rede von den Sakramenten als „causae“ von Gnade erscheint in diesem Licht schlüssig. Ganz glücklich ist die Begriffswahl freilich nicht. Immerhin lädt ein weiter Kausalitätsbegriff dazu ein, die Wirkweise rechtlicher Magie oder religiöser Sakramentalität mit Kausalität im physikalisch-technischen Sinn zu verwechseln und hierdurch ein seltsam schiefes Verständnis rechtlicher oder religiöser Statusveränderungen zu erzeugen. Kritisch zu sehen ist aber vor allem, dass ein undifferenzierter Kausalitätsbegriff nicht hinreichend zwischen den unterschiedlichen Wirkungen performativer Akte selbst unterscheidet. Denn performative Handlungen erzeugen außer den Statusveränderungen, die auf ihrer deklarativen Kraft beruhen, noch weitere Folgen, von denen man einige tatsächlich als im engeren Sinn kausal bewirkt verstehen kann. Der Anthropologe D. S. Gardner erläutert dies am Beispiel der Eheschließung. Er schreibt: „a proper performance of the wedding ceremony effects the marriage of two people, but their being married is not a causal consequence of the ceremony in the same way, for example, as its effects on the emotions of the guests.“25 Das Eheschließungsritual als deklarativer Akt bringt die Ehe der Partner hervor. Zugleich erzeugt das Geschehen jedoch noch einen weiteren Effekt, nämlich die Rührung der Gäste, die als emotionale Reaktion der Anwesenden kausal auf deren Wahr 24 Austin, How to Do Things with Words, S. 112 Fn. 1. Zu dieser in den Geistes- und Rechtswissenschaften häufig unterbleibenden Differenzierung zwischen einer breit verstandenen „causality“, die Wirkungszusammenhänge aller Art beschreibt, und einer eher engen „causation“, die Kausalzusammenhänge im engeren Sinn beschreibt, vgl. auch Hellner, Causality and Causation in Law, S. 111–117. 25 Gardner, Performativity in Ritual, S. 348.

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nehmung des Geschehens zurückgeführt werden kann. Die Sprechakttheorie nennt diese kausalen Wirkungen performativer Akte deren „perlokutionäre Effekte“. Perlokutionen erzeugen direkte Wirkungen bei den sie Wahrnehmenden, insoweit sie deren Gedanken, Gefühle oder Handlungen unmittelbar beeinflussen.26 Perlokutionär sind folglich solche Wirkungen wie unreflektierte Gefühlsreaktionen, die bei denen, die eine Handlung erleben, quasi automatisch ausgelöst werden, wie das sich unmittelbar in Reaktion auf einen Vorfall einstellende Gefühl von Rührung, Furcht oder Ekel. Dieser kausale Zusammenhang zwischen Eheschließungsritual und Rührung ist von anderer Art als der Zusammenhang zwischen dem Ritual und der Institution der Ehe selbst. Während es weitgehend unbestritten sein dürfte, dass ein Eheschließungsakt in die Institution Ehe mündet, ist die Ehe als Resultat der Eheschließung doch weit weniger eine „natürliche“ Folge des Ritus als die Rührung der Gäste. Denn obwohl die Eheschließung die Ehe begründet, ist sie weder mechanische noch logische oder biologische Folge des rituellen Akts. Der Rechtswissenschaftler Peter Winn bemerkt diesen Unterschied bei Rechtsritualen generell, insofern er notiert: „Technically speaking, legal consequences do not ‚follow‘ from the proper execution of the legal ritual.“27 Vielmehr gelte: „The proper execution of the legal ritual constitutes the legally significant event.“28 Diese Beobachtung legt nahe, bei Ritualen zwischen solchen Wirkungen zu unterscheiden, die Rituale kausal bewirken, und zwischen solchen, die Rituale konstituieren.29 Während eine Eheschließungszeremonie kausal verantwortlich für die Rührung der Gäste sein kann, wird das rechtliche Band der Ehe nicht kausal bewirkt, sondern vom Ritual konstituiert. Diese von Sprechakten konstituierten Wirkungen nennt die Sprechakttheorie illokutionäre Effekte. Gemeint sind die konventionell determinierten Wirkungen konventioneller menschlicher Handlungen. Zusammenfassend notiert bedeutet dies: Perlokutionen und Illokutionen unterscheiden sich in Bezug auf den Grund, der ihre Wirkungen bedingt, Kausalursache oder Konvention. Die illokutionären Wirkungen performativer Handlungen, die in Recht und Religion beobachtbar sind, beruhen auf Konvention. Sie konstituieren sich auf Grundlage etablierter sozialer Regeln, gesellschaftlicher Gepflogenheiten und eingespielter Selbstverständnisse. Anders als Perlokutionen haben Illokutionen somit keine automatischen oder natürlichen Wirkungen bei denjenigen, die den Sprechakt wahrnehmen, sondern sie haben jeweils die Wirkungen, die den Akten konventionell zugeschrieben werden. Ihre „magischen“ Wirkungen haben illokutionäre Sprechakte somit ausschließlich deshalb, weil und solange Individuen sich in einer Gruppe bewegen, die Rechtsritualen, Sakramenten oder anderen performativen Handlungen diese Wirkungen zuweist. Das machen Beispiele verständ 26

Vgl. Austin, How to Do Things with Words, S. 101. Winn, Legal Ritual, S. 216. 28 Winn, Legal Ritual, S. 216. 29 Vgl. Gardner, Performativity in Ritual, S. 348; zur konstitutiven Funktion performativer Sprache im Generellen vgl. auch den ersten Teil „Language as Constitutive“ des Bandes: Taylor, The Language Animal, S. 3–100. 27

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lich: Menschen verstehen das Wort „danke“ als Dank, weil sie bereits als Kinder eingeübt haben, „danke“ als Gepflogenheit des Dankens zu begreifen. Sie fühlen sich von einem Befehl verpflichtet oder zum Widerspruch animiert, weil sie mit einer Sollensansage konventionell die verbindliche Aufforderung verknüpfen, ein bestimmtes Verhalten an den Tag zu legen. Individuen verstehen den Satz „Das verspreche ich Dir…“ als eine belastbare Zusage, weil sie verinnerlicht haben, dass Versprechungen binden.30

Sola fide Während Ursachen in Kausalbeziehungen ihre Wirkungen quasi „natürlich“ und damit weitgehend automatisch hervorbringen, beruhen konventionelle Wirkungen auf einer sozial geteilten Überzeugung. Die Feststellung, dass es gemeinsamer Überzeugungen bedarf, damit performative Handlungen ihre Wirkungen verzeichnen, ist eine zentrale Erkenntnis, die zu verstehen hilft, was Recht und Religion gemeinsam haben, jenseits banaler Beobachtungen, dass beide eine Neigung zu Rituellem und Normativem teilen. Viel essentieller ist die Gemeinsamkeit, dass Recht und Religion mit Magie arbeiten. Sie setzen auf perlokutionäre Handlungen, bei denen mithilfe konventionell eingeübter Verfahren konventionell eta­ blierte Wirkungen ins Dasein gebracht werden. Versteht man Magie als die soziale Kraft, auf der Basis in einer Gruppe geltender Konventionen eine konventionell festgelegte Statusveränderung zu bewirken, verweist dies zugleich auf die gemeinsame Quelle, aus der Recht und Religion diese Kraft erhalten. Diese gemeinsame Ressource, aus der beide die Fähigkeit beziehen, die soziale Welt zu verändern, ist die geteilte Überzeugung der Mitglieder der Rechts- bzw. Religionsgemeinschaft. Denn konventionelle Wirkungen treten ausschließlich ein, wenn die Gruppe darin übereinkommt, einer bestimmten Handlung eine bestimmte Wirkung zuzuschreiben. Der Anthropologe Stanley Tambiah bemerkte dies in Bezug auf das katho­ lische Eucharistieverständnis. Er notierte, dass man eine sehr spezifische, nämlich katholische Perspektive auf das eucharistische Geschehen einnehmen müsse, um es für real zu halten, dass Brot und Wein durch das performative Ritual der Eucharistie zu Fleisch und Blut Christi werden.31 Nur im Kontext der Kirche als der Überzeugungsgemeinschaft, in der die Transsubstantiation der Gaben als eine Statusveränderung der eucharistischen Materie bei den Mitgliedern auf Akzeptanz trifft, entfaltet diese performativ erzeugte neue Realität ihre Plausibilität. Dieser Zusammenhang gilt freilich nicht ausschließlich für religiöse Phänomene, sondern betrifft die institutionelle Erzeugung und Zuschreibung von Statusfunktionen im Generellen. Alle Institutionen in Recht, Gesellschaft und Kirche bestehen „sola fide“. In diesem Sinne bedürfen nicht nur religiöse, sondern auch rechtliche Rituale des Glaubens. Sie verzeichnen allein deshalb ihre Wirkungen, weil eine Rechts 30 31

Vgl. Searle, How Performatives Work, S. 554–555. Vgl. Tambiah, A Performative Approach to Ritual, S. 122 Fn. 2.

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gemeinschaft ihnen diese zuspricht und davon überzeugt ist, dass sich bei einer bestimmten rechtserheblichen Handlung eine bestimmte Rechtsfolge einstellt. Der Rechtswissenschaftler Harold Berman sprach in diesem Sinne von der Notwendigkeit eines „belief in the law“32. Nur aus dem Glauben an das Recht erwachse dessen ordnende Kraft. Dies verdeutlichen Beispiele. Ein Vertrag ist nur deshalb real, weil die Vertragsschließenden davon ausgehen, dass durch das Ritual des Vertragsschlusses ein Vertragsverhältnis entsteht. Die Verpflichtungskraft des Vertrags beruht auf dem Glauben an das normative Band, das durch den Vertragsschluss ins Dasein tritt. Im Rahmen religiöser und rechtlicher Überzeugungsgemeinschaften halten Menschen es für gegeben, dass eine Eheschließung aus Individuen Ehepartner macht. Als Mitglieder ökonomischer Gemeinschaften nehmen sie es als normal hin, dass man Waren und Güter gegen Papierscheine tauschen kann, weil sie daran glauben, dass dieses Papier ein „Zahlungsmittel“ ist. Mitglieder von Rechtsgemeinschaften glauben, dass es „Eigentum“ gibt und dass dieses „verpflichtet“. Die bürgerliche Gemeinschaft ist überzeugt, dass „Polizeibeamte“ und „Universitätsprofessorinnen“ existieren und dass Polizeibeamte andere „Kompetenzen“ haben als Universitätsprofessorinnen. All diese Institutionen und ihre normative Kraft hängen freilich davon ab, dass die jeweiligen Mitglieder einer Überzeugungsgemeinschaft ihren Glauben an sie bewahren. Und sie stehen in Abrede, wenn Gemeinschaften vom Glauben an die performative Macht der institutionellen Sprache abfallen, der Sprache, die mithilfe von Deklarationen aus Papier Geld, aus Trauernden Erben und aus Menschen Gotteskinder macht.

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32

Berman, Law and Language, S. 6.

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Judith Hahn

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Zufall und Ordnung Christoph Wiesinger, Heidelberg

Einleitung In unserem Alltag treten Zufall und Schicksal gerne in Konkurrenz zum sogenannten lieben Gott auf. Was uns widerfährt, scheint sich doch unserer Rationalität und unserer Möglichkeit zu entziehen. Wir finden uns in Situationen, Umständen oder Ereignissen vor und fragen uns, warum es der Zufall, das Schicksal oder Gott so gut oder schlecht mit uns meinte. Und mit einem Blick ins altgriechische Wörterbuch liegt es sogar nahe, auch dem Zufall gewisse personale Kompetenzen zuzuschreiben. Das griechische Wort „tyche“ können wir sowohl als Zufall als auch als Schicksal übersetzen. Glück und Unglück liegen ebenfalls im Bedeutungs­ radius. Außerdem ist Tyche auch der Name der Göttin des Glücks.1 Wer oder was steckt nun hinter dem, was mir widerfährt – im Guten wie im Schlechten? Wenn uns im Buch Hiob überliefert wird, „der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen“2, dann liegt es vielen von uns heute näher, von Zufall oder Schicksal zu sprechen, als von einem wie auch immer vorgestellten Gott. Und doch möchte ich als Theologe fragen, warum wir ein Bedürfnis haben, Umstände, die uns zufallen, entweder zu subjektivieren oder zumindest zu mechanisieren. Dieser Beitrag soll die Umstände, die uns dazu bringen, über Zufall zu sprechen, näher beleuchten. Wo in unserer subjektiven Lebenswelt überrascht uns der Zufall und inwiefern lohnt es sich, darüber nachzudenken?

Sieben Thesen zum Zufall These 1: Zufall zeigt etwas, das uns nicht zugänglich ist, aber auch nicht an uns vorbeigeht. Etwas, mit dem wir nicht gerechnet haben, zeigt sich in dem Sinne, dass die Art, wie etwas erscheint, unpassend wirkt zur Art und Weise unserer Erwartungen, was und wie wir es erwarten. Etwas geht uns an, passt jedoch nicht in die sedimentierten Strukturen der Ordnung, aus denen sich unsere Erwartungen bilden. Da es uns jedoch anregt, suchen wir es zu bezeichnen: als Zufall.

1 2

Vgl. Wilhelm Gemoll, Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch, S. 754. Hiob 1,21.

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In Sinne der Einleitung berichtet uns Sigmund Freud von folgender Begebenheit. Er schreibt in der Psychopathologie des Alltagslebens: „Eine junge Frau erzählt als Einfall während der Sitzung, dass sie sich gestern beim Nägel­ schneiden ‚ins Fleisch geschnitten, während sie das feine Häutchen im Nagelbett abzutragen bemüht war‘. Das ist so wenig interessant, dass man sich verwundert fragt, wozu es überhaupt erinnert und erwähnt wird, und auf die Vermutung gerät, man habe es mit einer Symptomhandlung zu tun. Es war auch wirklich der Ringfinger, an dem das kleine Ungeschick vorfiel; der Finger, an dem man den Ehering trägt. Es war überdies ihr Hochzeitstag, was der Verletzung des feinen Häutchens einen ganz bestimmten, leicht zu erratenden Sinn verleiht. Sie erzählt auch gleichzeitig einen Traum, der auf die Ungeschicklichkeit ihres Mannes und auf ihre Anästhesie als Frau anspielt. Warum war es aber der Ringfinger der linken Hand, an dem sie sich verletzte, da man doch den Ehering an der rechten Hand trägt? Ihr Mann ist Jurist, ‚Doktor der Rechte‘, und ihre geheime Neigung hatte als Mädchen einem Arzt (scherzhaft ‚Doktor der Linke‘) gehört. Eine Ehe zur linken Hand hat auch ihre bestimmte Bedeutung.“3

Welch ein dummer Zufall. Doch dieses Beispiel führt uns vor Augen, dass die Zufälligkeit des Zufalls uns mit etwas konfrontiert, das wir in der Regel nicht realisieren. Zufall ist überreich. Etwas fällt uns zu, mehr fällt uns zu, als wir realisieren mögen. Zufall transportiert ein Mehr an Bedeutung und wir ahnen, dass sich mehr darin verbirgt, als uns bewusst ist. Das Besondere an diesem Beispiel ist, dass der Zufall dazu führt, sich mit ihm und seiner Bedeutung zu beschäftigen. Er geht nicht einfach vorüber, ohne dass davon Notiz genommen wird, sondern bringt einen Anspruch mit sich. Im Fall der jungen Frau zieht er eine Spur nach sich und schreibt sich in den Körper ein. Der Zufall, der uns als Zufall beschäftigt, ist der, der für einen anderen Sinn offen ist. Daran können wir anderes erkennen, als wir gerade in der Lage sind zu merken. Er lässt uns aufmerksam werden. These 2: Zufall ist pathischer Natur. Er trägt Widerfahrnischarakter. Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan, der uns helfen will, Anomalien unseres Alltagsdenkens zu verstehen, nennt die Wiederholung als einen der vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Er trägt sie gemeinsam mit dem Zufall vor. Er schreibt: „Das, was sich wiederholt, ist tatsächlich immer etwas das sich – und dieser Ausdruck sagt schon genug über sein Verhältnis zur Tyche – wie durch Zufall ereignet. In diesem Punkt dürfen wir als Analytiker uns nie täuschen lassen, aus Prinzip. Zumindest sagen wir, wir würden uns nicht hereinlegen lassen, wenn der Patient uns glauben machen will, daß etwas geschehen sei, was ihn just an dem Tag gehindert habe, zur Analyse zu gehen. Wir dürfen also nicht nur den Beteuerungen des Patienten glauben – wo wir es mit einer Art Anecken, einem Riß zu tun haben, der zu jedem Zeitpunkt offen daliegt. Es geht vielmehr um die Art und Weise eines Begreifens, das jener neuartigen Dechiffrierung vorsteht, die wir für die Beziehungen entworfen haben, die das Subjekt zu seiner Bedingtheit unterhält.“4 3 4

Sigmund Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens (Gesammelte Werke IV), S. 213. Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch XI, S. 60 f.

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Lacan insistiert hier, dass der Zufall nicht als belanglose Nebensächlichkeit abgetan werden darf, da er vielmehr Träger einer Bedeutung ist. Er will das, was als Zufall auftritt, dechiffrieren. Dadurch, dass jemand etwas als „zufällig“ signifiziert, wird ein Ort markiert, der von Bedeutung ist. Damit stellt sich die Frage nach der Dechiffrierung. Dieser können wir durch ein Beispiel aus dem Feld auf die Spur kommen, mit dem sich Freud vor der Grund­ legung und Erforschung der Psychoanalyse beschäftigte: die Hypnose. „Wird z. B. einer Versuchsperson in Hypnose befohlen, am darauffolgenden Tag einer bekannten Dame einen Blumenstrauß zu überbringen und wird der posthypnotische Auftrag ausgeführt, so kann die Versuchsperson etwa als Begründung angeben, die Beschenkte habe ihr und der Familie in der letzten Zeit so viele Gefälligkeiten erwiesen, daß es nun an der Zeit sei, sich zu revanchieren. Die auslösenden Worte des Hypnotiseurs bleiben weiterhin unbewußt.“5

Dies Beispiel aus der Hypnose lässt interessante Einblicke zu: Es gibt einen expliziten äußeren Auftrag. Die Person solle einen Blumenstrauß überbringen. Dieser sogenannte posthypnotische Auftrag wird innerhalb des Beispiels auch ausgeführt. Wird nun eine hypnotisierte Person gefragt, warum sie jene spezielle in der Hypnose aufgetragenen Geste trotz fehlender Erinnerung daran ausgeführt habe, kommt es wider Erwarten nicht etwa zu einem Schweigen. Stattdessen setzt sich eine ganz andere Bewegung in Gang. So seien es in diesem Beispiel viele Gefälligkeiten gewesen, die zur Schenkung des Blumenstraußes motivierten. Eine rationale Begründung verdeckt in diesem Fall etwas Anderes, nämlich den posthypnotischen Auftrag. Achten wir besonders auf das Argument, dass „die Familie in der letzten Zeit so viele Gefälligkeiten erwiesen“ habe. Zwei Dinge sind dabei bedeutsam: Die Retroaktivität der Begründung, die eine rationale Schließung des Handlungsmusters erlaubt und die vermeintliche Zufälligkeit, die in der Begründungsstruktur schlummert. Denn die Gefälligkeiten tragen den Charakter, nicht aktiv hervorgebracht worden zu sein, sondern werden als Zufallende etwas, mit dem sich die Person konfrontiert findet. Durch Zufall fällt etwas zu. Um zurück zur Lacans Warnung zu kommen: Das Zufallende ermöglicht die Plausibilisierung eines Musters, das dadurch Rationalität bekommt, dass es nicht als handlungslei 5 Walter J. Schraml, Einführung in die Tiefenpsychologie für Pädagogen und Sozialpädagogen, S. 58. Darian Leader gab den Hinweis, dass sich das Thema der negativen Halluzination in den meisten Hypnose-Lehrbüchern des späten 19. Jahrhunderts findet, z. B. bei Bernheim, Forel und Moll, und wird manchmal auch als negative Sinnestäuschung bezeichnet. Es wurde auch von den älteren Mesmeristen Bertrand, Deleuze und Charpignon erforscht, allerdings mit weniger Nachdruck auf die Rationalisierungen, die zur Erklärung der eigenen Handlungen vorgenommen werden. Freud selbst bringt das letztgenannte Phänomen speziell mit Bernheim („Traumdeutung“) in Verbindung und er selbst ließ zwei Bücher Bernheims ins Deutsche übersetzen, „De la suggestion et ses applications a la therapeutique“ und „Hypnotisme, suggestion, psychotherapie“. „Man denke an die Hypnotisierten Bernheims, die einen posthypnotischen Auftrag ausführen, und, nach ihren Motiven befragt, nicht etwa antworten: Ich weiß nicht, warum ich das getan habe, sondern eine offenbar unzureichende Begründung erfinden müssen“, Sigmund Freud, Die Traumdeutung (Gesammelte Werke II / I II), S. 153.

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tendes Muster, sondern als kontingentes singuläres Ereignis ausgezeichnet wird und damit in eine erwartete Ordnung als Unterbrechung einbricht. Das Verstehen verdeckt dabei gleichsam die Verflechtung zwischen dem Zufallenden und der ihm auszeichnenden Besonderheit gegenüber allem anderen Zufälligen ohne Bedeutung. Mit dem ersten Beispiel gesprochen: Hätte die Patientin Freuds eine Erklärung für ihr Missgeschick, würde diese etwas überdecken. Indem wir etwas als „zufällig“ wahrnehmen, sehen wir uns als in etwas hineingeraten, das wir nicht ausreichend normalisieren können. Aber wir erkennen, dass wir uns darin vorfinden. These 3: Zufall markiert einen Riss zwischen Kontingenz und Wiederholung. Er ist damit ein Phänomen innerhalb der normalisierten Ordnung, der darin als Anomalie erscheint und als Symptom auf etwas Anderes verweist. An dieser Stelle lohnt es sich nun, einen Blick in Freuds Traumdeutung zu werfen, um von dort ein Verständnis zu bekommen, wie sich die Zufälligkeit der Bilder im Traum konstituiert. Im siebten Kapitel der Traumdeutung, die den Titel „Zur Psychologie der Traumvorgänge“ trägt, geht Freud erstmal vom Vergessen der Träume aus. Dies erzeuge den Effekt, dass wir uns an diese entweder gar nicht erinnern oder sie im Wachzustand sehr rasch unserer Erinnerung entgleiten. Er benennt diesen Umstand mit der Traumzensur. Diese Zensur sichert es dem Traum, darin Vorgänge und Muster zu bearbeiten, die im Wachzustand den Organismus überfordern würden. Doch wie kommt es, dass bestimmte Bilder und Muster in bestimmten Nächten auftauchen und in anderen nicht? „Jedesmal, wenn ein psychisches Element mit einem anderen durch eine anstößige und oberflächliche Assoziation verbunden ist, existiert auch eine korrekte und tiefergehende Verknüpfung zwischen den beiden, welche dem Widerstände der Zensur unterliegt.“6

Die anstößige, oberflächliche Assoziation verbindet sich mit einer tiefergehenden Verknüpfung. Oder, um es mit dem Zufall-Wiederholungs-Muster in Verbindung zu bringen: Zufall erweist sich dann als signifikant, wenn er sich mit einem tiefergehenden Muster verbinden kann. Das tiefergehende Muster unterliegt ebenfalls der Zensur, die sie schlummern lässt. Erst der äußere Impuls, der die Verbindung mit dem Muster eingehen kann, erlaubt es dem Verdrängten, zusammen mit dem äußeren Impuls an die Oberfläche zu treten. Dort erscheint er jedoch chiffriert. Er kommt symbolisch zum Vorschein, weist aber auf ein Anderes hin. Nun vertritt Freud die These, dass wir wiederholen, was wir verdrängen.7 Die Plausibilisierung oder auch das Verstehen ist das verspätete Ver-Stellen, das die tiefer-

6 Sigmund Freud, Gesammelte Werke II / I II, S. 535. Freud wird im weiteren Verlauf die genaueren Zusammenhänge zwischen psychischen und physischen Apparat, zwischen Wahrnehmung und Motilität erörtern. Doch die entscheidende Pointe ist bereits genannt. 7 Gilles Deleuze wird später genau diese These umdrehen und schreiben: „Ich wiederhole nicht, weil ich verdränge. Ich verdränge, weil ich wiederhole“, Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 35.

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liegende8 Struktur erst gar nicht in Erscheinung treten lässt. Denn das Verstehen wirkt, als wäre es vorgängig so motiviert gewesen. Wir denken nochmal an das Beispiel der Hypnose. Das Verstehen, den Blumenstrauß als Antwort auf Gefälligkeiten gekauft zu haben, schließt die Rationalitätslogik so, dass der in diesem Fall durch die Hypnose bestimmte Imperativ gar nicht sichtbar wird. Verstehen trägt in diesem Fall mehr den Charakter einer Zensur, die eine Trübung schafft, sodass zwar die Oberfläche rational erscheint, das Andere der normalisierten Oberfläche jedoch dahinter verschwindet. Jedoch, und darin sollten wir nicht irren, ist auch sie nur möglich, da sie einem bestimmten Muster folgt. Es plausibilisiert sich ja nur, wenn sie sich als passend erweist und damit als solches erscheint. Ohne Passung gäbe es keine Plausibilität. Auch eine retroaktive Begründung ist damit für sich wahr, indem sie etwas bewahrheitet und dabei anderes verdeckt. Indem sie es verdeckt, wird eine Wahrheit, man könnte hier auch sagen, eine andere Sinnschließung, geschützt. So ist auch Lacans Kommentar zu Religion zu verstehen: „Es gibt eine wahre Religion, das ist die christliche Religion. Es geht einfach nur darum herauszubekommen, ob diese Wahrheit durchhalten wird, ob sie nämlich fähig sein wird, Sinn derart zu verbreiten, daß man wahrlich gut ertränkt ist.“9 Dieses Changieren macht deutlich, dass die Religion auf einer Wahrheit basiert, die sie aber nicht einfach zur Wahrheit bringen kann. So überdeckt das Verstehen die Wahrheit und sichert sie gleichzeitig, indem sie verfehlt wird. These 4: Zufall zeigt an, dass über die Grenzen etablierter Ordnung Fremdes wirkt, dessen Anspruch wir nicht innerhalb der symbolischen Ordnung normalisieren können, sich darin jedoch als Symptom ausdrückt. Gehen wir einen Schritt zurück und fragen nochmal grundlegend: Was ist ein Phänomen?10 „Das Phänomen ist das unmittelbare Gegebensein des Gegenstandes, es ist, wie dieser scheinbar ist.“11 Was hat es mit diesem Wort scheinbar auf sich? Müssen wir hier einen Gegensatz zwischen scheinbar und wirklich annehmen? Phänomenologisch dürfen wir genau das nicht machen, denn es gilt: Etwas ist 8

Wie muss hier tieferliegend verstanden werden? „Sobald ein Mensch irgendwo ankommt, im jungfräulichen Wald oder in der Wüste, beginnt er, sich einzuschließen. […] Es geht darum, sich im Inneren einzurichten, aber das ist nicht einfach ein Begriff des Inneren und des Äußeren, es ist der Begriff des Anderen, dessen, was als solches Anderes ist, dessen, was nicht der Platz ist, an dem man gut abgedichtet ist“, Jacques Lacan, Die Bildungen des Unbewussten. Buch V, S. 206. Die Tiefe muss hier also als das Andere verstanden werden. Erstmal wohl als Anderer mit großem A, d. h. als symbolische Ordnung. Die „tieferliegende“ Struktur ist also nur insofern „tief“, als sie die signfizierende Struktur ist, die der Struktur ihre Bedeutung, ihren Sinn verleiht, als die, die nicht im Bewusstsein steht, sondern von woanders herkommt. 9 Jacques Lacan, Der Triumph der Religion welchem vorausgeht der Diskurs an die Katholiken (Lacans Paradoxa), S. 72. 10 Vgl. Caroline Teschmer / Christoph Wiesinger, Bezogenheit und Entzogenheit. Leiblichkeit und Verstehen als Ort des Sich-Zeigenden, in: Clemens Wustmans / Maximilian Schell (Hrsg.), Hermeneutik. Fundamentaltheologische Abwägungen  – materialethische Konse­ quenzen. 11 Dan Zahavi, Husserls Phänomenologie, S. 57.

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immer etwas für jemanden. Das bedeutet, dass etwas immer als etwas erscheint. Grundlegend ist an dieser Stelle die Einsicht, dass wir gerade nicht eine Unterscheidung machen zwischen dem, wie etwas erscheint, und dem, wie es wirklich ist, sondern diese aufheben: „Kennzeichnend für die Phänomenologie ist also die Auffassung, dass die Welt, wie sie uns erscheint […], die einzige wirkliche Welt sei.“12 Das, wie etwas sich zeigt, ist die einzige Art und Weise, wie es zugänglich und gegeben ist. Die Phänomenologie hebt damit jede Zwei-Welten-Lehre in der Unterscheidung zwischen „wie es erscheint“ und „wie es an-sich ist“ auf. Doch indem etwas erscheint, vollzieht sich ein Realisieren. Etwas erscheint so, wie es für jemand erscheint und damit als etwas. Dieses „Als“ fungiert als hermeneutisches Scharnier und zeigt die Wirkung der signifikative Differenz an. „Wahrnehmung der Welt ist Wahrnehmung der Bilder der Welt. Wahrnehmung nimmt ‚etwas‘ wahr in der Weise seines Erscheinens, wobei es in seinem Ausdruck als etwas gerade verschwindet.“13 Die Welt verschwindet, indem wir sie wahrnehmen. Wenn etwas als etwas wahrgenommen wird, wird etwas Anderes ausgeblendet. Das bedeutet, dass jedes Aufdecken gleichzeitig etwas Anderes verdeckt. „Bei der Wahrnehmung eines Gegenstandes müssen wir stets unterscheiden zwischen dem erscheinenden Gegenstand und der Erscheinung selbst, da der Gegenstand niemals in seiner Ganzheit erscheint, sondern immer aus einer bestimmten begrenzten Perspektive. […] Keine vereinzelte Erscheinung kann daher den ganzen Gegenstand jemals einfangen; der Gegenstand wird niemals in einer einzigen Gegebenheit erschöpft, sondern transzendiert sein Gegebensein ständig.“14

Wir bekommen es also konstitutiv mit diesem hermeneutischen Scharnier, der signifikativen Differenz zu tun, die sich im „etwas als etwas“15 ausdrückt. Diese signifikative Differenz, in der das Verschwinden oder das Verschieben zum Ausdruck gebracht wird, reißt eine Kluft auf durch das Sich-Entziehen dessen, was sich darin gibt. „Man kann die signifikative Differenz durchaus deuten als eine originäre Verschiebung oder Versetzung. Etwas ist anders als es selbst, indem es als dieses oder jenes auftritt; aber nicht etwas anderes als es selbst, etwa ein bloßes Bild oder Zeichen.“16 Da wir also das Ding an sich nicht zu fassen bekommen, 12

Dan Zahavi, Phänomenologie für Einsteiger, S. 14 f. Dietrich Zilleßen, in: Dietrich Zilleßen / Stefan Alkier / Ralf Koerrenz / Harald Schoeter (Hrsg.), Praktisch-theologische Hermeneutik. Ansätze – Anregungen – Aufgaben, S. 62. 14 Dan Zahavi, Husserls Phänomenologie, S. 19. 15 Bernhard Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie Psychoanalyse Phänomentechnik, S. 28. 16 Bernhard Waldenfels, Bruchlinien, S. 29 f. „Eine intentional verfaßte Erfahrung spielt sich weder innen noch außen ab. Auch die Sonderung in empirische Daten und allgemeine Ideen wird unterlaufen. Als Sinn- und Gestaltbildung ist die Erfahrung von Anfang an auf dem Weg der Verallgemeinerung, ohne sich auf eine Basis von Daten zu stützen. Das Als und das Wie, das der Intentionalität inhäriert, bedeutet Wiederholbarkeit, eine Idealität also in einem genetischen und operativen Sinne, jeder möglichen eidetischen oder kategorialen Anschauung vorweg. Mit anderen Worten, eine intentional und differentiell angelegte Erfahrung vollführt eine Vielzahl horizontaler und vertikaler Vermittlungen, ohne sich auf eine fertige 13

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sind die Erscheinungen diejenigen, die Erkenntnis ermöglichen. „Das Phänomen wird als Manifestation des Dinges selbst verstanden, und die Phänomenologie ist deshalb eine philosophische Reflexion über die Weise, in der Gegenstände sich selbst zeigen – wie Gegenstände erscheinen oder sich manifestieren – und über die Möglichkeitsbedingungen dieses Erscheinens.“17 Das Realisieren einer Erscheinung verbindet etwas innerhalb seiner Möglichkeitsbedingung, indem es etwas eine Bedeutung gibt, Sinnzusammenhänge knüpft und gleichsam eine Kluft aufreißt, indem das, was sich zeigt, sich gleichzeitig darin entzieht. Etwas ist immer etwas, indem es als etwas realisiert wird. Nichts ist an sich gegeben, ohne von und durch jemanden realisiert worden zu sein. Indem etwas realisiert wird, muss es im Akt des Erkennens und des Verknüpfens signifikativ Bedeutsamkeit gewinnen. Es muss auf einen Signifikanten hin verschoben werden, damit etwas als etwas wird. Was nun impliziert, dass sich der Signifikant, etwas als etwas, einschreibt und das, was realisiert wird, determiniert. „Dieses Wovon des Getroffenseins verwandelt sich in das Worauf des Antwortens, indem jemand sich redend und handelnd darauf bezieht, es abwehrt, begrüßt und zur Sprache bringt.“18 Hier kommt es also auf der Subjektposition zu einer Verknüpfung: Jemand realisiert etwas als etwas. Lacan meint, dass sich ein Signifikant dadurch auszeichnet, dass er ein Subjekt für einen anderen Signifikanten repräsentiert.19 Man kann sich das an einem Beispiel leicht klar machen: Eine Tafel am Ende eines Krankenbettes repräsentiert eine erkrankte Person für einen Arzt bzw. genauer gesagt, für sein ärztliches Wissen. Der Arzt verknüpft die Information auf der Tafel mit seinem Fachwissen. Die Signifikanten des Klemmbrettes repräsentieren ein Subjekt für den Arzt, indem er sein medizinisches Wissen einsetzt, um die Information sinnvoll zu verknüpfen: Ein Signifikant, das Klemmbrett, repräsentiert ein Subjekt, den Kranken, für einen anderen Signifikanten, das ärztliche Wissen. Die Konsequenz daraus ist, dass Sprache als Muster aufgefasst werden kann, indem sie aufeinander verweist und die Struktur vorgibt, durch die die Signifikanten zur Verfügung gestellt werden. Sie ist die symbolische Ordnung, durch die wir realisieren, d. h. Realität erzeugen. Da Sprache aber erlernt wird, da niemand Sprache selbst erfindet, geht sie notwendigerweise den jeweils Sprechenden vo­raus. Indem wir etwas als etwas realisieren, wird etwas zu etwas durch eine symbolische Realisierung.20 Auch dieser Umstand lässt sich an einem alltäglichen Beispiel leicht verVernunft bzw. auf ein steuerndes Subjekt zu verlassen“, Bernhard Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 36. 17 Dan Zahavi, Husserls Phänomenologie, S. 57. 18 Bernhard Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 44 f. 19 Vgl. Jacques Lacan, Das Seminar, Buch XVII. Die Kehrseite der Psychoanalyse (1969– 1970), S. 12, Jacques Lacan, Buch XI, S. 165, 208, Jacques Lacan, Struktur. Andersheit. Subjektkonstitution (Lacanian Explorations), S. 27 usw. 20 Sprache darf natürlich nicht statisch verstanden werden, sondern befindet sich stets in Veränderung. Weil der Signifikant selbst keine stabile Entität darstellt, sondern lediglich durch Differenz zu anderen Signifikanten stabilisiert wird. Vgl. Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft.

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anschaulichen: Wir sind es gewohnt, uns intuitiv in unserer Welt zurechtzufinden. So ist es ein alltägliches Ritual im universitären Kontext, einen Seminarraum zu betreten, einen freien Stuhl zu finden und auf dem Tisch die eigenen Arbeitsunterlagen auszubreiten. Wir nehmen also eine Holz-Stahl-Konstruktion als Stuhl und eine andere Holzkonstruktion als Tisch wahr. Doch dass dem so ist, muss nicht selbstverständlich sein. Eine Kultur, die keine Stühle kennt, kein Wort dafür besitzt, würde voraussichtlich erstmal ratlos vor dem Objekt stehen und sich fragen müssen, was es sein soll und was damit anzufangen sei. Ein Innenarchitekt hingegen würde vielleicht nicht banal einen Stuhl, sondern ein bestimmtes Modell aus einer Generation Büromöbel identifizieren, die die typische Stilsprache einer bestimmten Schule trägt. Kurzum: Als was wir Objekte erkennen, hängt maßgeblich davon ab, welche Begriffe wir davon haben und in welche Sinnzusammenhänge wir diese einordnen. Haben wir das, was in unsere Wahrnehmung tritt, einmal als etwas, z. B. als Stuhl, erkannt, verliert die Wahrnehmung ihre Aufdringlichkeit und der Gegenstand unserer Wahrnehmung wird symbolisch eingeordnet und normalisiert. Es ist ein Stuhl. Punkt. Alles andere, was das Objekt auch noch sei, kann beruhigt verdrängt werden. Dadurch bildet sich ein metonymischer Rest, der abgesondert wird. Wir können also sehen, dass wir durch die Begriffe, die uns zur Verfügung stehen, unsere Welt realisieren. Die symbolische Ordnung als Sprache schafft die Möglichkeit, dass das, was wir wahrnehmen, auch realisiert wird. Sie ermöglicht es, durch Realisierung Realität zu erzeugen. Die Realität ist, was wir realisiert haben, wobei Reste wie Verdrängtes oder Beunruhigungen abgesondert zurückbleiben. Wenn wir nun nochmal jene Patientin in der Therapie im anfangs genannten Beispiel aufnehmen, die uns glauben machen will, zufällig sei ihr dies oder jenes widerfahren, dann scheint diese Gedankenfigur vordergründig dem therapeutischen Setting zu entspringen. Doch lohnt es sich, den Begriff der Patientin bzw. des Patienten allgemein näher zu untersuchen. In der Phänomenologie Bernhard Waldenfels wird damit ein spezifisch erkenntnistheoretischer Umstand beleuchtet: Durch den Begriff „Patient“ wird die Vorgängigkeit des Getroffen-Seins zum Ausdruck gebracht. Jedem Antworten, d. h. jeder Aktion, geht etwas voraus, worauf sie sich bezieht. Jeder bewusste Akt ist responsiv. Jeder Intention geht ein Widerfahrnis voraus, sodass wir bei der Frage, wem etwas widerfährt, ganz allgemein dann von Patient oder Patientin sprechen können, wo eine Affektion auftritt. Als Patient werde ich affiziert und indem ich darauf antworte, verhalte ich mich dazu. Indem der Patient oder die Patientin auf etwas reagiert, was ihm widerfährt, erfährt er etwas als etwas und verhält sich dazu als jemand und wird so zum Respondent. Durch den Affekt werde ich zum Patienten und indem ich darauf antworte, werde ich zum Respondenten. Der Patient oder die Patientin ist also bestimmt durch die Frage nach dem „Wem“ der Affektion. „Zwischen dem Wovon der Affektion und dem Worauf der Responsion, zwischen dem, was mir widerfahrt, und dem, was ich zur Antwort gebe, geschieht etwas, das sich weder der einen noch der anderen Dimension zuordnen läßt. Was hier geschieht, ist genau die Um-

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wandlung des Wovon in ein Worauf, die Umwandlung des erleidenden in ein antwortendes Selbst. Aus dem ‚Patienten‘ wird ein Respondent, daß heißt Jemand, der von anderswoher spricht und handelt, aber dies selbst tut.“21

Im Begriff Patient kommt damit die pathische Dimension, d. h. der Widerfahrnischarakter unserer Existenz zum Ausdruck. Wenn nun dem Bewusstsein, der Intentionalität der Pathos vorausgeht, hat das Konsequenzen für die Instanz, die wir Subjekt nennen: „Die Instanz, die in der Moderne den Titel ‚Subjekt‘ trägt, tritt vorweg als Patient und als Respondent auf, also in der Weise, daß ich beteiligt bin, aber nicht als Initiator, sondern als jemand, der buchstäblich bestimmten Erfahrungen unterworfen ist“22. Wir behandeln das Subjekt in der Regel als Handlungs­ instanz, doch phänomenologisch geht dieser konstitutiv eine Erfahrung voraus, der das Subjekt unterworfen ist und worauf es antwortet. Als Subjekte sind wir in der Regel nun jedoch auch die, die uns und andere zum Glauben bringen wollen daran, dass wir die Umstände für uns ergründet haben und andere es uns glauben, wenn wir etwas begründen. Wenn es darauf ankommt, wird uns schon irgendeine Begründung einfallen. Sie soll nur geglaubt werden! Der Glaube beruhigt. So zeigt sich nun auch im Sprechen die Funktion der Retroaktivität in Bezug auf das Subjektverständnis. Im Akt des Sprechens werden Signifikantenketten gebildet. Doch ist das alltägliche Sprechen dadurch gekennzeichnet, dass wir nicht aktiv über jedes einzelne Wort reflektiert nachdenken. Das würde Sprechen zu einer äußerst mühevollen Angelegenheit machen. Nein, vielmehr werden Worte und Gedanken wie ein übersprudelnder Fluss hervorgebracht.23 Der Sinn des Gesagten wird retroaktiv durch die Satzstruktur gebildet. Bei der Frage, warum wir bestimmte Dinge sagen, kommt es nun zu einem interessanten Effekt. Ähnlich wie der retroaktiven Begründung für den Kauf des Blumenstraußes wird auch jeder Sprecher und jede Sprecherin gute Gründe finden, warum das eben Artikulierte gesagt wurde. Diese Begründung schließt das Gesagte zusammen und grundiert dieses damit. Doch damit wird wiederum lediglich das Gesagte in eine Schließung gezogen, die aus der Selbstbeobachtungsperspektive versucht, Sinn zu erzeugen. Die beunruhigende Rückfrage soll beruhigt werden. Diese Plausibilisierung sucht damit einen Ort, von dem aus die Signifikantenkette plausibel signifizierbar wird. Damit kommt es zum Verstehen, das sich ver-steht. Die retroaktive Schließung lässt das Geschlossene als schon immer von dieser Schließung affiziert erscheinen. Die Begründung gibt eine Antwort, die eine Ordnung zeigt und das andere der Ordnung absondert. An dieser Stelle werden nun der Zufall, der (freudsche) Versprecher, der Traum, die Fehlleistung oder auch der Witz bedeutsam. Denn sie zeigen, dass 21

Bernhard Waldenfels, Bruchlinien, S. 102. Bernhard Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 45. 23 Ein aktives Nachdenken über Worte und Gedanken zeigt sich an Füllwörtern wie das langezogene „Äh“ während des Sprechens oder einem verzögernden „sozusagen“. Angenehmer empfinden es jedoch die meisten Menschen, wenn das Sprechen nicht ständig mit Füllwörtern unterbrochen wird, sondern das Sprechen einem gewissen Fluss und Rhythmus folgt, also weitgehend abläuft, ohne vom Bewusstsein unterbrochen zu werden. 22

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innerhalb der geschlossenen Ordnung mögliche andere Ordnungen schlummern, die aber nicht in Erscheinung treten bzw. zu Bewusstsein kommen. Freud spricht an dieser Stelle von Zensur.24 Sie verhindert es, dass bestimmte Formen der Lust und des Genießens an die Oberfläche treten. Sprache wirkt als Zensur.25 Was gesagt werden will, kann nur durch einen Versprecher symbolisiert werden. Und durch blöde Zufälligkeiten, die sich in unser Alltagsleben einschleichen. These 5: Zufälligkeiten ermöglichen Restrukturierungen normalisierter Ordnung. „Jene Intervention […] veränderte alles mit einem Schlag […] Die elementare Operation […] wäre in dieser ‚wunderbaren‘ Wende zu suchen, in diesem Quidproquo, wodurch das, was in einem bestimmten Moment Quelle der Verwirrung war, wenig später zum Beweis und Zeugnis eines Triumphes wird; […]. Es handelt sich dabei um eine Schöpfungsgeste stricto sensu: Um eine Geste, welche das Chaos zu ‚neuer Harmonie‘ bringt und plötzlich das, was bislang nur eine unsinnige, oder sogar erschreckende, Störung war, ‚komprehensibel‘ macht.“26

Damit kommen wir nochmal zum Anfang des Gedankens zurück, der den Zusammenhang zwischen Zufall und Wiederholung aufgeworfen hat. Die Sprache reguliert die Wahrnehmung, die Realisierungen und das Sprechen. Dabei ist Sprache jedoch selbst keine ontologische Gegebenheit, sondern fortwährend durch ihren Gebrauch im Umlauf und wird genau durch diesen verformt.27 Doch der Zufall, wie auch der Traum, der Versprecher, die Fehlleistung oder auch die Pointe des Witzes zeigen an, dass die Ordnung immer einen Rest aussondert, der selbst die Ordnung bedrängt. Jedes Phänomen des Verwirrtseins, des Staunens, des Zweifelns machen die Brüchigkeit sedimentierter Ordnungen bewusst bzw. können 24

Vgl. Sigmund Freud, Gesammelte Werke II / III, S. 516–537. Ähnlich auch Jacques Lacan, „Doch ist die Zensur, auf welche Weise sie auch ausge übt wird, nicht etwas, das mit einem Federstrich aufrechterhalten wer den kann, weil dabei eben auf den Vorgang des Aussagens gezielt wird. Um ein Ausgesagtes daran zu hindern, zum Aussagen zu gelangen, ist eine gewisse Vor-Kenntnis des Vorgangs des Ausgesagten notwendig. Jeder dazu ausersehene Diskurs, jenes Ausgesagte aus dem Vorgang des Aussagens zu verbannen, wird sich also mehr oder weniger in flagrante delicto mit seinem Ziel befinden. Die Matrix dieser Unmöglichkeit wird Ihnen auf der Stufe der oberen Linie unseres Graphen gegeben – und er wird Ihnen durchaus weitere Matrices liefern. Das Subjekt ist auf Grund der Tatsache, dass es seinen Anspruch äußert, in einem Diskurs gefangen, in dem es unweigerlich selbst als Agent des Aussagens aufgebaut wird, und deshalb kann es nicht auf dieses Ausgesagte verzichten, denn damit würde es sich für sich als Subjekt, das weiß, worum es sich handelt, ausstreichen“, Jacques Lacan, Das Begehren und seine Deutung. Das Seminar, Buch VI (1958–1959), S. 101. 25 Sprache muss nach Ferdinand de Saussure als la langue, d. h. als Sprachsystem verstanden und von langage als Sprachlichkeit und parole als Sprachakt unterschieden werden. Vgl. Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 1–43; 76–166. 26 Slavoj Žižek, Denn sie wissen nicht, was sie tun. Genießen als ein politischer Faktor, S. 34. 27 Sprache ist in Bewegung. Das heißt nicht, dass es kein Verstehen geben könnte. Verstehen schafft Schließungsmechanismen, die auch ausschließen, was nicht zum Verstehen gelangt, d. h. nicht signifikant nötig ist. Sprache ist in Bewegung heißt daher, dass sie sich ständig verändert, nicht dass sie ständig eine andere ist.

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diese potentiell bewusstmachen. Wo jedoch die Ordnung auf diese hin verschoben und umgeformt wird, werden sie Teil der Ordnung, die wiederum ihrerseits ihren Rest absondert. Wir haben es damit mit einer Dynamik zu tun, die nicht festgestellt werden kann. Jedem Sprechen geht Text und jedem Text geht Text voraus.28 Oder wie Lacan schreibt: „‚Der Mensch wohnt in der Sprache‘, das spricht, […] ganz von allein. Das meint, dass die Sprache vor dem Menschen da ist, was evident ist. Nicht nur wird der Mensch in die Sprache geboren, genauso wie er in die Welt geboren wird, sondern er wird auch durch die Sprache geboren.“29

So wie der Mensch durch und in der Sprache unter die Sprache geworfen ist, stiftet die Sprache eine symbolische Ordnung. Durch die Symbolisierung bringt Sprache Ordnung hervor und aktualisiert diese fortwährend. Der Zufall lässt nun die Möglichkeit der Reorganisation auf eine andere Ordnung hin aufblitzen, jedoch nie außerhalb der Ordnung, sondern immer nur als Riss, als Störung oder Irritation innerhalb von Ordnung. Dass diese Fehlleistungen innerhalb von Ordnungen durch die Risse jener drängen, aber gleichzeitig darin oft verharren, zeigen Fehlleistungen wie Versprecher. Denn wie bereits angeführt, denken wir nicht ständig über jedes Wort nach. Wir 28

Vgl. Jacques Derrida, Sinn Ereignis Kontext, in: Randgänge der Philosophie. „Eine Schrift, die nicht über den Tod des Empfängers hinaus strukturell lesbar – iterierbar – ist, wäre keine Schrift. Obwohl dies, wie es scheint, eine Evidenz ist, möchte ich es nicht als solche gelten lassen, und ich werde den letzten Einwand untersuchen, den man dieser Behauptung entgegensetzen könnte. Stellen wir uns eine Schrift vor, deren Code so idiomatisch wäre, daß nur zwei ‚Subjekte‘ ihn, als Geheimschrift, eingeführt und gekannt haben. Wird man auch nach dem Tod des Empfangers, ja selbst der zwei Partner, das von einem der beiden hinterlassene Zeichen (marque) immer noch eine Schrift nennen können? Ja, insofern als es in seiner Identität als Zeichen (marque), das durch einen selbst unbekannten oder nichtlinguistischen Code geregelt wird, in Abwesenheit von diesem oder jenem, im Grenzfall also von jeglichem empirisch festlegbaren ‚Subjekt‘ durch seine Wiederholbarkeit konstituiert ist. Dies impliziert, daß es keinen Code – Organon der Wiederholbarkeit – gibt, der strukturell geheim wäre. Die Möglichkeit, die Zeichen (marques) zu wiederholen und damit zu identifizieren, ist in jedem Code impliziert, macht diesen zu einem mitteilbaren, übermittlungsfahigen, entzifferbaren Gerüst, das für einen Dritten, also für jeden möglichen Benutzer überhaupt, wiederholbar ist. Jede Schrift muß also, um zu sein, was sie ist, in radikaler Abwesenheit eines jeden empirisch festlegbaren Empfängers überhaupt funktionieren können. Und diese Abwesenheit ist keine kontinuierliche Modifikation der Anwesenheit, sie ist eine Unterbrechung der Anwesenheit, der ‚Tod‘ oder die Möglichkeit des ‚Todes‘ des Empfangers, eingeschrieben in die Struktur des Zeichens (marque) (und in diesem Punkt verbindet sich notwendigerweise der Wert oder der ‚Effekt‘ von Transzendentalität mit der hier analysierten Möglichkeit der Schrift und des ‚Todes‘)“, Jacques Derrida, Sinn Ereignis Kontext, S. 298. „Könnte eine performative Äußerung gelingen, wenn ihre Formulierung nicht eine ‚codierte‘ oder iterierbare Äußerung wiederholte, mit anderen Worten, wenn die Formel, die ich ausspreche, um eine Sitzung zu eröffnen, ein Schiff oder eine Ehe vom Stapel laufen zu lassen, nicht als einem iterierbaren Muster konform, wenn sie also nicht in gewisser Weise als ‚Zitat‘ identifizierbar wäre“, Jacques Derrida, Sinn Ereignis Kontext, S. 310. 29 Jacques Lacan, Meine Lehre, S. 35.

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formulieren Gedanken lautlich intuitiv in einem Fluss. Meist klappt das gut und wir artikulieren das, was wir vermeintlich sagen wollen. Doch in den Redefluss drängen sich auch schon mal der eine oder andere Versprecher. Eine sprachliche Fehlleistung, die schnell korrigiert und in der Regel gut erklärt werden kann. Genau hierin zeigt sich, worauf uns Freud und Lacan fortwährend versuchen aufmerksam zu machen. Die Erklärung schließt durch Verstehen die Fehlleistung in das Verstandene ein und ordnet sie damit der etablierten (dynamischen) symbolischen Ordnung ein und unter. Dabei wirkt die Erklärung mit retroaktiver Dynamik. Indem sie erklärt wird, erscheint die Fehlleistung durch die vorgebrachte Erklärung motiviert gewesen zu sein. Die Erklärung wirkt rückwirkend – ändert die Vergangenheit der Fehlleistung. Dabei wird jedoch – genau wie der Effekt der Hypnose – übersehen, dass der Versprecher aus einer anderen Quelle motiviert war, die nun wieder zurücktritt und durch erklärendes Verstehen verdeckt wird. Doch sollten wir dabei bedenken, dass wir uns nicht versprechen, wenn wir das wollen.30 „Dann gibt es auch noch das, was es sagt, ohne es sagen zu wollen“31. Der Versprecher deckt auf, dass sich das Sprechen der Intention des Sprechers entziehen kann. Er zeigt, dass mehr gesagt wird, als ausgesagt wird. Ein weiteres Beispiel: Vor kurzem wurde über eine Entdeckung 900 Meter unter dem Eis berichtet. Forschende fanden zufällig Würmer an einem Ort, an dem sie nie damit gerechnet haben. „Es war ein echter Schock, sie dort zu finden […] Aber wir können keine DNA-Tests durchführen, wir können nicht herausfinden, wovon sie sich genau ernähren oder wie alt sie sind. Wir wissen nicht einmal, ob es sich um neue Arten handelt. Aber sie leben definitiv an einem Ort, an dem wir sie niemals erwartet hätten.“32

Hier zeigt sich, dass Zufall der Forschung eine andere Ordnung anzeigt, die nicht aus der normalisierten Ordnung zu erwarten war. Zufall machte möglich, dass die Normalisierung reorganisiert wird, um damit in den Blick zu bekommen, was sich bis dahin schlicht entzogen hat. Die Zufälligkeiten machen uns darauf aufmerksam, dass hinter unserer realisierten Realität das Entzogene bleibt, das nicht durch das Muster unserer symbo­ lischen Ordnung realisiert werden kann, d. h. Ruhe findet, sondern dieses vielmehr unter- und aufbricht und damit neue Ordnungsmöglichkeiten ankündigt.

30 Friedrich Nietzsche führt uns diesen Gedanken vor Augen, wenn er zwar René Descartes angreift, aber eine Grundeinsicht formuliert: „Was den Aberglauben der Logiker betrifft: so will ich nicht müde werden, eine kleine kurze Thatsache immer wieder zu unterstreichen, welche von diesen Abergläubigen ungern zugestanden wird,  – nämlich, dass ein Gedanke kommt, wenn ‚er‘ will, und nicht wenn ‚ich‘ will“, Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, S. 23. 31 Jacques Lacan, Buch V, S. 191. 32 https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/antarktis-forscher-entdecken-ueberraschendleben-900-meter-unter-eis-a-da198dfb-57de-49c6-9269-c4b2edc374a4 (zuletzt abgerufen am 28. 07. 2021).

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These 6: Zufall zeigt Grenzen von Ordnungsmustern auf, indem er einen unrealisierten metonymischen Rest anzeigt. Zufall beunruhigt. Wenn wir nun davon ausgehen, dass aus normalisierten Ordnungsstrukturen das Zufällige nicht passend wirkt, dann scheint es sinnvoll, Zufälligkeiten als Symptome zu lesen. Denn abseits der Vorstellung, dass die Zufälligkeit selbst ein kontingentes Ereignis ist, das auch ganz anders hätte sein können, wird dieses zum Symptom, das sich als Ordnungsmarker entpuppt. Das Symptom wird notwendigerweise durch die Ordnung erzeugt. Im Symptom, das als Zufälligkeit verdrängt werden kann, blitzt eben jenes der verdrängten Wahrheit auf, von der nämlich diese notwendige Produktion des Symptoms herrührt. Das Zufällige als Symptom ist das, was wiederkehrt, aus dem, was verdrängt wurde. Ein wenig komplexer wird dies nun jedoch durch die Zeitstruktur, die Lacan hier anlegt: „Ich identifiziere mich in der Sprache, aber nur, indem ich mich in ihr verliere wie ein Objekt. Was sich in meiner Geschichte realisiert, ist nicht die Vergangenheit, bestimmt durch das, was war, da es nicht mehr ist, und auch nicht das Perfekt dessen, was gewesen ist in dem, was ich bin, sondern das Futurum exactum dessen, was ich gewesen sein werde für das, was ich im Zug bin zu werden.“33

Was verdrängt wird, ist nicht einfach eine Vergangenheit, sondern eine Vergangenheit, die in der Zukunft liegt. Es wird so gewesen sein. „Entscheidend für das Verständnis der Wiederkehr des Verdrängten ist, dass nichts aus der Vergangenheit wiederkehrt. Das Verdrängte kehrt vielmehr ‚aus der Zukunft‘ […] zurück.“34 Genau das beschreibt den retroaktiven Effekt. Das Paradigma des Zufalls und der Wiederholung machen also darauf aufmerksam, dass die Kontingenz tief im Denken wurzelt, jedoch das Denken durch seine Mechanismen Kontingenzen zu vermeiden sucht, um sie so nicht zu Bewusstsein zu führen. Ähnlich wie die Traumzensur darauf achtet, in Verbindung zwischen Aktualen und Verdrängten Verarbeitung, Wunscherfüllungen und Lösungsstrategien zu erzeugen, schafft das Bewusstsein sich selbst einen Schutzschirm. Jedoch zeigen Ordnungen, Zufälligkeiten und die Psychopathologien des Alltags bis hin zum Witz und Traum, das verschiedene Ordnungsstrukturen sich wechselseitig überdecken ohne sich aufzuheben. Sie machen dabei aber deutlich, dass die Rolle der Phantasie, des Anderen, der Ordnung wichtige Instanzen sind, da diese aus den Zwischenräumen auftauchen. Oder andersherum: „Begrüßen Sie dort die Objekte des Gesetzes, von denen Sie nichts wissen werden, mangels Wissen, wie Sie sich

33 Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: Schriften I, S. 354. 34 Hyun Kang Kim, Slavoj Žižek. Die Philosophie des Realen, S. 22. „Symptoms are meaning­less traces, their meaning is not discovered, excavated from the hidden depth of the past, but constructed retroactively – the analysis produces the truth; that is, the signifying frame which gives the symptoms their symbolic place and meaning“, Slavoj Žižek, The S ­ ublime Object of Ideology, S. 58.

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in den Begierden zurechtfinden können, deren Ursache sie sind.“35 Das sich durch und im Begehren des Anderen situierende Subjekt, das sich aber nicht schließen kann, sucht das Andere, um das Unerreichbare zu erreichen. „Begierden … hier allein, indem man sie bindet, und übersteigert dadurch, dass man dabei offenkundig macht, dass das Begehren das Begehren des Anderen ist. Wenn man uns bis hierhin gelesen hat, weiß man, dass das Begehren exakter von einem Phantasma getragen wird, von dem ein Fuß zumindest im Anderen ist, und gerade der Fuß, der zählt, selbst, und vor allem, wenn er zu hinken beginnt.“36

Somit können wir eine Verhältnisbestimmung vornehmen: Wir wiederholen, was uns zufällt und mit einer Erfahrung der (Un-)Lust einhergeht. Indem sich eine Wahrnehmungserfahrung einschreibt, wird ausgehend von dieser wiederholt und differenziert. Zufall ist der Grund der Wiederholung. Im Zufall zeigt sich eine Störung, ein Riss in der Ordnung. In jedem Fall fällt etwas zu, wird normalisiert und gleichzeitig bleibt die Beunruhigung. „Wiederholung und erstes Mal, aber auch Wiederholung und letztes Mal, denn die Einzigartigkeit jedes ersten Mals macht draus zugleich ein letztes Mal. Jedesmal ist ein erstes Mal ein letztes Mal, das ist das Ereignis selbst. Jedesmal anders.“37

Die Spannung des Zufalls ist, dass er darauf schließen lässt, ungeahnte Nebenwirkungen mit sich zu bringen. Sonst hätte die Dame kaum erinnert, dass sie sich zufällig mit der Nagelschere geschnitten hat. Ein Beunruhigungszustand bringt sie zum Sprechen. Das Sprechen selbst bewirkt, dass die Beunruhigung zu einer Erinnerung verarbeitet wird, d. h. eingewoben wird in Ordnungsstrukturen Ein Normalisierungsprozess setzt ein, der die Erregung abbaut. These 7: Religion könnte in diesem Sinne als gemeinschaftliche Pflege von Zufall verstanden werden. War Freud ein durchaus scharfer Religionskritiker, was leider Gottes das Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Theologie nachhaltig belastet hat, können wir mit Lacan ein unaufgeregteres Verhältnis finden. Lacan hat erkannt, dass Religion auf einer Wahrheit basiert, die nicht einfach zur Sprache gebracht werden kann. Verstehen vollzieht sich in symbolischer Logik und schafft Zusammenhänge. Die überdeckte Wahrheit wird gleichzeitig dadurch gesichert, dass sie verfehlt wird. Und so möchte ich den Vortrag mit einem Blick in das Evangelium nach Johannes enden, im Sinne von: „Am Ende vielleicht sehen Blinde, weil sich ihnen etwas zu erfahren gegeben hat, das nicht durch Intersubjektivität zu erwarten war, sondern sich in ihr ereignet hat.“38 35

Jacques Lacan, Kant mit Sade, in: Schriften Band II, S. 307. Jacques Lacan, Kant mit Sade, S. 308. 37 Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, S. 25. 38 Dietrich Zilleßen, Gegenreligion. Über religiöse Bildung und experimentelle Didaktik (Profane Religionspädagogik), S. 27. 36

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Es handelt sich um die wunderbare Erzählung der Begegnung Jesu mit einem Blinden im Evangelium nach Johannes Kapitel neun. „Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war.“ (Joh 9,1) Und die Jünger fragten, wer denn gesündigt hätte, dass er blind sei? Die Jünger Jesu bemühen ihren Meister, da sie verstehen wollen. Sie ordnen ihren Eindruck und verbinden diesen in ihrer Logik: Scheinbar müsse jemand gesündigt haben, wenn einer blind geboren wurde. Nüchtern betrachtet können wir das als Versuch von Rationalisierung beschreiben. Doch Jesus wusste die Sinnschließung zu verwirren. Er widerspricht. Keiner habe gesündigt. Vielmehr sollen die Werke Gottes offenbar werden. Und Jesus machte einen Brei, strich ihn auf die Augen und sagte, der Mann solle sich waschen. Da ging er und wusch sich und kam sehend zurück. Das sind nun die ersten sieben Verse des neunten Kapitels des Johannesevangeliums. Nun folgen von Vers acht bis 41, d. h. 33 Verse lang, Ausführungen, was hier passiert sein sollte. Das sind ganze 33 Verse lang Normalisierungsversuche. Es wirkt völlig verrückt: Erst sagen die Leute, es sei gar nicht der, der blind war. Es muss ein anderer sein. Dann sagen sie zu ihm, er wäre vorher gar nicht blind gewesen. Schließlich kommen seine Eltern ins Spiel, die bestätigen müssen, dass er blind geboren war. Sie sollen erklären, was passiert sei, weisen die Leute aber ab mit der Anweisung, ihn selbst zu fragen, er sei doch alt genug. Als Nächstes beschimpfen sie den ehemaligen Blinden. Er sagt: Aber es ist doch erstaunlich, um dann wieder beschimpft zu werden, er habe den Gelehrten doch gar nichts zu sagen. Diese Szene mutet völlig absurd an. Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen, dass ich große Sympathie habe für die vielen Versuche, hier irgendwie Ordnung hineinzubringen. Es scheint mir sogar, dass unsere heutige Aufgabe als Forschende nicht anderes ist als die der Verwirrten damals: irgendwie Ordnung zu schaffen und zu wahren. Außerdem möchte ich betonen, dass ich das für hoch sinnvoll halte. Jedoch, und das soll heute meine Pointe sein: Die Zufälligkeiten des Lebens markieren Ränder unserer Ordnungsstrukturen. Sie verweisen auf die Vorläufigkeit, die Kontingenz, die jeder Ordnung innewohnt. Der Zufall ist ein besonderer Ort, der zum Verweilen einlädt, weil wir von ihm etwas lernen können, was möglicherweise außerhalb dessen liegt, was uns in den Sinn kommt. Er verweist auf ein Anderes außerhalb unserer gewohnten Ordnungsstrukturen. So besteht theologisch die Kunst darin, kritisch zu unterscheiden: Was wird aufgedeckt, indem es beschrieben, verstanden und normalisiert wird? Und was wird im gleichen Akt verdeckt, in dem Wissen, dass das Eine immer mit dem Anderen Hand in Hand geht? Wenn es nun der Anspruch der Religion ist, nicht einfach Teil eines Ganzen der Kultur zu sein, und darunter ein Subsystem zu bilden, sondern vielmehr eine ihrer Aufgaben darin besteht, diese Idee der Ganzheit zu problematisieren, dann wäre den Phänomenen in ihren Zufälligkeiten, ihren Ansprüchen dermaßen nachzugehen, wie sich darin sich ein Anderes der Ordnung zeigt und gleichzeitig entzieht.

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Diesem Entzug auf der Spur zu bleiben, im Bewusstsein seiner Nicht-Integrierbarkeit und damit auf der Spur des Unendlichen zu bleiben, darin spielt der Zufall Wegweiser. Er weist über das hinaus, war wir bereits realisiert haben und erinnert uns daran, dass wir in dieser Haltung, des Auf-Dem-Weg-Seins bleiben werden und so dem Geheimnis seinen Raum offenhalten.

Literatur Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. München 1992. Derrida, Jacques: Sinn Ereignis Kontext, in: Randgänge der Philosophie, 2. Aufl., Wien 1999, S. 325 ff. Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. 6. Aufl., Berlin 2019. Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens (Gesammelte Werke IV), London 1941. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung (Gesammelte Werke II / I II), London 1942. Gemoll, Wilhelm: Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch, 9. Aufl., München /  Wien 1954. Kim, Hyun Kang: Slavoj Žižek. Die Philosophie des Realen. 2. Aufl., Paderborn 2020. Lacan, Jacques: Das Seminar, Buch XVII. Die Kehrseite der Psychoanalyse (1969–1970). Übersetzt von Gerhard Schmitz, Juli 1997. Lacan, Jacques: Der Triumph der Religion welchem vorausgeht der Diskurs an die Katho­liken (Lacans Paradoxa), Wien 2006. Lacan, Jacques: Die Bildungen des Unbewussten. Buch V, Wien 2006. Lacan, Jacques: Meine Lehre, Wien 2008. Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch XI. Wien 2015. Lacan, Jacques: Kant mit Sade, in: Schriften Band II, Wien / Berlin 2015, S. 289 ff. Lacan, Jacques: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: Schriften I, Wien 2016, S. 278 ff. Lacan, Jacques: Struktur. Andersheit. Subjektkonstitution, hg. von Dominik Finkelde / Slavoj Žižek (Lacanian Explorations), 2. Aufl., Berlin 2016. Lacan, Jacques: Das Begehren und seine Deutung. Das Seminar, Buch VI (1958–1959), Wien / Berlin 2020. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, Hamburg 2013. Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 3. Aufl., Berlin /  New York 2001. Schraml, Walter J.: Einführung in die Tiefenpsychologie für Pädagogen und Sozialpädagogen, 2. Aufl., Stuttgart 1969.

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Teschmer, Caroline / Wiesinger, Christoph: Bezogenheit und Entzogenheit. Leiblichkeit und Verstehen als Ort des Sich-Zeigenden, in: Clemens Wustmans / Maximilian Schell (Hrsg.), Hermeneutik. Fundamentaltheologische Abwägungen – materialethische Konsequenzen, Berlin 2019, S. 86 ff. Waldenfels, Bernhard: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie Psychoanalyse Phänomentechnik, Frankfurt am Main 2002. Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2012. Zahavi, Dan: Phänomenologie für Einsteiger, Paderborn 2007. Zahavi, Dan: Husserls Phänomenologie, Tübingen 2009. Zilleßen, Dietrich: Religionspädagogische Lernwege der Wahrnehmung, in: Dietrich Zilleßen /  Stefan Alkier / Ralf Koerrenz / Harald Schoeter (Hrsg.), Praktisch-theologische Hermeneutik. Ansätze – Anregungen – Aufgaben, Rheinbach-Merzbach 1991, S. 59 ff. Zilleßen, Dietrich: Gegenreligion. Über religiöse Bildung und experimentelle Didaktik (Profane Religionspädagogik), 2. Aufl., Münster 2019. Žižek, Slavoj: The Sublime Object of Ideology, London 1989. Žižek, Slavoj: Denn sie wissen nicht, was sie tun. Genießen als ein politischer Faktor, 2. Aufl., Wien 2008.

Zufällig Subjekt – Perspektivische Identitäten und Gemeinsamkeiten Placidus Bernhard Heider, Regensburg / Ulm Wer wir sind, ist wichtig, ebenso, was wir über uns denken. Gehören wir zu den Anderen, unserem gemeinsamen Leben, gehen wir in dem auf, was wir mit Anderen teilen, der gemeinsamen Welt, Wesen der Sozialisation oder Interaktion, oder sind wir unüberbrückbar allein, Einzelne, nur auf uns gestellt, und in allem Entscheidenden, Entscheidungen, Geburt, Tod… unendlich, „existentiell“ einsam? Meine Identität? Ein Wort der Vereinzelung, das aber doch Einheit bedeutet. Was ist das, was meint das? Was mich verbindet oder trennt? Das fragen nicht nur pflichtbewusste Schüler bei Besinnungstagen. „Identität“ aus so vielem? Lebensweg, Curriculum Vitae… die offene oder geschlossene Einheit wovon? Womit? Mit den Anderen? Komplexität des Daseins und Alltags. Mein Leben ist eine Vielfalt. Lebenskrisen. Aber viel mehr: Was habe ich mit den Anderen zu schaffen und sie mit mir? Was kann ich wirklich teilen und mit-teilen? „Identität“ – wie einig bin ich mit meiner – der Welt? Vielleicht ist das ja ein sonderbarer Begriff aus Logik und Sozialpsychologie und auch längst mitten im Alltag, oft so daher gesagt, aber was meint er? Was kann er überhaupt meinen? Gemeinsamkeit oder Einsamkeit? Eben wieder eine unzulängliche Worthülse für unbewältigte Erfahrungen? Welche Vormeinungen und Erfahrungen transportiert oder verschleiert womöglich das Wort „Identität“? Warum ist dieses Kunstwort gerade so konstruiert worden, dass es unsere Verwendungen und vielleicht sogar Erfahrungen in seinem Gebrauch zulässt? Und da sind wir Philosophen wohl alles andere als unschuldig – sind wohl sogar die strukturgebenden und sprachschöpferischen, aus dem Hintergrund wirkenden Hintermänner von Vielem, erwecken Erwartungen und verhindern zugleich oft deren Erfüllung. Der vorliegende Artikel will einen kleinen, aber seinem inhaltlichen Anspruch gemäßen Versuch zur Klärung wagen. Die Eigenständigkeit trotz aller achtungsvollen Referenzen mag wahrgenommen werden. Die Grundthese wird dabei lauten: Wir können unaufhebbar Einzelne sein, ohne verallgemeinerbar sein zu müssen und doch in tatsächlicher und umfassender Gemeinschaft stehen, so dass wir das Gemeinsame sowohl als unser ganz eigenes und

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einzigartiges wie auch mit allen Anderen geteiltes Anliegen ergreifen können. Ob und wieweit das größere oder kleinere Gemeinwesen unser politisches Interesse sein kann, hängt ja wohl davon nicht zum Geringsten ab. Im Ersten unternehme ich dazu eine inhaltlich durch das Thema begrenzte Lage­ bestimmung, dann zweitens unterbreite ich ein Gedankenmodell als Vorschlag für ein Verständnis von „Identität“ und drittens umschreibe ich Kontexte zur Ergänzung und relativierenden oder erweiternden Anknüpfung.

I. Das soziale Individuum steht im Mittelpunkt der Sozialphilosophie. In diese Mitte muss es oft gar nicht ausdrücklich gestellt werden, wie auf den ersten Blick bei Jürgen Habermas oder John Rawls, wenn diese stattdessen begründbare Verfassungsstrukturen und gerechte Institutionen diskutieren. Das Individuum bleibt doch der letzte Bezugspunkt bei der Darstellung des rationalen Diskurses oder der Wahlsituation im Urzustand. Die Rolle der Menschen in diesen jeweilig formalisierten Modellen bleibt entscheidend und die Frage, ob und wie weit sich konkrete Einzelne durch die dabei zu treffenden Entscheidungen auf Grund eigener „vernünftiger“ Einsicht repräsentieren lassen. Ist das vorgeschlagene Modell sozialen Verhaltens eben das, das ich selbst aus besserer oder bester Einsicht, nach vernünftigster Abwägung, für mich und alle Anderen wählen würde? Das eben meine Vernunft bestmöglich zur Geltung bringt und doch gerade dabei allen Anderen ebenso gerecht wird? Auch wo man sich also von „subjektphilosophischen“ Betrachtungsweisen im engeren Sinn löst, oder diese dann auch mehr oder minder radikal kritisiert, wie Michel Foucault1, anders Niklas Luhmann2, oder ganz anders Charles Taylor3, bleibt in die Theoriebildung ein normativ gehaltvolles Bild des Individuums eingeschrieben. Teils als Gegenstand und Ziel der aufklärenden Kritik, teils als Hoffnungszeichen einer neuen, vielleicht gar „pluralen“ Freiheit oder „Lebenskunst“. Es ginge dann etwa beim „richtigen“ Handeln nicht mehr so sehr darum, verallgemeinerbaren oder gar letztgültigen Prinzipien zu folgen, als vielmehr gerade jetzt das „für mich“ Richtige zu tun, vielleicht einem Bild von dem zu genügen, wer ich selbst im Umgang mit Anderen (oder in meiner Gesellschaft) sein möchte.4 Das Individuum radikalisiert sich in dieser Perspektive sogar und erscheint sozial oft gar als Bedrohung der Moralität. 1

Vgl. M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, bes. S. 269 ff. Vgl. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, S. 866 ff. Auch: N. Luhmann, in: Beck, U. / Beck-Gernsheim, E. (Hrsg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, S. 191 ff. 3 Vgl. C. Taylor, Quellen des Selbst, Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. 4 Vgl. dazu etwa auch: E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, S. 164 ff. 2

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Was bei der direkten und indirekten Thematisierung des Individuums auffällt, ist eine eigenartige Doppelrolle zwischen einem Objekt der Rekonstruktion („Wer sind wir?“) und einem Gegenstand der Konstitution innerhalb der Theorien („Wer sollen / wollen wir sein?“). Habermas würde vielleicht sagen, dass hier die Geltungsansprüche von „Wahrheit“ und „Wahrhaftigkeit“ und gar der „Richtigkeit“ verwischt werden. Und wahrscheinlich ist hier auch einiges zu verwechseln. Doch wie ist das säuberlich zu trennen? Deskriptives und Normatives? Was im Einzelfall durchsichtig scheint, wird schwer erhellbar im Gewebe unserer Äußerungen. Quine hat darauf hingewiesen.5 Mit Putnam könnte man die Autorität der jeweiligen Diskurssegmente befragen. Irgendwo schwebt da etwas, wenn wir den Gesamtrahmen einer faktischen Verständigung bedenken und nicht mehr nur den einzelnen Satz, schwebt zwischen der kritischen und der „transzendentalen“ Ebene, wie Foucault einmal bemerkt6, zwischen der erhellenden Analyse unserer Handlungsstrukturen und den uns immer neu relativierenden, kontingenten Bedingungen unserer Äußerungen. Immerhin: Es war tiefste Sehnsucht bis herauf zu Jürgen Habermas, dass kri­ tische Rekonstruktion direkt oder indirekt eine normative Quelle freilegen könne, um sich in Einigkeit mit deren konstituierender Kraft zu verbinden. Beides, und das sei schon hier vermerkt, wurde gern unter dem Stichwort „Identität“ zur ­Deckung gebracht, auch für die Selbsterkenntnis des betroffenen Individuums. Doch dazu gleich mehr. Aber überraschend ist es doch wohl ganz gemeinhin nicht, dass bei uns Menschen das „wer wir sind“ wesentlich davon beeinflusst wird, WIE wir von uns denken. Wir sind eben zumindest auf kognitiver Ebene nicht der Stein, der vom Berg rollt, ganz gleich was er selbst oder jemand von ihm denkt. Unser Denken ist nicht „unschuldig“. Und das sowohl hinsichtlich unserer persönlichen Selbsteinschätzung wie auch in Bezug auf die Vorstellungen, die wir von uns Menschen überhaupt und / oder gemeinsam haben. Nur: Können unsere persönlichen oder gemeinsamen Vorstellungen „von uns“ auch rekonstruierend oder „intuitiv“ so etwas wie „anthropologische Konstanten“ oder normativ wirksame Grundstrukturen treffen, die wir dann vielleicht mit den Anderen teilen, oder solchen Strukturen zumindest nahekommen, gibt es so etwas überhaupt? In den Diskussionen um eine ausreichende Formalisierbarkeit des Menschen im Blick auf Allgemeingültiges in seinem Handeln wurde klassischerweise neben dem in der Tat immer heiklen Begriff der „Individualität“ (… est ineffabile…) das Thema „Identität“ zum Problem. 5 In seinem Holismus wird die säuberliche Trennung von „Beschreiben“ und „Normieren“ hinsichtlich der Erkenntnisbedingungen aufgehoben: Vgl. W. V. O. Quine, Ontologische Relativität und andere Schriften; dazu auch: D. Davidson, Der Mythos des Subjektiven, S. 65 ff. 6 M. Foucault, Anthropologie du point de vue pragmatique, hier zitiert nach: M. Foucault, Von der Subversion des Wissens, S. 124.

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(Öffnen wir hier eine Klammer: Eigentlich würde es immerhin spätestens an dieser Stelle angebracht erscheinen, auf die Geschichte der entsprechenden Kunstwörter „Identität“ und „Individuum“ und die damit verflochtenen Erwartungen einzugehen. Doch ist fraglich, wieweit das zu einer Klärung beiträgt. Denn es liegen dazu höchst unterschiedliche „Geschichten“ mit ihren jeweiligen Deutungen und Interpretationen vor. In neuerer Zeit etwa von den vorhin schon erwähnten Autoren Foucault, Luhmann oder Taylor. Die „objektive“ Version kann wohl nicht abgewartet werden, da sich die Darstellung offenbar jeweils sehr schnell in eine bewertend gehaltvolle und theoretisch verflochtene Selbstinterpretation mensch­ lichen Lebens zu verwandeln scheint. Einen uninteressierten Sprachgebrauch scheint es hier nicht zu geben bzw. gar nicht gegeben zu haben. Dennoch soll hier kurz – fast aus dem Zusammenhang und trotzdem wieder mitten darin – verwiesen werden auf die theologische und sprachgeschichtliche Wurzel von „Identität“ bei Augustinus: Nur Gott hat nach ihm Identität, da er gleichzeitig in reiner Unveränderlichkeit, oder „Sich-selbst-Gleichheit“ verharrt, und doch immer neue, echte Relationen zur zeitlichen Wirklichkeit einnimmt. Dadurch müssen für Gott alle verschiedenen Zeitmomente und alle Vielfalt des Wirklichen punktuell und streng „eins“ in reiner Gleichzeitigkeit und dann eben „Identität“ ununterschieden „dasselbe“ werden.7 Damit ist also das Wort „Identität“ von seinen philosophisch-theologischen Anfängen her befrachtet. Schließen wir damit die Klammer wieder.) Wie wird also die Identität für das Individuum zum Problem? Dazu nur ein Verweis auf eine immer wieder angesteuerte Nahtstelle neuzeitlichen Denkens. Immanuel Kant stellt wohl an klassisch gewordener Stelle die Verankerung von Kriterien der Richtigkeit in der Möglichkeit rationaler Selbstbeziehung heraus. Die entsprechenden Zusammenhänge können und sollen hier nur im Groben vergegenwärtigt werden: In der Transparenz der Selbstbeziehung objektiviert sich das erkennende Subjekt, indem es unhintergehbare, allgemeine Bedingungen seines Denkens und Erkennens in sich selbst freilegt. Es bezieht sich in seinem Denken und Handeln auf seine „eigenen“, aber allgemeingültigen Grundlagen. Autonomie, Selbstgesetzlichkeit und normative Vorgabe finden ihre „identische“ Einheit in der Struktur der allgemeinen Gesetzesartigkeit, etwa für die praktische Philosophie in der „Allgemeinheit der Maxime als Gesetzes“8. Die objektivierende Verallgemeinerbarkeit ist so bekanntermaßen Kriterium von praktischer Richtigkeit und theoretischer Wahrheit. Und Verallgemeinerung heißt Rückführung des Besonderen auf das Allen Gemeinsame und letztlich eine „Identische“. Denn im Zentrum steht die Einfachheit der identischen Selbstbeziehung oder Selbstreflexion. In seiner transzendentalen Architektonik gibt Kant dafür das Muster vor: Das Subjekt ist nicht nur eine Einheit in der prinzipiellen Klarheit 7 8

Vgl. Augustinus, in: CCL 40, 1801 ff. Vgl. I. Kant, in: Weischedel, W. (Hrsg.), Immanuel Kant, Werke, Bd. 6, S. 98.

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der bewussten Selbstbeziehung, sondern auch Träger und Prinzip von „Identität“, indem es alle einzelnen Zustände und Inhalte des Bewusstseins als Inhalte des immer gleichen Bewusstseins nach apriorischen Regeln verknüpft.9 Diese Regeln sind notwendig, eben um die Identität der Selbstbeziehung in allen ihren Zuständen zu wahren. Basis aller Wirklichkeit ist noch vor aller gesetzmäßigen Erfassung die notwendige theoretische Einheit des Denkens selbst. Das verallgemeinernde Gesetz, der kategorische Imperativ, gründet in der notwendigen „Identität“ des „Ich denke“ in all seinen Inhalten. Die Ordnung von Welt und Denken findet so ihre Wurzel in der Einheit der immer gleichen und gegenüber allem Besonderen verallgemeinerbaren Selbstbeziehung.10 Die Reflexion soll diese Rückführung der einzelnen Gehalte aufs Allgemeine, einheitlich vermittelbare, leisten oder dann später bei Habermas, Pierce und Putnam die Kommunikation. Kants Reflexion kann sich als Ziel an der Figur der identischen Selbstreflexion, die diskursive Vergewisserung an der Selbstbegründung der kommunikativen Vernunft mit ihrer Einheit und Identität festhalten. Was mich mit der Welt und den Anderen verbindet, ist die gleiche Möglichkeit der „Universalisierung“ unseres Denkens und aller Wirklichkeit zu einer letzt­ lichen oder zumindest prinzipiellen Übereinstimmung und Einverständigkeit. Das logische Modell einer sich selbst explizierenden, weil numerisch einfachen Identität als Grundlage und einigenden Verbindung aller objektiven Gültigkeit in Welt und Bewusstsein steht so im Raum. Was dabei auf der Stecke bleibt, ist aber nun gerade das „Individuum“, soweit es eben einen Unterschied „macht“ und sich nicht auf Anderes reduzieren, zurückführen lässt. An es ergeht vielmehr stattdessen der Ruf, sich selbst zu objektivieren und so seiner alten ontologischen Grundstellung als der Grundlage aller Wirklichkeit gerecht zu werden. Entlässt man die von Kant angestrebten Strukturen letzter Gewissheit aus dem problematischen Sicherungsraum des transzendentalen Bewusstseins, gerade weil der identische, „reine“ Selbstbezug allen faktischen Reflexionen und Konstruktionen zu widersprechen scheint, weil der „Selbstbegriff“ etwa Hegels eher Ausdruck einer Not als einer Erlösung war, weil sich das Subjekt in der Selbstreflexion unendlich verfehlt…, so steht man nur allzu schnell vor der bekannten Alternative: Entweder muss man mit Habermas oder Anderen auf eine „Einheit von Empirie und Transzendentalem“ hindenken11, auf sichernde Grundlagen in Theorie und Wirklichkeit, d. h. man rekonstruiert die sich selbst normierende Transparenz der Theorie für Wirkliches auf einer neuen Ebene und transponiert so die Figur von „Identität“. Oder aber man überlässt das Feld den Kontingenzen und empirischen

9

Vgl. etwa die Darstellung von Dieter Henrich: D. Henrich, Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, S. 180 ff. 10 Vgl. I. Kant, KrV tr. Anal. § 16; KrV tr. Dial. 2.B. 1.H. 11 Vgl. z. B.: J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 348.

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Faktizitäten. Und damit den unendlichen Differenzen und Unterschieden in ihrer „Gleichgültigkeit“. So lassen sich wohl in Kernbereichen sowohl die Kommunitarismusdebatte, der Kulturalismusstreit oder auch die postmoderne Universalismuskritik ansprechen. Es scheint vielfach, als ob die Möglichkeit sowohl radikaler Erkenntniskritik wie auch der Normierung unseres Handels von der Reformulierbarkeit, der Übersetzbarkeit des klassischen, letztlich aus der Theologie stammenden Modells von „Identität“ und seiner Konnotationen abhinge, wie das etwa auch John Rawls in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ feststellen wollte.12 „Fair“ wäre der Mensch eben erst im Zustand ausreichender Verallgemeinerbarkeit. Der philosophisch geprägte Identitätsbegriff transportiert also verschiedene, aber zusammenhängende Teile: numerische Einheit, die Möglichkeit der Selbst­ beziehung und vielleicht Selbstnormierung, die Verallgemeinerbarkeit von Verschiedenem zu einer Einheit und deswegen auch die Übereinstimmung mit Anderen. In ihm liegt ebenso eine Erinnerung an die „eine“ Welt, wie auch die Gefahren der Reduktion und der Unterwerfung des „subjektum“ unter formale Gesetze, unter denen es sich selbst zu objektivieren sucht. Im Alltag drücken sich diese Muster und Konflikte jedoch eher in der Frage aus, worauf sie ursprünglich Antworten wollten: Wie hängt das Verschiedene zusammen, was bedeutet Einheit und Gemeinsamkeit, Gemeinsamkeit mit den Anderen oder sind das nur durchsichtige Kon­ struktionen, „um den Altruismus vernünftiger erscheinen zu lassen als er ist“13? Soweit eine eher auf ein Thema hinführende, als auch nur im Geringsten vollständige Lagebeschreibung. Auf Ernst Tugendhat geht der Vorschlag zurück, „Identität“ als einen äquivoken Ausdruck aufzufassen. Die logisch numerische und die qualitative, vielleicht sozialpsychologische, Verwendung sollte man auseinanderhalten, sonst käme es zu heillosen Verwirrungen.14 Dennoch steht die Frage nach der Einheit von Lebensgeschichten, der Einheit in der Verständigung und der nicht nur auf Ähnlichkeiten beruhenden Gemeinsamkeit mit den Anderen im Raum.

II. Versuchen wir nun in einer eher alltäglichen Besinnung dem nahezukommen, was „Identität“ für uns meinen kann. 12

Rawls setzt dort in klassisch kantischer Tradition etwa „Objektivität“ und „Autonomie“ gleich; vgl. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 557 ff. 13 R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 11. 14 Vgl. E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, S. 282 ff.

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Dieser kleine Versuch verdankt viel parallelen Überlegungen bei Neri-Hector Castaneda15, Donald Davidson16 oder auch Robert Brandom17 und manchen Anderen.18 Er soll aber hier gerade in seiner Einfachheit zur Diskussion gestellt werden. Deswegen lasse ich auch einstweilen einige Aspekte im möglichen Vorfeld in der Schwebe, die referenztheoretische Fragen oder solche nach der Identifikation von Gegenständen oder deiktischen Operatoren oder Indikatoren betreffen.19 Was ich voraussetze, ist nur, dass wir faktisch die Möglichkeit haben, zu identifizieren, wovon wir reden oder woran wir denken, wie Davidson einmal sagt.20 Die spannende Frage, wie sich im kindlichen Spracherwerb Begriffe ausbilden und was bei ihnen oder Eigenschaften „Identität“ heißen kann21, wird hier nur einmal neu vorbereitet. Wir wollen unserem Thema über die Frage nach der Übereinstimmung oder Gemeinsamkeit in der Verständigung nahekommen. Hier haben wir ausreichend viele alltägliche Erfahrungswerte und zugleich auch das am meisten bearbeitete oder vielleicht auch strapazierte Paradigma für soziale oder auch ontologische „Identität“. Die Frage, wie wir zu einem tatsächlichen Einverständnis mit Anderen kommen, ist uns ja vertraut, ebenso der Zweifel, wieweit das bei der Unterschiedlichkeit der Lebens- und Erfahrungsräume überhaupt möglich ist. Das „Fremdpsychische“ erscheint uns dann als ein überkomplexes Dickicht, in das wir allenfalls mit vagen Hypothesen eindringen können, und dem wir dann nur mit der relativen Willkür vertraglicher Festlegungen beikommen können. Ähnlich ergeht es uns oft genug bei dem Versuch der Selbstverständigung, der Klärung unserer eigenen Motive, Handlungsvorgaben und Wahrnehmungsschranken. Sehen wir also in gut Wittgenstein’scher Tradition zu, ob wir verwirrende Fragen zur Klärung durch einfachere ersetzen können. Das Vorgehen ist methodisch pragmatisch bis pragmatistisch22, das sei eingeräumt, und ist durch Konvergenzen aus vielen anderen Bereichen zu ergänzen und gewiss auch zu relativieren. Ich möchte mich zunächst auch nur an einfache raum-zeitliche Gegenstände halten. Dabei soll auch nur der einfache „Alltagsrealismus“ hinsichtlich der realen 15 Hier etwa Castanedas Theorie der „Quasiindikatoren“; vgl. H.-N. Castaneda, Indicators and Quasi-Indicators, S. 85 ff. 16 Besonders Davidsons Theorie der „radikalen Übersetzung“ und sein erkenntnistheore­ tischer „Externalismus“: vgl. z. B. D. Davidson, Der Mythos des Subjektiven, S. 5 ff., S. 65 ff. 17 Brandom unterbreitet den unkonventionellen Vorschlag, die Differenz zwischen Sätzen und Tatsachen im Unterschied der sozialen Perspektiven von Sprecher und Interpret zu suchen und zu entschlüsseln.: Vgl. R. Brandom, Expressive Vernunft, bes. S. 232 ff. 18 Es handelt sich hier auch um eine Ergänzung meines an anderer Stelle schon vorformulierten Vorschlags: vgl. P. B. Heider, Jürgen Habermas und Dieter Henrich, bes. S. 106 ff. 19 Zur Diskussion der Indikation auch (allerdings mit kritischer Vorsicht): D. Davidson, Wahrheit und Interpretation, S. 261 ff.; ders., Handlung und Ereignis, S. 214 ff., 291 ff. 20 Vgl. D. Davidson, Der Mythos des Subjektiven, S. 39. 21 Vgl. z. B. P. Rohs, Die Identität von Eigenschaften, S. 221. 22 Die aufgerufenen Autoren zeigen dies ja an. Aber solche methodischen Einseitigkeiten ließen sich wohl beheben.

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Existenz von Dingen in unserer Welt veranschlagt werden, etwa im Sinn von Wittgensteins unerklärten Existenzvoraussetzungen im Rahmen von Sprachspielen.23 Natürlich ist unser Gegenstand im Augenblick imaginär, da wir uns ja in einer Modellvorstellung befinden, doch macht das keinen Unterschied: Nehmen wir an, dass wir uns im Gespräch gegenübersitzen. Auf dem Tisch, für uns beide oder mehrere Anwesende gut sichtbar, brennt eine Kerze. Ich habe sie nun tatsächlich im vorausgehenden Satz bezeichnet, und es ist klar, wovon ich rede bzw. woran ich jetzt denke, nämlich an die Kerze vor uns. (Der Leser mag jetzt an die Kerze denken, an die ich im Augenblick denke, wesentlich ist, dass er oder sie nicht auch an eine Kerze denkt, sondern sozusagen an „meine“. Aber bleiben wir der Einfachheit halber in der als real vorgestellten Situation.) Sehen wir nun dasselbe? Hier ergibt sich eine eigenartige, und wohl für alle Vorstellungen von „Identität“ konstitutive Doppeldeutigkeit: Nein und Ja. Zunächst ganz klar: Nein, wir haben einen tatsächlich verschiedenen Wahrnehmungsinhalt. Würden wir jeweils fotografisch festhalten, was wir sehen, wir bekämen beliebig viele verschiedene, allenfalls unendlich ähnliche Bilder. Gehen wir noch weiter: Wir können aus raum-zeitlichen Gründen gar nicht dasselbe sehen, der Gegenstand verändert sich beständig, die Lichtverhältnisse, unser jeweils verschiedener Wahrnehmungsapparat. Selbst wenn ich versuchen wollte, genau den Blickwinkel eines Anderen einzunehmen, ich könnte es nie in völliger Deckung. Unaufhebbare Unterschiede bleiben bestehen. (Und dabei befragen wir ja jetzt gar nicht die Unterschiede in Erleben, Assoziation und Empfinden, sozusagen den symbolischen und bildlichen Kontext oder psychischen Raum, innerhalb dessen unsere Wahrnehmungen auftreten und den wir hier nur im Modell wegkürzen wollen. Eigentlich ist er natürlich immer da und wohl auch, neben den „Dingen“ und sprachlichen Leistungen, die Voraussetzung für jede „Identifikation“.) Ich kann also, bildlich gesprochen, nie mit den Augen eines Anderen schauen. Dieser Unterschied zwischen uns ist ebenso real wie die Dinge der angenommenen Welt. Eine echte, deckende Perspektivenübernahme wäre so unmöglich, wie sie etwa als theoretische Zielperspektive in der Diskurs- oder Vertragstheorie angenommen wird. Was bleibt wären Ähnlichkeiten, die aber ohne echte Übereinstimmung unsere Welt in viele „subjektive“ Welten aufteilen würden. Das Lebensgefühl unaufhebbarer Vereinzelung wäre bestätigt. (Wenn ich nun die Leser bitten würde, sich jeweils eine Kerze oder auch ein Sandmännchen, ein Konzept von Gerechtigkeit usw. vorzustellen, wären unsere Vorstellungsbilder verschieden. Nun hat aber schon Ludwig Wittgenstein in seinem berühmten Bild vom Käfer darauf hingewiesen, dass sich beim Verständnis 23

Vgl. etwa: L. Wittgenstein, Über Gewißheit, 1949–1951, S. 189.

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der Sprache, der Begriffe, eben des Begriffs „Käfer“, diese Unterschiede „wegkürzen“ lassen. Um „intersubjektiv“ sein zu können, dürfe sich die Sprache eben nicht auf diese Unterschiede stützen, sondern müsse im Begriff etwas Gemeinsames annehmen, wenn auch vielleicht auf einer nahezu „inhaltsleeren“, formalen Ebene. Also:) Es gilt aber auch das Ja. Wir sehen dasselbe. Und hier kommen wir unserem alltagsprachlichen Sinn von „Identität“ wohl nahe. Wir sind alle nicht im Zweifel darüber, welche Kerze wir in einer konkreten und gemeinsamen Wahrnehmungssituation unter unseren jeweils verschiedenen Perspektiven anschauen. Und wenn ein Zweifel besteht, lässt sich der verhältnismäßig einfach (bei dieser Kerze hier zumindest) ausräumen. Dazu wird nur angenommen oder vorausgesetzt, dass es diesen gemeinsamen Bezugspunkt in der Welt tatsächlich gibt.24 Und dieser gemeinsame „Gegenstand“ unserer Wahrnehmungen ist ebenso real wie die Unterschiede zwischen unseren Wahrnehmungen. Jetzt stellen wir aber die „naive“ Frage nach der Gemeinsamkeit: Was ist denn nun „die“ Kerze, die wir gemeinsam anschauen, die jeder / jede anders sieht. Worin vereinigen sich, konvergieren denn unsere „Wahrnehmungsereignisse“? Die Kerze kann auf unendlich viele verschiedene Weisen gesehen werden, wir könnten wohl auch sagen, sie kann in unendlich25 viele Relationen zu ihrer Umwelt eintreten. Wenn wir fragen, worin sich die verschiedenen Perspektiven treffen, so möchte ich mit Wittgenstein, Castaneda, Davidson und Anderen vorschlagen, das Einigende als einen bloßen Schnittpunkt zu sehen. (Trotz aller Referenzen auf benachbarte Theorien ist die hier getroffene Form meines Wissens neu.) Wir erreichen ihn theoretisch, indem wir von den unterschiedlichen Blickwinkeln das Verschiedene abziehen, es „wegkürzen“. Wir erreichen ihn faktisch, indem wir beim Hinsehen zugleich wissen, dass ihn (den Gegenstand, der verschiedene Perspektiven zulässt) der / die Andere anders sieht. Was dann bleibt, ist ein für sich völlig inhaltsleerer, also offener, aber eindeutig bestimmbarer Schnitt- und Zielpunkt in der Welt, der auf eine eindeutig identifizierbare und einzigartige Weise Träger einer prinzipiell unbestimmten Menge von Eigenschaften ist. Wir könnten das Gemeinsame natürlich auch in der Summe aller möglichen Zugangsweisen suchen und das hat auch einiges für sich. Doch diese Summe ist in ihrer notwendig unendlichen Gesamtheit, sozusagen „sub specie aeternitatis“, nie zu erreichen, darüber hinaus wäre sie wohl unter einer jeweils einheitlichen 24 Im Alltag haben wir daran keinen Zweifel. „Philosophische“ Zweifel ließen sich etwa durch sprachtheoretische Untersuchungen zur Gemeinsamkeit von „intentione recta“ und „intentione obliqua“ Bezugnahmen klären: Vgl. N.-H. Castaneda, Sprache und Erfahrung, S. 231 ff. Und auch wenn es sich nur um Hintergrundannahmen unserer „Welttheorien“ (Quine) handeln würde oder um Existenzvoraussetzungen unserer Sprachspiele, würde das wohl keinen Unterschied machen. 25 Unendlichkeit hat hier nur den einfachen mathematischen Sinn, in dem wir etwa sagen, dass eine endliche Strecke unendlich teilbar ist.

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Hinsicht widersprüchlich, da sich in ihr verschiedenste Zeitmomente, Zustände, Eigenschaften anlagern. Und wir müssen ja auch nicht „Alles“ an der Kerze sehen, um die Kerze zu sehen. In jeder Perspektive zeigt sich uns dieselbe, kontinuierliche, eine bestimmte und bestimmbare Kerze. In jeder Perspektive ist sozusagen der Ort enthalten, von dem aus sich alle anderen Zugänge eröffnen. Und jetzt haben wir, den Erfolg unseres Gedankenspiels vorausgesetzt, einen deutlichen Sinn von „Identität“: Sie könnte verstanden werden als ein Konvergieren von Verschiedenem in einem gemeinsamen, eindeutigen, aber selbst inhaltsleeren und für Gestaltungen offenen Schnittpunkt, der von vielen Seiten als „dasselbe“ angenähert, besser: tatsächlich erschlossen werden kann, ohne dass er von irgendeiner Seite zu erschöpfen wäre. Wenn wir uns fragen, wo überall in der Welt wir solche möglichen Konvergenzpunkte finden, wäre die Antwort einfach, überall dort, wo an einzigartiger Stelle unendlich viele Darstellungen, Wahrnehmungen, Bezugnahmen und Gestaltungen möglich sind, weil, was aber weiterführen würde, sich dort eine unendliche Vielfalt von Relationen auf charakteristische Weise zusammenschließen. Also im gesamten Umfang unserer Welt, dessen, was für uns wirklich ist oder sein kann, einer Welt, die für uns jeweils anders und real verschieden bleiben kann, die sich überall anders „bricht“, auffaltet und doch überall restlos vereinigt. Die Welt wäre dann für verschiedene Menschen eine tatsächlich andere und doch in allen ihren Bestandteilen dieselbe.26 In diesem Modell könnten unaufhebbare, „unendliche“ Pluralitäten zusammenbestehen mit der echten und grundsätzlichen Möglichkeit zur tatsächlichen Gemeinsamkeit im Ganzen unseres geteilten Lebens. Und das ohne Vereinheitlichung, Reduktion oder dialektische Vermittlung etwa im hegelianischen Sinn. Man braucht dazu auch nicht den eigenen Raum des Transzendentalen und kann dennoch dessen Verlangen nach Einheit und Eigenständigkeit gerecht werden. (Autonomie wäre dann weiter normiert durch die Vorgaben meiner Besonderheit, die mich aber gerade auch mit Allen anderen verbinden und zugleich vom Zwang eines allgemeingültigen, formalen Gesetzes befreit. Mein „empirisches“ Wollen könnte so Ausdruck meiner freien Selbstverpflichtung gegenüber Anderen im Ganzen unseres geteilten Lebens sein und nicht mehr die Bedrohung meiner Pflichterfüllung.) Das war hier als Freilegung eines möglichen Begriffs von „Identität“ für die Verständigung gesagt. Dass die vorgeschlagene Fassung des Begriffs auch für seine 26

Wenn ich richtig sehe, hat das Fichte in seiner Wissenschaftslehre unter dem Gedanken der „Teilung“ dargestellt: J. G. Fichte, in: Fichte, I. H. (Hrsg.), Fichtes Werke, Bd. 1, S. 101 ff. Ich habe das an anderer Stelle schon kurz dargestellt: P. B. Heider, Kurze Besinnung zur politischen Anthropologie, S. 48.

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sozialpsychologische Verwendung fruchtbar sein kann, ist naheliegend. Denn so kann das Anderssein des / der Anderen als eine tatsächliche und notwendige Bereicherung und Ergänzung meiner irreduziblen Besonderheit verstanden werden. In all dem Anderen, was der / die Andere für mich ist, könnte ich mich als zugleich Eigenem in tatsächlicher Gemeinsamkeit selbst anerkennen und dabei die gleiche Gültigkeit des / der Anderen bejahen.27 Aber hier soll nicht wieder einmal der Wunsch der Vater des gutgemeinten Gedankens sein, sondern nur ein kleiner Baustein zur Klärung angeboten werden. Was sicher scheint: Eine solche „Identität“ hätte keine Freude mehr an der Selbstbemächtigung, sondern könnte sich gelassen auf ihre Kontingenzen einlassen, ohne sich daran und darin zu verlieren. Sie würde ihre Bestätigung gerade in dem finden, was sie ergänzend überschreitet.

III. Sehen wir das unter I. Gesagte noch einmal im Licht unseres kleinen Vorschlags an: Das Theologumenon der „Identität“ von einer eigengesetzlichen und Alles souverän vereinheitlichenden, im Kern allgemeingültigen Wirklichkeit war wohl wirklich für lange Zeit das wirksame Hintergrundmuster der Theorien und Vorstellungen um „Individualität“ und „Identität“. Und das umso mehr, als das Individuum nach der Ansicht vieler in der Neuzeit den verwaisten Platz Gottes hätte ausfüllen sollen. Die Aufgabe des Menschen war dabei, in sich selbst eigene Kriterien der Richtigkeit und Gültigkeit freizulegen und dabei war er in seiner nivellierenden und vom Wortsinn her „atomisierenden“ Individualität an den Rand der Bedeutungslosigkeit gedrängt. Habermas spricht hier von einer „strukturellen Selbstüberforderung“ des Menschen.28 Zugleich ganz der / die Eine zu sein, ganz und gar auf sich gestellt und geworfen und zugleich unter dem Anspruch, eine Gültigkeit für Alle hervorzubringen. Die Analysen von ­Luhmann29 und Foucault gehen in eine ähnliche Richtung. Luhmann spricht sogar von einem besänftigenden Potential der Rhetorik des Individuums, damit der Zwiespalt zwischen unendlicher Forderung und winziger Kleinheit niemandem auffalle.30 Du bist ein Individuum, also tue es, du bist ein Individuum, also kannst du es… Das klingt sehr nach Kants: Du kannst, denn du sollst. Als Erlösung wer 27 Das wäre dann eine andere Ausgestaltung des von Axel Honneth in seiner Theorie der Anerkennung wieder aufgenommenen Gedankens bei Hegel, dass Selbstbewusstsein immer nur zusammen mit der Anerkennung von anderem Selbstbewusstsein möglich ist: Vgl. A. Honneth, in: Edelstein, W. / Nunner-Winkler, G. (Hrsg.), Moral im sozialen Kontext, S. 55 ff. 28 Vgl. J. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 130. 29 Vgl. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, S. 1025 ff. 30 Vgl. ebd. S. 1025.

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den von Luhmann die selbstbezüglichen Kontingenzen allumfassender und allgegenwärtiger Systeme angeboten. Foucault diagnostiziert nach dem Tod Gottes, der bei Friedrich Nietzsche nicht nur an seinem alles bewertenden Mitleid, sondern gerade an der Verwandlung in eine unendlich formale, sich selbst explizierende, moralische Struktur gestorben war, letztlich eben doch nur ein Menschenwerk, Schöpfung eines hybriden Verlangens nach Ordnung, auch den Tod des gleichermaßen überforderten Subjekts.31 Dieses Subjekt geht gerade als Schöpfung einer fast allmächtigen Sprache in dieser unter und zwar umso mehr und bodenloser, als es in deren Kontingenzen sich selbst als letzten Maßstab beteuert. Was ihm Rekonstruktion eigener, letzter Gültigkeiten sein sollte, Selbstgegenwart, war doch nur eigenmächtige Konstruktion mit den Mitteln einer gleichgültigen Macht.32 Die reflexive Selbstvergewisserung als Versuch der eindeutigen Selbstbestimmung lässt nicht nur den Menschen in einer Selbstverfehlung abstürzen, sondern übergeht gerade seine produktiven Möglichkeiten. Diese würden eben erst in der gesamten und doch selbst ergriffenen und übernommenen Fülle der Gestaltungsmöglichkeiten liegen. Es ist eigentlich ein kleiner, aber doch umgreifender Gedanke Nietzsches, der da vielleicht noch manches erhellen kann, wenn man mag, und hier einen kleinen Abschluss bilden soll: „Ich liebe den, dessen Seele übervoll ist, so dass er sich selber vergißt, und alle Dinge in ihm sind…“.33 Es könnte der Mensch, mit übervollem Herzen, sein, der da spricht, der sein Leben gerade gewinnt – nach dem biblischen Gedanken – indem er es verliert, der es restlos der Welt und den Menschen ausliefert. Er vergisst sich, weil er sich nicht mehr ein Bild auferlegt oder selbst überstülpt, von dem er Wahrheit und Gültigkeit erwartet, indem er sich selbst oder Andere begreift, sondern der sein Leben teilen kann, als ein immer schon geteiltes, ohne es zu verlieren. Und dieser Mensch könnte überall Alles, im Kleinsten die ganze Fülle des Einzelnen und Gemeinsamen gewinnen…

Literatur Augustinus: Enarrationes in Psalmos 122(121), in: CCL 40, 1801 ff. Brandom, Robert: Expressive Vernunft, Begründung, Repräsentation und Diskursive Fest­ legung, Frankfurt 2000.

31

Vgl. M. Foucault, Hermeneutik des Subjekts. Vgl. M. Foucault, Von der Subversion des Wissens, S. 46 ff. 33 F. Nietzsche, in: Colli, G. / Montinari, M. (Hrsg.), Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 18. 32

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Castaneda, Hector-Neri: Indicators and Quasi-Indicators, in: American Philosophical Quarterly 4 (1967), S. 85 ff. Castaneda, Hector-Neri: Sprache und Erfahrung, Texte zu einer neuen Ontologie, Frankfurt 1982. Davidson, Donald: Der Mythos des Subjektiven. Philosophische Essays, Stuttgart 1993. Davidson, Donald: Handlung und Ereignis, Frankfurt 1990. Davidson, Donald: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt 1990. Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), in: Fichte, I. H. (Hrsg.), Fichtes Werke, Bd. 1, Berlin 1971. Foucault, Michel: Anthropologie du point de vue pragmatique, Übersetzung von Kants „Anthropologie in pragmatischer Absicht“ mit Einleitung von M. Foucault, Manuskript 1961, hier zitiert nach: Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, Frankfurt 1987, S. 124. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 12. Aufl., Frankfurt 1994, bes. S. 269 ff. Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt 2004. Foucault, Michel: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt 1993. Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt 1988. Habermas, Jürgen: Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt 1985. Heider, Placidus Bernhard: Jürgen Habermas und Dieter Henrich. Neue Perspektiven auf Identität und Wirklichkeit, Freiburg / München 1999. Heider, Placidus Bernhard: Kurze Besinnung zur politischen Anthropologie. Vorüberlegungen zu einem verwaisten Schwerpunkt, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 48 (2003), S. 41 ff. Henrich, Dieter: Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982. Honneth, Axel: Zwischen Aristoteles und Kant. Skizze einer Moral der Anerkennung, in: Edelstein, W. / Nunner-Winkler, G. (Hrsg.), Moral im sozialen Kontext, Frankfurt 2000, S. 55 ff. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in: Weischedel, W. (Hrsg.), Immanuel Kant, Werke, Bd. 3–4, Darmstadt 1968. Kant, Immanuel: Grundlegung der Metaphysik der Sitten, in: Weischedel, W. (Hrsg.), Immanuel Kant, Werke, Bd. 6, Darmstadt 1968. Luhmann, Niklas: Copierte Existenz und Karriere. Zur Herstellung von Individualität, in: Beck, U. / Beck-Gernsheim, E. (Hrsg.), Riskante Freiheiten, Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt 1994, S. 191 ff. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt 1997. Quine, William V. O.: Ontologische Relativität und andere Schriften, Stuttgart 1975. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1979.

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Rohs, Peter: Die Identität von Eigenschaften, Russels Paradoxie für Begriffe und der Universalienrealismus, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 108 (2001), S. 221 ff. Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt 1989. Taylor, Charles: Quellen des Selbst, Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, 3. Aufl., Frankfurt 1999. Tugendhat, Ernst: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt 1979. Wittgenstein, Ludwig: Über Gewißheit, 1949–1951, hrsg. von Anscombe, G. E.M. / von Wright, G. H., Frankfurt 1970.

Philosophische Überlegungen zur Bedeutung des Religiösen in einer chaotischen Welt Kurt Wuchterl, Stuttgart

A. Einführung und Begriffsklärungen Spätestens seit Nietzsches Prophezeiung vom Tode Gottes und von der Herauf­ kunft des Nihilismus fühlen sich in unserer Zeit die meisten Intellektuellen auf Grund der oft chaotischen Zustände außer Stande, weiterhin an die alten Garanten der Ordnung wie Religion, Philosophie oder Wissenschaften zu glauben. Neuere Bemühungen um eine naturalistische Welterklärung scheitern ebenso wie die spekulativen Entwürfe in den großen Erzählungen. Was bleibt, scheint ein bedrohliches Chaos von Zufälligkeiten oder Kontingenzen zu sein. Der umgangssprachliche Gebrauch des Wortes Zufall führt unter anderem zu Assoziationen mit Zu-Fallendes, Überraschendes, Unvorhersehbares, Regelloses, Chaos, Anders-Sein-Können, Unverfügbarkeit, von der Vernunft Nicht-Erreichbares und ähnlichen Vorstellungen. Alle soeben genannten Ausdrücke haben es genau genommen mit Ordnungsbrüchen zu tun. Diese wiederum bedeuten letztlich jeweils eine Nichtnotwendigkeit, und genau diese führt zum Kontingenzbegriff als Präzisierung des Zufallsbegriffs: Eine Aussage ist nämlich genau dann kontingent, wenn sie einen möglichen und zugleich nicht notwendigen Sachverhalt betrifft.1 Der obige Hinweis, dass wir in einer Welt bedrohlicher Ordnungsbrüche leben, enthält aber nur die halbe Wahrheit; denn er bezieht sich speziell auf die Erlebnisse existentieller Erfahrungen in unserer Welt, in der jeder Einzelne versucht, sich in ihr trotzdem zurecht zu finden und sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen zu gestalten. Er erfährt zwar auch unerbittliche Notwendigkeiten, aber er versucht dort, wo die Welt ihm Gestaltungsmöglichkeiten zu bieten scheint, diese in seinem Sinn zu verändern, und zwar mit dem Gefühl, dass die Entscheidung bei der Auswahl verschiedener Handlungsmöglichkeiten selbstverständlich aus freiem Willen erfolgt ist. Dass diese Freiheit eine bedingte ist, wird dem Handelnden nur in seltenen Fällen bewusst sein. Bedingt heißt nach Michael Pauen hier die Freiheit, das wollen zu können, das den naturgesetzlichen und ontologischen Besonderheiten des jeweiligen Individuums entspricht.2 Wir bezeichnen diese meist unbewusste 1

Eine ausführliche Analyse dieser und folgender Definitionen findet man in Wuchterl (2016). 2 Zur Definition der bedingten Freiheit siehe Wuchterl (2007), Abschnitt 1.5.

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Struktur der vorgegebenen Gesetzlichkeiten als latente Philosophie des jeweiligen Individuums, die zunächst an das hermeneutische Vorurteil bei Gadamer3 erinnert, sich aber im Gegensatz zu diesem nicht auf naturwissenschaftliche und ontologische Gesetzmäßigkeiten selbst bezieht. Unser Thema betrifft die Bedeutung der Religiosität in einer Welt, in der religiöse Phänomene scheinbar ihre frühere Ordnungsfunktion verloren haben und nur noch in der latenten Philosophie einzelner Individuen eine eingeschränkte Rolle spielen. Wir stellen dieser Auffassung die These entgegen, dass Religiosität für alle Menschen eine auch heute noch beachtenswerte fundamentale Bedeutung zugesprochen werden muss. Zur Begründung bedarf es allerdings zunächst einiger Klärungen zum Kontingenzbegriff. Wie die obige Definition der Kontingenz zeigt, hängt diese wesentlich vom mehrdeutigen Notwendigkeitsbegriff ab. Wir unterscheiden daher im Folgenden drei Fälle, je nachdem, auf welche Ordnung man sich in der Begründung der Notwendigkeit bezieht: Die logische Notwendigkeit betrifft logische (und mathematische)  Gesetze; die naturgesetzliche Notwendigkeit betrifft alle Naturgesetze; die ontologische Notwendigkeit schließlich betrifft ontologische Gesetzmäßigkeiten und daraus Ableitbares. Liegt keine logische (bzw. naturgesetzliche oder ontologische) Notwendigkeit vor, dann ist der betreffende Sachverhalt logisch (bzw. naturgesetzlich oder ontologisch) kontingent. Wenn wir im Alltag Notwendigkeiten vermuten, dann sind diese vor allem in praktischen Zusammenhängen stark von der latenten Philosophie der einzelnen Individuen abhängig. Das heißt, unser bisheriger allgemeiner Kontingenzbegriff muss zu einem subjektbezogenen erweitert werden. Wir sprechen in diesem Fall von einer religionsphilosophischen Kontingenz; denn nur durch diesen Perspektivenwechsel, der personale Aspekte und existentielle Erfahrungen einbezieht, lässt sich ein Zusammenhang zu religiösen Phänomenen herstellen. Die Definition der religionsphilosophischen Kontingenz lautet: Eine persön­ liche Überzeugung ist genau dann religionsphilosophisch kontingent, wenn der in der Überzeugung angesprochene Sachverhalt als ontologisch kontingent beurteilt wird; wenn ferner jener Sachverhalt allen Versuchen widersteht, durch mensch­ liche Handlungen diese Nicht-Notwendigkeit zu beseitigen; und schließlich, wenn der Sachverhalt von einem existenziellen Interesse begleitet wird. Nach der Klärung der für das Weitere maßgebenden Grundbegriffe konzentrieren wir uns nun auf den Umgang mit den Kontingenzerfahrungen. Kontingenzen können beseitigt, also bewältigt werden; oder sie können nach vergeblichen Bewäl 3

In Gadamer (1960). Heute spricht man eher von Vorverständnis. Einzelheiten zu diesem zentralen Begriff siehe Wuchterl (1999), Abschnitt 7.2.

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tigungsversuchen als solche hingenommen, das heißt, anerkannt werden. Wir sprechen daher von Kontingenzbewältigungen und von Kontingenzanerkennungen. Im zweiten Fall wird eine Grenze der Vernunft mitgedacht, hinter welcher ein Anderes der Vernunft liegt, und daher muss noch eine weitere Unterscheidung getroffen werden: Interpretiert man nämlich dieses Andere, das anerkannt wird, positiv als Chiffre des Religiösen, dann handelt es sich um Kontingenzbegegnungen. Beim Agnostiker dagegen bleibt es bei der bloßen Anerkennung von (religionsphilosophischen) Kontingenzen ohne weitere positive oder negative Festlegungen.

B. Kontingenzbewältigungen in den Naturwissenschaften und in der Philosophie Da es für Logik, Mathematik und Physik eine weltumspannende Instanz gibt, an welcher die Zugehörigkeit zur Naturgesetzlichkeit entschieden wird, können wir uns im Falle der Naturwissenschaften hier relativ kurzfassen. Die naturwissenschaftliche Erklärung eines zunächst unverstandenen Ereignisses wird allgemein als Bewältigung einer naturgesetzlichen Kontingenz verstanden. Uns interessieren jedoch die Phänomene, in denen eine solche Bewältigung zu misslingen scheint; man denke etwa an die Weltentstehung oder an die Entwicklung von Lebewesen. Und so versucht man, möglichst alle unverstandenen und zugleich beunruhigenden Ereignisse mit Hilfe anerkannter Naturgesetze zu erklären. Misslingt dies zunächst, so hofft man doch, in der Zukunft eine Erklärung finden zu können. Die Entstehung der Welt und ebenso die des Lebens und des Geistes werden so als Leistungen der Natur verstanden. Man spricht daher von der Selbstorganisation der Natur. So behauptet beispielsweise Hawking, in der modernen Physik sei der endgültige Durchbruch zu einem naturwissenschaftlichen Weltbild gelungen.4 Anhänger der Überzeugung, dass mit dieser Selbstorganisation prinzipiell alles erfasst werden kann, bezeichnet man bekanntlich als Naturalisten. Für diese ist auch der Hinweis auf die Quantentheorie, in der vom absoluten Zufall die Rede ist, belanglos, weil man dort die sperrigen Phänomene, wie zum Beispiel die schwer erklärbare Verschränkung5, kurzerhand zu Naturgesetzen erklärt. Durch die Einbeziehung dieses Phänomens in den Katalog der Naturgesetze wird die scheinbar kontingente Verschränkung naturgesetzlich notwendig und so ein Beispiel für eine naturgesetzliche Kontingenzbewältigung. Wesentlich problematischer ist die Kontingenzbewältigung in Bezug auf die Entstehung und Entwicklung des Lebens, und hier vor allem auf die Entstehung des 4

Hawking / Mlodinow (2010), S. 167. Ein bekanntes Beispiel betrifft die Verschränkung von Photonenpaaren, die beim Durchgang durch ein Kristall entstehen. Misst man bei dem einen der beiden entstandenen Photonen die Polarisation, so wird zum Zeitpunkt dieser Messung zugleich die Polarisation des anderen Photons festgelegt, gleichgültig wie weit entfernt sich dieses Photon vom anderen gerade befindet. Diese geheimnisvolle Abhängigkeit nennt man Verschränkung. 5

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Bewusstseins in hochentwickelten Lebewesen. Es sind vor allem Philosophen, die sich für die dort auftretenden emotionalen und geistigen Phänomene interessieren, zumal diese von den empirisch vorgehenden Biologen als jenseits der Grenze ihres wissenschaftlichen Forschungsbereichs liegende Epiphänomene betrachtet werden. Ihre zahlreichen philosophischen Reduktionsversuche, Geistiges jeglicher Art auf physikalische Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen, sind bisher stets gescheitert. Die diesbezüglichen naturalistischen Ansprüche unterscheiden sich wesentlich von den üblichen naturgesetzlichen Kontingenzbewältigungen, in denen praktizierende Wissenschaftler Schritt für Schritt kontingente Phänomene in die von Naturgesetzen bestimmte objektive Ordnung einfügen. Letzteres geschieht unter der Prämisse der provisorischen Geltung der Naturgesetze, das heißt, der im Konsens der Forschergemeinschaft zur gegebenen Zeit anerkannten bewährten Arbeitshypothesen. Für die meisten Wissenschaftler lässt sich aus dem heutigen Forschungsstand keineswegs ein geschlossenes Weltbild rechtfertigen. Hawking und andere Naturalisten artikulieren demnach in ihren Spekulationen über eine alles erfassende Weltformel keine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern geben in der extrapolierenden Verallgemeinerung ihres zufälligen Wissensstandes ein naturphilosophisches Glaubensbekenntnis von sich. Das Thema unserer Abhandlung zielt auf philosophische Überlegungen zur Rolle des Religiösen in einer chaotischen Welt. Bisher haben wir hauptsächlich von einem geordneten Kosmos gesprochen und die vom Einzelmenschen unmittelbar erlebte Welt mit all ihren Nöten und Beschwernissen ausgeblendet. Die existentielle Betroffenheit hat sich allenfalls im Staunen über die überwältigenden Dimensionen des Alls und im Bewusstwerden der Grenzen dieser faszinierenden Ordnung eingestellt. Doch ansonsten betonen Naturalisten stets, dass ihre objektiven Betrachtungen die individuellen, auf die Einzelperson bezogenen Epiphänomene nicht thematisieren. Die existentielle Betroffenheit im Bewusstsein der einzelnen Subjekte wird durch die Einordnung als Epiphänomen letztlich nicht ernst genommen. Nun kann man darauf hinweisen, dass die Entwicklung der Naturwissenschaft als Ordnungsinstanz sich in eben diesem Bewusstsein der Menschen vollzogen hat; denn das durch die Erfahrung der Ordnungen gegebene Evidenzerlebnis ist eine Leistung des menschlichen Individuums und nicht der Gattung Mensch. Deshalb kann man den Naturalisten vorwerfen, dass sie in ihrer Ablehnung existentiell belangvoller Phänomene die Rolle des Bewusstseins unbegründet aus dem Kosmos der zugänglichen Gegebenheiten ausgeschlossen haben. So überrascht es auch nicht, dass die Naturwissenschaften bis in die Neuzeit geistesgeschichtlich eher ein Schattendasein führten. Und es ist kein Zufall, dass die Entdeckung der zentralen Rolle des Bewusstseins, der wir uns im Folgenden zuwenden, von den beiden Philosophen René Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz erfolgte, die sich gleichzeitig Verdienste um die Weiterentwicklung der Naturgesetzlichkeiten erwarben6. 6

Descartes entwickelte die analytische Geometrie und Leibniz die Differenzialrechnung.

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Mit Descartes’ methodischem Zweifel beginnt in der Philosophie ein Zeitalter der Vorherrschaft des Bewusstseins, das in Kants Transzendentalphilosophie sowie in Hegels Lehre des absoluten Geistes zwei Höhepunkte erlangte und schließlich im zwanzigsten Jahrhundert in der Phänomenologie, der Existenzphilosophie und der analytischen Philosophy of Mind bis in die Gegenwart hineinwirken sollte. Die erwähnten philosophischen Persönlichkeiten und Strömungen sind Repräsentanten bedeutender Versuche zur Bewältigung ontologischer Kontingenzen innerhalb der Philosophie. Den für uns wichtigsten Schritt vollzog Kant in seiner Transzendentalphilosophie, wo er dem Ich die Sonderrolle zuschreibt, alle unsere Urteile zu begleiten und damit die berühmte Evidenzbegründung im zweifelnden cogito sum auf das Erkennen aller Gegenstände erweitert werden konnte. Dabei ist zu beachten, dass bei Kant in der Kritik der reinen Vernunft menschliche Handlungen, ferner die Freiheit, das Gute und Böse, Freude und Leid, Liebe und Gott nicht zu den erkannten Gegenständen gehören. Philosophiegeschichtlich entwickelte sich aus der Kant-Kritik der deutsche Idealismus, der vor allem von Fichte, Schelling und Hegel repräsentiert wurde. Allen drei gemeinsam ist die Überzeugung, dass das Subjekt oder das Ich als Grundprinzip allen Seins verstanden werden muss. Der Gipfel- und zugleich Endpunkt dieser Entwicklung wurde in Hegels Systementwurf des Geistes erreicht. Dieser betrifft die gesamte Vielfalt aller geistigen, also auch aller religiösen Erscheinungen und versucht, diese innerhalb eines sich entwickelnden Ganzen zu erfassen. Unsere Suche nach einer autonomen, also gesetzgebenden Vernunft, die eine universelle ontologische Ordnung aus dem Selbstbewusstsein herzuleiten vermag und so alle ontologischen Kontingenzen bewältigt, scheint im Idealismus erfolgreich zu ihrem Ende gekommen zu sein. Damit hätte man in Hegels System dann eine Instanz für abgesicherte Erkenntnis gefunden, sofern die betreffenden Aussagen sich jeweils auf vernünftige Argumentationsketten berufen können. Die Anhänger Hegels würden damit gewissermaßen eine analoge Rolle wie die naturwissenschaftliche Forschergemeinschaft einnehmen. Doch der konkrete Versuch, in einzelnen Interpretationsschritten diese gewagte These zu bestätigen, scheitert zum Beispiel in Bezug auf Hegel bereits an der Vielfalt der zur Begründung herangezogenen Quellen. Statt auf einen erwarteten sicheren Ausgangspunkt zu stoßen, gerät man damit sogleich in einen Wirbel der alles im Fluss haltenden Dialektik. Die Ausführungen können zwar teilweise durchaus interessante einzelne Gedanken enthalten, doch in den meisten Texten erweisen sich die dialektischen Notwendigkeiten als eine Aneinanderreihung ernüchternder Beliebigkeiten. „Eine ganze Welt der Sprache, Begriffe und Bildung ging mit Hegels Geschichte des Geistes zu Ende“ schreibt Karl Löwith in seinem Werk Von Hegel zu Nietzsche7, in dem die unmittelbar nach Hegels Tod einsetzenden vielfältigen Auflösungserscheinungen eindrucksvoll dargestellt werden. Dieses Scheitern des Idealismus steht für das Ende der Autonomie der Vernunft und für die Unmög-

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Löwith (1964), S. 54 (s. insb. unter II.2.c. [K. Marx] und unter 2.f. [S. Kierkegaard]).

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lichkeit, innerhalb der Philosophie existentiell belangvolle Kontingenzen generell vernünftig zu bewältigen. In der Folgezeit werden die großen philosophischen Erzählungen von mehr oder weniger kritischen neuen Erzählungen abgelöst, die immer häufiger auch außerhalb der Philosophie zu Wort kommen. So haben sich in der Soziologie, Theologie, Rechtswissenschaft, Kunst, Geschichte und anderen Geisteswissenschaften einzelne Schulen mit einem gewissen Konsens in mehr oder weniger wichtigen gemeinsamen Auffassungen entwickelt, die oft gleichzeitig oder nur eine Zeit lang Einfluss erlangten und dann häufig von gegensätzlichen Alternativen abgelöst wurden. Parallel zu den genannten Kritiken an der geistesgeschichtlichen Entwicklung auf dem europäischen Kontinent − wo sich im 20. Jahrhundert die beiden großen Erzählungen der Phänomenologie und der hermeneutischen Lebensphilosophie etabliert hatten − erfolgte im englischsprachlichen Bereich die Stärkung einer dort schon immer verbreiteten pragmatischen Grundeinstellung. Anknüpfend an John Locke, David Hume und John Dewey begründete George Edward Moore die analytische Philosophie als Antipoden zur kontinentalen Philosophie. Einst selbst Anhänger des damals in England verbreiteten Idealismus forderte er die Philosophen auf, alle Urteile, die den Anspruch erheben, als sichere Erkenntnisse zu gelten, einer Analyse zu unterziehen. Die daraufhin entstandene analytische Denkweise entwickelte sich unter dem Einfluss von Bertrand Russell und Ludwig W ­ ittgenstein vor allem in Cambridge und beherrschte seitdem die englischsprachige Philosophie. Mit dem Einfluss Wittgensteins vollzog sich der Linguistic Turn. Seine sprachanalytische Philosophie geht jedoch in den Philosophischen Untersuchungen (PU)8 thematisch weit über die von Russell verfolgten Analysen der strengen Wissenschaften hinaus. Diese Konkretisierung des sprachanaly­tischen Denkens gewinnt dann später in den Siebziger- und Achtziger-Jahren vor allem in den USA großen Einfluss, wo vorher der logische Empirismus verbreitet war, der von den Emigranten des Wiener Kreises jenseits des Atlantiks Fuß gefasst hatte. Sowohl in diesem Positivismus als auch in Russells logischem Atomismus war für den Geist und für das Bewusstsein zunächst kein Platz. Die Berufung auf eine Autonomie der Vernunft, welche die Sicherheit des Ganzen einschließlich der existentiellen Herausforderungen garantiert und dabei den Rekurs auf Religiöses ausschließt, war stillschweigend undiskutabel geworden. Doch nachdem die in den angelsächsischen Ländern sich weiter entwickelte analytische Philosophie in Österreich9 und Deutschland Anerkennung fand, begann ein gegenseitiger Dialog, in dem sich sogar eine umfangreiche Philosophy of Mind etablierte. 8 Die PU gelten als das wichtigste Werk Wittgensteins. Es entstand Mitte der Dreißigerjahre bis 1949 und erschien erst zwei Jahre später posthum in der deutsch-englischen Ausgabe beim Verlag B. Blackwell, Oxford 1953. 9 Besonders erwähnenswert sind die seit 1976 bis heute jährlich stattfindenden Symposien der Österreichischen Wittgenstein Gesellschaft in Kirchberg am Wechsel.

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C. Zwei große Erzählungen der Gegenwart Im Folgenden werden zwei philosophische Strömungen der Gegenwart skizziert, um zu verdeutlichen, dass wir auch heute noch auf große Erzählungen stoßen, in denen das Ganze und dessen Grenzen in das Blickfeld rücken. Die eine ist die schon erwähnte Philosophy of Mind (samt dem hier nicht weiter ausgeführten Komplex der Künstlichen Intelligenz), die andere eine wenig bekannte aktuelle Idealismus-Diskussion aus dem Umkreis des allgemein anerkannten führenden Idealismus-Experten Dieter Henrich. Diese Wahl erfolgt aus zwei Gründen, nämlich einmal wegen Henrichs Aktualisierung des schon tot geglaubten Idealismus, zum anderen wegen des von ihm angestrebten Brückenschlags zwischen der kontinentalen Philosophie des Geistes und der gegenwärtigen analytischen Philosophy of Mind. Letzteres ist für uns deshalb so bedeutsam, weil trotz der beiderseitigen Offenheit der Gespräche sich die kritische Einstellung der Analytiker zur Rolle des Selbstbewusstseins in ähnliche unlösbare Grenzerfahrungen verwickelt wie der ursprüngliche Idealismus. Große Erzählungen haben in der Gegenwart kaum Chancen beachtet zu werden. Das trifft insbesondere auf die Fälle zu, in denen der spekulative absolute Geist auf einen in der Geschichte realisierten Zeitgeist reduziert wurde und damit die universale Rolle, die dieser im deutschen Idealismus spielte, verloren ging. Genau gegen diesen Verlust argumentiert Henrich und bemüht sich ein Leben lang, die Ursprünge des in der Gegenwartsphilosophie allgemein in Frage gestellten autonomen Denkens zu rehabilitieren. Schon in den Fünfzigerjahren konzentrierte er in Heidelberg sein Interesse auf den im Idealismus zentralen Begriff des Selbstbewusstseins10 und stieß nach Untersuchungen der Rolle desselben in der Philosophie Kants schließlich auf den Kant-Kritiker Fichte. Kant hatte in seiner Transzendental-Philosophie zu viele entscheidende Fragen offengelassen. Das betrifft vor allem seine Lehre von der transzendentalen Deduktion, in welcher er seinen Erkenntnisbegriff analysiert und bei der Deutung des Verstandes als Synthesisvermögen die Einheit des Selbstbewusstseins einfach voraussetzt.11 Diese Schwierigkeiten und vor allem Kants Degradierung der Sinneswelt zur bloßen Erscheinungswelt bedeuten in der Gegenwart für viele das Ende der Metaphysik. Für Henrich dagegen lässt sich die Moderne ohne eine Meta­physik nicht verstehen; allerdings bedeutet für ihn Metaphysik nicht nur das Denken des Seins als Ganzes, sondern sie muss auch das Denken des Nichts einschließen. Was dies im Einzelnen bedeutet, wird allerdings erst in seinen Spätwerken ausführlich begründet.12 Wie schon erwähnt konzentrierte sich Henrichs Interesse zunächst auf die Frühphilosophie Fichtes. Im Jahre 1966 erschien seine Arbeit Fichtes ursprüngliche 10

Seine Habilitationsschrift lautet Selbstbewusstsein und Sittlichkeit, Heidelberg 1956. Ausführlich in Henrich (1976). 12 Siehe vor allem Henrich (2016). 11

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Einsicht (FuE)13, deren Einleitung mit den Sätzen beginnt: „‚Selbstbewusstsein‘ ist das Prinzip von Fichtes Denken. Dieser Umstand allein genügt, ihm das Ohr der Gegenwart zu verschließen. Denn gegenwärtige Philosophie ist … aus dem Misstrauen gegen den pathetischen Klang der Rede vom Ich gekommen. Sie hat ihm das Concretum ‚Existenz‘ und die versachlichte Analyse der Sprache entgegengestellt.“ Zunächst stellt Henrich fest, dass im Laufe der Geschichte der Philosophie immer wieder Theorien zum Selbstbewusstsein (oft synonym zu Ich oder Subjekt) als Grundprinzip der jeweiligen philosophischen Systeme entworfen worden sind, aus dem dann alle Erkenntnisse hergeleitet werden sollten. Dabei scheint es offenkundig zu sein, dass das Ich etwas mit Reflexion zu tun hat. Auch Fichte selbst entwickelt seine erste Version der Wissenschaftslehre in der Überzeugung, dass sich das Ich schlechthin selbst setzt14 und damit die Reflexivität offenkundig wird. Aber genau diese Zuschreibung wird zugleich von Fichte selbst als zirkulär nachgewiesen. Henrich dagegen betont die Präreflexivität des Selbstbewusstseins, weil sich nach seiner Meinung die behauptete Zirkularität gar nicht auf die Struktur des Selbstbewusstseins, sondern auf die Theorie des Selbstbewusstseins als Reflexion bezieht. In den diesbezüglichen Analysen hat Henrich anhand von drei metaphorischen Formeln Fichtes den neuen Ansatz ausführlich kommentiert.15 Henrich bezweifelt allerdings die Möglichkeit einer solchen genaueren Beschreibung der Struktur des Selbstbewusstseins. Er ist jedoch trotz dieser Einschränkung nach wie vor von der Autonomie der Vernunft überzeugt. Mit anderen Worten, das Ich als Selbstbewusstsein bezeichnet für ihn die Instanz, sich selbst erfahren zu können und zugleich denkend den Kosmos ihrer Bedingungen mit zu erfassen. Zudem muss auch das Verhältnis der Subjekte untereinander immer als ein Selbstverhältnis verstanden werden. Deshalb gehört zum Selbstbewusstsein auch die Selbstbestimmung, aus der sich die normativen Praktiken verstehen lassen. Die Einbeziehung der Selbstbestimmung, die auch auf das Freiheitsproblem und auf die Sittlichkeit zielt, ist von Anfang an ein Hauptanliegen Henrichs gewesen16 und wird meistens in eigenständigen Untersuchungen abgehandelt. Für Henrich ist demnach das Selbstbewusstsein weder anschaulich noch in dialektischer Begrifflichkeit gegeben und es zielt letztlich auf einen undurchschaubaren Grund. Das heißt doch aber, es stößt auf eine Grenze, jenseits welcher nur in Metaphern gesprochen werden kann, die wir als Ausdruck einer religiösen Erfahrung betrachten. Die Diskrepanz zwischen der behaupteten fundamentalen Bedeutung des Selbstbewusstseins im Prinzip der Subjektivität und der Entdeckung des beschriebenen Zirkels der Selbstbestimmung mindert zweifellos die Glaubwürdigkeit aller Bewusstseinstheorien und hat in vielen Fällen auch zum Niedergang des Idealismus beigetragen. Doch Henrich ist nach zahlreichen tiefschürfenden 13

Erschienen in: Henrich (2019) EN. Quellenhinweise in: Henrich, FuE, S. 15. 15 FuE Abschnitte II, III, und IV. 16 Hier sei nochmals an den Titel seiner Habilitationsschrift 1956 erinnert. 14

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Analysen idealistischer Texte, insbesondere zu Problemkomplexen der Selbstbestimmung innerhalb der Ethik, der Gesellschaft und der Freiheit weiterhin von der fundamentalen Rolle des Selbstbewusstseins überzeugt geblieben. Nach der Abhandlung aus dem Jahre 1966 hat er ein halbes Jahrhundert später 2019 in dem Werk Fichtes Einsicht nachdenken (EN) nochmals das Thema Selbstbewusstsein aufgegriffen und dort über seine Auseinandersetzung mit den Philosophen der analytischen Philosophie berichtet.17 Die analytische Philosophie ist neben der aktuellen Thematisierung des Idealismus durch Henrich eine zweite philosophische Erzählung der Gegenwart, die allerdings eine wesentlich größere Anhängerschaft aufweisen kann als die Vertreter idealistischer Ideen. Obwohl sich die Resonanz auf Henrichs Schriften in Grenzen hält, ist es sein unbestreitbarer Verdienst, durch die umfangreiche Lehrtätigkeit in den USA dort die Bedeutung des klassischen Idealismus bekannt gemacht und damit einen Dialog zwischen der angelsächsischen analytischen Philosophie und der so genannten kontinentalen Philosophie in Gang gesetzt zu haben. Henrich distanziert sich unter anderem von dem radikalen Standpunkt Willard V. O. ­Quines18, der sich ausschließlich auf das sprachliche beobachtbare Verhalten und dessen Genesis bezieht und ein streng wissenschaftliches Weltbild zu entwickeln versucht. Positive Beiträge zu der Auffassung, dass das Wissen der Person von sich selbst ursprünglich ist und allem Verstehen vorausgeht, findet Henrich dagegen vor allem bei Hector-­Neri Castaneda19, der es erstmals wagte, das heiße Eisen des Selbstbewusstseins innerhalb der analytischen Philosophie anzufassen. Dieser zeigt, dass Ausdrücke auf verschiedene Weise verwendet werden, sofern diese auf klarer Weise auf eine Eigenschaft der Person verweisen oder wenn sie das betreffen, „was eine Person in Beziehung auf sich selbst weiß oder meint“20. Aber hier wird stets vorausgesetzt, dass das Wissen oder Meinen sich nicht auf das Selbst bezieht, sondern auf Propositionen, das heißt auf Urteile mit Anspruch auf Wahrheit. Die Bedeutung dieser Einsicht bedarf weiterer Erläuterungen. Es ist einem glücklichen Umstand zuzuschreiben, dass zeitgleich mit Henrich ein zweiter Philosoph in Heidelberg tätig war, der in unserem Dialog wichtige Elemente der Gegenseite, also der analytischen Philosophie, vertrat. Es handelt sich um Ernst Tugendhat, der ein Jahr vor dem Erscheinen von Henrichs Fichte-Arbeit als Gastdozent in den USA die analytische Philosophie kennengelernt hatte und im Jahre 1966 auf einen weiteren philosophischen Lehrstuhl nach Heidelberg berufen wurde, wo er in zahlreichen Vorlesungen diese neue Strömung verbreitete und mit den idealistischen Lehren konfrontierte.21

17 Siehe Henrich (2019) EN, S. 51, Abschnitt II. Das Problem im Zentrum, S. 133, A. Zugänge in der analytischen Philosophie. 18 EN 135. 19 EN 151. 20 EN 152. 21 Zwei spezielle Vorlesungsreihen sind publiziert, nämlich Tugendhat (1976) und (1979).

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In diesem Zusammenhang wurde auch die Bewusstseinsphilosophie neu zur Diskussion gestellt. Im Sinne der sprachlichen Wende war es naheliegend, dass das Selbstbewusstsein als Ich-Gedanke nur im Zusammenhang mit der Sprache thematisiert werden konnte, in der sich der Ich-Sprecher ausdrückt. Die zentrale These von Tugendhat lautet deshalb diesbezüglich: Das Selbstbewusstsein ist ein Verhältnis, das aber das Ich nicht zu sich selbst hat, sondern zu einem Zustand von diesem Ich. Tugendhat bezieht sich hier auf den späten Wittgenstein, der keine Introspektion kennt und von Frege die fundamentale These übernommen hat, dass Gedanken nur als Propositionen, das heißt als Urteile mit Anspruch auf Wahrheit, einen Sinn haben. Mit dieser Auffassung wird die in Tugendhats Begriff des Selbstbewusstseins stets mitgemeinte Selbstbestimmung plausibler, die im allgemeinen als Grundvoraussetzung für sämtliche normativen Geltungen etwa im Bereich rechtlicher Phänomene betrachtet wird. Es würde hier zu weit führen, Tugendhats zentrale Einbeziehung der Selbstbestimmung sowie die genannte These zum Selbstbewusstsein zu begründen, zumal Letztere im strikten Gegensatz zu Henrichs Überzeugung steht, dass das Ich „Ausgangspunkt alles Verstehens“ sei22. Zudem findet man bei Tugendhat keine überzeugende Begründung dafür, dass der für Propositionen eingeforderte Anspruch auf Wahrheit überhaupt kommunikativ ohne Zirkel konkretisiert werden kann. Unser Blick auf die Beispiele aus den letzten Jahrzehnten zeigt die Problematik einer Autonomie der Vernunft trotz der Vielfalt von vertretenen vernünftigen Überzeugungen im Umkreis von Henrich. Neuerdings, das heißt im Zusammenhang mit den letzten Veröffentlichungen Henrichs, bezeichnet man einige Akteure dieses Umfelds als Mitglieder der „Heidelberger Schule“, eine Bezeichnung, die auf Tugendhat zurückgeht: „Ihre Vertreter haben zu zeigen versucht, dass alle bisherigen Versuche, die Struktur des Wissens von sich verständlich zu machen, in Paradoxien führen“23. Dabei handelt es sich aber weniger um Anhänger (wie etwa Wolfgang Cramer24) als eher um Kritiker Henrichs (wie z. B. Manfred Frank25), 22

Siehe die Kapitelüberschrift II. „Dieses Ich“ als Ausgangspunkt alles Verstehens, EN S. 129. 23 Tugendhat (1979), S. 10. 24 In dem unvollendeten mehrbändigen Werk Cramer (2012) kommt letztmals eine vollständige Ontologie im Sinne des deutschen Idealismus zu Wort. Siehe dazu Wagner, in: Henrich / Wagner (1966). 25 Dieser hört als Student in Heidelberg bei Henrich und Gadamer. Dort erfolgt die Promotion jedoch bei dem Henrich-Kritiker Tugendhat. – Obwohl er später seine philosophische Lehrtätigkeit nicht in Heidelberg ausübte, sondern u. a. vor allem in Düsseldorf und 1987 bis zur Emeritierung 2010 in Tübingen lehrte, setzte sich Frank immer wieder in mehreren Essays unter Berücksichtigung der analytischen Philosophie kritisch mit dem in Heidelberg diskutierten Problemkomplex des Selbstbewusstseins auseinander. Ein Beispiel: Frank (1988) − Henrich verweist später im Nachwort seiner Vorlesungen über Subjektivität (2016) ausdrücklich auf die Versuche einer idealistischen Grundlegung der Kommunikation und beruft sich auf eine seiner wichtigsten Thesen: „Jedes Programm, das die Subjektivität der Menschen aus ihrer Kommunikation herleiten will, verwickelt sich … notwendig in Zirkelschlüsse“ (S. 383).

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ganz zu schweigen von dem Hermeneutiker Hans-Georg Gadamer und dem Skeptiker Karl Löwith, die einst in den Fünfziger- und Sechzigerjahren die Philosophie in Heidelberg prägten. Mit dem Zweifel an der Autonomie der Vernunft scheint die Zeit der Spekulationen über die letzten Fragen endgültig der Vergangenheit anzugehören. Doch dass damit auch eine Rehabilitierung des Religiösen einhergehen würde, dürfte den meisten nicht zu Bewusstsein gekommen sein. Aber wenn philosophische Überlegungen etwas mit Nachvollziehbarkeit und existentieller Betroffenheit zu tun haben, dann wird das Scheitern der letzten Absicherung durch eine autonome Vernunft gleichbedeutend zum Bekenntnis von Kontingenzanerkennung, das heißt zur Offenheit für ein ganz Anderes jenseits der Grenzen der Vernunft, das man im Laufe der Geistesgeschichte häufig als den Bereich des Religiösen verstanden hat. Heute scheut man diese Zuschreibung und belässt es bei agnostischen Andeutungen und mystischem Verstummen. Aber all dies täuscht darüber hinweg, dass in jedem Fall praktischen Verhaltens innerhalb der latenten Philosophie der einzelnen Personen ständig Entscheidungen getroffen werden, die allen Artikulationen, Gesten und Umschreibungen vorausgehen und dabei ständigen Veränderungen unterworfen sind. Was sich hier in der praktischen Lebensform vollzieht, erscheint in der Balance von Ordnung und Chaos als ein ständiges Ringen zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

D. Existenz zwischen Hoffnung und Verzweiflung Unser philosophischer Weg zwischen einem als Bedrohung erfahrenen Chaos fehlender Ordnungen und der Privatheit personaler Lebenswelten mit einer je eigenen latenten Philosophie als Garant der existentiellen Belange wirft die entscheidende Frage auf nach der Rolle des Religiösen in unserem bisherigen Sinn und der etablierten Religionen im Allgemeinen. Gehen wir von einem konkreten Fall aus. Einem kranken Patienten wird die Diagnose einer Krebserkrankung mit baldiger Todesfolge mitgeteilt. Häufig stellt ein solcher Patient dann die Frage, warum gerade er diesen Schicksalsschlag erleiden muss. Wäre der Patient Naturalist, dann wäre die Frage rein rhetorisch. Er wäre ja dann davon überzeugt, dass das Faktum naturwissenschaftlich erklärt werden könnte und auch Wahrscheinlichkeitsüberlegungen gesetzlich geregelt wären. Das betreffende Faktum ist für ihn demnach naturgesetzlich notwendig und lässt ihn in seiner Verzweiflung allein. Anders wäre die Situation, wenn er beispielsweise überzeugter Christ wäre; denn dann wäre er kein Naturalist, und wir könnten zudem davon ausgehen, dass er auch kein allzu großes Vertrauen in die menschliche Vernunft hat. Er erkennt ja das Faktum seiner Erkrankung als kontingenten Sachverhalt an, das heißt, seine Frage scheint nur noch im Rahmen einer in Metaphern formulierten religiösen Sprache sinnvoll zu bleiben.

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Die aufgezeigte mögliche Distanzierung vom dogmatischen Charakter der Selbstorganisation der Natur einerseits und der Vernunftautonomie andererseits bedeutet Kontingenzanerkennung. Damit wird eine Grenze der Vernunft oder das Andere der Vernunft gedacht. In der damit gegebenen Kontingenzbegegnung wird über die Anerkennung hinaus das ganz Andere als Chiffre des Religiösen verstanden, in der sich eine Begegnung ereignet, die sich prinzipiell aller menschlichen selbstsicheren Einsicht und Verfügbarkeit entzieht. Das religiöse Sprechen steht daher unter einem ontischen Vorbehalt. Das heißt zum Beispiel, wenn in einem Gespräch von Gott oder dem Ganz Anderen, von spezifisch religiösen Gefühlen (William James26) oder von „dem, das uns unbedingt angeht“ (Paul Tillich27) usw. die Rede ist, so weist der ontische Vorbehalt darauf hin, dass die Worte nicht in der alltäglichen Bedeutung gemeint sind, sondern der Versuch gemacht wird, etwas Unaussprechliches in Metaphern sprachlich zu umkreisen. Hier stellt sich die wichtige Frage, wie sich Religionen von diesem Allgemein-Religiösen der Kontingenzbegegnung unterscheiden und inhaltlich charakterisiert werden können. Die wirkungsmächtigsten Konkretisierungen des Religiösen sind die Religionen, die sich in spezifischen historischen Gemeinschaften realisieren. Demnach ist Religion die Bezeichnung für das einvernehmliche Denken und Verhalten einer gewachsenen Gemeinschaft, die im Sinne der Kontingenzbegegnung auf ein sich gebendes ganz Anderes hofft und von dieser meistens als Gott bezeichnet wird. Dessen Gabe, die man auch Offenbarung nennt, normiert ihr moralisches und rituales Verhalten. Sie gibt ihren Gliedern durch die Annahme desselben ganz Anderen sowie durch die Verfolgung gleicher Ziele ihre Identität. Kehren wir zu unserem konkreten Krankheitsfall zurück. Viele Agnostiker stören sich daran, dass ihre Kontingenzanerkennungen als religiöse Akte betrachtet werden. Der Patient könnte ja zwar die Autonomie der Vernunft leugnen, aber innerhalb seiner persönlichen latenten Philosophie stets skeptisch verfahren. Findet er beispielsweise durch die Großartigkeit der erlebten Naturgesetzlichkeit oder durch die Einordnung in eine ihn überzeugende Gemeinschaft eine Antwort, dann wird – vorausgesetzt es handelt sich wirklich um eine existentielle Problematik − bei den begründenden Argumenten bald eine Entscheidung eingefordert, die ihn entweder hoffen oder aber verzweifeln lässt. Man kann diese Prozesse am Beispiel von Albert Einsteins Ringen um die Grenzen der exakten Wissenschaften verdeutlichen. Da heißt es zum Beispiel, „dass von dem, was ist, kein Weg führt zu dem, was sein soll. … Die objektive Erkenntnis liefert uns mächtige Werkzeuge zur Erreichung bestimmter Ziele. Aber das allerletzte Ziel und das Verlangen nach seiner Verwirklichung muss aus anderen Regionen stammen.“ Aus der jüdischchristlichen Tradition liest Einstein als letztes Ziel „die freie und selbstverantwortliche Entfaltung des Individuums heraus, das seine Kraft froh und freiwillig in den Dienst aller Menschen stellt.“28 Dieses Beispiel steht für viele andere. Die 26

Siehe z. B. in James (1925), S. 18. Tillich gilt als Denker auf der Grenze. Siehe Wuchterl (1995), S. 389. 28 Zitiert nach Wuchterl (2002), S. 386 f. 27

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alltäglichen Überzeugungen und Entscheidungen sind nur selten Ergebnisse längerer Argumentationsketten, sondern ein Konglomerat aus sicher abgespeicherten Fakten, offen gebliebenen Vermutungen und oft kaum bemerkten kritiklosen Übernahmen von sympathisch empfundenen Eindrücken. Die entscheidenden Weichenstellungen zur Klärung von Differenzen vollziehen sich in den einzelnen Stadien der jeweiligen Lebensformen weitgehend unbewusst. Es sind vor allem die Einflüsse des Elternhauses, der schulischen Erziehung, des beruflichen Umfeldes und neuerdings − im Zeitalter einer medialen Globalisierung – der omnipräsenten neuen Medien. Hier ist die Gefahr groß, sich in den Mittelpunkt einer Gesinnungsblase zu stellen, in welcher häufig das Expertentum ignoriert wird und der Wahrheitswert einer Tatsache von der Anzahl der Zustimmungen zu den die Gesinnungsblase definierenden Konstrukten bestimmt wird.29 Trotz der Vielfalt der Strukturen der latenten Philosophie jedes Individuums gibt es vor allem im Bereich des menschlichen Handelns viele Gemeinsamkeiten. Ähnlichkeiten in den Reflexionsmustern bilden den Kern verschiedener Kulturen. Jede einzelne Kultur enthält mehr oder weniger rationale Ordnungselemente unterschiedlichsten Inhaltes, aber in allen Kulturen sind es ähnliche Phänomene, welche als existentielle Bedrohungen erfahren werden. Dazu gehören die begrenzte Lebenszeit der Individuen, das Auftreten von Krankheiten und Naturkatastrophen, Spannungen innerhalb der Gemeinschaft im Kleinen, die oft die gesamten Familien betreffen, sowie Zwistigkeiten im Großen, die zu Feindseligkeiten und Kriegen führen. Es sind dies meistens gerade solche Situationen, in denen Hinweise auf Wissenschaft und Vernunft zur Beseitigung der Bedrohungen scheitern. Wir haben in den vorausgegangenen Überlegungen gezeigt, dass vieles durch naturwissenschaftliche und vernünftige Ordnungszusammenhänge beantwortet werden kann. Es wurde aber auch deutlich, dass gerade die existentiellen Fragen dort nur selten Antworten finden können. So zeigt sich nun, dass jeder auf sich selbst gestellt ist; jeder stößt auf solche Phänomene und jeder muss trotzdem in solchen Situationen handeln, das heißt sich zwischen mehreren ungewissen Möglichkeiten entscheiden. In einigen Entscheidungen vertraut man hoffnungsvoll darauf, dass den metaphorischen Antworten zur Beseitigung der Bedrohungen eine gewisse Realität zukommt; in anderen dagegen liefert man sich verzweifelt den negativen Konsequenzen aus. Da die Entscheidung aus den nicht völlig explizierbaren Prinzipien der latenten Philosophie erfolgt, die das jeweilige Selbst ausmachen, bewegen wir uns ständig zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Es überrascht dabei nicht, dass die festen Überzeugungen der meisten Menschen einer Religion zugeordnet werden können30. Schließlich gehört es zum Wesen jeder Religion, auf die 29 Eine Erläuterung dessen, was hier mit medialer Globalisierung umschrieben ist, findet man in Pörksen (2018). Dort werden nicht nur die zentralen empirischen Sachverhalte beschrieben, welche die gegenwärtigen Medienwelt prägen, sondern auch die Prinzipien einer verantwortungsvollen redaktionellen Gesellschaft diskutiert. 30 Weltweit kann man 83,7 % der Menschen einer Religion zuordnen und jeder zweite ist Anhänger der beiden monotheistischen Weltreligionen der Christen (32 %) und der Muslime (23 %). Stand 2010; Quelle: PEW Research Center.

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uns interessierenden existentiellen Fragen Antworten zu geben, und offensichtlich überleben nur die Religionen, die sich in der Beantwortung gerade dieser Fragen bewährt haben. Einzelne Verkünder religiöser Ideen, die keine größere Anhängerschaft finden, werden schlicht vergessen. Mit dem abnehmenden Einfluss der etablierten Religionen wächst die Bedeutung der latenten Philosophie als leitende Instanz zur Bewältigung existentieller Bedrohungen. Ein Aufruf zur kritischen Begründung des je eigenen Standpunkts, der sich beispielsweise auf ethische, soziologische, juristische, theologische oder philosophische Angebote zur Bewältigung der konkreten Bedrohung stützt, kann zwar den jeweiligen Experten befriedigen, stößt aber wegen der Vielfalt der durch Kontingenzen bestimmten individueller Erfahrungen bei den meisten Adressaten auf Unverständnis. Doch unsere Phänomenologie des Umgangs mit den verschiedenen Kontingenzerfahrungen zeigt, dass die individuellen Schicksale nicht nur von chaotischen Ordnungsbrüchen bestimmt sind, sondern sich auch vielfältige Chancen anbieten, die Bedrohungen als religiöse Herausforderungen für sinnvolle Alternativen zu betrachten. So können die Anhänger einer Selbstorganisation der Natur durch die Einsicht in deren dogmatischen Charakter sich für eine Neubewertung der Schöpfungsmythen mit all den positiven Konsequenzen öffnen, in denen Ehrfurcht, Rücksichtnahme, Nachhaltigkeit oder die „Goldene Regel“31 zu sinnvollen Verhaltensweisen werden. Eine analoge Wandlung ist auch im Vernunftbereich möglich. Denn jeder Einzelne gebärdet sich in Entscheidungssituationen zunächst als autonomer Vollstrecker der Vernunft, weil dort die latenten Prinzipien als Garanten der in ihnen verborgenen Wahrheiten wirken. Aber diese Bezugnahme auf den vieldeutigen Wahrheitsbegriff zeigt zugleich, wie verschiedenartig die Vernunfttätigkeiten ausfallen. In einer umfangreichen Darstellung dieser Vielfalt beginnt der Wissenschaftsjournalist und Philosoph Rüdiger Vaas seine Abhandlung Weisen der Wahrheit − Relativ und real: Drei Perspektiven auf die Welt 32 mit dem aufschlussreichen Satz: „Das Verständnis der Welt basiert auf Begriffen und Kriterien der Wahrheit“. Und die von ihm skizzierte Tatsache, dass keine einzige auf Wahrheit bezogene Position, Perspektive, Definition oder Methode ohne kritische Alternativen wiedergegeben werden kann, zeigt nochmals eindringlich die Vielfalt der wirkenden latenten Prinzipien im Vernunftbereich der einzelnen Individuen. Genau diese eröffnet die Möglichkeit, aus jener Fülle zahlreiche positive Aspekte als akzeptable Leitfäden einer optimistischen Weltbetrachtung auszuwählen. Im Hinblick auf das Thema unseres digitalen Symposions sei hier zum Schluss beispielhaft auf die Komplexität des Umgangs mit den Kontingenzen im Bereich des Rechtes hingewiesen. Dabei knüpfen wir am besten an Kants Philosophie an, 31

Volkstümliches Sprichwort: „Was Du nicht willst, das man dir tu’, das füg auch keinem anderen zu.“ Siehe in der Bergpredigt Matthäus 7,12: „Alles, was ihr wollt, das euch andere tun, das sollt auch ihr ihnen tun.“ 32 In: Universitas, Bd. 75, Nr. 890, August 2020.

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und zwar genauer an Gustav Radbruchs neukantianische Rechtsphilosophie33. Radbruch zählt zu den bedeutendsten Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts. Er lehrte u. a. in Heidelberg − damals eine Hochburg des Neukantianismus − und vertrat eine relativistische Rechtslehre. Sein Ausgangspunkt ist die plausible Annahme, dass Recht etwas mit Gerechtigkeit zu tun hat (§ 4). Aber so wie Kant Raum und Zeit als apriorische Garanten der empirischen Erfahrungswirklichkeit deutet, so ist die Rechtsidee für Radbruch der Garant der praktischen Wirklichkeit, das heißt, der apriorische Leitbegriff der menschliches Zusammenleben ermöglichenden Wertwelt. So bestimmt also Radbruch „das Recht als den Inbegriff der generellen Anordnungen für das menschliche Zusammenleben“ (S. 123). In der Rechtsidee ist aber die Gerechtigkeit neben der Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit nur ein Aspekt der praktischen Wirklichkeit. Und mit der Einbeziehung der Wertwelt wird deutlich, dass der Rechtsbegriff ein Kulturbegriff ist und als solcher auf kontingente Setzungen aufbaut. Wenn Radbruch daher seine Rechtslehre als relativistisch bezeichnet, dann ist zu beachten, dass nach seiner Auffassung nur im Aspekt der Zweckmäßigkeit (§ 7) unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten bestehen, während bei den Aspekten der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit rationaler Konsens möglich ist. Gerechtigkeit allein erweist sich außerstande, inhaltlich bestimmte Rechtssätze aus sich abzuleiten; denn Gerechtigkeit fordert von uns zwar, Gleiches als gleich zu behandeln und Verschiedenes als verschieden, lässt aber offen, wer oder was als gleich oder als verschieden anzusehen ist und wie das Betrachtete jeweils zu behandeln ist. Gerechtigkeit bestimmt demnach nicht den Inhalt, sondern nur die Form des Rechts. Um den Inhalt des Rechts zu gewinnen, muss ein zweiter Gedanke hinzutreten, nämlich die Zweckmäßigkeit. Damit wird aber gleichzeitig der antinomische Charakter der Rechtsidee offenkundig (§ 9). Die durch die jeweiligen Gerechtigkeitsvorstellungen garantierte Ordnung ermöglicht die Konstituierung der Rechtsinhalte, die als Ergebnisse der Ableitungen aus den im kontingenten egoistischen Eigeninteresse verborgenen latenten Prinzipien betrachtet werden können. Da damit die Frage nach der Zweckmäßigkeit keine eindeutige Antwort liefert, verstehen wir nun, warum Radbruch von einer nur relativistischen Entwicklung der verschiedenen Rechts-, Staats- und Parteiauffassungen spricht. Aber dieser Relativismus ist für Radbruch nicht das letzte Wort. Er verweist vielmehr auf die oben erwähnte Rechtssicherheit als eine dritte Forderung an das Recht, die als Positivität in Erscheinung tritt. Positives Recht setzt eine Macht voraus, die dieses setzt. Damit tritt aber das Recht in Widerspruch zur Rechtssicherheit, die Bestandteil der Rechtsidee ist und so den antinomischen Charakter derselben verdeutlich. Doch legt sich Radbruch inhaltlich nicht auf eine

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Einen kurzen Überblick gibt die von Dietmar von der Pfordten zusammengestellte Auswahl von Radbruchs Hauptwerk Rechtsphilosophie von 1932. Die im Text angegebenen Stellen beziehen sich auf diese Auswahl.

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bestimmte Interpretation der relativistischen Rechtsinhalte fest34. Er weist vielmehr darauf hin, dass historisch immer wieder verschiedene Akzente als allein maßgeblich hingestellt wurden. Dies alles spricht nicht gegen die Explikation seiner Rechtsidee, in der die entscheidenden Kontingenzen vor allem im Aspekt der Zweckmäßigkeit konstitutiv in Erscheinung treten. So betont Radbruch allgemein: „Wir haben Widersprüche aufgezeigt, ohne sie lösen zu können. Wir sehen darin keinen Mangel des Systems. Philosophie soll Entscheidungen nicht abnehmen, sie soll gerade vor Entscheidungen stellen. … Und wie überflüssig wäre ein Dasein, wenn nicht die Welt letzten Endes Widerspruch und das Leben Entscheidung wäre.“ (S. 131). Deutlicher kann man die Bedeutung der Kontingenz nicht ausdrücken. Die sich aus den verschiedenen kontingenten Entscheidungen ergebenden Normenkonflikte können zwar zum Teil durch den Aufweis von logischen Fehlern und empirischen Missverständnissen beseitigt werden. Doch gibt es zahlreiche Grenzsituationen, in denen keine Lösungen gefunden werden können. Hierzu haben die Rechtslehren aus dem Umfeld der analytischen Philosophie durch gründliche Begriffsanalysen Wesentliches beigetragen, doch beherrschen die Diskussionen vor allem zahlreiche Vertragstheorien der (von Radbruch degradierten!) Gerechtigkeit. Dabei fällt auf, dass diese häufig von utilitaristischen Grundnormen ausgehen und so den Naturalisten Tür und Tor öffnen. Genau gegen diese Tendenz argumentiert John Rawls in seinem Hauptwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit.35 Aber spätestens, wenn er diese Theorie als Fairness beschreibt (S. 160), wird klar, dass die Charakterisierung des Urzustands keine historische, sondern eine theoretische Situation meint, „die so beschaffen ist, dass sie zu einer bestimmten Gerechtigkeitsvorstellung führt“ (S. 161). Zugleich spricht Rawls explizit von „vernünftigen Wesen mit eigenen Zielen und … der Fähigkeit zu einem Gerechtigkeitsgefühl“ (a. a. O.). Aber damit befinden wir uns hier auf einer rechtsphilosophischen Metaebene der Vernunft und nicht im Bereich unmittelbarer kontingenter Selbstgewissheiten der latenten Philosophie. Verträge bewältigen keine Kontingenzen und Rawls Theorie der Gerechtigkeit ist ein Beispiel einer mehr oder weniger überzeugenden großen Erzählung der Vernunft. − Soweit der Exkurs zu Zufall und Recht. Im Rückblick auf unsere Überlegungen wird deutlich, dass der eingangs hervorgehobene Tod Gottes nicht das letzte Wort zu sein braucht. Es stimmt zwar, dass Gott für viele Intellektuelle der Gegenwart kein Thema ist und dass jeder Rekurs auf Religiöses für jene Geister von Vorgestern zu sein scheint. Dabei wird aber Religiöses immer im Zusammenhang mit den etablierten Religionen betrachtet,

34 Die enorme Bedeutung dieser Relativität wird bei umstrittenen Entscheidungen über Leben und Tod deutlich. Trotz Berufung auf das Gewissen und sorgfältiger Beachtung der vielfältigen Entscheidungsmöglichkeiten gibt es zahlreiche unlösbare Konflikte. Eine Zusammenstellung häufig diskutierter Fälle findet man bei Zoglauer, Tödliche Konflikte – Moralisches Handeln zwischen Leben und Tod. 35 Siehe die bereits bei der Diskussion von Radbruchs Rechtsphilosophie erwähnte Quelle: Alber-Texte Philosophie, Bd. 15, Text 9, S. 159; Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit.

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die in der Tat durch die Entwicklungen in den Wissenschaften und neuerdings durch die gesellschaftlichen Umbrüche in einer digitalen Welt in Erklärungsnöte geraten sind. Doch die Tatsache, dass sowohl die exakten als auch die hermeneutischen Wissenschaften samt den neuen Instanzen einer Allwissen vorgaukelnden digitalen Welt keine letzten Sicherheiten garantieren können, relativiert weitgehend diese Kritiken. Zugleich sensibilisiert sie damit selbst entschiedene Skeptiker für eine Kontingenz anerkennende Grenzerfahrung, in der das Religiöse als Anderes der Vernunft jenseits dieser Grenze gedacht wird und dort allerdings nur metaphorisch artikuliert werden kann. Diese neu definierte Religiosität fungiert als radikale Alternative zu den zahllosen postmodernen Standortbestimmungen, die nur selten über die Ratlosigkeit des zugrundeliegenden Nihilismus hinweghelfen. Doch groß ist die Zahl derer, die einen Bereich jenseits der Vernunftgrenzen erahnen und dort das Sinngebende gefunden zu haben meinen, ohne diesen mit dem Begriff des Religiösen zu verbinden. Nicht jeder Kritiker der Vernunft schwört auf ein sinnloses Nichts. Man denke etwa an Erfahrungen im Kunstbereich, ferner an Denker der Grenzen und des Meditativen, aber auch an sich aufopfernde Akteure im kulturellen und gesellschaftlichen Einsatz für Freiheit, Gleichheit, Gewaltlosigkeit, Toleranz und anderen Werten, die man durchaus auch in einigen etablierten Religionen finden kann. Die damit verbundenen immer wieder neu errungenen Ahnungen sind Anker der Hoffnung und Hilfen, Wege aus der Verzweiflung zu finden.

Literatur Frank, Manfred: Die Grenzen der Verständigung − Ein Geistergespräch zwischen Lyotard und Habermas, Frankfurt a. M. 1988. Hawking, Stephen / Mlodinow, Leonard: Der große Entwurf, Reinbek 2010. Henrich, Dieter: Denken und Selbstsein, Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt a. M. 2016. Henrich, Dieter: Der Einsicht nachdenken, in: (EN), Frankfurt a. M. 2019. Henrich, Dieter: Dies Ich, das viel besagt − Fichtes Einsicht nachdenken (EN), Frankfurt a. M. 2019. Henrich, Dieter: Fichtes ursprüngliche Einsicht (FuE), in: Henrich, Dieter / Wagner, Hans (Hrsg.), Subjektivität und Metaphysik, Festschrift für Wolfgang Cramer, Frankfurt a. M. 1966. Nachdruck in (EN). Henrich, Dieter: Identität und Objektivität, Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, Heidelberg 1976. Henrich, Dieter: Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, München 2016. Henrich, Dieter: Selbstbewusstsein und Sittlichkeit, 1956, unveröffentlichte Habilitationsschrift. James, William: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit, dt. von Wobbermin, G., Leipzig 1925.

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Lembeck, Karl-Heinz / Pfordten, Dietmar von der (Hrsg.): Rechtsphilosophie. Alber-Texte Philosophie, Bd. 15, Freiburg / München 2002, enthält eine Textauswahl zu Radbruch (1932) und zwar die folgenden Seiten der Studienausgabe hrsg. von Dreier, R. / Paulson, S. L., Heidelberg 1999, S. 34 ff., 54 f., 73 ff., 215 ff. Löwith, Karl: Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Stuttgart 1964. Pörksen, Bernhard: Die große Gereiztheit − Wege aus der kollektiven Erregung, München 2018. Quine, Willard V. O.: The Roots of Reference, Lasalle 1974; dt. Die Wurzeln der Referenz, Frankfurt a. M. 1976. Radbruch, Gustav: Rechtsphilosophie, Leipzig 1932. Siehe auch Pfordten (2002). Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Cambridge 1971. Tugendhat, Ernst: Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt 1976. Tugendhat, Ernst: Vorlesungen zu Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt 1979. Vaas, Rüdiger: Weisen der Wahrheit − Relativ und real: Drei Perspektiven auf die Welt, in: Universitas, Bd. 75, Nr. 890, August 2020. Wagner, Hans: Die absolute Reflexion, Frankfurt a. M. 2012. Wagner, Hans: Ist Metaphysik des Transzendenten möglich?, in: Henrich, Dieter / Wagner, Hans (Hrsg.), Subjektivität und Metaphysik, Festschrift für Wolfgang Cramer, Frankfurt a. M. 1966. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen (PU), Oxford 1953. Wuchterl, Kurt: Bausteine zu einer Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts − Von Husserl zu Heidegger, Bern 1995. Wuchterl, Kurt: Die Sonderstellung des Menschen − Neue Aspekte im Zeitalter der Hirnforschung, Hamburg 2007. Wuchterl, Kurt: Handbuch der analytischen Philosophie und Grundlagenforschung − Von Frege zu Wittgenstein, Bern 2002. Wuchterl, Kurt: Methoden der Gegenwartsphilosophie, 3. erw. Aufl., Bern 1999, Abschnitt 7.2. Wuchterl, Kurt: Zur Aktualität des Kontingenzbegriffs, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie, Bd. 58, Heft 2, 2016. Zoglauer, Thomas: Tödliche Konflikte − Moralisches Handeln zwischen Leben und Tod, Stuttgart 2007.