Zionismus und Authentizität: Gegennarrative des Authentischen im frühen zionistischen Diskurs 9783110546019, 9783110543445

"Authenticity" is a central concept of the modern era. The study in cultural history examines ideas about &quo

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German Pages 252 Year 2018

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Table of contents :
Dank
Einleitung
1. Konzepte der Authentizität
2. Authentizität und Geschlechtsspezifität im national-jüdischen und proto-zionistischen Denken
3. Zionistische Narrative des „Unauthentischen“ und des „Authentischen“
4. Umstrittene Authentizitäten – Die Politisierung des Konzeptes der Authentizität
5. Der deutsche Zionismus, „Minderheitendiskurs“ und Liberalismus
6. Authentizität in Kunst, Literatur und kultureller Praxis
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildungsnachweise
Personenregister
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Zionismus und Authentizität: Gegennarrative des Authentischen im frühen zionistischen Diskurs
 9783110546019, 9783110543445

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Manja Herrmann Zionismus und Authentizität

Europäisch-jüdische Studien Beiträge

Herausgegeben vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam Redaktion: Werner Treß

Band 38

Manja Herrmann

Zionismus und Authentizität Gegennarrative des Authentischen im frühen zionistischen Diskurs

ISBN 978-3-11-054344-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-054601-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-054376-6 Library of Congress Control Number: 2018951281 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Dank Die vorliegende Studie wurde im Juli 2015 an der Ben-Gurion University des Negev (BGU) in Beer Sheva eingereicht. Die Zeit meines PhD-Programms an der BGU, am Department for Foreign Literatures and Linguistics und am Center for Austrian and German Studies war in vielerlei Hinsicht eine besonders wertvolle Erfahrung. Allen voran möchte ich mich herzlich bei meinem Betreuer Prof. Dr. Mark H. Gelber bedanken. Nicht nur seine Unterstützung und konstruktiven Kommentare zu meinem Thema haben mir im Laufe der Arbeit immer wieder geholfen. Auch für seine Art der Betreuung, die mich zum selbstständigen und intensiven, aber auch kreativen Forschen motivierte, bin ich ihm besonders dankbar. Darüber hinaus sei den weiteren Mitgliedern meines Doktorandenkommittees, Prof. Dr. Steven E. Aschheim (Hebrew University Jerusalem) und Dr. Paula Kabalo (BGU), besonders gedankt. Durch ihre hilfreichen Hinweise und Ergänzungen konnte diese Arbeit viel hinzugewinnen. Darüber hinaus danke ich den drei anonymen Gutachterinnen und Gutachtern im Prozess der Anerkennung und Benotung dieser Arbeit. Zudem möchte ich den Professorinnen und Professoren und anderen Doktorandinnen und Doktoranden danken, die mir in verschiedenen Stadien und zu verschiedenen Anlässen wie Workshops, Konferenzen und privaten Gesprächen Feedback gaben. An Prof. Dr. Amnon Raz-Krakozkin und Prof. Dr. Guy Miron sowie Dr. Michael Elm, bei denen ich im Rahmen meines Programms Kurse besuchen konnte, sei an dieser Stelle ein ebenso herzliches Dankeschön gerichtet. Darüber hinaus möchte ich Prof. Dr. Karl Erich Grözinger und Prof. Dr. Andreas Gotzmann danken, die eine frühe Form dieses Projekts förderten und unterstützten. Zahlreiche Institutionen waren in finanzieller Hinsicht an der Realisierung meiner Arbeit beteiligt. So möchte ich dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, der Botschaft des Staates Israels, dem Leo Baeck Institute Jerusalem und der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der BGU dafür danken, dass sie dieses Projekt so großzügig unterstützt haben. Zudem sei der BGU gedankt, weil sie über das Stipendium hinaus zahlreiche Reisen zu Workshops und Konferenzen bezuschusste. Mit besonderer Freude danke ich den Mitarbeitern der Archive und Bibliotheken, die ich im Laufe meiner Recherchen aufsuchte. Dazu gehören die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Aranne-Bibliothek der BGU, der Central Zionist Archives in Jerusalem, der National Library of Israel und deren Archive, der Mount Scopus Library, der Staatsbibliothek Berlin, des Jüdischen Museums Berlin, insbesondere Michal Friedlander, der Princeton University Library und der dortigen Rare-Books-Abteilung, insbesondere Andrea Immel. Zudem sei der Sekretärin des

VI

Dank

Departments for Foreign Literatures and Linguistics, Merav Sarossi-Peretz, der Koordinatorin des Centers for Austrian and German Studies, Camilla Rubin, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kreitman School der BGU ebenso herzlich gedankt. Besonders herzlich möchte ich mich bei dem Direktorium, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den Senior Research Fellows des Selma Stern Zentrums für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg bedanken. Prof. Dr. Stefanie Schüler-Springorum, Prof. Dr. Christina von Braun, Prof. Dr. Sina Rauschenbach, Prof. Dr. Kerstin Schoor, Prof. Dr. Rainer Kampling, Prof. Dr. Liliana Ruth Feierstein, Prof. Dr. Irmela von der Lühe, Prof. Dr. Micha Brumlik, Prof. Dr. Jeffrey Peck, Prof. Dr. Helmut Peitsch, Prof. Dr. Claudia Ulbrich, Prof. Dr. Reinhard Rürup, Dr. Monika Schärtl, Simone Damis und Nadja Fiensch und alle Postdoktorandinnen und Postdoktoranden und Doktorandinnen und Doktoranden ermöglichen in besonderer Weise den wissenschaftlichen Austausch, stehen jederzeit unterstützend zur Seite und besitzen die unschätzbare Gabe eine hervorragende wissenschaftliche Arbeitsatmosphäre zu kreieren. Dem De Gruyter Verlag danke ich für die Aufnahme des Buches in ihre Reihe. Dr. Julia Brauch und Dr. Werner Treß möchte ich für die professionelle Betreuung, Sabine Schröder für ihre exzellenten Hinweise und Korrekturen danken. Darüber hinaus möchte ich die Gelegenheit nutzen, den folgenden Personen zu danken: Prof. Dr. Susannah Heschel, Prof. Dr. Klaus Milich, Dr. Alana Sobelman, Hans-Christoph Aurin, Dr. Jan Kühne, Dr. Anna Augustin, Dr. Malgorzata Maksymiak, Dr. Kobi Kabalek, Dr. Stefan Vogt, Kathrin Wittler, Martin Stechauner, Eliraz Schor, Dr. Omri Ben-Yehuda und allen meinen Freundinnen und Freunden. Darüber hinaus möchte ich mich bei meiner Familie und der Familie meines Partners bedanken. Ein ganz besonderer Dank geht an Patrick, der mit mir durchs Leben und um die Welt zieht, und beides um ein Vielfaches bereichert! Beer Sheva/Berlin Oktober 2017 Manja Herrmann

Inhalt Einleitung

 . . . . . .  . . . . . 

1 Forschungsstand Aufbau der Arbeit

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Konzepte der Authentizität 16 Der Begriff Authentizität 17 Von Aufrichtigkeit zu Authentizität 18 Authentizität und Moral – Authentizität als moralische 20 Obligation Nationalismus und Authentizität 22 Nationale Kultur, Folklore und Authentizität 25 27 Dekonstruktion der Idee der Authentizität Authentizität und Geschlechtsspezifität im national-jüdischen und proto-zionistischen Denken 32 Das „authentische Selbst“ bei den Proto-Zionisten 34 Das „authentische Judentum“ und das „unauthentische 49 Christentum“ „Authentische Hebräer“ und „unauthentische Hellenen“ 56 Geo-kulturelle Räume der Authentizität 60 Frauen und Authentizität – die national-jüdische Frau 64 Zionistische Narrative des „Unauthentischen“ und des 74 „Authentischen“

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Zionistische Narrative des „Unauthentischen“

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Zionistische Historiographie und „Assimilation“ 75 Hebräer und Hellenen 87 Zionistische Narrative des „unauthentischen“ Juden 90 Die „neuen Marranen“ 92 Die „Philister“ 96 Die „Assimilantin“ 98

.

Zionistische Narrative des Authentischen

.. ..

Die erste Generation deutscher Zionisten 101 Individuelle Interpretation in der ersten Generation: Franz Oppenheimer 105

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Inhalt

Die zweite Generation deutscher Zionisten 109 Individuelle Interpretation in der zweiten Generation: Moses 114 Calvary Hebräische Sprache und hebräische Bibel 121 Die Ambivalenz der „authentischen“ jüdischen Frau 123 126 Die „Mutter“ Umstrittene Authentizitäten – Die Politisierung des Konzeptes der Authentizität 130 Unerwartete Übereinstimmung: Theodor Herzl und 131 Achad Haam Die Altneuland-Kontroverse 134 Die Oppenheimer-Debatte 148

. . .

Der deutsche Zionismus, „Minderheitendiskurs“ und 155 Liberalismus Vergleiche der Zionisten zu anderen Marginalisierten Identity Politics 166 Universalismus versus Partikularismus 169

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Authentizität in Kunst, Literatur und kultureller Praxis Aron und Adele Sandler 179 Die „Kulturfrage“ 180 181 Zionistische Kunst, Kultur und Literatur Adele Sandlers Bilderbuch 187 Der Huldigungs-Reigen für das Ehepaar Sandler Das Palästina-Quartett von Adele Sandler 214



Fazit

220

Literaturverzeichnis 224 Periodika 224 Archive 224 Primärliteratur 224 Sekundärliteratur 229 Abbildungsnachweise Personenregister

241 242

156

178

194

Einleitung Die Suche nach einem „authentischen Selbst“, einem „authentischen Judentum“ und einem „authentischen Jüdischsein“ im zionistischen Denken lässt sich anhand der folgenden Aussage eines bedeutenden Zionisten der sogenannten zweiten Generation, Kurt Blumenfeld (1884– 1963), veranschaulichen. Blumenfeld erläutert in seinen Memoiren, wie er nach der Balfour-Deklaration gemeinsam mit Gleichgesinnten begann, nach berühmten Persönlichkeiten zu suchen, die er für die Idee des Zionismus gewinnen könne – jetzt, da diese eine „ernsthafte politische Basis“ gewonnen habe.¹ Felix Rosenblüth (1887– 1978), der auch der zweiten Generation angehörte, brachte schließlich den Namen Albert Einstein (1879 – 1955) ins Spiel. Das daraufhin vereinbarte Treffen wurde für Blumenfeld „das bedeutendste Ereignis des Jahres 1920“.² Blumenfeld fasste für Einstein das Grundanliegen des Zionismus mit dem folgenden Satz zusammen: „Die zionistische Idee will den Juden innere Sicherheit geben, […] sie will die Zwiespältigkeit im Juden unserer Zeit beseitigen; Unbefangenheit und innere Freiheit sind ihre Begleiter“.³ Mit wenigen Worten formulierte Blumenfeld, was national-jüdische und zionistische Denkerinnen und Denker seit Beginn der 1860er-Jahre beschäftigen sollte, nämlich der Wunsch, unbefangen und innerlich frei und sicher zu leben. Dieser Wunsch lässt sich als Suche nach Authentizität verstehen, und diese steht im Zentrum dieser Arbeit. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit einem Konzept, das sich einer eindeutigen Definition entzieht, ist ein spannendes Unterfangen. Sich dem Verständnis eines „authentischen Jüdischseins“ und eines „authentischen Judentums“ im frühen deutschen national-jüdischen und zionistischen Diskurs zu nähern, bedeutet die Skizzierung eines sehr breiten Wortfelds, das um Begriffe wie „Wahrhaftigkeit“, „Freiheit“, „Leben“, „Wesen“, „Natur“, „Natürlichkeit“, „Judentum“, „Selbstbewusstsein“, „Innerlichkeit“, „Würde“, „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ kreist. Zu „Authentizität“ gehören die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich und die Verortung des Selbst in verschiedenen Kollektiven. Sie tangiert Fragen der „Identität“, der Nation, der Gesellschaft, der Gemeinschaft, der Kultur, der Moral, der Religion, der Klasse, der Autonomie und des Geschlechts. Die Frage nach Authentizität und dem authentischen Selbst bestimmt noch immer verschiedene gesellschaftliche Diskurse – leben wir doch, wie Charles

 Blumenfeld, Kurt: Erlebte Judenfrage. Ein Vierteljahrhundert deutscher Zionismus. Stuttgart 1962, S. 126.  Blumenfeld, Erlebte Judenfrage, S. 127.  Blumenfeld, Erlebte Judenfrage, S. 127. https://doi.org/10.1515/9783110546019-002

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Einleitung

Taylor es nannte, im „Age of Authenticity“.⁴ In der Psychologie und Pop-Psychologie, dem Marketing, der Unternehmenskultur und der Wissenschaft wird oft das Ideal der Authentizität aufgerufen, um dem modernen Leben, Produkten, Quellen oder Aussagen eine besondere Qualität zu verleihen.⁵ Im Grunde ist das nicht weiter verwunderlich, da es sich bei Authentizität um eine der zentralen Ideen der Neuzeit handelt. Und der Zionismus bildet hier keine Ausnahme. Ganz im Gegenteil, er ist von einer steten Auseinandersetzung mit dem Thema „Authentizität“ geprägt. Dabei ist zunächst zu erläutern, aus welchem Grunde das Prinzip der Authentizität überhaupt eine derartige Relevanz erhielt. Die Vorstellung eines authentischen Selbst bekam im 16. Jahrhundert durch gesellschaftliche Transformationen – wie die Individualisierung und eine zunehmende soziale Mobilität – entscheidende Impulse, entwickelte sich nach und nach zu einer moralischen Obligation der Moderne und wurde schließlich mit dem Nationalismus verknüpft, eine Entwicklung, die im ersten Kapitel noch im Detail thematisiert wird. Dies erklärt, warum Authentizität für den Zionismus, der sich zu formieren begann, als diese Prozesse schon abgelaufen waren, so fundamental wurde. Eine kultur-historische Erforschung des Diskurses um Authentizität innerhalb des Zionismus steht daher nicht nur schon lange aus, sondern erhellt vor allem die immer wieder aufs Neue gestellte Frage, aus welchem Grund sich Jüdinnen und Juden in Deutschland überhaupt dem Zionismus zuwandten.⁶ Jüdische Deutsche, die sich der zionistischen Bewegung anschlossen, taten dies in erster Linie, so die Hauptthese der vorliegenden Arbeit, um das Ideal der Authentizität sowohl auf dem kollektiven als auch dem individuellen Niveau zu erfüllen. Damit vertritt diese Studie einen neuen Ansatz in der Erforschung des Zionismus, dem bisher wenig Beachtung geschenkt wurde. „Zionismus“ wird hier nicht allein als politische Bewegung eines Kollektivs, sondern auch als eine Angelegenheit der Subjektivität verstanden, die sie für zionistische Denkerinnen und Denker unweigerlich hatte. Hingewiesen sei an dieser Stelle auf die Komplexität der unterschiedlichen Subjektivitätstheorien. Es handelt sich bei Subjektivität um

 Taylor, Charles: A Secular Age. Cambridge (MA) 2007, S. 473.  Eine kurze Darstellung, wie das Ideal der Authentizität in der Populärkultur eine derart zentrale Bedeutung bekam, befindet sich in Varga, Somogy: Authenticity as an Ethical Ideal. New York/ London 2012, S. 22– 25.  Vor 1914 gab es ca. 10.000 Mitglieder in der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD). Vgl. Reinharz, Jehuda: Fatherland or Promised Land. The Dilemma of the German Jew 1893 – 1914. Ann Arbor 1975, S. 104.

Einleitung

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ein äußerst kontrovers diskutiertes Paradigma, das zu einer Vielzahl von Theorien geführt hat.⁷ In der Konstruktion des Authentischen ist die Idee des „Unauthentischen“ allgegenwärtig. Daher wird diese Arbeit nicht allein das Verständnis des Authentischen im Zionismus skizzieren und prüfen wie „Authentizität“ verwendet wurde. Sie beschreibt auch, welche Funktionen Grenzziehungen zwischen Authentizität und „Unauthentizität“ hatten und welche politischen und geschlechtertypischen Positionen sich dahinter verbargen. Die Konstruktion dieser Gegensätzlichkeiten spielte im zionistischen Diskurs in Deutschland eine zentrale Rolle. Mehr noch, sie bedingte sogar entscheidend die Entstehung und Entwicklung des national-jüdischen und zionistischen Denkens. Gerade die Epoche vor Theodor Herzls Der Judenstaat (1895) und dem Ersten Zionistenkongress (1897) ist dafür höchst bedeutend, da in ihr die Grundlagen für diese komplexen Zusammenhänge geschaffen wurden. Die vorliegende Darstellung beginnt daher nicht wie die meisten Studien in den 1890er-Jahren, sondern bereits drei Jahrzehnte früher, mit der Veröffentlichung von Rom und Jerusalem von Moses Hess (1862). Sie reicht bis ins zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Die Bestimmung der eigenen Authentizität war in zionistischer Sicht aufgrund der „deutsch-jüdischen Erfahrung“ eine besondere Herausforderung.⁸ Gerade die gesellschaftliche Situation von Jüdinnen und Juden in den deutschen Ländern und im Kaiserreich wird hier relevant. Der Zionismusforscher Stephen M. Poppel hat bereits 1977 darauf hingewiesen, dass es eine weitere „comparative dimension“ in der Erforschung des deutschen Zionismus gebe. Er stellte fest, dass die deutsche zionistische Bewegung lediglich ein „example of the more general phenomenon of minority-group nationalism“ darstelle. Poppel führte aus, dass

 Modellhaft kann man diesbezüglich einerseits zwischen Vorstellungen eines freien, autonomen und selbstreflexiven Ich der Aufklärung und romantischen Vorstellungen, die diese Vernunft ablehnen und zu einer Unbegreiflichkeit des Lebens und Seins tendieren, differenzieren. Die Psychoanalyse wiederum versuchte die Struktur, Natur und Formung des Selbst zu ergründen. Hier geht man entweder vom geteilten Selbst oder durch strukturalistische Ansätze im Zusammenhang mit dem linguistic turn von einem Selbst, das sich in der Sprache selbst manifestiert, aus. Andere Positionen vertreten ein sehr viel instabileres Bild des Selbst. Diskursanalytische Perspektiven setzen das konstruierte Subjekt in den Kontext des Diskurses von Wissen und Macht und dekonstruieren damit das Subjekt und die Vorstellung eines authentischen Selbst. Aus feministischer Perspektive war schließlich eine Erweiterung der oftmals männlichen Subjektivitätsvorstellungen unausweichlich, was zu Vorstellungen des prozesshaften oder des performativen Selbst führte.Vgl. beispielsweise Mansfield, Nick: Subjectivity. Theories of the Self from Freud to Haraway. New York 2000.  Für den Begriff der „deutsch-jüdischen Erfahrung“ siehe Aschheim, Steven E. und Vivian Liska (Hrsg.): The German-Jewish Experience Revisited. Berlin 2015.

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Einleitung

die deutschen Zionisten „[i]n their attempt to formulate their own identity in terms of a putative national distinctiveness“ zahlreiche „counterparts in any number of similar subgroups“ hätten.⁹ Die zionistischen Texte belegen diese Parallelisierung und zeigen sogar, wie relevant „Minderheitendiskurse“ für den deutschen Zionismus waren. Sie lieferten ihm wichtige Impulse. Dazu gehört die Wahrnehmung der Art und Weise, wie andere „Unterdrückte“ mit ihrer Situation umgingen. Die Beispiele hierfür könnten vielfältiger nicht sein – es finden sich Verweise auf Frauen, African Americans und Native Americans. ¹⁰ Diese werden hier erstmalig herausgearbeitet und werfen ein völlig neues Licht auf den Zionismus. Der deutsche Zionismus formierte sich zu einer Zeit, als sich der deutsche Antisemitismus verstärkte. Der Antisemitismus ist seinerseits ein deutliches Signal des ausgrenzenden deutschen Nationalismus, dem das Bild einer ursprünglichen und authentischen Nation und somit eines exkludierenden Konzepts der Authentizität vorschwebte.¹¹ Auch in der vorliegenden Untersuchung werden die zahlreichen Auswirkungen antisemitischer Ressentiments offenbar. Der zionistische Diskurs der jüdischen Authentizität formierte sich damit im gesellschaftlichen Spannungsfeld von Emanzipation, Anerkennung, Selbstbehauptung, Antisemitismus und kultureller Vervollkommnung. Bei der Analyse des deutsch/deutsch-jüdischen Kräfteverhältnisses ist darauf zu achten, dass keine Vorstellungen einer homogenen „Mehrheit“, als auch ebensolcher „Minderheit“ erzeugt werden, womit beispielsweise ausgeblendet würde, dass zahlreiche Jüdinnen und Juden sich eben nicht als „Marginalisierte“ oder „Unterdrückte“ sahen.¹² Folgt man den zionistischen Argumenten in den für diese Studie verwendeten Quellen, so kann dieses Verhältnis, wie bereits mehrfach in Studien zur deutschjüdischen Geschichte und Kulturgeschichte, als ein Verhältnis zwischen „hege-

 Poppel, Stephen M.: Zionism in Germany 1897– 1933. The Shaping of a New Identity. Philadelphia 1976, S. XVI.  Siehe Kapitel 5 dieser Arbeit.  Zu Antisemitismus siehe beispielsweise Benz, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. 7 Bände. München/Berlin 2008 ff.; Bergmann, Werner: Geschichte des Antisemitismus. München 2010. Für die vorliegende Studie besonders relevant ist zudem Holz, Klaus: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg 2001.  Zur Problematik der Begriffe „Mehrheit“ und „Minderheit“ in den German Studies vgl. bereits Peck, Jeffrey M.: Whatʼs the Difference? Minority Discourse in German Studies. In: New German Critique 46 (1989), S. 203 – 208.

Einleitung

5

monialen“ und „gegennarrativischen“ Ansätzen verstanden werden.¹³ Innerhalb des zionistischen Diskurses wurden demzufolge deutsch-jüdische Authentizitäten mithilfe von hier so bezeichneten Gegennarrativen konstruiert. Ursprünglich stammt das Modell der Gegennarrative aus der postkolonialen Theorie. Es wurde jedoch mittlerweile von zahlreichen Disziplinen aufgegriffen.¹⁴ Ein Gegennarrativ „turns the traditional master narrative around“, schreibt Michael Bamberg.¹⁵ Masternarrative werden in der Literaturwissenschaft als „plotlines“ oder „masterplots“ umschrieben, werden jedoch im größeren gesellschaftlichen, sozialpsychologischen oder kulturellen Kontext als „dominant discourses“ definiert.¹⁶ Die national-jüdischen und zionistischen Diskurse zur Authentizität bewegten sich mehrfach gegen den Mainstream beziehungsweise gegen „dominante und hegemoniale Narrative“.¹⁷ Im stärksten Sinne bedeutete die Formulierung von Gegennarrativen eine Rebellion gegen die Juden exkludierende und antisemitische „Masternarrative“, im schwächsten hingegen sind sie als ein Alternativangebot zu den deutschen, zunehmend nationalistischen und antisemitischen Narrativen zu verstehen.

 Das Konzept der „Counterhistory“ wird beispielsweise von Susannah Heschel und David Biale gebraucht. Siehe Heschel, Susannah: Jewish Studies as Counterhistory. In: Insider/Outsider. American Jews and Multiculturalism. Hrsg. von David Biale, Michael Galchinsky und Susan Heschel. Berkeley/Los Angeles/London 1998, S. 101– 115; Biale, David: Gershom Scholem. Kabbalah and Counter-History. Cambridge/London 1979.  Zu den frühen Forschern und Forscherinnen, die sich in der Zionismusforschung der postkolonialen Perspektive zuwenden gehören Penslar, Derek: Zionism and Technocracy. The Engineering of Jewish Settlement in Palestine. 1870 – 1918. Bloomington 1991; Spector, Scott: Prague Territories. National Conflict and Cultural Innovation in Franz Kafkaʼs Fin-de-Siècle. Berkeley 2000; Hess, Jonathan M.: Germans, Jews, and the Claims of Modernity. New Haven 2002. Zu den neuen Studien sind jene von Zohar Maor, Axel Stähler und jüngst von Stefan Vogt zu zählen: Maor, Zohar: Hans Kohn and the Dialectics of Colonialism: Insights on Nationalism and Colonialism from Within. In: Leo Baeck Institute Year Book (LBIYB) 55 (2010), S. 255 – 271; Stähler, Axel: Zionism, Colonialism, and the German Empire. In: Orientalism, Gender, and the Jews. Literary and Artistic Transformations of European National Discourses. Hrsg. von Ulrike Brunotte, Anna-Dorothea Ludewig u. Axel Stähler. München 2015, S. 98 – 123; Vogt, Stefan: Subalterne Positionierungen. Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland 1890 – 1933. Göttingen 2016. Darüber hinaus sind dazu auch die weiteren Werke zu rechnen, die auf Edward Saids Orientalismus zurückgreifen und diesen Ansatz auf den deutsch-jüdischen Diskurs übertragen.  Bamberg, Michael: Considering Counter-Narratives. In: Considering Counter-Narratives. Narrating, Resisting, Making Sense. Hrsg. von Michael Bamberg und Molly Andrews. Amsterdam/ Philadelphia 2004, S. 351– 371, hier S. 358.  Bamberg, Considering Counter-Narratives, S. 359.  Bamberg, Considering Counter-Narratives, S. 351.

6

Einleitung

Zionistische Narrative des Authentischen waren jedoch auch gegen jüdische Andersdenkende gerichtet. Das lange 19. Jahrhundert von 1789 bis 1914 markierte für Juden in den deutschen Ländern und im Kaiserreich eine bedeutsame Epoche. Unter anderem entstanden hier das Reformjudentum, die Wissenschaft des Judentums und die Neo-Orthodoxie; es war eine Epoche zahlreicher Modernisierungen und Neudefinitionen des Judentums und des Jüdischseins. Jede dieser Neudefinitionen konstruierte sich eigene Vorstellungen des sogenannten „wahren“ oder „authentischen“ Judentums und Jüdischseins. Die Erfüllung des Ideals der Authentizität im national-jüdischen Diskurs spiegelt daher einen komplexen und hybriden Diskurs wider, der die national-jüdischen und zionistischen Denker mitnichten als passive, sondern als aktiv Handelnde darstellt.¹⁸ Die Konstruktion von Gegennarrativen des Authentischen gestaltete sich weder unumstritten, noch kam sie ohne Essentialisierungen aus. So wurden innerhalb des Authentizitätsdiskurses stereotype Bilder des Reformjudentums, der Orthodoxie, des Christentums, Deutschtums, Judentums, von Osteuropa, dem Orient und den Frauen geformt, bei denen es sich um konstruierte und essentialisierte Entitäten handelte. Es fällt besonders auf, dass national-jüdische und zionistische Denkerinnen und Denker einen entscheidenden Akzent auf die individuelle Auslegung ihrer jüdischen Authentizität legten. Auch wenn in den Reden und Pamphleten – die oftmals die Grundlagen bisheriger Forschung bildeten – häufig scheinbar verbindliche Vorstellungen jüdischer Authentizität artikuliert wurden, so blieb davon jeweils eine Praxis, die auf einem eigenen Verständnis von Authentizität fußte, unberührt. Dies zeigt sich nicht nur am Beispiel der Protozionisten und der ersten Generation um Theodor Herzl (1860 – 1904), Achad Haam (1856 – 1927), Max Nordau (1849 – 1923) und Franz Oppenheimer (1864– 1943). Auch Repräsentanten der zweiten Generation – zu denen beispielsweise neben dem eingangs erwähnten Kurt Blumenfeld auch Richard Lichtheim (1885 – 1963) und Aron (1879 – 1954) und Adele Sandler (1883 – 1946) gehörten – rückten von diesem Individualismus nicht ab. Das so oft eruierte Verhältnis zwischen „Juden“ und „Deutschen“ oder „Judentum“ und „Deutschtum“, dem per se eine authentische Vorstellung der beiden Entitäten zugrunde liegt, ist für eine Arbeit, die sich kritisch mit dem Konzept der Authentizität auseinandersetzt, höchst problematisch.¹⁹ Von der harschen

 Zum Zusammenhang der jüdischen Geschichte als aktiven Bestandteil der „allgemeinen“ Geschichte siehe u. a. Schüler-Springorum, Stefanie: Die jüdische Minderheit in Königsberg/ Preußen. 1871– 1945. Göttingen 1996.  Für eine Debatte zum deutsch-jüdischen Verhältnis siehe Friesel, Evyatar: The German-Jewish Encounter as a Historical Problem: A Reconsideration. In: LBIYB 41 (1996), S. 263 – 274; Hoffmann, Christhard: The German-Jewish Encounter and German Historical Culture. In: LBIYB 41 (1996),

Einleitung

7

Grenzziehung zwischen „Juden und Deutschen“ beziehungsweise „Judentum und Deutschtum“ nahm man ohnehin wissenschaftlich bereits Abstand. Dass dennoch für die Zeitgenossen, die in dieser Arbeit präsentiert werden, gerade diese konstruierten Gegensätze Vehikel zur Erschaffung einer eigenen Authentizität wurden, lässt sich nicht umgehen. Man kann nur eine klassische Dekonstruktion vornehmen, indem man sich auf die zeitgenössische Vorstellung einlässt, jedoch darin enthaltene Widersprüche aufdeckt und sie damit gegen sich selbst sprechen lässt. Eine solche dekonstruktivistische Vorgehensweise offenbarte bereits den von Steven E. Aschheim identifizierten „co-konstitutiven“, also den sich gegenseitig bedingenden, untrennbaren Charakter von „deutsch“ und „jüdisch“.²⁰ Der Kulturwissenschaftler Stuart Hall illustriert diese Dynamiken anschaulich: „Perhaps instead of thinking of identity as an already accomplished fact“, so Hall, „we should think, instead, of identity as a ,production‘, which is never complete, always in process, and always constituted within, not without, representation“. Diese Sicht, schreibt Hall weiter, „problematises the very authority and authenticity to which the term, ,cultural identity‘, lays claim“.²¹ Auch bei zionistischen „Identitäten“ handelt es sich um Produktionen, die niemals abgeschlossen, sondern immer prozesshaft waren, und Fragen der Repräsentation beinhalten. Bei den zionistischen Konstrukten des Authentischen, das belegt die vorliegende Studie, handelt es sich um transkulturelle Entitäten, die den co-konstituiven Charakter deutsch-jüdischer Selbstpositionierungen zeigen. Doch diese Studie zeigt auch, dass nicht nur „deutsch“ und „jüdisch“ die Begriffe sind, entlang derer sich zionistische Authentizitäten herausbildeten, sondern unzählige andere Faktoren – wie beispielsweise der Diskurs der Moderne, Verhandlungen von religiösen Aspekten, Emotionen, geographische Verortungen und andere kulturelle Chiffren der Zeit – für diesen Prozess von Bedeutung sind.

S. 277– 290; Moyn, Samuel: German Jewry and the Question of Identity: Historiography and Theory. In: LBIYB 41 (1996), S. 291– 308; Volkov, Shulamit: Reflections on German-Jewish Historiography: A Dead End or a New Beginning? In: LBIYB 41 (1996), S. 309 – 320.  Aschheim, Steven E.: German History and German Jewry: Boundaries, Functions and Interdependence. In: LBIYB 41 (1998), S. 315 – 322. Es kommt hinzu, dass die Modellierung jüdischnationaler und zionistischer Authentizitäten mit einer gleichzeitigen narrativen „Deauthentifizierung“ der christlichen und deutschen Kultur verbunden war, die in gewisser Hinsicht auch die teilweise „Deauthentifizierung“ des eigenen deutsch-jüdischen Selbst bedeutete. In diesem Zusammenhang verweist Aschheim auf den berühmten Ausspruch Franz Rosenzweigs, dass er nicht sicher sei, wenn er in zwei Teile – einen jüdischen und einen deutschen – geteilt werden würde, bei welcher Seite das Herz „mitgehen würde“, doch er wüsste wohl, dass er diese „Operation nicht lebendig überstehen würde“ (S. 322).  Hall, Stuart: Cultural Identity and Diaspora. In: Identity: Community, Culture, Difference. Hrsg. von Jonathan Rutherford. London 1990, S. 222– 237, hier S. 222.

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Einleitung

Anders ausgedrückt, die zionistischen Narrative waren Teil vielfältiger Diskurse der Authentizität in den deutschen Ländern und im Kaiserreich. Das verdeutlicht einmal mehr, wie wichtig es ist, die deutsch-zionistische Geschichte nicht primär als teleologische Vorgeschichte des Staates Israels zu lesen, sondern als integralen Bestandteil der deutschen und europäischen Geschichte, die sich innerhalb der deutschen Nationalismen, der deutschen Identitätspolitiken, der deutschen Kulturmanifestationen und der vielfältigen deutschen und europäischen Narrative der Authentizität verortete.²² Palästina kam in diesen Verhandlungen zwar eine wichtige Funktion zu, wenn auch nicht unbedingt als Emigrationsziel, sondern vielmehr als Bezugspunkt für die Verortung des eigenen Selbst. Deutschland blieb Ort der Aushandlung transkultureller zionistischer Authentizitäten. Dieses Projekt stieß jedoch spätestens 1933 an harte Grenzen.

Forschungsstand Für eine Analyse der Authentizitätskonzepte im deutsch-zionistischen Diskurs ist es nicht mehr direkt erforderlich, sich abermals von der traditionellen zionistischen Historiographie zu distanzieren. Diese suchte, vereinfacht dargestellt, neben dem Antisemitismus vor allem „inner-jüdische“ Erklärungen für den Zionismus und schloss eine historische Interaktion zwischen Juden und Nicht-Juden gerne aus. Demgegenüber stand bisweilen die „liberale“ Variante der Geschichtsschreibung, die sich gerade auf die deutschen Einflüsse der jüdischen Identität konzentrierte und beispielsweise die Bürgerlichkeit von Juden im Kaiserreich betonte. In den letzten zwanzig Jahren erschienen mehrere Arbeiten, die diese traditionellen Linien verließen und „ein höchst lebendiges Forschungsfeld“ zum deutschsprachigen Zionismus ins Leben riefen, der im letzten Jahrzehnt zu der Entstehung eines „kleinen Booms“ führte.²³ Durch die kritische Analyse der Konzepte von Authentizität im deutsch-jüdischen Kontext werden einige ideologische Prämissen der bisherigen Historiographie offengelegt. Rhetoriken von „authentischen Juden“ und „authentischen Zionisten“ haben in den Werken von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern

 Siehe zur Frage der teleologischen zionistischen Historiographie Meybohm, Ivonne: David Wolffson. Aufsteiger, Grenzgänger, Mediator. Eine biographische Annäherung an die Geschichte der frühen Zionistischen Organisation (1897– 1914). Göttingen 2013 und auch Vogt, Subalterne Positionierungen, S. 18.  Für eine Zusammenfassung dieser Tendenz und der zahlreichen erschienenen Werke siehe Vogt, Stefan: Neue Forschungen zum deutschsprachigen Zionismus. Einleitung in den Schwerpunkt. In: Medaon 14 (2004), S. 1– 5, hier S. 1.

Forschungsstand

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oftmals einen festen Platz gefunden. Bis heute sind derartige typologische Diskussionen in jüdischen Gruppierungen weit verbreitet. Laut Stuart Z. Charmé lassen sich diese jüdischen Authentizitätsbekundungen in drei Hauptrhetoriken gliedern. Als erstes Narrativ gilt eines, „das deskriptive Ansprüche zur historischen Kontinuität mit bestimmten Traditionen in der Vergangenheit als eine Quelle für Autorität in der Gegenwart macht“. Als Beispiel verweist Charmé hier auf die bekannte These, dass halachisches Judentum authentischer sei als liberales Judentum. Sodann nennt Charmé die Kategorie „preskriptive Ansprüche zur normativen Überlegenheit von einer Form jüdischen Lebens über eine andere“ und verknüpft sie mit dem Beispiel einer Authentifizierung der religiösen Juden gegenüber den „assimilierten, ethnischen Juden“ oder dem „jüdischen Leben in Israel“ im Gegensatz zu dem „jüdischen Leben in der Diaspora“. Drittens führt Charmé die „existentiellen Ansprüche bezogen auf die eigenen tiefsten Werte und das Gefühl des Selbst“ an.²⁴ Hierzu zählt er die Behauptung, es bestehe ein Widerspruch zwischen orthodoxer Lebensweise und der individuellen Selbstverwirklichung oder existentiellen Authentizität, da die orthodoxe Lebensweise niemals die „persönliche Entscheidung zum Zentrum des Universums“ machen könne.²⁵ Zu diesem komplexen Diskurs der Authentizität in jüdischen Kontexten gehört auch die Authentifizierung des osteuropäischen Judentums des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, zu dessen herausragendem Symbol das osteuropäische Stetl stilisiert wurde.²⁶ Diese Verortung des Authentischen in Osteuropa, die im national-jüdischen Diskurs im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begann, spiegelt sich auch in der Forschung wider.²⁷ So befassen sich bisherige Darstellungen jüdischer Authentizität vor allem mit dem europäischen Ost-West-Diskurs beziehungsweise dem

 Charmé, Stuart Z.: Varieties of Authenticity in Contemporary Jewish Identity. In: Jewish Social Studies. New Series 6 (Winter 2000), No. 2, S. 133 – 155, hier S. 134.  Sachs, Jonathan: One People? Tradition, Modernity, and Jewish Unity. London 1993, S. 157– 58. Auch zitiert in: Charmé, Varieties of Authenticity, S. 135.  Charmé, Varieties of Authenticity, S. 137. Dabei wird, so Charmé, der „kulturell hybride Ursprung“ beispielsweise der Klezmer-Musik meist vergessen.  Nicht zuletzt spiegelt auch die Debatte über Moshe Idels Buch Old Worlds, New Mirrors: On Jewish Mysticism and Twentieth-Century Thought (Philadelphia 2009) die Verhandlungen von jüdischer Authentizität wider. Idel konstruiert in seinem Buch eine starke Dichotomie zwischen dem Jüdischen Ost- und Zentraleuropas und zieht auch ein qualitatives Fazit mit einer oftmals harschen Kritik der „unauthentischen“ zentraleuropäischen jüdischen Denker. Vgl. Aschheim, Steven E.: New Thinkers, Old Stereotypes. In: Jewish Review of Books 9 (Spring 2012). http://jew ishreviewofbooks.com/articles/179/new-thinkers-old-stereotypes/ (31.10. 2017); Myers, David N.: A Novel Look at Moshe Idelʼs East-West-Problem. In: Jewish Quarterly Review 102 (Spring 2012), No. 2, S. 289 – 296.

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Orientalismus innerhalb des deutsch-jüdischen Diskurses und verorten das „authentische Jüdischsein“ exklusiv in Osteuropa. So schreibt beispielsweise Steven E. Aschheim in seinem 1982 veröffentlichten Standardwerk Brothers and Strangers, dass im „Westzionismus“ ein Bild des osteuropäischen Juden „als die Verkörperung jüdischer Authentizität“ vorherrschte, das als ein „Muster des unzerrissenen Selbst“ verstanden wurde.²⁸ David A. Brenner beschreibt in seiner Monographie Marketing Identities von 1998, wie die stereotype Darstellung der „westjüdischen aufgeklärten Identität“ einer „ostjüdischen traditionellen Identität“ gegenübergestellt wurde, um unter der Leserschaft ein „ethnisches PanJudentum“ zu verbreiten.²⁹ Und Michael Brenner, der in seiner Studie zur jüdischen kulturellen Renaissance Jüdische Kultur in der Weimarer Republik – die zwar außerhalb des zeitlichen Rahmens dieser Arbeit liegt – der Frage der Authentizität einen gesamten Teil widmet, bespricht das Bild der „Juden als Orientalen“ und die Rhetorik der „authentischen Ostjuden“.³⁰ Die genannten Arbeiten bilden eine wichtige Grundlage für die vorliegende Untersuchung. Im Hinblick auf spezifisch deutsch-zionistische Authentizitätskonstrukte können deren Befunde jedoch teilweise relativiert werden. Zusätzlich schwingt in vielen wissenschaftlichen Werken zum deutschen Judentum oder Zionismus oftmals eine Rhetorik der „Unauthentizität“ mit.³¹ Die deutsch-jüdische Geschichte des 19. Jahrhunderts wird hier meist als eine Geschichte der schrittweisen Assimilation und damit der Aufgabe alles Jüdischen, im Grunde also einer fortschreitenden „Deauthentifizierung“ gewertet. Neuere Forschungen revidierten diese tendenziöse Haltung und argumentierten gegen den angenommenen übertriebenen Assimilationsdrang deutscher Juden. Hier ist auf David Sorkins Studie hinzuweisen, die mit der These von einer distinkten jüdischen „Subkultur“ das überkommene Bild korrigierte.³² In neueren Studien zur Wissenschaft des Judentums und zum Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens wurde ebenso gegen die bereitwillige „Assimilation“ und für die Feststellung, dass auch diese aktiv an dem Erhalt des Jüdischseins arbeite-

 Aschheim, Steven E.: Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness 1800 – 1923. Madison 1982, S. 84.  Brenner, David A.: Marketing Identities. The Invention of Jewish Ethnicity in „Ost und West“. Detroit 1998.  Brenner, Michael: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. München 2000, besonders S. 145 – 230. Englisches Original: The Renaissance of Jewish Culture in Weimar Germany. New Haven 1998.  Die Begriffe „Deauthentifizierung“ und „Unauthentizität“ und deren Derivate stellen Neologismen dar, die daher in Anführungszeichen gesetzt werden.  Sorkin, David: The Transformation of German Jewry 1780 – 1840. New York 1987, S. 5.

Aufbau der Arbeit

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ten, argumentiert.³³ In der Historiographie wurden die deutschen Zionisten von dieser Wertung nicht ausgeschlossen, auch wenn sich die zionistischen Denkerinnen und Denker explizit gegen eine „Assimilation“ wandten. Das hängt unter anderem mit dem zionistischen Ideal der Einwanderung nach Palästina zusammen. In dieser Vorstellung mussten Zionistinnen und Zionisten, um authentisch zu sein, den Schritt der Auswanderung wagen. Die deutschen Zionisten, von denen sich bekanntermaßen nur eine kleine Gruppe für die Auswanderung entschied, wurden dieser Auffassung nach den Ansprüchen an einen „wahren“ Zionisten nicht gerecht.³⁴ Die Bedeutung der erwähnten Arbeiten soll durch diese Studie nicht geschmälert werden. Ihr Anliegen zielt jedoch darauf, Existenz und Wirkungsweisen eines dem deutschen Zionismus eigenen Authentizitätskonstrukts nachzuzeichnen. Denn insbesondere die Frage nach dem individuellen Streben nach Authentizität, nach einem authentischen Selbst beziehungsweise einem existentiellen „jüdischen Sein“ und deren Geschlechtspezifität wurde in der bisherigen Forschung kaum berücksichtigt.

Aufbau der Arbeit In der vorliegenden Studie werden die Entwicklung und die Funktion des national-jüdischen und zionistischen Diskurses der Authentizität nachgezeichnet. Dies geschieht anhand zahlreicher bisher unbekannter und unveröffentlichter Quellen. Es sei gleich zu Beginn darauf hingewiesen, dass es unmöglich ist, deutsche zionistische Diskurse ohne das Heranziehen einiger herausragender Werke, die außerhalb der deutschen Länder und des Kaiserreichs verfasst wurden, zu analysieren. Zionismus ist ein transnationales Projekt, das durch Persönlichkeiten getragen wurde, die geographisch weit verteilt waren.³⁵ Gerade dieser transnationale Aspekt und insbesondere die geographische Sonderposition zwischen  Siehe Roemer, Nils: Jewish Scholarship and Culture in Nineteenth-Century Germany. Between History and Faith. Madison (WI) 2005, S. 3; Borut, Jacob: ‫“רוח חדשה בקרב אחינו באשכנז„ המפנה‬ ‫„[ בדרכה של יהדות גרמניה בסוף המאה התשע עשרה‬Ruach chadascha be-kerew ʼachinu be‐ʼaschkenas“. Ha-mifne be-darka schel jahadut Germanija be-sof ha-meʼah ha-tschʻa ʻesreh]. Jerusalem 1999, S. 12 [Hebräisch]. Eine detaillierte Darstellung und Dekonstruktion des Begriffs der „Assimilation“ siehe Kapitel 3 dieser Arbeit.  Reinharz, Fatherland or Promised Land, S. 141.  Für ein besonderes Beispiel des zionistischen Transnationalismus siehe Harif, Hanan: Asiatic Brothers, European Strangers. Eugen Hoeflich and Pan-Asian Zionism in Vienna. In: Against the Grain. Jewish Intellectuals in Hard Times. Hrsg. von Ezra Mendelsohn, Richard I. Cohen und Stefani Hoffman. New York 2013, S. 171– 185.

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„West“ und „Ost“ machen den deutschen Zionismus zu einem hervorragenden Beispiel für die Untersuchung des Authentischen. Sie illustrieren, dass sich die Herausbildung von Konzepten als diskursiver Vorgang vollzieht, der zugleich im Spannungsfeld konstruierter Vorstellungen von „Ost“ und „West“ situiert ist. Das erste Kapitel führt in die theoretischen Grundbegriffe, also die Idee der Authentizität und eines authentischen Selbst ein, die für den national-jüdischen und zionistischen Diskurs relevant waren. Den theoretischen Unterbau der Authentizität liefern vor allem die Arbeiten von Lionel Trilling und Charles Taylor. Um die folgenreiche Verbindung zwischen dem Ideal der Authentizität und den Theorien des Nationalismus zu erläutern, wird hier auf Elie Kedourie, Eric Hobsbawm und Benedict Anderson zurückgegriffen, die grundlegende Gedanken dazu formulierten. Zur Verbindung zwischen Authentizität und Folklore liefert das Werk von Regina Bendix entscheidende Impulse. Um den theoretischen Rahmen in einen „post-authentischen“ Kontext zu setzen, werden am Ende des Kapitels wichtige Kritiker des Ideals der Authentizität zu Wort kommen. Das zweite Kapitel widmet sich der Analyse national-jüdischer³⁶ und zionistischer³⁷ Gegennarrative des Authentischen. Die meisten wissenschaftlichen Darstellungen der proto-zionistischen Periode beschränkten sich häufig auf das 1862 erschienene Werk Rom und Jerusalem von Moses Hess. Die Wiederentdeckung des seinerzeit sehr erfolgreichen, heutzutage aber nahezu unbekannten national-jüdischen Romans Jüdische Familienpapiere. Briefe eines Missionairs von 1868 von Wilhelm Herzberg und die ausführliche Analyse des darin enthaltenen Narrativs der jüdischen Authentizität liefern daher eine wichtige Erweiterung für das Verständnis jüdisch-nationaler Gegennarrative des Authentischen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die zusätzliche Bearbeitung des zunächst nicht weiter auffälligen Anhangs des von Joseph Natonek herausgegebenen Das Hohelied aus dem Jahre 1872 eröffnet zudem Möglichkeiten, die frühe national-jüdische Genderperspektive zu erörtern. Natonek hat außerdem das deutschsprachige zionistische Periodikum Das einige Israel herausgegeben, und zwar noch vor der Wiener Selbst-Emancipation, die meist als die erste derartige Zeitschrift bezeichnet wird. So konnten für diese Periode nicht nur zwei kaum erforschte Quellen ausfindig, sondern parallel für die Erforschung des Konzepts der Authentizität fruchtbar gemacht werden.

 Begriffe wie „national-jüdisch“ und „Nationaljudentum“ verweisen im weitesten Sinne auf die Vorstellung, die sich der zeitgenössischen nationalen Theorien bediente und davon ausging, dass Juden eine Nation bilden.  „Zionistisch“ bedeutet in diesem Kontext folglich im weitesten Sinne eine der national-jüdischen Haltungen, deren Konzept jüdischer Nationalität um „Palästina“ oder „Zion“ kreiste.

Aufbau der Arbeit

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Das dritte Kapitel analysiert das binäre Modell „Unauthentisch–Authentisch“ im zionistischen Diskurs. Ausgehend von Regina Bendixʼ Beobachtung, dass Konstrukte des Authentischen meist über die Abgrenzung von einem als „unauthentisch“ markierten Zustand erschaffen werden, setzt sich dieses Kapitel im ersten Teil mit der als schlechthin „unauthentisch“ empfundenen „Assimilation“ auseinander. Hierbei wird zunächst auf die zionistische Theorie der „Assimilation“ näher eingegangen. Ein besonderes Augenmerk wird auf die durch den Prozess der Assimilation verursachte und von den zionistischen Denkern festgestellte Selbstentäußerung oder Verfälschung beziehungsweise „Deauthentifizierung“ des eigenen Selbst gelegt. Der Verweis auf die Mängel und vor allem auf den Preis der Emanzipation richtete sich gegen die Überzeugung, der Liberalismus sei nun nach der jüdischen Gleichberechtigung von 1871 weiter auf dem Vormarsch. Zudem wird gezeigt, dass in den zionistischen Texten die „Philister“ oder die „neuen Marranen“ zu Chiffren für den „unauthentischen“ Menschen stilisiert wurden. Zionistische Narrative zum „Unauthentischen“ waren stets geschlechtertypisch, was für diesen ersten Teil des Kapitels eine gesonderte Betrachtung der „Assimilantin“ erfordert. Der zweite Teil wendet sich zionistischen Narrativen des Authentischen zu. Dieser Teil setzt sich mit der ersten und der zweiten Generation zionistischer Denker auseinander. Dabei fällt auf, dass in beiden Generationen die zionistische Theorie und Praxis in entscheidenden Punkten weit auseinandergingen. Neben Unterschieden oder Diskontinuitäten zwischen den beiden Generationen verdeutlicht die Diskussion aber auch Kontinuitäten. Bisher kaum beachtete Quellen, wie beispielsweise die Memoiren von Moses Calvary, belegen die Komplexität der Konstruktion authentischen Jüdischseins. Das vierte Kapitel erörtert die Politisierung der im vorangegangenen Kapitel diskutierten Konzepte von Authentizität. Um Bedeutung und Funktion des Konzepts von Authentizität im zionistischen Diskurs zu dechiffrieren, wird dieses Kapitel sich zunächst mit dem Denken Theodor Herzls und Achad Haams befassen. Es hinterfragt dabei den in der Zionismusforschung bis heute anerkannten Antagonismus zwischen diesen beiden Persönlichkeiten. Theodor Herzl fungiert in diesen Darstellungen als Vertreter des „politischen“ und „westlichen“ Zionismus und Achad Haam als Vertreter des „kulturellen“ oder „geistigen“ und „östlichen“ Zionismus. Die Gemeinsamkeiten, die sich gleichwohl in ihren Schriften nachweisen lassen, zeigen vor allem die politischen, taktischen und machtorientierten Dimensionen der zionistischen „Authentizitätspolitik“ auf. Ein weiterer Fokus des Kapitels liegt auf den oftmals harschen innerzionistischen Debatten und Diskussionen um die Konzeptualisierung der Authentizität. Diese illustrieren, inwiefern Vorstellungen von Authentizität nicht „natürlicherweise“ entstehen, sondern konstruiert und fast immer von Machtfragen begleitet werden. Dies bestätigen exemplarisch die Altneuland-Kontroverse von 1903 und die Oppen-

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heimer-Debatte von 1910. Über die konventionelle Lesart der Kontroversen hinaus – als Beweis des Orientalismus und der überlegenen Selbstsicht der deutschen Zionisten – sollen sie hier als Indiz für die „Deauthentifizierung“ des deutschen Zionismus gelesen werden. Im fünften Kapitel liegt ein besonderes Augenmerk auf der Exklusion der zionistischen Denkerinnen und Denker als Jüdinnen und Juden in Deutschland und auf Narrativen, die der Zionismus in dieser Beziehung mit anderen marginalisierten Gruppen teilt. Interessanterweise haben sich die zionistischen Autoren selbst mit anderen Marginalisierten verglichen – eine Tatsache, die in der Forschung bisher kaum beachtet wurde. Darunter befinden sich Vergleiche zu Frauen, Native Americans und African Americans. Die in den Vergleichen enthaltenen abwertenden Bemerkungen gegenüber anderen Minderheiten ergänzen die bereits in den vorangegangenen Kapiteln herausgearbeitete Geschlechtsspezifität, die ebenso die oftmals angenommene liberale Ausrichtung zionistischer Denker und Aktivisten infrage stellt, und erweitern die bisherige Forschung somit um wichtige Erkenntnisse. Das sechste Kapitel beschäftigt sich mit kulturellen Manifestationen des zionistischen Diskurses, im Besonderen mit der Literatur, Kunst und der Musik. Dabei wird nicht nur allgemein in die „Kulturfrage“ im zionistischen Diskurs eingeführt, sondern es werden auch theoretische Aspekte einer authentischen jüdischen Kultur besprochen. Das Zentrum der Analyse bilden die Aktivitäten des Ehepaars Aron und Adele Sandler, die beide der zweiten Generation zionistischer Aktivistinnen und Aktivisten im Kaiserreich angehörten. Bisher unerforschtes Archivmaterial – darunter zahlreiche künstlerische Quellen, die das Leben von Aron und Adele Sandler begleiteten und prägten – gewährt einen Einblick in das Privatleben der beiden und die besondere Rolle, die der Zionismus darin spielte: Erstens ein von Adele Sandler verfasstes und illustriertes deutschjüdisches Kinderbuch – das erste seiner Art; zweitens eine literarische „Reise“, die Adele und Aron als Hochzeitsgeschenk überreicht wurde; und drittens ein von Adele Sandler gestaltetes Palästina-Quartett für Kinder. Vor diesem Hintergrund wird die zionistische Palästinareise als zionistische Kulturpraxis und die zionistischen Konstrukte solcher „Volkskunst“ und „Volkskultur“ als elementare Bestandteile des Konzepts der Authentizität diskutiert. Auch wenn diese Studie selbstverständlich nicht alle Aspekte des Zusammenhangs von Zionismus und Authentizität in ihrer Gänze erfassen kann, so soll sie zeigen, wie ausgesprochen relevant das Ideal der Authentizität für die Erforschung des deutschen Zionismus ist. Es wird im Folgenden deutlich werden, dass die Suche nach einem authentischen Selbst innerhalb einer jüdischen Nation, beziehungsweise die Selbstverwirklichung in der eigenen jüdischen Nation, sich als ein emotionales Unterfangen gestaltete, das zu dem Verständnis von indivi-

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duellen und transkulturellen Authentizitäten führte. Nichtsdestotrotz waren die unterschiedlichen Ideen eines authentischen jüdischen Selbst geschlechtsspezifisch ausgerichtet und hochgradig politisiert. Die für den zionistischen Diskurs zentralen binären Konzepte, die Laurence J. Silberstein in seinem Aufsatzband The Postzionism Debates erwähnt, nämlich „Exil–Heimstätte“, „Hebräer–Jude“, und „Kultur–Religion“, werden hier durch das ebenfalls binäre Konzept „Authentizität–Unauthentizität“ erweitert.³⁸ Die Analyse zionistischen Denkens mithilfe des für diesen Zusammenhang neuen Begriffspaars rückt damit nicht nur eine weitere Dimension für die Erforschung des Zionismus in den Fokus. Sie zeigt auch die besondere Relevanz, die die Ausrichtung am Ideal der Authentizität – inklusive einer Abgrenzung von allem „Unauthentischen“ – für deutsche Jüdinnen und Juden besaß. Der Zionismus erschien zionistischen Denkerinnen und Denkern als der empfehlenswerte Weg, um das Ziel eines authentischen Lebens zu erreichen.

 Silberstein, Laurence J. (Hrsg.): The Postzionism Debates. Knowledge and Power in Israeli Culture. New York/London 1999, S. 25.

1 Konzepte der Authentizität „Jeder philosophische Terminus ist die verhärtete Narbe eines ungelösten Problems. Begriffe sind Denkmäler von Problemen“. – Theodor W. Adorno¹

Zahlreiche Forscher haben sich bis dato mit „Authentizität“ und ihren mutmaßlichen Manifestationen auseinander gesetzt.² Einerseits wurde die Vorstellung einer Authentizität und eines authentischen Selbst mittlerweile vollkommen dekonstruiert. Andererseits wurde die gesellschaftliche Bedeutung des Konzeptes hervorgehoben. Neben Alessandro Ferrara, Charles Guignon, Jacob Golomb und Somogy Varga verteidigte beispielsweise der kanadische kommunitaristische Philosoph Charles Taylor das Konzept und vor allem auch seine Bedeutung für „Minderheiten“. Aus diesem Grund werden, neben Lionel Trillings, auch speziell Charles Taylors Schriften in diesem Kapitel für die Herleitung des Konzeptes der Authentizität herangezogen, um die Zentralität des Strebens nach Authentizität und dessen moralische Ebene für die deutschen zionistischen Denker in den entsprechenden, historisch-philosophischen Kontext zu setzen. Dieses Kapitel legt die theoretischen Grundlagen, auf denen die spätere Analyse beruht. Es wird zunächst die Frage beantworten, weshalb die Idee eines authentischen Selbst im 19. Jahrhundert zur Zeit der Formierung des frühen national-jüdischen und zionistischen Diskurses von so elementarer Bedeutung geworden war. Dafür setzt dieses Kapitel, nach kurzen etymologischen Bemerkungen, im 16. Jahrhundert an. Aus Sicht der Zionistinnen und Zionisten bot sich der Zionismus in besonderer Weise an, ein Instrument für das Führen eines authentischen Lebens zu sein. Die Begründung für diese Haltung, die auf der Verschränkung von dem Ideal der Authentizität und dem Nationalismus beruht, ist der zweite zentrale Punkt, den dieses Kapitel behandelt.

 Adorno, Theodor W.: Philosophische Terminologie. Zur Einleitung. Frankfurt a. M. 1974. Band 2, S. 10 f.  Für zahlreiche Diskussionen zum Konzept der Authentizität heutzutage siehe beispielsweise die Essaysammlung von Geoffrey Hartman: Scars of the Spirit. The Struggle Against Inauthenticity. New York 2002. https://doi.org/10.1515/9783110546019-003

1.1 Der Begriff Authentizität

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1.1 Der Begriff Authentizität „Authentizität“ wurde von Hans Blumenberg und Alessandro Ferrara als ein „Hauptwort der Neuzeit“ bezeichnet.³ Vor der Übertragung des Begriffs der Authentizität auf Menschen und das Sein wurden vor allem Gegenstände mit dem Begriff der Authentizität gekennzeichnet. Der Terminus Authentizität leitet sich von dem griechischen authentēs ab, das einen „Urheber, Ausführer, Selbstherr“, oder „jemand[en], der etwas mit eigener Hand, dann auch aus eigener Gewalt vollbringt“, bezeichnete.⁴ Das dazugehörige Adjektiv aúthentikós wurde vor allem für Schriftstücke benutzt, mit der Bedeutung „original, zuverlässig, maßgebend“ oder „von der maßgeblichen Instanz ausgehend, mitgeteilt“.⁵ Aúthentikós bedeutet jedoch auch „Mörder“, insbesondere den „Selbst- oder Verwandtenmörder“, sowie den „Herren“ oder „Gebieter“. Die ursprünglichen Konnotationen weichen somit deutlich von der heutigen Verwendung des Begriffes ab.⁶ Das spätlateinische Lehnwort authenticus erfuhr eine Erweiterung durch die Konnotationen „anerkannt, rechtmäßig, verbindlich“, die sich schließlich ab dem 16. Jahrhundert als Adjektiv auch im deutschsprachigen Raum durchsetzten. Etwa zwei Jahrhunderte später ist das entsprechende Substantivum sowohl im Deutschen (Authentizität), als auch im Englischen (authenticity), Französischen (authenticité) Italienischen (autenticità) und Spanischen (autenticidad) nachweisbar.⁷ Seine ontologische Bedeutung, auf der der Fokus dieser Arbeit liegt, erhielt der Begriff erst in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts durch den umstrittenen Philosophen Martin Heidegger. In dieser ontologischen Bedeutung hat sich der Begriff von seiner ursprünglichen Semantik entfernt, auch in der Hinsicht, dass er nicht mehr Gegenständliches, sondern vielmehr ein Abstraktum, nämlich das Konstrukt des „authentischen Selbst“ umschreibt. In seinem Werk Sein und Zeit von 1927 stellte Heidegger die Dichotomie von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit folgendermaßen dar: Menschen, die in einer „Alltäglichkeit“ gefangen seien, fristeten ein uneigentliches, „unauthentisches“ Dasein. Da „Eigentlichkeit“ das Wort „eigen“ beinhalte, solle jeder Mensch seine jeweilige

 Artikel Authentisch/Authentizität. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel. Band 7. Stuttgart/Weimar, S. 40 – 65, hier S. 52.  Artikel Authentisch/Authentizität, S. 40.  Artikel Authentisch/Authentizität, S. 40.  Artikel Authentisch/Authentizität, S. 40.  Artikel Authentisch/Authentizität, S. 40.

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1 Konzepte der Authentizität

Eigentlichkeit erfüllen.⁸ Mit der Erschaffung des Begriffs der Eigentlichkeit, der einen schon stattgefundenen diskursiven Formierungsprozess philosophisch fasste, wurde Heidegger so zum „Erfinder der Authentizität in modernen philosophischen Begriffen“.⁹ Selbst in der Entstehungsphase des frühen Zionismus wurde der Begriff der Authentizität noch zur Qualifizierung von Schriftstücken verwendet. Doch tatsächlich formierte sich der Diskurs zur zweiten, ontologischen Ebene der Authentizität lange vor der Synonymisierung durch Heidegger und damit bevor „Authentizität“ tatsächlich mit „Authentizität“ bezeichnet wurde.

1.2 Von Aufrichtigkeit zu Authentizität Die ontologische Ebene der Authentizität, darin ist sich die Forschung größtenteils einig, leitet sich philosophisch aus dem Ideal der Aufrichtigkeit ab.¹⁰ Das Ideal der Aufrichtigkeit wiederum begann im 16. Jahrhundert innerhalb Europas eine herausragende Stellung einzunehmen. Verschiebungen moralischer Ideale wie diese, argumentierte Lionel Trilling, passierten, wenn neue Gewichtungen auch neue Tugenden erforderten.¹¹ Dies gilt für die Idee der Aufrichtigkeit (sincerity).¹² Aufrichtigkeit bedeutet für Trilling die Kongruenz des tatsächlichen Fühlens und dessen Kommunikation.¹³ Dieser Einklang werde erfüllt, indem man jegliche Falschheit anderen Personen gegenüber vermeide und dem eigenen Selbst treu bleibe.¹⁴

 Bendix, Regina: In Search of Authenticity. The Formation of Folklore Studies. Madison 1997, S. 18.  Bendix, In Search of Authenticity, S. 19.  Siehe hierzu auch Varga, Somogy: Authenticity as an Ethical Ideal. New York/London 2012, S. 15 – 17; Golomb, Jacob: In Search of Authenticity. From Kierkegaard to Camus. London/New York 1995. S. 2 f.; Guignon, Charles: On Being Authentic. London/New York 2004, S. 7– 13.  Trilling, Lionel: Das Ende der Aufrichtigkeit. Frankfurt a. M. [u. a.] 1983, S. 11.  Trilling, Das Ende der Aufrichtigkeit, S. 12.  Trilling, Das Ende der Aufrichtigkeit, S. 12 und S. 91. Trilling bringt an letzterer Stelle das Beispiel eines trauernden Mannes.  Trilling, Das Ende der Aufrichtigkeit, S. 15. Trilling ergänzt, dass, obwohl das Streben nach Aufrichtigkeit eine „außerordentliche Anstrengung“ darstelle, „haben [dennoch] an einem bestimmten Punkt der Geschichte bestimmte Menschen und Klassen von Menschen die Idee gehabt, daß eine solche Anstrengung für das moralische Leben die größte Bedeutung hätte. Der Wert, den sie der Aufgabe der Aufrichtigkeit beigemessen haben, ist zu einem hervorstechenden, vielleicht definierenden Merkmal der westlichen Kultur für etwa vierhundert Jahre geworden“.

1.2 Von Aufrichtigkeit zu Authentizität

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Die gesellschaftliche Zentralität von Aufrichtigkeit seit der frühen Neuzeit in Europa hatte laut Trilling verschiedene Gründe, die an sehr komplexe kulturelle Transformationen gekoppelt waren. Allen voran wäre der Prozess der Individualisierung zu nennen, der den Menschen und seine Attribute ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Das Individuum selbst wurde nun nicht mehr lediglich über seine Standeszugehörigkeit und Profession definiert. Andererseits erforderte die neue soziale Mobilität in der Gesellschaft neue Verhaltenskodices.¹⁵ Auffällig ist, dass der Diskurs zur Aufrichtigkeit wichtig wurde, als das Theater eine plötzliche Blütezeit erlebte,¹⁶ ausgerechnet jener Ort, wie Regina Bendix darstellte, der sich in besonderer Weise durch Täuschung und List, und damit Unaufrichtigkeit auszeichne.¹⁷ Dieser vom Theater ausgelöste Diskurs zum Rollenspiel wurde im Folgenden auf die Gesellschaft übertragen. Trilling illustriert dies anhand von Hegels Lesart des von Denis Diderot verfassten Werks Rameaus Neffe. ¹⁸ „Die Theorie der Gesellschaft“ des Neffen beruhe „auf seiner Erkenntnis der systematischen Getrenntheit des Individuums von seinem wirklichen Selbst“ – ein Zusammenhang, den er auch in Jean-Jacques Rousseaus Philosophie erkannte.¹⁹ Die Gesellschaft sei „bloß eine Schauspielerei“, denn ein jeder nehme „eine bestimmte ,Position‘ ein, so wie die Choreographie der Gesellschaft“ es vorgebe.²⁰ Anders ausgedrückt: Die Schauspielerei sowohl im Theater als auch auf der gesellschaftlichen Bühne als unaufrichtig zu dekuvrieren ist Teil jener Kritik, die für die Suche nach einem authentischen Selbst – auch im Zionismus – von großem Belang ist. Diese Hinterfragung führte zur notwendigen Formierung einer neuen Instanz, und zwar der Authentizität. Offenbare sich nämlich, dass jeder Mensch in der Gesellschaft nur die von ihm geforderte Rolle spiele, so habe das zwangsläufig auch Auswirkungen auf die Betrachtung des Ideals der Aufrichtigkeit. In den Worten Trillings:

 Trilling verweist auf Tocqueville und sein Argument, dass beispielsweise das Ideal des Gentlemans den sozialen Aufstieg ermöglichte. Zu den gesellschaftlichen Transformationen siehe auch Golomb, In Search of Authenticity, S. 5 f.  Trilling, Das Ende der Aufrichtigkeit, S. 19.  Bendix, In Search of Authenticity, S. 16.  Goethe war sehr begeistert und übersetzte das Werk ins Deutsche. [Diderot, Denis]: Rameaus Neffe. Ein Dialog von Diderot. Aus dem Manuskript übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Goethe.Weimar 1964 [Leipzig 1805]. Hegel rezipierte das Werk in der Phänomenologie des Geistes. Vgl. auch Varga, Authenticity as an Ethical Ideal, S. 16; Golomb, In Search of Authenticity, S. 6 f.  Dies argumentiert Trilling im Verlauf des gesamten Werks, besonders S. 91: „Seit Rousseau wissen wir, daß es die Gesellschaft ist, die unsere Authentizität zerstört […]“. Zu Rousseaus Einfluss auf das Konzept der Authentizität siehe auch Guignon, On Being Authentic, S. 29 – 36.  Trilling, Das Ende der Aufrichtigkeit, S. 37.

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1 Konzepte der Authentizität

Die Gesellschaft verlangt von uns, daß wir uns aufrichtig geben, und die wirksamste Methode, dieser Forderung zu genügen, besteht darin, wirklich aufrichtig zu sein, wirklich so zu sein, wie die Gesellschaft von uns denken soll. Kurz, wir spielen die Rolle, wir selbst zu sein, aufrichtig spielen wir die aufrichtige Person, mit dem Ergebnis, daß man unsre Aufrichtigkeit für nicht authentisch hält.²¹

Auch wenn die Gesellschaft von einem fordere, aufrichtig zu sein, könne man doch stets nur eine Rolle spielen. Eine vorgetäuschte Aufrichtigkeit wäre demnach zwar keine Lüge, dafür aber nicht „authentisch“. Man wäre nicht „man selbst“, sondern das, was einem die Gesellschaft vorschreibe.²² So verhielte man sich zwar aufrichtig, aber nicht authentisch. Wenn man „authentisch“ ist, spielt man also nicht die Rolle eines authentischen Selbst – so, wie man beispielsweise Aufrichtigkeit vorspielen kann – sondern man ist authentisch man selbst – man „ist“. Der Diskurs zur Aufrichtigkeit findet auf einer anderen Ebene statt, als der zur Authentizität. Ersterer wird von der Gesellschaft gefordert, er erfüllt damit eine soziale Funktion; letzterer wird von einem konstruierten inneren Selbst gefordert. Wird das Ideal der Aufrichtigkeit erfüllt, könnte man dieser Auffassung nach durchaus Gefahr laufen, sich selbst in der Gesellschaft „zu verlieren“. In der Authentizität bestimme und finde man sich hingegen selbst, unter Umständen auch mithilfe von Aspekten, die in der Gesellschaft nicht gefordert oder selbst abgelehnt werden und nicht mit gesellschaftlichen Normen konform gehen. Authentizität erscheint hier eng verbunden mit der Idee der Autonomie und kann hier im stärksten Sinne eine rebellische, und im schwächeren eine alternative Note gegenüber der Gesellschaft haben.²³

1.3 Authentizität und Moral – Authentizität als moralische Obligation Neben unzähligen Wissenschaftlern, die sich dem philosophischen Konzept der Authentizität zuwandten, setzte sich Charles Taylor eingehend mit der Frage auseinander, wie sich der Imperativ des authentischen Selbst und der authenti-

 Trilling, Das Ende der Aufrichtigkeit, S. 19.  Vgl. hierzu auch Ferrara, Alessandro: Modernity and Authenticity. A Study of the Social and Ethical Thought of Jean-Jacques Rousseau. Albany (NJ) 1993, S. 86 f.; Varga, Authenticity as an Ethical Ideal, S. 16 f.  Für eine detailliertere Darstellung des Verhältnisses zwischen Authentizität und Autonomie siehe Varga, Authenticity as an Ethical Ideal, S. 17– 20 und Ferrara, Alessandro: Reflective Authenticity. Rethinking the Project of Modernity. London/New York 1998, S. 5 – 10.

1.3 Authentizität und Moral – Authentizität als moralische Obligation

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schen Lebensführung zur wichtigsten moralischen Obligation der Moderne entwickelte. Gerade diese moralische Ebene wurde in den Texten des zionistischen Diskurses von großer Bedeutung. Das, „was wir heute Identität nennen“, schreibt Taylor, wurde früher „weitgehend durch die gesellschaftliche Stellung des Einzelnen festgelegt“. Durch die Idee der Authentizität geriete diese Vorstellung jedoch an ihre Grenzen, denn Authentizität ließe „sich nicht aus der Gesellschaft ableiten, sie muß im Inneren und aus dem Inneren erzeugt werden“.²⁴ Die Ursachen dafür beschrieb Taylor ausführlich. Die ethische Komponente der Authentizität stützt sich laut Taylor „auf frühere Formen des Individualismus“.²⁵ Diese seien zwar bereits von Descartes und Locke formuliert worden, doch mit diesen sei der Authentizitätsbegriff nicht immer kongruent. Als „Kind der Romantik“ gehöre Authentizität in die romantische Tradition und stehe daher in gewisser Hinsicht im Widerspruch zu Descartesʼ und Lockes Vorstellungen von Individualismus.²⁶ Die Entstehung des Authentizitätsbegriffs als moralische Verpflichtung durchläuft laut Taylor drei Entwicklungsstufen: Neben der Individualisierung verlagerte sich im 18. Jahrhundert die Moral von außen nach innen. Es festigte sich sozusagen die Vorstellung, „die Menschen seien mit einem moralischen Sinn ausgestattet, einem intuitiven Gefühl für das, was richtig und was falsch“ sei.²⁷ Letztendlich wird dieser „moralische Akzent verdrängt“.²⁸ Die „Aufnahme der Verbindung“ zu seinem eigenen Inneren wird nun zur moralischen Obligation – zu einer Verbindung, die „wir erst erreichen müss[t]en, um als wahre und vollendete Menschen zu gelten“.²⁹ Diese neue Innerlichkeit wurde laut Taylor mit der von Johann Gottfried Herder formulierten Vorstellung kombiniert, die „besagt, daß jeder von uns seine eigene originelle Weise des Menschseins“ hätte:³⁰

 Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt a. M. 2009, S. 19.  Taylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne. Frankfurt a. M. 1995, S. 34. Dieselben Ideen fasst er auch in Taylor, Multikulturalismus, S. 16 f. zusammen.  Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, S. 34.  Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, S. 34.  Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, S. 35.  Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, S. 35.  Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, S. 38. Taylor bezog sich damit auf die folgende Aussage Herders: „Jeder Mensch hat ein eignes Maß, gleichsam eine eigene Stimmung aller sinnlichen Gefühlen zu einander […]“. Siehe Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Band 6. Achtes Buch. Hrsg.von Martin Bollacher. Frankfurt a. M. 1989, S. 287.

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1 Konzepte der Authentizität

Diese Idee ist ganz tief in das moderne Bewußtsein eingedrungen. Außerdem ist sie neu.Vor dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert ist es niemandem in den Sinn gekommen, den Unterschieden zwischen den Menschen käme diese Art von moralischer Bedeutung zu. Es gibt aber eine bestimmte Weise, Mensch zu sein, die meine Weise ist. Ich bin dazu aufgefordert, mein Leben in ebendieser Weise zu führen, ohne das Leben irgendeiner anderen Person nachzuahmen. Doch damit wird der Treue zu sich selbst neue Wichtigkeit verliehen. Wenn ich mir nicht treu bleibe, verfehle ich den Sinn meines Lebens; mir entgeht, was das Menschsein für mich bedeutet.³¹

Fragen dieser Art beschäftigten zahlreiche Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts.Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass gerade die Vertreter des Existentialismus die Entwicklung des Authentizitätsdiskurses vorantrieben. Kierkegaards Ausführungen zum Glauben; Nietzsches Überlegungen zur „Wahrheit“, „Wahrhaftigkeit“ und dem Übermenschen; Heideggers „Uneigentlichkeit“ und „Eigentlichkeit“; Sartres „mauvaise foi“ und Camusʼ Erläuterungen zur Moral – sie alle betrieben eine Ontologisierung und Essentialisierung des Seinsbegriffs und der Authentizität. Andererseits formulierten sie immer wieder einen an die Verwirklichung des eigenen Selbst gebundenen Aufruf zum Ablegen gängiger moralischer Konventionen. Der Diskurs der Authentizität bildete also einen Angelpunkt in den Philosophien der Neuzeit und Moderne, der in das Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft und zwischen vorgegebenen Normen und dem eigenen Selbst eingebettet ist.³²

1.4 Nationalismus und Authentizität Um auf die Begriffe von Lionel Trilling zu rekurrieren, vollzog sich im 19. Jahrhundert eine weitere Verschiebung moralischer Ideale, die für den Zionismus von entscheidender Bedeutung war. Die moralische Obligation, ein authentischer Mensch zu sein, wurde eng mit dem Nationalismus – laut George L. Mosse „der mächtigsten Ideologie der Moderne“ – verknüpft.³³ Der Nationalismus verspreche nach Nationalismusforscher und -kritiker Elie Kedourie einen passenden Rahmen

 Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, S. 38. Diese Idee spielte im zionistischen Diskurs eine besonders zentrale Rolle, denn als Stigmatisierung dieser Nachahmung wurde das negativ konnotierte Konzept der Assimilation entworfen. Zum Konzept der Assimilation siehe Kapitel 3 dieser Arbeit.  Vgl. Golomb, Jacob: In Search of Authenticity. From Kierkegaard to Camus. London/New York 1995, der diese einzelnen Aspekte in jeweiligen Kapiteln aufgreift.  Mosse, George: Nationalismus und Sexualität. Bürgerliche Moral und sexuelle Normen. München/Wien 1985, S. 9.

1.4 Nationalismus und Authentizität

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zu bieten, der sich an den speziellen Bedürfnissen seiner nach Selbsterfüllung und Selbstverwirklichung strebenden Mitglieder ausrichte.³⁴ Dabei ging es laut Kedourie um eine andere Idee, als die von den Akteuren der französischen Revolution propagierte. Deren Vorstellungen basierten auf der Positionierung des Menschen als „ein Element der natürlichen Ordnung“, das ein Recht auf „Freiheit und Gleichheit“ besitze. In der späteren nationalen Theorie sei es jedoch „gerade das Individuum, das sich auf Grund selbst gefundener und freiwillig angenommener Normen als freies und moralisches Wesen“ bestimme.³⁵ Kedouries Ausführungen verdeutlichen, dass die Selbstbestimmung des Individuums im Nationalismus auch deshalb eine zentrale Rolle spielt, weil Nationalismus an sich „im wesentlichen eine Doktrin der nationalen Selbstbestimmung“ sei und „in ihr die Quelle [fand], aus der sich seine große Lebenskraft speiste“.³⁶ Nach Kedourie würde damit die Selbstbestimmung zur obersten Priorität und die Nation im 19. und 20. Jahrhundert das Mittel eines kollektiven Strebens nach Selbstverwirklichung und Authentizität schlechthin.³⁷ Es handelte sich hierbei um ein Zusammenspiel zwischen individueller Selbstverwirklichung und kollektiver Zugehörigkeit. In Kedouries Worten: Über allen Zweifel steht jedoch fest, daß diese Doktrin [der Nationalismus] […] verkündet, daß die Angehörigen einer Nation Freiheit und Glück erlangen, indem sie die besonderen Wesenszüge ihrer eigenen Nation vervollkommnen und mit ihrer Person völlig in dem größeren Ganzen der Nation aufgehen.³⁸

Mit anderen Worten, der Nationalismus prätendiere den Individuen, sie seien freie und selbstbestimmte Menschen, die sich allein innerhalb der Nation als

 Kedourie, Elie: Nationalismus. München 1971 (Englisches Original von 1960).  Kedourie, Nationalismus, S. 23.  Kedourie, Nationalismus, S. 30.  Kedourie, Nationalismus, S. 28. Vor allem Johann Gottlieb Fichte schloss Immanuel Kants Überlegungen zum freien Willen in seine Vision eines Staates mit ein. Kedourie formulierte das folgendermaßen: „Das ist somit der eigentliche Kern der Forderung, um die es hier geht, daß nämlich der Staat die Freiheit des Menschen zu verwirklichen habe, und zwar nicht nur in einem äußerlichen und materiellen, sondern in einem innerlichen und geistigen Sinne. […] Die Individuen verschmelzen nach dieser Theorie ihren Willen mit dem des Staates, und durch diese Verschmelzung werden sie frei“ (S. 47). Kedourie weist an gleicher Stelle darauf hin, dass das „Element des Zwanges“ durch diese Identität von eigenem Willen und Staatswillen verdeckt wird: „Die Sprache, in der diese Theorie vom Staate vorgetragen wurde, ist geeignet, das Element des Zwanges zu verdecken, auf das keine Regierung verzichten kann“. Die Begrifflichkeit dieser Lehre behandelte somit „politische Fragen unter dem Gesichtspunkt der Entfaltung und inneren Erfüllung, der persönlichen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung“ (S. 47 f.).  Kedourie, Nationalismus, S. 75.

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1 Konzepte der Authentizität

authentische Menschen entfalten können. Zum Erreichen ihrer Freiheit wären die Menschen jedoch dazu verpflichtet, sich vollkommen ihrer Nation unterzuordnen. Diese Unterordnung wirft die Frage auf, ob die vermeintliche Authentizität ihrer Mitglieder philosophisch überhaupt haltbar ist. Kritisch betrachtet müsste diese Frage verneint werden. Um jedoch dem nationalen Verständnis von Authentizität im 19. und 20. Jahrhundert gerecht zu werden, sollte die Antwort im Jargon der Zeit gegeben werden: Die feste Überzeugung von der Existenz von Nationen und einer nationalen Prädestinierung jedes Menschen gaben aus nationalistischer Sicht tatsächlich den Rahmen vor, in dem die Selbstverwirklichung möglich sei. Das Konzept des Authentischen beziehungsweise der Authentizität ist daher für die individuelle Selbstverwirklichung, die seit dem 19. Jahrhundert für den Menschen als moralische Obligation galt, in jeder nationalen Bewegung von wesentlicher Bedeutung. Sowohl im deutschen Nationalismus, als auch im deutschen Zionismus bildet das Konzept des Authentischen damit einen entscheidenden Faktor zur Selbstverortung.³⁹ In der Forschung wurde ausführlich diskutiert, ab wann man von einem Phänomen als „Nationalismus“ sprechen könne. Die Komplexität der Erscheinung rechtfertigt die Divergenz der Meinungen. Die beiden Hauptpositionen bilden die Primordialisten, die das Bestehen von Nationen oder nationsähnlichen Gruppierungen historisch möglichst früh ansetzen. Die Gegenposition wird durch Modernisten vertreten, die Nationalismus als ein ausschließlich modernes Phänomen begreifen. Wenn man dem Aspekt des Individualismus Gewicht schenkt, dann scheint es plausibel, sich den Modernisten anzuschließen. Hinzu kommt, dass nicht nur die Idee, dass der einzelne Mensch ein Selbst habe, sondern vor allem auch die Idee, dass er dieses Selbst verwirklichen müsse, in die Moderne gehört. Folgt man also den Wissenschaftlern, die ein solches Selbst in der Moderne verorten und zieht man nun eine der Ausgangsthesen der vorliegenden Arbeit hinzu, und zwar, dass die Verwirklichung eines authentischen Selbst einen der Hauptaspekte des Zionismus bilde, so kann man den Modernisten zustimmen, und argumentieren, dass zumindest jene Nationalismen zur Moderne gehören, die dem Individuum diese zentrale Position geben.

 Betrachtet man diese Zusammenhänge, erscheint es etwas zu einfach, wenn Uri R. Kaufmann das Konzept der „Selbstverwirklichung“ im Zionismus lediglich auf die deutsche Jugendbewegung zurückführt. Siehe Kaufmann, Uri R.: Kultur und „Selbstverwirklichung“. Die vielfältigen Strömungen des Zionismus in Deutschland 1897– 1933. In: Janusfiguren. „Jüdische Heimstätte“, Exil und Nation im deutschen Zionismus. Hrsg. von Andrea Schatz und Christian Wiese. Berlin 2006, S. 43 – 60, hier S. 48.

1.5 Nationale Kultur, Folklore und Authentizität

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1.5 Nationale Kultur, Folklore und Authentizität Zur „Erfindung“ einer Nation gehörten auch im Zionismus die Erschaffung einer authentischen „Kultur“ und authentischer „Traditionen“.⁴⁰ Dieses Verhältnis zwischen dem Individuum und der Nation, das hier durch die Konstruktion oder „Imagination“ per se bestimmt ist, wurde von modernistischen Nationalismusforschern wie Eric Hobsbawm und Benedict Anderson ausführlich beschrieben.⁴¹ Gerade in der kulturellen Sphäre wird so die Bedeutung des Zionismus für zionistische Denkerinnen und Denker deutlich. Die Idee, man könne nur in der eigenen nationalen Kultur ein „wahrer“ und „authentischer“ Mensch sein, bildet hier einen zentralen Bestandteil. Aus ethnosymbolischer Perspektive, einer Haltung die sich zwischen den Positionen der Modernisten und Primordialisten positioniert, wurde dahingegen argumentiert, dass die „Suche nach dem nationalen Selbst und dem Verhältnis des Individuums zu ihm eines der unergründlichsten Elemente im nationalistischen Projekt“ darstelle.⁴² Ethnosymbolist Anthony D. Smith zählte zwar zahlreiche Gründe auf, warum „die Nation“ eine moderne Idee sei.⁴³ Nationalisten, so

 Vgl. hierzu den Klassiker von Eric Hobsbawm und Terence Ranger (Hrsg.): The Invention of Tradition. Cambridge/New York 1983. Dieses Werk inspirierte zahlreiche Dekonstruktionen von Authentizität, auch wenn Hobsbawm selbst in der Einleitung noch in bestimmter Hinsicht von authentischen bzw. „genuinen“ Traditionen spricht. Vgl. Groth, Susan Charles T.: Challenging the Big Words. Folk Revival meets Authenticity, Politics, and Reflexivity. In: The Folklore Historian 16 (1999), S. 20 – 42, hier S. 23.  Vgl. Hobsbawm, Eric: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt a. M./Wien 1992; Anderson, Benedict: Imagined Communities. London/New York 1991 [1983]. „Men really love their culture“, schreibt auch Nationalismusforscher Ernest Gellner, „because they now perceive the cultural atmosphere (instead of taking it for granted), and know they cannot really breathe or fulfil their identity outside it“ (Gellner, Ernest: Nations and Nationalism. Oxford 1983, S. 111).  Smith, Anthony D.: National Identity. Reno/Las Vegas 1991, S. 17. Hervorhebung d. Verf.  Smith, National Identity, S. 69. Dazu gehören für ihn „ein vereinheitlichter Rechtscodex mit gemeinsamen Rechten und Pflichten“, eine „vereinheitliche Wirtschaft mit einer einheitlichen Arbeitsteilung und Mobilität von Gütern und Personen im nationalen Territorium“, inklusive eines „ziemlich kompakten Territoriums, vorzugsweise mit ,natürlichen’ verteidigungsfähigen Grenzen“, und „einer einheitlichen ,politischen Kultur‘ und öffentlicher Massenbildung und einem Massenmediensystem, um zukünftige Generationen als ,Bürger‘ der neuen Nation zu sozialisieren“. Smith zeigt zusätzlich, wie die „soziale Bindung“ zwischen den Individuen und Klassen einer Nation durch „gemeinsame [kulturelle, Anm. d. Verf.] Werte, Symbole und Traditionen“ forciert würde. So bekämen Individuen durch Symbole wie „Flaggen, Münzen, Hymnen, Uniformen, Monumente und Zeremonien“ nämlich „ihr gemeinsames Erbe und kulturelle Verwandtschaft“ eingeschärft. Als Resultat fühle sich das Individuum „gestärkt“ und „erhaben durch ihr Gefühl der gemeinsamen Identität und Zugehörigkeit“. Die Nation werde so zu einer „faith-

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1 Konzepte der Authentizität

argumentierte Smith jedoch weiter, würden die Nation, beziehungsweise die Ethnie als etwas Ursprüngliches betrachten, als etwas, das schon immer existiert hätte und daher kein Konstrukt sei.⁴⁴ Bezogen auf die nationale Kultur gilt für Smith die für den Nationalismus zutreffende modernistische Herangehensweise daher nur unzureichend. Damit würde auch deutlich, inwiefern es sich bei der Nation um ein „multidimensionales Konzept“ handelt.⁴⁵ Die „nationale Identität“ sei, im Gegensatz zum Nationalismus, der in erster Linie als „Ideologie und Bewegung“ zu verstehen sei, „ein kollektives kulturelles Phänomen“.⁴⁶ Smith erklärte: Nationalism signifies the awakening of the nation and its members to its true collective “self”, so that it, and they, obey only the “inner voice” of the purified community. Authentic experience and authentic community are therefore preconditions of full autonomy, just as only autonomy can allow the nation and its members to realize themselves in an authentic manner.⁴⁷

Die Verwendung von Begriffen wie „authentic experience“ und „authentic community“ signalisieren hier die ethnosymbolische, emotionale und gefühlvolle Haltung Smiths, die aus modernistischer Sicht jedoch nicht geteilt wird. In letzterer werden auch die Rückgriffe auf ältere Symbole als Teil der „Erfindung“ und „Imagination“ der Nation kategorisiert. Die Analyse der künstlerischen Produktionen ist daher besonders wichtig für das Verständnis des Zionismus im Allgemeinen und für das Verhältnis zwischen dem zionistischen Individuum und der jüdischen Nation im Speziellen.⁴⁸ Die zionistischen Denker wollten sich als auachievement group“, die Hindernisse und Nöte überwinden könne (Smith, National Identity, S. 17).  Vgl. Smith, National Identity, S. 70: „What, after all, is the raison d’être of any nation (as opposed to state), if it is not also the cultivation of its unique (or allegedly unique) culture values? Ethnic distinctiveness remains a sine qua non of the nation, and that means shared ancestry myths, common historical memories, unique cultural markers, and a sense of difference, if not election – all the elements that marked off ethnic communities in pre-modern eras“.  Smith, National Identity, z. B. S. 43.  Smith, National Identity, S. VII. Hervorhebung d. Verf.  Smith, National Identity, S. 76 f. Siehe auch bei Kedourie, Nationalismus.  Smith bemerkte hierzu: „[A]rtists and their work were able to provide memorable images of abstract notions like ,nation‘ and ,national identity‘, and to translate them into palpable and widely accessible ,reality‘“ (Smith, Anthony D.: The Nation Made Real. Art and National Identity in Western Europe 1600 – 1850. Oxford 2013, S. 5). Diese „einprägsamen Bilder“ reflektieren damit in Smiths Sicht in einzigartiger Weise das Verhältnis des Individuums zur „abstrakten“ Nation. Aus modernistischer Sicht gestaltet sich der Zusammenhang umgekehrt: Die künstlerischen Produktionen sind Teil der „Erfindung“ und „Imagination“ der Nation vonseiten der Nationalisten.

1.6 Dekonstruktion der Idee der Authentizität

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tonome, selbstbestimmte und echte, unverfälschte, kurz, als nationale und authentische Menschen innerhalb einer gleichsam nationalen wie authentischen Kultur verorten. Besonders für den Zusammenhang des authentischen Selbst spielten in der Wahrnehmung der zionistischen Kulturtheoretiker und -schaffenden daher die zionistische Kunst, Kultur und Literatur herausragende Rollen. Dieses Konstrukt und die „Erfindung“ der nationalen Kultur oder Folklore spielen im Nationalismus also eine entscheidende Rolle und werden oftmals unter dem Begriff der Folklore subsumiert.Wie Regina Bendix ausführt, „folklore, in the guise of native cultural discovery and rediscovery, has continually served nationalist movements since the Romantic era“.⁴⁹ Kulturelle Entdeckung und Wiederentdeckung sind als Phänomene der „reflexiven Modernisierung“ zu verstehen. In Bendixʼ Worten: The quest for authenticity is a peculiar longing, at once modern and antimodern. It is oriented toward the recovery of an essence whose loss has been realized only through modernity, and whose recovery is feasible only through methods and sentiments created in modernity.⁵⁰

Das Streben nach einem authentischen Selbst „is intertwined with the attempt to locate or articulate a more authentic existence“,⁵¹ und diese authentische und unverfälschte Existenz wurde auch von den zionistischen Autoren oftmals in einer genuinen jüdischen Volkskultur gesehen.

1.6 Dekonstruktion der Idee der Authentizität Das Konzept der Authentizität hat in verschiedenen Disziplinen Kritik erhalten.⁵² Einer der prominentesten Kritiker ist sicherlich Theodor W. Adorno.⁵³ Sein Werk Jargon der Eigentlichkeit beinhaltet eine kategorische Kritik an den Philosophien Martin Heideggers, Karl Jaspersʼ und Otto Friedrich Bollnows, sowie am „Jargon der Eigentlichkeit“ beziehungsweise der Authentizität.⁵⁴ Adorno argumentiert,

 Bendix, In Search of Authenticity, S. 7.  Bendix, In Search of Authenticity, S. 8.  Bendix, In Search of Authenticity, S. 18.  So zog beispielsweise Christopher Lasch Parallelen zwischen Authentizität und der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Siehe Lasch, Christopher: The Culture of Narcissism. American Life in an Age of Diminishing Expectations. New York 1979. Für weitere Kritik siehe Varga, Authenticity as an Ethical Ideal, S. 25 f.  Vgl. zu dem Folgenden auch Varga, Authenticity as an Ethical Ideal, S. 26 f.  Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Frankfurt a. M. 1964.

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1 Konzepte der Authentizität

dass jener Jargon dem Nationalsozialismus in den 1920er-Jahren nicht nur den Weg mitbereitet, sondern auch die deutsche Sprache der Nachkriegszeit maßgeblich dominiert habe. Heideggers Sein und Zeit hätte „seinen Nimbus“ erlangt, „weil es als einsichtig beschrieb, als gediegen verpflichtend vor Augen stellte, wohin es den dunklen Drang der intelligentsia vor 1933“ getrieben habe.⁵⁵ Zu eben diesem Jargon rechnet Adorno Begriffe wie „existentiell, ,in der Entscheidung‘, Auftrag, Anruf, Begegnung, echtes Gespräch, Aussage, Anliegen, Bindung, etc.“⁵⁶ Ein solcher Jargon sorge „dafür, daß, was er möchte, in weitem Maß ohne Rücksicht auf den Inhalt der Worte gespürt und akzeptiert wird“.⁵⁷ Der Effekt, „[d]aß die Jargonworte, unabhängig vom Kontext wie vom begrifflichen Inhalt, wie wenn sie ein Höheres sagten, als was sie bedeuteten, wäre mit dem Terminus Aura zu bezeichnen“.⁵⁸ Unter Rückgriff auf Walter Benjamins Begriff der Aura, argumentiert Adorno, wie die Begriffe dieses Jargons gleichzeitig dessen „Verfallsprodukte“ seien.⁵⁹ Der Jargon bediene sich einer „mitgeschleifte[n] Metaphysik“.⁶⁰ Zudem trete dieser Jargon mit einem „Kultus von Innerlichkeit“ zu Tage, den Adorno ebenso kritisiert.⁶¹ Im Jargon der Eigentlichkeit würden Ideen oder Ideale von Authentizität einer real existierenden Wirklichkeit zugeordnet, in dem argumentiert wird: „Wesenhaftes sei wirklich – und mit demselben Streich: Seiendes sei wesenhaft, sinnvoll, gerechtfertigt“.⁶² Heideggers Vorstellung der Uneigentlichkeit würde in sich „sämtliche Kategorien des Man“ subsumieren, „in denen ein Subjekt nicht es selbst, in denen es unidentisch mit sich sei“.⁶³ Heideggers Klassifizierung von Authentischem und „Unauthentischem“ reflektiert damit nach Adorno nicht nur die problematische Markierung von Authentizität, sondern auch eine kritikwürdige essentielle Definition des menschlichen Selbst. Michel Foucault prognostizierte, „dass der Mensch […] wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ verschwinden würde.⁶⁴ Die Idee eines „versteckten authentischen Selbst“ beurteilte Foucault kritisch. Damit nahm er Abschied von der Vorstellung des Menschen als innerliches „authentisches“ Wesen, nicht jedoch

 Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, S. 8.  Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, S. 9.  Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, S. 11.  Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, S. 11 f.  Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, S. 12.  Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, S. 16.  Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, S. 63.  Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, S. 101.  Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, S. 101.  Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. 2012, S. 462.

1.6 Dekonstruktion der Idee der Authentizität

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als äußerliche „Konfiguration“.⁶⁵ Gleichermaßen distanzierte sich Foucault von der Idee des Menschen als ein frei handelndens Wesen, das sein Selbst aus sich selbst ableiten und selbständig handeln könne.Vielmehr bewege sich der Mensch fernab solcher Begriffe konstruierter Authentizität in vorgefertigten Diskursen. Foucault verstand Diskurs nicht als „Gesamtheit von Zeichen“, sondern „als Praktiken […], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. […] Dieses mehr muß man ans Licht bringen und beschreiben“.⁶⁶ Diskurse würden sich nicht unkontrolliert bilden, sondern, wie Foucault seine Prämisse dahingehend formulierte: „Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird […]“.⁶⁷ Auch in dieser Arbeit soll die Idee der Authentizität im zionistischen Kontext als diskursiv generiert verstanden werden. Judith Butlers diskursanalytische Betrachtungen zum Geschlechterdiskurs dekonstruierten geschlechterspezifische Vorstellungen von Authentizität. Butler sah diese Vorstellungen von Authentizität „als Effekte einer spezifischen Machtformation“ und nicht im Zusammenhang mit einer „inneren Wahrheit des weiblichen Geschlechts“ beziehungsweise „einer genuinen, authentischen Sexualität“.⁶⁸ Foucaults und Butlers Ansätze haben schon längst in den Jüdischen Studien Anklang gefunden. Dort kreist der Diskurs der Authentizität um den Begriff des „Jüdischen“. Laurence J. Silberstein bemängelte beispielsweise, dass Forschungen zum Jüdischsein meist darauf basierten, dass „certain attitudes, beliefs, or practices“ einer authentischen jüdischen „Identität“ eine Voraussetzung der Erforschung des Jüdischseins bilden würden.⁶⁹ Mit anderen Worten, Forscherinnen und Forscher postulierten häufig ein authentisches Jüdischsein a priori, das aber in Wirklichkeit lediglich ein Konstrukt ausmache, beziehungsweise „predetermined patterns“ des Jüdischen repräsentiere.⁷⁰ Zu einer Alternative essentialistischer Vorstellungen vom Jüdischsein würde man laut Silber-

 Vgl. Varga, Somogy und Charles Guignon: Authenticity. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2014 Edition). Hrsg. von Edward N. Zalta. http://plato.stanford.edu/archives/ fall2014/entries/authenticity/ (27. 2. 2015); Varga, Authenticity as an Ethical Ideal, S. 27.  Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1981, S. 74.  Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M. 2014, S. 10 f. Das Zitat geht weiter: „[…] – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen“.  Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991, S. 9.  Silberstein, Mapping Jewish Identities, S. 1.  Silberstein, Mapping Jewish Identities, S. 1.

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1 Konzepte der Authentizität

stein durch die Umsetzung von Judith Butlers Ansätzen gelangen. Indem von einer essentiellen Vorstellung des Jüdischen Abstand genommen soll, würden „terms like Jew, Judaism, and Jewish into a site of ,permanent openness and resignifiability‘“ transformiert.⁷¹ Damit würden sie auch von den „essentialist, sometimes racialist ontologies to which they have often been restricted“ befreit werden.⁷² Die Idee der Authentizität hat im Laufe der Geschichte eine ähnliche Entwicklung wie andere Ideale der Aufklärung erfahren. Zwar wurde sie zunächst aus den Idealen der Selbstbefreiung und -bestimmung geboren, prallte dann aber in Verbindung mit dem in Deutschland erstarkenden Nationalismus an entscheidende Grenzen, erlebte ideologisch eine Radikalisierung und wurde schließlich sukzessive und zu Recht dekonstruiert. Der zionistische Diskurs manifestierte sich noch fernab von einer Dekonstruktion der Authentizität im Sinne des Strebens nach einem authentischen Selbst. Für sie galt, was zuvor in diesem Kapitel besprochen wurde. Der zionistische Denker Adolf Böhm (1873 – 1941) glaubte übrigens bereits 1920 die in diesem Kapitel besprochenen Zusammenhänge auch im Zionismus zu erkennen. Er bespricht zunächst den Prozess der Individualisierung und dessen Bedeutung für Jüdinnen und Juden, da sich im Zuge der immer stärkeren „Differenzierung der Persönlichkeit“ auch eine „Loslösung des einzelnen von aller Gemeinschaftsbindung“ ereignet hätte. Da das Judentum jedoch immer noch darauf bestanden hätte, dass jeder einzelne „restlos“ in ihm aufging, hätte es die „modernen“ Juden dazu gebracht, das Judentum als rückständig zu sehen, da das „Zusammenkleben der einzelnen in einer quasi amorphen Masse“ abstoßend sei.⁷³ Schließlich argumentiert Böhm, inwiefern „der Zionismus“ dem Individuum die nötige zentrale Position einräumte: Erst im modernen Zionismus ist eine jüdische Bewegung entstanden, die einerseits der späteren Wendung der europäischen Entwicklung zu einer stärkeren Betonung der durch Natur und Geschichte der Gemeinschaft gegebenen Bedingtheit des Individuums entsprach, andrerseits den Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft sich zum Ziel ihres Strebens setzte, in der für die freie Entfaltung des Persönlichen Raum bleiben könnte.⁷⁴

 Silberstein, Mapping Jewish Identities, S. 13. Silberstein zitiert hier Butler, Judith: Contingent Foundation. Feminism and the Question of „Postmodernism“. In: Feminists Theorize the Political. Hrsg. von Judith Butler und Joan W. Scott. New York/London 1992, S. 3 – 21, hier S. 16.  Silberstein, Mapping Jewish Identities, S. 13.  Adolf Böhm: Die zionistische Bewegung. Die Bewegung bis zum Tode Herzls. Berlin 1920, S. 15.  Böhm, Die zionistische Bewegung, S. 15. Hervorhebung d. Verf.

1.6 Dekonstruktion der Idee der Authentizität

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Der Zionismus repräsentiert laut Böhm demnach beides, sowohl eine gemeinsame Bewegung, als auch eine Möglichkeit, sich individuell zu entfalten. Er fasste damit – gleichwohl unwissentlich – die in diesem Kapitel besprochenen Aspekte sehr treffend zusammen.

2 Authentizität und Geschlechtsspezifität im national-jüdischen und proto-zionistischen Denken „Die Gegensätze sind hier grell gepaart, Des Griechen Lustsinn und der Gottgedanke Judäas! Und in Arabeskenart Um beide schlingt der Efeu seine Ranke“. – Heinrich Heine¹

Für die proto-zionistische Epoche konzentriert sich die wissenschaftliche Analyse des frühen national-jüdischen Diskurses konventionell auf wenige Quellen. Meist beschränkt sich der Fokus auf Moses Hessʼ (1812 – 1875) Rom und Jerusalem von 1862, das gemeinhin als die erste Manifestation des modernen zionistischen Gedankens und des säkularen Jüdischseins in den deutschen Ländern angesehen wird.² Die Wiederentdeckung des national-jüdischen Romans Jüdische Familienpapiere. Briefe eines Missionairs von Wilhelm Herzberg (1827– 1897) ergänzt die bisherige Forschung zum frühen deutschen national-jüdischen Diskurs maßgeblich. Herzbergs seinerzeit enorm erfolgreicher Roman bietet eine außergewöhnliche Fülle an Material für das Studium der Suche nach einem authentischen jüdischen Selbst im Zusammenhang mit einer jüdischen Nation. Eine gründliche Analyse derartiger Quellen offenbart somit wichtige Einsichten und Zusammenhänge, stellen belletristische Werke im Allgemeinen doch immer noch „an underutilized source for social and intellectual historians of German Jewry“ dar.³ Der Roman wirft zudem die Frage auf, ob und inwieweit national-jüdische Ideen bereits weiter verbreitet waren, als gemeinhin angenommen wird. Es ist auch nicht auszuschließen, dass Herzberg gar Ideen aus Moses Hessʼ Rom und Jerusalem aufgreift, was die konventionelle Annahme, dass Hessʼ Ideen seinerzeit nicht rezipiert wurden, infrage stellen würde.⁴ Auch für diskursanalytische An-

 Heine, Heinrich: Für die Mouche. In: Heinrich Heine.Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 2. Berlin 1961, S. 445 – 450, hier S. 447.  Hess, Moses: Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätsfrage. Briefe und Noten. Leipzig 1862.  Schorsch, Ismar: The Myth of Sephardic Supremacy in Nineteenth-Century Germany. In: Sephardism. Spanish Jewish History and the Modern Literary Imagination. Hrsg. von Yael HaleviWise. Stanford (CA) 2012, S. 35 – 57, hier S. 47.  Es gibt für die Nicht-Rezeption unzählige Belege in der Forschung, beispielsweise Eloni, Yehuda: Zionismus in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914. Gerlingen 1987, S. 34. Größtenteils, so wird argumentiert, läge das daran, dass Rom und Jerusalem „poorly written“ und sein Aufbau https://doi.org/10.1515/9783110546019-004

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sätze über frühes jüdisches Nationaldenken – die sich bisher vor allem auf Hessʼ gegennarrativische Abgrenzung von Reformjudentum und Orthodoxie, sowie auf das binäre Modell „Hebräer–Hellenen“ beschränkten – zeigen sich wichtige weitere Paradigmen. Dazu gehören unter anderem die Erschaffung von Gegennarrativen zum Christentum und die Einbettung des jüdisch-nationalen Authentizitätsdiskurses in den Diskurs der Moderne.⁵ Der zweite, bisher wenig beachtete Gesichtspunkt bezieht sich auf die geschlechtsspezifische Ausrichtung national-jüdischer und proto-zionistischer Schriften. Der Roman Herzbergs bietet auch hier einiges an aufschlussreichem Material. Solche Einblicke werden durch den Anhang des Werks Das Hohelied, das 1871 vom Proto-Zionisten Joseph Natonek (1813 – 1892) herausgegeben wurde, bereichert.⁶ Darin beschreibt Natonek die Rolle der jüdischen Frau im jüdischen Nationalismus und formuliert damit tatsächlich den vermutlich ersten Text, der die Geschlechtsspezifität der jüdischen Nation zu umreißen versuchte. Natonek, der als Herausgeber des wenig bekannten ersten deutschsprachigen zionistischen Periodikums Das einige Israel fungierte, verweist in seinen dort veröffentlichten Beiträgen explizit auf Moses Hess, so dass in diesem Fall die These der NichtRezeption von Rom und Jerusalem ausdrücklich widerlegt werden kann.

„even worse than that of his other books“ sei (Avineri, Shlomo: Moses Hess. Prophet of Communism and Zionism. New York 1985, S. 175). Hess-Forscher Edmund Silberner schreibt: „Rom und Jerusalem ist trotz seiner etwas verworrenen Form ein äußerst eindrucksvolles Buch“ (Silberner, Edmund: Moses Hess. Geschichte seines Lebens. Leiden 1966, S. 392). Martin Buber gibt der Struktur einen positiven Aspekt: „Not that the latter can be described as a satisfactory book. It is shapeless and lacks cohesion; but it works like a new discovery. The more it is read, the more remarkable appears this man, who seems to wield a magic wand wherewith to reveal hidden veins of gold“ (Buber, Martin: Moses Hess. In: Jewish Social Studies 7 (April 1945), No. 2, S. 137– 148, hier S. 137). Der Hess-Forscher Ken Koltun-Fromm schließlich argumentiert, dass „the confusions and tensions embedded throughout Rome and Jerusalem produce a meaningful testament and witness to the complexity of modern (and even post-modern) Jewish identity“ (Koltun-Fromm, Ken: Moses Hess and Modern Jewish Identity. Bloomington/Indianapolis 2001, S. 2).  Beides geschieht bei Hess nur am Rande. Zur Kritik an der Moderne bei Hess siehe Avineri, Moses Hess, S. 177. Zum Verhältnis zum Christentum siehe ebd. S. 181, 184, 213. Zu Hessʼ Kritik an der Emanzipation der Juden siehe ebd. S. 192 f.  ‫ המחבר מדבר‬.(‫ מבאר ומתרגם מאת החכם בנימין הלוי האללענדער מעיר לעאבשיטץ )אבערשלעזיען‬.‫שיר השירים‬ ‫ גם סלסול נשים יקרות מתנוססות מימות‬:‫ הבאתיו למכבש והוספתי עליו נגהות‬.‫נכבדות מיתרין חמת נפש בת ישראל‬ ‫ להחיות אמנה בישראל יוסף נטענק‬,‫עולם בקרות ישראל‬. Das Hohelied. Eine Verherrlichung des isr Frauencharakters hebräisch commentirt und deutsch übersetzt von Benjamin Hollaender aus Leobschütz (Oberschlesien) vermehret mit lexikalischen Erklärungen; einer deutschen Paraphrase des Hohenliedes; einem historischen Charakterbilde ausgezeichneter israelitischer Frauen, zur Belebung von patriotischen Gesinnungen herausgegeben von Josef Natonek. Ofen 1871.

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2 Authentizität und Geschlechtsspezifität

2.1 Das „authentische Selbst“ bei den Proto-Zionisten Moses Hessʼ Rom und Jerusalem ist ein frühes national-jüdisches Werk, in welchem die Gründung eines jüdischen Reiches in Palästina vertreten wurde. Dass es Moses Hess jedoch nicht nur um eine kollektive nationale Lösung, sondern auch gerade um das Streben nach einem authentischen Selbst ging, wird bereits im Vorwort von Rom und Jerusalem deutlich.⁷ Hess betonte in seinem maßgeblich von Heinrich Graetz (1817– 1891) beeinflussten Werk, dass die wirkliche Freiheit eines authentischen Selbst nur derjenige erreiche, der im Einklang mit „seiner Natur“ stehe. So schreibt er: „Frei im natürlichen Sinne ist jedes Wesen, das seiner eignen Bestimmung, seinem innern Berufe oder seiner Natur gemäß leben und, von Außen ungehemmt, sich entwickeln kann“.⁸ Hessʼ Verständnis von Authentizität war damit unmittelbar an die Freiheit gekoppelt, die das Individuum erreiche, sobald es seiner individuellen „Bestimmung“, seinem individuellen „Berufe“ – kurz, seiner „Natur“ – folge. Hess ergänzte diese Vision mit dem Gedanken einer „sittlichen Freiheit“. „Sittlich frei“ sei „nur dasjenige Wesen, welches mit Bewußtsein und Willen seiner Bestimmung gemäß lebt, dessen Wille mit dem Gesetze oder Willen Gottes übereinstimmt“.⁹ Die freiheitliche Selbstbestimmung wurde bei Hess eingegrenzt, da er eine sittliche Selbstverwirklichung in Rom und Jerusalem an die „Gesetze“ und den „Willen Gottes“ knüpfte. Um sittliche Freiheit zu erreichen, müsse der Mensch

 Der Hess-Forscher Avineri stellte in seiner Monographie Hess als einen Menschen dar, der bereits seit seinen ersten Werken an jüdischen Themen interessiert war. Schon in seinem ersten Werk Die heilige Geschichte der Menschheit die, neben dem ersten Entwurf einer sozialistischen Gemeinschaft, eine „expression of problems of identity and self-consciousness characteristic of a first-generation emancipated Jewish intellectual in early nineteenth-century Germany“ enthält, würde dies deutlich (Avineri, Moses Hess, S. 23). Die heilige Geschichte der Menschheit beginnt mit dem biblischen Abraham und läuft über Jesus bis hin zu Spinoza, der eine neue Zeit begründete (S. 32 f.). Das Zentrum bilden hier „the Jewish people and its heritage“ und zu diesem Erbe gehören sowohl Jesus als auch Spinoza (S. 28). Dies war nach Avineri eine „programmatic revolution in modern European historiography“, da so dem Judentum eine paradigmatische Rolle in der Geschichte zugesprochen wurde. Auch in seinem zweiten Werk Die europäische Triarchie besprach Hess die jüdische Emanzipation und ihre „Ambiguität“ (S. 72). Als Beispiel verwies Hess auf die Situation der „Mischehe“. Seiner Meinung nach unterband die Abwesenheit der Zivilehe, also die Anforderung der Konversion zum Christentum, die einer Eheschließung zwischen Juden und Christen vorangehen musste, die Integration der Juden in Europa (S. 74). Hess hatte also auch in seinen anderen Werken großes Interesse an jüdischen Themen bekundet, dennoch rief die Veröffentlichung von Rom und Jerusalem im Jahr 1862 große Verwunderung unter seinen Bekannten hervor (S. 17 f.).  Hess, Rom und Jerusalem, S. 81.  Hess, Rom und Jerusalem, S. 81.

2.1 Das „authentische Selbst“ bei den Proto-Zionisten

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in Harmonie mit seiner Bestimmung leben, die ihrerseits wiederum an das Gesetz Gottes geknüpft sei. Dass diese Aussagen eher untypisch für einen Sozialisten erscheinen, sei hier nur am Rande bemerkt.¹⁰ Der national-jüdische Roman Jüdische Familienpapiere von Wilhelm Herzberg erschien 1868.¹¹ Auf eine Vorrede folgen 29 Briefe, die durch ein Konvolut sogenannter „Familienpapiere“ ergänzt werden, dem der Roman seinen Titel verdankt.¹² Dr. Wilhelm (Seʼev Ben Reuven) Herzberg wurde am 27. Januar 1827 in Stettin in Preußen geboren.¹³ Damit war er Zeitgenosse von Heinrich Graetz (1817– 1891), Leon Pinsker (1821– 1891), Joseph Natonek (1813 – 1892), Isaak Rülf (1831– 1902) und Moses Hess (1812 – 1875). Mit den meisten dieser geographisch weit verteilten Persönlichkeiten pflegte Herzberg auch Kontakt.¹⁴ Er studierte sowohl in Deutschland als auch in Frankreich und verfügte zudem über ein umfangreiches Fachwissen in der englischen Literatur. Nachdem er seinen Doktortitel in Philosophie erhalten hatte, unterrichtete er ein Jahr an einem Gymnasium in Stettin. Eine Festanstellung lehnte der dortige Bildungsminister jedoch ab, da Herzberg Jude war. Aus diesem Grund musste er seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer in Hamburg und als Autor bestreiten. Zeitweise lebte er bei seinen drei Brüdern, die in Berlin, London und St. Petersburg ansässig waren. 1877 schließ-

 Vgl. zu Hessʼ Säkularismus und dem Einfluss von Spinoza auf sein Denken Biale, David: Not in the Heavens. The Tradition of Jewish Secular Thought. Princeton/Oxford 2011, S. 104– 111.  Meinhardt, Gustav [Herzberg, Wilhelm]: Jüdische Familienpapiere. Briefe eines Missionairs. Hamburg 1868. Vgl. zum Folgenden auch Herrmann, Manja: Proto-Zionism Reconsidered: Wilhelm Herzberg’s Early German-Jewish Nationalist Novel ‘Jewish Family Papers’ and the Discourse of Authenticity. In: LBIYB 62 (2017), S. 1– 17.  Auf Deutsch ist bis auf den heutigen Tag lediglich ein ausführlicher Artikel zum Autor Wilhelm Herzberg und seinem Werk erschienen. Zudem befinden sich in der Einleitung zur hebräischen Ausgabe der Jüdischen Familienpapiere – ‫משפחה עבריים‬-‫ – כתבי‬biographische Angaben (Michael, Reuven: Dr. Wilhelm Herzberg (1827– 1897). Eine lückenhafte Biographie. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 65 (1983), S. 53 – 85; Dr. Wilhelm Herzberg, ‫[ כתבי משפחה עבריים‬Kitvei mischpachah ʻivriim]. ‫ ולשכת ירושלים בירושלם‬:‫לשכת הגליל הגדולה מספר י“ד לאגודת חורין בני ברית בא“י‬. Jerusalem 1930, S. 10 – 22 [Hebräisch]). Die Biographie in der hebräischen Ausgabe bezieht sich auf den Nachruf von David Yellin in der Zeitschrift HaMelitz, auf das Buch von Dr. Josef Meisl (Heinrich Graetz. Eine Würdigung des Historikers und Juden zu seinem 100. Geburtstage 31. Oktober 1917 (21. Cheschwan). Berlin 1917) und auf Jeschajahu Press: ‫ מזכרונות איש‬.‫מאה שנה בירושלים‬ ‫[ ירושלים‬Meʼah schanah biruschalajim. Misichronot ʼisch jeruschalajim]. Jerusalem 1964. Die folgenden biographischen Angaben basieren, wenn nicht anders angegeben, auf diesen Quellen.  Herzbergs Vater, Ruben Herzberg, war im Oktober 1822 nach Stettin gekommen. Vgl. Peiser, Jacob: Die Geschichte der Synagogengemeinde zu Stettin. Würzburg 1965, S. 104 f.  Zum Briefwechsel zwischen David Kaufmann und Leopold Zunz zur Person und zum Werk von Wilhelm Herzberg siehe Thulin, Mirjam: Kaufmanns Nachrichtendienst. Ein jüdisches Gelehrtennetzwerk im 19. Jahrhundert. Göttingen 2012, S. 307– 313.

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lich, als ein neuer Direktor für die landwirtschaftliche Schule „Mikwe Israel“ der Alliance Israélite Universelle in Palästina gesucht wurde, schlug Heinrich Graetz Wilhelm Herzberg für dieses Amt vor. Im Herbst 1877 erreichte Herzberg mit seiner Familie Palästina, doch schon nach anderthalb Jahren wurde ihm diese Stelle wieder gekündigt. Im Winter 1879 ließ sich Herzberg schließlich in Jerusalem nieder und gründete unter großem Widerstand der dortigen jüdischen Gemeinden ein deutsch-jüdisches Waisenhaus.¹⁵ Als dessen Direktor verfasste Herzberg außerdem die Jahresberichte des Waisenhauses.¹⁶ Leon Pinskers Veröffentlichung Autoemancipation von 1882 begrüßte er sehr.¹⁷ Zudem sprach er sich im selben Jahr, nach den Pogromen in Russland, explizit gegen eine Auswanderung in die USA und für eine Einwanderung nach Palästina aus.¹⁸ Zusätzlich gründete Herzberg die Bnai Brith Loge in Jerusalem. 1887 entschloss sich Herzberg mit der Jerusalemer Lämel-Schule zu kooperieren. Am 1. April 1891, nach insgesamt zehn Jahren, wurde Wilhelm Herzberg aus Alters- und Gesundheitsgründen als Direktor des Waisenhauses entlassen. Er zog mit seiner Familie nach Brüssel, wo er 1897 starb. Anlass zum Verfassen der Jüdischen Familienpapiere war einerseits die Tatsache, dass er als Jude keine Anstellung erhielt, aber insbesondere die Taufe seines Bruders. In den Familienpapieren, einer sehr emotional geschriebenen kurzen Textsammlung, bringt er diese Beweggründe deutlich zum Ausdruck.¹⁹ An

 Der Verein zur Erziehung Jüdischer Waisen in Palästina, der der Träger dieses Waisenhauses war, wurde in der ersten Hälfte der 1870er-Jahre mit dem Sitz in Berlin gegründet.  Siehe Wilhelm Herzberg: Bericht über den Zustand des Deutsch-Jüdischen Waisenhauses in Jerusalem, von dem Director. In: Bericht des Vereins zur Erziehung Jüdischer Waisen in Palästina für das Jahr 1882. Frankfurt a. M. 1883, S. 6 – 10; Wilhelm Herzberg: Bericht über das Israelitische Waisenhaus zu Jerusalem für 1885, vom Dirigenten. In: Bericht des Vereins zur Erziehung Jüdischer Waisen in Palästina für das Jahr 1885, Frankfurt a. M. 1886, S. 7– 17. In der Nationalbibliothek in Jerusalem sind die Jahre 1882– 1883, 1885 – 1893, 1895 – 1896, 1899 – 1905 und 1908 – 1911 des Jahresberichts erhalten.  Zu Leon Pinsker und zur Kattowitzer Konferenz siehe Julius H. Schoeps (Hrsg.): Palästinaliebe. Leon Pinsker, der Antisemitismus und die Anfänge der nationaljüdischen Bewegung in Deutschland. Berlin/Wien 2005. Eine neue Lesart von Autoemancipation lieferte Shumsky, Dimitry: Leon Pinsker and „Autoemancipation!“. A Reevaluation. In: Jewish Social Studies 18 (Fall 2011), No. 1, S. 33 – 62.  Siehe Wilhelm Herzberg: Zur Colonisation von Palästina. In: Israelit, 14. Juni 1882, S. 1– 5. Charles Netter hatte einen Artikel im Jewish Chronicle verfasst, in dem er von einer Einwanderung nach Palästina abgeraten hatte und Herzbergs Artikel war eine Reaktion darauf.  Die „Familienpapiere“ befinden sich im Anschluss an die Briefe. Es gibt die Nummern I., II., III., IV., V., (keine VI.), VII., (keine VIII.), IX., X., XI., XII., XIII. XIV., A., B., und C (S. 356 – 384).

2.1 Das „authentische Selbst“ bei den Proto-Zionisten

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einer Stelle versucht er, die vom Judentum bereits Abgefallenen und die sich Abkehrenden zur Rückkehr aufzurufen: Erkenne doch Dein Glück, und wisse es zu schätzen, mein Sohn,²⁰ daß Du nicht geboren bist im Stamme der Fremden, die die Lüge anfällt bei ihrer Geburt und läßt sie nicht los beim Sterben, die da müssen, wenn sie mich lieben, von Vorne anfangen ein Jeglicher sein Leben und können nicht bauen auf das Erbtheil ihrer Väter.²¹

Allen Ebenen der Authentizität voran steht im Roman als zentrales Motiv die imposante Suche der Hauptfigur Samuel nach einem authentischen Selbst. Die 29 Briefe entstammen der Feder Samuels und sind an seinen Ziehvater in England adressiert. Nach dem Verlust beider Elternteile, wurde Samuel im Alter von fünf Jahren als Waise in dessen Haus aufgenommen und von nun an im christlichen Glauben erzogen. Im Alter von 25 Jahren beschloss er, seinen Onkel Nachmann, den Bruder seines leiblichen Vaters und Rabbiner, in Deutschland zu besuchen. Dort angekommen, trifft er auf seinen Onkel, dessen Tochter Rachel und dessen jüngsten Sohn Benjamin. Samuels Cousin Simeon war zum Christentum übergetreten und hatte eine Christin geheiratet, was zu einem Bruch zwischen ihm und der Familie führte. Aufgrund der Trauer über die Taufe ihres ältesten Sohnes war die Frau des Rabbis verstorben. Ursprünglich voller Vorurteile gegenüber jüdischen Bräuchen und mit dem Ziel, die Familie zu bekehren, entwickelte sich Samuels Aufenthalt im Hause seines Onkels zu einem langwierigen und aufreibenden Prozess der Selbstfindung, zu einer gefühlvollen aber auch zermürbenden Suche nach „Wahrheit“, die schließlich in seiner Rückkehr zum Judentum und in der Liebe zu Rachel, der Tochter des Rabbis, kulminiert. Aufgrund seiner Erziehung im christlichen Glauben und seiner missionarischen Ambitionen erfolgt seine Selbstfindung unter permanenter Abwägung zwischen stilisierten Vorstellungen des Judentums und des Christentums, die sich besonders in den Diskussionen mit dem Rabbi und in Gesprächen mit dem jüngsten Sohn Benjamin manifestieren. Dabei wird oftmals harsche Kritik am Christentum, an dessen Hegemonie und Wahrheitsanspruch und an der Mission laut. Alles führt letztendlich dazu, dass Samuel dem Rabbi seine ursprünglichen Absichten gesteht und sich zu seinem „wahren Wesen“ bekennt. Als Benjamin Gefahr läuft, den jüdischen Glauben für die nichtjüdische Schauspielerin Julie aufzugeben und das Haus verlässt, erreicht die Handlung ihren kritischen Wendepunkt. Rachel beauftragt Samuel, ihren älteren

 Die Anrede „mein Sohn“ erinnert an weisheitliche biblische Bücher, wie das Buch der Sprüche, wo sie öfter vorkommt. Vgl. Spr 1,8, 1,15, 2,1.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 362.

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2 Authentizität und Geschlechtsspezifität

Bruder Simeon aufzusuchen und mit ihm gemeinsam zu Benjamin und der Schauspielerin zu gehen. Schlussendlich kommt der Rabbi hinzu, Benjamin wird überzeugt zurückzukehren und die ganze Familie verlässt vereint die Wohnung der Schauspielerin. Samuel kehrt zudem sein ursprüngliches Vorhaben um: Er will sich zukünftig dafür einsetzen, Glaubensbrüder und -schwestern davon abzuhalten, sich vom Judentum abzuwenden. Samuels letzter Brief an seinen Adoptivvater kündigt seinen gemeinsamen Besuch mit Rachel in England an. Darauf folgen die „Familienpapiere“. Deutsch-jüdische Romane, wie jener von Herzberg, verfolgten oftmals klar „didaktische und erzieherische“ Ziele. Damit waren sie ein Mittel, „neue Wertbegriffe der verschiedenen jüdischen Strömungen Deutschlands im 19. Jahrhundert zu formulieren und zu verbreiten“.²² Die Literaturwissenschaftlerin Nitsa Ben-Ari argumentierte dahingehend bereits, „daß der Beitrag der deutsch-jüdischen historischen Romane nicht so sehr in ihrem literarischen Wert“ bestanden hätte – ihre Autoren seien schließlich auch keine Literaten – „sondern in der zentralen Rolle, die sie bei der Schaffung dessen spielten, was die moderne Erforschung der jüdischen Nationalität als ,erste Anzeichen eines modernen Nationalbewußtseins‘ bezeichnen würde“.²³ Dabei war diese Literaturgattung aus dem deutschen historischen Roman hervorgegangen, der ebenso die Eigenheit betonte und sich in den Dienst der deutschen National- bzw. Einigungsbewegung stellte.²⁴ Diese Romane erschienen oftmals in Fortsetzungen, beispielsweise in der Zeitschrift Gartenlaube, die „die Prinzipien des sogenannten deutschen Volksgeistes“, d. h. „das deutsche Haus, die deutsche Familie, deutsches Brauchtum, Bürgertugenden“ und den „Stolz auf das Deutschtum“ vermitteln sollten.²⁵ Aufgrund der fortschreitend nationalen Ausrichtung der deutschen Literatur, die alles „Fremde“ ausgrenzte, entstand das Bedürfnis nach einer eigenen, „jüdische[n] Alternative“, beziehungsweise eines Gegennarrativs. Juden in Deutschland sahen sich dahingehend mit einem „zwiegesichtigen Prozeß“ konfrontiert, denn „[e]inerseits führten sie emanzipatorische und reformerische Kämpfe zwecks Integration in die deutsche Kultur“, doch „andererseits fanden sie sich

 Ben-Ari, Nitsa: Romanze mit der Vergangenheit. Der deutsch-jüdische historische Roman des 19. Jahrhunderts und seine Bedeutung für die Entstehung einer neuen jüdischen Nationalliteratur. Tübingen 2006, S. 38. Ben-Ari untersucht vor allem historische Romane.  Ben-Ari, Romanze mit der Vergangenheit, S. 7.  Dies geschah unter Abwendung von französischen und englischen Einflüssen, wie beispielsweise den Romanen von Walter Scott (Vgl. Ben-Ari, Romanze mit der Vergangenheit, S. 20). Zur genauen Beschreibung der unterschiedlichen Stadien in der Entwicklung des deutschen historischen Romans vgl. ebd. S. 23 – 31.  Ben-Ari, Romanze mit der Vergangenheit, S. 21.

2.1 Das „authentische Selbst“ bei den Proto-Zionisten

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von der deutschen Kultur abgestoßen und waren auf eine eigene Kultur angewiesen als Gegengewicht zur deutschen“.²⁶ Durch die „immer höher schlagenden antisemitischen Wellen“ wurde dieses Bedürfnis schließlich noch verstärkt.²⁷ Die Jüdischen Familienpapiere sind – wenn auch als Briefroman – damit auch im Kontext der gesellschaftlichen und politischen Situation von Juden in den deutschen Ländern zu lesen. Das Thema des Antisemitismus wird als „Vorurtheil“ gegenüber Juden ausdrücklich erwähnt,²⁸ ebenso der Begriff der „Anerkennung“ von Juden, der die zeitgenössische jüdische Situation reflektiert.²⁹ Die wissenschaftliche Nichtbeachtung des Werks steht in krassem Kontrast zur Resonanz zur Zeit seines Erscheinens. Die zahlreichen Auflagen und Übersetzungen sprechen für sich und belegen den Erfolg des Romans.³⁰ Heinrich Graetz bescheinigte dem Buch großen Einfluss: Er „kenne H. H[erzberg] lediglich aus seinem vortrefflichen Buche ,Familienpapiere eines Missionärs‘, das in Deutschland viel Anklang gefunden hat“, schrieb er in einem Brief an die Alliance Israélite Universelle in Paris.³¹ Der Berliner Zionist Heinrich Loewe (1869 – 1951) erwähnte in seinen unveröffentlichten Erinnerungen Baderech Lezion die einzelnen Vorträge, die er in der Mendelssohn-Loge in Magdeburg als Gymnasiast gehört hatte, darunter den des damals 60-jährigen „Dr. Wilhelm Herzberg aus Jerusalem“, der über „Land und Leute im Heiligen Lande“ sprach.³² Loewe be-

 Ben-Ari, Romanze mit der Vergangenheit, S. 38.  Ben-Ari, Romanze mit der Vergangenheit, S. 38.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 20. Samuel schreibt an seinen Adoptivvater: „Vor Allem, mein Vater, dies Volk ist besser, als es scheint. Ich selbst, obgleich Einer ihres Stammes, wie hatte mich das Vorurtheil geblendet“.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 123 f. Der Rabbi spricht: „Warten wir, bis die Völker uns anerkannt haben, so Viele uns auch heute noch schmähen, dann wird es an Verkündern unseres Wesens nicht fehlen“.  Nach der anonymen Veröffentlichung in Hamburg bei Otto Meissner 1868 folgen Auflagen 1873 (Hamburg: Otto Meissner), 1893 (Zürich: C. Schmidt) und 1879 (Frankfurt a. M.: I. Kauffmann). Bereits Reuven Michael nennt die Übersetzungen ins Englische (Jewish Family Papers or Letters of a Missionary. Tr. from the German of Dr. Wilhelm Herzberg [„Gustav Meinhardt“], by the Rev. Dr. Frederic de Sola Mendes, New York 1875) und ins Hebräische (‫משפחה עבריים‬-‫[ כתבי‬Kitvei Mishpacha Ivri’im, Jerusalem: ‫ ולשכת ירושלים‬:‫לשכת הגליל הגדולה מספר י“ד לאגודת חורין בני ברית בא“י‬ ‫בירושלם‬. Jerusalem 1930). Darüber hinaus wurde das Werk ins Niederländische übersetzt (Uit het leven van een Christelijk Zendeling Ter Bekeering der Joden. Rotterdam 1874).  Graetz, Heinrich: Briefe und Tagebücher. Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Reuven Michael. Tübingen 1977, S. 340 (Brief Nr. 134).  Hierbei handelt es sich um ein wichtiges Medium, wie man in Deutschland Informationen zu Palästina erhielt. Erik Petry verweist in seinem Buch auf die folgenden Informationsquellen: Palästinaliteratur und Presseorgane. Siehe Petry, Erik: Ländliche Kolonisation in Palästina. Köln [u. a.] 2004.

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2 Authentizität und Geschlechtsspezifität

merkte, dass er erst viel später erfahren habe, welche Bedeutung Herzbergs „in nationaljüdischem Sinne“ verfasster Roman besaß, der „einen grossen Eindruck machte“ und „zur Entwicklung des zukunftsbewussten jüdischen Nationalismus, namentlich in Russland, wesentlich beigetragen“ hatte.³³ Damit beschrieb bereits Loewe sehr treffend, wie sich die Rezeption der deutsch-jüdischen Romane gestaltete. Die meisten gelangten durch Übersetzung nach Osteuropa, wo sie zum Teil noch erfolgreicher waren. Viele dieser Übersetzungen – wie auch Herzbergs Roman – gelangten bis nach Palästina.³⁴ Zacharias Frankel (1801– 1875), seines Zeichens Direktor des Jüdischen Theologischen Seminars in Breslau, Herausgeber der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums und einer der bedeutenden Vertreter der Wissenschaft des Judentums, soll den Roman gar „einen modernen ,Kusari‘“ genannt haben.³⁵ Die herausragende Wirkung des Werks lässt sich bis in die zweite Generation deutscher Zionisten verfolgen. Auch der bekannte zionistische Denker Moses Calvary (1876 – 1944) erwähnte in seinen eher unbekannten Memoiren Herzbergs Roman.³⁶ Mirjam Rosenblüth, die aus einer Familie weiterer berühmter zionistischer Denker der zweiten Generation stammte, sei, so beschrieb es Calvary, „in einem gewissen mässigen Umfang von religiösen Zweifeln erfasst“ worden. Doch „schöpfte sie, gleich ihren Freundinnen, aus dem Herzbergʼschen Buch ,Jüdische Familienpapiere‘ beträchtliche Befriedigung“. Calvary gab sich übrigens reserviert gegenüber dem Buch, was jedoch nicht die Bedeutung schmälert, die das Werk kontinuierlich hatte.³⁷ Übrigens ist es schwierig, die Frage zu beantworten, ob Herzberg Hessʼ Rom und Jerusalem kannte, bevor er seinen Roman abfasste. Bei einer genauen Analyse der Jüdischen Familienpapieren fallen strukturelle und inhaltliche Parallelen zu Moses Hessʼ Rom und Jerusalem auf. Zu den strukturellen gehört beispielsweise, dass beide Werke zu einem großen Teil aus Briefen bestehen. Darüber hinaus enthält Rom und Jerusalem im Anschluss an die Briefe einen Epilog (1. – 5.) und Noten (I – X [ohne IV]); ebenso werden die Briefe in Herzbergs Roman durch die

 Loewe, Heinrich: Baderech lezion. Sichronot. Central Zionist Archives Jerusalem (CZA) 146/60.  Ben-Ari, Romanze mit der Vergangenheit, S. 195 – 255. In den Übersetzungen wurden zum Teil Inhalte geändert und teilweise ausgelassen. In anderen Romanen, in denen das osteuropäische Judentum negativ dargestellt wurde, tauchen diese Kapitel nicht mehr auf oder wurden in der hebräischen Übersetzung umgeschrieben.  Loewe, Baderech Lezion CZA 146/60. Der Kusari: Arabisches Werk von Jehuda Halevi (vor 1075 – 1141), Dichter, Philosoph und Arzt. Von den Zionisten ob seiner Zionslieder als Frühzionist bezeichnet. Die Handlung des Buches berichtet von der erdachten Religionsfindung des Königs der Chazaren und ist angelehnt an die – nicht erdachte – Konversion des Königs samt seinem Reich zum Judentum im 8. Jahrhundert.  Calvarys Memoiren werden im 3. Kapitel dieser Arbeit ausführlicher zitiert.  Calvary, Moses: Erinnerungen (unveröffentlicht), CZA K13/13/13/1, S. 59.

2.1 Das „authentische Selbst“ bei den Proto-Zionisten

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angehängten „Familienpapiere“ ergänzt. Zu den inhaltlichen Parallelen zwischen den Werken sind beispielsweise die emotionale „Rückkehr zum Judentum“, die Betonung des Gefühls im jüdischen Nationalismus, die Hochschätzung der Synagoge und der jüdischen Familie, die konservative Ausrichtung, die Betonung der Einheit des Judentums und die Untrennbarkeit von Idealismus und Materialismus zu zählen. Als besten Beleg für eine Rezeption von Hess durch Herzberg dient die Tatsache, dass im Seminar von Heinrich Graetz einige Schüler Moses Hess den Roman von Herzberg „vindicirt[en]“, soll heißen zuschrieben.³⁸ Andererseits weisen die Werke auch viele Unterschiede auf. Herzbergs Roman ist weder dezidiert zionistisch,³⁹ noch trägt er besonders sozialistische Züge. Und trotz der formellen Ähnlichkeiten handelt es sich um Schriften unterschiedlicher Genres, die einen Vergleich zusätzlich erschweren. Auf jeden Fall zeigt der Roman, dass sehr viel früher als angenommen flagrante national-jüdische Gedanken in Werken des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts zu finden sind, die wichtige Kontinuitäten zu späterem zionistischen Denken eröffnen. Bevor die Art und Weise, in der die Jüdischen Familienpapieren das breite Spektrum des Diskurses der Authentizität bedienen, besprochen wird, sind einige allgemeine Hinweise zum Genre des Briefromans notwendig, da gerade dieses Genre, vor allem dank Jean-Jacques Rousseau, seit dem 18. Jahrhundert der Popularisierung des Ideals der Authentizität zuträglich war.⁴⁰ Dieses literarische Genre diente bereits seit der Epoche der Empfindsamkeit zur Wiedergabe scheinbar authentischer Quellen. Der Titel reflektiert die typische Scheinobjektivität. Die Jüdischen Familienpapiere sollen „authentische“ und „originale“ Briefe darstellen, welche von „Gustav Meinhardt“, einem Pseudonym Herzbergs, lediglich „herausgegeben“ werden mussten. Dem Roman wird somit Authentizität zugesprochen. Der wirkliche Autor erscheint – ebenso typisch für dieses Genre – in der Widmung „Dem Freunde des Verfassers Herrn W. Herzberg dargebracht vom Herausgeber“. Auch in dieser Widmung wird die Authentizität der Briefe

 Graetz, Tagebuch und Briefe, S. 322 [Brief Nr. 109].  Der Roman ist national-jüdisch, jedoch wird auch auf das „Land Israel“ als „Heimath“ verwiesen (S. 374). Dennoch wird erwähnt, dass England das „Vaterland“ von Samuel bleibt (S. 265).  Das Genre des Briefromans florierte erstmals durch Samuel Richardsons Werke wie z. B. Pamela oder die belohnte Tugend (1740) in England Mitte des 18. Jahrhunderts. Ebenso erfolgreich wurden die Werke in dieser Form in Frankreich und in Deutschland. Werke von Jean-Jacques Rousseau (Julie oder Die neue Heloise, 1761) oder Johann Wolfgang von Goethe (Die Leiden des jungen Werther, 1774) wurden schlagartig zu Bestsellern. Für Details siehe Singer, Godfrey Frank: The Epistolary Novel. Its Origin, Development, Decline, and Residuary Influence. New York 1963. Zum Konzept der Authentizität in Rousseaus Werken siehe Ferrara, Alessandro: Modernity and Authenticity. A Study of the Social and Ethical Thought of Jean-Jacques Rousseau, Albany (NJ) 1993 und Guignon, On Being Authentic, S. 29 – 36.

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nicht im Geringsten angezweifelt. In der Vorrede wird dies weiter verdeutlicht: Der Herausgeber habe „nachfolgende Blätter dem Publikum als das Vermächtniß eines dahingeschiedenen Freundes, der sie bei Lebzeiten zurückhalten zu müssen glaubte und selbst bei ihrer Veröffentlichung namenlos bleiben wollte“, übergeben. Das Buch sei demnach eine Zusammenstellung von authentischen „Blättern“, die besonders glaubwürdig seien, da der ursprüngliche Autor seinen Namen, selbst nach seinem Tode, nicht verraten wolle. Der Herausgeber wiederum, „habe aus dem umfangreichen Material nach seinem [des Autors – Anm. d. Verf.] Wunsche eine Auswahl getroffen und sehe selbst diese nicht ohne ein gewisses Bangen ans Licht treten […]“.⁴¹ Darüber hinaus ermöglicht die Form des Briefromans die Schilderung innerer seelischer Vorgänge des Briefschreibers, die oftmals mit moralischen Botschaften verknüpft sind.⁴² So gestattet die Briefform den wohl individuellsten Ausdruck des Prozesses der Suche nach einem authentischen Selbst. In den Briefen spiegelt sich die Selbstfindung des Protagonisten Samuel wider, der nach einem authentischen Selbst strebt. Diese wie auch andere Charakteristika des Genres des Briefromans und der Epoche der Empfindsamkeit tauchen im Roman mehrmals auf.⁴³

 Herzberg, Jüdische Familienpapiere, [S. V]. Ein anderer Grund für die Anonymität scheint nämlich auch der Inhalt des Buches – samt seinen kritischen Aussagen zum Christentum – gewesen zu sein. So heißt es weiter in der Vorrede, dass der „Herausgeber […] fürchte den vor allen verhaßtesten Streitigkeiten, den religiösen, Vorschub zu leisten“. Doch, „es dürfte dem unbefangenen Freunde der Wahrheit nicht unwillkommen sein ein motivirtes Urtheil über unsere moderne Civilisation von einer Seite zu hören, die man vielleicht nur für abgethan hielt, weil es ihr noch nicht an der Zeit schien zu sprechen“. Gemeint ist die jüdische Seite und wie von ihr aus die europäische Kultur betrachtet wird. Dass das Buch „zivilisationskritische“ Aspekte enthalte, wurde dadurch bereits in der Vorrede vorweggenommen. Diese wurde jedoch besonders durch die unschuldigen und ehrlichen Quellen des scheinbar verstorbenen Freundes ermöglicht und bekam mehr Gewicht. Die Briefe sind mit „Ort“ und „Datum“ versehen. Der erste Brief wird in „S…, 25 Mitlerstraße. Den 20. September 185…“ verfasst, der letzte ist mit „Den 10. April 185…“ überschrieben. Durch diese Angaben verfolgt der Autor abermals, die Briefe authentisch erscheinen zu lassen, gerade weil eben, aus Wahrung der Anonymität genaue Angaben – getreu der Konventionen des Briefromans – ausgelassen wurden. Zu Letzterem siehe Singer, The Epistolary Novel, S. 105.  Singer, The Epistolary Novel, S. 65 und 85. Schon Richardsons Pamela oder die belohnte Tugend war unter anderem mit „[…] Published in Order to Cultivate Principles of Virtue and Religion in the Youth of Both Sexes“ unterschrieben.  Zu diesem Zusammenhang und Berthold Auerbachs ersten beiden Romanen siehe Sorkin, David: The Tranformation of German Jewry 1780 – 1840. New York 1987, S. 147– 155. Sorkin bemerkt an anderer Stelle, dass auch die Iggroth Zafon von Samson Raphael Hirsch Briefe sind. Siehe Sorkin, Transformation, S. 157.

2.1 Das „authentische Selbst“ bei den Proto-Zionisten

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Interessanterweise finden auch die theoretischen Aspekte des Diskurses zur Authentizität im Roman einen Platz: Benjamin, der jüngste Sohn des Rabbis, verliebt sich im Verlauf des Romans zum Entsetzen aller Beteiligten in eine Christin, die – und diese Parallele zum Diskurs der Aufrichtigkeit und Authentizität ist offensichtlich – noch dazu eine Schauspielerin ist.⁴⁴ Bei einem Theaterbesuch von Schillers Stück Kabale und Liebe bedient Benjamin die theoretische Ebene, indem er den Protagonisten Samuel fragt: „[G]laubst Du, daß die Dichter lügen oder nicht?“ Und Samuel, dessen eigene Suche nach Authentizität die zentrale Handlung des Romans bestimmt, antwortet getreu seiner verstärkten Ablehnung gegenüber jeder noch so geringen Täuschung und Falschheit: „Ich glaube, daß Sie es thun […]“.⁴⁵ Im Roman werden die Leserinnen und Leser vorerst mit den antonymen Konzepten zur „Selbsterfüllung“ beziehungsweise der „Selbstverwirklichung“ konfrontiert, und zwar der Lüge und der Täuschung. Anhand dessen soll eindringlich verdeutlicht werden, welche negativen Konsequenzen die mangelnde Selbstverwirklichung mit sich brächte. Samuel, der in einer Lüge lebte, wurde von Alpträumen geplagt, ist unzufrieden und unglücklich. Bereits im ersten Brief gesteht der jüdische Adoptivsohn seinem christlichen Adoptivvater, dass „die [christliche] Theologie“ ihm immer „ein Buch mit sieben Siegeln“ geblieben sei. Samuel hätte zwar „die Sachen mechanisch auswendig“ gelernt, um den Stiefvater zufrieden zu stellen und hätte sich aufrichtig gewünscht, „für diese Wissenschaft aufs Reichste begabt zu sein“, doch „alle erhebenden Bilder des Evangeliums“ seien lediglich „wie wesenlose Schatten an [seinem] Auge“ vorbeigezogen. Besonders die Beschreibung der Kreuzigung, „die Schmerzen, die er [Jesus – Anm. d. Verf.] auf sich genommen die Menschheit zu erretten“ und „die bittern Qualen“, die „sein sanftes Antlitz verzerrten“, hätten Samuel entsetzt.⁴⁶ Dieses Entsetzen verfolgte ihn, so schilderte Samuel es in dem Brief, als Kind bis in den Schlaf und äußerte sich als Alpträume. Auf der Reise zu seinem Onkel, bei einem Zwischenhalt in Hamburg, kehrten diese Alpträume nachts im Hotel wieder und er hörte abermals „jenes haarsträubende Stöhnen aus den Ecken des Gemaches“. Samuel kann sich den Grund dieser Träume jedoch nicht erklären.⁴⁷ Impliziert wird hiermit, abermals in der Sprache der Empfindsamkeit mit ihrer Sensibilität für seelische Vorgänge, die Selbstlüge, in der Samuel als geborener Jude lebte. Im Brief vermutet Samuel, dass, wenn er „erst Einem der Verirrten“ das  Zum Zusammenhang von Theater, Schauspielerei und Authentizität vgl. Kapitel 1 dieser Arbeit.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 47.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 6 f.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 9.

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getan haben würde, was der Ziehvater ihm getan hat, dann würde „auf immer Friede in […] [seine] Brust einziehn“.⁴⁸ Auch im zweiten Brief wird das innere Ringen Samuels thematisiert und die Leserinnen und Leser werden mit diversen Lügen konfrontiert. Beschrieben wird die Ankunft im Hause seines Onkels, der ihn entgegen Samuels Erwartungen herzlich aufnimmt und alles aus Samuels bisherigem Leben erfahren will. Samuel verschweigt jedoch sein eigentliches Vorhaben der Mission der Familie zum Christentum, das er mit dem Motto „Was unsere großen Vorgänger ruhmreich für die Heiden wirkten, wollen wir den verlassenen Kindern Israels anthun“ umschreibt.⁴⁹ In der Antwort auf die Frage, wie es ihm ergangen sei, lässt Samuel unerwähnt, dass sein Ziehvater Christ ist. Stattdessen erzählt er, dass „ein wohlthätiger Jude in Bewick“ sich seiner angenommen hätte. Aufgrund der Frage des Onkels nach seinem Bruder, Samuels Vater, erinnert sich Samuel seit Langem wieder an den Tod seiner Eltern. Zudem fällt ihm just in diesem Moment wieder ein, dass sein Vater, kurz bevor er starb, sich von Samuel geloben ließ, „an den Geboten des Heiligen, gelobt sei er“ zu halten „und nicht abzufallen zu den Fremden“,⁵⁰ und zu seinem Onkel nach Deutschland zu fahren, der ihn aufnehmen und in Tora und Mischna unterweisen würde. Gleich zu Beginn entsteht die erste Debatte zum Jüdischsein zwischen Samuel und dem Onkel: Und als ich aufstand, fügte er [der Onkel] hinzu: Noch eins, Samuel, Du bist doch ein guter Jude? Ich hoffe es, Onkel, versetze ich ausweichend. Vielleicht weißt Du nicht, in welchem Sinne wir in Deutschland das Wort gebrauchen; wir verstehen darunter Jemand, der auch die Ritualgesetze strenge befolgt. Dann bin ich kein guter Jude, Onkel. Bei mir im Hause, lieber Neffe, mußt Du als ein solcher leben. Muß, Onkel? Sonst darf ich Dich, so leid es mir thut, nicht bei mir aufnehmen. Aber Onkel, rief ich, wie kannst Du so intolerant sein zu verlangen, daß Jemand Gebräuche annehme, die aus seiner Ueberzeugung nicht hervorgehn? Wenn Du das alte Joch noch für bindend hältst, so habe ich ich ihm als freier Erkenntniß entzogen, und Du wirst nicht eine unwürdige Spielerei von mir verlangen. […] Alles was ich verlange, mein Kind, ist, daß Du Einer der Unseren seist. Ob Du auf Deinem Zimmer die täglichen Gebete hältst, ist Deine Sache, aber ich fordere strenge Haltung der Feiertage und Speisegesetze.

 Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 10.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 11.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 15.

2.1 Das „authentische Selbst“ bei den Proto-Zionisten

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Nun damit könnte ich mich am Ende einverstanden erklären, obgleich mir Deine Forderung sonderbar vorkommt im neunzehnten Jahrhundert.⁵¹

Hier tritt in auffälliger Weise der Diskurs der Moderne hervor, der durch den gezeichneten Gegensatz im Zuge des Buches immer markanter werden wird: Samuel kommt als moderner gebildeter, aber innerlich zerrissener Städter in die Kleinstadt des authentischen religiösen Rabbis. Die Diskussionen, die zwischen den beiden im Roman stattfinden, bewegen sich im Spannungsfeld zwischen diesen Polen. Daher wird im Roman nicht ausgelassen, dass Samuel das Insistieren auf das Halten der Gebote „im neunzehnten Jahrhundert“ zutiefst „sonderbar“ vorkam. Auf die Forderung des Rabbis, die Feiertage und Speisegesetze zu halten, gibt Samuel zu bedenken, ob es „nicht gerade der Vorzug“ dieser Zeit – eben der Moderne – wäre, „daß die Menschen die individuellen Ueberzeugungen als gleichberechtigt anerkannt“ hätten, „und daß die Stimme der öffentlichen Meinung alsbald denjenigen“ verdammen würde, „der es wagt[e] Anderen seine Ansicht oder seinen Willen aufzudrängen?“⁵² Sein Onkel entgegnete darauf mit viel Ironie: Nun sieh, lieber Neffe, wenn ich Dich ein wenig necken wollte, so würde ich sagen: Du bist ein weitgereister Mann, kommst von den Sitzen der Cultur, von Völkern, die an der Spitze der Civilisation stehen – in eine deutsche Mittelstadt, in das abgeschiedene Haus eines Rabbinen, der seit seinen Studienjahren mit keinem Gelehrten verkehrte, – habʼ also in Dingen, die Dir unschädlich sind und mir nützen, Nachsicht mit unserer Beschränktheit […].⁵³

Die atypische „anti-moderne“ Position im Roman Herzbergs unterscheidet ihn in besonderer Hinsicht von anderen, beispielsweise deutsch-jüdischen historischen Romanen jener Zeit. Zwar fanden auch in jenen Romanen die „Ideologien des jeweiligen jüdischen Lagers“ Ausdruck, indem sie ihre Haltung zum „Überleben des jüdischen Volkes“, zur „geschichtliche[n] Kontinuität des Judentums“, und zur „Einheit des jüdischen Volkes über die gesamte Diaspora hin“ ausdrückten.⁵⁴ Doch, wie Nitsa Ben-Ari herausstellt, war ihre Grundhaltung modern. Man sprach von der „finstere[n] Vergangenheit, dem seit der Aufklärung eingetretenen Fortschritt“ und formulierte eine „Sicht der Zukunft im Sinne der Aufklärung“.⁵⁵ Im Gegensatz dazu nimmt das in Herzbergs Roman entfaltete Ge-

    

Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 17 f. Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 18. Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 18 f. Ben-Ari, Romanze mit der Vergangenheit, S. 44 f. Ben-Ari, Romanze mit der Vergangenheit, S. 45.

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gennarrativ den späteren zionistischen Authentizitätsdiskurs und dessen „antimoderne“ Ausrichtung vorweg. Im Zentrum dieses Authentizitätsdiskurses steht das Bedürfnis, nicht jemand anderes sein zu müssen, und das Verlangen, ein „authentischer“ Mensch beziehungsweise „man selbst“ zu sein. Dieses Streben nach Authentizität ist Teil des allgemeinen Modernisierungsdiskurses und der Kritik an der Moderne. Stand die Moderne allgemein für Fortschritt, Bildung, Urbanität, Individualismus und Loslösung von Tradition, so produzierte sie in den Augen der national-jüdischen Denker ein „zerrissenes Selbst“, das Anzeichen von „Degeneration“ aufwies.⁵⁶ Im vierten Brief beginnen die Debatten zu Judentum und Christentum zwischen dem Rabbi und Samuel. Gleich zu Beginn bemerkt der Rabbi zu den Fragen Samuels: […], Du hast zuviel gelernt. Der Mann in England hat Dich zuviel studiren lassen. Er meinte es gut, aber er machte es mit Dir nach der Art der Nationen. Sie studiren und studiren, bis sie das Denken darüber vergessen haben. […] Dir haben sie nach fremder Sitte den Verstand und wieder den Verstand bearbeitet, bis Dein Herz matt und unsicher geworden ist im Empfinden der Wahrheit. Es ist nicht Deine Schuld, mein Sohn, Du wirst zur Sicherheit gelangen, vertraue darauf. Aber vor Allem widme dein Leben dem Gesetz, damit Du Dein Herz kräftigest.⁵⁷

Samuel schildert in seinem 17. Brief, mit dem einleitenden Satz „Du hast Recht, […] längst bin ich Dir volle Aufrichtigkeit schuldig“, dem Rabbi seine „Vergangenheit, ohne das Geringste zu verbergen“,⁵⁸ und sein ursprüngliches Vorhaben der Bekehrung der Familie zum Christentum. Der Rabbi entgegnet auf Samuels Geständnis, dass weder „Reue“ noch „Buße“ nun die Antworten sein könnten, sondern allein die „Rückkehr“.⁵⁹ Samuel solle dies alles nicht bedauern, „wenn es nur zum Ziele führ[e]“. „Armer Knabe“, sprach der Rabbi im Folgenden, „vertraue und Du wirst gesünder werden“. Samuels „böse Krankheit“ sei der „Zwiespalt zwischen Natur und Bildung“. Der Zwiespalt, in dem ein moderner Mensch wie Samuel lebe, wird vom Rabbi als Krankheitssymptom der Moderne beschrieben.⁶⁰

 Zur Vorstellung einer „Degeneration“ siehe Gilman, Sander L.: Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden. Frankfurt a. M. 1993.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, 28.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 207.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 208. Umkehr, hebr. „Tschuwa“.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 208. Hervorhebung d. Verf.

2.1 Das „authentische Selbst“ bei den Proto-Zionisten

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Gerade auch das Bildungsideal bürgerlicher Juden wird in diesem Gespräch kritisch hinterfragt.⁶¹ Samuels Geständnis veranlasste den Rabbi zu einer detaillierten Ansprache. Innerhalb des Krankheitsdiskurses gilt für den Rabbi das Judentum als das Authentische, d. h. das „Gesunde“. Besonders seine Eigenschaft als Jude, so der Rabbi, sei die Ursache für Samuels Suche nach einem authentischen Selbst. Die Erfahrung einer gefühlvollen Selbsterkenntnis sei jedem Juden gleichermaßen beschert. Das Volk Israel kenne „keinen Zwiespalt in der Welt“ wie jenen zwischen „Natur und Bildung“,⁶² an dem Samuel erkrankt sei. Die jüdische Religion sei ein „reines Naturerzeugniß“.⁶³ Darum verblühe Israel nicht, da „in jedem neuen Völkerfrühling […] der Ewige auch das Leben seines Volks“ erneuern werde. Israel sei „glücklich in seinem Glauben, glücklich in seinem Wissen“ und „jeder wahre Jude“ sei daher „ein ganzer Mensch“ und „die gesammte, so weit und so lange zerstreute Nation, ohne Vaterland, ohne Verbindung, dennoch ein einiges, geistig verbundenes Volk von Brüdern“.⁶⁴ Hiermit stellt der Rabbi in pathetischer Weise eine Verbindung zwischen dem Völkerfrühling, der jüdischen Nation und dem authentischen jüdischen Selbst her. Das Ideal der Authentizität wird im Roman mit bestimmten Gefühlen verknüpft. Die Gefühlsebene bilde den „Boden“ aus dem sich „das Gebilde des Dichters“, „das Werk des Helden“, „Staaten und Religion, Gesellschaft und Familie“ entwickelten. Dieses Gefühl sei „national verschieden“.⁶⁵ Daher sei „das Leben des wahren Juden […] ohne Anfang und Ende“.⁶⁶ Juden empfinden laut dem Rabbi die Geschichte und das Gefühl der jüdischen Nation, und so verknüpfe sich ihre Gegenwart „mit der uralten Vergangenheit“.⁶⁷ Ihr Dasein reiche „zurück in die wunderbare Ferne“ und „alle großen Erfahrungen“ würden so zu ihrem „Eigenthum“.⁶⁸ Darüber hinaus legt der Rabbi nahe, dass jeder Jude, gemäß dem berühmten Diktum des rabbinischen Gelehrten Rabban Gamliels, sich mit folgender Darstellung identifiziere:

 Zum Ideal der Bildung vgl. klassisch Mosse, George L.: Jüdische Intellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion und Nationalismus. Frankfurt a. M./New York 1992. Später in dieser Arbeit wird dieses Ideal noch ausführlicher besprochen werden.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 208.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 210.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 210.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 209 – 212. Hervorhebung im Original.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 256.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 256.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 257.

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Aus der Egyptischen Qual wurde ich befreit, ich wohnte unter Hütten in der Wüste, ich feire [sic] das Erndtefest [sic] im heiligen Lande – alljährlich erneut sich die grause Zerstörung der erhabenen Stadt, und ich sehe den einzigen Sitz des alleinigen Gottes in Feuer auflodern. Ich wandere von dem Boden meiner Väter unter die fremden Nationen. Man jagt mich wie ein Wild, und seine Hand erhält mich, man schneidet mir die Nahrung ab, er reicht mir Speise. – So übergaben mir die Eltern die heilige Errungenschaft, und wie sollte ich von ihrem Wege abweichen, wenn ich täglich wage an den Ewigen zu denken, und an jenen schönen und heiligen Tagen die Schicksale meines Volkes warnend und erhebend vor meine Seele treten? Wahrlich, nur so lebe ich ein wahres Leben und ein schönes Leben.⁶⁹

Mit anderen Worten, allein die Erkenntnis („nur so“) des eigenen Jüdischseins führe zu einem wahren und schönen, beziehungsweise authentischen Leben. Samuels persönliches Erlebnis der Selbsterkenntnis wird im Roman unter anderem als eine transzendente Erfahrung, als eine Art Erleuchtung beschrieben. Er schreibt an seinen Ziehvater in England: Endlich öffnete der Herr meine Augen und siehe, es lag vor mir, ganz nahe, es gehörte mir als Erbtheil an, und ich brauchte es nur zu nehmen. Ich war blind und bin sehend geworden, laß mich meine Wonne still genießen. Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben glücklich.⁷⁰

Anhand dieser exzeptionellen Aussagen wird die Zwiespältigkeit und Komplexität des Konzeptes der jüdischen Authentizität deutlich – vor allem, wenn man die Parallelen zu christlichen Erleuchtungsberichten des Neuen Testaments wie beispielsweise in Paulusʼ Briefen an die Korinther betrachtet.⁷¹ Die „Wonne“ der Erfahrung des eigenen Nationalgefühls und seines „eigenen“ Selbst „heilt“ Samuel von der Zerrissenheit der Moderne und jener Lüge, in der er als Christ gelebt habe. Die Tatsache, dass sich jüdische Authentizität hier als transkulturelle Entität herauskristallisiert, die um Aspekte des Judentums und des Christentums kreiste, lässt sich daran besonders gut erkennen. Auch im Diskurs der Moderne stellen sich Samuels Aussagen und sein Abschwören von derselben bei genauerer Betrachtung als ambivalent heraus. Seine scheinbare Abkehr von modernen Errungenschaften wird nämlich mit einem im Diskurs der Moderne als eindeutig modern markiertem Konzept verbunden – dem persönlichen Glück.

 Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 256 f. Hervorhebung d. Verf.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 272.  Siehe beispielsweise 2. Kor 4.

2.2 Das „authentische Judentum“ und das „unauthentische Christentum“

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2.2 Das „authentische Judentum“ und das „unauthentische Christentum“ Mit dem Abfall des Christentums vom Judentum wurde nach Meinung von Moses Hess das Ende einer einheitlichen Struktur eingeleitet. Das Christentum sei zwar eine wichtige Phase auf dem Weg der Erlösung der Menschheit, doch „seine Mission [hörte] in dem Augenblicke auf, als die Völker wieder zum Leben erwachten“.⁷² Demgegenüber sei das Judentum, laut Hess, eine organische Schöpfung, eine Tatsache, die seines Erachtens sowohl von der Reform, als auch von der Neo-Orthodoxie verkannt wurde. So wie die Reform, so repräsentierte für Moses Hess auch die Orthodoxie das „Unauthentische“ schlechthin.⁷³ Reformer möchten das „Politische vom Religiösen“ trennen und verkennten dabei „den tiefen nationalen Lebensborn, welchem die talmudische, wie die altjüdische, biblische Literatur entquollen“ sei. Die Bestrebungen unserer deutschen Religionsreformatoren liefen darauf hinaus, aus dem ebenso nationalen wie humanen Judenthume ein zweites Christenthum nach rationalistischem Zuschnitte zu machen, einen um so überflüssigern Doppelgänger, als das Original schon rettungslos an der Schwindsucht darniederliegt.⁷⁴

Die Orthodoxie sei andererseits zu starr. Hess befürwortete die Wissenschaft des Judentums und vertrat in seiner Auffassung vom Authentischen im Judentum grundsätzlich die von Graetz formulierten historiographischen Ansätze, die er in Rom und Jerusalem zitierte. Hess war überzeugt, dass dem Judentum ein kontinuierliches authentisches „Wesen“ innewohne (Kontinuität), welches sich aber mit der Geschichte entwickle (Evolution).⁷⁵ Dieses authentische Wesen erkennt Hess in der „uralte[n] Synagoge“. Er „kenne nur Eine jüdische Genossenschaft“  Hess, Rom und Jerusalem, S. 28 f.  Vgl. hierzu auch Avineri, Moses Hess, S. 215.  Hess, Rom und Jerusalem, S. 47.  Zudem traf er in Paris jüdische Intellektuelle, die in Verbindung mit der kürzlich gegründeten Alliance Israelite Universelle standen. Darüber hinaus trat er zu dieser Zeit in Korrespondenz mit Heinrich Graetz (Vgl. Avineri, Moses Hess, S. 174). Moses Hess hat einen Band von Graetzʼ Geschichte des jüdischen Volkes ins Französische übersetzt und zitiert Graetz („Christus und Spinoza“) in Rom und Jerusalem (Vgl. S. 134– 159). Beeinflusst war Hess jedoch nicht nur von Heinrich Graetz und seinen Bekanntschaften in Paris. Ernest Laharanne und sein Pamphlet La Nouvelle Question dʼOrient: Empires dʼEgypte et dʼArabie. Reconstitution de la nationalité juive (1860) hatten einen großen Einfluss auf sein Denken. Ebenso wie das Werk von Zacharias Frankel, Darkei Mischna. Zudem war Hess von Zwi Hirsch Kalischer aus Thorn und seinem Drischat Zion beeinflusst, der seine Ideen wiederum in Reaktion auf die polnischen, italienischen und ungarischen Nationalbewegungen formulierte (Vgl. Avineri, Moses Hess, S. 230).

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und zwar „die uralte Synagoge“, die es glücklicherweise noch gäbe, und die „hoffentlich noch so lange fortbestehen“ würde, „bis die nationale Wiedergeburt des Judenthums vollendet“ sei.⁷⁶ Wenn er „Familie hätte“, so Hess, würde er sich „nicht nur im öffentlichen Leben einer frommen jüdischen Gemeinde anschließen“, sondern auch im Privaten „alle Trauer- und Festtage vorschriftsmäßig feiern“, damit „die jüdischen Volkstraditionen lebendig“ blieben. Er würde zwar einerseits „zur Verschönerung des jüdischen Cultus beitragen“ wollen, „und vor Allem für jüdische Lehrer und Prediger sorgen, die auf der Höhe der modernen Wissenschaft stehen“, also einerseits Reformen befürworten. Andererseits jedoch würde er sich vehement Reformen verweigern, von denen alte jüdische Bräuche tangiert werden würden: „Kein altehrwürdiger Brauch“ solle eingestellt, „kein hebräisches Gebet verstümmelt oder nur in deutscher Uebersetzung vorgetragen werden, kein Festtag, kein Sabbath verkürzt, oder gar auf einen christlichen verlegt werden“.⁷⁷ Da Hess argumentierte, dass Religion nicht von Nation zu trennen sei, gehörten die jüdischen Traditionen – die gleichsam laut Hess den Inbegriff jüdischer Nationalität darstellten – zum „lebendigen Kern des Judenthums“.⁷⁸ Der jüdische „Cultus“ sei nicht nur der Cultus der jüdischen Nation – das nationale „Wesen“ des Judentums – sondern zugleich auch Inbegriff des Authentischen.⁷⁹ Nach der „Erweckung eines patriotischen Sinnes in den Herzen der gebildeten Juden“ und der „Befreiung der jüdischen Volksmasse von einem geisttödtenden Formalismus durch eben diesen neubelebten Patriotismus“,⁸⁰ gälte es, das jüdische Reich wiederherzustellen.⁸¹ In Herzbergs Roman Jüdische Familienpapiere wiederum spiegelte sich das jüdische „Bedürfnis“ wider, wie Ben-Ari für andere Romane analysiert, „die Einzigartigkeit der jüdischen Kultur darzutun“.⁸² In Analogie zu den historischen Romanen jener Zeit zielte Herzbergs Briefroman darauf ab, zu zeigen, „daß die jüdische Kultur der deutschen in nichts nachstand“ und auch, „daß die historische jüdische Kultur ursprünglich und einzigartig war“.⁸³ Wie viele historische deutsch-jüdische Romane, sollte auch Herzbergs ein „Gegenstück“ zu den weit verbreiteten „Ghetto-Geschichten“ schaffen. Karl Emil Franzos und Berthold

       

Hess, Rom und Jerusalem, S. 50. Hess, Rom und Jerusalem, S. 50 f. Hess, Rom und Jerusalem, S. 29. Hess, Rom und Jerusalem, S. VIII. Hess, Rom und Jerusalem, S. 108. Vgl. Hess, Rom und Jerusalem, S. 109. Ben-Ari, Romanze mit der Vergangenheit, S. 40. Ben-Ari, Romanze mit der Vergangenheit, S. 41.

2.2 Das „authentische Judentum“ und das „unauthentische Christentum“

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Auerbach beschrieben beispielsweise „das traditionelle jüdische Milieu weithin karikaturhaft“.⁸⁴ Die historischen Romane hingegen verfolgten das Ziel, „das Bild von Juden und Judentum zu verschönern und zu korrigieren“.⁸⁵ Zudem „sollte das in der deutschen Gesellschaft verbreitete karikaturhafte Judenbild durch den ,neuen Juden‘, die ,neue Jüdin‘ und die ,jüdische Familie‘“ ersetzt werden.⁸⁶ Die dem Buch zentrale gegennarrativische Abgrenzung des Judentums vom Christentum veranlasste bereits den Rezensenten David Kaufmann zu der Feststellung, dass in „keinem anderen Buche […] die Sache des Judentums mit so außerordentlicher Begeisterung gegen das Christentum geführt“ worden sei.⁸⁷ Es sei längst an der Zeit gewesen, „dem Christentum die Maske vom Gesicht zu reißen und seine wahre Gestalt zu zeigen“.⁸⁸ Gerade auch das zentrale Thema des Romans, die christliche Mission der Juden im 19. Jahrhundert, wird im Rahmen von europäischer Expansion verstanden und explizit im kolonialen Kontext gelesen.⁸⁹ Samuel, der zunächst vom Christentum eingenommen ist, lässt sich vermittels der Abgrenzung vom „unauthentischen Christentum“ sukzessive vom „authentischem Judentum“ überzeugen. Dabei treten im Roman einige zentrale Aspekte zum Vorschein, die seinem Erachten nach die Überlegenheit des Judentums gegenüber dem Christentum zum Ausdruck bringen. Dazu gehören im Roman die Formel „Taten statt Worte“, das hohe Alter des Judentums und die authentische „Liturgie“ in der Synagoge: Die Formel „Taten statt Worte“ wird im Roman verwendet, als Samuel nach und nach die jüdischen Bräuche wiederentdeckt und ihn diese zunehmend beeindrucken. In Analogie zu Hessʼ Verortung jüdischer Authentizität in der „uralte[n] jüdische[n] Synagoge“, werden diese Aspekte auch im Roman anhand der Synagoge erläutert. Ismar Schorsch bezeichnet in From Text to Context die Synagoge als „the institution that would emerge in the emancipation era as the

 Ben-Ari, Romanze mit der Vergangenheit, S. 42.  Ben-Ari, Romanze mit der Vergangenheit, S. 42.  Ben-Ari, Romanze mit der Vergangenheit, S. 43.  Kaufmann, David: Jüdische Familienpapiere. In: Gesammelte Schriften von David Kaufmann. Erster Band. Hrsg. von M. Brann. Frankfurt a. M. 1908, S. 80 – 86, hier S. 84.  Kaufmann, Jüdische Familienpapiere, S. 85.  Für eine detailliertere Analyse dieses Zusammenhangs im Roman siehe Herrmann, Manja: Emotions in Jewish Nationalist Garb. Wilhelm Herzberg’s Novel Jewish Family Papers. Letters of a Missionary (1868). In: Wegweiser und Grenzgänger. Studien zur deutsch-jüdischen Kultur- und Literaturgeschichte. Festschrift für Mark H. Gelber. Hrsg. von Hans Otto Horch, Vivian Liska, Malgorzata Maksymiak und Stefan Vogt. Wien 2018, S. 261– 271.

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2 Authentizität und Geschlechtsspezifität

most important public arena for the expression of Jewish identity“.⁹⁰ Als Samuel an einem Schabbat zum ersten Mal in die Synagoge geht, denkt er „an alle langweiligen [christlichen – Anm. d. Verf.] Predigten Sonntag Vormittag und an alle die langweiligen Predigten Sonntag Nachmittag“ aus seiner Jugend. Außerdem erinnerte er sich „an die düstern Kirchen, in denen […] [er] in seinem Stuhle gebannt saß, während draußen der grüne Rasen lockte und die goldne Sonne“ und sogar „an den Ton selbst der Glocken, der […] [ihm] zum Schrecken war“, da sie „mit hohler Eintönigkeit die langen glühenden Predigten“ ankündigten, die ihn „ängstigten“ und die er „nicht verstand“, die darum immer nur „Worte,Worte, Worte“ gewesen seien.⁹¹ Das hohe Alter des Judentums wird im Roman während Samuels Synagogenbesuchs am Beispiel der Gebetsmäntel illustriert. In Samuels romantischer Vorstellung des Judentums wird deutlich, wie Tradition der Authentizität die nötige Kontinuität verleihen soll: „Sie waren alt diese Mäntel. Sie waren mitgewandert vom Sinai über den Jordan, vom Jordan über den Euphrat, vom Frat zurück in das heilige Land, von dem Berge Zion aus trugen ihn die Flüchtlinge und Kriegsgefangene in alle Theile der Erde“.⁹² Als Samuel gefragt wird, ob er „den Segen über die Thora […] sprechen“ wolle, lehnt er „erschreckt“ ab und erinnert sich plötzlich an seinen ursprünglichen Plan, die Familie zum Christentum zu bekehren. In diesem Zusammenhang wird im Roman das ältere Judentum mit dem jüngeren Christentum verglichen. Das jüdische Gesetz hätte es schließlich schon gegeben, „als Ninive noch nicht stand, als noch mythisches Dunkel über Hellas lagerte“.⁹³ Neben seiner Fokussierung auf den Ritus und das Alter der jüdischen Religion beurteilt Samuel die „Liturgie“ der Synagoge als authentischer gegenüber der der Kirche. In der Synagoge würden keine „Bischöfe und Pfaffen“, also Menschen, Juden regieren: „Ihren nationalen Fürsten hat die zerstreute Nation verloren, aber ist nicht, wie er es verheißen, Gott der König dieses Volkes?“ Juden hätten „ihre geistliche Selbstregierung aus dem heiligen Lande bis heute gerettet“, während Christen – Samuel schreibt hier noch „wir“ – „gleich nach den Aposteln der despotischen Kirchengewalt unterthan wurden“.⁹⁴ Samuels Synagogenbesuch am Schabbat lässt ihn „die Kinder seiner Nation“ bewundern, da „Ruhe und Zufriedenheit […] auf den gefaßten Gesichtern“ lag. Dies hätte „nichts von angenom-

 Schorsch, Ismar: From Text to Context. The Turn to History in Modern Judaism. Hanover (NH)/ London 1994, S. 2.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 146.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 146 f.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 148.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 147.

2.2 Das „authentische Judentum“ und das „unauthentische Christentum“

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mener Andacht“, wie in der Kirche, sondern „jedem schien wohl wie in seinem Hause, jeder fühlte sich in seinem Recht“, dies sei „ein Volk von Männern“.⁹⁵ Ergänzt wird diese Authentifizierung des Judentums gegenüber dem Christentum hier nicht nur durch bürgerliche Ideale der Männlichkeit, wie in Samuels aussagekräftigem Ausspruch des „Volk[s] von Männern“ deutlich wird. Auch andere Vorstellungen des Bürgertums des 19. Jahrhunderts fanden hier ihren auffälligen Anklang. Wie der „deutsche volkstümliche Roman“ brachten auch dessen jüdische Entsprechungen, parallel zum Aufstieg dieser gesellschaftlichen Schicht, die „Bedürfnisse und Werte des Bürgertums zum Ausdruck“, und zwar „nicht zuletzt durch Darstellung vorbildlichen Verhaltens“ der Romanfiguren.⁹⁶ Auch Samuels Cousin Benjamin sprach emotional über das Besondere des Schabbats, ihm sei „wohl“, weil er fühle, er hätte seine „Pflicht gethan“. Die Menschen seien tatsächlich am Schabbat „glücklicher und frommer gestimmt“. Zu Hause herrsche eine „gemüthvolle Ruhe“, die „sich über alle Gegenstände gelagert hat“, und Rachel, Benjamins Schwester, „putzt sich“ am Schabbat „für die ganze Woche“ und empfängt die aus der Synagoge Heimkehrenden „mit der Miene eines braven Hausmütterchens, das alle Geschäfte zeitig besorgt hat“. Der Rabbi wiederum sei „angenehm“ und „[v]oll interessanter Geschichten und treffender Sprüche“.⁹⁷ Ganz offenbar machte der „Kult der Häuslichkeit“ im 19. Jahrhundert das „bürgerliche Wohnhaus, insbesondere die Wohnstube, zum entscheidenden Ort für die Aushandlung bürgerlicher Identität“.⁹⁸ Darüber hinaus repräsentierte die Wohnstube, so argumentiert Eva Lezzi, einen „Ausdruck der Geschlechterordnung“, einen „gendered space“.⁹⁹ Dies lässt sich auch für den Roman Herzbergs anführen, da Rachel vor allem im Wohnhaus anzutreffen ist und sich getreu der bürgerlichen Ideale der Weiblichkeit verhält – ein Aspekt, der weiter unten im Kapitel noch dezidierter dargestellt wird. Für die Analyse der vorliegenden Quelle sollte der „gendered space“ jedoch auch auf die Synagoge am Schabbat ausgeweitet werden. Jeder Besucher fühle sich dort, so

 Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 147.  Ben-Ari, Romanze mit der Vergangenheit, S. 43.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 148.  Lezzi, Eva: Ein jüdischer Ort? Die bürgerliche Wohnstube in der deutsch-jüdischen Literatur und Kultur des 19. Jahrhunderts. In: Jewish Spaces. Die Kategorie Raum im Kontext kultureller Identitäten. Hrsg. von Petra Ernst und Gerald Lamprecht. Innsbruck [u. a.] 2010, S. 173 – 189, hier S. 173.  Lezzi, Ein jüdischer Ort, S. 175. Mit dem Ausdruck „gendered space“ bezieht sich Lezzi auf Würzbach, Natascha: Erzählter Raum. Fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger, Ausdruck der Geschlechterordnung. In: Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger. Hrsg. von Jörg Helbig. Heidelberg 2001, S. 105 – 129.

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2 Authentizität und Geschlechtsspezifität

Samuel im Roman, „wohl wie in seinem Hause“ und es sei dort ein „Volk von Männern“ versammelt.¹⁰⁰ Die Häuslichkeit des Wohnhauses erfährt hier bemerkenswerterweise eine Erweiterung auf die Synagoge, wie bereits erwähnt wurde, einen der zentralsten Räume jüdischer Identitätsmanifestationen des 19. Jahrhunderts. Der Titel von Herzbergs Roman betont bereits den unmittelbaren Begriff der „Familie“, was auch den begeisterten Rezensenten David Kaufmann dazu veranlasste, die Bestimmung des Buches darin zu sehen, ein „Hausbuch […] in des Wortes bester und schönster Bedeutung“ zu werden.¹⁰¹ Im Roman erläutert der Rabbi, dass das „Ceremonialgesetz der Juden“ zugleich das „codificirte Gewohnheitsrecht“ der jüdischen Nation sei. Eben dies zwinge Juden nicht auf „Glaubenssätze zu schwören“ und damit dem „Verstande Gewalt anzuthun“, es enthalte keinen „Anspruch auf Beherrschung“ des „Gewissens“. So stelle die Halacha „die Fortführung des Mosaischen in das tägliche Leben“ dar, denn genau „dieses will es heiligen“. Somit soll nicht nur das „Gotteshaus“, wie „Tempel oder Kirche“, sondern das eigene „Haus“ und die eigene „Familie“ zum „Sitz dieses Gottesdienstes“ werden. Mithin würde „die religiöse Form zur natürlichen Unterlage reiner Sittlichkeit“.¹⁰² Mit anderen Worten: Das bürgerliche Ideal der „Häuslichkeit“, in welchem das eigene Zuhause zum Ort der Religion und der Sittlichkeit wird, wird damit auch Träger des Nationalismus.¹⁰³ Benjamin vermutet an einer Stelle des Romans, dass Samuel die jüdischen Bräuche „albern“ vorkommen müssten, da dieser schließlich „an die große Welt“ und die „glänzenden Gesellschaften mit ihren reizenden Damen und hochgestellten Männern“ gewöhnt sei.¹⁰⁴ Mit dieser Aussage bettet er die eben geschilderten bürgerlichen Ideale in den Kontext einer besonderen Gesellschaftskritik, die oftmals integraler Bestandteil des Authentizitätsdiskurses war und ist. Die Gepflogenheiten des Bürgertums werden innerhalb dieser Kritik als authentisch markiert, eine Tatsache, die auch an Samuels Reaktion auf Benjamins Vermutung abzulesen ist: Benjamin solle dankbar sein, dass er etwas wie den „Sabbat“ hätte, „denn diesen Frieden kennen sie nicht, die reizenden Damen und hochstehenden Herren“.¹⁰⁵ Wenn ihn sein „alter Rock“ wärmen würde, solle Benjamin sich hüten,

     

Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 147. Kaufmann, Jüdische Familienpapiere, S. 83. Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 239 f. Mosse, Nationalismus und Sexualität, S. 29. Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 148. Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 149 f.

2.2 Das „authentische Judentum“ und das „unauthentische Christentum“

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„ihn gegen den bunten Tand zu verkaufen, unter dem den Leuten das Herz im Leibe friert“.¹⁰⁶ Die Gegenüberstellung von „alter Rock“ und „bunte[m] Tand“ spiegelt ebenso die Authentifizierung der bürgerlichen Ideale wider, wie die positive Darstellung der jüdischen Familie im Roman. Die Bedeutung der Familie im Bürgertum des 19. Jahrhunderts war, so hat es Marion Kaplan bereits festgestellt, tatsächlich eine zentrale; auch viele protestantische „Zeremonien […] wurden in dieser Zeit privatisiert. Das deutsche Weihnachtsfest zum Beispiel, das einst auf die Kirche konzentriert gewesen war, wurde nun berühmt für seinen intimen, familiären Charakter“.¹⁰⁷ Und so blieb die Familie „der wichtigste Ort, an dem sich jüdisches Gefühl und Bekenntnis ausdrücken konnte“.¹⁰⁸ Addiert man hierzu die voranschreitende Säkularisierung, die jüdische ebenso wie christliche Familien erlebten, lässt sich feststellen, dass die Familie im Allgemeinen „zur Basis einer Frömmigkeit“ wurde, „die in bürgerliche Moral und Kultur transformiert worden war“.¹⁰⁹ Vereinzelte Aspekte dieser Idealisierung der Familie tauchten auch in anderen Gruppierungen des Judentums im 19. Jahrhundert auf.¹¹⁰ Im Übrigen sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass für Moses Hess die „Familienliebe“ sogar die Ursache für seinen „Entschluß“ war, sich „für die nationale Wiedergeburt“ des jüdischen Volkes zu engagieren. Nur „ein jüdisches Herz“ sei zu „einer so unbegrenzten Familienliebe“, „die gleich der Mutterliebe aus dem Blute“ stamme „und doch so rein wie der Geist Gottes ist“, fähig.¹¹¹ Die jüdische Familie repräsentiere zudem die Verbundenheit des Individuums mit Gott und der jüdischen Vergangenheit. Entgegen der Vorstellung des „egoistische[n] Seelenheil[s] des isolirten Individuums“, trenne das Judentum „nirgends das Individuum von der Familie, die Familie von der Nation, die Nation von der Menschheit, die Menschheit von der organischen und kosmischen Schöpfung, und diese vom Schöpfer“.¹¹² Dies läge am einzigen „Dogma“ des Judentums: seiner „Einheitslehre“.¹¹³ Auch der Rabbiner Abraham Mayer Goldschmidt aus

 Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 149 f.  Kaplan, Marion: Jüdisches Bürgertum. Frau, Familie und Identität im Kaiserreich. Hamburg 1997, S. 102.  Kaplan, Jüdisches Bürgertum, S. 94.  Kaplan, Jüdisches Bürgertum, S. 102.  Ben-Ari, Romanze mit der Vergangenheit, S. 95 f.  Hess, Rom und Jerusalem, S. 2.  Hess, Rom und Jerusalem, S. 5.  Hess, Rom und Jerusalem, S. 5. Er bezieht sich hier aller Wahrscheinlichkeit nach auf die Glaubenssätze des Maimonides.

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2 Authentizität und Geschlechtsspezifität

Leipzig schrieb in Reaktion auf Rom und Jerusalem an Hess, dass er zwar „nicht verhehle“, nicht alle von Hessʼ Meinungen zu teilen. Dennoch plädiere er für eine Veröffentlichung von Rom und Jerusalem, und zwar aufgrund von Hessʼ Aussagen zur „Bedeutung der Familie“. Darüber hinaus fände er Hessʼ Aussagen „über den Glauben an die Unsterblichkeit der Nation“ sehr bemerkenswert.¹¹⁴

2.3 „Authentische Hebräer“ und „unauthentische Hellenen“ Seit dem 18. Jahrhundert trug die Bezugsnahme auf das antike Griechenland auch im jüdischen Kontext verstärkt dazu bei, sich selbst zu definieren. Aufgrund der durch die Haskala angebrochenen Neudefinition des Judentums als Kultur, wurde eine andere Projektionsfläche als das Christentum notwendig. Dieser „Spiegel“ fungierte nicht nur als gegennarrativisches Vehikel zur Selbstdefinition per Abgrenzung und als Beleg für eine „Überlegenheit des Judentums“, sondern auch, so hob es bereits Yaacov Shavit hervor, um die eigene Kultur durch Aspekte, die ihr „fehlten“, zu bereichern.¹¹⁵ Dadurch kristallisiert sich eine weitere Facette in der Konstruktion des authentischen Judentums heraus. Obwohl es sich bei den Vorstellungen einer „griechischen Seele“ und einer „jüdischen Seele“ – oder auch „Mentalität“ oder „Geist“ – um abstrakte Konstrukte handelt, waren sie dennoch sehr „einflussreich“ und galten als „zweckmäßig“ für die Selbstpositionierung von Jüdinnen und Juden in der europäischen Gesellschaft.¹¹⁶ Parallel zur zentralen Rolle „Hellasʼ“ und des „hellenischen Stils“ für die deutsche Nationalbewegung, wurde auch das authentische Nationaljudentum nicht nur in religiösen, sondern, durch Abgrenzung von den „Hellenen“, auch durch kulturelle Begriffe konstruiert.¹¹⁷ Neben der Kritik an der Reform und der Orthodoxie, gebrauchte Moses Hess den spätestens seit Johann Gottfried Herder gebräuchlichen binären kulturellen Code „Hebräer–Hellenen“.¹¹⁸ Hess beginnt seine Darstellung dahingehend folgendermaßen:

 Hess, Moses: Briefwechsel. Hrsg. von Edmund Silberner unter Mitwirkung von Werner Blumenberg. ʼS-Gravenhage 1959, S. 377 f. Brief 235. Abraham Mayer Goldschmid an Hess vom 13. Oktober 1861. Hervorhebung im Original.  Shavit, Yaacov: Athens in Jerusalem. Classical Antiquity and Hellenism in the Making of the Modern Secular Jew. London/Portland (OR) 1999, S. 6 f.  Shavit, Athens in Jerusalem, S. 9.  Zur Rolle der hellenischen Kultur für die deutsche Nationalbewegung siehe Mosse, George L.: The Nationalization of the Masses. Political Symbolism and Mass Movements in Germany from the Napoleonic Wars through the Third Reich. New York/Scarborough (ON) 1977 [1975].  Vgl. auch Avineri, Moses Hess, S. 203 f.

2.3 „Authentische Hebräer“ und „unauthentische Hellenen“

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Die geistigen Anschauungen des Menschen, gleichviel zu welcher Religions- und Stammesgenossenschaft er gehört, entwickeln sich mit den Lebenserfahrungen, die er in dem ihm umgebenden sozialen Leben macht; aber sie wurzeln, wie das ganze soziale Gebiet, mittelst Familie und Race, im organischen Leben, mit welchem sie in demselben engen und unauflöslichen Zusammenhange stehen, wie das organische Leben selbst mit dem kosmischen. ¹¹⁹

Hier konnte Hess Ansätze seiner sozialistischen Weltanschauung zum Ausdruck bringen: Die Vorstellung einer geschichtlichen Entwicklung mit dem Ziel der Einheit des Menschengeschlechts.¹²⁰ Hess war der Überzeugung, dass die Vorstellung der Gleichheit aller Menschen („Einheit des Menschengeschlechts“) eine geschichtliche Entwicklung sei und „keine ursprünglich von der Natur gegebene […]“.¹²¹ Sie gehöre damit in die soziale Sphäre. Diese Entwicklung habe „die Mannigfaltigkeit der ursprünglichen Volksstämme zur Voraussetzung, ihren Kampf zur Bedingung, ihr harmonisches Zusammenwirken zum Ziele“.¹²² Der Historiker John Efron hat sich ausführlich mit der jüdischen „race science“ beschäftigt, einem Aspekt, den man auch hier bei Hess antrifft. Efron argumentiert, dass diese Rhetorik der jüdischen Rasse das Ziel hatte, „to create a new, ,scientific‘ paradigm and agenda of Jewish self-definition and self-perception“.¹²³ Als Ursachen für diese Entwicklung sah Efron einerseits die „powerful antisemitic forces in both Western and Eastern Europe in the 1870s and 1880s“, und andererseits eine eigene idiosynkratische jüdische „inner dynamic“, verstanden als „novel post-emancipatory response to what they recognized as the failure of assimilation and the crisis of Jewish identity“.¹²⁴ Aufgrund seiner naturwissenschaftlichen Interimsphase erklärte Hess sein Weltbild anhand einer polygenetischen Rassentheorie, nämlich durch die Behauptung, dass es „ursprünglich verschiedene Menschenracen und Volksstämme“ gegeben hätte und nicht eine einzige Rasse, der alle Menschen entstammten und die sich im Folgenden unterschiedlich entwickelt hätten.¹²⁵ Als relevant für seine Argumentation

 Hess, Rom und Jerusalem, S. 125.  Avineri analysiert, dass Hessʼ Betonung des Nationalismus ihn von Marx und anderen zeitgenössischen Sozialisten unterschied, indem er auf „die Verbindung zwischen dem Emanzipationskampf des Proletariats und dem Erlangen der nationalen Selbstbestimmung“ hinwies (Vgl. Avineri, Moses Hess, S. 173 f.).  Hess, Rom und Jerusalem, S. 127.  Hess, Rom und Jerusalem, S. 128.  Efron, John M.: Defenders of the Race. Jewish Doctors and Race Science in Fin-de-Siècle Europe. New Haven/London 1994, S. 5. Siehe hierzu auch Biale, David: Blood and Belief. The Circulation of a Symbol between Jews and Christians. Berkeley [u. a.] 2007, besonders S. 162– 206.  Efron, Defenders of the Race, S. 7.  Hess, Rom und Jerusalem, S. 129.

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2 Authentizität und Geschlechtsspezifität

nannte er die indogermanischen und die semitischen Stämme.¹²⁶ Die Juden zählte Hess zu den „ursprünglichen“ Rassen und Volksstämmen. In seinen Darstellungen ist jedoch das genaue Bild dieser Zusammenhänge nicht immer klar erkenntlich, da er oftmals etliche Begriffe synonym gebrauchte. Ohne Frage jedoch wollte er mit seinem Jargon einen „typischen Gegensatz“ stilisieren, durch welchen die Hauptattribute des authentischen Judentums zutage treten: Die herausragendsten antiken Repräsentanten der indogermanischen Stämme „kulminierte[n] in Griechenland“, die der semitischen Stämme demgegenüber in „Judäa“.¹²⁷ In diesen beiden Ländern gelangte der typische Gegensatz der indogermanischen und semitischen Volksstämme zu seinem Höhepunkte; ihre grundverschiedenen Lebensanschauungen sind uns in den klassischen Werken der Hellenen und Israeliten überkommen. Wir ersehen daraus, daß die Einen von der Mannigfaltigkeit, die Andern von der Einheit des Lebens ausgingen.¹²⁸

Die „Einheit des Lebens“ sei es, so Hess, was philosophisch gesehen das „Wesen“ beziehungsweise das Authentische des Judentums grundsätzlich bestimme.¹²⁹ Neben der dialektischen Kreation eines authentischen Judentums in der Auseinandersetzung mit dem Christentum bediente sich auch Herzberg des binären Codes „Hebräer–Hellenen“. Wie früh dieser binäre Code im nationalen Diskurs verwendet wurde, zeigt bereits der 1857 von Wilhelm Herzberg verfasste Aufsatz Ein Schulprogramm, in welchem er dem zeitgenössischen jüdischen Diskurs ein noch „beschränktes“, aber doch bemerkenswertes jüdisches „Selbstdenken“ attestierte.¹³⁰ Dieses erfordere „eine israelitische Erziehungsanstalt“, die im „ächt [sic] nationalem Geiste“ gestaltet worden sei. Herzberg schließt den Aufsatz mit dem optimistischen Ausspruch: „Unsere Väter sind mit Plato und Aristoteles fertig geworden, ihre Kinder werden sich gegen die zwerghaften Nachkommen jener großen Philosophen nicht schlechter erweisen“.¹³¹ Mit an-

 Hess, Rom und Jerusalem, S. 130.  Hess, Rom und Jerusalem, S. 130. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Hess, Rom und Jerusalem, S. 130 f. Hess fügt übrigens ebenda hinzu: „In Heine und Börne haben die modernen Juden […] die beiden Typen des Culturlebens repräsentiert“. Er will damit seiner Aussage Nachdruck verleihen, dass „die Versöhnung dieses Gegensatzes [zwischen Juden und Hellenen] die Arbeit der ganzen Culturgeschichte geworden“ sei.  Zu „Hellenen und Israeliten“ bei Hess siehe auch Avineri, Moses Hess, S. 203 f.  Herzberg, W[ilhelm]: Ein Schulprogramm. In: Schriften des Israelitischen Literatur-Vereins. Leipzig 1876, S. 47– 78, hier S. 48.  Herzberg, Ein Schulprogramm, S. 77.

2.3 „Authentische Hebräer“ und „unauthentische Hellenen“

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deren Worten, der hellenischen Philosophie standzuhalten sei von jeher ein fundamentales Anliegen jüdischen Denkens gewesen. In den Jüdischen Familienpapieren wird eine national-jüdische Authentizität – möglicherweise in Anlehnung an Moses Hess – mithilfe dieser Dialektik erschaffen. Im Roman wird von der Existenz zweier „Völkerfamilien“ ausgegangen, den „Semiten“ und den „Indogermanen“. Diese beiden „begabte er [Gott – Anm. d.Verf.] mit der reinsten Auffassung seines Wesens“. Und innerhalb dieser ersann Gott „zwei Nationen als Vertreter“, und zwar „die Juden und die Hellenen“. Diese beiden Nationen hätten sich, so der Rabbi, „frei von einander, eigenthümlich entwickelt“ und stünden „noch heute geschieden“.¹³² Im Folgenden werden die Hellenen zwar mit zum Teil ansehnlichen Attributen versehen, diese werden jedoch überwiegend als „unauthentisch“ bewertet. Die Hellenen repräsentierten im Roman die Vielfalt, das Denken und den Verstand, jedoch auch die Form, die Schönheit und Ästhetik, die Bildung und die Weisheit. Die Hebräer standen im Gegensatz dazu für die Einheit, die Empfindung und das Fühlen, die Natur, Dankbarkeit, Treue und Demut und damit für eine gefühlvolle Authentizität. Ein weiterer Gegensatz zwischen Hebräern und Hellenen sei, so der Roman, der Unterschied der Wahrnehmung. Der Hellene verlasse sich auf seinen Verstand, der Hebräer hingegen auf das Gefühl. Das Letztere sei – abermals sind hier die Ideale der Empfindsamkeit und der Romantik nicht zu übersehen – von Vorteil, da der Verstand in gewisser Hinsicht nicht verlässlich sei. Die authentische Wahrnehmung, mit den Worten des Rabbis „[d]ie einzige Sicherheit der Realität“, bliebe „Sinn und Empfindung“. Aber, „mit jedem Grundgesetz des Menschlichen, mit dem Schein“ hätte „die, der Natur analoge Fähigkeit der Empfindung nichts zu schaffen; nur der Denkende unterliegt ihm […]“. Doch „[d]er stets vom Einzelnen zum allgemeinen [sic] eilende Verstand“ sei „ihm durchaus unterworfen“. Die Umwelt nur mit dem Verstand wahrzunehmen, sei nicht möglich, denn der Verstand könne trügen. Schließlich scheine, wenn man sich lediglich auf seinen Verstand verließe, auch die Erde „stillzustehen, die Sonne sich zu bewegen, die Wellen fortzuschreiten“.¹³³ Die Hebräer lassen ihre Wahrnehmung des „Allgemeinen“ nicht vom „Schein“ beeinflussen, sondern „[m]it jenem, dem Schein nicht unterworfenen Organ der Empfindung“. Wenn die Hebräer es „fühlen“, wüssten sie, „daß es ist“,¹³⁴ und zwar „nicht als eine Abstraction sondern als ein wirkliches, reales Wesen“, welches sie „Gott nennen“.

 Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 212.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 213.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 213.

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2 Authentizität und Geschlechtsspezifität

Gott empfänden sie „als Urheber der natürlichen und der sittlichen Welt, denn die sittliche Idee“ sei „von der göttlichen“ untrennbar: Da hast Du die Quelle unserer Zufriedenheit, die Schranke der sinnlichen, in’s Maaßlose schweifenden Begierde. Wir fühlen ihn und wissen ihn den Schöpfer der Welt, hocherhaben über alle seine Worte, darum ist es, daß wir die Anmaßung der Heiden das Menschliche mit dem Göttlichen zu vermischen verabscheuen und hassen. Dem Vater aller Wesen gehört jede Form unseres Gefühls. Heiße Liebe und Dankbarkeit, Treue und Demuth, sie erfüllen das Herz der Hebräer.¹³⁵

„Die Empfindung des Hellenen“ sei hingegen „geartet das Einzelne in seiner Realität aufzufassen“. Wie die Hebräer „die Realität des Allgemeinen“ in sich tragen „und als Religion reproducir[t]en“, dementsprechend trage „der Hellene die Form in seinem Busen […], die Idee der Schönheit ist sein Erbtheil“:¹³⁶ Wenn Wonne das Herz des Hebräers durchbebt, der den Ewigen in begeisterten Prophetenworten preist, wenn ihm Thränen in’s Auge dringen, sobald er eine That reiner Gerechtigkeit geübt sieht, so entzückt das Herz des Hellenen der Anblick der Schönheit […], auch Göthe gesteht, daß er die Idee der Wahrheit nie von der der Schönheit trennen konnte.¹³⁷

Das sowohl von Moses Hess, als auch von Wilhelm Herzberg gezeichnete essentialisierte und zum Teil rassentheoretische Konternarrativ gegenüber den Hellenen nahm im proto-zionistischen und zionistischen Diskurs eine zentrale Stellung ein. Es kann nicht genug betont werden, dass dies ein theoretisches Modell zur Erschaffung essentialisierter Vorstellungen der hebräischen und hellenischen Kultur, verbunden mit der Suche nach einer authentischen jüdisch-deutschen Kultur, darstellte. Die hier skizzierte angebliche Trennung zwischen der hebräischen und hellenischen Kultur, die in unserem Kontext auf die jüdische und deutsche Kultur übertragen wurde, bestand in der Art jedoch nicht und sollte auch im späteren deutschsprachigen zionistischen Diskurs immer ambivalent betrachtet werden.

2.4 Geo-kulturelle Räume der Authentizität Neben dem modellhaften konstruierten Gegensatz zwischen Judentum und Christentum und zwischen Hebräern und Hellenen sind für die Konstruktion der

 Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 213.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 214.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 214.

2.4 Geo-kulturelle Räume der Authentizität

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Authentizität bei Moses Hess und Wilhelm Herzberg noch geo-kulturelle Verortungen relevant. Es wurde im deutsch-jüdischen Diskurs nach Beispielen jüdischer Gemeinden gesucht, in denen die Ideale der deutschen Nationaljuden vorbildhaft umgesetzt wurden. In ihrer Kritik an der Moderne und am modernen Judentum wandten sich Juden daher, wie Steven E. Aschheim gezeigt hat, den „vor-“ und „anti-modern“ stilisierten Zeiten und Gegenden zu, nämlich Osteuropa, Palästina und dem Orient.¹³⁸ Einen besonderen Raum im Diskurs der jüdischen Authentizität nahm bereits in diesen frühen Texten die geo-kulturelle Einheit „Osteuropa“ ein. Moses Hess verortete das authentische nationale Judentum ausdrücklich im „Osten“,¹³⁹ und beurteilte den Chassidismus, entgegen einer herrschenden Meinung jener Zeit, nicht als „rückständig“ sondern als positiv – sowohl für nationale als auch sozialistische Ideale.¹⁴⁰ So gebe es laut Hess „in Rußland, Polen, Preußen, Oestreich und der Türkei“ noch eine große Anzahl von Juden, „die Tag und Nacht die inbrünstigsten Gebete für die Wiederherstellung des jüdischen Reiches zum Gotte der Väter emporsteigen“ ließen. Diese hätten „den lebendigen Kern des Judenthums“ beziehungsweise „die jüdische Nationalität“ viel „treuer bewahrt“ als Juden im Okzident. In diesen Juden würde „das lebendige Korn bewahrt“, das „Früchte tragen wird, sobald es in den cultivirten Boden der Gegenwart hinein gepflanzt“ werden würde.¹⁴¹ Palästina kam in der Verortung der Authentizität eine andere Rolle zu. Hess beschrieb die dortigen Juden als die „treuen Hüter des heiligen Grabes unsrer Nationalität“,¹⁴² und versuchte sie gegen die Attacken seitens der Aktivisten für Palästina in Schutz zu nehmen.¹⁴³ Außerdem war für Hess klar, dass Juden „im  Vgl. Aschheim, Brothers and Strangers, S. 83.  Dies bemerkte bereits Avineri, Moses Hess, S. 186.  Vgl. Hess, Rom und Jerusalem, S. 187. Siehe auch: „Ähnlich den jüdischen Essäern in den letzten Zeiten des Alterthums, ähnlich den protestantischen Pietisten am Ende des Mittelalters, repräsentieren die Chasidäer, im Gegensatze zur äußern Werkheiligkeit eines in Formen erstarrten Buchstabenglaubens, die Verinnerlichung des jüdischen Geistes. – Die Chasidäer beobachten nicht pedantisch die Vorschriften des jüdischen Gesetzes, obgleich sie sich prinzipiell so wenig von der mündlichen, wie von der schriftlichen Thora lossagen; aber sowohl die schriftliche wie mündliche Lehre hat für sie nur Geltung als Ausdruck des Geistes. Nicht die Form, sondern der Geist, der sie geschaffen, ist ihnen das Heilige (Hess, Rom und Jerusalem, S. 209).  Hess, Rom und Jerusalem, S. 29 f.  Hess, Rom und Jerusalem, S. 120.  Vgl. hierzu Hess, Rom und Jerusalem, S. 116 f.: „Die Sehnsucht nach dem Lande der Väter, und der Wunsch, unsern treuen Brüdern, die bis heute nicht aufgehört haben, dorthin zu pilgern und zu sterben, ein besseres Loos zu bereiten, hat auch die Herzen der Gebildeten ergriffen. Die Reisen nach Jerusalem, die Unterstützungen unsrer dortigen Brüder, die Stiftungen von Unterrichts- und Wohltätigkeitsanstalten in Palästina, sie gehen nicht mehr von orthodoxer Seite allein

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2 Authentizität und Geschlechtsspezifität

Orient der moralische Weltpol sein“ werden, sie hätten schließlich das „Buch der Bücher“ verfasst. Und so könnten sie, Hessʼ Meinung nach, die „Erzieher der wilden arabischen Horden und der afrikanischen Völkerschaften“ werden.¹⁴⁴ In den Jüdischen Familienpapieren wird jüdische Authentizität mit den polnischen Juden verknüpft. Neben zahlreichen anderen Hilfebedürftigen kommen auch „Talarträger aus Polen“ in das Haus des Rabbis. Sie sehen laut Samuel zwar dürftig aus, aber ihr Kleid ist Seide und nicht zerrissen; es sind Bettler, man nennt sie Schnorrer, aber durchaus anders als unsere Bettler. Sie sind nicht roh, nicht unwissend, nicht liederlich, noch dem Trunk ergeben – es sind gebildete Leute, die eine Art Erziehung genossen haben; ihre hebräischen Kenntnisse dürften manchen Pastor beschämen.¹⁴⁵

Samuel schildert bereits im dritten Brief den Besuch eines Juden, der über die problematische Situation der Juden in Polen berichtet. Samuel imponierte diese Haltung sehr und er schrieb nach diesem Treffen bezüglich der Authentizität und der Wahrhaftigkeit dieses polnischen Juden: Ich ging hinaus mit schwerem Herzen und aß keinen Bissen bei Tische, denn die Thränen stiegen unablässig in mir auf. Ich sagte, ich wäre nicht wohl und ging auf mein Zimmer und weinte über das unglückliche Volk. Aber durch mein Weh zog sich ein wunderbares Gefühl der Beruhigung. Eins sagte ich, konnte sie retten, die süßesten Güter, Heimath und Familie erhalten, ein wenig Wasser und ein wenig Lüge – Aber sie wollten nicht lügen. Gott sei gelobt, es giebt noch Menschen, die für die Wahrheit Bürgschaft leisten, denen sie ist heiliger als die heiligsten gesellschaftlichen Bande.¹⁴⁶

Im Roman wird noch ein weiterer geo-kultureller Raum zur Konstruktion der jüdischen Authentizität verwendet. Das Geständnis Samuels und seine endgültige Rückkehr zum Judentum ereignen sich chronologisch nach dem sephardischen Volksmärchen Das Mädchen vom Tanger, das in eine Konversation zwischen Samuel und Rachel im sechzehnten Brief des Briefromans eingeflochten ist.¹⁴⁷

aus. – Diese ernstlichen und nachhaltigen Bemühungen zum Besten unsrer Brüder im Orient zeigen, daß es heute unter allen Klassen und auf allen Bildungsstufen nicht an gutem Willen fehlt, der Misère abzuhelfen. – Es kommt nur noch darauf an, mehr Plan in das fromme, patriotische Werk zu bringen“. Im Vorwort von Rom und Jerusalem formuliert Hess wohlgemerkt, dass „[a]uch Jerusalems verwaiste Kinder […] Theil nehmen dürfen an der großen Völkerpalingenesis, an der Auferstehung aus dem todtenähnlichen Winterschlaf des Mittelalters mit seinen bösen Träumen“.  Hess, Rom und Jerusalem, S. 103.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 21.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 25.  Vgl. Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 167– 206.

2.4 Geo-kulturelle Räume der Authentizität

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Das Märchen lässt sich in besonderer Hinsicht im deutsch-jüdischen Diskurs der Authentizität einordnen. Im Diskurs um Authentizität nehmen Märchen und Volkssagen als Hauptrepräsentanten der Folklore einen zentralen Platz ein. Im deutschen Diskurs sind die Gebrüder Grimm ein prominentes Beispiel der Tendenz, Folklore als das Authentische in der Kultur und der Nation zu sehen.¹⁴⁸ Dem Genre verpflichtet, gilt dieser Anspruch auch für dieses Märchen. Die FolkloreSpezialistin Regina Bendix wies bereits darauf hin, dass Folklore schon lange als „Vehikel bei der Suche nach dem Authentischen“ diente und „das Sehnen nach einer Flucht aus der Moderne“ ausdrückte.¹⁴⁹ Im Roman erzählt Samuel seiner Cousine Rachel die „Geschichte des marrokanischen Mädchens“. Die Geschichte handelt von einem jüdischen Mädchen aus Tangier in Marokko, welches lieber stirbt, als zum Islam zu konvertieren.¹⁵⁰ Wilhelm Herzberg bezog sich mit dem Märchen, welches später auch separat unter dem Titel Das Mädchen von Tanger. Einer wahren Begebenheit nacherzählt von Dr. W. Herzberg veröffentlicht wurde, auf historische Ereignisse, die sich 1834 in Marokko zutrugen. Demnach handelt es sich bei der Protagonistin um Sol Hachuel, die Tochter von Chajim und Simchah Hachuel, die zwischen 1817 und 1834 in Tangier lebte. Das Verhältnis zu den muslimischen Nachbarn variiert in den unterschiedlichen Berichten. In einer Variante hatte Sol nach Aussage des Nachbarn bereits den Islam angenommen.¹⁵¹ Herzberg entschied sich für die oben geschilderte Variante des Mär-

 Vgl. Bendix, In Search of Authenticity, S. 44 f.  Bendix, In Search of Authenticity, S. 7.  Esther, so der Name des Mädchens, ist die Tochter von Hajim und Simcha Hachuel. Sie darf das Haus nicht verlassen, nimmt jedoch Kontakt zu ihrer muslimischen Nachbarin, Tahara, auf. Als die Mutter nun Esther eines Tages mit Schlägen bestrafen will, flüchtet sie zu ihrer Nachbarin und schüttet ihr ihr Herz aus. Ihre Nachbarin will ihr helfen. Auch als Esther entgegnet, dass sie „nie eine gute Muhammedanerin werden“ würde, beschließt Tahara, sich der Sache anzunehmen. Esther geht davon aus, dass Tahara lediglich mit ihrer Mutter sprechen wird, doch Tahara veranlasst, dass Esther von einem Soldaten zu Arbi Esido, dem Kaid von Tanger, gebracht wird, der spricht: „Du bist also, mein gutes Kind, die Jüdin, die, von der Wahrheit unserer heiligen Lehre gerührt, entschlossen ist ihrem Unglauben abzuschwören?“ Als Esther dies abstreitet, wird Tahara geholt, die abermals bestätigt, es sei der Wunsch Esthers gewesen, zum Islam überzutreten. Esther wird im Palast behalten. Als sie sich auf Nachfrage weigert, den Islam anzuerkennen, wird sie vorerst in das Gefängnis gebracht. Ihre Familie unternimmt unterdessen einiges, um sie von dort zu retten. Ihr Vater kommt eines Nachts zum Fenster ihrer Zelle und spricht, dass sie, um ihr „Leben zu retten die falsche Lehre zum Schein annehmen“ dürfe, doch auch davon macht Esther keinen Gebrauch. Sie wird daraufhin nach Fez zum Sultan gebracht. Nach acht Tagen wird sie aus dem Palast wieder zum Kadi gebracht. Dort sieht sie selbst von einem vorbereiteten Fluchtversuch ab, um „würdig“ zu sterben.  Vgl. Ben-Amos, Dan: Folktales of the Jews. Vol. I. Tales from the Sephardic Dispersion. Philadelphia 2006, S. 87– 94, hier S. 92.

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2 Authentizität und Geschlechtsspezifität

tyrertods, die offensichtlich besser zu dem im Roman thematisierten Szenario passte, das schließlich auch um Konversion kreist. Darüber hinaus lässt sich dieses folkloristische Märchen in den geo-kulturellen Raum der Sephardim setzen. Deutsche Juden entwickelten im 19. Jahrhundert „a lively bias for the religious legacy of Sephardic Jewry […]“,¹⁵² und auch „a lively bias for the aesthetic and thus secular legacy“.¹⁵³ Als Mythos von „kultureller Offenheit, philosophischem Denken, und einer Bewunderung des Ästhetischen“, beeinflusste der „sephardische Nimbus“ in vierfacher Weise deutsche Juden des 19. Jahrhunderts, sowohl in Liturgie, Architektur, als auch in Literatur und Wissenschaft.¹⁵⁴ Die Autoren wandten sich der „sephardischen Erfahrung“ zu, die für sie sowohl als Quelle „für Stolz als auch Selbstkritik“ diente.¹⁵⁵ Mit anderen Worten, die sephardische Volkssage Das Mädchen von Tanger diente der Darstellung des Suizids eines Mädchens als Präsentation exemplarischen Handelns. Die eigene Erfahrung im Kontakt mit dem Christentum wurde hier auf den Kontakt mit dem Islam übertragen und die sephardische Kultur damit in die Sphäre jüdischer Authentizität erhoben.¹⁵⁶

2.5 Frauen und Authentizität – die national-jüdische Frau Die in Rom und Jerusalem verfassten Briefe wurden an eine Frau – Josephine Hess – geschrieben.¹⁵⁷ Bereits im ersten Brief thematisiert Moses Hess die Rolle der Frau: „O, wie falsch sind Diejenigen berichtet, welche den Einfluß der Frauen auf die Entwicklung des Judenthums und der Juden gering anschlagen […]“.¹⁵⁸ Hess ergänzt, dass „jede Jüdin den [Stoff] zu einer mater dolorosa“ hätte.¹⁵⁹ Er zitiert an anderer Stelle den französischen Autor Alexandre Abraham Weill (1811– 1899), der bemerkte, dass die „Mutterliebe […] im jüdischen Roman die Basis des ganzen Familienlebens, seine Leidenschaft, sein Mysterium“ sei. Zudem zeichne

 Schorsch, Ismar: The Myth of Sephardic Supremacy in Nineteenth-Century Germany. In: Sephardism. Spanish Jewish History and the Modern Literary Imagination. Hrsg. von Yael HaleviWise. Stanford (CA) 2012, S. 35.  Efron, John M.: German Jewry and the Allure of the Sephardic. Princeton/Oxford 2016, S. 17.  Schorsch, The Myth of Sephardic Supremacy, S. 35 f.  Schorsch, The Myth of Sephardic Supremacy, S. 47.  Aus demselben Grund wurden auch die „Marannen“ als Motiv im zionistischen Diskurs verwendet. Siehe Kapitel 3 dieser Arbeit.  Vgl. Avineri, Moses Hess, S. 237, Fußnote 7.  Hess, Rom und Jerusalem, S. 2.  Hess, Rom und Jerusalem, S. 2. Auch interessant, da mater dolorosa vor allem für Maria, die Mutter Jesu steht.

2.5 Frauen und Authentizität – die national-jüdische Frau

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sich die jüdische Mutter durch ein heiteres, aber blasses „Antlitz“, „ein melancholisches Lächeln“ und ein „tiefes Auge“ aus.¹⁶⁰ Umso auffälliger ist daher, dass in Herzbergs Jüdischen Familienpapieren diese Mutter nicht mehr am Leben ist. Mehr noch, mit Ausnahme der Haushälterin Taube, sind im Buch alle Frauen aus der Generation des Rabbis verstorben: Als Symbol für die Gefahr der Kontinuität des Judentums starb Samuels Mutter, wie auch sein Vater, als er noch ein kleines Kind war, weshalb er überhaupt erst zum christlichen Ziehvater gelangte. Die Frau des Rabbis starb letztendlich unter der Last der Konversion ihres ältesten Sohnes. Ebenso starb die christliche Frau des ältesten Sohnes Simeon kurz nach der Hochzeit, was illustrieren soll, dass die Heirat mit einer Nicht-Jüdin eine Gefahr für das Judentum bedeutet. Es ist daher an dieser Stelle notwendig, George L. Mosses Ausführungen zur Weiblichkeit im nationalen Kontext zwischen den einzelnen Generationen zu differenzieren. Denn erst die jüdische Frau der nächsten Generation, Rachel, fällt mit dem von Mosse formulierten Ideal der Frau im deutschen Nationalismus zusammen.¹⁶¹ Rachel wird nach den bürgerlichen Idealen jener Zeit gezeichnet. Samuel sinniert darüber, wie „frisch, wie rein und kräftig die Eindrücke sind, welche die Dinge“ in Rachels „junge[r] Seele ausprägen“. Sein eigenes „Feuer der Empfindung“ sei nach und nach erloschen und könne nur „durch einen Bund mit einem wahren Menschen“ erneut entflammen.¹⁶² Samuel vermutet, dass „die Gründung der Familie“ schließlich „das einzige, von der Natur gewährte Mittel“ sei, die „reinen selbstlosen Gefühle des Jünglings und der Jungfrau wieder zu beleben und […] in die gesunde Wirklichkeit einzuführen“.¹⁶³ Rachel war „klein und so zart gebaut“, dass Samuel sie zu Beginn „für ein heranwachsendes Kind“ hielt. Doch als er die „großen bald schwarzen, bald braunen Augen“ sah, „die ihre anmuthigen Züge in reizendem Wechsel erhell[t]en“, wurde er anderer Meinung. Rachels „Ausdruck“ sei „neckisch, keck, bescheiden, immer sicher und verständig“.¹⁶⁴ Samuel nennt Rachel „Freundin“, auch wenn „Andere“ darüber „lächeln“ mögen, eine Frau so zu bezeichnen. Er „denke zu groß von den Frauen ihnen dies Verhältnis abzusprechen“.¹⁶⁵ Samuels weitere Gedanken zu Rachel lesen sich folgendermaßen:

 Hess, Rom und Jerusalem, S. 39.  Mosse, Nationalismus und Sexualität, S. 111– 137. Zur nationalen Erziehung durch Literatur siehe auch Askey, Jennifer Drake: Good Girls, Good Germans. Girlsʼ Education and Emotional Nationalism in Wilhelminian Germany. New York 2013.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 158.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 158.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 159.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 159.

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2 Authentizität und Geschlechtsspezifität

Diese Wahrheit und Offenheit habe ich schon bei anderen Frauen gefunden, was ihr [Rachel – Anm. d. Verf.] ganz gehört ist eine Gesundheit des Geistes, eine Zufriedenheit und Freude des Daseins, die ich froh bin nur betrachten zu dürfen. Was unserm Umgang ferner eigenthümlich, ist die Voraussetzungslosigkeit auf beiden Seiten; ich fühle mich wie ein Kind und genieße das Vorrecht mich einer holden weiblichen Seele anzuschließen mit reinem Herzen.¹⁶⁶

Rachel selbst, auch wenn sie zuweilen als schlagfertig dargestellt wird, bemerkt, dass „jedes Mädchen zwei Herren“ habe, und zwar „den gegenwärtigen, ihre Eltern“ und „den zukünftigen, ihren Gatten“.¹⁶⁷ „Ist es nicht Sitte unter unserem Volk“, fragt sie, „daß der Vater über die Hand seines Kindes verfüge, und daß wir Mädchen unser Herz frei halten von verführerischer Neigung, damit wir nicht selbst der Verachtung anheim fallen noch Schande bringen auf das Haupt unserer Erzeuger?“¹⁶⁸ Samuel quittiert diese Aussagen mit einem Lob an Rachel, dass es „groß“ sei, „bewußt der Sitte zu folgen“, wo doch „Frauenzimmer in der Welt“ mittlerweile auf eine Liebesheirat bestehen würden. Rachel entgegnet mit einer klaren Aussage bezüglich der Position der jüdischen Frau und ihrer Ablehnung an die Suche nach einem eigenen Selbst: „[S]ollen wir nicht unsere Eltern mehr lieben als uns selbst, unsern Eltern mehr vertrauen als uns selbst?“¹⁶⁹ Es sei schließlich nicht von Vorteil, einer „Leidenschaft“ zu folgen, sondern „dem heiligen Gebot und dem vernünftigen Gebot der Eltern“.¹⁷⁰ Neben Rachel ist noch die bereits erwähnte Figur der Esther aus dem Märchen Das Mädchen vom Tanger, relevant, die sich ebenfalls bis zum Suizid für ihre eigene Religion opferte.¹⁷¹ Am Ende des Buches übernimmt Rachel die Aufgabe, ihren jüngeren Bruder Benjamin davon abzuhalten, die christliche Schauspielerin Julia zu heiraten. Benjamin hatte sich in sie verliebt und sich infolgedessen immer weiter von jüdischen Bräuchen entfernt. Benjamin habe damit, in den Worten Rachels, „seinen Gott, sein Volk, seine Familie verleugnet“.¹⁷² Als er schließlich heimlich das Haus verlässt, geschieht es auch auf Drängen Rachels, dass Samuel den älteren Bruder Simeon zur Hilfe holt, um Benjamin von dieser Absicht abzubringen. Analog zu den Paradigmen der Frau in der deutschen Nation, wurde die jüdische Frau nach

      

Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 159. Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 163. Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 164. Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 164. Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 165. Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 167– 206. Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 325.

2.5 Frauen und Authentizität – die national-jüdische Frau

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Mosse so „die Hüterin der traditionellen Ordnung“,¹⁷³ oder um es mit den Worten Samuels im Roman auszudrücken, zur „Sittenrichterin“.¹⁷⁴ Die Suche nach einem authentischen Selbst ist im Roman lediglich Samuel und in eingeschränkter Weise ihrem Bruder Benjamin vorbehalten. Trotz Rachels heldenhafter Tat, ihren Bruder von einer in ihren Augen falschen Hochzeit abzuhalten, benötigt sie die Erlaubnis ihres Vaters hinsichtlich ihrer eigenen Eheschließung mit Samuel.¹⁷⁵ Dem Rezensenten Samuel Hirsch erschien in der orthodoxen Monatsschrift Jeschurun „die Schilderung der Rachel“ übrigens als „die gelungenste“.¹⁷⁶ Der Charakter der christlichen Julia, Rachels femininer Gegenpart, wird mit deutlichem Bezug zum Authentizitätsdiskurs als Theaterschauspielerin konstruiert. Der Rabbi versucht am Ende das „Unauthentische“ ihres Daseins zu überbrücken. Sie solle, unter Niederlegung ihres Berufes, „dessen Hohlheit“ sie wohl selbst „längst erkannt“ habe,¹⁷⁷ zum Judentum konvertieren.¹⁷⁸ Nebenbei sei bemerkt, dass dieser Vorschlag des Rabbis in der Rezension Hirschs auf Ablehnung stieß,¹⁷⁹ und auch die Schauspielerin Julia lehnt eine Konversion schlussendlich ab. Als Begründung führt sie an, sie könne „die Bühne nicht entbehren“ und sich in „Ruhe und Ordnung“ nicht lange wohl fühlen.¹⁸⁰ Eine weitere Quelle zur Stellung der Frau in der jüdischen Nation stammt aus der Feder des ungarischen Proto-Zionisten Joseph Natonek.¹⁸¹ Wie bereits eingangs erwähnt, war Natonek Herausgeber der zwar kurzlebigen, aber ersten deutschsprachigen zionistischen Zeitung Das einige Israel. In seinen Beiträgen betont Natonek immer wieder die einigende Kraft der jüdischen Nation und die dadurch ermöglichte Konservierung der jüdischen „Wahrheit“. Palästina sollte nicht nur als Zufluchtsort für rumänische Juden dienen, sondern auch – im  Mosse, Nationalismus und Sexualität, S. 28.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 311.  Vgl. Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 332.  Hirsch, Samuel A.: Jüdische Familienpapiere. In: Jeschurun. Ein Monatsblatt zur Förderung jüdischen Geistes und jüdischen Lebens in Haus, Gemeinde und Schule, Nr. 3, April – Juni 1869, S. 213 – 227, hier S. 224.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 350.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 351.  Hirsch, Jüdische Familienpapiere, S. 226.  Herzberg, Jüdische Familienpapiere, S. 353.  Joseph Natonek wurde in Komló geboren und wurde Rabbiner. Er trat bereits 1867 mit der türkischen Regierung in Konstantinopel in Kontakt, um eine Charter für Palästina als Siedlungsgebiet für Juden zu bekommen. Er wollte auch bereits einen Kongress zur Besiedlung Palästinas einberufen (CZA A97/17). Für eine Kurzbiografie siehe Haber, Peter: Josef Natonek – ein Vorläufer Herzls aus Ungarn. In: Der Erste Zionistenkongress von 1897 – Ursachen, Bedeutung, Aktualität. Hrsg. von Heiko Haumann. Basel [u. a.] 1997, S. 32– 33. Für einen Überblick zu Leben und Werk siehe CZA A146/71.

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2 Authentizität und Geschlechtsspezifität

Grunde proto-kulturzionistisch – als Ort, an dem die jüdische „Wahrheit“ zu Hause sei. Gemeinhin wird von der Wiener Selbst-Emancipation als das erste zionistische Periodikum ausgegangen. Die sieben Ausgaben des Einigen Israels sind jedoch ein weitaus früheres deutschsprachiges Beispiel.¹⁸² Schon Theodor Herzls Vater soll Abonnent dieser Zeitschrift gewesen sein, was B. Tomaschoff dazu veranlasste, Natonek als „den Mann, der Herzl inspirierte“ zu bezeichnen.¹⁸³ Zwei Faktoren waren für Natonek besonders wichtig und führten zur Entwicklung seiner Idee. Erstens die Spaltung der ungarischen Juden und zweitens die Situation der Juden in Rumänien. In seinem Beitrag „Welche autonome Israeliten könnnen [sic] und sollen die Einigkeit in Israel wieder herstellen?“ für Das einige Israel schrieb Natonek, das ungarische Schisma mache eine Einheit unmöglich.¹⁸⁴

 Das einige Israel. Organ zur Einigung Israels und Wahrung seiner religiösen Wahrheiten. Redacteur u. Herausgeber Rabbiner Josef Natonek. Erhalten sind: Nummer 1: Bis auf die ersten beiden Seiten komplett S. 3 – 16; Nummer 2: komplett S. 17– 32; Nummer 3: komplett S. 33 – 48. Nummer 4: komplett S. 49 – 64; Nummer 5: komplett: 65 – 80; Nummer 6: komplett S. 81– 96; Nr. 7 (Änderung der Aufmachung): komplett S. 97– 110. Die Zeitschrift liegt in den CZA A97/24.  Der Artikel wird in den Akten von Joseph Natonek in den Central Zionist Archives Jerusalem unter der Signatur CZA A97/62 aufbewahrt.  Welche autonomen Israeliten könnnen [sic] und sollen die Einigkeit in Israel wieder herstellen? In: Das einige Israel, Nr. 3, CZA A97/24, S. 34– 38. Die Emanzipation der Juden in Ungarn war durch die Niederschlagung der ungarischen Revolution 1848, deren Folge eine zwanzigjährige österreichische Herrschaft war, verschoben worden. Sie konnte erst im Jahre 1867 mit dem Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn realisiert werden. Die Juden im ungarischen Staat hielten eine Sonderposition inne. Während nur im Zentrum des ungarischen Staates tatsächlich eine ungarische Mehrheit existierte und im restlichen Gebiet Rumänen, Slowaken, Kroaten, Deutsche, Serben oder Ruthenen die Mehrheit bildeten, gehörten die Juden weder zu den Magyaren noch zu den anderen ethnischen Gruppen. Ungarn wollte durch die Nationalisierung und Magyarisierung nicht nur seinen Status gegenüber Wien, sondern auch seinen Status gegenüber den anderen ethnischen Gruppen im Herrschaftsgebiet festigen. Der Niederschlagung der Revolution folgte eine Phase der „Germanisierung“ durch Österreich, die Österreich durch die Errichtung eines Schulsystems zu realisieren gedachte. Auch vor der Emanzipation 1867 waren bereits Stimmen laut geworden, die eine zentrale Organisation der ungarischen Juden forderten. Doch die letztendliche Einberufung einer Konferenz machte die Spaltung der Juden deutlich. Die Orthodoxen gründeten in Anbetracht der Einberufung einer nationalen Konferenz jüdischer Repräsentanten 1867 die Gesellschaft Shomre Ha Dat. Die Konferenz, die schließlich im Februar 1868 stattfand, schloss Rabbiner aus. Es wurden 36 Juden eingeladen, darunter sieben Orthodoxe, die bereits am zweiten Tag der Konferenz ihre abweichenden Meinungen deutlich machten. Sie forderten die Anerkennung zweier Gruppen im Judentum, eine Forderung die vonseiten der ungarischen Regierung abgelehnt wurde. Der darauf folgende Kampf der Orthodoxen wurde unter anderem von Esriel Hildesheimer geführt. Hildesheimer, selbst weltlich gebildeter orthodoxer Rabbiner, äußerte sich auf dem folgenden Kongress, zu dem schließlich Rabbiner zugelassen wurden, entschieden sowohl gegen die Reformer („Neologen“) als auch gegen die Ultraorthodoxen und argumentierte für einen dritten, den orthodoxen Weg des Judentums, den er auch mit

2.5 Frauen und Authentizität – die national-jüdische Frau

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Es gebe zu viele Gruppen und Meinungen und diese beschnitten die Konsensfähigkeit maßgeblich. Um das Problem zu lösen, schlug er vor, dass sich rumänische Juden in Palästina ansiedeln sollen, um dort ein Zentrum zum Erhalt des Judentums zu etablieren und schließlich die staatliche Existenz wiederherzustellen. Schon in der ersten Ausgabe wurde behauptet, der „Bruderkampf“ der „derzeitigen Religionsparteien“ der ungarischen Juden sei Teil der „Vorsehung“.¹⁸⁵ Es sei „das gemeinsame Verdienst“ der „kämpfenden Parteien“ beziehungsweise „aller Sekten“, dass sie sich gegenseitig davon abgehalten haben, etwas von der „reinen göttlichen Wahrheit“ aufzugeben. In anderen Worten, durch die pluralistische Organisation und die Auseinandersetzungen, die diese mit sich brachte, sei das authentische Judentum konserviert worden.¹⁸⁶ Und nicht nur das, Juden hätten dadurch auch gezeigt, welch „große geistige und materielle Kräfte“ sie besäßen, und dass diese „jeder großen selbstständigen Nation zur Ehre gereichen würden“.¹⁸⁷ Jetzt sei jedoch die Zeit der Auseinandersetzungen vorbei und die unterschiedlichen Parteien sollen „mit vereinigter Kraft für die reinen Wahrheiten“ einstehen. Zu diesen „reinen Wahrheiten“ könne es vordringen, „wenn es in brüderlicher Eintracht, in Ruhe und Besonnenheit berathend untersuchen, besprechen und untersuchen wird, nach dem profetischen [sic] Wort (‫ )והיו אחד בידי‬,Sie sollen einig sein durch meine Macht [eigentlich: in meiner Hand]‘“.¹⁸⁸ Im Sinne des Titels der Zeitschrift schließt der Aufruf mit den Worten: „Dieses zu erwirken, sei das positive gemeinsame Verdienst eines einigen Israel“.¹⁸⁹

der Begründung seines zweiten Rabbinerseminars in Berlin beschritt. Der Ungarische Nationaljüdische Kongress von 1868 – 1869 hatte verschiedene Ergebnisse. Einerseits die Schaffung einer zentralen Organisation der Mehrheit der ungarischen Juden, andererseits trat durch den Kongress die Kluft zwischen den unterschiedlichen Richtungen scharf hervor. Kurze Zeit nach dem Kongress gründeten die Orthodoxen ihre eigene Organisation, die sich ganz dem Schulchan Aruch verschrieb. 1871 wurden die beiden Gruppen, die „Neologie“ und die „Orthodoxie“, offiziell anerkannt. Darüber hinaus formierte sich eine kleine dritte Gruppe derjenigen, die sich weder zu den Neologen noch zu den Orthodoxen rechneten und die sich Status Quo Ante Kongregation nannten. Die Eröffnung des – neologen – Rabbinerseminars 1877 in Budapest mit Geldern, die die Juden als Reparation an Österreich nach der gescheiterten Revolution zahlen mussten, stellt einen weiteren wichtigen Faktor in der Geschichte des ungarischen Judentums dar. Vgl. Patai, Raphael: The Jews of Hungary. History, Culture, Psychology. Detroit/Michigan 1996, S. 267– 324.  Das einige Israel, Nr. 1, CZA A97/24, S. 4.  Das einige Israel, Nr. 1, CZA A97/24, S. 3. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Das einige Israel, Nr. 1, CZA A97/24, S. 4. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Das einige Israel, Nr. 1, CZA A97/24, S. 4.  Das einige Israel, Nr. 1, CZA A97/24, S. 4. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt. Es ist damit nicht nur das erste national-jüdische Periodikum, sondern setzt sich auch mit der Rolle der Publizistik im Verhältnis zur Situation der Juden in Rumänien auseinander. Im Artikel „Die Judenfrage und die Journalistik“ in der Nummer 6 vom 20. Juni 1872 schreibt wahrscheinlich Na-

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2 Authentizität und Geschlechtsspezifität

1871 gab Natonek das für zionistische Belange zunächst unscheinbare Werk Das Hohelied heraus, in dem er nach der Übersetzung des biblischen Buches vor allem die darin enthaltene „Frauentugend“ der Sulamith gegenüber den Hofdamen herausstellte.¹⁹⁰ Natonek stellte damit „die isr. Frau auf die höchste Stufe der Verehrung, da sie die Israelitin, als die Personifizierung des isr.Volkes wählet, die Tugenden und die Treue der Gattin, als Bild der religiösen Treue gegenüber Gott“ repräsentiere.¹⁹¹ Er versah diese Auslegung des Hohelieds aufgrund der „patriotischen Konsequenzen“, die aus seiner Auslegung zu ziehen seien, mit dem Anhang „Ein historisches Charakterbild großer isr. Patriotischer Frauen“.¹⁹² Diese außerordentliche Quelle führt die Leserinnen und Leser chronologisch durch die Geschichte biblischer Frauen. Neben Sarah, Rebekka, Rachel und Leah, Schifra und Puah, Mirjam, Debora folgen „[e]ine resolute Israelitin“, „[e]ine patriotische Jungfrau“, die „Frau von Manoach“, Rut und Noemi, Channa, darauf die „Frau von Pinchas“, „‫“נשים המשחקות‬, Michal, Abigail, „‫“אשה חכמה‬, „eine Hausfrau, die Achitofel und Absalom rettete“, eine weitere „‫“אשה חכמה‬, Rizpa bat Ajah, „eine arme Witwe“, Sunamit, Jehosebath, Chulda, und schließlich Ester.

tonek selbst über die „doppelte Aufgabe“ der „Journalistik“, die darin bestehe, „die zu Tage tretenden Erscheinungen der Zeit nicht nur treulich zu verzeichnen, sondern auch die Mittel und Wege zur Abhilfe derjenigen zu erforschen und zu besprechen“. Besonders die „jüd. Journalistik“, die in Bezug auf diese Belange oft „stumm“ bleibe, gleichsam „um den heißen, von frischem Menschenblut noch dampfenden Brei der rumänischen Judenfrage herum“ rede, solle sich ihrer „Verantwortung“ in dieser Hinsicht unweigerlich bewusst werden. ([Natonek, Joseph]: Die Judenfrage und die Journalistik. In: Das einige Israel, Nr. 6 vom 20. Juni 1872, CZA A97/24, S. 82– 89, hier S. 83. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt). „[D]ie Judenfrage“, wie Natonek schreibt, sei „nach innen und außen noch immer eine ungelöste, eine offene geblieben, eine offene Wunde an dem Getriebe der Zeit, die in immer neuen Gestalten die gleichen Krankheitszeichen zur Erscheinung bringt“ (Natonek, Die Judenfrage und die Journalistik, S. 83. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt). So heißt der Leitartikel der nächsten Nummer „Israelitische Autonomie“. Auch hier argumentiert Natonek, dass es wichtig sei, zur „Wahrheit“ zurückzukehren. Die „Wahrheit“ bedeutet Natoneks Ansicht nach, dass man – er schreibt diesen Satz in seinem Periodikum auf Hebräisch – zu ‫ תורה והלכה למשה מסני‬zurückkehren solle, beziehungsweise, dass dies der einheitsstiftende Faktor der Juden aller Ausrichtungen sei.  ‫ המחבר‬.(‫ מבאר ומתרגם מאת החכם בנימין הלוי האללענדער מעיר לעאבשיטץ )אבערשלעזיען‬.‫שיר השירים‬ ‫ גם סלסול נשים יקרות מתנוססות‬:‫ הבאתיו למכבש והוספתי עליו נגהות‬.‫מדבר נכבדות מיתרין חמת נפש בת ישראל‬ ‫ להחיות אמנה בישראל יוסף נטענק‬,‫מימות עולם בקרות ישראל‬. Das Hohelied. Eine Verherrlichung des isr Frauencharakters hebräisch commentirt und deutsch übersetzt von Benjamin Hollaender aus Leobschütz (Oberschlesien) vermehret mit lexikalischen Erklärungen; einer deutschen Paraphrase des Hohenliedes; einem historischen Charakterbilde ausgezeichneter israelitischer Frauen, zur Belebung von patriotischen Gesinnungen herausgegeben von Josef Natonek. Ofen 1871.  Natonek, Das Hohelied, S. XVII.  Natonek, Das Hohelied, S. XVIII-XLII.

2.5 Frauen und Authentizität – die national-jüdische Frau

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Nach George L. Mosse ist das „Dasein der Frau“ im Nationalismus zwar „nicht auf die Familie allein beschränkt“, doch waren die „ihr zugedachten Rollen immer eher als passive denn als aktive konzipiert“.¹⁹³ Natonek zeichnet in dieser Quelle zunächst das Bild der eindeutig aktiven Frauen, wenn er beispielsweise anmerkt, dass die biblische Sarah die „wirkliche Herrscherin und Regentin in der Familie“ sei, und dass sich eine solche „Frauenherrschaft“ bei Juden bis in seine Tage erhalten habe.¹⁹⁴ Er relativiert diese „Frauenherrschaft“ jedoch schon wenige Zeilen später, denn Sarah „war ungeachtet ihres Herscherrechtes [sic] ihrem Gatten unbedingt ergeben und gehorchte dessen Willen“.¹⁹⁵ Mosses These muss somit dahingehend relativiert werden, dass hier die Rolle der Frau zwar als aktive, sich aber gleichzeitig freiwillig den Männern unterordnende, beschrieben wird. Rachel und Leah „wurden die Baumeister des Hauses Israel“, da „die ganze Nation“ von ihnen abstamme. Die beiden „erkannten ihre hohe Bestimmung, die Erbauer des Hauses Israels zu werden“ und ordneten „die Frauenliebe der Mutterliebe“ unter. Natonek schließt daraus, dass jede Jüdin „dieselbe Bestimmung“ habe, nämlich „zum weitern Ausbau des Hauses Israel als Frau, Mutter und Patriotin mitzuwirken“.¹⁹⁶ Neben der Rolle als Gattin, komme der jüdischen Frau damit die Rolle als Mutter und als Patriotin ihrer Nation zu. Inwieweit in Natoneks Text diese Subordination nun als „Patriotin“ auch auf die Nation ausgedehnt wurde, macht die Darstellung der Rolle Mirjams deutlich. Mirjam wird zu einem der „größten isr. Frauenkaraktere“ stilisiert, da sie Moses, den „Schöpfer und Gründer der isr. Nationalität“ rettete.¹⁹⁷ Mit anderen Worten, Mirjams Handlung wurde gewürdigt, da sie durch die Rettung Mose auch zur Gründung der jüdischen Nation beitrug. An dieser Stelle scheint sich Mosses These, dass Frauen „den Hintergrund“ ausmachten, „vor welchem die Männer die Geschicke der Nation lenkten“, zu bestätigen.¹⁹⁸ Bedeutender als sich dem Mann unterzuordnen sei es für jüdische Frauen jedoch, sich der Nation unterzuordnen. Für Natonek verkörperte beispielsweise Debora eine „flammende Patriotin“, da sie einen kanaanitischen König im Schlaf ermordete.¹⁹⁹ Die Frau des Manoach enthielt sich „aus Patriotismus“. Channas Schicksal zeige, „wie isr. Frauen stets von der Vorsehung berufen waren, in die Geschicke der Nation einzugreifen“, da sie, als sie schließlich Samuel gebar, auf

      

Mosse, Nationalismus und Sexualität, S. 28. Natonek, Das Hohelied, S. XVIII Natonek, Das Hohelied, S. XVIII. Natonek, Das Hohelied, S. XXI. Natonek, Das Hohelied, S. XXI/XXII. Mosse, Nationalismus und Sexualität, S. 34. Natonek, Das Hohelied, S. XXIV.

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2 Authentizität und Geschlechtsspezifität

die „so sehnlichst gewünschten, lang entbehrten Mutterfreuden“ verzichtete, und ihren Sohn dazu heranzog, sich in den Dienst der Juden zu stellen.²⁰⁰ Dies zeigt sich besonders deutlich an Natoneks Lob für ‫אשת פנחס‬.²⁰¹ Als sie von dreierlei Unglück getroffen wurde – nämlich der „Hinwegnahme der Bundeslade“, dem Tod ihres Schwiegervaters, als auch ihres Gatten – verwies sie mehrere Male auf den Verlust der Bundeslade als den größten Schicksalsschlag. Für Natonek bedeutete dies, dass die Gattin des Pinchas die „Nationalliebe“ tiefer empfand „als die Kindes-, Gatten- und Mutterliebe“.²⁰² Natonek ergänzte seine Ausführungen durch zwei Unterkapitel mit den Themen „Der Name ‫ אשה‬zur Charakteristik der isr. Frauen“ und „Unsere patriotischen Konsequenzen. Ein Wort zur rechten Zeit ‫“ודבר בעתו מה טוב‬. Er verweist darin auf den Bibelkommentator von Jitzchak Arama (1420 – 1492) und seine etymologische Herleitung, dass das Wort ‫( אשה‬Frau) von ‫( אש‬Feuer) abzuleiten sei. Dies zeige „die Bestimmung des isr. Weibes, den Mann zu Thaten anzueifern und zu begeistern“, sie also regelrecht anzufeuern.²⁰³ Die biblischen Frauen hätten dies schließlich stets getan, und so sei es nach Natonek auch Aufgabe der „Israelitin der Gegenwart und der Zukunft“.²⁰⁴ Als Beispiel verweist er in seinen Ausführungen auf Judith Montefiore (1782– 1862): Auch in unserer Zeit hat Eine Israelitin, Frau Judith Montefiore ‫ז“ל‬, ihrer Aufgabe als ‫אשה‬ entsprochen. Sie war es, die den edlen Moses Montefiore zu den großen patriotischen Thaten begeisterte, und an allen den mühseligen Reisen nach Jerusalem Theil genommen. Noch zehn solche jüdische Patriotinnen wie Judith Montefiore s. A. und Israel ist eine selbständige Nation im Lande seiner Väter […].²⁰⁵

Des Weiteren verweist Natonek hier auf Moses Hess und Rom und Jerusalem und den „Aufbau des Hauses Israel“, zu welchem „die historischen Architekten“, nämlich „die isr. Frauen“ prädestiniert seien. Sie sollen „dem Volke eine patriotische Generation heranbilden“, die „die Wiedervereinigung Israels auf nationaler Grundlage mit neuem Geiste vollführen“ werde.²⁰⁶ Mit anderen Worten, die Nation ist nun das entscheidende Prinzip, unter welches sich die Frau unterzuordnen habe. Dabei wird diese Subordination zu einer mehrfachen für die Frau: Mann

      

Natonek, Das Hohelied, S. XXVII. Natonek, Das Hohelied, S. XXVII. Hebr. Eschet Pinchas, die Frau von Pinchas. Natonek, Das Hohelied, S. XXVIII. Natonek, Das Hohelied, S. XXXIX. Natonek, Das Hohelied, S. XL. Natonek, Das Hohelied, S. XL. Natonek, Das Hohelied, S. XLI. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.

2.5 Frauen und Authentizität – die national-jüdische Frau

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und Frau haben sich gleichermaßen dem Willen der Nation zu unterwerfen, die Frau jedoch in doppelter Hinsicht auch ihrem Mann. Im vorliegenden Kapitel wurden zunächst die nahezu unerforschten Vorstellungen eines „authentischen Selbst“ in Rom und Jerusalem und im Roman Jüdische Familienpapiere analysiert. Im Anschluss daran wurde das binäre Modell „Judentum–Christentum“ untersucht, welches für die konternarrativische Herauskristallisierung proto-zionistischer Konzepte von Authentizität in diesen beiden Werken im höchsten Maße entscheidend war. Unter Verweis auf den Diskurs der Moderne, die Gesellschaftskritik und die Hochhaltung bürgerlicher Ideale wurde so ein Judentum kreiert, welches den Authentizitätsidealen jener Zeit entsprach. Hernach wurde auf die Verwendung des dichotomen Konstruktes „Hebräer–Hellenen“ eingegangen, welches ebenso wie die Abgrenzung zum Christentum und anderen als „unauthentisch“ gezeichneten Aspekten, zur Erschaffung eines Gegennarrativs und damit „authentischen Judentums“ und „authentischen Juden“ in kultureller Hinsicht diente. Um dem breiten Begriffsfeld des Authentischen gerecht zu werden, wandte sich dieses Kapitel schließlich den geo-kulturellen Räumen, in welchen jüdische Authentizität verortet wurde, zu. Dazu gehören vor allem: „Osteuropa“, der „Orient“, „Palästina“ und die mythologisierte sephardische Kultur. Gerade die kulturelle Orientierung nach Osteuropa stellte hier ebenso ein Gegennarrativ zum dominanten Diskurs dar, durch den der „Osten“ oftmals mit „Rückständigkeit“ assoziiert wurde. Zum Abschluss des Kapitels wurden die getroffenen Aussagen in einen geschlechtsspezifischen Kontext gesetzt, indem die Ideale der Weiblichkeit des Romans Herzbergs mit den frühen Äußerungen Joseph Natoneks zur Rolle der Frau in der jüdischen Nation verknüpft wurden. Die in diesem Kapitel deutlich gewordenen Grenzziehungen zwischen „Authentizität“ und „Unauthentizität“ lassen daher die national-jüdischen Gegennarrative besonders deutlich werden. Doch dieser Zusammenhang gestaltete sich ambivalent. So wird beispielsweise in Herzbergs Roman zwar eine scheinbare Rückkehr zu „vor-modernen“ Aspekten favorisiert, tatsächlich wird jedoch ein eigenes Konstrukt erschaffen, welches sich aus „modernen“ und „antimodernen“ Aspekten zusammensetzte. Ebenso sind die anderen binären Modelle zu verstehen, die nicht als getrennte Entitäten, sondern als Diskurse zu sehen sind, die meist die Entstehung transkultureller Vorstellungen nach sich ziehen.

3 Zionistische Narrative des „Unauthentischen“ und des „Authentischen“ „The notion of authenticity implies the existence of its opposite, the fake […]“. – Regina Bendix¹

Nach der proto-zionistischen Phase wendet sich dieses Kapitel nun den ersten beiden Generationen zionistischer Denkerinnen und Denker zu. Um diese Phase zu erörtern, ist ein Werk des frühen Chovev Zion Leon Pinsker, der in Odessa lebte, unabdingbar. Pinsker veröffentlichte 1882 das Pamphlet Autoemancipation. Ebenso relevant für die 1880er-Jahre sind die national-jüdischen Aktivitäten in Wien, dem Ort der Gründung der national-jüdischen Studentenvereinigung „Kadimah“ und der Zeitschrift Selbst-Emancipation. Zusätzlich fand 1897 der erste Zionistenkongress in Basel statt, auf den bis 1913 zehn weitere folgten, und der den Gleichgesinnten einen regen Austausch ermöglichte. Die Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD) wurde 1897 gegründet, deren Vorgängerin bereits 1894. Ab den 1890er-Jahren wurden zahlreiche national-jüdische und zionistische Zeitschriften herausgegeben, die neue Räume erschufen, in denen Fragen des Authentischen verhandelt werden konnten, unter anderem die Zeitschrift Die Welt und die Jüdische Rundschau. ² Um es prägnant zu formulieren: Der zionistische Diskurs begann sich – auch institutionell – zu festigen. Im Folgenden wird die geschickte Markierung von „Authentischem“ und „Unauthentischem“ in den Texten dieser Phase offenbar. Dabei werden bestimmte Ereignisse, Figuren und ein bestimmter Habitus als eindeutig „unauthentisch“ und der Zionismus als die einzige authentische Seinsform bezeichnet. Zionistische Denkerinnen und Denker holten zu einem gegennarrativischen Rundumschlag aus und konstruierten ein eigenes Verständnis der deutsch-jüdischen Geschichte, des deutsch-jüdischen Verhältnisses und eine Kritik an der liberalen „Assimilation“. Dies führte zu einer Bestandsaufnahme dessen, was ihrer Meinung nach gesellschaftlich falsch gelaufen sei, welches unbefriedigende Dasein Jüdinnen und Juden fristeten und welche Auswirkungen diese Schieflage auf den jüdischen Seelenzustand habe.

 Bendix, In Search of Authenticity, S. 9.  Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 1897 und 1938 nicht weniger als 39 zionistische Periodika in Deutschland erschienen. Vgl. Reinharz, Jehuda: Ideology and Structure in German Zionism 1882– 1933. In: Jewish Social Studies 42 (Spring 1980), No. 2, S. 119 – 146, hier S. 125; Lavsky, Hagit: Before Catastrophe. The Distinctive Path of German Zionism. Detroit/Jerusalem 1998, S. 22. https://doi.org/10.1515/9783110546019-005

3.1 Zionistische Narrative des „Unauthentischen“

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3.1 Zionistische Narrative des „Unauthentischen“ 3.1.1 Zionistische Historiographie und „Assimilation“ Im zionistischen Diskurs wurde ein idiosynkratisches Narrativ entworfen, in dem die jüdische Geschichte der Neuzeit als eine sukzessive Selbstentfremdung erzählt wurde.³ Die jüdisch-nationale Interpretation sah den Beginn dieses Prozesses der „Degeneration“ mit dem Verlust der Staatlichkeit und dem Beginn der Epoche der „Galut“ in der Antike zusammenfallen.⁴ Die Geschichte der Juden in

 Die zionistische Sicht auf die jüngere deutsch-jüdische Geschichte wurde durch die Historiographie der Haskala in Gang gesetzt. In den Schriften der Maskilim ging es vor allem, konform mit Christian Wilhelm Dohms Diskurs bestimmendem Werk Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (Berlin/Stettin 1783 [1781]), um die Identifikation des authentischen Judentums mit der biblischen Epoche. Post-biblische jüdische Geschichte wurde vor allem mit einer Geschichte der Verfolgung und Unterdrückung gleichgesetzt, die einen Prozess der „Degeneration“ ausgelöst habe. Diesen Prozess gelte es rückgängig zu machen (Vgl. Sorkin, David: The Transformation of German Jewry 1780 – 1840. New York 1987, S. 5, 23; Roemer, Nils: Jewish Scholarship and Culture in Nineteenth-Century Germany. Between History and Faith. Madison 2005, S. 15 – 25, hier S. 21). Zu den protestantischen Aspekten im „zionistische[n] Ideal einer Rückkehr“ in die Vergangenheit siehe Raz-Krakotzkin, Amnon: Geschichte, Nationalismus, Eingedenken. In: Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen. Hrsg. von Michael Brenner und David N. Myers. München 2002, S. 181– 206, besonders S. 188 f. Mit dem Aufkommen der Wissenschaft des Judentums wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts neue Ansätze im Bereich der jüdischen Historiographie formuliert, die für die zionistische Historiographie von großer Bedeutung wurden. „[H]istorical thinking“, so skizzierte es der Historiker Ismar Schorsch, „facilitated the urgent and agonizing effort to rethink the nature of Judaism“ und diente darüber hinaus als „arbiter of what is authentic Judaism and the source for new and diverse self-perceptions“ (Schorsch, Ismar: The Emergence of Historical Consciousness in Modern Judaism. In: Ders.: From Text to Context. The Turn to History in Modern Judaism. Hanover (NH) 1994, S. 177– 204, hier S. 177). Leopold Zunz stellte in seiner Abhandlung Etwas ueber rabbinische Literatur von 1818 die bis dato vorherrschende Sicht infrage, indem er vor allem die Sicht auf biblische Quellen veränderte (Ebd. S. 180; siehe auch Roemer, Jewish Scholarship, S. 24). Der später gegründete Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden wollte den reduktionistischen Einfluss der Haskala überwinden, und „represented the wish to fundamentally redefine Judaism“ (Roemer, Jewish Scholarship, S. 29). Um diesen Wunsch zu erfüllen, suchten auch sie in der jüdischen Vergangenheit nach dem jüdischen „Wesen“. Heinrich Graetz, dessen Schriften auch die zionistische Historiographie entscheidend beeinflussen sollten, verfasste 1846 Die Construction der jüdischen Geschichte. Graetz zufolge hatte das Judentum auch nach seiner antiken staatlichen Periode eine „aktive Geschichte“, eine These, die er in seiner elfbändigen Geschichte der Juden detailreich illustrierte (Graetz, Heinrich: Die Konstruktion der jüdischen Geschichte. Hrsg. von Nils Römer. Düsseldorf 2000).  Diese Phase der Selbstentfremdung wurde als die Epoche der „Galut“ gedeutet, welche hiernach als jener Status gesehen wurde, der die Juden in eine „unauthentische“ Seinsform brachte.

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3 Zionistische Narrative des „Unauthentischen“ und des „Authentischen“

der Neuzeit, seit sich diese aus der „Abgeschiedenheit des Ghettos“ heraus- und in die europäische Gesellschaft und Kultur hineinbegeben hätten, las sich aus zionistischer Sicht nun als eine Epoche der Assimilation, beziehungsweise als der Prozess der Verfälschung des Judentums und der Juden selbst. Dieser Prozess der Verfälschung, wie auch sein Ergebnis, eine Art „übertriebene“ Angleichung von Juden an ihre Umgebung, wurde zumeist mit dem zum Schlagwort avancierenden Begriff „Assimilation“ bezeichnet. Juden hätten in dieser Phase ihre eigene Nationalität und damit auch ihren Nationalstolz und ihre nationale Würde, das heißt im Endeffekt ihre Authentizität, aufgegeben.⁵ Als einer der Gründe für die Selbstverfälschung wurden die Ansätze des Reformjudentums gedeutet, deren scheinbar einziger Fokus darauf lag, jegliche nationalen Komponenten aus dem Judentum zu streichen. In seinem elften Band der jüdischen Geschichte, in welchem er die Neuzeit bis 1848 behandelte, griff Heinrich Graetz das Reformjudentum scharf an. David Friedländer, den Schüler Mendelssohns, titulierte er mit dem von Heinrich Heine geprägten Begriff des „Hühneraugenoperateurs“, da dieser unliebsame Dinge aus dem Judentum schlichtweg entferne.⁶ Authentisch hingegen sei die moderne konservative Ausrichtung des Judentums – eine Haltung, die Graetz mit frühen zionistischen Denkerinnen und Denkern teilte.⁷ Der Begründer dieser zwischen Reformjudentum und Neo-Orthodoxie angesiedelten Richtung, Zacharias Frankel (1801– 1875),

Mit anderen Worten, der Zustand im Exil führte zu einem „unauthentischen“ Dasein der Juden. Ich danke an dieser Stelle Prof. Amnon Raz-Krakozkin für wertvolle Literaturhinweise, Diskussionen und Anregungen, die er in seinem Kurs ‫( גלות ושלילתה‬Galut we-schlilata, Die Galuth und ihre Verneinung) an der Ben-Gurion Universität des Negev mit uns Studierenden teilte. Zum Konzept der Galut siehe Raz-Krakozkin, Amnon: Jewish Memory between Exile and History. In: The Jewish Quarterly Review 97 (Herbst 2007), No. 4, S. 530 – 543. „On the most basic level, the term ,exile‘ referred to the dispersal of the Jews, as well as to their politically and socially inferior status, their being out of place (and time). Yet this inferior status is only one aspect of the concept. In most cases, the term was not understood as equivalent to lack of sovereignty or existence outside of the land – though these were certainly important aspects in images of redemption. It was instead regarded as evidence of the condition of the entire world. Exile refers to a state of absence, points to the imperfection of the world, and embodies the desire for its replacement. According to several authorities (mainly Kabbalists), it describes the state of the divine itself – that is to say, God’s exile from ,history‘, or history as a manifestation of the cosmic state of exile“. Siehe ebd. S. 532 f. Siehe auch Raz-Krakozkin, Amnon: Exile, History and the Nationalization of Jewish Memory. Some Reflections on the Zionist Notion of History and Return. In: Journal of Levantine Studies 3.2 (Winter 2013), S. 37– 70.  Vgl. hierzu auch Sorkin, David: The Transformation of German Jewry 1780 – 1870. New York 1987, S. 4.  Roemer, Jewish Scholarship, S. 58.  Vgl. Roemer, Jewish Scholarship, S. 64.

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hatte bekanntlich die Rabbinerkonferenz von 1845 in Frankfurt am Main verlassen,⁸ als über die Frage der Einführung des Deutschen in jüdischen Gottesdiensten verhandelt wurde. Aus diesem Anlass gründete er später die Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums,⁹ die gefüllt war mit Kritik an der Reformbewegung. Für Frankel war es unverständlich, mit welcher Leichtigkeit Grundsätze des Judentums durch Reformen aufgegeben werden konnten.¹⁰ Diese Kritik am Reformjudentum wurde im zionistischen Diskurs noch weiter ausgebaut. Neben der Reformbewegung erfuhren auch die Umstände, unter denen Juden in Europa emanzipiert wurden, eine strenge Kritik, da sie das Bild des „Unauthentischen“ repräsentierten.¹¹ Bereits in seinem kurzen Pamphlet Autoemancipation stellte Leon Pinsker (1821– 1891) die Verbindung zwischen der Gleichberechtigung von Juden und der geforderten Selbstaufgabe her.¹² Pinsker schrieb darin, dass Juden sich oft die „Eigenthümlichkeiten derjenigen Völker angeeignet“ hätten, „unter die das Schicksal sie geworfen“ und sich damit oftmals ihrer „traditionellen Originalität“ entledigt hätten.¹³ Mit anderen Worten: „Indem sie [Juden – Anm. d. Verf.] sich mit anderen Völkern zu amalgamiren suchten, haben sie sich gewissermassen muthwillig ihrer eigenen Nationalität begeben“.¹⁴ Pinskers Einschätzung nach ist die Emanzipation der Juden „immer ein Postulat der Logik, des Rechtes und des wohlverstandenen Interesses“ gewesen und niemals ein bedenkenloser „Ausdruck menschlichen Gefühls“.¹⁵ Auch hier kommt dem Begriff des „Gefühls“ eine bedeutende Rolle zu, der, wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, fest zum Authentizitätsdiskurs des 19. Jahrhunderts und zum Wortschatz der Romantik gehörte. Getreu dieser Ideale repräsentiert „Gefühl“ das Authentische und der Rationalismus das Gegenteil. Die Reduktion der jüdischen Eman-

 Dies war eine von drei Konferenzen, die 1844 (Braunschweig), 1845 (Frankfurt a. M.) und 1846 (Breslau) stattfanden, auf denen sich reformorientierte Rabbiner trafen.  Das Periodikum erschien von April 1844 bis Dezember 1846 monatlich und gilt als Vorläuferin der von Frankel 1851 gegründeten Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, die mit kurzen Unterbrechungen bis 1939 erschien.  Vgl. Roemer, Jewish Scholarship, S. 41.  Vgl. zum Diskurs der Emanzipation auch Sorkin, Transformation, S. 4.  Auch Wilhelm Herzberg begrüßte übrigens das Werk.  [Pinsker, Leon]: „Autoemancipation!“ Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden. Berlin 1882, S. 3.  Pinsker, Autoemancipation, S. 3. Hervorhebung d. Verf. Siehe hierzu auch Shumsky, Dimitry: Leon Pinsker and „Autoemancipation!“. A Reevaluation. In: Jewish Social Studies 18 (Fall 2011), No. 1, S. 44 f.  Pinsker, Autoemancipation, S. 12 f. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.

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zipation auf eine rationale „Logik“ bar jeden „Gefühls“ ließ diese damit „unauthentisch“ erscheinen. Auch Max Nordau (1849 – 1923) thematisierte auf dem ersten Zionistenkongress in Basel die vermeintliche „Unauthentizität“ der Emanzipation der Juden.¹⁶ Seine Rede, die unmittelbar auf Theodor Herzls (1840 – 1904) Eröffnungsansprache folgte, verdeutlicht sein Verständnis der Emanzipationsbewegung.¹⁷ Zunächst ging Nordau, in auffälliger Ähnlichkeit zu Pinsker, genauer auf die Bedingungen der Emanzipationsgeschichte der Juden in Frankreich ein. Wie Pinsker argumentierte er, dass Juden dort nicht „aus brüderlichem Gefühle für die Juden“, sondern auf Basis der „starre[n] Logik“ der Erklärung der Menschenrechte, kurz, aus „Prinzipienreiterei“ emanzipiert worden seien.¹⁸ Es sei am Rande erwähnt, dass dieses Narrativ auch in christlichen Kreisen rezipiert wurde.¹⁹ „Seitdem die Führer des Zionismus oder wenigstens zwei derselben, Herzl und Nordau, die Behauptung aufgestellt haben“, schrieb beispielsweise Ludwig Fuld im Periodikum Im deutschen Reich 1902, dass „die Emanzipation der Juden […] nur der Prinzipienreiterei der Männer zu verdanken [sei], welche die Menschenrechte proklamierten, hat sich diese Anschauung einen gewissen Einfluß verschafft […]“.²⁰

 Zu Leben und Werk von Max Nordau siehe Zudrell, Petra: Der Kulturkritiker und Schriftsteller Max Nordau. Zwischen Zionismus, Deutschtum und Judentum. Würzburg 2003 und Schulte, Christoph: Psychopathologie des Fin de Siècle. Der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau. Frankfurt a. M. 1997.  Vgl. hierzu auch Avineri, Shlomo: Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel. 17 Porträts. Gütersloh 1998, S. 124– 134.  Max Nordaus Rede auf dem 1. Kongress. In: Zionisten-Congress in Basel (29., 30. und 31. August 1897). Officielles Protocoll. Wien 1898, S. 9 – 20, hier S. 13.  Vgl. das gegen Antisemitismus geschriebene Werk von Coudenhove-Kalergi, Heinrich Johann Maria Graf von: Das Wesen des Antisemitismus. Berlin 1901, S. 478 f. Er zitiert darin auch Nordaus Rede auf dem 1. Kongress, schreibt jedoch fälschlicherweise, dass es Herzls Rede gewesen sei. Siehe auch dazu Fuld, Ludwig: Die französischen Revolutionsmänner und die Judenemanzipation. In: Im deutschen Reich, Jg. 8 (1902), Nr. 5, S. 267– 270, hier S. 267: „[…] und aus dem in diesen Blättern ausführlich besprochenen Werke des Grafen Coudenhove geht klar und deutlich hervor, daß vielfach diese Erklärung als eine unanfechtbare erachtet wird“.  Fuld, Die französischen Revolutionsmänner und die Judenemanzipation, S. 267. Der Autor möchte jedoch diese Behauptung berichtigen: „Und doch ist die Behauptung falsch, vollkommen falsch, wie aus dem vor wenigen Jahren veröffentlichten Buch von Henry Brun La condition des Juifs en France depuis 1789 (Lyon 1900) zu entnehmen ist, das eine ganze Reihe von Irrthümern berichtigt, die sowohl bezüglich der Stellung des ancien régime als auch der Revolution, wie schließlich Napoleons I. zu den Juden bislang die öffentliche Meinung beherrschten“.

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Max Nordau behauptete an anderer Stelle, dass nicht nur die Emanzipation aufgrund des mangelnden Gefühls als etwas „Unauthentisches“ anzusehen sei; vielmehr sei sie ein „Missverständnis“ gewesen.²¹ Den Grund für seine Sichtweise erläuterte er wie folgt: Die Staatsregierungen fassen sie [die Emanzipation – Anm. d. Verf.] als einen Pact auf, den sie mit den Juden schlossen und der den Juden eine Pflicht auferlegte […], in absehbarer Zeit im christlichen Volke aufzugehen. […] Es fehlte nicht an Juden, die die Emancipation ebenso auffassten wie die Regierungen und an der Auflösung des jüdischen Volkes arbeiteten.²²

Demnach sei nicht nur der Akt der Emanzipation der Juden „unauthentisch“ gewesen; er sei darüber hinaus auch unter falschen Erwartungen vollzogen worden. Jene Staaten, die Juden emanzipierten, hätten somit nicht nur aus falschen Motiven, sondern ebenso aus falschen Erwartungen heraus gehandelt, da sie von der baldigen „Auflösung des jüdischen Volkes“ ausgegangen wären. Doch auch von jüdischer Seite würde man – und hier verweist Nordau auf die Reformer – an der Assimilation des Judentums und damit an dessen Auflösung arbeiten. Es zeigt sich also, dass die Ansätze des Reformjudentums den zionistischen Denkerinnen und Denkern ebenso „unauthentisch“ erschienen, wie die Emanzipation der Juden selbst. So etablierte sich eine Kausalverbindung zwischen Reform, Emanzipation und Assimilation. Lange Zeit übernahm die Forschung diese Auffassung unreflektiert, zwischenzeitlich wurde sie aber sukzessive revidiert.²³ Es herrscht mittlerweile Konsens darüber, dass auch die Vertreter der „Assimilation“ und des Reformjudentums die Beibehaltung einer eigenen Definition des Jüdischseins und nicht sein „Verschwinden“ vertraten.²⁴ So wurde die zionistische Haltung, die besagt, dass die Reformbewegung mit der Emanzipationsbe-

 Nordau, Max: Die politische Gleichberechtigung der Juden II. In: Die Welt, Nr. 47, 30. November 1900, S. 4– 7, hier S. 6.  Nordau, Die politische Gleichberechtigung der Juden II, S. 6 f.  Vgl. hierzu vor allem Frankel, Jonathan: Assimilation and the Jews in Nineteenth-Century Europe. Towards a New Historiography? In: Assimilation and Community. The Jews in NineteenthCentury Europe. Hrsg. von Jonathan Frankel und Steven J. Zipperstein. Cambridge [u. a.] 1992, S. 1– 37. Auch Berkovitz, Jay R.: Rites and Passages. The Beginning of Modern Jewish Culture in France 1650 – 1860. Philadelphia 2004, S. 7.  Vgl. beispielsweise Tal, Uriel: Christians and Jews in Germany. Religion, Politics, and Ideology in the Second Reich 1870 – 1914. Ithaca 1975.

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wegung „organisch verbunden“ war,²⁵ und damit auch das „deutsch-jüdische Paradigma von Emanzipation-Assimilation-Reform“ korrigiert.²⁶ Die Theorie der Assimilation, die in vielen Disziplinen nach wie vor kritiklos verwendet wird, wurde in den letzten Jahren gleich von mehreren Seiten hinterfragt. Zum einen begann man aus historischer und soziologischer Sicht zu argumentieren, dass es angemessener sei, bezogen auf die deutsch-jüdische Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, von „Akkulturation“ beziehungsweise „Integration“ zu sprechen. Man verabschiedete sich weitgehend von der Vorstellung der sukzessiven „Assimilation“ von Juden und verstand die deutschjüdische Geschichte des 19. Jahrhunderts zunehmend als eine gemeinsame Geschichte gesellschaftlicher Transformationen, wie beispielsweise der Verbürgerlichung.²⁷ Diese Argumentation entwickelte sich nicht zuletzt, da sich Juden in Deutschland stets ein eigenes Jüdischsein beibehalten hatten.²⁸ Nicht nur führten die „incomplete emancipation“ und die „partial integration“ zur Herausbildung einer dezidiert jüdischen „Subkultur“, wie David Sorkin aufzeigte.²⁹ Auch in neueren Untersuchungen zu weiteren Strömungen in den deutschen Ländern

 Frankel, Assimilation, S. 24. Frankel schreibt: „For the nationalist school of historiography, as already noted, the consolidation of the Reform movement was generally seen as organically linked to the struggle for emancipation. The acquisition of equal rights could not be obtained in the German states unless a price was paid; and according to the terms of this implicit social contract, the Jews had, therefore, to renounce all mention of an eventual national restoration to Zion, to their own homeland. Once consolidated in Germany, the movement, with its antinational ethos, spread to other countries in Central and Western Europe as well as to the United States (although not to the Tsarist Empire). Again, in a very similar way, the extraordinarily influential school of modern Jewish scholarship in Germany, the Wissenschaft des Judentums, was treated with much greater sympathy than the Reform movement; but it, too, was accused of adopting an ‚apologetic‘ tone and tendentious methods of selectivity in order to facilitate (or, later, consolidate) the process of emancipation. However, here too the tendency today is to disentangle processes previously regarded as organically united“.  Berkovitz, Rites and Passages, S. 2.  Vgl. Sorkin, Transformation, S. 107 f.  Die verschiedenen historisch-semantischen Verwendungen des Begriffes „Assimilation“ im deutsch-jüdischen Kontext werden übersichtlich von David Sorkin zusammengefasst. Gleichzeitig hinterfragt er die Fokussierung auf die beiden Konzepte „Emanzipation“ und „Assimilation“ bei der Erforschung der deutsch-jüdischen Geschichte und allgemein auch den Nutzen des Begriffes „Assimilation“. Seiner Meinung nach sind „Akkulturation“ oder „Integration“ angemessener.Vgl. Sorkin, David: Emancipation and Assimilation. Two Concepts and their Application to GermanJewish History. In: LBIYB 35 (1990), S. 17– 33.  Sorkin, Transformation, S. 5. Till van Rahden möchte die Existenz einer jüdischen Subkultur in einzelnen Phasen deutsch-jüdischer Geschichte einschränken. Vgl. Rahden, Till van: Juden und die Ambivalenzen der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland von 1800 bis 1933. In: Was war deutsches Judentum? 1870 – 1933. Hrsg. von Christina von Braun. München 2015, S. 249 – 261.

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wird die Sicht auf deutsche Juden als bereitwillige „Assimilanten“ entkräftet. So argumentierte auch Nils Roemer in seiner Untersuchung der Wissenschaft des Judentums gegen die konventionelle Sicht, dass das 19. Jahrhundert vor allem eine Geschichte einer „unmitigated assimilation and secularization“ war.³⁰ Auch die Vertreter der Wissenschaft des Judentums arbeiteten, wie Roemer zeigte, an dem Erhalt eines distinkten Jüdischseins, zunächst innerhalb der deutschen Länder und später des Kaiserreichs. Ähnliches fand auch Jacob Borut für die Aktivitäten des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens heraus, die seiner Meinung nach nicht „als Fortsetzung assimilatorischer Tendenzen“ zu verstehen seien,³¹ sondern als „Phänomen des Florierens des jüdischen Vereinssystems und […] der Konsolidierung einer jüdischen Identität als Ersatz für die religiöse Identität“.³² Kulturwissenschaftlich betrachtet, ist die Verwendung der beiden Ersatzbegriffe „Akkulturation“ und „Integration“ höchst problematisch. Nicht nur weil dabei, wie bei dem Terminus „Assimilation“, Konnotationen einer essentialisierten „deutschen“ und ebensolchen „jüdischen“ Kultur mitschwingen. Gerade in der vorliegenden Arbeit, die unterschiedliche und miteinander konkurrierende Vorstellungen jüdischer Authentizität diskutiert, reproduzieren diese Semantiken, wenn auch unterschwellig, die Existenz eines „Authentischen“. Die theoretischen Fundamente, auf denen solche Vorstellungen fußen, halten einer Dekonstruktion nicht Stand.³³ Folglich ist der Begriff der „Assimilation“ für die kulturhistorische Forschung letztendlich nicht förderlich.³⁴ Mit anderen Worten, die Theorie der Assimilation nahm zwar im zeitgenössischen zionistischen Diskurs einen großen Raum ein und ihre Darstellung ist daher unausweichlich, sie kann jedoch nicht als analytische Kategorie dienen, da ihre Grundlagen in historischer, soziologischer und kulturhistorischer Sicht obsolet sind.³⁵

 Nils Roemer, Jewish Scholarship, S. 3.  Borut, Jacob: ‫ המפנה בדרכה של יהדות גרמניה בסוף המאה התשע עשרה‬.„‫“רוח חדשה בקרב אחינו באשכנז‬ [„Ruach chadascha be-kerew ʼachinu be-ʼaschkenas“. Ha-mifne be-darka schel jahadut Germanija be-sof ha-meʼah ha-tschʻa ʻesreh]. Jerusalem 1999, S. 12 [Hebräisch].  Borut, Ruach chadascha, S. 13.  Als Standardwerk zum wissenschaftlichen Gebrauch der „Assimilation“ gilt Gordon, Milton M.: Assimilation in American Life. The Role of Race, Religion, and National Origins. Oxford 1964.  Vgl. hierzu auch Spector, Scott: Forget Assimilation. Introducing Subjectivity to German-Jewish History. In: Jewish History 20 (2006), No. 3/4, S. 349 – 361.  In Analogie zu Brubakers und Coopers Dekonstruktion des Begriffs der „Identität“, kann man argumentieren, dass „Assimilation“ zwar als „category of practice“ der Zionisten zu verstehen sei, jedoch nicht als „category of analysis“ fungieren kann. Vgl. Brubaker, Rogers and Frederick Cooper: Beyond „Identity“. In: Theory and Society 29 (Feb. 2000), No. 1, S. 1– 47, hier S. 5.

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„Assimilation“, und ihre Synonyme „Amalgamierung“, „Verschmelzung“, „Annäherung“, waren zunächst gemeinhin positiv konnotiert. Sie beschrieben Prozesse der „Veredelung“, „Läuterung“, „Vervollkommnung“, „Verbesserung“ und „Bildung“.³⁶ Besonders im zionistischen Diskurs wurde der Begriff jedoch zusehends pejorativ verwendet.³⁷ Die zionistische Vorstellung der „Assimilation“ – eigentlich ein Begriff aus der Biologie – kombinierte den jüdischen religiösen Diskurs mit zeitgenössischen „wissenschaftlichen“ Vorstellungen.³⁸ Im 19. Jahrhundert wurde er in die Soziologie übernommen, wo er die damals weit verbreitete Auffassung von einer Konkurrenz unterschiedlicher „Kulturen“, „Rassen“ und „Nationen“ bezeichnete. „Kulturen“, „Rassen“ und „Nationen“ wurden in diesem Zusammenhang als organische Entitäten verstanden.³⁹ Der Prozess der Assimilation beschrieb folglich die Absorption eines Organismus durch einen anderen. Der Sprachgebrauch reflektierte somit die damals vorherrschende Überzeugung, dass Assimilation die aktive Tätigkeit eines Organismus sei, der einem zweiten „numerisch sehr weit überlegen“ sei und ihm „kulturell und wirtschaftlich“ mindestens gleichstehe.⁴⁰ Der als „überlegen“ geltende Organismus nähme den unterlegenen in sich auf, indem er ihn – um im damaligen Jargon zu bleiben – „zersetzt[e]“, „auflöst[e]“ und schließlich „in sich verarbeitet[e]“.⁴¹ In zionistischen Texten wurden oftmals zwei Kulturen visualisiert, neben der „hebräischen“ und der „hellenischen“, die im vorigen Kapitel erörtert wurden, die jüdische und die europäische beziehungsweise deutsche, die sich gegenüberstanden. Damit deuteten die Zionisten die Assimilation der Juden in den deutschen Ländern und in Österreich größtenteils als organischen „Kulturprozess“, der sich vollzöge, wenn zwei „Kulturen“ aufeinanderträfen. Dieses Aufeinandertreffen barg in zionistischer Sicht die Gefahr der „Zersetzung“, „Auflösung“ und „Verfälschung“ des Judentums.⁴²

 Siehe hierzu Sorkin, Emancipation and Assimilation, S. 20.  Sorkin, Emancipation and Assimilation, S. 20.  Im religiösen Diskurs war die Ablehnung der Assimilation bereits verbreitet, siehe auch Kapitel 3 dieser Arbeit.  Vgl. beispielsweise Anonym: Assimilation. In: Ost und West, Jg. 4 (1904), Nr. 10, Sp. 641– 654.  Anonym, Assimilation, Sp. 652.  Anonym, Assimilation, Sp. 642.  Zu dieser Negativkonnotation, die sich auch am hebräischen Wort für „Assimilation“ (‫ )התבוללות‬erkennen lässt, siehe auch Funkenstein, Amos: The Dialectics of Assimilation. In: Jewish Social Studies. New Series, Vol. 1 (Winter 1995), No. 2, S. 1– 14, hier S. 5 f.: „The very modern Hebrew word testifies to the aversion: hitbolelut is derived from balal. It alludes to the biblical story of the confusion of languages as punishment for the human hybris. It alludes even more to the many biblical threats to scatter the people of Israel among the nations because of their sins, of which the greatest was ,walking in the ways of the Emorites‘. Orthodox Jews saw in assimilation

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Rabbiner Joseph Samuel Bloch (1850 – 1923) hielt eine Rede bei einer Feierlichkeit der ersten national-jüdischen Studentenverbindung „Kadimah“, die am 25. Oktober 1882 in Wien gegründet worden war. Bei der Feierlichkeit handelte es sich um eine „Makkabäer-Feier“.⁴³ Bloch assoziierte die Makkabäergeschichte und Chanukkalegende mit seiner Vision eines authentischen Judentums. Er wählte die Allegorie des „reinen“ Tempelöls, um das Judentum als organische Entität darzustellen, eine „stabile Essenz“, die die ununterbrochene Kontinuität des Judentums versinnbildliche.⁴⁴ Denn das Öl sei „das Bild Israels, es mischt sich und mengt sich nicht mit anderen Flüssigkeiten, es assimilirt sich nicht“. Das „reine Öl“ von Chanukka zur Zeit des zweiten Tempels und der Makkabäer symbolisiert hier das „reine Judentum“, das sich aufgrund seiner physikalischen Beschaffenheit nicht mit anderen „Flüssigkeiten“ verbinde. Die Juden sollten zwar, so führt Bloch weiter aus, „[n]icht feindlich […] den [anderen] Völkerstämmen gegenüberstehen“, sondern sich „in Frieden und Eintracht […] Hand in Hand mit Ihnen den großen Culturaufgaben der Menschheit“ zuwenden. Doch eines sei den Juden ganz besonders geboten: „[A]llein wie das Oel dem Gebote“ folge, „das sein Schöpfer ihm eingepflanzt“ habe, „von anderen Elementen sich abzuscheiden und abzusondern“, sollten die Juden ihre „Sonderexistenz bewahren“, ihre „geistige Eigenart schützen“ und ihr „innerstes Wesen, Kern und Stern […] gegen alle Anfeindungen […] vertheidigen“. Das sei übrigens „auch, was

the deeper source of all collective tribulations. In a pamphlet against the synagogal reforms in Germany, published in 1819, the Hatam Sofer (Rabbi Moses of Pressburg) asked: ,What caused the Spanish exile‘ as well as other evils? and answered: ,The punishment came with the sins of generations that distanced themselves from God our Lord, got close to the nations of the world rather than separate themselves from them; and this causes hatred between them and us. ve-hu ha-matil sinah benam le-veneinu‘. In other words: assimilation is the cardinal cause of anti-Jewish attitudes. Remove the reference to God, and you are left with a common Zionist argument since Herzlʼs Judenstaat – and, by the way, also an antisemitic topos“.  Die national-jüdischen Makkabäerfeiern richteten ihren Fokus auf den erfolgreichen Makkabäeraufstand gegen die Griechen, genauer die Seleukiden, dem die Tempelweihe (Hebr. Chanukka) vorangegangen war (167– 165 v.d. Z.). Chanukka wurde zum Gedenken der Wiedereinweihung des zweiten Tempels 164 v. d. Z. gefeiert. Als das ewige Licht im neu eingeweihten Tempel wieder angezündet werden sollte, war nicht genügend Öl vorrätig, um die Zeit der Herstellung von neuem Öl zu überbrücken. Doch ein Wunder geschah und das wenige Öl reichte für die acht Tage, die die Herstellung neuen Öls brauchte, aus. Zu den Makkabäerfeiern siehe Gelber, Mark H.: Die Begriffe der jüdischen und der deutschen Kultur und ihre Differenzierung in der frühen deutsch-zionistischen Presse. In: Zwischen Selbstbehauptung und Verfolgung. Deutschjüdische Zeitungen und Zeitschriften von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus. Hrsg. von Michael Nagel. Hildesheim [u. a.] 2002, S. 217– 235, besonders S. 221– 223.  Funkenstein, The Dialectics of Assimilation, S. 5.

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die ,Kadimah‘ anstrebt[e], was sie sich zum Ziel steckte“.⁴⁵ Blochs Meinung nach war die Abgrenzung der Juden die einzige Lösung gegen die „Assimilation“. Bereits im vorangegangenen Kapitel wurde die Schnittstelle zwischen religiösem und zeitgenössischem wissenschaftlichen und nationalen Diskurs offensichtlich. Auch im zionistischen Verhältnis zur Assimilation blieb diese Verbindung bestehen. Blochs Rede zeigt sowohl den religiösen als auch den „wissenschaftlichen“ Diskurs der Zeit und ist zugleich ein prägnantes Beispiel für die Visualisierung eines authentischen organischen Judentums, welches der Gefahr der Assimilation ausgesetzt sei. Zudem repräsentiert sie eine besonders frühe Sicht, da sie aus den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts stammt. Andere frühe zionistische Denkerinnen und Denker teilten Blochs Haltung jedoch nicht. Sie vertraten den Standpunkt, dass Juden als Nation endlich in ein „natürliches“ Verhältnis zu anderen Kulturen treten sollten. Um es mit den Worten Paul Mendes-Flohrs auszudrücken: „[T]he transformation of Judaism into a national and secular culture would allow Jewry to enter into a free and creative discourse with other cultures“.⁴⁶ Die zentralen Argumente für diese Position lieferte der hebräische Autor Achad Haam mit seinem Aufsatz ‫חיקוי והתבוללות‬.⁴⁷ Achad Haam sprach darin von einem Ideal der „konkurrierenden Nachahmung“. Er bezog sich auf das Werk Les lois de lʼimitation von Gabriel Tarde (1843 – 1904) aus dem Jahr 1890 und definierte „Nachahmung“ folgendermaßen:⁴⁸ Mit dem Worte „Nachahmung“ bezeichnen wir – zumeist in ungünstigem Sinne – alles, was der Mensch nicht aus der Tiefe seiner Eigenart heraus [‫]לא ממעמקי עולמו הפנימי‬, nicht als notwendige Folge des Zustandes seiner seelischen Kräfte [‫ ]כחותיו הנפשיים‬und ihres Verhältnisses zur Außenwelt, sondern infolge der in ihm eingewurzelten Neigung [‫]הנטיה הטבועה בו‬, es an-

 Bericht über die am 17. Dezember 1884 vom akademischen Verein „KADIMAH“ veranstaltete Makkabäer-Feier. Verlag des Vereines „Kadimah“ 1885 CZA Z1/1/15, S. 2.  Mendes-Flohr, Paul: Cultural Zionismʼs Image of the Educated Jew. Reflections on Creating a Secular Jewish Culture. In: Modern Judaism 18 (Oct. 1998), No. 3. 100 Years of Zionism and the 50th Anniversary of the State of Israel, S. 227– 239, hier S. 227.  Achad Haam: ‫[ חיקוי והתבוללות‬Chikui we-hitbolelut]. In: Ders.: Al-paraschat drachim. Band 1. Berlin 1921, S. 169 – 175 [Hebräisch]. Dieser Artikel wurde als „Nachahmung und Assimilation“ ins Deutsche übersetzt und 1901 in zwei Teilen in der Welt veröffentlicht. Achad Haam: Nachahmung und Assimilation. In: Die Welt, Jg. 5 (1901), Nr. 38, S. 9 f. und Nr. 39, S. 4– 6. Später abgedruckt in Achad Haam: Am Scheidewege. Gesammelte Werke. Band 1. Berlin 1923, S. 328 – 343. Ich gebrauche die deutsche Übersetzung aus Am Scheidewege, da dies auch diejenige ist, die von den zionistischen Denkern gelesen wurde, und ergänze für das Verständnis einige Worte aus dem hebräischen Original.  Tarde, Gabriel: Les lois de lʼimitation. Études sociologique. Paris 1890.

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deren gleichzutun [‫]להדמות אל אחרים‬, es selbst so zu machen, nur weil andere es so machen, spricht und tut, denkt und empfindet.⁴⁹

„Nachahmung“ sei zwar „moralisch minderwertig“,⁵⁰ jedoch erkannte Achad Haam in ihr einen für jede Gesellschaft notwendigen Prozess, beispielsweise für den Spracherwerb.⁵¹ Die Art und Qualität der Interaktion beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen hänge nun von deren jeweiligen Entwicklungsstufen ab. Ähnelten sie sich in der „Stufe ihrer Bildung“, käme es zur „konkurrierende[n] Nachahmung [‫“]חיקוי של התחרות‬, das heißt sie würden selbstbewusst von den anderen etwas lernen, damit jedoch vor allem die Eigenart schärfer ausprägen. Wenn sie sich jedoch auf unterschiedlichen Stufen befänden, würde die „unterlegene Gesellschaft“ der unteren Stufe „beim Anblick dieser ihrer Gegnerin notwendig ihre eigene Nichtigkeit und das Gefühl der Selbstentäußerung [‫חולשת הדעת והתבטלות‬ ‫ ]הישות‬empfinden“. Diese Selbstentäußerung würde zur „vollständige[n]“ Nachahmung führen, die sehr gefährlich sei.⁵² Um einer solchen Gefahr zu entgehen,

 Achad Haam, Nachahmung und Assimilation, S. 328 f. Hebräisch: Chikui we-hitbolelut, S. 169. Im Folgenden werden die Seitenzahlen des hebräischen Originals in Klammern hinzugefügt.  Achad Haam, Nachahmung und Assimilation, S. 329 (Hebräisch: S. 169).  Der Autor verweist auf die Epoche der „grauen Vorzeit“, in welcher „der Mensch auf allen Seiten von Gefahren umringt“ war. In dieser Zeit, in der man einen starken „Beschützer“ brauchte, verehrte man diesen und die Menschen „entäußer[te]n sich gleichsam ihres Selbst samt all ihren Eigenthümlichkeiten und Neigungen vor der Erhabenheit dieses ,Ideals‘“ (Achad Haam, Nachahmung und Assimilation, S. 330). Die Nachahmung dieses Beschützers führte laut Achad Haam dazu, dass „seine Worte, Taten und Manieren zum Gesamtgut der Gesellschaft“ wurden, welches sich im Folgenden von Generation zu Generation vererbte, sich jedoch zwangsläufig im Laufe der Zeit „verringert[e]“ (S. 331). Mit anderen Worten, wenn es sich um eine gruppen- bzw. gesellschaftsinterne Nachahmung und Selbstentäußerung handelt, sei dies für die eigene Gesellschaft zuträglich. Probleme würden erst auftreten, wenn diese Prozesse externalisiert würden. Oftmals überschreitet laut Achad Haam die Nachahmung „die Grenzen der Gesellschaft und der Nation“ (S. 333).  Achad Haam, Nachahmung und Assimilation, S. 334 (Hebräisch: S. 172). Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt. Siehe auch ebd.: „Ein derartiger Zustand ist für die darin befindliche Gesellschaft mit der größten Gefahr verbunden. Die neue Selbstentäußerung vor der fremden Gesellschaft schwächt nach und nach die alte Selbstentäußerung vor den „Ahnen“ [‫ ]אבות‬ab. Das Nachahmungszentrum rückt allmählich von diesen zu jener hinüber, und das Gefühl der nationalen und sozialen Zusammengehörigkeit geht, da es seinen Stützpunkt verloren hat, allmählich seinem Untergang entgegen. Die Gesellschaft gelangt schließlich zu jenem seltsamen Zustande einer wandelnden Ruine [Der Ausdruck „einer wandelnden Ruine“ wurde im hebräischen Original nicht erwähnt. Achad Haam benutzt den Ausdruck ‫ שרפת נשמה וגוף קים‬aus Sanhedrin 52a, wo über eine verbrannte Seele bei intaktem Körper gesprochen wurde – Anm. d.Verf.], der weder Tod noch Leben bedeutet [‫]שאינו לא חיים ולא מות‬, und ihre Mitglieder beginnen ihre individuelle Ei-

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müsse man die jeweilige Gesellschaft, die sonst die individuelle Eigenart verlieren würde, mit der Eigenliebe [‫„ ]האהבה העצמית‬derartig erfüllen“, dass sie keinen Grund mehr sieht, die andere Gesellschaft nachzuahmen, sondern ihren „eigenen Geist“ zu bereichern.⁵³ Dies würde die Gefahr der Assimilation abwenden.⁵⁴ Diese Art der Nachahmung, die zur Perfektionierung des Selbst führen und die Gefahr der Assimilation abwenden werde, kann man laut Achad Haam nur durch die Errichtung eines Nachahmungszentrums [‫]מקום מרכזי‬, das „an und für sich […] Anziehungskraft genug besitzt“, erreichen.⁵⁵ Auch Leon Lewanda, ein Mitgründer der Chibbath-Zion-Bewegung, unternahm den Versuch, zwischen zwei Tendenzen der Angleichung zu unterscheiden. Er veröffentlichte in der bereits 1885 von Mitgliedern des jüdisch-nationalen Vereins „Kadimah“ gegründeten deutschsprachigen Zeitschrift Selbst-Emancipation – bei dessen Makkabäerfeier auch der eben erwähnte Rabbiner Bloch gesprochen hatte – einen Beitrag mit dem Titel „Assimilation“.⁵⁶ Der Artikel wollte folgende Frage klären: „Wie sollten wir eigentlich den Culturprozess verstehen, der unter der Benennung Assimilation, jetzt im Judenthum sich vollzieht?“ Der Autor wollte die Unterscheidung zwischen „Civilisation“ und „Assimilation“ darstellen. „Civilisation“ definierte er als bereichernde Aneignung ohne Selbstaufgabe und damit „Fortschritt und bürgerliche Vervollkommnung überhaupt“.⁵⁷ „Assimilation“ hingegen führe zur „Vernichtung“ der jüdischen Kultur und man täte besser daran, wenn das „Maskiren der Absichten“ ein Ende hätte.⁵⁸ Für diese Art der Assimilation machte der Autor die Vertreter des Reformjudentums ver-

genart aus dieser seltsamen Lage dadurch zu befreien, daß sie mit der fremden Gesellschaft eine vollständige Assimilation [‫ ]התבוללות גמורה‬eingehen“.  Achad Haam, Nachahmung und Assimilation, S. 336 (Hebräisch: S. 173.)  Vgl. Achad Haam, Nachahmung und Assimilation, S. 336 (Hebräisch: S. 173): „Nachdem aber die Gesellschaft diese Art der Nachahmung gewählt hat, flößt ihr die Eigenliebe Selbstvertrauen ein und lässt in ihren Augen die von ihr individuell nachgeahmten Taten wertvoller erscheinen als die Leistungen der anderen. Je mehr sie auf diese Weise in der Nachahmung fortfährt, um so mehr prägt sie ihren Geist in dieser Nachahmung aus und geht immer mehr und mehr von dem Vorbilde der nachgeahmten Gesellschaft ab. So wird in ihr das Gefühl der Eigenart [‫ ]ישותה רגש‬immer stärker und die Gefahr der Assimilation ist vorüber“. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Achad Haam, Nachahmung und Assimilation, S. 342 (Hebräisch: S. 177). Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt. Durch diese Differenzierung als „Nachahmungszentrum“ bekommt Achad Haams Aufforderung bezüglich der Gründung eines jüdischen geistigen Zentrums in Palästina, die sich gegen eine Masseneinwanderung richtete und für eine qualitative Einwanderung in Palästina eintrat, eine wichtige Erweiterung.  Das Periodikum Selbst-Emancipation erschien von 1885 – 1886 und von 1890 bis 1893.  Lewanda, Leon: Assimilation. In: Selbst-Emancipation Nr. 18, 16. Oktober 1885, S. 2– 4, hier S. 2. Hervorhebung d. Verf.  Lewanda, Assimilation, S. 2 f.

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antwortlich.⁵⁹ Die Emotionen, die der „Assimilation“ in diesen Aussagen gebührten, waren durchweg negativ. Nathan Birnbaum, der Herausgeber der SelbstEmancipation, sprach gar von einer „Assimilationssucht“.⁶⁰ Dennoch versuchte Lewanda hier die Grenze zwischen „Assimilation“ und „Anpassung“ zu ziehen, die in der jüdischen Historiographie bis in die heutige Zeit von Belang blieb.

3.1.1 Hebräer und Hellenen In Blochs Rede zum Chanukka-Öl im Besonderen als auch bei den Makkabäerfeiern im Allgemeinen lässt sich eine Kontinuität des binären Modells „Hebräer– Hellenen“ zur Ausformung national-jüdischer Authentizität erkennen. Die tatsächlichen Motive der antiken Makkabäer sind zwar bis heute, wie Michael Satlow dargestellt hat, in der Forschung umstritten. Doch in der zionistischen Wahrnehmung wurde der vermeintlich erfolgreiche Kampf gegen die Hellenisierung der Juden durch das Religionsedikt von Antiochus IV. als Beispiel für ein Verweigern der Assimilation herangezogen.⁶¹

 In der Fortsetzung des Artikels in der folgenden Nummer der Zeitschrift erklärte Lewanda, dass „[…] [die] fanatischen Assimilatoren alle möglichen Vorbereitungen [treffen], […] indem sie die religiöse Praxis bis zu Null verkürzen, aus den Gebetbüchern Alles ausscheiden, was im entferntesten an unsere Vergangenheit und unsere Hoffnungen in der Zukunft mahnt und sie als Juden kennzeichnen könnte“ und die „Assimilatoren freudig und bewußt dem nationalen Selbstmord, um der erlösenden Assimilation willen entgegengehen“ würden (S. 2). Es sei hier am Rande auf die bereits eingehend untersuchten Bezüge auf Charles Darwin verwiesen, die in diesen frühen Texten zum Teil sehr gehäuft vorkommen. Lewanda führte beispielsweise weiter aus, dass „[i]m Antagonismus zwischen Völkern und Stämmen […] das religiöse Element keine Rolle mehr“ spiele, sondern vielmehr das Element der Rasse. Daher seien „die Juden den übrigen Völkern nicht deßhalb [sic] antipathisch weil sie ,Juden‘ […]“ seien, „sondern weil sie überflüssige Menschen, überflüssige Mäuler, überflüssige Concurrenten […] auf dem Schauplatze des Kampfes ums Dasein“ seien (S. 2). In diesem Text Lewandas ist ein deutlicher Hinweis auf Darwins 1859 erschienenes Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (Deutsch: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein) zu erkennen.  [Birnbaum, Nathan]: Die Assimilationssucht. Ein Wort an die sogenannten Deutschen, Slaven, Magyaren etc. mosaischer Confession von einem Studenten jüdischer Nationalität. Wien 1884.  Vgl. Satlow, Michael L.: Creating Judaism. History, Tradition, Practice. New York 2006, S. 99: „Scholars widely dispute the causes of the Maccabean revolt. What does seem clear is that the revolt was not about a culture clash between ,Judaism‘ and ,Hellenism‘ or even ,assimilation‘. By no means are the Maccabee brothers anti-Hellenistic […]“.

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Wie Bloch zog auch Achad Haam in seiner Vorstellung der Assimilation die Parallele zur Epoche der Hellenisierung. Achad Haam betrachtete vor allem Ägypten als gutes Beispiel für sein Modell der „konkurrierenden Nachahmung“. „Schon lange bevor die Hellenisten [‫ ]הילניסטים‬in Palästina das Judentum zugunsten der hellenischen Kultur aufgeben wollten“, so Achad Haam, seien „die Juden in Ägypten sowohl in ihrer Lebensweise als auch in ihren Anschauungen und in ihrem wissenschaftlichen Streben in nahe Beziehung zu den Griechen getreten“ und hätten dabei keine „besonders starke Neigung zur Assimilation“ entwickelt. Die ägyptischen Juden hätten „sich vielmehr ihres hellenischen Wissens“ bedient, „um durch dasselbe die Eigenart des Judentums auszuprägen, dessen Herrlichkeit aller Welt zu offenbaren und seine Erhabenheit über die griechische Gedankenwelt dazutun“. Sie hätten sich also „vermittels der Nachahmung, die anfangs ihre Selbstentäußerung vor der fremden Geistesmacht [‫ ]התבטלות מפני הכוח הרוחני הנכרי‬hervorgerufen hatte“ im Endeffekt die fremde Geistesmacht angeeignet und seien dadurch „von dieser Selbstentäußerung zur Konkurrenz [‫ ]מהתבטלות להתחרות‬fort[ge]schritten“.⁶² Achad Haam war darüber hinaus der Meinung, dass das Phänomen der „Hellenisten“, also jener Juden, die sich in Palästina während der griechischen Herrschaft „hellenisierten“, verhindert worden wäre, hätte die konkurrierende Nachahmung gegenüber der griechischen Kultur schneller eingesetzt. Wenn die Gelehrten, die der Legende nach die erste griechische Bibelübersetzung anfertigten,⁶³ „gleichzeitig für die palästinensischen Juden Plato ins Hebräische übersetzt und dadurch die griechische Gedankenwelt zum Gemeingut unseres Volkes [‫ ]לקנין עמנו‬in seinem Lande und in seiner Zunge gemacht“ hätten, „dann wäre sehr wahrscheinlich auch in Palästina die Selbstentäußerung in Konkurrenz übergegangen, und die Entwicklung der jüdischen Eigenart hätte dann einen viel bedeutenderen und großartigeren Verlauf genommen“, da es „dann naturgemäß im Judentum keine ,Griechlinge‘ [‫ ]בוגדים מרשיעי־ברית‬gegeben“ hätte und damit „auch die Makkabäer samt all den geistigen Folgen, die in letztem Grunde in jener Epoche wurzeln, überflüssig“ geworden wären.⁶⁴ Hätten sich die Juden die griechische Kultur angeeignet und sich selbst dadurch perfektioniert, so Achad Haam, wären sie nicht der Gefahr der Hellenisierung bzw. Assimilation ausgesetzt gewesen. Damit hätten sie, und das ist angesichts der exponierten Stellung der Makkabäer für die zionistische Be-

 Achad Haam, Nachahmung und Assimilation, S. 338 (Hebräisch: S. 175).  Der Legende nach übersetzten 72 verschiedene Übersetzer die Bibel unabhängig voneinander in vollkommen identischem Wortlaut ins Griechische. Siehe auch: Septuagint. In: Encyclopaedia Judaica. Hrsg. von Michael Berenbaum und Fred Skolnik. 2nd ed. Vol. 18. Detroit 2007, S. 307.  Achad Haam, Nachahmung und Assimilation, S. 338 f. (Hebräisch: S. 175).

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wegung besonders hervorzuheben, im Grunde sogar den Makkabäeraufstand „überflüssig“ gemacht. Auch im weiteren Verlauf des zionistischen Diskurses wurde der Widerstand der Makkabäer gegen die Griechen immer wieder als Paradigma eines erfolgreichen Widerstands gegen die Assimilation gedeutet. So wurde in der Instruction für Zionisten beispielsweise für die zionistische Agitation das Heranziehen des Makkabäeraufstands empfohlen: Ferner sind zur Chanukahzeit Makkabäerfeiern zu veranstalten. An denselben ist dem Publicum der Hellenismus, die Assimilation des Alterthums, mit seinen bösen Folgen zu schildern, die heldenhafte Vertheidigung der Religion und des Volksthums durch die Makkabäer und deren Sieg darzustellen und die Nutzanwendung für unsere Bewegung daraus zu ziehen.⁶⁵

Der hellenische „Spiegel“, der bereits in proto-zionistischer Zeit der Konstruktion des authentischen jüdischen Selbst diente, wurde hier ergänzt und mit historischen Ereignissen der national ausgelegten jüdischen Vergangenheit verknüpft. Demnach hätten die Makkabäer nicht nur die jüdische „Religion“, sondern auch das jüdische „Volkstum“ verteidigt. Die Gefahr der Assimilation in den deutschen Ländern der Gegenwart sollte während der Makkabäerfeiern zu Chanukka dem Publikum anhand dieser historischen Parallele verdeutlicht werden. Nach einem Synagogenbesuch notierte der frühe Zionist Adolf Friedemann (1871– 1932) in seinem Tagebuch mit dem Titel Durch, dass er nicht wisse, woher es käme, aber dass ihm „das ganze Judentum nur noch in der Beleuchtung des Kampfes“ erscheine. „Jeder Psalm und jedes Wort des Rabbiners enthielten“ seiner Meinung nach „eine Mahnung“. Und zwar, dass in den Juden die „nationale Kraft des jüdischen Volkes“ liegen würde. Jede Säule in der Synagoge sprach zu ihm „von der geschwundenen Grösse der Makkabäer, der Posaunenschall erscholl wieder im Lande der Verheissung, das jetzt zur Wüste geworden“. So sei Palästina zwar zugrunde gerichtet, aber der „elende, schmächtige Synagogendiener“, der den Schofar blies, kam ihm vor wie der „Herold“, der „das Volk […] zum mannhaften, wenn es sein muss, Vernichtungskampfe“ riefe.⁶⁶

 Instruction für Zionisten, CZA Z1/9 – 3. Hervorhebung d. Verf.  Friedemann, Adolf: Durch. Unveröffentlichtes Tagebuch. Eintrag vom 20. September 1895. CZA A8/9, S. 15.

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3.1.3 Zionistische Narrative des „unauthentischen“ Juden Abgesehen von der Einbettung des zionistischen Narrativs der Authentizität in den Diskurs der Emanzipation, wurden die für die zionistischen Denker offensichtlichen Folgen der „Assimilation“ auch auf einzelne Jüdinnen und Juden übertragen. Bezüglich der sozialpsychologischen Situation der Juden schrieb bereits Pinsker: „Indem wir unser materielles Dasein zu erhalten suchten, waren wir nur zu oft gezwungen, unsere moralische Würde außer acht zu lassen“.⁶⁷ 1897 erhielt diese Position den bis dato offiziellsten Rahmen. Max Nordau fand in seiner bereits erwähnten Rede auf dem Zionistenkongress klare Worte: „Die Emanzipation hat die Natur des Juden vollständig umgewandelt und aus ihm ein anderes Wesen gemacht“.⁶⁸ Nordau gelangte schließlich zu seiner ausführlichen Darstellung des emanzipierten Juden, der bar jeder Authentizität ein desolates Dasein friste. Das folgende Zitat Nordaus zählt sicherlich zu den radikalsten Äußerungen zur Selbstverfälschung und stellt damit eine der herausragenden Quellen zum zionistischen Authentizitätsdiskurs dar: Der emancipirte Jude ist haltlos, unsicher in seinen Beziehungen zu den Nebenmenschen, ängstlich in der Berührung mit Unbekannten, misstrauisch gegen die geheimen Gefühle selbst der Freunde. Seine besten Kräfte verbraucht er in der Unterdrückung und Ausrottung oder mindestens in der mühsamen Verhüllung seines eigensten Wesens, denn er [ist – Anm. d. Verf.] besorgt, dass dieses Wesen als jüdisch erkannt werden möchte, und er hat nie das Lustgefühl, sich ganz zu geben, wie er ist, er selbst zu sein, wie in jedem Gedanken und Gefühle, so in jedem Ton der Stimme, in jedem Augenlidschlag, in jedem Fingerspiel. Innerlich wird er verkrüppelt, äusserlich wird er unecht und dadurch immer lächerlich und für den höher gestimmten, ästhetischen Menschen abstossend wie alles Unwahre.⁶⁹

Anders ausgedrückt, da der emanzipierte Jude sich weit von seinem authentischen Selbst entfernt habe, befinde er sich in einem Zustand der Inkohärenz. Dieser charakterisiere sich durch Haltlosigkeit, Unsicherheit, Angst, Misstrauen, Verhüllung des eigenen Wesens, innerliche Verkrüppelung, äußerliche Falsch-

 Pinsker, Autoemancipation, S. 15. Hervorhebung d. Verf.  Officielles Protokoll des 1. Zionistenkongress, S. 14. „[I]n einer Art Rausch“ bemühte er sich „alle Brücken sofort hinter sich abzubrechen“. Den früheren „Trieb der Selbsterhaltung“, der auf „schroffste[r] Absonderung“ beruhte, tauschte er gegen einen neuen ein, der auf „äusserster Annäherung und Anähnlichung“ beziehungsweise „förderlicher Mimicry“ beruhen würde. Der neu ausgebrochene Antisemitismus konfrontierte den Juden schließlich mit seiner misslichen Situation: „Seine jüdische Sonderart hat er aufgegeben, die Völker erklären ihm, dass er ihre Sonderart nicht gewonnen hat“ (S. 16).  Officielles Protokoll des 1. Zionistenkongress, S. 17.

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heit, Lächerlichkeit, Unwahrheit und Abscheu.⁷⁰ Jegliches „Lustgefühl“, das von einem stabilen Selbst ausginge, sei dem emanzipierten Juden damit vorenthalten.⁷¹ Nordaus harsche Worte zur Lage des emanzipierten Juden sollten noch übertroffen werden. Der zionistische Historiker Adolf Böhm adaptierte in seinem 1920 erschienenen Werk zur Geschichte der zionistischen Bewegung antisemitische Vorurteile, wenn er feststellte, dass in der „Masse der Judenheit […] die Emanzipation Folgezustände“ gezeigt habe, „die mehr oder minder als Zersetzungs- oder Verfallserscheinungen bezeichnet werden können“.⁷² Die Juden seien zwar „Pioniere des glänzenden wirtschaftlichen Aufschwunges dieser Epoche“

 Hiermit möchte ich George L. Mosses Aussage, dass Nordau die „physical and mental sickness“ auf den osteuropäischen Juden projizierte, erweitern und argumentieren, dass er diesen „Entarteten“ auch im „Westen“ sah. Vgl. Mosse, George L.: Max Nordau, Liberalism, and the New Jew. In: Journal of Contemporary History 27 (Oct. 1992), No. 4, S. 565 – 581, hier S. 567.  Vor allem der irregeleitete Versuch, jemand „Anderen“ nachzuahmen, sei die Ursache für diese vollkommene Selbstentfremdung. Der dafür verantwortliche Gedankengang, den Nordau wohlgemerkt nicht „lesen“ könne, ohne dass sich ihm „alles im Leibe herumdreht“ lautete: „Wir Juden sind keine Nationalität, wir sind genau dasselbe wie Ihr seid; wir wünschen und hoffen nicht, je wieder ein Volk zu werden; wir wollen unsere Fehler ablegen, uns bemühen, euch an Bildung gleich, an Sitten ähnlich zu werden, wir bitten Euch nur, uns noch das Verharren bei unserem Glauben zu gestatten und uns im übrigen als Staatsbürger anzuerkennen; Ihr sollt sehen, dass wir uns dieser hohen Auszeichnung würdig erweisen werden“ (Nordau, Die politische Gleichberechtigung der Juden II., S. 5). Nordau fasste hier mithilfe des von ihm paraphrasierten Narrativs zusammen, welches Verhalten von jüdischer Seite er für den in seiner Sicht beklagenswerten Zustand der emanzipierten Juden verantwortlich machte. Er nannte als Gründe die Aberkennung der nationalen Komponente des Judentums und jeglicher nationaler Bestrebungen und das für die Gleichberechtigung verfolgte Gleichwerden mit den anderen Staatsbürgern, das auf Kosten jeglichen Jüdischseins erfolgt wäre.Vor allem die von Nordau deklarierte Fokussierung auf ein angestrebtes „Gleichwerden“ und ein „Ähnlichwerden“ mit der Mehrheitsgesellschaft lässt die „Nachahmung“ eines „Anderen“ unter gleichzeitiger Aufgabe des „Eigenen“ erkennen und wurde zu einem besonderen Aspekt des zionistischen Authentizitätsdiskurses. Der jüdische Kampf um die Gleichberechtigung wurde in zionistischer Sicht als eine Nachahmung, als ein Angleichen an die Mehrheitsgesellschaft, die Aufgabe jeglicher „Eigenart“ und schließlich als die „Auflösung des jüdischen Volkes“ gedeutet. Auch Theodor Herzl brachte in seiner Rede auf dem zweiten Kongress diese Zusammenhänge auf ihren historiographischen Punkt: „Es konnte nicht der geschichtliche Sinn der Emancipation sein, dass wir aufhören sollten, Juden zu sein […], denn wir wurden zurückgestossen, als wir uns mit den anderen vermischen wollten. […] Der geschichtliche Sinn der Emancipation musste vielmehr sein, dass wir unserem befreiten Volksthum eine Heimstätte bereiten sollten“ (Theodor Herzls Rede auf dem zweiten Zionistenkongress. In: Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des II. Zionisten-Congresses gehalten zu Basel vom 28. bis 31. August 1898, Wien 1898, S. 5).  Böhm, Adolf: Die Zionistische Bewegung. Die Bewegung bis zum Tode Theodor Herzls. Berlin 1920, S. 29.

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und „Hauptträger der bürgerlichen Ideologie“ gewesen, doch habe dies auch „Schattenseiten“ gehabt:⁷³ [D]er Materialismus, der die sogenannten Genüsse des Lebens, oder zumindest Sicherheit, Behaglichkeit, Ruhe aufs höchste schätzt, das Überwuchern eines seelenlosen Rationalismus, ferner eine Scheinbildung, genährt von den Geistesblüten aller Völker, die aber, von ihren Wurzeln gelöst, nur als fertige Produkte angeeignet wurden. Der Jude wurde so zum Bildungsphilister, zum Eklektiker, zum Nachempfinder, zum Schöpfer eines geistreichelnden, aber jeder tieferen Ursprünglichkeit entbehrenden Stils in Journalistik und Literatur. Er, der losgerissen von seinem geschichtlichen Erbe, ohne volkhaften oder natürlichen Nährboden mitten in eine nichtjüdische Sphäre gestellt war, erschien deshalb den Völkern vielfach als ein Element der Dekomposition. ⁷⁴

Auf antisemitische Termini zurückgreifend und mit deutlicher Bezugnahme auf Friedrich Nietzsche sieht Böhm vor allem das Unästhetische: seelenloser Rationalismus, Scheinbildung, Bildungsphilister,⁷⁵ Eklektiker, Nachempfinder, Stil ohne Ursprünglichkeit, losgerissen von seinem geschichtlichen Erbe, ohne volkhaften oder natürlichen Nährboden, oder, in Nietzsches Worten „unnationale Gebildetheit“,⁷⁶ beziehungsweise „Unauthentizität“. Diese harschen Aussagen Nordaus und Böhms sollte man unbedingt im Kontext ihrer Zielsetzung verstehen. Da sie für den Zionismus als einzigen Ausweg werben wollten, sahen sie sich wohl veranlasst, die Ausgangssituation zu überspitzen und als besonders aussichtslos zu beschreiben.

3.1.4 Die „neuen Marranen“ Um seine Charakterisierung des „unauthentischen“ Menschen, das heißt des emanzipierten oder gar getauften Juden, zu verdeutlichen, griff Max Nordau auf den Begriff des „Marranen“ zurück.⁷⁷ Der Terminus war bereits durch Werke wie

 Böhm, Die Zionistische Bewegung, S. 29.  Böhm, Die Zionistische Bewegung, S. 29. Hervorhebung d. Verf.  Zu diesem Begriff, der von Nietzsche stammt, siehe auch Mendes-Flohr, Paul: Cultural Zionismʼs Image of the Educated Jew. Reflections on Creating a Secular Jewish Culture. In: Modern Judaism 18 (Octob. 1998), No. 3, S. 231. Zu Nietzsches Verwendung des Begriffes „Bildungsphilister“ siehe auch Trilling, Das Ende der Aufrichtigkeit, S. 100.  Zitiert in Mendes-Flohr, Cultural Zionismʼs Image of the Educated Jew, S. 231.  Woher die Bezeichnung „Marrane“ stammt, ist nicht eindeutig. Einige leiten es von maranatha (Aram. ‫)מרנא תא‬, was in etwa „verflucht“ oder auch „in den Bann getan“ bedeutet, ab (Siehe zum Beispiel: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Band 13. Leipzig 1908, S. 261). Meist wird es jedoch von el marrano, was im Spanischen „das Schwein“, oder marrano, was „dreckig“ oder

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Die Marannen (hier in anderer Schreibweise) von Phöbus Philippson zur „Chiffre“ im Diskurs moderner jüdisch-kultureller Selbstverortung geworden.⁷⁸ Nordau gebrauchte den Begriff um – neben dem „emancipirten Juden“ – ein weiteres Beispiel für seine Definition des „Entarteten“ zu liefern. Nordaus Werk Entartung besprach gleich zu Beginn das „Weltuntergangsgrauen“ des Fin de Siècle.⁷⁹ In der Rolle eines Arztes diagnostiziert er „das Syndrom oder Gesammtbild zweier bestimmter Krankheits-Zustände“ und zwar „der Degeneration oder Entartung und der Hysterie, deren geringere Grade als Neurasthenie bezeichnet werden“.⁸⁰ Nordau zitierte Benedict Augustin Morel (1809 – 1873), der den Begriff der Entartung „als eine krankhafte Abweichung von einem ursprünglichen Typus“ prägte.⁸¹ Erkennen könne man „Entartete“ sowohl an körperlichen, als auch an geistigen Symptomen.⁸² In seiner Rede auf dem 1. Zionistenkongress vertrat Nordau die These, dass „[a]lle besseren Juden Westeuropas“ durch ihre gesellschaftliche Situation an einer „Not“ litten und „Rettung und Linderung“ suchten, zuweilen „sich durch Flucht aus dem Judentume“, soll heißen durch die Taufe, „zu retten“. Doch ließe „der Rassenantisemitismus, der die Umwandlungskraft der Taufe leugnet, diesen Rettungsplan wenig aussichtsvoll erscheinen“. Nordau führte weiter aus, dass auch „unrein“ bedeutet, abgeleitet. Eindeutig ist jedoch, dass es eine abfällige Bezeichnung für die jüdischen Zwangskonvertiten zum Christentum auf der Iberischen Halbinsel war. Diese Zwangskonversionen fanden im Zuge der Reconquista statt, der Rückeroberung der Iberischen Halbinsel durch christliche Herrscher, die ein einheitliches christliches Herrschaftsgebiet erschaffen wollten. Die Juden wurden vor die Wahl gestellt, sich taufen zu lassen oder – 1492 aus Spanien beziehungsweise 1497 aus Portugal – vertrieben zu werden. Viele ließen sich taufen, behielten jedoch im Geheimen ihre jüdischen Bräuche bei. Heute gebraucht man für sie den Begriff Conversos.  Krobb, Florian: Kollektivautobiographien, Wunschautobiographien. Marranenschicksal im deutsch-jüdischen historischen Roman. Würzburg 2002. S. 49. Krobb stellt darüber hinaus die These auf, „daß im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts im kollektiven Bewußtsein der jüdischen Gemeinschaft Mitteleuropas ausgehend von Philippsons Marannen ein ganzes ,iberisches‘, ,marranisches‘, oder ,sephardisches‘ Assoziationsfeld entsteht, das durch die Nennung einer Chiffre mühelos und wie selbstverständlich ausgerufen werden konnte“. Diese Hinwendung zur Kultur der Sepharden war bereits im zweiten Kapitel dieser Arbeit anhand des sephardischen Märchens deutlich geworden.  Nordau, Max: Entartung I. Berlin 1890, S. 6. Zur zionistischen Kritik Ruben Brainins von Nordaus Entartung siehe Gelber, Mark H.: Die Begriffe der jüdischen und der deutschen Kultur und ihre Differenzierung in der frühen deutsch-jüdischen Presse. In: Zwischen Selbstbehauptung und Verfolgung. Deutsch-jüdische Zeitungen und Zeitschriften von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus. Hrsg. von Michael Nagel. Hildesheim [u. a.] 2002, S. 217– 235, hier S. 231 f.  Nordau, Entartung I., S. 30 f.  Nordau, Entartung I., S. 31 f.  Nordau, Entartung I., S. 35.

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„auf diese Weise ein neues Marranentum [entstehe], das ungleich schlimmer ist als das alte“. Das „alte“, soll heißen jenes im 14. und 15. Jahrhundert, hätte nach Nordau „einen idealistischen Zug von geheimer Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, von herzbrechender Gewissensnot und Reue“ gehabt.⁸³ Die „neuen Marranen“ hingegen, die getauften Juden im Europa des 19. Jahrhunderts, würden ihr Judentum „mit Grimm und Erbitterung“ niederlegen, doch „im innersten Herzen, wenngleich vor ihnen selbst uneingestanden“, trügen „sie ihre eigene Erniedrigung“ und „ihre eigene Unehrlichkeit“.⁸⁴ Diese getauften Juden symbolisierten durch ihre Taufe, zu der sie – analog zu den Zwangskonvertiten in Spanien – gezwungen wurden, für Nordau das Extrem der Assimilation und simultan das der „Unauthentizität“. Sie lebten laut Nordau eine Lüge, die sie innerlich als Erniedrigung und Unehrlichkeit empfänden. Darüber hinaus graute es Nordau „vor der zukünftigen Entwicklung dieses Geschlechtes der neuen Marranen, […] dessen Gemüt vergiftet ist durch Feindlichkeit gegen das eigene wie das fremde Blut“ und „dessen Selbstachtung zerstört ist durch das immer gegenwärtige Bewußtsein einer fundamentalen Lüge“.⁸⁵ Die mitunter harschen Aussagen über „Unauthentizität“ lassen Rückschlüsse auf seine Vision des Authentischen zu. Insbesondere das Motiv der inneren Lüge, mit der die getauften Juden laut Nordau konfrontiert sind, scheint ein zentrales zu sein. Es lässt sich daraus folgern, dass vor allem das innere Gefühl authentische Zionisten ausmache. Weitere Bezüge zu den Marranen finden sich beispielsweise bei Nachum Sokolow (1859 – 1936), einem hebräischen Schriftsteller aus Russisch-Polen und dem späteren Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation. 1903 veröffentlichte Sokolow in der Welt einen Artikel mit der Überschrift „Automarrannen“ (abermals in einer anderen Schreibweise). In Anlehnung an Pinskers Autoemancipation wollte Sokolow scheinbar implizieren, dass die Juden es selbst seien, die sich zu Marranen machten. Sokolow beschrieb darin, wie er ein Gemälde des „geheimen Sederabend[s]“ des russischen Malers Mosche Maimon (1860 – 1924) betrachtete und feststellte: „[M]it den spanischen Marrannen geht es nicht mehr. Es ging lange genug“.⁸⁶ Zunächst kritisierte Sokolow die mindere künstlerische Qualität des Bildes.⁸⁷ Über das dargestellte Motiv schrieb er:

    

Officielles Protokoll des 1. Zionistenkongress, S. 17. Officielles Protokoll des 1. Zionistenkongress, S. 17. Officielles Protokoll des 1. Zionistenkongress, S. 17. Sokolow, Nachum: Automarrannen. In: Die Welt, Nr. 16, 17. April 1903, S. 2– 3, hier S. 2. Sokolow, Automarrannen, S. 2.

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Und doch zieht es mich an – nicht die stüperhaft verhunzte Reproduktion des zu sehr theatralisch verkünstelten und verschraubten Bildes, sondern das Motiv. Ich meine: wie sich die jüdische Seele zitternd müht, zu ihrer Quelle zu gelangen. […] Das jüdische Passah und der Seder – das ist im Grunde des Wesens nichts anderes, als das jüdische Volk, der jüdische Mensch, in seinem innersten Lebenskern blossgelegt. Reine Instinktsache.⁸⁸

In der Tat sollte das Motiv ein authentisches Judentum repräsentieren und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen auf religiöser Ebene, das heißt der Wahl einer Szene des Pessachfestes, das an den Auszug der Israeliten aus Ägypten erinnert und das im zionistischen Festkalender als das Befreiungsfest schlechthin einen besonderen Raum einnimmt. Zum anderen zeige sich das authentische Judentum durch die Tatsache, dass dieser Sederabend von Conversos im Geheimen begangen wurde: Ein Mensch, wie eine knurrende, gefesselte Bestie, durch fremde Menschen mitgeschleppt, wie er sich dann aufbäumt gegen den Zwang, der die freie Persönlichkeit einengt und verkümmert. Hier steckt die grandiose und erschütternde Beseelung, die ungeheure Wucht und die fanatisierende Begeisterung des Marrannen-Seders.⁸⁹

Mit anderen Worten, das Motiv des „Marrannen-Seder“ soll vor allem die mit Pessach assoziierte Befreiung aus der Sklaverei zum Ausdruck bringen. Auch wenn Conversos rein äußerlich das Christentum angenommen hatten, wären sie innerlich nach wie vor Juden, die den Sederabend begingen. Unter Gefahr für Leib und Leben feierten sie ein innerliches Fest der Befreiung im Gefängnis der sie unterdrückenden Gesellschaft. Vor dem Hintergrund dieser Werkanalyse stellte Sokolow nun einen Gegenwartsbezug her. Er beschrieb, wie eine befreundete Familie das Pessachfest nicht im eigenen Hause, sondern im weitaus bescheideneren Haus der Großmutter feierte – wie er zunächst vermutete der Tradition und Idylle wegen. Zu seiner Überraschung fand er jedoch heraus, dass dies geschah, da die Familie die jüdischen Bräuche vor ihrer eigenen Dienerschaft und anderen uneingeweihten Personen geheim halten wollte. Als nun Sokolow mit einigen christlichen Bekannten ohne Vorankündigung im Haus der Großmutter auftauchte, ließ die Familie die Gegenstände und das Essen, welche an das Pessachfest erinnern, zügig verschwinden. Sokolow kommentierte dies mit folgendem Ausspruch:

 Sokolow, Automarrannen, S. 2.  Sokolow, Automarrannen, S. 2. Hervorhebung d. Verf.

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Ein Mensch besitzt ein herrliches Heim, führt ein sorgenloses Dasein, fühlt ein unklares Sehnen nach Betätigung eigener Art, und verwandelt sein eigenes Heim in einen glitzernden Käfig für Selbstverstümmelung.⁹⁰

Gerade zu Pessach, dem hohen Fest der Befreiung, so Sokolows Deutung, lässt die Familie die dazugehörigen Gegenstände und das Essen verschwinden. Sowohl auf dem Gemälde als auch in der Geschichte geht es also um einen geheimen Sederabend. Der Pessachseder der Conversos stehe für ein Auflehnen gegen den Zwang von Außen und hätte damit eine symbolische „Wucht“. Der Seder der Familie, die Sokolow besuchte, illustriere jedoch das genaue Gegenteil. Sokolow schloss seinen Artikel mit dem Wunsch, dass die Nachahmung der Assimilation aufhöre und der Jude stolz seinem eigenen „Wesen“ folge: Und ich will ihn lehren, wie der verkünstelte „Israelit“ sich aus den Banden gespenstischer Wahnvorstellungen löst und zu freiem, persönlichem Leben erwacht. Und ich will ihm die Augen öffnen, dass er sehe, wie er sich durch seine Nachahmungsschmöckerei lächerlich und verächtlich macht. Ich will ihn lehren, ein freier Jude zu sein. ⁹¹

3.1.5 Die „Philister“ Neben den „neuen Marranen“ Nordaus oder den „Automarrannen“ Sokolows behalfen sich die zionistischen Autorinnen und Autoren mit einer weiteren zeitgenössischen Chiffre, nämlich der der „Philister“. Die Assoziation des Philisters mit einem „unauthentischen“ Menschen entstand im akademischen Jargon, also genau in jenem Milieu, aus dem eine beträchtliche Anzahl früher zionistischer Denkerinnen und Denker stammte. Vor dem Hintergrund seiner biblischen Bedeutung wurde der Begriff zunächst von Theologiestudenten als „Gegner von Gottes Wort“ gebraucht. Im Sturm und Drang erhielt er die Konnotation des „personifizierte[n] Mißlingen[s] von Kunst und Liebe“.⁹² Herders ConversationsLexikon von 1856 definiert den Philister als „jeden Nichtstudenten, der nicht Professor ist“, „gleichbedeutend mit Spießbürger“, also einen Menschen „von engherzigen und beschränkten Ansichten u. Strebungen“, der „aller Poesie des

 Sokolow, Automarrannen, S. 3.  Sokolow, Automarrannen, S. 3. Hervorhebung d. Verf.  Stein, Gerd (Hrsg.): Philister – Kleinbürger – Spießer. Normalität und Selbstbehauptung. Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts. Band 4. Frankfurt a. M. 1985, S. 13 f.

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Lebens Feind“ sei.⁹³ In Heinrich Heines berühmtem Ausspruch wird diese Verwendung des Begriffes des Philisters noch weiter verdeutlicht: „Die Philister, die Beschränkten, diese geistig Eingeengten“ schrieb er unter der Überschrift Zur Notiz. ⁹⁴ Kurzum: „Philister“ war eine pejorative Bezeichnung für Menschen, die der Kunst und der Ästhetik nicht viel abgewinnen konnten und ein kleinbürgerliches Leben führten. Ende des 20. Jahrhunderts verschwand der „Philister“ weitestgehend aus dem Sprachgebrauch. Er wurde ersetzt durch den „Spießbürger“ oder „Spießer“.⁹⁵ Es ist abermals Max Nordau, der das Motiv des Philisters – ähnlich dem „neuen Marranen“ – exzessiv einsetzte, um zutiefst „unauthentische“ Individuen zu charakterisieren. „Mehrheit und Minderheit“, das zweite Kapitel seines Werks Paradoxe, stellt eine regelrechte Abrechnung mit dem Phänomen „Philister“ dar. Als Gegenpol zum Genius, repräsentiere der Philister die „Mehrheit“, den „perspektivische[n] Hintergrund im Gemälde der Zivilisation“,⁹⁶ die „Durchschnittsmasse“,⁹⁷ „Dummiane“,⁹⁸ den „Acker des Genius“,⁹⁹ den „Dutzendmensch[en]“.¹⁰⁰ Diese Eigenschaft beruhe auf einer „biologischen Grundlage“,¹⁰¹ jener „des primitiven Lebensgesetzes“ einerseits und andererseits jener „der Vererbung“.¹⁰² Bei letzterer komme es schließlich auf die „Menge von Lebenskraft“ an, die darüber entscheide, ob das Individuum zu „höheren oder höchsten Verrichtungen“ befähigt sein werde.¹⁰³ Auch Moses Calvary, der Zionist der zweiten Generation bemerkt in seinem Aufsatz Das neue Judentum und die

 Herders Conversations-Lexikon. Band 4. Freiburg i. Br. 1856, Band 4. S. 527 f. Piererʼs Universal-Lexikon von 1861 wird noch etwas ausführlicher. Dort bezeichnet Philister „in der Studentensprache jeder, welcher nicht Student ist, bes. die Bürger der Universitätsstadt; daher Philiströs, beschränkt in Ansichten, Thun u. Treiben u. der akademischen Freiheit entgegen; als Gegensatz von burschikos; [oder jenen,] der nicht mehr Student ist; daher ins Philisterium gehen, von einem Studenten, nachdem er seine Studien vollendet hat, in die bürgerlichen Verhältnisse übergehen […]“. Siehe Piererʼs Universal-Lexikon. Band 13. Altenburg 1861, S. 63.  Heine, Heinrich: Zur Notiz. In: Heinrich Heineʼs sämmtliche Werke. Supplementband. Letzte Gedichte und Gedanken. Hamburg 1869, S. 64.  Stein, Philister – Kleinbürger – Spießer, S. 13 f.  Nordau, Max: Paradoxe. Leipzig 1885, S. 33.  Nordau, Paradoxe, S. 39.  Nordau, Paradoxe, S. 40.  Nordau, Paradoxe, S. 60.  Nordau, Paradoxe, S. 61.  Nordau, Paradoxe, S. 41.  Nordau, Paradoxe, S. 43.  Nordau, Paradoxe, S. 48.

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schöpferische Phantasie, dass „schöpferisch […] allein das Genie“ sei, jedoch „nie der Philister“.¹⁰⁴ In seiner bekannt süffisanten Art lieferte Nordau zudem noch eine genderspezifische Analyse. In Bezugnahme auf die Tierwelt schienen ihm „im Weibchen die Lebenskraft und deren Gestaltungsdrang geringer zu sein als im Männchen“.¹⁰⁵ Zwar gäbe es vereinzelt „sogenannte originelle Frauen“, doch sei dies „bei der Frau in hundert Fällen achtzigmal krankhaft“.¹⁰⁶ Frauen hätten daher gemeinhin einen „typischen Charakter“, der mit der „trostlose[n] Banalität“ ihrer „Neigungen“ zusammenhinge.¹⁰⁷ „In Jahrhunderten wird einmal ein Weib geboren, das Ehrgeiz hat“, so Nordau. Die Frau sei demnach vor allem Philister und in ihrem Wesen zutiefst „unauthentisch“.

3.1.6 Die „Assimilantin“ In der Forschung wurde bereits in verschiedenen Kontexten betont, dass Jüdinnen fälschlicherweise für die vorangeschrittene und weiter fortschreitende „Assimilation“ beziehungsweise „den Niedergang des Judentums“ verantwortlich gemacht wurden.¹⁰⁸ Der zionistische Diskurs bildete bei der Verbreitung solcher Schuldzuweisungen keine Ausnahme. So bemerkte Berthold Feiwel (1875 – 1937), die jüdische Frau sei eitel und oberflächlich, putzsüchtig, anmassend, vordringlich, verschwenderisch – aber das ist zu wenig: Sie ist auch eine schlechte, despotische Hausfrau, eine schlechte Gattin und Mutter. Sie ist die Vertreterin der krankhaftesten Moderne, die Trägerin der laxen und sündhaften Ehe-, Familien- und Gesellschaftsmoral. Sie schädigt die Sitten und den guten Geschmack.¹⁰⁹

Es hätte nicht viel gefehlt, und Feiwel hätte hier in weniger als fünfzig Worten fast ebenso viele Diffamierungen untergebracht. Die Liste der negativen Eigenschaf Calvary, Moses: Das neue Judentum und die schöpferische Phantasie. In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hrsg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag. Leipzig 1913, S. 103 – 116, hier S. 103.  Nordau, Paradoxe, S. 50.  Nordau, Paradoxe, S. 53.  Nordau, Paradoxe, S. 54.  Kaplan, Jüdisches Bürgertum, S. 87 f. Siehe auch Or, Tamara: Vorkämpferinnen und Mütter des Zionismus. Die deutsch-zionistischen Frauenorganisation (1897– 1938). Frankfurt a. M. [u. a.] 2009, S. 36 – 38 und Maksymiak, Malgorzata A.: Mental Maps im Zionismus. Ost und West in Konzepten einer jüdischen Nation vor 1914. Bremen 2015, S. 166 – 183.  Feiwel, Bertold: Die jüdische Frau. In: Die Welt, Nr. 17, 26. April 1901, S. 1– 3, hier S. 2.

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ten betraf alle Tätigkeitsbereiche, die Frauen nach der damaligen Rollenverteilung zukamen. Er diffamierte jüdische Frauen in den übelsten Tönen und machte sie neben der Aberkennung jeglicher Fähigkeiten als Hausfrau, Ehefrau und Mutter für Moralverlust und Sittenschädigung verantwortlich. Noch dazu gingen von ihnen scheinbar fürchterliche Gefahren aus: Diese Frauen […] arbeiten bewusst oder unbewusst im Innern der jüdischen Familie und in den kleineren oder grösseren Kreisen ihrer Gesellschaft an der Auflösung des Judenthums. […] Es ist Entjudungsarbeit im Kleinen, die jede dieser Frauen vollführt. Und doch will es uns scheinen, dass dem Nationaljudenthum von Seite dieser Frauen eine weit grössere Gefahr droht, als von Seite der männlichen Vertreter der Assimilation. […] Diese Frauen werfen nicht nur selbst die Ideale des Judenthums von sich und damit allgemein menschliche, nicht nur werden sie selbst immer äusserlicher, haltloser, oberflächlicher, entjudet, oder, wenn man will, jüdisch-antisemitisch – sie zerstören neben ihrer eigenen Individualität auch die Persönlichkeit ihrer Männer, ihrer Söhne, vor allem ihrer Töchter.¹¹⁰

Die „natürlichen“ Eigenschaften der Frauen würden demzufolge ihre Zuständigkeitsbereiche definieren: Es ist nur natürlich, dass bei den Frauen – Frauen sollen ja mit dem Herzen denken – das Gefühlsmässige vor dem Verstandesmässigen zur Sprache kommt. Auch bei den jüdischen Frauen waren und sind es zuerst Gefühlsmomente, die die Erkenntnis von der Volkszugehörigkeit entwickeln und stärken: Religion und Familie sind der Grund, auf dem sich ihr Nationalitäts-Bewusstsein aufbaut.¹¹¹

Der Religionsphilosoph Martin Buber konstruierte sogar eine Frauengeschichte, die analog zu Max Nordaus bereits behandelter jüdischer Geschichte der „Entartung“ verstanden werden kann. Frauen in der Antike würden in der biblischen Literatur gleichsam „königlich“ gezeichnet, wie es auch „bezeichnend“ sei, „dass die Tradition die Befreiung aus Aegypten“ vor allem „auf das Verdienst der edlen Frauen“ zurückzuführen sei, wie schon im vorigen Kapitel im Werk Joseph Natoneks betont wurde. In der talmudischen Periode „bildet sich die Hochschätzung der Frau noch stärker aus“. Doch „die höchste Bedeutung erlangt die Frau in der Ära des Ghettos. Hier drängt sich alles Leben in der Familie zusammen“.¹¹² Ihre Aufgaben beschreibt Buber wie folgt:

 Feiwel, Die jüdische Frau, S. 2.  Feiwel, Die jüdische Frau, S. 3.  Buber, Martin: Das Zion der jüdischen Frau. In: Die Welt, Nr. 17, 26. April 1901, S. 3 – 5, hier S. 3 f.

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Hier tritt die Frau als Schöpferin einer geschlossenen Familiencultur auf. Sie nimmt dem Manne einen grossen Theil seiner Geschäfte ab und ermöglicht es ihm, seinen geistigen Interessen nachzuleben. Mitten in der schwersten Verfolgung spendet sie ihm Muth und Zuversicht. Sie erzieht ihre Kinder zu tapferen und willensfesten Juden. Sie bringt in das Haus eine wunderbare Naturfrische, welche das verlorene junge Grün der Heimat soweit als möglich ersetzt. Sie erhält gleichsam den lebendigen Zusammenhang mit der Mutter Erde und gestaltet das Leben in einem vollen aus.¹¹³

Zeitgenössische Frauen seien jedoch der „Entartung“ verfallen.¹¹⁴ An dem auf die rechtliche Gleichstellung folgenden „Assimilations-Fanatismus nehmen die Frauen, die sich am leichtesten der Umgebung anschmiegen und deren Art annehmen, am lebhaftesten theil“.¹¹⁵ Tatsächlich kam laut Forschung den Frauen eine zweifache Rolle zu. Zum einen erzogen viele jüdische Frauen ihre Kinder nach den Idealen des Bürgertums, zum anderen jedoch „zeigten viele ihr jüdisches Zusammengehörigkeitsgefühl und Selbstbewußtsein“ und achteten darauf, „daß jüdische Rituale und Feiertage zu Hause eingehalten wurden, auch dann, wenn ihren Männern und Kindern diese bestenfalls nur noch liebenswert altmodisch erschienen“.¹¹⁶ Kurz, sie forcierten „eine moderne jüdische Identität“.¹¹⁷ Dass nicht nur die in diesem Kapitel dargestellten zionistischen Denker, sondern auch Historikerinnen und Historiker allzu häufig den „Grad der Assimilation“ überschätzten, hat Marion Kaplan überzeugend dargestellt.¹¹⁸ Dass Frauen dennoch oftmals für assimilatorische Tendenzen verantwortlich gemacht wurden, ermöglichte es den Männern, so Paula E. Hyman, ungehindert weiter „den Prozess und das Projekt der Assi-

 Buber, Das Zion der jüdischen Frau, S. 4.  Buber, Das Zion der jüdischen Frau, S. 4.  Buber, Das Zion der jüdischen Frau, S. 4.  Kaplan, Jüdisches Bürgertum, S. 17.  Kaplan, Jüdisches Bürgertum, S. 17.  Kaplan, Jüdisches Bürgertum, beispielsweise S. 26: „Der Begriff Assimilation wird besonders dann problematisch, wenn wir ihn auf die Frau anwenden, deren Leben auf Kultivierung angelegt ist und die sich eine starke Beziehung zu Tradition und Gemeinschaft bewahrte. Indem sie nur die Geschichte des Mannes darstellten, haben die Historiker den starken und langfristigen Einfluß der Frau auf die deutsch-jüdische Identität vergessen. Daher haben sie häufig das Ausmaß, in dem sich Juden – Frauen und Männer – assimilierten, überschätzt. Um das Problem der jüdischen Identität richtig zu erfassen, kann man die Worte Judah Leib Gordons, eines Vertreters der jüdischen Aufklärung in Osteuropa, wiederholen, der sagte: „Juden sind auf der Straße Männer und Frauen, zu Hause aber Juden“. Die Juden zeigten ihr Deutschtum nach außen, während sie ihr Judentum privatisierten. Die Frauen bildeten das Zentrum dieses Prozesses, indem sie einerseits die Integration erstrebten und andererseits ihre kulturelle oder religiöse Identität bewahren wollten“.

3.2 Zionistische Narrative des Authentischen

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milation“ zu verfolgen.¹¹⁹ Die Umbrüche, die die zügige Industrialisierung mit sich brachte, führten schlussendlich dazu, dass die Männer „von ihren Frauen erwarteten, ihnen zu Hause eine Insel der Ruhe zu schaffen“,¹²⁰ eine „jüdische“ Insel, um genau zu sein.

3.2 Zionistische Narrative des Authentischen 3.2.1 Die erste Generation deutscher Zionisten Nach den erfolgten Darstellungen der „Unauthentizität“ der jüdischen Situation werden nun im Anschluss die Ambivalenzen zionistischer Authentizität analysiert. Im Anschluss an die bereits bei Pinsker formulierte Definition der jüdischen Emanzipationsgeschichte als „unauthentisch“ schrieb Achad Haam im Jahre 1891, dass die Emanzipation Juden in eine „innere Knechtschaft“ – und zwar in eine „moralische“ und „intellektuelle“ Knechtschaft – gebracht habe.¹²¹ Emanzipierte Juden seien weit entfernt davon, „sich in ihrem Innern wahrhaft frei zu fühlen“.¹²² In diesem Denkmodell wurde als Gegenpol zu dieser Personifizierung des „Unauthentischen“ auf „Juden ohne Rechte“ verwiesen. Ein rechtlich benachteiligter, weil unemanzipierter Jude sei demnach frei und authentisch, weil er sich selbst treu geblieben sei. Achad Haam fasste diesen Gedanken in dem bekannten Ausspruch zusammen, der zu einer Art zionistischem „Credo“ avancieren sollte:¹²³ Und wenn mir dann jemand die Frage vorlegen würde, ob ich diese meine Stammesgenossen um ihre „Rechte“ beneide, dann würde ich fest und entschlossen mit einem kräftigen, entschiedenen Nein! antworten. Laßt mich nur mit euren Rechten zufrieden! Ich, wenn ich auch keine „Rechte“ genieße, ich habe mich auch nicht dafür verkauft [‫לא נתתי גם נפשי‬ ‫ – ]…[ ;]תמורתן‬kurz, ich bin von niemandem abhängig; über meine Ansichten und Gefühle habe ich mir allein Rechenschaft abzulegen, und nichts kann mich zwingen, sie zu verleugnen oder zu verheimlichen, andere oder mich selbst zu täuschen. Und diese meine

 Hyman, Paula E.: Gender and Assimilation in Modern Jewish History. The Roles and Representation of Women. Seattle/London 1995, S. 49.  Kaplan, Jüdisches Bürgertum, S. 32.  Achad Haam: Äußere Freiheit und innere Knechtschaft. In: Am Scheidewege. Gesammelte Aufsätze. Erster Band, Berlin 1923, S. 246– 266. Der Artikel erschien zuerst im Hamelitz vom 10. – 12. Februar 1891. Hebräisches Original: ‫[ עבדות בתוך חירות‬ʻAwdut be-toch cherut]. In: Achad Haam: Al paraschat drachim. Band 1. Berlin 1921, S. 121– 132.  Achad Haam, Äußere Freiheit und innere Knechtschaft, S. 252.  Mendes-Flohr, Cultural Zionismʼs Image of the Educated Jew, S. 228.

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3 Zionistische Narrative des „Unauthentischen“ und des „Authentischen“

geistige Freiheit – es spotte darüber, wer da will – ich gebe sie nicht her für alle „Rechte“ der Welt.¹²⁴

Der authentische Mensch sei unabhängig, müsse nichts verleugnen oder verheimlichen und niemanden, auch nicht sich selbst, täuschen. Achad Haam unterschied hier, ebenso wie Nordau, zwischen äußeren und inneren Attributen. Die emanzipierten Juden lebten nach Achad Haam zwar in äußerer Freiheit, jedoch in innerer Knechtschaft. Unemanzipierte Juden befänden sich zwar, da sie gesellschaftlich nicht gleichberechtigt seien, in einer Art äußeren Knechtschaft, verfügten allerdings über innere Freiheit. Ausschlaggebend sei die innere Freiheit, da sie Juden zu authentischen Menschen mache. Dieses „zionistische Credo“ ist mit einiger Vorsicht zu genießen. Im Jahre 1900 führte eine ähnliche, von Max Nordau geführte Debatte über die Emanzipation der Juden in Rumänien zu einem Eklat. Dieses Beispiel reflektiert die Ambiguität der zionistischen Agenda im Umgang mit dem Emanzipationsgedanken. Einerseits hatte Nordau die Emanzipation als falsch dechiffriert und wollte daraus den logischen Schluss ziehen, dass eine Emanzipation in Rumänien abzulehnen sei. Anderseits wollten die rumänischen Juden Nordau als Fürsprecher ihrer Gleichberechtigung gewinnen. Anfang August 1900 erhielt Max Nordau einen Brief aus Bukarest von Dr. C. R. Motru, einem Professor der dortigen Universität. Da „man am Vorabend einer Aenderung in Betreff der Gesetzgebung in Betreff der jüdischen Nation“ zu stehen glaubte, erbat „sich die ,Noua Revista Romana‘, die am weitesten verbreitete Zeitschrift Rumäniens […], die wertvolle Mitwirkung aller hervorragenden Denker Europas“. Motru richtete „einen warmen Aufruf“ an Nordaus „aufrichtige Meinung“ zu der Frage, ob er einer jüdischen Gleichberechtigung in Rumänien seinen Zuspruch gäbe.¹²⁵ Nordaus Antwort lautete: „Nein“. In der Welt wurde anschließend nicht nur Nordaus ursprüngliche Absage, sondern auch eine dreiteilige Artikelfolge über dieses Thema abgedruckt, in der sich Nordau angesichts der Reaktionen auf seine ursprüngliche Verweigerung erklärte. Nordau erläuterte, dass seine ablehnende Haltung „wenigstens für den Augenblick“ gelte, „und zwar in ihrem Interesse, ebenso wie in dem der Juden, meiner Brüder“.¹²⁶ Zwar müsse man „zwischen den bürgerlichen und politischen Rechten scharf unterscheiden“, und den Juden die bürgerlichen Rechte zu verweigern sei eine „Niederträchtigkeit“. Doch die politischen Rechte wären „ein  Achad Haam, Äußere Freiheit und innere Knechtschaft, S. 265 f. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt (Hebräisch: S. 132).  Nordau, Max: Die politische Gleichberechtigung der Juden. In: Die Welt, Nr. 47, 23. November 1900, No. 47, S. 5 – 7, hier S. 5.  Nordau, Die politische Gleichberechtigung der Juden, S. 6.

3.2 Zionistische Narrative des Authentischen

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verhängnisvolles Geschenk“ für die dortigen Juden, da Rumänien „für diese letzte Gerechtigkeit“ noch nicht bereit sei. Die christlichen Einwohner Rumäniens müssten die politische Gleichberechtigung zunächst „als eine Nothwendigkeit“ verstehen, und den „jüdischen Nachbarn nicht mehr als Fremden und Eindringling betrachten“, kurz: „Warten Sie mit der Emancipation […]“.¹²⁷ Es ist wenig überraschend, dass Nordaus Argument des unpassenden Zeitpunktes auf nicht viel Verständnis stiess. Nordaus Ideal des authentischen Juden wird oftmals mit dem Bild des „Muskeljuden“ assoziiert, das vom bürgerlichen Männlichkeitsideal geprägt war.¹²⁸ Aber Nordaus Überlegungen sind weitaus facettenreicher. Trotz seiner oben erwähnten harschen Worte, die er während des 1. Zionistenkongresses äußerte, beschrieb Nordau in der Welt die Emanzipation in Frankreich verglichen mit anderen Ländern als am „würdigsten“.¹²⁹ „Kurz“ und „mannhaft“ hätten sich die dortigen Juden auf die „Grundsätze der Revolution“ und die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ berufen.¹³⁰ Die Juden in Frankreich zur Zeit der Französischen Revolution hätten ein „Recht“ verlangt und keine „Gnade“: „Sie versprachen nichts anderes, als das Gesetz zu achten und treue Bürger des Vaterlandes zu sein, und man verlangte von ihnen kein anderes Versprechen. Eine Gabe, die unter solchen Bedingungen gereicht und empfangen wird, ehrt den Geber wie den Empfänger“.¹³¹ Hier wird Nordaus Idealtypus des authentischen Juden, der sich durch Stolz und Mannhaftigkeit auszeichnet, besonders deutlich. Doch die Juden in Frankreich blieben zu Nordaus Bestürzen diesem Ideal nicht treu, da sie den Forderungen Napoleons an den Sanhedrin nicht wider-

 Nordau, Die politische Gleichberechtigung der Juden, S. 7.  Zu Nordaus „Neuem Juden“ siehe Mosse, George L.: Max Nordau, Liberalism, and the New Jew. In: Journal of Contemporary History 27 (Oct. 1992), No. 4, S. 565 – 581, hier S. 569.  Nordau zu der Situation in den anderen Ländern: „Wir hören oft von Assimilationsjuden uns mit geheuchelt oder aufrichtig wuthbebender Stimme die Frage ins Gesicht schreien: ,Sollen wir etwa feige aufgeben, was unsere Väter mit solcher Anstrengung erkämpft haben?‘ Diese Frage schliesst eine freche Geschichtsverfälschung in sich, und es ist Zeit, dieser Lüge die Maulschelle zu versetzen, die sie reichlich verdient. Es ist nicht wahr, dass unsere Väter die politische Gleichberechtigung erkämpft haben. Sie haben sie erschlichen und erkrochen, und ich, der Nachkomme, für den sie es gethan zu haben glaubten, werfe es ihnen, ohne mich für undankbar zu halten, bitter vor und werde schamroth, wenn ich diesen Abschnitt unserer neuen Geschichte lese“. Siehe Nordau, Die politische Gleichberechtigung der Juden II., S. 4. Mit anderen Worten, Nordau schämte sich dafür, auf welche Weise die Juden zur Gleichberechtigung gekommen wären.  Nordau, Die politische Gleichberechtigung der Juden II., S. 4.  Nordau, Die politische Gleichberechtigung der Juden II., S. 5.

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sprachen.¹³² Sie begingen „nationalen Selbstmord“, da sie den neuen Gesetzen der Mischehe und der Entfernung der nationalen Komponente aus der jüdischen Religion nicht widersprochen hätten.¹³³ Am Ende der bereits dargestellten Kongressrede präsentierte Nordau den Zionismus als einzig akzeptable Lösung für die Situation der Juden: Andere erhoffen das Heil vom Zionismus, der ihnen […] der Weg zu einem Dasein [ist], in welchem der Jude endlich jene alleinfachsten, allerursprünglichsten Lebensbedingungen vorfindet, die für jeden Nichtjuden […] das Selbstverständliche sind: nämlich einen sichern gesellschaftlichen Halt, eine wohlwollende Gemeinschaft, die Möglichkeit, alle seine organischen Kräfte zur Entwicklung seines wirklichen Wesens zu verwenden, statt sie zu dessen Unterdrückung, Fälschung oder Verkleidung selbstzerstörend zu missbrauchen.¹³⁴

Der Idealzustand, den es wieder zu erreichen gelte und von dem sich die Juden in der neueren Zeit entfernt hätten, seien laut Nordau die „Ghettojuden“: So lebten die Ghettojuden in sittlicher Hinsicht ein Vollleben. Ihre äussere Lage war unsicher, oft schwer gefährdet, innerlich aber gelangten sie zur allseitigen Ausgestaltung ihrer Eigenart und sie hatten nichts Fragmentarisches an sich. Sie waren harmonische Menschen […].¹³⁵

Mit anderen Worten, obwohl die Juden im Ghetto oftmals großer physischer Gefahr ausgesetzt waren, so waren sie zumindest authentische Menschen, oder wie Nordau sie nannte: „Vollmenschen“. Diese Idealisierung des „Ghettos“ bedeutete nebenbei bemerkt jedoch nicht, wie bereits Mendes-Flohr zeigte, dass die zionistischen Denker eine Rückkehr in ebendieses planten.¹³⁶ Nordau formulierte hier prägnant, welche Attribute die zionistische Authentizität beinhaltete: einfache und ursprüngliche Lebensbedingungen, sicherer gesellschaftlicher Halt, eine wohlwollende Gesellschaft, die Entwicklung des wirklichen Wesens, Stolz, ein persönliches Leben und Freiheit. Die Assimilation, beziehungsweise die negativ konnotierte Nachahmung – Achad Haam würde hier von Selbstentäußerung durch Nachahmung sprechen – mache Juden lächerlich

 Nordau nennt dies „Synedrion“. Der Sanhedrin ist eigentlich der Hohe Rat zur Zeit des Jersualemer Tempels. Doch Napoleon I. berief 1806 einen ebensolchen ein, der aus 71 Notabeln bestand und für das Verhältnis zwischen Halacha und staatlichem Recht in Frankreich zuständig war. Siehe Mevorah, Baruch: Sanhedrin, French. In: Encyclopaedia Judaica. Hrsg. von Michael Berenbaum und Fred Skolnik. 2nd ed. Vol. 18. Detroit 2007, S. 24.  Nordau, Die politische Gleichberechtigung der Juden II., S. 5.  Officielles Protokoll des 1. Zionistenkongress, S. 17 f.  Officielles Protokoll des 1. Zionistenkongress, S. 15.  Vgl. hierzu Mendes-Flohr, Cultural Zionismʼs Image of the Educated Jew, S. 227– 239.

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und verächtlich, beides Begriffe, die im zionistischen Diskurs die „Unauthentizität“ bezeichnen. Der Zionismus schließlich werde in dieser Sicht Juden zu freien Juden machen.¹³⁷ Vor diesem Hintergrund wurde der Zionismus zusehends als Kampf gegen die Assimilation und das „Assimilantentum“ gesehen. Adolf Friedemann bemerkte beispielsweise in seinem Tagebuch über eine Rede Heinrich Loewes am 30. Mai 1895, dass Loewe darin „den ganzen mangelnden inneren Halt der sich assimilisierenden Juden“ bewiesen habe und „dass eigentlich in jedem Juden der Nationaljude verborgen sei etc“. Alles in allem sei der Abend so „ein riesiger Sieg über das Assimilantentum“ gewesen.¹³⁸

3.2.2 Individuelle Interpretation in der ersten Generation: Franz Oppenheimer Die zionistischen Denkerinnen und Denker begannen im Laufe der Zeit eine Art hierarchische „Skala“ zu konstruieren, die auf einer Vielfalt an Stereotypen beruhte, die gemäß ihrem Authentizitätsfaktor eingeordnet wurden. Auf der niedrigsten Stufe stand in diesem Modell der Typus des assimilierten und getauften Juden. Ganz oben stand nach diesem Konstrukt der Zionist.Vor allem in Memoiren wird mehrfach von der Entwicklung „von der Assimilation zum Zionismus“ gesprochen.¹³⁹ Diese Formulierung verweist auf die von den Zionisten empfundene Bewegung auf dieser Skala in Richtung Authentizität.

 Auch Theodor Herzl gab dem Aspekt der persönlichen Authentizität durch den Zionismus in seinen zwischen 1887 und 1900 verfassten Philosophischen Erzählungen Ausdruck (Herzl, Theodor: Philosophische Erzählungen. Berlin 1900). Man könne diese Erzählungen durchaus, so bringt es Jacob Golomb auf den Punkt, „Search of Herzlʼs Personal Authenticity“ bezeichnen (Golomb, Jacob: Transfiguration of the Self in Herzlʼs Life and in his Literary Fiction. In: Theodor Herzl: From Europe to Zion. Hrsg. von Mark H. Gelber und Vivian Liska. Tübingen 2007 S. 115 – 128, hier S. 124). Für Golomb ist Herzl ein „Grenzjude“, da er sich, zwar von der jüdischen Religion und Tradition gewissermaßen entfernt, jedoch noch nicht vollkommen in die deutsche beziehungsweise österreichische Gesellschaft integriert habe. Der Zionismus wurde nun das Mittel, „individuelle Identität und persönliche Authentizität zu erreichen“ (S. 117). Mit dieser letzteren Einschätzung ist Golomb natürlich Recht zu geben. Seine Feststellung jedoch, dass Herzl „der erste unter den zionistischen Denkern“ war, der diese Sicht formulierte, wird hier in dieser Arbeit entscheidend erweitert.  Friedemann, Durch, S. 10.  Eines von zahllosen Beispielen ist die Kapitelüberschrift in den Memoiren von Richard Lichtheim „2. Kapitel: Von der Assimilation zum Zionismus“. In: Lichtheim, Richard: Rückkehr. Lebenserinnerungen aus der Frühzeit des deutschen Zionismus. Stuttgart 1970, S. 6.

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Forscherinnen und Forscher reproduzierten diese Skala oftmals, bis sie in den letzten Jahren als „imaginär“ dechiffriert wurde.¹⁴⁰ Der Kulturhistoriker Scott Spector bemängelte die Annahme der Forschung, der jüdisch-deutschen Identität würde ein solches Spektrum immerzu innewohnen, das sich von dem einen „Pol“, der „absoluten jüdischen Identifikation“, bis zu dem anderen Pol, der „vollkommenen Aneignung der deutschen Identität“ erstrecke.¹⁴¹ Erstere sei dabei mit dem von Franz Rosenzweig geprägten Begriff „Dissimilation“ gleichzusetzen, letztere entsprechend mit „Assimilation“.¹⁴² Denn, so argumentiert Spector, auch bei den Zeitgenossen hätte es lediglich ein Modell dargestellt, das immer flexibel und subjektiv interpretiert wurde.¹⁴³ Auch Dimitry Shumsky argumentierte, dass „the ,from assimilation to nationalism‘ paradigm“ in den letzten Jahrzehnten „much of its analytic and interpretational capacity“ verloren hätte.¹⁴⁴ Jacob Borut kritisierte in seiner Arbeit ebenso die Konstruktion einer „einzigen Linie [‫“]קו אחד‬, die zwischen Jüdischsein und Deutschsein gezogen wurde. Jede Bewegung Richtung „Deutschtum“ komme nach dieser Vorstellung der „Assimilation“ oder „Akkulturation“ gleich und bedeute auch immer eine „Entfernung vom Pol des Judentums“.¹⁴⁵ Borut nannte diese Betrachtungsweise „linear“. Anstelle dieser Linearität schlug er vor, für die Dynamiken der jüdisch-deutschen Bevölkerung von einer „Bikulturation“ beziehungsweise von einer „teilweisen Bikulturation“ zu sprechen. Der Ausdruck „teilweise Bikulturation“ verweist in diesem Zusammenhang auf die partielle Identifikation mit ausgewählten Aspekten der jüdischen sowie der deutschen Kultur vonseiten der jüdischen Minderheit.¹⁴⁶ Man kann diese These für zionistische Denker sogar einen Schritt weiter bringen. Denn dieses Spektrum zwischen Jüdischsein und Deutschsein wurde  Spector, Forget Assimilation, S. 349 – 361.  Spector, Forget Assimilation, S. 352.  Spector, Forget Assimilation, S. 352.  Spector, Forget Assimilation, S. 352. Siehe auch: „This model was always meant to be flexible, not least because the notions of German and Jewish identification were open. ,Total‘ assimilation might mean baptism and intermarriage, or it could mean the retention of Jewish religious adherence in a purely private way. The most extreme pole of Jewish identitification could likewise be understood in terms of religious orthodoxy, secular Jewish nationalism, Jewish spiritualism, or some other cultural and intellectual engagement specifically identified as Jewish“. Dazu kommt, dass bei zahlreichen zionistischen Denkern ihr Zionismus ein zeitlich begrenztes Phänomen blieb und keine, wie im zionistischen Narrativ gerne dargestellt wurde, finale Station ausmachte. Nicht wenige vormals zionistische Denker änderten wie auch Nathan Birnbaum ihre Ansichten. Zu ihnen gehörte auch berühmterweise der Nationalismusforscher Hans Kohn.  Shumsky, Leon Pinsker and „Autoemancipation!“, S. 36. Siehe hierzu auch Frankel, Assimilation.  Borut, Ruach chadascha, S. 11.  Borut, Ruach chadascha, S. 18/19.

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nicht nur immer individuell interpretiert, sondern individuelles Jüdischsein stand im Zentrum des deutsch-jüdischen zionistischen Denkens. Ein besonders herausragendes Beispiel einer subjektiven Interpretation findet sich in der Autobiographie eines deutschen Zionisten der ersten Generation: Franz Oppenheimer (1864 – 1943). Durch seine Mitgliedschaft in der Freiburger „Alemannia“ war Oppenheimer sehr gut vertraut mit der Ideologie der deutschen Burschenschaften, die seine Auffassung von Authentizität nachhaltig prägte.¹⁴⁷ Seine Erfahrung in Freiburg beschrieb er positiv, sogar als „paradiesisch“.¹⁴⁸ Im Gegensatz dazu machte er nach seiner Rückkehr nach Berlin in der Burschenschaft „Hevellia“ ganz andere Erfahrungen. Er sah sich dort mit dem „junge[n] aggressive[n] Nationalismus“ des Vereins deutscher Studenten konfrontiert. Aus diesem Grund und auch aufgrund der in politischen Diskussionen zutage tretenden Differenzen, empfand Oppenheimer „daß [er] […] hierhin [als Jude – Anm. d. Verf.] eigentlich nicht“ gehöre.¹⁴⁹ Er beschrieb in seinen Memoiren, wie er die Situation als zunehmend unerträglich empfand, in einem judenfeindlichen Klima nicht er selbst sein zu können. Dazu bemerkte er: Was ich aber damals noch nicht voll begriff, sondern nur ahnte, war, daß ich hier nicht mein Leben führte. Die etwa drei Jahre, die ich in diesem Kreise zubrachte, sind, seitdem ich überhaupt zum Bewußtsein meines eigenen Ichs gelangt war, die einzigen, in denen ich nicht dem eigenen Gesetze folgte, sondern, um es hart auszudrücken, ein Klischeeleben führte.¹⁵⁰

Oppenheimer dachte bei seiner fortschreitenden Selbsterkenntnis an die „wunderbare Schlußstrophe in der Huttenbeichte“, also der Dichtung Huttens letzte Tage von Conrad Ferdinand Meyer.¹⁵¹ Dort heißt es im sechsten Kapitel: „Mich reut, ich beichtʼ es mit zerknirschtem Sinn, daß ich nicht Hutten stets gewesen bin“.¹⁵² Oppenheimer gibt hier seiner eigenen Reue Ausdruck, nicht stets „Oppenheimer“ oder auch offen „Jude“ gewesen zu sein. Durch seine „Eigenschaft als

 Zu den zionistischen Studentenverbindungen siehe Gelber, Mark H.: Melancholy Pride. Nation, Race, and Gender in the German Literature of Cultural Zionism. Tübingen 2000, besonders S. 55 – 86. Für einen Überblick zu den jüdischen Studentenverbindungen siehe Rürup, Miriam: Ehrensache. Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten 1886 – 1937. Göttingen 2008.  Oppenheimer, Franz: Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes. Erinnerungen. Düsseldorf 1964, S. 68.  Oppenheimer, Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes, S. 73.  Oppenheimer, Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes, S. 74. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Meyer, Conrad Ferdinand: Huttens letzte Tage. Eine Dichtung. Leipzig 1872.  Oppenheimer, Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes, S. 74.

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Jude“ hätte er sich „dem Zwange nicht früher“ entziehen können. Es sei den Juden „ja fast unmöglich gemacht“ sich „,natürlich‘ zu benehmen“. In Oppenheimers Beschreibung wird neben der gegennarrativischen auch die moralische Dimension der Suche nach dem eigenen Selbst besonders deutlich. Die Erkenntnis, dass er nicht sein eigenes Leben lebte und sich damit als Jude selbst verriet, offenbarte sich ihm bemerkenswerterweise als Kopfweh nach einer durchzechten Nacht. Er notierte, dass ihn „eines Tages der, lange im Unterbewusstsein angewachsene, ,moralische Kater‘ mit voller Wucht“ einholte. Oppenheimer verknüpfte die moralische Suche nach dem wahren Selbst mit dem Zionismus, vor allem aufgrund der zionistischen Ablehnung der jüdischen Selbstverleugnung, die hier synonym mit „Assimilation“ gebraucht wurde. Abneigung gegenüber der Assimilation war auch eine Haltung, die Oppenheimer besonders an Theodor Herzl schätzte: Noch ein anderes sprach mich in Herzls Gedanken lebhaft an. Er erkannte, daß eine starke Bewegung unter den Juden mit diesem Ziele dazu helfen würde, einer Erscheinung entgegenzuwirken, die auch mir von jeher besonders widerlich gewesen war: dem „Assimilantentum“, das sich seiner Herkunft schämt, oft versucht, sie zu verheimlichen […].¹⁵³

Oppenheimer stilisiert hier den Zionismus als eine Entscheidung, sich nicht seiner Herkunft zu schämen oder sie gar zu verheimlichen. Doch die Suche nach dem eigenen Selbst, jüdische Selbsterkenntnis und Stolz auf die eigene Herkunft gestalteten sich als eine sehr emotionale Angelegenheit. Deutlicher tritt diese Gefühlsebene in seinen Darlegungen zur Assimilation in Erscheinung: Ich habe niemals, auch im Kreise des Zionismus selbst, das geringste Hehl daraus gemacht, daß ich vollkommen „assimiliert“ sei: ich fände, wenn ich in mich hineinfühlte, neunundneunzig Prozent Kant und Goethe und nur ein Prozent Altes Testament, und auch das noch wesentlich durch Vermittlung Spinozas und der Lutherbibel. Ich fühlte mich durchaus als Deutscher, aber ich habe niemals verstehen können, warum mein jüdisches Stammesbewußtsein mit meinem deutschen Volks- und Kulturbewußtsein unvereinbar sein sollte, und war darum niemals Assimilant. ¹⁵⁴

Oppenheimer verknüpfte hier sein eigenes Streben nach Authentizität mit einer exzeptionellen Subjektivität. Er sei, wie er selbst sehr plakativ ausdrückte, zwar assimiliert, jedoch kein Assimilant. Das Bild vom „Assimilantentum“, das Oppenheimer hier zeichnete, war eines der „Scham“ und der „Verheimlichung“ des  Oppenheimer, Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes, S. 214. Hervorhebung d. Verf.  Oppenheimer, Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes, S. 214. Hervorhebung d. Verf.

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Jüdischseins. Auch hier erweist sich die Authentizität als eine innere Angelegenheit. Nach „außen“ hin war Oppenheimer „assimiliert“ und ging in der deutschen Kultur auf (deutsches „Volks- und Kulturbewußtsein“), war jedoch dabei stolz auf seine jüdische Abstammung (jüdisches „Stammesbewußtsein“), was ihn in seinen Augen von anderen Assimilanten abhob. Oppenheimers Haltung wurde 1910 in einer Kontroverse innerhalb der zionistischen Bewegung, auf die erneut eingegangen werden wird, rege diskutiert.

3.2.3 Die zweite Generation deutscher Zionisten Auch in der zweiten Generation deutscher Zionisten findet sich eine Vielzahl von ambivalenten Haltungen zum Authentischen. Vertreterinnen und Vertreter dieser zweiten Generation wurden insbesondere vom Denken Martin Bubers beeinflusst.¹⁵⁵ Buber verband seine Analyse zur zeitgenössischen jüdischen Existenz mit dem damaligen Authentizitätsdiskurs. Bubers Denken war bekanntermaßen von der Neo-Romantik und der Lebensphilosophie des beginnenden 20. Jahrhunderts stark geprägt.¹⁵⁶ Friedrich Hölderlin und Novalis wurden wiederentdeckt und sinnstiftend für eine Epoche, die als zu rational empfunden wurde und die durch das romantische Vokabular der Empfindung, des Gefühls und der Erfahrung wiederbelebt werden sollte.¹⁵⁷ Neben Martin Buber lieferten hier besonders Kurt Blumenfeld, Richard Lichtheim und Gerschom Scholem die Texte, die den Zionismus als authentisches Jüdischsein markieren. Buber gebrauchte in seinen Reden und Aufsätzen die Rhetorik des Blutes, beziehungsweise, wie David Biale es formulierte, „the blood language of modern nationalism“.¹⁵⁸ In seinen berühmten zionistischen Reden über das Judentum, die er von 1909 bis 1911 in Prag hielt, sprach Buber über eine tief empfundene „Zwiespältigkeit“ der jüdischen Existenz. Aus dieser Zwiespältigkeit könne man nur durch die Erkenntnis, dass das „Blut das Gestaltende“ im Leben sei, ausbrechen und zu einer „Einheit“ kommen.¹⁵⁹ Es stelle jedoch ein Problem dar,

 Zu Buber siehe auch Vogt, Stefan: Subalterne Positionierungen. Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland 1890 – 1933. Göttingen 2016, S. 49 – 83.  Zur Lebensphilosophie siehe Hotam, Yotam: Modern Gnosis and Zionism. The Crisis of Culture, Life Philosophy, and Jewish National Thought. London/New York 2013.  Kohn, Hans: Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. Ein Versuch über Religion und Politik. Hellerau 1930, S. 61.  Biale, David: Blood and Belief. The Circulation of a Symbol between Jews and Christians. Berkeley [u. a.] 2007, besonders S. 162– 206, hier S. 162. Zu Buber siehe S. 184– 186.  Buber, Martin: Drei Reden über das Judentum. Frankfurt a. M. 1916, S. 25.

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dass Juden ihr „Blut“ noch nicht zu ihrem „lebendigen Eigentum“ gemacht hätten. In Bubers Worten, in denen die „völkische Ideologie“ der Zeit mitschwang,¹⁶⁰ hieß das: Um aus der Zwiespältigkeit zur Einheit zu kommen, dazu bedarf es der Besinnung auf das was unser Blut in uns bedeutet, denn in dem Getriebe der Tage werden wir uns immer nur der Umwelt bewußt. Vertiefen wir den Blick der stillsten Stunden: schauen wir, erfassen wir uns selber.¹⁶¹

Für ein authentisches jüdisches Selbst müsse die „natürliche“ und „objektive Situation des Einzelnen in seinem Verhältnis zum Volke gegeben“ sein. Nur dann verlaufe das „Leben in Harmonie und gesichertem Wachstum“. Wenn die Harmonie mit dem eigenen Volk jedoch nicht bestehe, werde „der Einzelne, je bewußter er ist, je ehrlicher er ist, je mehr Entschiedenheit und Deutlichkeit er von sich fordert, desto tiefer in einen Konflikt“ geraten.¹⁶² Mit anderen Worten, laut Buber bestimmt das „Blut“ die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk und getreu dieser Bestimmung müssen Juden leben. Vollkommene Authentizität könne allerdings nur in Palästina erlangt werden, da man nur dort „wahrhaft“ zu sich „selbst“ finden würde. Die zweite Generation von Zionisten hatte sich zudem – ihren eigenen Angaben nach – „radikalisiert“.¹⁶³ Kurt Blumenfeld (1884 – 1963), einer der prominentesten Vertreter der „jungen“ Generation, grenzte sich, wie viele seiner Glaubensgenossen, von den Haltungen der „Alten“ ab. In Blumenfelds Sicht leugnete die vorangegangene Generation von Zionisten – er bezieht sich hier direkt auf Franz Oppenheimer – „grundsätzlich die Möglichkeit jedes Kulturkonflikts“,¹⁶⁴ indem in ihrer Vorstellung „Deutschtum und Judentum […] nebeneinander“ lebten.¹⁶⁵ Blumenfeld postulierte eine Ära der „Postassimilation“. Später artikulierte er seine Haltung wie folgt:

 Zur „völkischen Ideologie“ bei Buber und anderen siehe Mosse, George L.: The Influence of the Volkish Idea on German Jewry. In: Ders.: Germans and Jews. The Right, the Left, and the Search for a „Third Force“ in Pre-Nazi Germany. London 1971, S. 77– 115.  Buber, Drei Reden, S. 25.  Buber, Drei Reden, S. 25 f.  Für einen Überblick zu dieser und der folgenden Generation, den beteiligten Personen und den Idealen in der Struktur und Erziehung siehe Hackeschmidt, Jörg: Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung einer jüdischen Nation. Hamburg 1997.  Blumenfeld, Kurt: Erlebte Judenfrage. Ein Vierteljahrhundert deutscher Zionismus. Stuttgart 1962, S. 93  Blumenfeld, Erlebte Judenfrage, S. 93.

3.2 Zionistische Narrative des Authentischen

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Die zionistische Auffassung, die ich vertrat, ging dagegen vom jüdisch-deutschen Kulturkonflikt aus. Wir waren Zionisten auf Grund des von mir oft dargestellten Problems der jüdischen Persönlichkeit. Wir wußten, daß wir zwar mit vielen Banden der deutschen Entwicklung seit mindestens sieben Generationen verbunden waren, daß wir aber dennoch wurzellos blieben. Um die Durchsetzung dieser Erkenntnis ging unser Kampf innerhalb der zionistischen Bewegung.¹⁶⁶

Aufgrund ihrer Wurzellosigkeit könnten Juden in Deutschland niemals authentische Menschen werden. Dementsprechend unterstützte Blumenfeld die Auswanderung nach Palästina. „Post-Assimilation“ bedeutete hier jedoch auch, dass die „Assimilation“ ein entscheidender Schritt auf dem Weg zum Zionismus war: Ich behauptete dagegen, wir hätten gerade durch die Vertiefung in die deutsche Welt, die uns geistig geformt hat, erkannt, daß wir in Deutschland wurzellos sind, und daß sogar die größte Bewunderung der geistigen Leistungen eines anderen Volkes uns nicht hindern kann zu sagen, diese Welt sei nicht die unsere. Meiner Ansicht nach könnten wir den Weg zur eigenen menschlichen Freiheit nur in der Verbindung mit dem Boden von Erez Israel finden. ¹⁶⁷

Mit anderen Worten, die eigene menschliche Freiheit – oder eine authentische Seinsform – können Blumenfelds Ansicht nach die Juden nur in ihrer „eigenen Welt“, in Erez Israel, realisieren. Dies führte zu der berühmten Posener Erklärung auf dem Delegiertentag der Zionistischen Vereinigung von 1912, die festsetzen wollte, dass jeder Zionist in seinen Lebensplan die Auswanderung nach Palästina aufnehmen müsse.¹⁶⁸ An dieser Stelle ist es wichtig hinzuzufügen, dass Blumenfelds Bruch mit der älteren Generation einige Ambiguität in sich birgt. So wertete er beispielsweise Max Nordaus Reden als „einstudiert“ und „eitel“ ab und leugnete jegliche Verbindung zu dessen zionistischer Vision.¹⁶⁹ In einer Veröffentlichung für die Preußischen Jahrbücher übernahm Blumenfeld jedoch die von Nordau formulierte Geschichte der jüdischen Emanzipation aus dessen erster Kongressrede.¹⁷⁰ Zwischen den Generationen bestanden noch weitere Kontinuitäten, die später noch deutlicher werden sollen.

 Blumenfeld, Erlebte Judenfrage, S. 88.  Blumenfeld, Erlebte Judenfrage, S. 69 f. Hervorhebung d. Verf.  Diese Erklärung führte bei Zionisten der 1. Generation zum Teil zur zeitweisen oder vollkommenen Abkehr von zionistischen Tätigkeiten. Vgl. Lavsky, Hagit: Before Catastrophe. The Distinctive Path of German Zionism. Detroit/Jerusalem 1998, S. 30.  Blumenfeld, Erlebte Judenfrage, S. 52.  Vgl. Blumenfeld, Kurt: Der Zionismus. Eine Frage der deutschen Orientpolitik. Sonderabdruck aus den „Preußischen Jahrbüchern“. Berlin 1915, S. 5 – 9.

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Richard Lichtheim, ein weiterer bekannter Vertreter der jungen zweiten Generation, beschrieb seine Hinwendung zum Zionismus in seinen Memoiren. Im „ersten Buch“, der „Geschichte einer Bekehrung“, beschreibt Lichtheim eine unsichtbare Trennwand zwischen Juden und Deutschen, eine „Glaswand“.¹⁷¹ Als er die Schule verließ, war er „von einer tiefen und ständigen Beunruhigung über die Judenfrage erfüllt“:¹⁷² Gerade die Herkunft aus einer völlig assimilierten Familie, die jede Form der kulturellen und politischen Assimilation bereits erprobt hatte, gerade die Zugehörigkeit zu jenem Berlin W., das keine materiellen Sorgen kannte, verschärfte das jüdische Problem für mich: es war für mich zum Problem der persönlichen Würde, der Wahrheit und der Freiheit geworden. ¹⁷³

Er las zunächst die ihm zugänglichen zionistischen Werke, von denen ihn vor allem Theodor Herzls Judenstaat beeindruckte. Nicht aufgrund des dargestellten „Plan[s] zur Staatsgründung“, sondern da er „in den einleitenden Kapiteln der Schrift“ seine „eigene innere Erfahrung über das Wesen des Antisemitismus und den nationalen Charakter der Judenfrage mit zwingender Klarheit ausgesprochen fand“.¹⁷⁴ Im Judenstaat hatte Herzl selbst auch über „das Glück der innerlichen Freiheit“, die die nationale Arbeit mit sich brächte, geschrieben.¹⁷⁵ In Herzls Ausführungen fand Lichtheim die Antworten auf viele seiner Fragen. So sollten nicht durch Assimilation und Taufe, sondern durch die eigene Tat im eigenen Lande […] die Beziehungen der Juden zu den anderen Völkern normalisiert und so der Antisemitismus überwunden werden. Nicht die Imitation fremder Art, nicht die Anpassung an die Umwelt […] vermochten die Lösung des persönlichen Problems zu bringen, das jeder Jude mit sich herumtrug. Diese Lösung mußte von innen kommen, aus der eigenen Natur. Hier endlich – und nur hier, im Zionismus – konnte die jüdische Persönlichkeit sich frei und ungebrochen entfalten.¹⁷⁶

Kurz, Lichtheim sah im Zionismus den Weg, „der durch die Glaswand ins Freie führte“. Das „Bekenntnis zum Zionismus“ war gleichbedeutend mit einem Bekenntnis zu dem eigenen Selbst:¹⁷⁷

 Lichtheim, Rückkehr, S. 56.  Lichtheim, Rückkehr, S. 60.  Lichtheim, Rückkehr, S. 60. Hervorhebung d. Verf.  Lichtheim, Rückkehr, S. 68. Hervorhebung d. Verf.  Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig 1896, S. 4.  Lichtheim, Rückkehr, S. 68.  Lichtheim, Rückkehr, S. 68.

3.2 Zionistische Narrative des Authentischen

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Sowenig von außen her an mein jüdisches Empfinden appelliert wurde, so deutlich spürte ich die Wirkung, wann immer es geschah. In das Gefühl der Kränkung, niemals ganz und gar als Gleicher unter Gleichen leben zu können, […] mischte sich geheimnisvoll ein anderes Empfinden, ein sehnsüchtiges Verlangen, das seinen Ursprung nicht im verletzten Stolz, sondern in einer verborgeneren Seelenregion hatte […] – da stieg etwas auf, das mit dem Verstande nicht zu analysieren war, etwas, das unwirklich war und doch zugleich Wahrheit.¹⁷⁸

Lichtheims Zitate geben Aufschluss über zwei unterschiedliche Ebenen der Suche nach einem authentischen Selbst im zionistischen Diskurs: Neben äußeren Faktoren der jüdischen Situation im Kaiserreich – wie die Assimilation seiner Familie, der erstarkende Antisemitismus und die Frage der Würde – lässt sich hier die Buber’sche Philosophie der Innerlichkeit ablesen. Der Zionismus ist demnach die geeignete Lösung, da er die freie und ungebrochene Entfaltung der jüdischen Persönlichkeit gewährleiste. Diese innere Persönlichkeit gelte es mit Empfindung zu erleben, da rein rational ihr ohnehin nicht beizukommen sei. Lichtheim bekleidete zahlreiche zionistische Ämter und wandte sich schlussendlich dem Revisionismus zu. Er emigrierte jedoch, wie Blumenfeld, erst im Jahre 1933 nach Palästina. In seiner Geschichte des deutschen Zionismus von 1959 schrieb er, dass in Palästina der ersehnte Liberalismus gesiegt habe, denn dort habe „das jüdische Individuum seine Freiheit gefunden, so wie Herzl dies erträumte“.¹⁷⁹ Auch im offiziellen Programm der Zionistischen Vereinigung für Deutschland begannen sich diese Ideale durchzusetzen.Vor dem 12. Delegiertentag wurde in der Jüdischen Rundschau ein Aufruf veröffentlicht, in dem die angedachten Wunschziele bereits ausformuliert wurden. Es hieß, man müsse sich „darüber klar“ werden, dass auch ihr Zionismus „eine egoistische und keine philantropische Bewegung“ sei und dass auch sie alle „von einem starken Freiheitsgefühl getrieben“ würden, sich schließlich auch „aus innerer Notwendigkeit dieser Bewegung angeschlossen“ hätten, da es für sie „keine andere Möglichkeit zu leben“ gebe.¹⁸⁰ Der junge Gerschom Scholem (1897– 1982) stand dem deutschen Zionismus in seinen etablierten Formen sehr kritisch gegenüber und gehörte zu einer kleinen Gruppe sehr überzeugter Zionisten, die bereits 1923 nach Palästina auswander-

 Lichtheim, Rückkehr, S. 62.  Lichtheim, Richard: Die Geschichte des deutschen Zionismus. Jerusalem 1959, S. 28. Hervorhebung d. Verf.  Anonym: Ohne Titel. In: Jüdische Rundschau, Nr. 32, 12. August 1910, S. 377. Zitiert auch in Eloni, Zionismus, S. 250.

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3 Zionistische Narrative des „Unauthentischen“ und des „Authentischen“

ten.¹⁸¹ In seiner frühesten Phase stand auch Scholem stark unter dem Einfluss von Buber,¹⁸² und später Walter Benjamin.¹⁸³ Getreu dem Individualismus erkannte auch Scholem: „Nach einem halben Jahr war ich bei Buber, jetzt bin ich bei mir, nein, auf dem Wege zu mir“.¹⁸⁴ Das Streben nach einer deutsch-jüdischen Transkulturalität wurde von Scholem scharf verurteilt. Seiner Meinung nach sei jegliche Betätigung, „die nicht nur jüdisch, sondern – deutschjüdisch“ sei, schlichtweg „Unsinn“.¹⁸⁵ Scholem formulierte daher die prägnante Aussage zu diesem Thema: „Ich bin kein deutscher Jude. Ich weiß nicht, ob ich es jemals war, aber ich spreche diesen Satz aus mit der vollkommensten Sicherheit: ich bin keiner“.¹⁸⁶

3.2.4 Individuelle Interpretation in der zweiten Generation: Moses Calvary In seinen weitgehend unbekannten und unvollendeten Memoiren beschreibt Moses Calvary (1876 – 1944) seinen Werdegang bis zu seinem 23. Lebensjahr. Vor der Fertigstellung der Memoiren verstarb er 1944 in Haifa. Seine Beschreibungen relativieren nicht nur die oftmals dezidiert säkulare Ausrichtung des zionistischen Diskurses, sie widerlegen auch den Konsens der Unverbundenheit des

 Ich bespreche hier und im folgenden Unterkapitel den frühen Gershom Scholem vor seiner Übersiedlung nach Palästina 1923. Kurz nach seiner Einwanderung und vor allem nach 1942 änderten sich Scholems Einstellungen zum Zionismus und vor allem seine kulturzionistischen Adaption in der Tradition von Achad Haam vehement. Vgl. Zadoff, Noam: „Zionʼs Self-Engulfing Light“. On Gershom Scholemʼs Disillusionment with Zionism. In: Modern Judaism 31 (October 2011), No. 3, S. 272– 284.  Vgl dazu auch: „Particularly attractive to the young Jews of that time, said Scholem, was the strong individualistic, personal, and even anarchic note that characterizes the ,Three Speeches‘. More than any other spokesman of Zionism, Buber went to the heart of the problems of the Jew as an individual. The basic conviction of Buberʼs Zionism was that the decision of every single individual Jew, made in the depths of his heart, decides the fate of the Jewish nation prior to all political and social facts and slogans (Friedman, Maurice: Martin Buberʼs Life and Work. The Early Years 1878 – 1923. London 1982, S. 145 f.).  Aschheim, Steven E.: The Metaphysical Psychologist. On the Life and Letters of Gershom Scholem. In: The Journal of Modern History 76 (December 2004), No. 4, S. 903 – 933.  Scholem, Gershom: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. 1. Halbband 1913 – 1917. Frankfurt a. M. 1995, S. 210.  Scholem, Tagebücher. 1. Halbband, S. 315.  Scholem, Gershom: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. 2. Halbband 1917– 1923. Frankfurt a. M. 2000, S. 55. Zu Scholems ambivalentem Verhältnis zu Deutschland siehe Zadoff, Noam: Von Berlin nach Jerusalem und zurück. Gershom Scholem zwischen Israel und Deutschland. Göttingen [im Erscheinen].

3.2 Zionistische Narrative des Authentischen

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Zionismus mit jüdisch-religiösen Traditionen. Calvary stammte nicht „aus einer völlig assimilierten Familie“ wie Lichtheim und viele andere auch. Er wuchs als Enkel von Esriel Hildesheimer (1820 – 1899) in Messingwerk bei Eberswalde in der Mark Brandenburg in einem orthodoxen Haushalt auf.¹⁸⁷ Seine Familie lebte in unmittelbarer Nachbarschaft zur Familie Rosenblüth, wo auch Martin (1886 – 1963) und Felix (1887– 1978) Rosenblüth – zwei weitere wichtige Vertreter der zweiten Generation – ebenfalls in einem religiösen Hause lebten.¹⁸⁸ Calvary verband den jüdischen Authentizitätsdiskurs eng mit der deutschen Kultur und Natur. In seinen Memoiren beschrieb er, wie in seiner Familie sämtliche „grossen und kleinen religiösen Gesetze […] sorgfältig gewahrt“ wurden. Er empfand jedoch die jüdischen Gesetze „in keiner Weise drückend“. Das liege, so schrieb er, wohl an „der selbstverständlichen Familientradition“. Darüber hinaus, so vermutete er, jedoch auch am Leben nahe der Natur. Das Authentische und „Ungekünstelte“ des religiösen Ritus der Familie leitete er aus seiner Erinnerung ab, dass „alle jüdischen Feiertage untrennbar mit den Naturerscheinungen verknüpft“ gewesen seien. So saß er am Shavuoth-Abend „allein und lernte Tora“ und die „Nacht begann mit dem Gesang der Schwalben im Nachbargarten und ging mit dem gleichen Vogelgezwitscher am frühen Morgen zu ende [sic]“. Zu „jedem Feiertag gehörte sein eigenes Wäldchen, alles entsprechend der Entwicklung der Natur“.¹⁸⁹ Doch die von ihm als so wichtig bezeichnete Natur führte Calvary schließlich zu einem Bruch mit einem Teil der jüdischen Gesetze. Als er von Verwandten in den Sommerferien des Rabbinerseminars in Berlin nach Heringsdorf an die  Esriel Hildesheimer gründete 1873 in Berlin das berühmte orthodoxe Rabbinerseminar und unterstützte die Chovevei Zion und die Auswanderung nach Palästina. Wie durch das Mitgliederverzeichnis herausgefunden werden konnte, unterstützte Hildesheimer anscheinend seit 1885 den Verein zur Erziehung Jüdischer Waisen in Palästina, der der Träger des deutsch-jüdischen Waisenhauses in Jerusalem war, in dem Wilhelm Herzberg aus dem Kapitel 2 tätig war.Vgl. Bericht des Vereins zur Erziehung Jüdischer Waisen in Palästina für das Jahr 1885. Frankfurt a. M. 1886, S. 21.  Ivonne Meybohm arbeitet diesen Zusammenhang auch für David Wolffson und weitere Zionisten heraus. Siehe Meybohm, David Wolffson, S. 100 f.  CZA K13/13/1, S. 13. Die Erinnerungen von Moses Calvary sind nahezu unbekannt in der Forschung. 1949 erschien auf Hebräisch ein Sammelband mit seinen Erinnerungen, dem ca. zwanzigseitigen Zusatz „‫„[ “חמישים שנה עם נוער יהודי‬Chamischim schana im noʻar jehudi“] und zahlreichen seiner ursprünglich auf Deutsch verfassten Aufsätze auf Hebräisch: ‫ מבחר‬.‫בין זרע לקציר‬ ‫[ כתבים‬Bejn serʻa le-kazir. Miwchar Ketavim]. Tel Aviv 1949. Freunde von ihm fertigten vor seinem Tod eine Übersetzung des ersten Teils ins Deutsche an, die heute in der Memoir Collection des Leo Baeck Institutes New York und in den Central Zionist Archives liegt. Lediglich Jörg Hackschmidt verwendete für seine Studie die Memoiren. Vgl. Hackeschmidt, Die Erfindung einer jüdischen Nation.

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Ostsee eingeladen wurde, sah er zum ersten Mal das Meer. Dieser Anblick, unter Hinzunahme seiner vorherigen Lektüre Spinozas, führte nun bei Calvary zu der interessanten Kombination eines wahrhaftig religiösen Erlebnisses – der Erkenntnis des Gottes Spinozas – welches im Folgenden zur teilweisen Abkehr von seiner Observanz führte. Calvary schrieb: Zum ersten Mal in meinem Leben lernte ich das Meer kennen. Es war weder besonders bewegt, noch besonders ruhig, aber als ich mich am ersten Tag an den Strand niedersetzte, brachte mich der Blick in die Weite wie von Sinnen. Ich wusste nicht was ich sah und wusste auch nicht, was in meinem Inneren vorging. Hier war etwas ganz Neues – anders wie die Wälder meiner Kindheit, anders auch wie die Berge, in denen ich gewandert. Hier trat mir in Wirklichkeit der Gott Spinozas gegenüber. Himmel, Meer und ich selbst wurden zu einer Einheit verschmolzen. Ich blickte und blickte und vermochte mich gar nicht von dem Anblick zu trennen. Man rief mich zum Essen; ich weiss nicht mehr ob ich folgte oder nicht, jedenfalls aber nur mit grosser Mühe. Den ganzen Tag, den ganzen Abend und einen Teil der Nacht lag ich am Strand in Betrachtung versunken und wiederholte das am folgenden Morgen. Es mochten ein paar Tage vergangen sein, aber eines Morgens war es mir nicht mehr möglich, Tefillim zu legen. […] Jetzt wurde ich plötzlich so stark von dem Bewusstsein der Grösse der Gottheit durchdrungen; sie überschritt die Grenzen des Judentums, die Grenzen des Menschentums und kein Symbol konnte sie erfassen. Jetzt wusste ich, dass ich nicht Rabbiner werden konnte. Und nun waren viele [der] jüdischen Werte, die bis dahin so viel für mich bedeutet hatten, im Meer versunken und kehrten mir nicht wieder.¹⁹⁰

Calvary hörte zwar auf Tefillin anzulegen, hielt sich aber beispielsweise Zeit seines Lebens an die jüdischen Speisegesetze. Er gab damit seinem Jüdischsein ebenso eine gewisse individuelle Note. Zudem wollte er das Judentum auf ein neues Niveau anheben. Jedes „Opfer“ und jede „Gehorsamkeit“ lehnte er ab. Er erblickte die „ganze Fruchtbarkeit der religiösen Sitte“ darin, dass sie die „Phantasie unmittelbar […] im Gefühle einer Bereicherung, eines inneren Wachstums die religiösen Formen“ mitgestalte.¹⁹¹ Das „Primat der religiösen Bestandteile“ – soll heißen die ausschließlich religiöse Definition des Jüdischseins – lehnte Calvary ab.¹⁹² Der Religion sei „der Lebensnerv […] genommen, kraft dessen sie einst den ganzen Menschen in Anspruch“ genommen habe. Stattdessen sei in der Gegenwart „das stärkste Ge-

 Calvary, Erinnerungen, S. 31 f. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Calvary, Das neue Judentum, S. 112.  Calvary, Moses: Nationale Tendenzen im deutschen Judentum. In: Die Welt, Nr. 13, 27. März 1914, S. 302– 305.

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meinschaftserleben an […] nationale Geschlossenheit gebunden“.¹⁹³ Die nationalen Gefühle hätten jedoch einige Gemeinsamkeit mit religiösen Empfindungen: Diese [nationale] Erregung ist durchaus der religiösen Erregung verwandt, ja, da die intensivsten seelischen Spannungen, die wir kennen, das religiöse Erleben tragen, pflegt man die Erregung selbst wohl eine religiöse zu nennen, selbst da, wo von einem religiösen Inhalt selbst keine Rede ist. Die aus Dissonanzen heraus gesteigerte Leidenschaft, die das Sein eines Menschen zu umfassen, zu deuten, zu regieren strebt, immer wieder seinen Sinn auf das eine, als zentral empfundene Problem lenkt, eine Leidenschaft, wie sie einst die religiösen Massen ergriffen hat, taucht in dem Innenleben des heutigen Nationaljuden wieder auf.¹⁹⁴

Authentisches Jüdischsein definierte Calvary hier als eine „Erregung“ und „Leidenschaft“. Er plädierte für die Wiederherstellung dieser religiösen Authentizität durch die „Erneuerung des jüdischen Volkslebens“ – ein Punkt, der später erneut aufgegriffen werden wird. In seinen Memoiren betonte Moses Calvary den Einfluss von Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra, das einen „Zauber“ auf ihn ausgeübt habe. Insbesondere Nietzsches Talent, seine „innersten seelischen Geheimnisse zu offenbaren“ beeindruckte Calvary tief.¹⁹⁵ Er fand in Also sprach Zarathustra „eine so zwingend vorgetragene Bestätigung“ seiner „eigenen Gefühle von dem Werk der menschlichen Individualität [und] der einzelnen Persönlichkeit“.¹⁹⁶ Retrospektiv sei er sich nicht mal sicher, ob er es „ohne die Bekräftigung durch dieses Werk“ geschafft hätte, an seiner „eigenen Auffassung festzuhalten“.¹⁹⁷ Nietzsche wirkte auf die zweite Generation zionistischer Denker, vor allem durch die Vermittlung Martin Bubers besonders nachhaltig.¹⁹⁸ Bubers Vorstellung einer „jüdischen Renaissance“ und „eine[r] zu neuem Leben erweckte[n] Nation aus freien und schöpferischen Individuen“ ist deutlich seiner Nietzsche-Rezeption zuzuschreiben.¹⁹⁹ Die Nietzsche-Rezeption hatte weitere Effekte, beispielsweise in der zionistischen Jugendbewegung. Freiheitliche Tendenzen der Auflehnung und Widerstand gegen jedwede Unterdrückung des authentischen Erlebnisses wurden vor allem im Blau-Weiß, der zionistischen Variante des Wandervogels, und später  Calvary, Nationale Tendenzen, S. 303.  Calvary, Nationale Tendenzen, S. 303.  Calvary, Erinnerungen, S. 25.  Calvary, Erinnerungen, S. 26.  Calvary, Erinnerungen, S. 26.  Aschheim, Steven E.: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Stuttgart/Weimar 2000, S. 107.  Aschheim, Nietzsche, S. 108.

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dann im radikaleren Ha-schomer ha-tsair verwirklicht.²⁰⁰ Solche Organisationen waren somit auch antibürgerlicher „Ausdruck für die Loslösung der jüngeren Generationen von den dominanten gesellschaftlichen und politischen Verhaltensformen der spätwilhelminischen Gesellschaft“.²⁰¹ Wie schon in seinen Beschreibungen zur authentischen jüdischen Religion war es für Calvary im Wandervogel und im Blau-Weiß die Nähe zur Natur, die dem freiheitlichen Erlebnis des Wanderns seine authentische Note verlieh.²⁰² Bei den sogenannten „Heimabenden […] trat der Jugendliche in die jüdische Welt ein“.²⁰³ Calvary verdeutlichte dieses Eintreten in einen anderen Raum anhand zweier Geschichten. Am letzten Abend eines gesamt-deutschen Treffens, als alle Teilnehmenden um das Feuer versammelt saßen, zerbrach der Leiter einen Ast und warf ihn ins Feuer mit dem Satz: „Und wie ich jetzt diesen trockenen Ast zerbreche und ihn im Feuer verbrenne, so werden wir den alten Menschen zerbrechen und umwandeln, den exilischen [‫]הגלותי‬, und wir werden aufsteigen in das Leben der Erlösung!“²⁰⁴ Die zweite Situation schildert eine Reise ins Riesengebirge zu Chanukka, bei der er beobachtete, wie der jüdische Jugendliche die Sklaverei ablegte [‫העבדות‬-‫]פושט‬, die Altertümer erneuerte [‫עתיקות‬-‫]מחדש‬, die Vergangenheit mit der Zukunft verband [‫ ]מקשר עבר ועתיד‬und seinen Wert bei den Aufgaben der sich erneuernden Nation kannte.²⁰⁵ Seine Abgrenzung zur Elterngeneration realisierte Calvary übrigens nicht nur durch das Niederlegen einiger Mitzwot, seiner Mitgliedschaft in der zionistischen Jugendbewegung und der Bewunderung Nietzsches, sondern auch in seinen reformpädagogischen Ansätzen, die er zeit seines Lebens als Erzieher und Lehrer vertrat.²⁰⁶

 Zu den jüdischen Wanderbünden siehe Reinharz, Fatherland or Promised Land, S. 151 f. Zum Blau-Weiss siehe Hackeschmidt, Die Erfindung einer jüdischen Nation, S. 36 – 47. Zum Nietzscheanismus des Ha-Shomer ha-tsair vgl. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, S. 106. Zu den jüdischen Jugendbewegungen siehe auch Lassar, Naomi (Hrsg.): Jüdische Jugendbewegungen. Sei stark und mutig! Im Auftrag des jüdischen Museums Wien. Wien 2001.  Hackeschmidt, Die Erfindung einer jüdischen Nation, S. 53.  Vgl. Calvary, Chamischim schana, S. 82 [Hebräisch].  Calvary, Chamischim schana, S. 82 [Hebräisch].  Calvary, Chamischim schana, S. 83 [Hebräisch].  Calvary, Chamischim schana, S. 83 [Hebräisch].  Zu Calvarys Reformpädagogik siehe auch Herrmann, Manja: Bruch oder Kontinuität? Jüdische Jugendbewegung und Reformpädagogik bei Moses Calvary (1876 – 1944). In: Jüdische Jugendbewegung und soziale Praxis (= Band 6 der Schriftenreihe des Arbeitskreises Jüdische Wohlfahrt). Hrsg. von Sabine Hering, Harald Lordick und Gerd Stecklina. Frankfurt a. M. 2017, S. 63 – 78.

3.2 Zionistische Narrative des Authentischen

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Wie auch Blumenfeld, der es das „Jüdisch-Funktionelle“ nannte,²⁰⁷ bestimmte auch Calvary ein „formales“ Judentum, soll heißen das „jüdische Wesen“.²⁰⁸ „Auf Grund dieser funktionellen Einheit der jüdischen Seele“, so argumentierte Calvary, entstehe „unter den Juden eine schnelle Verständigungsmöglichkeit, die allein schon ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugen“ müsse.²⁰⁹ Somit sei es auch die „Gleichartigkeit der seelischen Struktur“, die Juden verbinde.²¹⁰ Man könne eine Kultur nicht auf sachliche Werte reduzieren, sondern nur auf die jeweiligen unterschiedlichen Empfindungen. Aufgrund dessen könne man auch, so führt es Calvary weiter aus, eine Kultur nicht reduzieren, da es eine viel tiefer sitzende „seelische Qualität“ gebe, auf die es in der jeweiligen nationalen Volkskultur ankomme.²¹¹ Der deutsche Jude nun, der sich stark mit der deutschen Kultur identifiziere, und den „deutschen Kulturinhalt“ übernehmen würde, könne nun von der Annahme ausgehen, „ganz und gar Deutscher zu sein“, aber aus dem „ernsthaften Ringen […] mit der Seele des Deutschtums, mit den Kräften, die tiefer liegen als sein bloßer Kulturinhalt“ würde bei vielen Juden „gerade ihr Nationaljudentum“ entstehen.²¹² So wichtig das Erleben des eigenen Selbst in dieser Generation auch zu sein schien, so wurde es auch durchaus kritisch beäugt. Gerschom Scholem formu-

 Blumenfeld vertrat diesen Individualismus auch gerade deshalb, weil es schlichtweg unmöglich sei, das „Judentum auf einen Nenner zu bringen“. Selbst die jüdische Religion tauge nicht als einigender Faktor. So wiederholte er einen orthodoxen Juden in einem Gespräch, „der orthodoxe Jude, der seine Religion ernst nehme, fühle sich nicht mit ganz Israel verbunden, sondern nur mit der Gruppe, zu der er gehöre (Blumenfeld, Erlebte Judenfrage, S. 104). Blumenfeld zog daraus den folgenden Schluss: „Auf die Frage, die ich mir immer wieder stellte: ,Läßt sich denn überhaupt etwas Einheitliches, Alles-Umfassendes in der jüdischen Welt finden?‘ fand ich schließlich eine Antwort, die ich bis heute durch keine andere zu ersetzen vermag: Nicht der Inhalt ist entscheidend, sondern die Art, in der ein Jude den ihm sich anbietenden Stoff behandelt. In ihr spricht sich das Jüdisch-Funktionelle aus, das stärker ist als alle Inhalte. Es überdauert jede Unterdrückung und jeden Versuch bewußter Assimilation“. Es gibt somit laut Blumenfeld eine jüdische Art, die jeder Jude besitze, gleichwohl er religiös oder säkular sei. In Blumenfelds Worten ist das etwas „Einheitliches, Alles-Umfassendes in der jüdischen Welt“, er nennt es das „Jüdisch-Funktionelle“. Die Bestimmungen des Jüdischseins im zionistischen Diskurs stellen Essentialisierungen des Jüdischen sondergleichen dar. Diese Tatsache entging selbst Blumenfeld nicht. „Solche Behauptungen sind an sich unbeweisbar“, schrieb er wohlweislich in seinen Memoiren und fügte hinzu, dass sie „sich darin übrigens auch nicht von anderen Theorien über das Wesen eines Nationalcharakters unterscheiden“ würden.  Calvary, Nationale Tendenzen, S. 303.  Calvary, Nationale Tendenzen, S. 304.  Calvary, Nationale Tendenzen, S. 304.  Calvary, Nationale Tendenzen, S. 303.  Calvary, Nationale Tendenzen, S. 304.

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3 Zionistische Narrative des „Unauthentischen“ und des „Authentischen“

lierte in seinen Tagebüchern eine desavouierende Kritik an Bubers zionistischer Philosophie des „Erlebens“ und an der Rechtfertigung des deutsch-jüdischen Seins. Zu den „Zusammenhänge[n] des ,Deutschjudentums‘ und der Erlebnisfatzkerei“ gehörte für Scholem die Tatsache, dass, „wenn man in Deutschland ,erleben‘“ wolle, somit notgedrungen „immer ein ,deutschjüdisches‘ Erlebnis haben“ würde. Scholem plädierte nicht dafür, „sich zu erleben, sondern sich zu erkennen“ und das sei „sehr schwer und den meisten viel zu unbequem“. Wenn die deutschen Juden sich selbst erkennen würden, würden sie niemals Gefahr laufen, „in ,deutschjüdische‘ Arme [zu] geraten“. „Mit dem Erlebnis“ jedoch, so argumentierte Scholem weiter, bleibe „man immer Deutschjude“ und komme niemals „nach Zion“. Wenn man sich dem gegenüber erkennen werde, werde man auch sehen, „wie alle unerlaubten Verquickungen und Vermischungen aus dem Reiche des Erlebnisses ins Wesenlose hinabsinken und nur die jüdische Seele übrigbleibt“.²¹³ Dieser Argumentation folgend waren die jüdischen Wanderbünde für Scholem allesamt „unauthentisch“. Der Blau-Weiß war für ihn „ein Paradoxon“: In deutschen Wäldern klingen hebräische Lieder, auf dem Hügel, wo gestern die Sonnwendfeuer der Germanen brannten, flackern heute die Chanukkafeuer der Juden. Es ist eine unentrinnbare Paradoxie. Aber der Blau-Weiß tut nichts zu ihrer Überwindung, er hat zu dieser Paradoxie nichts zu sagen und hinzuzufügen, er weckt in seinen Gliedern nicht einmal das Bewußtsein davon.²¹⁴

Daher sei für ihn eine „jüdische Jugendbewegung, die nicht nur jüdisch, sondern – deutschjüdisch“ ist, schlichtweg „Unsinn“, ebenso wie die Vorstellung von einem „deutschjüdisch[n] Hebräertum“, wobei der „Unsinn“ des letzteren „geradezu tragisch“ sei.²¹⁵

 Scholem, Tagebücher. 1. Halbband, S. 415 f.  Scholem, Tagebücher. 1. Halbband, S. 197 f.  Scholem, Tagebücher. 1. Halbband, S. 315. Walter Preuss (1895 – 1984), ein weiterer Zionist der zweiten Generation, schilderte in seiner Autobiographie in welcher geistigen Lage seine Generation sich befand. Seine Welt bestand aus „Haus und Heim, die krampfhaft die alte liberale Welt (im besten Sinne) zu bewahren suchten“, inklusive einer „bewusste[n], betonte[n] Deutschheit“. Dazu gesellten sich in seinen Beschreibungen „Spannungen, die aus dem jüdischen Gegensatz zur Umwelt herrührten“ und eine „Fremdheit, zugleich dem Deutschen und dem Jüdischen gegenüber“ (Preuss,Walter: Ein Ring schliesst sich.Von der Assimilation zur Chalutziuth, Tel Aviv [1950], S. 32 f.). Wie schon Gerschom Scholem gehörte auch Preuss sehr früh zu den Gegnern des Ersten Weltkriegs. Er wurde dennoch Soldat, erlebte, so beschrieb er es, in seiner Zeit in Osteuropa das dortige lebendige Judentum und siedelte kurz nach Ende des Krieges nach Palästina über. Er teilte die Zweifel von Scholem, bezogen auf das Authentische des jüdischen Wanderns im deutschen Wald und der deutschen Natur. Solle doch durch „das Wandern […] der

3.2 Zionistische Narrative des Authentischen

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3.2.5 Hebräische Sprache und hebräische Bibel Neben einer grundsätzlich subjektiven Bestimmung des Jüdischseins erlebten besonders das Hebräische und die Hebräische Bibel im früh-zionistischen Diskurs eine Authentifizierung. David Biale stellte bereits fest, „[a]s Jews modernized, they also reappropriated the Bible as a cultural, historical, or nationalist text“.²¹⁶ Hier ist Achad Haams Position aufschlussreich: Und suchen wir unseren nationalen Geist [‫]רוחנו הלאומי‬, wo anders können wir ihn finden, als in unseren historischen Gütern [‫]קנינינו ההיסטוריים‬, vor allem in unserer nationalen Sprache und ihrer Literatur [‫]בשפתנו הלאומית וספרותה‬, in der jedes Geschlecht seinen geistigen Besitz [‫אוצרו הרוחני‬, eigentlich „Schatz“] verwahrte und Väter den Kindern die besten ihrer Gedanken [‫ ]מיטב הגיונם‬vererbten, das leise Flüstern ihrer Herzen und das Echo ihrer Seufzer [‫?]הד אנחותם‬²¹⁷

Das Hebräische wird hier zur Nationalsprache stilisiert und die hebräische Bibel in bestimmter Hinsicht zum Kulturgut der jüdischen Nation erhoben. Auch Martin Buber argumentierte, dass sich Juden auf die Kräfte des „Urjudentums“ besinnen müssten, die es wieder zu aktivieren gelte.²¹⁸ Dieses authentische Judentum war aus Buber’scher Sicht das erste Mal im Prophetismus aufgetreten und habe sich schließlich im Essäertum und Urchristentum genauso fortgesetzt wie in den talmudischen Disputen. Schließlich sei dieses authentische Judentum in die Agada und die kabbalistische Mystik geflohen, um schließlich im Chassidismus seine bis dato letzte Ausprägung zu finden.²¹⁹ Besondere Charakteristika des authentischen Judentums waren für Buber die drei Aspekte „Einheit“, „Tat“ und „Zukunft“.²²⁰ Mit dem Aspekt der „Zukunft“ verwies Buber auf den Messianismus, der in seiner Vorstellung einer „absoluten Erneuerung“ des Judentums gleichkam. Das Judentum sei darüber hinaus ein

Einzelne ein ,natürlicheres‘ Verhältnis zur Umwelt gewinnen, als es früheren Generationen beschieden war, indem Sinne, Körperlichkeit, Diesseitigkeit, persönlicher Mut eine grössere Bedeutung für das Dasein erlangen“ werden, so wurde die Problematik des „,jüdischen‘ Wanderns in fremder, deutscher Landschaft“ als „akut“ empfunden (Preuss, Ein Ring, S. 71).  Biale, Not in the Heavens, S. 60.  Achad Haam: Die Zeit ist gekommen. In: Am Scheidewege. Band 2. Berlin 1916, S. 177– 198, hier S. 180.  Buber, Drei Reden, S. 53.  Kohn, Martin Buber, S. 108.  Der Einheitsgedanke lässt sich auf Baruch Spinoza zurückverfolgen und wurde bereits im zweiten Kapitel als ein elementarer Bestandteil des nationalen Judentums dargestellt, der Fokus auf die Tat ebenso. Martin Buber erwähnt Spinoza auch direkt: Buber, Drei Reden, S. 78.

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3 Zionistische Narrative des „Unauthentischen“ und des „Authentischen“

„geistiger Prozeß“.²²¹ Nun wird auch deutlich, was den Buber’schen Zionismus ausmachte. Der Zionismus „wird in den geistigen Prozeß des jüdischen Volkes eingestellt, der zugleich das Sinnbild des geistigen Prozesses der Menschheit ist“. Der Zionismus bedeutet hier die „Erneuerung des Judentums in seinen tiefsten Schichten“ und damit auch „eine Erneuerung der jüdischen Religiosität“.²²² Die Rückbesinnung auf diese für Buber wesentlichen Aspekte des Judentums ist notwendig, um eine Erneuerung des Judentums zu erreichen. In seinem Vortrag Die hebräische Sprache, den Buber auf der Konferenz für hebräische Sprache und Kultur am 19. Dezember 1909 in Berlin – wohlgemerkt auf Deutsch – hielt,²²³ stellte er fest: Wir wollen das Judentum retten vor dem Verfall und wir sehen nur Einen Weg, wir haben nur Einen großen Helfer auf Erden, den wir anrufen können: das ist die Urzeit unseres Volkes. An diese Urzeit knüpfen wir an. Dies und nichts anderes bedeutet die Wiederbelebung der hebräischen Sprache, der Sprache der Urzeit. Es ist nicht dies allein daß in dieser Sprache die großen Schöpfungen der Urzeit geschrieben sind, sondern diese Sprache ist selbst der allergrößten Schöpfungen eine: aus ihren Worten, aus ihren Formen und Fügungen redet der Geist jener gewaltigen Zeit zu uns; aus ihr erfahren wir im Innersten, was Judentum ist, von ihr empfangen wir die Offenbarung unseres reinen eigenen Urwesens.²²⁴

Daraus folgte laut Buber auch, dass Juden die hebräische Sprache in ihr Leben aufnehmen müssten, um authentische Juden zu werden: Wer die hebräische Sprache in sein Leben aufnimmt, der nimmt die schöpferische Funktion des Volksgeistes in sich auf, der ist nicht länger bloß nach Inhalt des Denkens und Wollens, sondern der innersten Form seines Daseins nach Jude.²²⁵

Gerschom Scholem schloss sich dieser Authentifizierung der Bibel und der hebräischen Sprache an. In seinen frühen Tagebüchern stellte er fest: Ich habe der Bibel gegenüber absolut keine literarischen Gedanken, ich rechne die Bibel sozusagen nicht zur Literatur, weil sie zu mir gehört, weil sie für mich etwas ganz anderes ist wie jedes, auch das beste und heiligste andere Buch. Ich glaube wohl, daß in uns Juden noch heute die ganze Bibel als etwas uns Eingeborenes steckt, als eingeborenes Stammesgut, von dem man vielleicht gar nichts weiß, aber irgendwann erscheint es im Bewußtsein, und von

 Buber, Drei Reden, S. 70 f.  Kohn, Martin Buber, S. 109.  Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Schäfer, Barbara: Buberʼs Hebrew Self. Trapped in the German Language. In: Jewish Studies Quarterly 14 (2007), S. 152– 163, besonders S. 154 f.  Buber, Martin: Die hebräische Sprache. In: Ders.: Die Jüdische Bewegung. Gesammelte Aufsätze und Ansprachen 1900 – 1915. Berlin 1916, S. 175 – 191, hier S. 182 f.  Buber, Die hebräische Sprache, S. 183.

3.2 Zionistische Narrative des Authentischen

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dieser Stunde an weiß der Betreffende, was ein heiliges Buch ist und daß es mit Gott nichts zu tun hat. Ich jedenfalls weiß es schon lange daß die Bibel ein heiliges Buch ist und der Talmud nicht. Das ist der große Unterschied, jawohl, in diesen ganz trivialen Worten liegt das Wesentliche, was auch die tiefsten Schichten talmudischer Weisheit und Religiösität von der Bibel trennt: das Heiligsein, das Persönlich-in-uns-Eingeborensein. Wir mögen mit talmudischem Geist geboren sein, mit juristischer Dialektik und allen sonstigen Vorzügen und Nachteilen, aber heilig ist das alles nicht, wissen wir uns unserem Inneren ganz genau. Heilig ist nur das Ungebrochene, heilig ist nur und absolut nur der Prophetismus und die Thora. […] Die Bibel ist eben, triviales Wort!, jüdisch.²²⁶

Neben der Bibel zählte die hebräische Sprache für ihn zum authentischen Judentum. Sie galt ihm simultan als Vehikel der innerlichen Selbsterkenntnis der Zionisten.²²⁷ Über seine eigenen Anstrengungen, des Hebräischen mächtig zu werden, stellte er fest: [S]o wie Hebräisch werde ich niemals eine Sprache lernen. Die Verjüdischung wächst proportional dem Quadrat der Annäherung an das Hebräische, macht aber an einer Stelle einen Unstetigkeitssprung, da, wo ihr plötzlich sich das Zentrum der hebräischen Sprache, die Seele erschließt.²²⁸

Die emotionale Selbstfindung durch das Erlernen der als authentisch jüdisch kategorisierten Sprache ist dem romantischen Nationalismus der jungen Generation der Zionisten in Deutschland eigen. Sowohl Buber als auch Scholem propagierten hier die Rückbesinnung auf das Hebräische als das einende Moment, welches im deutschsprachigen Raum verloren gegangen sei.

3.2.6 Die Ambivalenz der „authentischen“ jüdischen Frau Wie bereits erwähnt wurde, nahmen Frauen im zionistischen Authentizitätsdiskurs eine ambivalente Rolle ein. Zum einen wurden sie mit dem „Gefühl“, der „Liebe“ und dem „Herzen“ assoziiert, gleichzeitig waren sie der genderspezifischen Exklusion nationaler Theorie und Praxis ausgeliefert. Die Genderspezifität des „authentischen Selbst“ zeigt die Grenzen individueller Verwirklichung. Bereits kurze Zeit nach der „Kadimah“ wurde der erste national-jüdische Frauenverein namens „Moria“ gegründet. Von männlicher Seite wurde an die

 Scholem, Tagebücher. 1. Halbband, S. 236 f.  Scholem, Tagebücher. 1. Halbband, S. 270.  Scholem, Tagebücher. 1. Halbband, S. 429.

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3 Zionistische Narrative des „Unauthentischen“ und des „Authentischen“

Frauenvereine appelliert, sie sollen die nationale Sache doch „noch mehr an das Herz als an den Verstand“ koppeln: [U]nd sollten wir das „Jüdische Herz“ heute gar vergeblich bei unseren Mädchen und Frauen suchen? Doch gewiss nimmermehr trotz aller Schlacken, welche die Assimilation über das Gold des jüdischen Herzens gehäuft hat. Diese Schlacken wieder zu entfernen, wird die schöne Aufgabe derjenigen Jüdinnen sein, die bereits dem edlen Berufe, den das jüdische Mädchen und Weib im Kampfe um Ehre und Leben unseres Volkes einnehmen soll, in ihnen aus der Tiefe des Herzens quillenden, in die anmutigste Form gegossenen Worten edelsten Ausdruck verliehen haben. ²²⁹

Durch ihre besonderen Qualitäten könne die Frau „aus der Liebe und dem tiefen Gemütsverständnis das lebendige Volksthum erneuern“.²³⁰ Dies ginge jedoch nur, in dieser Angelegenheit meldete sich auch wieder Martin Buber zu Wort, „wenn sie das Jüdische in sich pflegt und entwickelt“.²³¹ Zunächst muss sich also, laut Buber, die jüdische Frau selbst auf ihr Judentum besinnen. Zu ihren Aufgaben gehörten demnach „die Hebung des Selbstbewusstseins, das lebendige Studium jüdischer Geschichte und Litteratur und der hebräischen Sprache, [und] die Pflege einer echt jüdischen Geselligkeit […]“.²³² Dazu brauche sie „[t]reue lebendige Liebe zu dem grossen Schicksale Ihres Volkes“, „starke hilfreiche Liebe zu seiner Gegenwart“, und „hoffende arbeitsfreudige Liebe zu Ihres Volkes selbstherrlicher Zukunft“.²³³ Doch Buber versprach noch mehr: Solche Betätigungen würden sie nicht nur wieder gesunden lassen, die gesamte „Arbeit da drüben“ in Palästina, die „Sprache“, die „Feste“ und das ganze „Leben“ würden dann „im Zeichen der jüdischen Frau stehen“.²³⁴ Diese Wertschätzung begründet Buber folgendermaßen: Denn Culturideen finden und theoretisch entwickeln mag der Mann, sie verwirklichen, lebendige fortwirkende Cultur schaffen kann nur die Frau. […] Solche Cultur des Lebens aber kann nur durch jene Liebe geschaffen werden, die stärker ist als der Tod: die Volksliebe der neuen jüdischen Frau. Denn das Zion der jüdischen Frau heisst: Liebe. ²³⁵

 Anonym: Wo und wie müssen wir agitieren? In: Selbst-Emancipation, Nr. 20, 23. Oktober 1892, S. 1– 3, hier S. 3. Hervorhebung d. Verf.  Anonym, Wo und wie müssen wir agitieren?, S. 3.  Buber, Martin: Das Zion der jüdischen Frau. In: Die Welt, Nr. 17, 26. April 1901, S. 3 – 5, hier S. 5.  Buber, Das Zion der jüdischen Frau, S. 5.  Buber, Das Zion der jüdischen Frau, S. 5.  Buber, Das Zion der jüdischen Frau, S. 5.  Buber, Das Zion der jüdischen Frau, S. 5. Hervorhebung d. Verf.

3.2 Zionistische Narrative des Authentischen

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Mit anderen Worten, Buber „glorifizierte“ hier „die scheinbar „,natürlichen‘ Unterschied[e] zwischen den Geschlechtern“, wie von Marion Kaplan bereits in einem anderen Zusammenhang bemerkt wurde.²³⁶ Einerseits wurde die zentrale Rolle der Frau als Teil der Nation und im Prozess der Nationswerdung gewürdigt, ihre Aufgaben blieben jedoch ebenso begrenzt, wie die der Frau im Bürgertum. In ähnlicher Weise äußerten sich sogar Frauen in ihren Vereinsreden. In einer Ansprache des Vereins „Moria“ wurde von Frieda Rand festgestellt: Wir Frauen und Mädchen, wir sind auch im Stande an dem Riesenwerke für das Wohl unseres Volkes mitzuarbeiten, und so wie der Beruf eines Advocaten oder Arztes durch seine Betheiligung an den Vorgängen der Zeit nicht beeinträchtigt wird, so können auch die jüdische Frau und das jüdische Mädchen in ihrem Rahmen für das Judentum thätig sein, ohne dabei ihre häuslichen Pflichten zu vernachlässigen. – Ja! wir müssen um unser Volk bekümmert sein, uns mit seinen Freuden und Leiden bekannt machen, weil wir in Zukunft berufen sind, als Mütter, somit als Erzieherinnen der künftigen jüdischen Generation, durch unsere klaren und ausgeprägten Ideen, durch unsere wahren Anschauungen einen wichtigen Einfluß auf das Gefühl und den Character unserer Kinder auszuüben, um sie zu eifrigen Vertretern der jüdischen Sache auszubilden.²³⁷

Auch weitere Aspekte des zionistischen Authentizitätsdiskurses wurden von Rand aufgenommen. So sagte sie im weiteren Verlauf ihrer Ansprache: Heißt es eine Jüdin sein, sich des Namens „Jüdin“ zu schämen, heißt es eine Jüdin sein, keine Ahnung von einer jüdischen Geschichte zu haben, alles Jüdische zu verwerfen und auszulachen, wie es die heutigen gebildeten und ungebildeten Mädchen thun? […] Wenn sich die Männer zur gemeinschaftlichen Arbeit zum Wohle des Judentums vereinigen, wenn sie darauf ihr Augenmerk gerichtet haben, den unnützen Schmuck fremder Nationalität aus dem Wege zu schaffen, der die Juden nicht um ein Haar in der Gunst ihrer Mitbürger steigen lässt, warum sollen wir Mädchen es nicht in unseren Kreisen thun, da wir es ja ebenso notwendig bedürfen wie jene? Wie bei ihnen die einzige Devise ist „Judensein“ so sollen auch wir nur „Jüdinnen sein“ wollen und nichts anderes.²³⁸

Hier lässt sich das typische zionistische Narrativ deutlich erkennen: Die Scham über das Jüdischsein soll überwunden werden, indem man die Assimilation, die im Endeffekt nur Schaden verursachte, zu bekämpfen versuchte. Der letzte Satz fasst diese Haltung treffend zusammen: Einzig und allein „Juden sein“ bezie-

 Kaplan, Jüdisches Bürgertum, S. 34.  Anonym: Die nationale Lösung der Judenfrage. Vortrag, gehalten in der Versammlung des literarischen Geselligkeitsvereines jüdischer Mädchen „Moria“, am 24. April 1892, von Frieda Rand. In: Selbst-Emancipation, Nr. 9, 1. Mai 1892, S. 3 – 5, hier S. 4. Hervorhebung d. Verf.  Anonym, Die nationale Lösung der Judenfrage, S. 4. Hervorhebung d. Verf.

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3 Zionistische Narrative des „Unauthentischen“ und des „Authentischen“

hungsweise „Jüdinnen sein“, eine gleichsam existentialistische Formulierung des Authentizitätsdiskurses findet sich hier. Solche und ähnliche Aussagen reflektieren die geschlechtsspezifischen Codes des deutschen Bürgertums des 19. Jahrhunderts, zu denen insbesondere das Modell der „Häuslichkeit“ gehörte.²³⁹ Frauen fiel somit auch die religiöse Erziehung der Kinder zu.²⁴⁰ Zusätzlich wurde von ihnen erwartet, durch diese Erziehung eine bestimmte „jüdische Identität“ in den Kindern zu fixieren. Daher blieb während der Epoche der „Assimilation“ die Frau die Konservative, die sicherstellen sollte, dass in ihrem Hause das Judentum erhalten blieb.²⁴¹ Diese Rollenzuweisung verinnerlichten auch zahlreiche der zionistischen Frauen selbst. Dennoch ist hervorzuheben, dass eine solche Ausrichtung der nationalen Theorie mitnichten eine Exklusion von Frauen bedeutete. Ganz im Gegenteil – sie repräsentiert vielmehr eine essentialistischen Vorstellungen verhaftete, hierarchische Rollenverteilung.²⁴² Übrigens fanden auch die geo-kulturellen Verortungen „Ost“ und „West“ in der genderspezifischen Rollenverteilung Niederschlag. Der für die Assimilation verantwortlich gemachten „Westjüdin“ wurde das Ideal der „Ostjüdin“ entgegengesetzt:²⁴³ Die jüdischen Frauen des Ostens, also bei weitem die Mehrheit, haben die Wohlthaten der Emancipation nicht genossen, sind darum aber auch um ihre ureigensten Schätze nicht betrogen worden […].²⁴⁴

3.2.7 Die „Mutter“ Auch der Begriff der Mutter nahm im zionistischen Diskurs viel Raum ein. Kurt Blumenfeld beschrieb seine leibliche Mutter retrospektiv als „der entzückendste und natürlichste Mensch, den ich in meinem Leben kennengelernt habe“. Und er fügte hinzu: „Wenn ich mich später manchmal fragte, ob es den unbefangenen Juden wenigstens in einem Exemplar gibt, sprach ich den Namen Betty Blu-

 Hyman, Gender and Assimilation, S. 25.  Hyman, Gender and Assimilation, S. 26.  Hyman, Gender and Assimilation, S. 27. Vgl. auch Gelber, Melancholy Pride, S. 173.  Zu den einzelnen Tätigkeiten der Frauen im zionistischen Kontext siehe auch Berkowitz, Michael: Transcending „Tzimmes and Sweetness“. Recovering the History of Zionist Women in Central and Western Europe, 1897– 1933. In: Active Voices. Women in Jewish Culture. Hrsg. von Maurie Sacks. Urbana/Chicago 1995, S. 41– 62.  Vgl. Or, Vorkämpferinnen, S. 40 f.; Maksymiak, Mental Maps, S. 166 – 183.  Feiwel, Die jüdische Frau, S. 2.

3.2 Zionistische Narrative des Authentischen

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menfeld aus“.²⁴⁵ Auch Max Bodenheimer hatte nur romantische Worte für seine Mutter, die so sehr „von einer rührenden Liebe zu ihren Kindern erfüllt“ war, dass diese „ihrem Leben den Inhalt gaben“. Sie „war dauernd in Haus und Küche tätig“, doch beizeiten saß „sie träumend im Sessel […] und ihre blauen Augen [blickten] in eine unbekannte Ferne“.²⁴⁶ Heinrich Loewes Mutter hatte in seinen Worten „einen stillen aber tiefen Einfluss“. Sie erzog die Geschwister „zu Wahrheitsliebe und Idealismus“. Die Tatsache, dass „alle Kinder ausnahmslos“ zu Zionisten wurden, erklärt Loewe mit „der gemütstiefen Hingabe an das Judentum“ seiner Mutter.²⁴⁷ Darüber hinaus „liebte“ sie Palästina.²⁴⁸ Elias Auerbach beschrieb seine eigene Mutter als „eine bemerkenswerte Frau“.²⁴⁹ Trotz der fehlenden Schulbildung konnte sie jedoch sowohl Deutsch als auch Hebräisch lesen.²⁵⁰ In seinen Memoiren attestierte er ihr zudem ein herausragendes „Gedächtnis“. Ohne es jemals aktiv gelernt zu haben, erinnerte sie sich an sämtliche Stellen aus dem Talmud, die sie vom Talmud studierenden Vater aufgeschnappt hatte.²⁵¹ Auch weitere Traditionen schienen bei ihr im Detail konserviert. Auerbach beschrieb sie zusätzlich als „Archiv jüdischer Volksweisen, Märchen, Schwänke und Anekdoten“, die sie „wortgetreu“ mehrmals hintereinander wiedergeben konnte.²⁵² Seiner Meinung nach entsprach sie „wohl dem ganzen Typ der Frau, von der sich die Brüder Grimm die deutschen Märchen erzählen ließen“.²⁵³ In diesem Beispiel wird die Mutter als die Traditionsbewahrerin per se symbolisiert, die sowohl die traditionelle Literatur als auch folkloristische Traditionen bewahrte.²⁵⁴

 Blumenfeld, Erlebte Judenfrage, S. 31.  Bodenheimer, Max: So wurde Israel. Aus der Geschichte der zionistischen Bewegung. Köln 1984, S. 25.  Loewe, Heinrich: Baderech lezion. CZA A 146/61, Kapitel 4, S. 7.  CZA A 146/61, Kapitel 7, 9d Einschaltung: „Mutter liebte, auch ohne es zu kennen, das Heilige Land. Als ich meine erste Reise nach Palästina unternahm, galt eine solche Fahrt in den wilden Orient für ein Wagnis. Die Mutter hatte nichts dagegen einzuwenden, ebenso wenig, dass ich etwa ein Jahr später wieder dahin fuhr, um meiner Absicht nach, ständig dort zu bleiben“.  Auerbach, Elias: Pionier der Verwirklichung. Ein Arzt aus Deutschland erzählt vom Beginn der zionistischen Bewegung und seiner Niederlassung in Palästina kurz nach der Jahrhundertwende. Stuttgart 1969, S. 15.  Auerbach, Pionier der Verwirklichung, S. 16.  Auerbach, Pionier der Verwirklichung, S. 15 f.  Auerbach, Pionier der Verwirklichung, S. 16.  Auerbach, Pionier der Verwirklichung, S. 16. Auerbach fügte hinzu: „Heinrich Loewe, der mehrere Monographien zur jüdischen Folklore veröffentlichte gibt in der Einführung an, daß er das gesamte Material aus dem Munde meiner Mutter erfahren hatte“.  Die Zentralität der Folklore für nationale Bewegungen und auch den Zionismus ist an dieser Stelle besonders zu betonen. Bereits in Wilhelm Herzbergs Roman wurde durch das eingescho-

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3 Zionistische Narrative des „Unauthentischen“ und des „Authentischen“

Richard Lichtheim sah in seiner Mutter und deren Familie ein Exemplum „bewußtem Judentums“, obwohl „von jüdisch-nationalen Regungen oder gar von Zionismus […] damals noch nicht die Rede sein konnte“.²⁵⁵ Als letztes Beispiel sei noch in Theodor Herzls Roman Altneuland die Ansprache von David Littwak an seine verstorbene Mutter erwähnt. Er sagte: Sie war unser Haus und unsere Heimat, als wir nicht Haus noch Heimat hatten. Sie hielt uns aufrecht als wir im Elend waren, denn sie war die Liebe. Sie lehrte uns Demut, als es uns besser ging, denn sie war das Leiden. Sie war in bösen und guten Tagen die Ehre, die Zierde unseres Hauses. Als wir so arm waren, dass wir auf Stroh lagen, da waren wir doch reich, weil wir sie hatten. Sie dachte immer an uns, und nie an sich. Unser Haus war nur eine kümmerliche Stube, und es barg einen Schatz. Mancher Palast hat keinen solchen Schatz. Das war sie, die Mutter. Sie war eine feine Duldnerin. Das Leiden beugte sie nicht, es erhöhte sie. Da habe ich sie manchmal angeschaut als das Judentum in der Zeit der Leiden. In ihrer Gestalt sah ich es.²⁵⁶

Die Mutter wird hier zum Inbegriff des Judentums und zur „Nation im Exil“. Die Konzeption der Assimilation wurde in diesem Kapitel als die moralisch negativ konnotierte Selbstverfälschung des nationalen Individuums verstanden, welches dadurch der moralischen Obligation der Moderne, authentisch zu sein, nicht nachkommt. Dieser Prozess habe bereits in der Antike begonnen, als Juden in die „Galut“ gingen. Besonders seit der Epoche der Emanzipation, nach dem sogenannten „Ausbruch aus dem Ghetto“ und der tatsächlich erfolgten rechtlichen Gleichstellung hätten sich Juden immer mehr von ihrem authentischen Zustand entfernt. Darüber hinaus wurde gezeigt, wie genderspezifisch das zionistische Narrativ der Assimilation war. Oftmals wurden Frauen in ihrer Rolle als Mütter der kommenden Generation für die fortschreitende Entfremdung ihrer bene folkloristische Märchen dieser eine besondere Position gegeben. Mit einer systematischen Erforschung einer jüdischen Folklore begann man Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Begriff „Jüdische Volkskunde“. Die Gesellschaft für Jüdische Volkskunde wurde am 1. Januar 1898 von Max Grunwald (1871– 1953) gegründet. Sie „verfolgt[e] den Zweck, die Erkenntnis des inneren Lebens der Juden zu fördern“, und „erstrebt[e] deshalb eine möglichst vollständige Sammlung aller auf das Judentum und seine Bekenner bezüglichen Volksüberlieferungen und Kunsterzeugnisse und rechnet[e] hierbei auf die Teilnahme Aller, die für die Eigenart Israels Sinn und Interesse“ hatten (Mitteilungen der Gesellschaft für Jüdische Volkskunde [Alte Folge] Band für 1898, S. 1). Die Mitteilungen der Gesellschaft für Jüdische Volkskunde erschienen ab 1898. In diesen Mitteilungen gibt es unterschiedliche Rubriken, darunter „Namen und Mundartliches“, „Dichtung“, „Kinderlieder und ähnliches“, „Jahreslieder und ähnliches“, „Volkslieder und ähnliches“, „Glaube und Sage“, „Sitte und Brauch“, „Weissagung, Zauber u. ähnl“. Die Lieder, die in dieser Quelle verwendet werden, weisen zu einem großen Teil folkloristischen Charakter auf.  Lichtheim, Rückkehr, S. 36.  Theodor Herzl: Altneuland. Haifa 1962 [1902], S. 217.

3.2 Zionistische Narrative des Authentischen

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Kinder von der jüdischen Tradition verantwortlich gemacht. Es wurde umrissen, wie im zionistischen Diskurs eine hierarchische „Skala“ etabliert wurde, die den getauften Juden zuunterst und den zionistischen Juden zuoberst ansiedelte. Diese Skala bestand zwar theoretisch, wurde in der Praxis zionistischer Authentizitätskonstrukte jedoch individuell interpretiert. Zudem wurde eine weitere genderspezifische Grenze dargestellt: Frauen wurden zwar in das nationale Projekt mit einbezogen, sie sollten sich jedoch in den vom Mann klar vorgegebenen Bahnen bewegen. Ein eigenes Streben nach Authentizität wurde ihnen nicht eingeräumt; gleichzeitig wurde ihre Rolle, insbesondere als Mutter, in romantischen Tönen idealisiert. In diesem Kapitel wurde eine Vielzahl an Gegennarrativen des Authentischen deutlich. Zum einen waren diese gegen die vorherrschende Historiographie des Fortschritts gerichtet. Zum anderen gegen in zionistischer Sicht alles „Unauthentische“. Wenn einerseits die gesellschaftliche Exklusion bei Franz Oppenheimer explizit erwähnt wurde, so konnten bei Moses Calvary die religiösen Konnotationen zionistischen Denkens kennengelernt werden. Besonders deutlich wurde jedoch, wie sehr die Aushandlungen zionistischer Authentizitäten das Begriffspaar „deutsch–jüdisch“ überstiegen.

4 Umstrittene Authentizitäten – Die Politisierung des Konzeptes der Authentizität „In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches“. – Michel Foucault¹

Nachdem im vorigen Kapitel die Konnotationen der Begriffe des „Authentischen“ und des „Unauthentischen“ analysiert wurden, soll nun gezeigt werden, welche Funktionen und Auswirkungen diese Wertungen hatten. Um die Rhetorik der Authentizität zu dechiffrieren, soll zunächst der in der Forschung oftmals vertretene Antagonismus zwischen Theodor Herzl und Achad Haam problematisiert werden. Theodor Herzl wurde bisher primär als Vertreter des „politischen“ und „westlichen“ Zionismus repräsentiert, Achad Haam hingegen galt als Verkörperung des „kulturellen“ und „östlichen“ Zionismus.² Betrachtet man jedoch die Haltungen der beiden Persönlichkeiten im Zusammenhang der Authentizität, sprich der Selbstverwirklichung des Individuums in der Nation, entsteht ein anderes Bild. Im Folgenden wird eine entscheidende Gemeinsamkeit im Denken der beiden Persönlichkeiten herausgearbeitet werden. Dadurch wird die im konstruierten Antagonismus deutlich werdende politische, taktische und oftmals machtorientierte Authentizitätspolitik entziffert. Die innerzionistische Rhetorik der Authentizität wird besonders anhand der frühen zionistischen Kontroversen deutlich. Wichtig sind dafür die Debatten, die zwischen den Jahren 1897 und etwa 1910 im frühen Kongresszionismus ausgetragen wurden. Der erste große Disput ist zweifelsohne die Altneuland-Kontroverse von 1903, die sich im Anschluss an die Veröffentlichung des Romans Altneuland von Theodor Herzl entfachte. Der zweite hier herangezogene Disput ist die Oppenheimer-Debatte aus dem Jahre 1910. Bisher wurden beide zumeist im Rahmen des Ost-West-Diskurses und des Generationenkonflikts im deutschen Zionismus gelesen oder als Indiz für die despektierliche Sicht auf Osteuropa angeführt. Letzterem soll hiermit, das gilt es zu betonen, natürlich nicht widersprochen werden.Vielmehr sollen diese Lesarten um eine weitere ergänzt werden. Denn, wie gezeigt werden wird, bedeuteten sie auch eine „Deauthentifizierung“ des „Westens“.  Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1979, S. 250.  Für diesen konstruierten Antagonismus gibt es in der Forschungsliteratur zahlreiche Beiträge. Als Beispiel sei hier auf die Beschreibungen von David Vital verwiesen. Vgl. David Vital: Zionism. The Formative Years. Oxford 1982, S. 24 ff. https://doi.org/10.1515/9783110546019-006

4.1 Unerwartete Übereinstimmung: Theodor Herzl und Achad Haam

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4.1 Unerwartete Übereinstimmung: Theodor Herzl und Achad Haam Im zionistischen Denken galt die Prämisse, dass sich Juden ihrer jüdischen Nation unterordnen sollten. Durch diese Unterordnung würden sie freie und selbstbestimmte Individuen. Entgegen dem oftmals betonten Gegensatz zwischen Achad Haam und Theodor Herzl herrschte bei diesem Punkt eine auffällige Einigkeit. Zunächst zu Theodor Herzl: In dem im Oktober 1902 erschienenen Roman Altneuland formulierte Herzl seine liberalistischen und individualistischen Ideale von Authentizität besonders einschlägig.³ Im Zukunftspalästina des Romans wurde nach europäisch-liberalistischen Idealen gelebt. Selbst die Entscheidung, an der dort gegründeten mutualistischen „Neuen Gesellschaft“ mitzuwirken, war jedem selbst überlassen: „Niemand ist gezwungen unserer neuen Gesellschaft beizutreten. Wer in ihr aufgenommen wird, ist wieder nicht gezwungen, seine Rechte auszuüben. Das steht nach seinem Belieben“.⁴ Oder, wie er an anderer Stelle im Roman zusammengefasste: „Hier in Ihrer neuen Gesellschaft kann jeder nach seiner Fasson leben und selig werden“. Dies affirmierte Herzls Vorstellung einer hochgradig freiheitlichen und toleranten Gesellschaftsordnung, in der zwar

 Für eine literaturwissenschaftliche Einordnung Altneulands siehe beispielsweise Hadomi, Leah: Altneuland – ein utopischer Roman. In: Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion. Hrsg. von Stéphane Moses und Albrecht Schöne. Frankfurt a. M. 1986, S. 210 – 225. Die Entstehungsgeschichte des Romans geht auf das Jahr 1891 zurück, als Herzl beschloss, sich eines „Judenroman[s]“ anzunehmen, und sich mit diesem das „Gespenst“ von Heinrich Kana „los[zu]schreiben“ – ein guter Freund, den die desolate Situation von Juden in Deutschland in den Selbstmord getrieben hatte (Herzl, Theodor: Briefe und Tagebücher. Bd. 2. Zionistisches Tagebuch 1899 – 1904. Hrsg. von Alex Bein, Hermann Greive, Moshe Schaerf und Julius H. Schoeps. Bearbeitet von Johannes Wachten und Chaya Harel. Berlin [u. a.] 1985, S. 44). Im Roman wurde Heinrich Kana durch den Protagonisten Dr. Friedrich Löwenberg ein Denkmal gesetzt. Herzls Palästinareise im Jahre 1899 lieferte nicht nur den letzten Anstoß für den Roman, sondern auch die Inspiration für den Hauptort der Handlung, die er auf einer Rückfahrt von London am 2. Juli 1899 „auf drei kleinen Papierblättchen“ fixierte (Bein, Alex: Theodor Herzl. Biographie. Wien 1934, S. 544). Das von Herzl gewählte Genre des utopischen Romans lässt sich sicherlich durch die oft zitierte Tagebuchnotiz Herzls erklären. Dort schreibt er: „Die Erfolgshoffnungen im Praktischen sind zerflossen. Mein Leben ist jetzt kein Roman. So ist der Roman mein Leben“ (Herzl, Theodor: Briefe und Tagebücher. Bd. 3. Zionistisches Tagebuch 1899 – 1904. Hrsg. von Alex Bein, Hermann Greive, Moshe Schaerf und Julius H. Schoeps. Bearbeitet von Johannes Wachten und Chaya Harel. Berlin [u. a.] 1985, S. 225). Die Aufeinanderfolge zahlreicher Misserfolge seiner zionistischen Bemühungen erforderten wohl ein „Märchen“, das man sich „gleichsam bei den Lagerfeuern“ erzählen könne, um nicht nur die „armen Leute“ sondern offensichtlich auch Herzl selbst „auf der Wanderung bei gutem Muthe zu erhalten“ (Ebd., S. 461).  Herzl, Altneuland, S. 59.

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4 Umstrittene Authentizitäten – Die Politisierung des Konzeptes der Authentizität

eine „Ordnung in der Freiheit“, jedoch „nirgends eine staatliche Autorität“ zu erkennen sei.⁵ Trotz der hochgehaltenen Toleranz und der Freiheit des Individuums in Altneuland, ist es nichtsdestotrotz die Teilhabe an der „neuen Gesellschaft“, die dem Einzelnen einen gewissen Lebenssinn geben sollte. An dieser Stelle erkennt man eine entscheidende Grenze der vorerst propagierten individuellen Freiheit. So sprach Friedrich Löwenberg zu Mirjam, die er später heiraten sollte: Es fällt mir schwer aufs Herz, Fräulein Mirjam! Ich sehe jetzt, dass ich eine Pflicht versäumt habe. Ich hätte mittun können, mittun müssen an diesem wundervollen Werke der Volksaufrichtung. Ich war einer von den Gebildeten und hätte verstehen müssen, was in der Zeit sich vorbereitete. Aber nein, ich war nur mit meinen eigenen jämmerlichen Schmerzen beschäftigt. Ich lief davon, ich verbrachte zwanzig Jahre in der dümmsten Nutzlosigkeit. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mir zu Mute ist. Ich – ich schäme mich.⁶

Im Roman bestand dennoch „Hoffnung“ für Friedrichs Versäumnis, da es für sein Mitwirken am Aufbau der neuen Gesellschaft nicht zu spät war. Auf diese Möglichkeit der Wiedergutmachung einer verpassten Chance reagierte Friedrich höchst emotional. In „ihm wallten Hoffnungen auf und er fühlte sich plötzlich verjüngt. Er sah ein neues Leben vor sich auftauchen“.⁷ Hier wird deutlich, wie eng der propagierte Individualismus an das kollektive Ideal des Zionismus gebunden war. Als Teil der mutualistischen Gesellschaft würde dieser liberalistische Individualismus für den Zionismus sinnstiftend sein, denn vollkommene Freiheit würde dem Individuum nicht gewährt ‒ es sollte schließlich sein ganzes Streben der eigenen „Volksaufrichtung“ unterstellen. Achad Haams Ausführungen zum Verhältnis des Individuums zur Nation und zum Volk sind in gewisser Hinsicht kongruent zu denen Herzls. Auch für Achad Haam sollte das Individuum vor allem der Nation dienen und sein ganzes Streben an sie anpassen. In seinem frühen Aufsatz Nicht dies ist der Weg beschreibt er die Individualisierung als eine Entwicklung, in der das „jüdische Individuum lediglich ein Glied des jüdischen Volkes“ gewesen sei,⁸ bis zum Ist-Zustand, in dem das „Gespenst [‫]שטן‬, das Ich des einzelnen Menschen oder der einzelnen Gruppe“, seiner Meinung nach „in allen […] Volksunternehmungen“ sein Unwesen treibe.⁹

 Herzl, Altneuland, S. 202.  Herzl, Altneuland, S. 118 f.  Herzl, Altneuland, S. 119.  Achad Haam: Nicht dies ist der Weg. In: Am Scheidewege. Band 1. Berlin 1923, S. 41– 54, hier S. 47. Hebräisches Original: Lo so ha-derech! In: Al paraschat drachim. Kowez Maʼamarim. 1. Teil. Berlin 1921, S. 1– 8, hier S. 4.  Achad Haam, Nicht dies ist der Weg, S. 51 (Hebräisch: S. 6).

4.1 Unerwartete Übereinstimmung: Theodor Herzl und Achad Haam

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Achad Haam betonte zwar mehrmals, dass es ihm weniger um die Probleme der einzelnen Juden ginge als um die Probleme, mit denen das Judentum als Kollektiv konfrontiert war. Für ihn sei, so schrieb er an anderer Stelle, die Zionsliebe „Volksarbeit“, die „im Einklang […] mit dem Volksgeist der Gegenwart und nicht mit dem Geiste Einzelner“ sein solle. Es sei jedoch darüber hinaus ein hohes Ideal, und es sei „ja eben die wunderbare Eigenschaft eines hohen und erhabenen Ideals, daß jeder es nach seiner eigenen Fasson [‫ ]על פי דרכו‬auffaßt und in ihm seine Herzenswünsche verkörpert findet“.¹⁰ Laut Achad Haam ist das individuelle Ich „eines jeden Menschen die Summe […] aus der Addition seines Gedächtnisses und seines Willens, aus der Verbindung der Vergangenheit mit der Zukunft [‫“]הסכום היוצא מחבור זכרונו עם רצונו‬. Er bezeichnete damit „jenen Geist oder jene innere Kraft, die auf geheimnisvolle Weise alle Eindrücke und Erinnerungen der Vergangenheit mit den Wünschen und Hoffnungen der Zukunft [‫כל הרשמים והזכרונות של העבר עם כל החפצים והתקוות‬ ‫ “]לעתיד‬verbinde. Daraus entstünde letztendlich „ein einheitliches, vollkommen ausgeprägtes organisches Gebilde [‫ אוֹר ַגנית‬,‫“]בריה אחת שלמה‬.¹¹ Bezogen auf „das nationale ,Ich‘ eines jeden Volkes“, argumentierte er weiter – in Übereinstimmung mit John Stuart Mill und Ernest Renan – sei „[auch] dieser Begriff seinem innersten Kern nach nur eine Mischung der Vergangenheit und Zukunft“. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, welche Aufgabe Achad Haam der „Zionsliebe“ zuschrieb. Denn ein Volk, dem es gelungen ist, das Element der Zukunft, wenn auch nur in der Form einer illusorischen Hoffnung [‫]תקוה דמיונית‬, seinem „Ich“ einzuverleiben, hat dadurch ein Lebenselexier [sic] [‫ ]סם חיים‬entdeckt, geistige, seiner Natur angemessene Nahrung gefunden, die ihm trotz aller Leiden und Krankheiten auf lange Sicht hinaus Leben und Fortdauer sichert.¹²

Die messianischen Konnotationen, die hier in Achad Haams Nationalismus mitschwingen, gehören für ihn zum „ewigen[n] ,Ich‘ des jüdischen Volkes“, dessen „Weg […] längst gebahnt und vorgezeichnet“ sei, und zwar „durch sein Wesen,

 Achad Haam: Worte des Friedens. Offener Brief an einen Rabbiner. In: Am Scheidewege. Band 1. Berlin 1923, S. 215 – 235, hier S. 234. Hebräisch: ‫[ דברי שלום‬Diwrei schalom]. In: Al paraschat drachim. Kowez maʼamarim. 1. Band. Berlin 1921, S. 103 – 114, hier S. 113.  Achad Haam: Vergangenheit und Zukunft. In: Am Scheidewege. Band 1. Berlin 1923, S. 306 – 316, hier S. 307. Hebräisch: ‫[ עבר ועתיד‬ʻAwar we-ʻatid]. In: Al paraschat drachim. Kowez maʼamarim. 1. Band. Berlin 1921, S. 156 – 161, hier S. 157.  Achad Haam, Vergangenheit und Zukunft, S. 311 (Hebräisch: S. 158 – 159). Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.

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4 Umstrittene Authentizitäten – Die Politisierung des Konzeptes der Authentizität

und sein Wesen wurzelt in der Vergangenheit und strebt weiter in die Zukunft“.¹³ Mit anderen Worten, der jüdische Nationalismus bestehe aus Vergangenheit und Zukunft – aus Geschichte und messianischer Utopie. Auch an anderer Stelle ist diese Tendenz zu erkennen. So bemerkte Achad Haam: Oft und oft wurde schon ausgesprochen, daß die Lehre des Judentums ihren Zweck nicht in der Erlösung des Individuums, sondern in der Glückseligkeit und der Vervollkommnung der Volksgemeinschaft und – am Ende der Zeiten – der ganzen Menschheit erblicke, also eines Sammelbegriffes, der keine bestimmte sinnliche Vorstellung gestattet.¹⁴

Laut dieser Aussage entspricht das zionistische Ideal nicht einer individuellen, sondern einer kollektiven Erlösung der Juden und schließlich der ganzen Menschheit. Dieses klassisch messianische Motiv wurde hier mit neo-humanistischen Bestrebungen durch den Nationalismus verknüpft. Die trotz aller Unterschiede bestehenden deutlichen Gemeinsamkeiten zwischen Achad Haam und Theodor Herzl bezüglich der Rolle des Individuums in der nationalen Gemeinschaft bzw. im Volk – jeder nach seiner (eigenen) Fasson verbunden mit einer klaren Unterordnung unter das gemeinsame Ideal – sollten jedoch von Zeitgenossen wenig beachtet werden. Viel wichtiger war es, das umkämpfte Gütesiegel der Authentizität für sich selbst zu beanspruchen.

4.2 Die Altneuland-Kontroverse Von den zahlreichen Kontroversen, bei denen unterschiedliche Verständnisse von jüdischer Authentizität politisiert wurden, sticht besonders die Altneuland-Kontroverse heraus. Doch zunächst lohnt sich ein Blick auf den Diskurs der Authentizität im Roman Altneuland, um den die Kontroverse letztlich kreiste. Der Zionismus wurde darin als Befreiung aus der „Unauthentizität“ der Wiener Gesellschaft stilisiert, der man hier im Roman Oberflächlichkeit und Affektiertheit nachsagte. Friedrich Löwenberg war Teil dieser prätentiösen Welt und zudem unglücklich verliebt in Ernestine Löffler, die Tochter eines wohlhabenden Wiener Juden. Das Abendessen, bei welchem zu allem Übel die Verlobung von Ernestine mit einem anderen Mann verkündet wurde, veranlasste Friedrich schlussend-

 Achad Haam: Vergangenheit und Zukunft, S. 316 (Hebräisch: S. 161). Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Achad Haam: Die Schwankenden. In: Am Scheidewege. Band 2. Berlin 1916, S. 227– 255, hier S. 237. Hebräisch: ‫[ על שתי הסעיפים‬Al schtej ha-seʻifim]. In: Al paraschat drachim. 4. Teil. Berlin 1921, S. 38 – 58, hier S. 44.

4.2 Die Altneuland-Kontroverse

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lich dazu, Wien für ein Abenteuer zu verlassen. Die Szene wird im Roman als laut und anstrengend beschrieben. Der anwesende Rabbiner, der von den Problemen der Juden in Mähren berichtete, wurde übertönt. Als derselbe Rabbiner von Palästina als Auswanderungsland sprach, wurde er ausgelacht.¹⁵ Die Gastgeber baten darum, „nicht über jüdische Sachen“ zu reden, solange sich die Bediensteten im Raum befinden.¹⁶ Kurzum, die Tischgesellschaft der Wohlhabenden wurde mit zahlreichen „unauthentischen“ Attributen versehen. Auch das Bildungsideal des Bürgertums wird gleich zu Beginn kritisch hinterfragt.¹⁷ Der kleine David Littwak, Sohn einer bettelarmen Einwandererfamilie, die Friedrich mit einer großzügigen Spende rettete, sagte zum studierten – aber dennoch arbeitslosen – Friedrich Löwenberg: „Lernen will ich. Viel lernen!“ Friedrich seufzte unwillkürlich: „Und glaubst du, dass das genügt?“ – „Ja!“ sagte David. „Ich habʼ gehört, wenn man gelernt hat, is[ʼ] man stark und frei. Gott wird mir helfen, dass ich lernen kann. Dann werdʼ ich mit meine[ʼ] Eltern und Mirjam nach Erez Israel geh[ʼ]n“. – „Nach Palästina?“ fragte Friedrich erstaunt. „Was willst du dort?“ – „Das is[ʼ] unser Land. Dort können wir glücklich werden!“¹⁸

Friedrichs kritische Rückfrage war seiner eigenen Arbeitslosigkeit verschuldet, die er trotz Bildung mit vielen jüdischen studierten Freunden teilte. Die Skepsis gegenüber dem deutschen Bildungsideal wird somit zunächst argumentativ gestützt. Zum anderen wurde jedoch der Bildungsaspekt durch eine zionistische Komponente ergänzt. In Palästina nämlich werde diese Bildung schlussendlich nützlich sein und Juden könnten „glücklich“ werden. Gerade die Begegnung mit David gab Friedrich Hoffnung in diesem aussichtslosen Szenario. Besonders die Stärke im Ton des Zehnjährigen war ihm aufgefallen, der von seinen Auswanderungsplänen „nach Erez Israel“ sprach. Daraufhin legte Friedrich dem Jungen die Hand auf den Kopf und sprach „Möge dir der Gott unserer Väter beistehen!“¹⁹ Der Roman fährt fort:

 Herzl, Altneuland, S. 15 f.  Herzl, Altneuland, S. 17.  Zum Ideal der Bildung siehe klassisch: Mosse, George L.: German Jews Beyond Judaism. Bloomington/Cincinatti 1985. Dazu erweiternd:Volkov, Sulamith: The Ambivalence of Bildung. In: The German-Jewish Dialogue Reconsidered. A Symposium in Honor of George L. Mosse. Hrsg. von Klaus L. Berghahn. New York [u. a.] 1996, S. 81– 97. Und Aschheim, Steven E.: German Jews Beyond Bildung and Liberalism: The Radical Jewish Revival in the Weimar Republic. In: Ebd. S. 125 – 140.  Herzl, Altneuland, S. 22.  Herzl, Altneuland, S. 22.

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4 Umstrittene Authentizitäten – Die Politisierung des Konzeptes der Authentizität

Seit den Tagen der Kindheit, da er mit seinem Vater zum Tempel gegangen war, hatte Friedrich vom „Gott unserer Väter“ nichts mehr gewusst. Diese merkwürdige Begegnung aber weckte das Alte, Vergessene in ihm auf, und sekundenlang überflog ihn ein Heimweh nach dem starken Glauben der Jugendzeit, in der er mit dem Gott der Väter noch in Gebeten verkehrte.²⁰

Leserinnen und Leser sollten damit inmitten der Schilderung der oberflächlichen und verlogenen Gesellschaft Wiens mit einem Funken Authentizität konfrontiert werden, die in Form eines osteuropäischen Jungen und der jüdischen Religion zu ihnen herangetragen wurde. Im Zukunftspalästina Herzls wurden schließlich sämtliche dieser negativen Eigenschaften der Wiener Gesellschaft abgestreift. Im Roman besuchte Friedrich Palästina im Abstand von zwanzig Jahren zweimal. Bei dem ersten Besuch gaben die Zustände in Palästina ein dürftiges Bild ab. Ganz anders beim zweiten Besuch, bei dem Palästina als blühendes und erfolgreich organisiertes modernes Land präsentiert wurde. Als Friedrich Löwenberg Jerusalem wiedersah, wurde dieser Moment mit diesem ersten Hoffnungsschimmer in Wien verknüpft. Auch in dieser Szene befand er sich in Gesellschaft von David Littwak. David sprach zu Friedrich: „Sehen Sie, Herr Doktor, das ist das Land unserer Väter!“ Und Friedrichs Reaktion darauf war die folgende: Und Friedrich wusste nicht, warum ihm bei diesen einfachen Worten des jungen Mannes die Augen von Tränen warm wurden. Doch war es eine andere Stimmung, als in jener Nacht von Jerusalem, zwanzig Jahre früher. Damals hatte er den mondbeglänzten Tod vor sich, und jetzt ein sonnenfreudiges Leben. Er blickte David an. Was war aus dem bettelhaften Judenjungen geworden! Ein frei und ernst schauender, gesunder, gebildeter Mann, der fest in seinen eigenen Schuhen zu stehen schien.²¹

David hatte eine wahre – auch körperliche – Transformation durchlaufen.²² Er war nun frei, seriös, gesund, gebildet und bodenständig. In der „neuen Gesellschaft“ wurde darüber hinaus sichergestellt, dass eine gesellschaftliche Niederträchtigkeit nicht mehr entstehen könne: „Die Mitglieder der neuen Gesellschaft

 Herzl, Altneuland, S. 23  Herzl, Altneuland, S. 55.  Zur körperlichen Transformation David Littwaks siehe Bar-Yosef, Eitan: A Villa in the Jungle. Herzl, Zionist Culture, and the Great African Adventure. In: Theodor Herzl. From Europe to Zion. Hrsg.von Mark H. Gelber und Vivian Liska. Tübingen 2007, S. 85 – 102, hier S. 92. Bar-Yosef verweist zusätzlich darauf, dass sich auch Friedrich Löwenberg in den 20 Jahren auf der einsamen Insel körperlich verändert hat.

4.2 Die Altneuland-Kontroverse

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sind wirtschaftlich so frei geworden, dass der ehemalige widerliche Respekt vor den reichen Leuten naturgemäß geschwunden ist“.²³ Der Hergang der Altneuland-Kontroverse, die sich nach dem Erscheinen des Romans entfachte, ist weitestgehend bekannt.²⁴ Achad Haam verfasste eine Rezension zu dem Roman, die im Dezember 1902 in der Zeitschrift Ha-Shiloach erschien und zunächst keine besondere Aufmerksamkeit erhielt.²⁵ Darin kritisierte Achad Haam grundsätzliche Aspekte der von Herzl geschilderten Zustände im Zukunftspalästina. Juden hätten in Altneuland „im Grunde nichts Neues geschaffen, nichts aus eigenen geistigen Mitteln hervorgebracht“, da sie nur das, „was sie bei den europäischen und amerikanischen Kulturvölkern [‫]עמי ההסכלה‬ gefunden“, imitierten und kombinierten.²⁶ Achad Haam fasste dies folgendermaßen zusammen: „Europäer, europäische Sitten, europäische Erfindungen. Nirgends eine besondere jüdische Spur“.²⁷ Er führte aus: Ohne eine Spur originellen Talents [‫]כשרון מקורי‬. Andere bloss kopieren, sich von dem „nationalen Chauvinismus“ derart fernhalten, dass nichts von den Eigentümlichkeiten des Volkes, von seiner Sprache, Litteratur und Geistesbeschaffenheiten [‫ ]נטיות רוחו‬mehr zurückbleibt; sich zusammenrollen und zurückziehen, nur um dem Fremden zu zeigen, dass man unendlich tolerant, tolerant bis zum Ekel [‫ ]סבלנים עד לגועל נפש‬ist […].²⁸

Das hier angekreidete „Fernhalten vom nationalen Chauvinismus“ und die „Toleranz bis zum Ekel“ ist eine raue Kritik am liberalen Nationalismus Herzls, den er in Altneuland mehrmals betonte. Um es zuzuspitzen: Achad Haam sprach in seiner Rezension dem Herzl’schen Roman und Zionismus im Grunde jegliches Jüdischsein ab. Die Redaktion der Zeitschrift Ost und West plante, den Artikel Achad Haams in der Märzausgabe in einer deutschen Übersetzung dem nicht-hebräischsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Die Zeitschrift hatte den Anspruch, „Ost und West – nicht nur die geographisch, sondern auch die kulturell auf verschiedenem Boden stehenden Elemente des Judentums einander wieder näher zu bringen […]“.²⁹ Um diesem Anspruch gerecht zu werden, ließ die Redaktion

 Herzl, Altneuland, S. 82 f.  Vgl. Laskov, Shulamith: ‫[ הריב על אודות אלטנוילנד‬Ha-Riw ʻal ʼodot ʼAltneuland]. in: Ha-Zionut 15 (1999), S. 35 – 53 [Hebräisch]; Brenner, Marketing Identities, S. 38 f.  Achad Haam: ‫[ ילקות קטן‬Jalkut katan]. In: ‫[ השלח‬Ha-Shiloach] 10, 1902, S. 566 – 587.  Achad Haam: Altneuland. In: Ost und West, April 1903, Spalte 227– 244, hier Sp. 236 (Hebräisch: S. 572).  Achad Haam, Altneuland, Sp. 241 (Hebräisch S. 576).  Achad Haam, Altneuland, Sp. 243.  Anonym: Ost und West. In: Ost und West, Nr. 1, Januar 1901, Sp. 1– 4, hier Sp. 3 f.

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4 Umstrittene Authentizitäten – Die Politisierung des Konzeptes der Authentizität

Theodor Herzl den Artikel Achad Haams vor Abdruck zukommen, denn es war geplant, der Kritik Achad Haams im selben Heft Theodor Herzls Entgegnung gegenüber zu stellen. Doch dieser Plan konnte aus verschiedenen Gründen nicht verwirklicht werden. Zum einen, so Leo Winz, hielt Herzl im Folgenden die Redaktion übermäßig lange hin, sodass eine Veröffentlichung in der März-Ausgabe von Ost und West unmöglich gemacht wurde.³⁰ Zum anderen leitete er den ihm vertrauensvoll von der Redaktion zugekommenen Artikel an Max Nordau weiter, mit dem Auftrag, darauf zu reagieren. Herzl legte dem Artikel, als er ihn an Nordau weiterleitete, folgende Zeilen bei: „Theurer Freund, in der Beilage finden Sie einige Tropfen Galle des ,grossen‘ Achad Haam. […] Meine erste Regung war, dem neidischen Faselhans auf den Schädel zu kloppen. Man könnte aber den gekränkten Autor in mir sehen. […] Doch scheint es mir, man müßte […] antworten auf all das geflissentliche Mißverstehen, von dem sein giftiger u. dabei so feiger Artikel strotzt. Wollen Sie in der ,Welt‘ antworten? Ich werde die Abzüge gleichzeitig an alle Parteiblätter schicken […]“.³¹ Einen Tag später sandte er an Nordau einen weiteren Brief in dieser Angelegenheit, in dem er betonte, dass „wol hauptsächlich der Hochmuth, dieser wahrlich ganz unbegründete Dünkel, u. die grelle Undankbarkeit dieser Leute zu beleuchten“ sei.³² Nachdem Herzl die von Nordau verfasste Replik zur Korrektur gelesen hatte, gab er seiner Begeisterung über Nordaus „Niedermetzelung Achad Haams“ dadurch Ausdruck, dass er schlussfolgerte, wie „wunderbar“ es sei, wie „früh“ sie sich „diese Gefechte liefern“ müssten. „Es ist nur so zu erklären: wir sind schon mittendrin im Judenstaat, ob es auch Viele noch nicht sehen. […] Der [Achad Haam – Anm. d. Verf.] mußte auf den Kopp geschlagen werden, wie Sie es mit göttlicher Grobheit gethan haben“.³³

 Vgl. Winz, Leo: Die Juden von Gestern. In: Ost und West, Nr. 4, April 1903, Sp. 217– 226, hier Sp. 220.  Siehe Herzl, Theodor: Briefe und Tagebücher. Bd. 7. Hrsg. von Alex Bein, Hermann Greive, Moshe Schaerf, Julius H. Schoeps und Johannes Wachten. Berlin [u. a.] 1996, S. 62 f.  Herzl, Briefe und Tagebücher. Bd. 7, S. 63 f.  Herzl, Briefe und Tagebücher. Bd. 7, S. 74. Aus welchem Grund Theodor Herzl auf genau diesen Artikel Achad Haams, der im Stile seiner vorangegangenen Kritiken des „politischen“ Zionismus geschrieben war, derart hart reagierte, gleichsam einen publizistischen Angriff plante, kann nicht endgültig geklärt werden. Joseph Goldstein vermutet zweierlei: Einerseits habe Achad Haam mit seiner Kritik den empfindlichsten Punkt Herzls getroffen: sein literarisches Können. Andererseits habe Herzl durch die Minsker Konferenz im Sommer 1902 seinen Status unter den Zionisten Russlands derart stärken können, dass er sich nun politisch gestärkt genug sah, um gegen Oppositionelle wie Achad Haam härter vorzugehen Vgl. Goldstein, Joseph: Ahad Ha-Am. Jerusalem 1992, S. 300 f. [Hebräisch].

4.2 Die Altneuland-Kontroverse

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Herzl beauftragte also Max Nordau, an seiner Statt zu reagieren und setzte den Plan um, diese Antwort Nordaus an zahlreiche zionistische Periodika mit der Bitte um Abdruck weiterzuleiten. Nordaus Artikel erschien daher am 13. März 1903 sowohl in der Welt als Leitartikel, als auch gleichzeitig in der Jüdischen Rundschau und in einer Vielzahl anderer Blätter, bevor überhaupt Achad Haams Artikel in deutscher Sprache erschienen war.³⁴ In seiner Antikritik entgegnete Nordau – eingebunden in eine herablassende Abfertigung Achad Haams als Menschen und Osteuropäer – auf Achad Haams Vorwurf der Europäizität und des nicht vorhandenen Jüdischseins: In der Tat: „Altneuland“ ist ein Stück Europa in Asien. Da hat Dr. Herzl genau das gezeigt, was wir wollen, worauf wir hinarbeiten.Wir wollen, dass das wiedergeeinte, befreite jüdische Volk ein Kulturvolk bleibt, so weit es dies schon ist, ein Kulturvolk wird, so weit es dies noch nicht ist.Wir ahmen dabei niemand nach, wir benutzen und entwickeln nur unser Eigentum.

 Als dieser Vorgang publik wurde, ließen kritische Stimmen nicht lange auf sich warten. In der Israelitischen Wochenschrift „unterbrach“ man bei Bekanntwerden dieses „Vertrauensbruch[s]“ gar den Artikel zum Thema (Anonym: Zionistische Bekenntnisse. In: Israelitische Wochenschrift, 27. März 1903, S. 177– 178, hier S. 178). Nordaus Satz aus seiner Antikritik, dass er sich scheue, Herzls Werke zu verteidigen, weil „gegnerische Bosheit […] über Kameraderie höhnen“ könnte und seine Hoffnung, dass sein „Freund Herzl“ ihm verzeihe, dass er sich „mit seinem Kritiker auseinandersetze“ stellte sich nun als Farce heraus (Nordau, Max: Achad-Haam über „Altneuland“. In: Die Welt, Nr. 11, 13. März 1903, S. 1– 5, hier S. 1). Der anonyme Autor kommentierte mit ironischem Ton, dass „Dr. Herzl […] hochsinnig verzeihen“ wird, „was auf seinen Wunsch geschehen“. Auch die Taktik, die Antikritik Nordaus simultan an zahlreiche Periodika zu senden, wurde verurteilt. Martin Buber schrieb, er könne zwar nachvollziehen, „dass ein Schriftsteller sich und seiner Sache die grösstmögliche Publizität wünsch[e], […] der litterarisch übliche Rahmen, dass ein Mann an seinem Platze spricht und ruhig abwartet, ob sein Wort von den dessen Wert Erkennenden nachgesprochen wird, wurde [hier jedoch] gesprengt. Aus der Antikritik wurde ein organisierter Angriff, aus der Widerlegung ein System des Vernichtenwollens“ (Buber, Martin: Zur Sache Nordau-Achad-Haam. In: Jüdische Rundschau, Nr. 17, 24. April 1903, S. 154– 155, hier S. 154). Leo Winz selbst, der Herausgeber der Monatsschrift Ost und West, äußerte sich ebenfalls in der Aprilausgabe 1903 im Leitartikel zu dieser Angelegenheit. Er beschrieb den ursprünglichen Plan, Herzl soviel Raum in derselben Ausgabe einzuräumen, wie er bräuchte, um sich zur Kritik Achad Haams zu äußern. Dass Herzl den Artikel an Nordau weitergeleitet hatte, wurde an gleicher Stelle als „ein allen Gepflogenheiten anständiger Publizistik hohnsprechender Vertrauensbruch“ bewertet. An diesem Vorgehen und den Reaktionen wird bereits klar, dass die sich nun entfachende Kontroverse den Roman Altneuland und seine Kritik weit übersteigen wird. Zahlreiche Themen kamen hervor, die verschiedene als Missstände empfundene Verhältnisse innerhalb der zionistischen Organisation betrafen. Zu weiteren Aspekten der Altneuland-Kontroverse siehe Herrmann, Manja: Das „todeswürdige Verbrechen einer Majestätsbeleidigung“. Parteidisziplin versus Meinungsfreiheit in der Altneuland-Kontroverse. In: Jewish Lifeworlds and Jewish Thought. Festschrift presented to Karl E. Grözinger on the Occasion of his 70th Birthday. Hrsg. von Nathanael Riemer. Wiesbaden 2012, S. 287– 295.

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4 Umstrittene Authentizitäten – Die Politisierung des Konzeptes der Authentizität

Wir haben an der europäischen Kultur mitgearbeitet, mehr als an unserem Teil: sie ist unser in demselben Masse wie der Deutschen, Franzosen, Engländer.Wir gestatten nicht, dass man einen Gegensatz zwischen Jüdisch, unserem Jüdisch, und Europäisch konstruiert.³⁵

Die Exklusionsmechanismen im Zuge der Konstruktion einer zionistischen Authentizität betrafen – neben den Frauen, wie im letzten Kapitel geschildert wurde – besonders Figuren wie Nordau. Er stand weder der hebräischen Sprache noch der jüdischen Tradition sonderlich nahe und bewegte sich damit fernab der von anderen zionistischen Denkern als authentisch jüdisch bezeichneten Entitäten. Nordau wehrte sich jedoch entschieden gegen die Unterscheidung zwischen „Jüdisch“ und „unserem Jüdisch“. Mit anderen Worten: Altneuland ist sehr wohl jüdisch, nur eben anders jüdisch.³⁶ Der Vorwurf der jüdischen „Unauthentizität“ sollte im weiteren Verlauf der Kontroverse vonseiten der Gegner Herzls wiederholt aufgegriffen werden. Die Tatsache nämlich, dass diese vermeintlich, laut Achad Haam, unjüdischen Zionisten, trotz ihrer verhältnismaßig kleinen Anzahl zu gewisser Macht innerhalb der zionistischen Weltorganisation gekommen waren, die den herablassenden Ton dem „Osten“ gegenüber zu rechtfertigen schien, stieß vereinzelten Zionisten bitter auf.³⁷ In Die Juden von Gestern äußerte sich Leo Winz (1876 – 1952), Herausgeber der Zeitschrift Ost und West, in dieser Angelegenheit. „[Z]wei Prinzipien“ ständen „einander gegenüber“. Und zwar [a]uf der einen Seite das kernhafte, wurzelständige, festgefügte Judentum, […] das jüdische Judentum […]. Auf der anderen Seite das Judentum von gestern, das Judentum von 1897,

 Nordau, Achad-Haam über „Altneuland“, S. 2.  Die enge Verbundenheit mit der westeuropäischen Kultur sticht hier besonders hervor, auch wenn ausgerechnet Nordau zu ihren strengsten Kritikern gehörte. Nordaus Kritik an der Emanzipation der Juden wurde bereits im 3. Kapitel dieser Arbeit besprochen. Zu seiner Kulturkritik siehe seine Werke Conventionelle Lügen der Kulturmenschheit und Entartung.  Die deutschen Zionisten waren nicht nur zahlenmäßig eine kleine Gruppe innerhalb des deutschen Judentums. Auch ihre Repräsentanz bei den Zionistenkongressen war verhältnismäßig gering. Nichtsdestotrotz war ihr Einfluss in der zionistischen Weltorganisation weitaus höher als die Statistik vermuten lässt (Vgl. Reinharz, Ideology and Structure, S. 119 f.). Die zionistische Weltorganisation hatte ihren Hauptsitz von 1905 bis 1911 zunächst in Köln, danach in Berlin, bis dieser 1920 unter Chaim Weizmann nach London verlegt wurde. Dies hatte zur Folge, dass sich das Personal der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) und der Zionistischen Weltorganisation häufig überschnitt (Ebd. und Lavsky, Before Catastrophe, S. 2– 25). Zudem fungierte in der ersten Phase des Kongresszionismus Deutsch als die „offizielle Sprache“ der Organisation. Sowohl der Kongress als auch die Sitzungen des Engeren Aktionskomitees wurden auf Deutsch gehalten und auch die offiziellen Organe der Zionistischen Weltorganisation und der ZVfD ‒ Die Welt und die Jüdische Rundschau – erschienen auf Deutsch (Ebd. S. 24). Diese politische Struktur wurde in der Altneuland-Kontroverse unmissverständlich verhandelt und politisiert.

4.2 Die Altneuland-Kontroverse

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welches seine Offenbarung auf dem Baseler Kongress empfangen hat, das Judentum von des Antisemitismus Gnaden […].³⁸

Das „Judentum von gestern“ stand für die „Westjuden“ und damit auch für deutsche Juden. Demgegenüber situierte er das osteuropäische „jüdische Judentum“, das „nie den Zusammenhang mit der Vergangenheit verloren hat“.³⁹ Nebenbei bemerkt: Ein genauerer Blick auf die Wortkombination „das jüdische Judentum“ verdeutlicht, wie sich der Authentizitätsdiskurs in sprachlicher Hinsicht manifestierte – „jüdisch“ wurde mittlerweile zum Synonym für „authentisch“. Das „jüdische“ Judentum in Osteuropa zu verorten, verstärkte hier mit Nachdruck die Authentifizierung des als „ostjüdisch“ stilisierten Judentums. Diese Tendenz zeigte sich auch in Gerschom Scholems Tagebucheinträgen, wo er den Begriff „jüdisch“ als Synonym für „authentisch“ verwendete. Als ein Beispiel sei seine Forderung herausgegriffen, dass der Zionismus „nicht deutsch […] oder französisch oder englisch oder sonstwie, sondern jüdisch!“ sein solle.⁴⁰ Die Reaktion auf den Angriff Herzls auf Achad Haam war demnach die Aberkennung Herzls jüdischer Authentizität. Leo Winz führte diesen Punkt in seinem Artikel Die Juden von Gestern weiter aus: Und wir erleben die seltsame Erscheinung, dass diese letztere Sorte von Judentum immer dreister das Haupt erhebt, sich mit gewichtiger Miene breit macht und immer lauter den Ton angeben will – alles verfolgend und verhöhnend, was es nicht versteht, hassend, was es nicht begreifen und darum auch nicht lieben kann. […] [Jene] wollen über uns das Szepter schwingen und uns vorschreiben, wie unser Ideal und unser Glaube beschaffen zu sein haben.⁴¹

So wurde das Vorgehen Herzls und Nordaus zum Anlass, die politische Machtstruktur der zionistischen Organisation zu hinterfragen. In einem Brief an Herrn Dr. Friedemann in Wiesbaden vom 15. August 1903 griff Winz diesen Gedanken erneut auf. Dort vermutete er, „dass die Entgegnung Nordaus anders ausgefallen wäre, wenn Achad Haam nicht der minderwertige Russe wäre“.⁴² Als Herausgeber der Zeitschrift Ost und West vertrat Winz die Ansicht, dass der Grund, warum Herzl ungefragt den vertrauensvoll an ihn zugesandten Artikel Achad Haams an Nordau weiterleitete, „wiederum in der geringen Taxierung des östlichen Juden“ bestand,

 Winz, Leo: Die Juden von Gestern. In: Ost und West, Heft 4, April 1903, S. 217– 226, hier Sp. 223. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Winz, Die Juden von Gestern, Sp. 223.  Scholem, Tagebücher. 1. Halbband, S. 134.  Winz, Die Juden von Gestern, Sp. 224.  Brief Leo Winz an Dr. Friedemann, CZA A8/24, [S. 5].

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4 Umstrittene Authentizitäten – Die Politisierung des Konzeptes der Authentizität

„dem gegenüber die sonst geltenden Regeln […] nicht in Anwendung gebracht zu werden brauchen“. In anderen Worten: Winz war der Überzeugung, „dass Hr. Dr. Herzl in dem gleichen Falle, dem westeuropäischen Redacteur einer grossen Zeitung sehr höfl. geantwortet hätte“.⁴³ Und hier setzt die Principien-Frage ein, der Protest gegen die Auffassung, dass die westlichen Zionisten den östlichen mit dem Gebahren des Protectors seinem Protegé gegenüber, entgegentreten, dass der Westen nur der Gebende, der Osten der Empfangende ist, dass die Zionisten des Westens die Hoch- und Höherstehenden in Cultur und Anschauung sind, welche sich zu den östlichen herablassen.⁴⁴

„Dies“ so ergänzte er, sei „wohlverstanden […] niemals ausgesprochen worden“.⁴⁵ Die stetig wachsende Anzahl an Reaktionen zeigt deutlich, wie sehr sich die Kontroverse von der eigentlichen Kritik Achad Haams an Altneuland entfernt hatte. Andere, dringlichere Themen hatten am Artikel und an der Wortwahl Nordaus jenes Ventil gefunden, das ihren Meinungen zu einem Weg an die Öffentlichkeit verhalf. Leo Winz war übrigens nach diesen Äußerungen in den zionistischen Kreisen unwillkommen, trotz eines Entschuldigungsbriefes an Max Nordau.⁴⁶ Die taktische „Deauthentifizierung“ des Herzl’schen Jüdischseins und Zionismus lässt sich anhand eines weiteren Beispiels aus dem Repertoire Achad Haams anschaulich illustrieren. Der folgende Ausspruch wurde in der Forschung oftmals Achad Haam zugesprochen, doch in Wirklichkeit zitierte er hier – man mag es kaum glauben – einen deutschen Reformrabbiner. Genauer gesagt handelt es sich um ein Zitat aus einer Rede des Rabbiners Caesar Seligmann (1860 – 1950), die in den Populär-wissenschaftlichen Monatsblättern abgedruckt wurde:⁴⁷ Warum wir Juden sind? Törichte Frage! Frage das Feuer, warum es brennt! […] Wir können nicht anders! Es ist in uns ohne unser Zutun! Es ist da, urlebendig und gottesgewaltig! […] Aber nicht die jüdische Überzeugung, nicht die jüdische Lehre, nicht das jüdische Bekenntnis ist das Erste, das Primäre, das Erweckende, sondern das jüdische Empfinden, das

 Brief Leo Winz an Dr. Friedemann, CZA A8/24, [S. 6].  Brief Leo Winz an Dr. Friedemann, CZA A8/24, [S. 6/7].  Brief Leo Winz an Dr. Friedemann, CZA A8/24, [S. 7].  Vgl. Brenner, Marketing Identities, S. 39.  Seligmann, Caesar: Warum sind wir Juden? In: Populär-wissenschaftliche Monatsblätter zur Belehrung über das Judenthum für Gebildete aller Confessionen. Organ des Mendelssohn-Vereins in Frankfurt a. M., Nr. 1, 1. Januar 1898, S. 1– 4.

4.2 Die Altneuland-Kontroverse

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Instinktive, nennt’s, wie ihr wollt, nennt’s Gemeinschaft des Bluts, nennt’s Stammesgefühl, nennt’s Volksseele, am liebsten aber nennt’s: das jüdische Herz.⁴⁸

Mit anderen Worten, jeder Mensch, der als Jude geboren wurde, sei „ohne sein Zutun“ Jude, da er schließlich über ein „jüdisches Herz“ verfüge. Beim Jüdischsein geht es laut Seligmann hier nicht mehr um ein „Bekenntnis“, sondern um ein „Empfinden“. Auch nicht-religiöse Juden seien demnach Juden, da sie Teil der jüdischen Gemeinschaft des Blutes seien, Stammesgefühl hätten oder auch eine Volksseele teilten – kurzum, über ein „jüdisches Herz“ verfügten. Nationales Jüdischsein sei demnach eine sich in einzelnen Juden über die Empfindung manifestierende Entität. In Achad Haams Kritik an Altneuland wird deutlich, inwiefern er diese Aussagen zum „Geborenwerden als Jude“ relativierte. Herzls Utopie, auch wenn er selbst Jude war und als Jude seine Vision eines jüdischen Altneulands formulierte, war laut Achad Haam nicht „jüdisch“. Sie entbehrte seiner Meinung nach jeglicher Originalität und damit auch – in seiner Sicht – jeder jüdischen Authentizität. Achad Haam zitierte diesen Ausspruch nicht ohne ihm eine bestimmte Note zu geben. Er fand, dass sein Weltbild viele Gemeinsamkeiten mit dem des deutschen Reformabbiners habe, da es mit ihm ein „gemeinsames Arbeitsfeld in den Ländern des Exils“ gebe. Darüber hinaus ständen ihm solche Juden „geistig näher als jene neuen Zionisten, die mit dem Ende angefangen haben, deren ganzer Nationalismus von der Gründung eines Judenstaates“ abhängig sei. Achad Haam fügte hinzu: Und darum wiederhole ich hier, daß wir östlichen Zionsfreunde [‫ חובבי ציון המזרחיים‬,‫ ]אנו‬es jenen Zionisten nicht gleichtun dürfen, die an dem bekannten Grundsatze festhalten: „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“. Unser Nationalismus ist viel weiter als der ihrige und hat Raum für viele und vielfältige Tätigkeit. Wer nicht mit uns auf einem Arbeitsgebiete tätig ist, der kann es wohl auf einem anderen sein. Nicht die Übereinstimmung in der praktischen Durchführung einer Methode verbindet Menschen innerlich und wirklich [‫]קשר פנימי ואמיתי‬, sondern die Einheit der geistigen Wurzel [‫]אחדות השורש הרוחני‬, der alles entstammt. […] [U]nd wir sagen nun in unserem Sinne: „Wer von der Assimilation sich losgesagt, hat gleichsam der ganzen zionistischen Lehre beigepflichtet“. Wenn das „Ich“ da ist – ist alles da.⁴⁹

 Der Artikel Seligmanns wurde zitiert in Achad Haam: Drei Stufen. In: Am Scheidewege. Band 2. S. 102– 115, hier S. 107. Hebräisches Original: ‫[ שלש מדרגות‬Schalosch madrigot]. In: Al paraschat drachim. 2. Band, S. 57– 65, hier S. 60 f.  Achad Haam, Drei Stufen, S. 115 (Hebräisch: S. 65).

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4 Umstrittene Authentizitäten – Die Politisierung des Konzeptes der Authentizität

Es ist bemerkenswert, dass Achad Haam es bevorzugt, anstelle eines deutschen Zionisten, einen deutschen Reformrabbiner zu zitieren. Im Gegensatz hierzu sei an die Haltung der deutschen Zionisten erinnert, die gerade die Reformbewegung für den Verfall des Authentischen verantwortlich machten. Die authentische jüdische Volksgemeinschaft verortete Achad Haam im „Osten“. Er sah einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der „östlichen“ Variante des Zionismus, die den Einzelnen den Bestrebungen der jüdischen Nation und letztendlich Menschheitserlösung unterordneten, und einem „westlichen“ Zionismus, der losgelöst von der jüdischen Tradition agiere: [Die] […] östliche moralische Not ist aber von der westlichen vollständig verschieden. Im Westen ist sie eine Not der Juden, im Osten eine des Judentums; jene trifft das Individuum, diese – die Nation [‫ וזו – לב האומה‬,‫ ;]זו מכאיבה לב האדם‬jene fühlen die Juden, die im Geiste der Fremdvölker erzogen wurden, diese – diejenigen, die im Schoße des Judentums aufgewachsen sind; jene ist eine Folgeerscheinung des Antisemitismus, durch dessen Existenz auch ihre bedingt ist, diese – das natürliche Resultat eines wirklichen Zusammenhanges mit einer tausendjährigen Kultur […] [‫]תולדה טבעית של קשר אמתּי עם קולטורא של אלפי שנה‬.⁵⁰

Achad Haam versuchte also, das „östliche“ Judentum und die „östliche“ Zionsliebe zu authentifizieren. „Natürlich“ und mit „wirklichem Zusammenhang“ sei der „östliche“ Zionismus, da er nicht aufgrund von äußerlichen Bedingungen wie dem Antisemitismus entstanden sei. Seine Aussage, im „Westen“ gebe es jüdische Individuen, im „Osten“ sei hingegen die lebendige jüdische Nation vorzufinden, verdeutlicht seine abwertende Haltung gegenüber dem „Westen“ abermals. Solch radikale Äußerungen müssen jedoch hinterfragt werden, da sich die jüdische Situation in Osteuropa wohl kaum derart „national“ und „jüdisch“ gestaltete, wie es Achad Haam – oder auch Leo Winz – hier zu präsentieren versuchten. Ebenso wie im „Westen“ prägten unterschiedlichste Gruppierungen und Ideale das Bild der Juden Russlands und Polens. Wie Israel Bartal zeigte, stellten jüdischer Nationalismus und Massenemigration – die wohlgemerkt größtenteils Industriemetropolen in den USA und nicht Palästina zum Ziel hatten – lediglich zwei Reaktionen auf die Pogrome von 1881– 1882 dar. Denn selbst „nach den Pogromen von 1881– 1882 bemühten sich einige jüdische Gruppen weiterhin um eine Integration in die imperialen Kulturen“.⁵¹ Und so bestanden parallel zu den

 Achad Haam: Judenstaat und Judennot. In: Am Scheidewege. Band 2, S. 45 – 67, hier S. 55. Hervorhebung d. Verf. Hebräisch: „‫[ מדינת היהודים ו“צרת היהודים‬Medinat ha-jehudim we „zarat hajehudim“]. In: Al paraschat drachim. 2. Teil. Berlin 1921, S. 22– 35 hier S. 28.  Bartal, Israel: Geschichte der Juden im östlichen Europa 1772– 1881. Göttingen 2010, S. 12. Siehe hierzu auch Shumsky, Leon Pinsker and „Autoemancipation!“, S. 33 – 62, hier S. 36 – 38.

4.2 Die Altneuland-Kontroverse

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„separatistischen Tendenzen“ weiterhin eine „russisch-jüdische Kultur, polnischsprachige Werke jüdischer Autoren“ und „Bestrebungen nach gesellschaftlicher Integration“.⁵² Darüber hinaus gab es zahlreiche Verbindungen zur, und Gemeinsamkeiten mit den nicht-jüdischen Gesellschaften.⁵³ Die Teilung in „Ost“ und „West“ funktionierte eben auch in der Frühzeit des Zionismus nicht: So erfuhren während der Altneuland-Kontroverse sowohl Achad Haam als auch Theodor Herzl trotz ihrer Stilisierung zu Repräsentanten von „Ost“ und „West“ gleichermaßen Kritik aus West- und aus Osteuropa auf Hebräisch, Jiddisch und Deutsch. Inwiefern „Ost“ und „West“ problematische analytische Kategorien waren und sind, haben bereits zahlreiche Forschungsarbeiten zum Zionismus gezeigt.⁵⁴ Für den deutschen Zionismus wurde dahingehend argumentiert, dass gerade der Diskurs zwischen „Ost“ und „West“ aufgrund

 Bartal, Geschichte der Juden im östlichen Europa, S. 12.  Vgl. Bartal, Geschichte der Juden im östlichen Europa, S. 171.  Für den jüdischen Kontext sind hier allen voran Steven E. Aschheim und sein Klassiker Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German-Jewish Consciousness 1800 – 1923 zu nennen, wo Aschheim den „Ostjuden“ als „Idee“ und „symbolisches Konstrukt“ (S. 3) und als „Bild“ beziehungsweise „Stereotyp“ (S. 11) dechiffriert. Jack Wertheimer kritisierte diese Herangehensweise und widmete sich in seiner Studie dem tatsächlichen Verhalten von deutschen gegenüber den osteuropäischen Juden, welches nicht immer negativ war, sondern auch sehr positiv und unterstützend (Vgl.Wertheimer, Jack: Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany. New York/Oxford 1987). Mit ebenso historischem Ansatz siehe Trude Maurer (Ostjuden in Deutschland 1918 – 1933. Hamburg 1986) und Salomon Adler-Rudel (Ostjuden in Deutschland 1880 – 1940. Zugleich eine Geschichte der Organisationen, die sie betreuten. Tübingen 1959). Mittlerweile ist in diesem Zusammenhang auf Edward Saids Studie Orientalismus (Frankfurt a. M. 2009) (engl. Original von 1978) hinzuweisen, ebenso wie auf David A. Brenners Buch über Marketingstrategien der Zeitschrift Ost und West (Marketing Identities. The Invention of Jewish Ethnicity in „Ost und West“. Detroit 1998) und Ivonne Meybohm: David Wolffson. Aufsteiger, Grenzgänger, Mediator. Eine biographische Annäherung an die Geschichte der frühen Zionistischen Organisation (1897– 1914). Göttingen 2013, S. 57– 76, die darstellt, wie Wolffson als Mittler zwischen diesen Positionen fungierte. Besonders zentral für dieses Thema ist die Studie von Malgorzata A. Maksmiak zu den galizischen Zionisten (Mental Maps im Zionismus. Ost und West in Konzepten einer jüdischen Nation vor 1914. Bremen 2015). Unter Anwendung der Theorie der „Mental Maps“ wies Maksymiak in ihrer Studie nach, inwiefern es sich bei „Ost“ und „West“ – neben kulturellen – auch um politische und soziale Differenzkategorien handelte. Adi Gordon arbeitete in diesem Zusammenhang zu Hans Kohn: The Need for West. Hans Kohn and the North Atlantic Community. In: Journal of Contemporary History 46.1 (2011), S. 33 – 57. Für das Phänomen des Pan-Asiatismus im Zionismus siehe Harif, Hanan: Asiatic Brothers, European Strangers. Eugen Hoeflich and „Pan-Asian Zionism“ in Vienna. In: Against the Grain. Jewish Intellectuals in Hard Times. Hrsg. von Ezra Mendelsohn, Richard Cohen und Stefani Hoffman. New York 2013, S. 171– 185 und Harifs Dissertation: ‫אסייתיות בשיח הציוני‬-‫שמיות ופאן‬-‫פאן‬, ’‫’תחיית המזרח‬. Jerusalem 2013.

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4 Umstrittene Authentizitäten – Die Politisierung des Konzeptes der Authentizität

der geo-kulturellen Lage Deutschlands einen entscheidenden Faktor darstellt, wie beispielsweise Guy Miron kürzlich im ersten Band von ‫ הציונות לאזוריה‬darstellte.⁵⁵ A propos: Die Haltungen deutscher Zionistinnen und Zionisten gegenüber dem „Osten“ könnten unterschiedlicher nicht sein. Der „Osten“, wie wir gesehen haben, wurde gleichsam als geo-kultureller Raum des „Authentischen“ konstruiert, auf welchen frühe Nationaljuden wie Moses Hess oder Wilhelm Herzberg genauso verwiesen, wie Martin Buber, Kurt Blumenfeld oder Gerschom Scholem. Neben dieser romantisierenden Sicht hatten zusätzlich negative orientalistische Töne wie Nordaus Bestand, die den „Osten“, die „Ostjuden“ und „Ostzionisten“ mit Rückständigkeit und anderen pejorativen Assoziationen darstellten.⁵⁶ Diese Auffassung hatte ihre Tradition im deutsch-jüdischen Diskurs des 19. Jahrhunderts, in dem versucht wurde, durch eine klare Abgrenzung vom als „anti-modern“ klassifizierten „Ostjuden“ die eigene „Modernität“ hervorzuheben.⁵⁷ Doch selbst die Meinungen zum „Westen“ gestalteten sich im deutsch-zionistischen Diskurs sehr ambivalent – ein Faktum, das in der Forschungsliteratur gerne ignoriert wird. Zum einen lässt sich eine dezidiert kritische Haltung erkennen, die sich in der Infragestellung der Moderne, moderner Errungenschaften wie der Emanzipation, der „Assimilation“, oder des bürgerlichen Bildungsideals manifestierte, die manche Forscher als Gegenpart des „Orientalismus“ als „Okzidentalismus“ klassifizierten.⁵⁸ So rebellierten vor allem die Vertreter der zweiten Generation gegen ein bestimmtes deutsches – und damit auch westliches – Bürgertum, welches ihre Eltern und die älteren Zionisten für sie repräsentierten.⁵⁹ Zum anderen wird von zionistischer Seite häufig auf die Verbundenheit zur deutschen Sprache und Kultur verwiesen, oftmals mit der Hoffnung, dass diese Verbundenheit erhalten bleibe und sich auch im Palästina der Zukunft widerspiegeln werde.

 Miron, Guy: ‫ על הדרך המיוחדת בין מזרח למערב‬:‫[ ציונות ולאומיות יהודית בגרמניה‬Zionut we-leʼumiut jehudit be-Germanja: Al ha-derech ha-mejuchedet bejn misrach le-maʻarav]. In: .‫הציונות לאזוריה‬ .‫תרבותיים‬-‫[ היבטים גאו‬Ha-Zionut le-ʼesoreiha. Hebetim geʼo-tarbutiim]. Hrsg. von Elon Gal. Band 1. Jerusalem 2010, S. 281– 339.  Zu den verschiedenen pejorativen Assoziationen mit dem „Orient“ und dem „Osten“ siehe Maksymiak, Mental Maps im Zionismus, S. 57– 86.  Vgl. Aschheim, Brothers and Strangers, S. 3 – 31.  Zum Okzidentalismus siehe: Buruma, Ian und Avishai Margalit: Occidentalism. The West in the Eyes of its Enemies. New York 2004.  Vgl. Hackeschmidt, Jörg: Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung einer jüdischen Nation. Hamburg 1997.

4.2 Die Altneuland-Kontroverse

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Auch an der Uganda-Debatte lässt sich die taktische Politisierung des Konzeptes der Authentizität veranschaulichen.⁶⁰ In dieser Kontroverse spitzte sich die Kritik an den deutschen Zionisten zu, keine authentischen Zionisten zu sein.⁶¹ Die Uganda-Kontroverse kreiste bekanntlich um das Angebot der englischen Regierung, genauer Joseph Chamberlains, den Zionisten das Plateau Guas Ngishu in der Nähe von Nairobi in Ostafrika – also eigentlich nicht „Uganda“ – für ihre Ansiedlung zur Verfügung zu stellen. Die Mehrzahl der deutschen Zionisten unterstützten zunächst Herzl in seinen Plänen, eine erste Expedition durchzuführen, mit der Absicht, die englische Regierung ob ihres Angebots nicht zu verärgern. Dies brachte ihnen viel Kritik vonseiten der ‫ציוני ציון‬ein, also jener Zionisten, die für Palästina als einziges Auswanderungsland optierten und die unter der Führung von Menachem Ussischkin die Charkow-Konferenz abhielten, um den Widerstand gegen die Entscheidung des Kongresses, eine Expedition nach Ostafrika zu starten, zu organisieren. Im Rahmen der Uganda-Debatte wurde der Vorwurf laut, die „westlichen“ Zionisten betrieben mit ihrer politischen Ausrichtung lediglich einen „Rachmones-Zionismus“. Emil Simonsohn wehrte sich in der Jüdischen Rundschau gegen den Vorwurf, „dass, wer das britische Angebot auch nur diskutiert, schon ein Territorialist sei und im Zionismus nichts zu suchen habe“.⁶² Aber gerade gegen diese seit dem VI. Kongress sich immer wiederholenden Übergriffe richteten sich meine Äusserungen, dass eine Verständigung nur auf dem Boden der Gleichberechtigung möglich sei, dass nicht eine Gruppe sich a priori das Recht vindiziere, zu entscheiden, was als echter Zionismus zu gelten habe. ⁶³

Adolf Friedemann spitzte dies – auch in der Jüdischen Rundschau – in seinem Artikel „Vertrauen“ zu, wo er bemerkte, dass die deutschen Zionisten „mit Staunen und Bedauern“ von den russischen Zionisten „ein Misstrauen gegen alles […] was von Westen kommt“ bemerken, und er zog die ironische Schlussfolgerung:⁶⁴

 Die Uganda-Kontroverse wurde besonders ausführlich von Michael Heymann dargestellt. Siehe Heymann, Michael (Hrsg.): The Uganda Controversy. 2 Bände. Jerusalem 1970. Siehe auch Eloni, Zionismus, S. 172– 184.  Vgl. Eloni, Zionismus, S. 176.  Simonsohn, Emil: Zur Ostafrikafrage. In: Jüdische Rundschau, Nr. 17, 7. April 1905, S. 154– 156, hier S. 154.  Simonsohn, Zur Ostafrikafrage, S. 154. Hervorhebung d. Verf.  Friedemann, Adolf: Vertrauen. In: Jüdische Rundschau, Nr. 17, 29. April 1904, S. 1– 2, hier S. 1. Vgl. hierzu auch Eloni, Zionismus, S. 176.

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4 Umstrittene Authentizitäten – Die Politisierung des Konzeptes der Authentizität

Der Mann, der den Kongress geschaffen, Nordau, Zangwill, wir alle selbst, die wir seit langen Jahren uns manche Wunde im ehrlichen Kampf geholt – wir alle sind keine „reinen“ Zionisten! Nur jenseits der Weichsel hat man die Fähigkeit, die Idee voll zu fassen!⁶⁵

4.3 Die Oppenheimer-Debatte Die Oppenheimer-Debatte liefert weitere Indizien für die Authentifizierung des jüdischen „Ostens“. Diese Tendenz, die schließlich im von Steven E. Aschheim so bezeichneten „Kult des Ostjuden“ gipfelte,⁶⁶ führte simultan zur diskursiven „Deauthentifizierung“ des Jüdischseins der deutschen Zionisten. Vor allem letzteres wurden in den bisherigen Darstellungen der Kontroverse weitgehend ignoriert.⁶⁷ Als Auslöser der Debatte gilt Oppenheimers Artikel „Stammesbewußtsein und Volksbewußtsein“, allem voran jedoch die berühmte Aussage: „Wir Westeuropäer stehen dem zionistischen Ideal anders gegenüber als die Osteuropäer!“⁶⁸ Er relativierte seine Aussage unmittelbar, indem er fortfuhr: „Wenigstens im Durchschnitt. Denn natürlich gibt es alle Übergänge und Abschattungen hüben und drüben, so daß mancher Ostjude ganz in dem Sinne Zionist sein mag wie das Gros der Westjuden, und umgekehrt“. Und doch bestehe „im großen und ganzen“ ein wesentlicher „Unterschied“. Laut Oppenheimer hätten die „Westjuden“ nämlich „jüdisches Stammesbewußtsein“, und „die Ostjuden“ hätten „jüdisches Volksbewußtsein“.⁶⁹ Damit meinte er, dass „Westjuden“ sich zwar auf ihre jüdische Abstammung berufen würden, jedoch beispielsweise deutsches Nationalbewusstsein besäßen.⁷⁰ Somit sei „grundsätzlich […] jeder Westjude, der noch Jude heißen will, Zionist“.⁷¹ In Osteuropa hingegen würden sich die Juden in ein „jüdisches“ Volksbewusstsein und nicht in das Volksbewusstsein ihrer Umgebung eingliedern.⁷²

 Friedemann, Vertrauen, S. 1. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Vgl. Aschheim, Brothers and Strangers, besonders S. 185 – 214.  Vgl. beispielsweise Reinharz, Fatherland or Promised Land, S. 128 – 134.  Oppenheimer, Franz: Stammesbewußtsein und Volksbewußtsein. In: Die Welt, Nr. 7, 18. Februar 1910, S. 1– 5, hier S. 1. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Oppenheimer, Stammesbewußtsein und Volksbewußtsein, S. 1. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Oppenheimer, Stammesbewußtsein und Volksbewußtsein, S. 1.  Oppenheimer, Stammesbewußtsein und Volksbewußtsein, S. 4. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Oppenheimer, Stammesbewußtsein und Volksbewußtsein, S. 1 f. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.

4.3 Die Oppenheimer-Debatte

149

So führten diese unterschiedlichen Grundvoraussetzungen auch zu einem unterschiedlichen Verständnis des Zionismus. Des weiteren argumentierte Oppenheimer, dass ihm mit dieser „westeuropäischen“ Sicht die Bezeichnung „Zionist“ oftmals aberkannt werde. Dies sei „natürlich falsch“, schließlich wolle er „eine öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und seinen Nachbarländern“ und sei deshalb „Zionist“.⁷³ Den Angriff, den Oppenheimer in der Geringschätzung seines Zionismus sah, kommentierte er folgendermaßen: Man sagt oft, der zionistische Idealismus sei nur in Osteuropa zu finden. Umgekehrt wird ein Schuh daraus! Wir Westler sind die Idealisten! Die Östler wollen etwas für sich […] – aber wir wollen nichts für uns […]! Für diese Idee tragen wir geduldig den Hohn und Spott unserer Volksgenossen und oft genug unserer Glaubensgenossen […]. Auch das müssen endlich unsere östlichen Brüder zu verstehen und zu verzeihen lernen. Und zwar nicht nur, weil wir ehrliche Mitarbeiter sind, sondern weil sie uns unsere Arbeit auf das äußerste erschweren, wenn sie ihre besondere Stellung zum zionistischen Problem als die einzig mögliche, die einzig berechtigte ausrufen. Wir brauchen, sie selbst brauchen westjüdische Intelligenz und westjüdisches Kapital dringendst für das Werk ihrer Befreiung, ihrer Menschwerdung. Und sie stoßen beides zurück durch die Art ihrer Propaganda.⁷⁴

Oppenheimer findet hier klare Worte für den „Hohn“ und den „Spott“, den die deutschen Zionisten zu ertragen hätten. In diesem Zitat wird jedoch auch deutlich, wie er sich die Rollenverteilung im Zionismus vorstellte – und diese ist eindeutig Teil des orientalistischen Diskurses. Seiner Einschätzung nach bräuchten nämlich die „Ostjuden“ die „westjüdische Intelligenz“ und „westjüdisches Kapital“, um überhaupt ihre „Menschwerdung“ realisieren zu können. So schreibt er weiter: Mutet den amerikanischen, kanadischen, südafrikanischen, englischen, französischen, belgischen, holländischen, selbst den preußischen Juden zu, Nationalbewußtsein im Sinne des Ostjudentums zu haben, d. h. sich nur als Juden, als Nationaljuden und Kulturjuden zu betrachten, – und die meisten weisen euch entrüstet die Türe! Und mit Recht! Länder der Zuflucht sind ihnen oder ihren Vätern ihre Vaterländer gewesen, haben ihnen Sprache und Sitte, Wohlstand und Bildung, staatliche Gleichberechtigung und oft genug volle oder fast volle bürgerliche Gleichberechtigung gegeben. Ein schlechter Mensch, ein unnatürlicher Mensch, wer das vergessen kann! Was wahrhaft lebendig ist, schlägt Wurzel, wo es lebt […]!⁷⁵

 Oppenheimer, Stammesbewußtsein und Volksbewußtsein, S. 2.  Oppenheimer, Stammesbewußtsein und Volksbewußtsein, S. 4. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Oppenheimer, Stammesbewußtsein und Volksbewußtsein, S. 4. Hervorhebung d. Verf.

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4 Umstrittene Authentizitäten – Die Politisierung des Konzeptes der Authentizität

Mit dem letzten Satz verwies Oppenheimer auf die Parole der „Wurzellosigkeit“, die von Blumenfeld und anderen Vertretern der sogenannten zweiten Generation geprägt wurde. Ebenso zeigt sich hier, inwieweit Oppenheimers Haltung als Teil der sogenannten ersten Generation zu verstehen ist. Bereits in den Ausführungen zur subjektiven Authentizität, die im vorigen Kapitel besprochen wurde, wurde deutlich, dass Oppenheimer keinen Widerspruch zwischen der jüdischen und der deutschen Kultur sah. In seinem Artikel spricht Oppenheimer den Wunsch aus, diese Haltung innerhalb der zionistischen Bewegung zu etablieren: Wenn wir so sprechen, so sprechen dürfen, sicher, daß uns die Östler nicht dementieren, sicher vor den Scheltworten: „Assimilanten! Chauvinisten! Philozionisten!“ usw.; wenn wir so sprechen dürfen, unter dem Beifall und dem Verständnis der Ostjuden, dann ist unsere Propaganda ein Kinderspiel und ihr Erfolg gesichert. Solange sie aber nur denjenigen als Zionisten, ja Juden anerkennen, der die Psychologie des russischen Paria hat oder sich autosuggeriert, – solange werden wir nicht nur (worauf nichts ankommt), persönlich zu leiden haben, weil wir zwischen Baum und Borke stehen, sondern wir werden auch mit unserer Werbearbeit nicht vorwärts gelangen. Und darauf kommt allerdings sehr viel an!⁷⁶

Die ausführlichste Reaktion auf Oppenheimers Schrift wurde von Berthold Feiwel (1875 – 1937) verfasst. Feiwel stimmte Oppenheimer zwar zu, dass „Westjuden“ sich durch die soziologische Determinierung von „Ostjuden“ unterscheiden würden. Dies sei schließlich eine „Tatsache“.⁷⁷ Oppenheimers Kulturhierarchie gegenüber Russland und Polen hielt er jedoch kritisch entgehen, dass es nicht haltbar sei, den „Ostjuden“ osteuropäische „Barbarei“ vorzuwerfen. Denn der Ausdruck „Barbarei mit seinen mitschwingenden Tönen von Pogrom, Knute, Sibirien“ lenke „in verwirrender und sachlich durchaus unbegründeter Weise von der Kultur-Sphäre in die der Humanität oder Zivilisation ab“.⁷⁸ Er fügte hinzu: „Man mag die russische Kultur so niedrig bewerten, wie man will – europäischen Rang wird man der Kultur der Dostojewski und Tolstoi nicht absprechen“.⁷⁹ Des Weiteren bemängelte Feiwel die Darstellung Oppenheimers, der Zionismus im Osten sei ein „Muss-Zionismus“, und schrieb, dass „weder […] bei den Ostjuden zum Unterschied von den Westjuden ein ,Muss‘ […] für ein Kulturjudentum, erzwungen durch den Tiefstand anderer Kulturen, noch ein ,Muss‘ für Nationalju-

 Oppenheimer, Stammesbewußtsein und Volksbewußtsein, S. 5.  Der Artikel von Berthold Feiwel erschien in drei Teilen. Teil 1: Feiwel, Berthold: Zweifacher Zionismus. In: Jüdische Rundschau, Nr. 9, 4. März 1910, S. 1– 2, hier S. 2.  Feiwel, Berthold: Zweifacher Zionismus (Fortsetzung). In: Jüdische Rundschau, Nr. 10, 11. März 1910, S. 1– 3, hier S. 1. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Feiwel, Zweifacher Zionismus (Fortsetzung), S. 1.

4.3 Die Oppenheimer-Debatte

151

dentum und Zionismus“ vorliege.⁸⁰ Zu dem von Oppenheimer attestierten „Stammesbewusstsein“ bei den „Westjuden“ äußerte sich Feiwel folgendermaßen: Oppenheimers Stammbewusstsein geht auf Gewesenes; es ist eine Erinnerung an eine glorreiche, aber tote Vergangenheit. Es ist eine Abstraktion des Jüdischen. Da ist der Grundirrtum. Denn das Vergangene lebt, das Jüdische wirkt im Gegenwärtigen. Jedes jüdische Individuum bringt a priori eine spezifisch physiologisch-psychologische Disposition mit. Unbeschadet aller Meinungsverschiedenheiten der Rassentheoretiker, kann man das als Tatsache, als Wahrheit behaupten. Dieses Instinktiv-Jüdische hat sich mit der Umwelt auseinanderzusetzen. Es wirkt auf sie und wird von ihr beeinflusst. So eine jüdische Gemeinschaft, und sei es auch eine unvollkommene oder rudimentäre, existiert wie im Osten […].⁸¹

Ein bloßes „Stammesbewußtsein“ im Sinne von Oppenheimer werde dem stets lebendigen Judentum nicht gerecht werden. Dieses Judentum lebe in jedem einzelnen Juden, als „physiologisch-psychologische Disposition“ beziehungsweise Vorprägung. Den jüdischen Nationalismus von „West“ und „Ost“ wie auch die unterschiedlichsten Strömungen und Haltungen versuchte Feiwel im Weiteren durch rassentheoretische Herleitungen zu vereinen – nicht jedoch, ohne zuvor eine lange Liste der unterschiedlichen Strömungen aufzuzählen: „Renegaten“, „Assimilanten sans phrase“,⁸² „Kosmopoliten“, „Individualisten“, „Indifferente“, „Konfessionelle“, „Liberale“, „Stammesjuden (im Sinne Oppenheimers)“, „Religiöse“, „Golus-Nationale“, „Kulturnationalisten“, „Kulturzionisten“, „Territorialisten“ und „politische Zionisten“ […].⁸³ „Wo setzt da der jüdische Nationalismus an?“ fragte Feiwel rhetorisch. In seiner Antwort kristallisierte sich seine Vision des vereinenden Moments der Nation heraus. Nicht nur der Erhalt des „JüdischEigenartigen“ stünde an erster Stelle. Vielmehr setze der Nationalismus dort an, wo sich „die persönliche Zwecksetzung mit der einer gleichstrebenden jüdischen Gemeinschaft“ verbindet.⁸⁴ Oppenheimers Zionismus hingegen würde diese Bedingung nicht erfüllen. In Feiwels Worten: Der auf jüdisches Stammesbewusstsein gegründete und zugleich deutsches Volksbewusstsein und Kulturbewusstsein in sich schliessende Zionismus Oppenheimers, der, altruistisch gestimmt, helfen will, dessen Existenz also mit dem Ende oder der Überflüssigkeit der Hilfe

 Feiwel, Zweifacher Zionismus (Fortsetzung), S. 2.  Feiwel, Zweifacher Zionismus (Fortsetzung), S. 2. Hervorhebung d. Verf.  Französisch: ohne Umschweife, direkt  Feiwel, Zweifacher Zionismus (Fortsetzung), S. 2.  Feiwel, Zweifacher Zionismus (Fortsetzung), S. 2. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.

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4 Umstrittene Authentizitäten – Die Politisierung des Konzeptes der Authentizität

abgeschlossen ist, der für das Individuum eine andere Zukunft setzt als für das Volksganze, ist kein Zionismus. ⁸⁵

Auch hier ist klar ersichtlich, wie der betonte Individualismus an die Bedingung geknüpft ist, sich selbst als Teil der jüdischen Nation zu begreifen. Paradoxerweise war es ausgerechnet Max Nordau, der in seiner Reaktion auf Oppenheimer vor allem auf die Einheit der zionistischen Bewegung hinwies. So merkte er an: „Ich weiß nicht, was Sie mit jenem Gegensatz meinen. Ich sehe ihn nicht. Ich empfinde ihn nicht und habe ihn nie empfunden“.⁸⁶ Auch Leo Estermann widersprach Oppenheimers These, es gebe unterschiedliche Qualitäten von Zionisten: Daß ein Oppenheimer, der bis auf das Knochenmark mit deutscher (oder, wie ich lieber sagen möchte: europäischer) Kultur durchtränkt ist, den hundert materielle und geistige Bande mit dem deutschen Volke verknüpfen, nicht in einer Selbsttäuschung befangen ist, wenn er von sich sagt, er habe nur noch jüdisches Stammesbewußtsein, erscheint mir ebenso zweifellos, wie daß Rabbiner Reines aus Lida während seines ganzen Lebens nicht einen Augenblick lang ein anderes als jüdisches Volksbewußtsein gehabt hat. Allein zwischen diesen Polen liegt eine lange Skala von Bewußtseinsnuancen […]. Wenn wir aber jene mannigfachen Abstufungen anerkennen, gibt es nun […] gute, weniger gute, noch weniger gute und schlechte Zionisten? Ich sage nein! ⁸⁷

In der zweiten Generation sollte die Authentifizierung der osteuropäischen jüdischen Kultur ihre Blüte erleben. Gerschom Scholem vermutete gar, dass es einem „Ostjuden […] so erscheinen“ müsse, „als ob es in Deutschland gar keine Zionisten gäbe, denn er sieht nur die Deutschjuden“. Nach Scholem stellte das „Deutschjudentum“ eindeutig „keine zionistische Kategorie“ dar. Die Kombination Deutschjudentum und Zionisten schließe „sich absolut aus“ und illustriere „Zwitterhaftigkeit“.⁸⁸ Demgegenüber kommentierte Leo Estermann die voranschreitende Authentifizierung der ostjüdischen Kultur wie folgt: Man pflegt allerdings häufig, das, was die osteuropäischen Juden charakterisiert, als jüdische Kultur zu bezeichnen, und dieses Wort hat einen guten Klang. Aber ich bestreite, daß diese Bezeichnung richtig ist. Der Jargon und die Lebensformen des Ghetto sind keine jü-

 Feiwel, Zweifacher Zionismus (Fortsetzung), S. 2. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Nordau, Max: Über den Gegensatz zwischen Ost und West im Zionismus. In: Die Welt, Nr. 11, 18. März 1910, S. 1– 2, hier S. 1.  Estermann, Leo: Ost und West im Zionismus. In: Die Welt, Nr. 11, 18. März 1910, S. 5 –6, hier S. 5. Hervorhebung d. Verf.  Scholem, Tagebücher. 1. Halbband, S. 415 f. Hervorhebung im Original.

4.3 Die Oppenheimer-Debatte

153

dische Kultur, und wären sie es, ich würde sie trotz der wehmütig-süßen Kindheitserinnerungen, mit denen sie für mich verbunden sind, entschieden ablehnen.⁸⁹

Estermann versuchte seiner Kritik an der Authentifizierung der ostjüdischen Kultur damit Gewicht zu verleihen, dass er selbst aus dieser Kultur stammte. Zudem wünschte er sich für das Zukunftsland eher eine „westliche“ als eine „östliche“ Kultur. In seinen Worten: Wenn eine jüdische Kultur (d. h. nach meiner Auffassung, eine allgemein menschliche, aus der Wechselwirkung der Kulturvölker aufeinander hervorgegangene Kultur mit jüdischer Nuance, wie es eine solche mit deutscher, französischer usw. Nuance gibt) im jüdischen Lande entstehen wird, so wird sie, hoffe ich, der Kultur der Juden des Westens ähnlicher sein, als der der jüdischen Massen in Wilna, Berditschew oder Kolomea.⁹⁰

Begründen wollte er seine Haltung mit der Behauptung, dass sich schließlich auch die kultivierten Osteuropäer an der westlichen Kultur orientieren würden.⁹¹ Verteidigungen gegen den Vorwurf der „Unauthentizität“ sollten sich weiterhin durch den deutsch-zionistischen Diskurs ziehen. Richard Lichtheim betont noch in seiner Geschichte des deutschen Zionismus aus dem Jahre 1959, dass „der deutsche Zionismus an der Geschichte der zionistischen Ideenentwicklung wie an der Geschichte der praktischen Arbeit seinen besonderen und nicht unrühmlichen Anteil“ hatte. So geht er von der Grundannahme aus, „dass die zionistischen Ideen in West und Ost im Grunde immer die gleichen waren“.⁹² Lichtheims Darstellung des deutschen Zionismus soll zudem „erweisen, dass östlicher und westlicher Zionismus viel enger verwandt sind, als gemeinhin angenommen wird“ und „dass […] die auf deutschem Boden entstandene zionistische Ideologie sich in keinem wesentlichen Punkte von derjenigen unterscheidet, der die zionistische Bewegung in anderen Ländern ihr Dasein verdankt“.⁹³ An anderer Stelle möchte Lichtheim richtigstellen, dass „eine Identität der geistigen Quellen des westlichen und östlichen Zionismus“ bestehe, „die in späterer Zeit durch die Legende unkenntlich gemacht worden ist“, und zwar, dass „der zionistische Gedanke in Osteuropa immer in voller Klarheit und Reinheit dagewesen sei, stets den Hebraismus und Palästinismus enthalten habe und daher im Grunde gar keiner Erweckung bedurfte“, wohingegen „die Zionisten West- und

    

Estermann, Ost und West im Zionismus, S. 5. Vgl. Estermann, Ost und West im Zionismus, S. 5. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt. Estermann, Ost und West im Zionismus, S. 5. Lichtheim, Die Geschichte des deutschen Zionismus, S. 10. Lichtheim, Die Geschichte des deutschen Zionismus, S. 10.

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4 Umstrittene Authentizitäten – Die Politisierung des Konzeptes der Authentizität

Mitteleuropas unter dem Einfluß Herzls nur die soziale und politische Begründung des Zionismus“ verstehen.⁹⁴ „Ost“ und „West“ in ihrer Verbindung mit Authentizität sind Differenzkategorien, die von unterschiedlichen Seiten zu ihren Gunsten und ihren Ideologien folgend instrumentalisiert wurden. Letztendlich sind sie Ausdruck von Machtansprüchen und Monopolisierungen. Den Abschluss dieses Kapitels soll eine Anekdote aus den Memoiren von Moses Calvary bilden. Als Calvary das Rabbinerseminar verließ, da er für seine Zukunft mittlerweile andere Pläne hatte, verabschiedete er sich von seinen Lehrern. Der erste sagte zu ihm: „Schade Moses, dass Du nicht Rabbiner wirst. Du bist der erste deutsche Jude, der Gemoroh nicht wie die Deutschen sondern wie ein echter ungarischer Talmudist lernt“. Der zweite verabschiedete sich mit den Worten: „Wie bedaure ich es Calvary, dass Sie nicht Rabbiner werden, ich hatte mich immer gefreut, dass sie nicht im Sinne der Juden aus dem Osten Talmud treiben, sondern in einer echt logischen systematischen Methode Westeuropas“.⁹⁵ Diese Anekdote ergänzte Calvary: Ich weiss nicht, wer von beiden Recht hatte und kann es keineswegs jetzt mehr beurteilen, wo ich seit nahezu 40 Jahren kaum mehr ein Talmudblatt aufgeschlagen habe. Doch kam mir dieser Gegensatz wieder in Erinnerung als man zu Ehren meines 60. Geburtstages einige Artikel in den Zeitungen über mich brachte. Fast alle deutschen Juden nahmen mich als einen der Ihren für sich in Anspruch. Doch zugleich erschien in der hebräischen Zeitschrift Gilionoth ein Aufsatz über mich von einem Juden aus dem Osten […], der mich mit Freudigkeit als „Einen der Unseren“ das heisst einem dem Ostjudentum Nahestehenden bezeichnete.⁹⁶

Die Politisierung des authentisch Jüdischen beziehungsweise die „Deauthentifizierung“ des Westzionismus sollte sich übrigens bis in die Zionismusforschung fortsetzen. Der zionistische Zionismusforscher David Vital stimmte bezogen auf die zuvor erwähnte Altneuland-Kontroverse Achad Haam selbst im Jahre 1982 noch zu: „Acḥad Ha-‛Am had good cause therefore to pounce on Herzl’s fantasy Altneuland […] and dismiss it on the grounds that there was nothing immediately recognizable as Jewish in it. Indeed there was not. If anything, it was Viennese“.⁹⁷ Das schlagenste Argument zur Unterhöhlung von politischen Haltungen blieb demnach auch später das Prädikat „nicht jüdisch“ beziehungsweise „nicht zionistisch“.

 Lichtheim, Die Geschichte des deutschen Zionismus, S. 15. Lichtheim verweist hier auf die Uganda-Debatte, bei der die Mehrheit der Poale Zion unter Nachman Syrkin für Uganda optierten.  CZA K13/13/1, S. 36.  CZA K13/13/1, S. 36.  Vital, David: Zionism. The Formative Years. Oxford 1982, S. 352. Hervorhebung im Original. Für weitere Typologien jüdischer Authentizitäten siehe die Einleitung dieser Arbeit.

5 Der deutsche Zionismus, „Minderheitendiskurs“ und Liberalismus „Who needs ,identity‘?“ – Stuart Hall¹

Wie in den letzten Kapiteln bereits gezeigt wurde, stilisierten die zionistischen Denker in ihren Schriften den Zionismus zur liberalistischen Befreiungsbewegung einer unterdrückten Minderheit.² Dieses Kapitel wendet sich der Frage zu, wie sich der deutsche Zionismus im Allgemeinen und insbesondere in seiner Suche nach Authentizität zu Narrativen anderer marginalisierter Gruppen verhält. Besonders relevant ist hier, dass Zionisten sich mitunter selbst explizit auf andere Minderheitenbewegungen bezogen, ein Phänomen, das bisher in der Forschung nur wenig Beachtung fand. Um diesen Aspekt zu kontextualisieren, beschäftigt sich dieses Kapitel zusätzlich mit dem Zusammenhang von Universalismus und Partikularismus. Wie sich zeigen wird, wurde in den zionistischen Diskursen vorwiegend der Versuch unternommen, universale und partikulare Tendenzen zu harmonisieren. Der deutsche Zionismus gilt gemeinhin als liberal. Diese Einschätzung wurde einerseits mit der „liberalen und humanistischen Tradition“ des deutsch-jüdischen Diskurses begründet; andererseits wurde der deutsch-zionistische liberale Nationalismus als Abgrenzung vom radikaleren Nationalismus, der die zentraleuropäischen Nationalismen bestimmte, verstanden.³ In der Forschung begann

 Hall, Stuart: Introduction. In: Questions of Cultural Identity. Hrsg. von Stuart Hall und Paul du Gay. London 1996, S. 1– 17, hier S. 1.  Liberalismus und Minderheitenstatus der Juden sind daher die Angelpunkte dieses Kapitels. Hierbei ist der Zusammenhang des Liberalismus im deutschsprachigen Diskurs nicht zu verwechseln mit den oftmals von zionistischen Autoren als „Liberale“ bezeichneten Anhänger des Reformjudentums. Auch in der Forschung wurde dahingehend oftmals zwischen „Zionismus“ und „Liberalismus“ unterschieden. Doch in diesem Kapitel geht es um die liberalen Aspekte im zionistischen Diskurs selbst.  Siehe Vogt, Stefan: Robert Weltsch and the Paradoxes of Anti-Nationalist Nationalism. In: Jewish Social Sudies 16 (Spring/Summer 2010), No. 3, S. 85 – 115, hier S. 86. Vogt verweist hier auf einige Forscher, die dem angenommenen Liberalismus des deutschen Zionismus ebenso an selbiger oder anderer Stelle kritisch begegnen: Aschheim, Steven E.: Bildung in Palestine. Zionism, Binationalism, and the Strains of German-Jewish Humanism. In: Ders.: Beyond the Border. The German-Jewish Legacy Abroad. Princeton/Oxford 2007, S. 6 – 44; Weiss, Yfaat: Central European Ethnonationalism and Zionist Binationalism. In: Jewish Social Studies 11 (Fall 2004), No. 1, S. 93 – 117 und Shumsky, Dimitry: On Ethnocentrism and Its Limits. Czecho-German Jewry, Fin-dehttps://doi.org/10.1515/9783110546019-007

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man in den letzten Jahren sukzessive an einer Revision dieser Kategorisierung zu arbeiten. Durch die Verbindung des zionistischen Narrativs mit dem „Minderheitendiskurs“, die die oftmals harschen Abgrenzungsmechanismen zutage treten lässt, wird auch in dieser Arbeit der vorherrschend liberale Charakter zionistischen Denkens teilweise relativiert.

5.1 Vergleiche der Zionisten zu anderen Marginalisierten Interessanterweise taucht in den zionistischen Quellen eine Vielzahl an Vergleichen zu anderen marginalisierten Gruppen auf. Vergleiche zwischen Juden und anderen Minderheiten werden in der Forschung wenig beachtet,⁴ und die Dynamiken zwischen Minderheiten werden im Allgemeinen selten thematisiert.⁵ Trotz der genderspezifischen Ausrichtung des Zionismus, die bereits ausführlich besprochen wurde, schreckte man von zionistischer Seite selbst vor Parallelen zur Frauenbewegung nicht zurück. Bereits im 18. Jahrhundert finden sich Beispiele, in denen die Gleichberechtigung von Frauen direkt mit der jüdischen assoziiert wurde. In einer auffälligen Analogie – und wohlgemerkt mit ausdrücklichem Verweis auf das im Jahr 1781 von dem durch Moses Mendelssohn beeinflussten Über die bürgerliche Verbesserung der Juden von Christian Wilhelm Dohm – erschien elf Jahre später, zunächst anonym, das Werk Über die bürgerliche

Siècle Prague and the Origins of Zionist Binationalism. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 5 (2006), S. 173 – 88. Siehe auch Vogt, Stefan: Subalterne Positionierungen. Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland 1890 – 1933. Göttingen 2016, S. 110 – 112.  Der Artikel von Jakob Borut und Oded Heilbronner zu den jüdischen und katholischen Minderheiten in Deutschland räumte mit gängigen Vorstellungen in der Wissenschaft auf und setzte entscheidende Impulse. Siehe Borut, Jakob und Oded Heilbronner: Catholics and Jews. Two Religious Minorities in the German Second Reich. In: Jewish Studies 37 (1996), S. 129 – 162.  Die Dynamiken zwischen den einzelnen Minderheitenbewegungen zu untersuchen erscheint zudem ein sehr aufschlussreiches Unterfangen, betrachtet man beispielsweise den folgenden Zusammenhang: Franzt Fanon benutzte 1952 in seinem Klassiker Black Skin, White Masks Jean Paul Sartres Aussagen zum Antisemitismus (Fanon, Frantz: Peau noire, masques blancs. Paris 1952). Dieses Werk von Frantz Fanon wird mit diesen Ausführungen zum Antisemitismus später grundlegend für die African-American-Bewegung. Angela Davis von den African American Black Panthers besuchte wiederum 1971 Israel und hatte Einfluss auf die dortige Black-Panther-Bewegung der Juden aus arabischen Ländern. Zudem führte beispielsweise Steven E. Aschheim in einer Rede aus, wie die Texte von Hannah Arendt oder anderen deutschen Juden und Zionisten in Indien, beziehungsweise von indischen postkolonialen Forschern verwendet werden, um die Situation des Kolonialismus zu erklären (Steven E. Aschheim in einer Rede anlässlich der Veröffentlichung einer Festschrift für ihn am Center for Jewish History, New York, am 12. November 2013).

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Verbesserung der Weiber von Theodor Gottlieb von Hippel.⁶ Darin bemerkt von Hippel, dass, wenn man schon die „bürgerliche Verbesserung der Juden“ empfehlen würde, schließlich auch „ein wirkliches Volk Gottes“, nämlich „das andere Geschlecht […] diese Sorgfalt verdiene“.⁷ Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannte auch ein Zionist gewisse Ähnlichkeiten des Schicksals von Juden und Frauen. Am 10. Juni 1904 veröffentlichte Heinrich Loewe (1869 – 1951) anlässlich des allgemeinen Frauenkongresses in Berlin, der vom 13. bis zum 18. Juni 1904 in der Philharmonie tagte, einen Leitartikel in der Jüdischen Rundschau. Darin bemerkte er, dass es die „gewisse Aehnlichkeit in dem historischen Geschick der Frauen und dem der jüdischen Nation“ sei, die „das besondere jüdische Interesse an dem Frauenkongress fesselt“. Loewe schrieb weiter: Bezeichnend ist es, dass der Freiheitsbewegung der Juden wie der Frauen das unschöne Wort „Emanzipation“ vorangeschrieben ist, das aus dem hässlichsten Kapitel des harten römischen Rechtes entstammt. Aber bei beiden konnte es nicht bei einem Kampfe um die Emanzipation, um die Befreiung von der Bevormundung des einzelnen stehen bleiben. Handelt es sich doch um die Wiedergutmachung alten schweren historischen Unrechts, um die Wiedereinsetzung in die Menschenrechte.⁸

In dieser Parallele wird die Ambiguität des Verhältnisses zwischen zionistischen Gruppen und anderen Minderheitenbewegungen deutlich. Einerseits konnte man sich mit den Bestrebungen der Frauenbewegung identifizieren und erkannte Gemeinsamkeiten, andererseits wurden die entsprechenden Schlüsse daraus nicht gezogen. Neben der dezidiert geschlechtsspezifischen Ausrichtung der Vorstellungen der jüdischen Nation wurde eine tatsächliche Gleichberechtigung der Frauen, obwohl dies oftmals angenommen wurde, innerhalb der zionistischen Organisation nämlich nicht realisiert. Sie wurden zwar auf dem zweiten Zionistenkongress von 1898 offiziell gleichgestellt, doch, wie Claudia Prestel zeigte, war dieser Akt im Weiteren eher ein Vorwand, um Frauen weiterhin auszugrenzen. Die „Erklärungen von der Gleichberechtigung der Frau hinderten zionistische Politiker und Denker nicht daran, die Frauen als die ,anderen‘ zu sehen, die keinesfalls

 Dohm, Christian Wilhelm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin/Stettin 1783 [1781]; Hippel, Theodor Gottlieb von: Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber. Frankfurt/ Leipzig 1794 [1792].  Hippel, Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber, S. 26 f.  Eljâkim [Heinrich Loewe]: Der allgemeine Frauenkongress in Berlin. In: Jüdische Rundschau, Nr. 23, 10. Juni 1904, S. 1– 2, hier S. 1.

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,gleichartig‘ sein sollten“.⁹ „Indem die Gleichberechtigung als Faktum konstatiert wurde“, so argumentierte Prestel weiter, „entstand ein Mythos mit schwerwiegenden Folgen“, der, weil die Frauen nun bereits als gleichberechtigt galten, im Endeffekt jegliche feministischen Unternehmungen lähmte.¹⁰ Die Bezüge zu anderen Minderheiten ziehen sich durch die gesamte Breite der zionistischen Schriften. Schon Moses Hess schrieb im Vorwort seines bekannten Werkes Rom und Jerusalem von 1862: Der Völkerfrühling hat mit der französischen Revolution begonnen; das Jahr 1789 war das Frühlingsäquinoxium der Geschichtsvölker. Die Auferstehung der Todten hat nichts Befremdendes mehr zu einer Zeit, in welcher Griechenland und Rom wieder erwachen, Polen von Neuem aufathmet, Ungarn zum letzten Kampfe rüstet, und eine gleichzeitige Erhebung aller jener unterdrückten Racen sich vorbereitet, die, abwechselnd von asiatischer Barbarei und europäischer Civilisation, von stupidem Fanatismus und raffinirter Berechnung mißhandelt, missbraucht und ausgesogen, dem barbarischen und civilisirten Hochmuthe der herrschenden Racen im Namen eines höhern Rechts das Herrscherrecht streitig machen. ¹¹

Kurz, die Tatsache, dass zahlreiche marginalisierte Gruppen eine ähnliche Agenda gegenüber den „herrschenden Racen“ betrieben, wurde von Hess und anderen zionistischen Denkern unmissverständlich aufgegriffen. Zu den sogenannten „black-Jewish relations“ zur Zeit des frühen Zionismus sticht besonders die Figur des pan-afrikanischen Intellektuellen Edward Blyden (1832– 1912) hervor.¹² Blyden widmete sein Werk The Jewish Question von 1898 einem gewissen Louis Solomon, den er in Westafrika getroffen hatte und dem er wünscht: „[…] that you and your friends may have the record […] of the work and destiny of a people with whom his own race is closely allied […]“.¹³ In seinem Pamphlet erwähnt Blyden auch Theodor Herzl und den Judenstaat. ¹⁴ Um es mit  Prestel, Claudia T.: Frauen und die Zionistische Bewegung (1897– 1933). Tradition oder Revolution? In: Historische Zeitschrift 258 (Februar 1994), Heft 1, S. 29 – 71, hier S. 29.  Prestel, Frauen und die Zionistische Bewegung, S. 30.  Hess, Rom und Jerusalem, S. VI. Hervorhebung d. Verf.  Blyden, Edward W.: The Jewish Question. Liverpool 1898.  Blyden, The Jewish Question, S. [4].  Darüber hinaus verbindet er die afrikanische Situation mit den zionistischen Bestrebungen: „If the world owes an immense debt to the Jews, the Jews as well as the rest of mankind owe an immense debt to Africa; for it was upon that soil that a few nomads from Western Asia settled down, and, in the furnace of affliction, as well as in the house of preservation, grew to be a nation; and as I have just intimated there are remnants of Jews there to-day, who have never left it since Jacob, with seventy souls, entered it from Canaan. In Africa was preserved the church to whom was to be entrusted the international or universal religion. I have endeavoured to trace, as far as possible, through the Hebrew Scriptures, the connection of the Jews with Africa and the African race; and I find, as all careful and candid students must find, that the descendants of Abraham, in

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den Worten der Forscherin Yvonne Chireau zu formulieren: „Jewish aspirations for nationhood were comparable to those of blacks […]“.¹⁵ Andere Forscherinnen und Forscher bewerten diese Analogien weitaus kritischer.¹⁶ In den frühen zionistischen Quellen ist das Bild der Sklaverei besonders häufig anzutreffen. Diese wiederum bedienten sich offensichtlich des Abolitionsdiskurses, der schon in den Schriften Gabriel Riessers und Zacharias Frankels aus der Zeit des Ringens um die jüdische Gleichberechtigung zu finden war.¹⁷ In der Predigt Die Prüfungen Israels, die Zacharias Frankel im Jahre 1834 hielt, verwies er auf die „heilige Pflicht“ der Volkslehrer, Hoffnung zu spenden „in Zeiten der Noth“ und den „Gedrückten Erleichterung [zu] verkünden, dem verwundeten Herzen Heilung, den Gefangenen Freiheit, den Gefesselten Erlösung“ zuzurufen.¹⁸ Gleich zu Beginn stellte Frankel die Frage, ob „Israel zum Sclaven

their early history, and in their impressible condition, were more closely related to that continent, and to that race, than to any other country or people“ (Blyden, The Jewish Question, S. 16 f.).  Chireau, Yvonne: Black Culture and Black Zion. African American Religious Encounters with Judaism. 1790 – 1930. An Overview. In: Black Zion. African American Encounters with Judaism. Hrsg. von Yvonne Chireau und Nathaniel Deutsch. New York/Oxford 2000, S. 15 – 32, hier S. 15.  Vgl. Williams, Michael W.: Pan-Africanism and Zionism. The Delusion of Comparability. In: Journal of Black Studies 21 (March 1991), No. 3, S. 348 – 371.  Gabriel Riesser wurde am 2. April 1806 in Hamburg geboren. Nachdem durch das nach der Julirevolution auch in Deutschland in Fluss gekommene regere politische Leben eine empfängliche Atmosphäre geschaffen schien, begann Riesser den Kampf um die Emanzipation der Juden mit der Schrift Ueber die Stellung der Bekenner des Mosaischen Glaubens in Deutschland. An die Deutschen aller Confessionen (1830). Darin beschreibt er, dass die Verhältnisse in Amerika, Frankreich und den Niederlanden, wo die rechtliche Gleichstellung der Juden bereits Realität war, „die rechtliche Gleichheit der Confessionen […] dort theoretisch und praktisch auf’s entschiedenste anerkannt“ ist, „mit den […] [Verhältnissen in Deutschland] keinen Vergleichungs-Punkt mehr darstellten“. Ein Vergleich mit England sei jedoch interessant. „Wenn man sich erinnert, daß es die Bemühungen vieler Jahre kostete, um einem hartnäckigen Interesse die gesetzliche Abschaffung des Sklavenhandels abzugewinnen“, so müsse man die Abstimmung zur Emanzipation der Juden, die vorerst negativ ausgefallen war mit 228 zu 168 Stimmen, „für eine sehr erfreuliche Erscheinung halten, und kann schon der Zahl nach überzeugt sein, daß diese Minorität eine große Majorität in der Meinung des Landes darstellt“ (Riesser, Gabriel: Ueber die Stellung der Bekenner des Mosaischen Glaubens in Deutschland. An die Deutschen aller Confessionen. Altona 1831 [1830], S. 41 f.). Riesser sollte die Erfolge seiner Tätigkeit am eigenen Leibe zu spüren bekommen: Er übernahm 1840 schließlich ein Notariat in Hamburg, nachdem seine Absicht, das kurhessische Bürgerrecht zu erwerben, misslungen war. Von 1859 an war er in Hamburg als Obergerichtsrat tätig.  Dr. Z[acharias] Frankel: Die Prüfungen Israels. Predigt, gehalten am Sabbat Pekude, den 4. März 1843 vom Oberrabbiner Dr. Z. Frankel. Dresden und Leipzig, S. 3. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.

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bestimmt [sei], […] ob es nicht die Freiheit genießen“ dürfe, „die des Menschen eigenstes Eigenthum ist […]?“¹⁹ Die Verbindung zur Abolitionsbewegung und zu den Schwarzen passte offensichtlich sehr gut in das zionistische Narrativ. Sicherlich kommt hier die biblische Geschichte der Israeliten, die Sklaven in Ägypten waren, zum Tragen. Auch auf die Stilisierung des Zionismus als Befreiung aus der Knechtschaft, und der damit verbundenen Erhebung von Pessach – der traditionellen Erinnerung an den Auszug aus Ägypten – zum wichtigen Fest, wurde in der zionistischen Agitation besonderer Wert gelegt. In der Instruction für Zionisten, die wahrscheinlich im Jahr 1897 verfasst wurde, befindet sich diesbezüglich die eindeutige Anweisung: „Insbesondere ist an Pessachabenden – von der Recitirung der Hagadah abgesehen – in der den Anwesenden geläufigen Sprache, die Geschichte der Befreiung unseres Volkes aus egyptischer Knechtschaft, der Erwerbung des eigenen Landes und der einmal bereits erfolgten Rückkehr in dasselbe nach vorhergegangener Vertreibung zu erzählen“.²⁰ Achad Haam gibt darüber hinaus mit der Überschrift seines zentralen Artikels „Äußere Freiheit, innere Knechtschaft“ dieser Haltung ebenso Ausdruck.²¹ Der Blick in das Periodikum Der Orient verdeutlicht zudem, wie analog zueinander diese Bestrebungen betrachtet wurden. Ein anonymer Bericht im Orient zitiert etwa eine Rede von Adolphe Crémieux (1796 – 1880), dem späteren Gründer und Präsidenten der Alliance Israélite Universelle [hebr. ‫ כי“ח‬,‫ ]כל ישראל חברים‬in Paris. Crémieux war seinerseits sehr involviert in den Kampf um die Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien, die schließlich 1848 realisiert wurde. Er selbst hielt am 17. Juni 1840 – im Jahr der Damaskus-Affäre – eine Rede zur Sklaverei. Darin betonte er, dass „jede Freiheit […] die Schwester der Andern“ sei.²² Im weiteren Verlauf verwies er auf Bischof Gregor, der „zu gleicher Zeit mit demselben Eifer die Emancipation der Schwarzen und die Emancipation der Juden forderte“.²³ Der Rabbiner Isaak Rülf verfasste 1883 als Reaktion auf Pinskers Autoemancipation sein Pamphlet Aruchas Bas-Ammi. Israels Heilung. Ein ernstes Wort

 Frankel, Die Prüfungen Israels, S. 6. Neben diesen Hoffnung spendenden Predigten engagierte sich Zacharias Frankel aktiv für die Gleichberechtigung der Juden in den deutschen Ländern. Dabei erwirkte er vor allem die Abschaffung des diskriminierenden Judeneides (More Judaico oder Judamentum Judaeorum) in Preußen und in anderen Ländern, welchen die Juden im Falle eines Gerichtsprozesses zu erbringen hatten.  Instruction für Zionisten, CZA Z1/9 – 3.  Achad Haam, Äußere Freiheit und innere Knechtschaft, S. 265 f. Hervorhebung d. Verf.  Der Orient, Nr. 35, 29. August 1840, S. 266 f.  Der Orient, Nr. 35, 29. August 1840, S. 266 f.

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an Glaubens- und Nichtglaubensgenossen. Hier wählte er zur Beurteilung der Emanzipation der Juden ebenso Vergleiche zu anderen Gruppierungen: Und diese Emancipationsthatsache an und für sich ist, so nothwendig und erstrebenswerth sie auch war, gar keine Anerkennung, sondern eine Beleidigung; ist eine Kränkung unseres Volkes […]. Stehst du denn außerhalb der Gesetze, daß du erst durch die Gesetzgebung legalisirt, stehst du denn so tief, daß du erst gesetzlich gleichgestellt werden mußtest? Bist du etwa auch ein Leibeigener, ein Sclave, ein Neger, ein Kuli, denen man so lange ihre Menschenund Bürgerrechte vorenthalten durfte […].²⁴

Diese Quelle lässt besonders deutlich erkennen, dass die Autoren aus taktischen Gründen einerseits Analogien hervorzuheben wussten, um die Dringlichkeit ihrer Forderung zu betonen; sich aber andererseits herablassend gegenüber anderen Gruppen äußerten, um sich von diesen abzugrenzen. So auch in Theodor Herzls Roman Altneuland. Im Zukunftspalästina besuchen die Reisenden die herausragenden wissenschaftlichen Einrichtungen des Landes. Bei dem Besuch des bakteriologischen Instituts spricht der dort ansässige Biologe Steineck: Es gibt noch eine ungelöste Frage des Völkerunglücks, die nur ein Jude in ihrer ganzen schmerzlichen Tiefe ermessen kann. Das ist die Negerfrage. Lachen Sie nicht, Mr. Kingscourt! Denken Sie an die haarsträubenden Grausamkeiten des Sklavenhandels. Menschen, wenn auch schwarze Menschen, wurden wie Tiere geraubt, fortgeführt, verkauft. Ihre Nachkommen wuchsen in der Fremde gehasst und verachtet auf, weil sie eine andersfarbige Haut hatten. Ich schäme mich nicht, es zu sagen, wenn man mich auch lächerlich finden mag: nachdem ich die Rückkehr der Juden erlebt habe, möchte ich auch noch die Rückkehr der Neger vorbereiten helfen.²⁵

Steineck sieht hier, so arbeitet es Eitan Bar-Yosef heraus, eine Verbindung zwischen den „jüdischen und afrikanischen Geschichten – Jahrhunderte der Verfolgung und Unterdrückung“ und doch „achtet er darauf, die Juden und die Schwarzen auf gegensätzliche Seiten des rassischen Spektrums zu positionieren“.²⁶ So ist die Aufgabe der Juden in Altneuland eine doppelte: zum einen sollen die Kolonisten zunächst die Zivilisation nach Palästina bringen – Steineck arbeitet gegen die dort herrschende Malaria – und anschließend nach Afrika.²⁷ Die hier angesprochenen Gemeinsamkeiten zwischen der jüdischen und der afrika-

 Rülf, I[saak]: Aruchas Bas-Ammi. Israels Heilung. Ein ernstes Wort an Glaubens- und Nichtglaubensgenossen. Frankfurt a. M. 1883, S. 15. Hervorhebung d. Verf.  Herzl, Altneuland, S. 129.  Bar-Yosef, A Villa in the Jungle, S. 94.  Vgl. Bar-Yosef, A Villa in the Jungle, S. 94.

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nischen Geschichte verdeutlichen jedoch auch die Komplexität dieses Zusammenhangs – unter anderem „das ambivalente Bild des Juden“, dass oftmals mit den Worten „white, but not quite […]“ umschrieben wurde.²⁸ Eine harsche Hierarchie wird auch in Achad Haams Kritik am Roman Altneuland deutlich. In Anlehnung an Theodor Herzls Ausführungen zur „Rückkehr der Neger“, schreibt Achad Haam: Wir könnten uns also sehr wohl eine Negerbewegung ausmalen, mit dem Zionistenführer an der Spitze, der ein „Altneuland“ schreibt, um uns die Verkörperung des Negerideals nach 20 Jahren zu versinnlichen – wir fragen nun, wodurch würde sich das Neger-Altneuland [‫ ]אלטניילנד הניגרית‬vom zionistischen unterscheiden? Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich behaupte, dass der Verfasser nur wenige Aenderungen in dem vorliegenden Buche vornehmen müsste, um es ganz zu „negrisieren“. […] Ohne eine Spur originellen Talents Andere bloss kopieren […] – das vermöchten wohl auch die Neger zu vollbringen. Doch wer weiss – vielleicht würden auch die Neger das nicht fertig bringen?²⁹

Obwohl Achad Haam diesen harschen Vergleich in erster Linie gebraucht, um seiner negativen Beurteilung der Pläne Herzls für das Zukunftspalästina Ausdruck zu verleihen, wird seine Geringschätzung sowohl gegenüber Herzls Vision, als auch gegenüber People of Color unmissverständlich deutlich.³⁰ Auch Leon Pinsker kritisierte 1882 in seinem Pamphlet Autoemancipation den Minderheitenstatus der Juden und bemängelte, dass Juden wie die „Neger“ und die „Frauen“, „ungleich allen freien Völkern“ emanzipiert werden müssten. Um so schlimmer für sie, wenn sie, ungleich den Negern, einer edlen Race angehören und, ungleich den Frauen, nicht allein bedeutende Frauen, sondern auch Männer, ja sogar grosse Männer aufzuweisen haben.³¹

Im Gegensatz zu People of Color gehörten Juden zu einer „edlen Rasse“, so Pinsker. Unter ihnen gäbe es schließlich auch „grosse Männer“, was ihr Schicksal umso tragischer mache. Es zeigt sich also auch hier, dass man zwar Vergleiche anstellte, diese jedoch eine klare „Rangordnung“ aufwiesen. Auch Heinrich

 Bar-Yosef, AVilla in the Jungle, S. 97. Bar-Yosef bezieht sich mit „white, but not quite“ auf Homi K. Bhabha. Der besondere Status des „Uganda-Plans“ als tatsächliche Option einer Kolonisation Afrikas für diesen Zusammenhang wurde in der Forschung bereits bemerkt. Siehe ebd. S. 97 f.  Achad Haam: Altneuland. In: Ost und West, Nr. 4, April 1903, Spalte 227– 244, hier Sp. 243 (Hebräisch: Achad Haam: ‫[ אלטניילנד‬ʼAltnajland]. In: Al paraschat drachim. Band 3, S. 143 – 159, hier S. 158.)  Vgl. Bar-Yosef, A Villa in the Jungle, S. 96.  Pinsker, Autoemancipation, S. 8 f.

5.1 Vergleiche der Zionisten zu anderen Marginalisierten

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Loewe stellte in seinen unveröffentlichten Memoiren ‫[ בדרך לציון‬hebr. Baderech Lezijon, Auf dem Weg nach Zion] Vergleiche zu „Negern“ an. In seiner Argumentation gegen die „Assimilation“ zog er folgende Parallele: „Ich nannte das [Taufen] ,aus der Rasse austreten‘, und wies auf das Beispiel des sich für einen Weissen haltenden Neger hin“.³² Und Richard Lichtheim ersann in seiner Geschichte des deutschen Zionismus eine problematische Erklärung dafür, warum es unter den „Negern“ in Amerika keine dem Zionismus ähnliche Bewegung der Rückkehr nach Afrika gebe: Für die Neger hiesse Rückkehr nach Afrika nicht nur Verzicht auf die äusseren Annehmlichkeiten der amerikanischen Zivilisation, sondern auch Abstieg in einen prä-zivilisatorischen geistigen Urwald. Könnten die Neger in Amerika eine weisse Haut und glatte Haare erlangen, so würden sie sich sofort assimilieren.³³

Ein frühes Beispiel, das den Zionismus mit der südafrikanischen Nationalbewegung der Buren vergleicht, wurde von Elias Barg in der Israelitischen Rundschau, der Vorgängerin der Jüdischen Rundschau, angesprochen. Bargs Beitrag mit dem Titel „Der Burenkongreß“ behandelte den Zweiten Burenkrieg (1899 – 1902), in dem Buren – Nachkommen von europäischen Einwanderern aus dem 17. Jahrhundert – ihre Unabhängigkeit verloren. Der Rhetorik geschuldet, datierte der Autor diese Ereignisse nun zweitausend Jahre zurück: Zweitausend Jahre sind nun seit damals verstrichen. Was das unglückliche Volk der Buren, das einst so glücklich und zufrieden auf seinem eignen Grund und Boden lebte, in diesen zwei Jahrtausenden im Exile alles erdulden mußte, – das vermag keine Feder zu schildern. […] Doch – es hat das alles ertragen. […] Aber wenn die Buren auch allen Stürmen Stand gehalten und in den sie umfluteten Wogen nicht untergegangen sind, so sind sie doch nicht unversehrt davongekommen. […] Aber ein Volk das zweitausend Jahre trotz aller Leiden und Verfolgungen sich sein Volkstum erhalten, besitzt eine so unverwüstliche Kraft und Ausdauer, die vor dem Untergang bewahrt. Kaum drohte ein großer Teil der in den zivilisierten Ländern lebenden Buren von seinem Volke abzufallen, so entstand eine kräftige Gegenreaktion, es entstand der Johannisburgismus!³⁴

Anhand des dargestellten Schicksals der Buren und deren „Johannisburgismus“ – eine Wortschöpfung in Anlehnung an den Begriff „Zionismus“ in Verbindung mit dem Namen der südafrikanischen Stadt Johannisburg – wollte Barg die Not Loewe, Heinrich: Baderech lezion. Sichronot, Kap. 59 m. Aus der national-jüdischen Propaganda. CZA A146/176.  Lichtheim, Die Geschichte des deutschen Zionismus, S. 107 f.  Barg, Elias: Der Burenkongreß. In: Israelitische Rundschau, Nr. 8, 21. Februar 1902, S. 1– 2, hier S. 1.

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wendigkeit des Zionismus gegenüber nichtjüdischen Gegnern, die er als „Fremde“ bezeichnete, untermauern. Die „Schilderung der Burengeschicke als eine Wiederholung der Weltgeschichte“ sollte Lesenden also verdeutlichen, „daß auch unser jüdisches Volk einst glücklich und zufrieden auf seiner eignen Scholle gelebt […] und daß auch sie einem übermächtigen Gegner unterliegen mußten, genau wie die Buren“.³⁵ Einen weiteren Vergleich zog der Arzt Dr. Emil Simonsohn aus Berlin-Schöneberg im Jahre 1903 in der Jüdischen Rundschau. Er war, neben Heinrich Loewe „ein Senior des Kreises“ der Berliner Zionisten und Mitglied beim bereits 1892 gegründeten Verein Jung Israel gewesen.³⁶ In seinem Artikel schrieb Simonsohn, es sei bereits häufiger berichtet worden, „[d]ass ein grosser Teil der Indianer sich vollständig zivilisiert hat“ und „dass es bereits zahlreiche indianische Aerzte, Prediger, Juristen, Lehrer etc.“ gebe – eine Aussage, mit der er anscheinend eine Parallele zur Situation der Juden in Deutschland zog. „Neu dürfte jedoch der grossen Mehrzahl der Leser die Tatsache sein, dass sogar schon eine indianische Litteratur im Aufblühen“ sei, „welche einen interessanten und überraschenden Einblick in das Seelenleben dieser Menschen“ ermögliche.³⁷ Damit werde deutlich, „dass das einstige Herrenvolk die europäisch-amerikanische Kultur zwar in sich aufgenommen hat, jedoch keineswegs bedingungslos in ihr aufgegangen“ sei. Die „indianische“ Literatur lasse manches erahnen, „was die Seelen der neuen Generation“ von Indianern bewege. Den leisen Spott, mit dem die fremde Kultur mit der eigenen verglichen wird; den Stolz auf die Vergangenheit und den nie zu verschwindenden Schmerz, den der Gegensatz zwischen einst und jetzt hervorrufen muss. Der neue Indianer hat nicht vergessen, dass seine Väter einst die Herren dieser Länder gewesen, dass er der einzige eingeborene Amerikaner ist und einen ungehobenen Schatz von Kultur besitzt, an deren uralten Rätseln sich weisse Gelehrte noch lange die Zähne ausbeissen werden. Alle indianischen Schriftsteller ohne Ausnahme lassen zwischen den Zeilen das Bewusstsein der Tragödie erkennen, die diese Menschen an sich erleben – die Tragödie einer inneren Entwurzelung.³⁸

Des Weiteren verweist Simonsohn auf das Buch einer Dakota-Indianierin, welche „übrigens unter ihrem indianischen Namen Zit-ka-la Ša“ schreibe, da sie offenbar  Barg, Der Burenkongreß, S. 2.  CZA Aron Sandler A 69/2, S. 8. Zudem war Simonsohn selbst Arzt in Berlin und war 1904 sehr involviert, als Theodor Herzl erkrankte (CZA AK 152/2).  Der Autor bezog sich auf einen Artikel von A. v. Ende, der einen Artikel mit dem Titel „Der neue Indianer“ in der Julinummer der Monatsschrift Der Türmer veröffentlicht hatte. In diesem Artikel wurden auch die hier zitierten Beispiele gebracht.  Simonson, E[mil]: Der neue Indianer. In: Jüdische Rundschau, Nr. 32, 7. August 1903, S. 3 –4, hier S. 3. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.

5.1 Vergleiche der Zionisten zu anderen Marginalisierten

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„nicht das Bedürfnis“ empfinde, „sich nicht zu erkennen zu geben“.³⁹ Zitkala-Ša (1876 – 1938) wurde im Yankton-Indian-Reservat in South Dakota geboren.⁴⁰ Sie verließ mit 15 Jahren ihren Stamm im Reservat für ihre Ausbildung zur Lehrerin. Zitkala-Ša wurde, so heißt es im Artikel Simonsohns, bei einem „Besuch in der Heimat […] in einen inneren Zwiespalt hineingerissen“. Als Lehrerin frage sie sich, „ob es [weiterhin] eine würdige Aufgabe für sie“ sei, „die Kinder ihres Volkes in dem Vorstellungskreise und den Wissenschaften der eingewanderten Herren zu erziehen und sie damit zu heimatlosen Zwitterwesen zu machen“. Zitkala-Ša schrieb: Für des weissen Mannes Papiere hatte ich meinen Glauben an den grossen Geist hingegeben. Für dieselben Papiere hatte ich die Heilkraft der Bäume und der Bäche vergessen. Wegen meiner Mutter einfacher Lebensanschauung und wegen meines Mangels an einer solchen hatte ich sie verlassen. Und doch hatte ich keine Freunde gewonnen unter der Rasse, die mein Volk hasst. Einem schwachen Bäumchen gleich war ich entwurzelt, der Mutter, der Natur, Gott entrissen worden. Alle Zweige, die der Heimat, den Freunden Liebe und Treue zugeweht hatten waren beschnitten worden. Die natürliche Rinde, die meine überaus empfindliche Natur beschützte, war blossgelegt worden. ⁴¹

Simonsohn betont, dass die Autorin „keineswegs chauvinistisch und kulturfeindlich“ sei, wenn ihr dies auch von den „Protest-Festischmännern“, eine Wortschöpfung in Anlehnung an „Prostestrabbiner“, und den „Assimilations-Sioux“, ebenso eine Parallele zur deutsch-jüdischen Situation, vorgeworfen werde. Sie habe lediglich „dem Wert eines allgemeinen, alle Individualität erstickenden Kultur- und Menschheitsbreies […] misstrauen gelernt“, womit Simonsohn den Kosmopolitismus kritisierte. Es sei ihr klar geworden, „dass jeder Mensch und jedes Volk durch die Entwickelung und Ausgestaltung der eigenen Art und der ihm innewohnenden ureigenen Anlagen der ganzen Menschheit am besten“ nütze, „ihr nur so sein Bestes geben“ könne.⁴² Auch der Autor des Zeitungsartikels, auf den sich Simonsohn bezieht – A. v. Ende – kommt im Artikel in der Jüdischen Rundschau mit seinem Urteil noch zu Wort:

 Simonson, Der neue Indianer, S. 3.  Für Werke von Zitkala-Ša siehe: Zitkala-Ša: An Indian Teacher among Indians. Charlottesville (VA) 1994; Dies.: Impressions of an Indian Childhood. Charlottesville (VA) 1995; Dies.: Old Indian Legends. Charlottesville (VA) 1995; Dies.: The Soft-Hearted Sioux. Charlottesville (VA) 1995; Dies.: The Trial Path. Charlottesville (VA) 1995; Dies.: A Warriorʼs Daughter. Charlottesville (VA) 1996; Dies.: The School Days of an Indian Girl. Charlottesville (VA) 1996; Dies.: Why am I a Pagan. Charlottesville (VA) 1996.  Simonson, Der neue Indianer, S. 3 f. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Simonson, Der neue Indianer, S. 4. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.

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5 Der deutsche Zionismus, „Minderheitendiskurs“ und Liberalismus

Das ist überhaupt das Auffallende an dem neuen Indianer: dass er, wenn er auch Kleider des weissen Mannes anzieht, um sich unauffällig und unbelästigt unter Weissen bewegen zu können, und wenn er auch seinen Namen gegen einen dem Weissen geläufigeren eintauscht, doch stets er selbst bleibt, ein Nachkomme der Herren und Besitzer des Landes, der sich zwar philosophisch in die neue Ordnung der Dinge fügt, aber seiner Eigenart nicht beigibt. Er lernt vom Weissen, was er lernen will, aber er äfft ihn nicht nach wie der Neger. ⁴³

Hier wird abermals das System von Über- und Unterordung der einzelnen Gruppierungen deutlich. Der Native American galt als Vorbild, der African American, mit dem hier stereotyp und pejorativ dargestellten Drang als „weiß“ zu gelten, als Negativbeispiel. Der Autor des Artikels in der Jüdischen Rundschau kommentierte dieses letzte Zitat mit der problematischen Feststellung, dass hier „der Gegensatz zwischen dem Adelsmenschen und dem geborenen Sklaven klar und treffend zum Ausdruck gebracht“ werde.⁴⁴

5.2 Identity Politics „Identity Politics“ (Identitätspolitik)⁴⁵ bezeichnet in der heutigen Forschung praktische und theoretische Aktivitäten in Bewegungen, meist von unterdrückten Gruppen, die sich ab den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts unter unterschiedlichen Prämissen herausbildeten. Die Philosophin Cressida Heyes bemerkte, dass es kein „straightforward criterion“ gäbe, durch das ein politisches Unterfangen als Identity Politics klassifiziert werden könne. Identity Politics bezeichnet vielmehr „a loose collection of political projects, each undertaken by representatives of a collective with a distinctively different social location that has hitherto been neglected, erased, or suppressed“.⁴⁶ Dieser Theorie folgend bemerken Minderheiten – darunter auch die deutschen zionistischen Denkerinnen und Denker – bereits parallel zur Emanzipationsbewegung, doch verstärkt in der Phase der bereits realisierten rechtlichen Gleichstellung, dass eine bloße rechtliche Gleichstellung nicht ihrem Drang nach Individualität und Authentizität entspricht. Sie fordern daher Anerkennung für ihre individuelle Identität. Das folgende Zitat des Combahee River Collectives sollte nicht nur das Programm für

 Simonson, Der neue Indianer, S. 4. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Simonson, Der neue Indianer, S. 4.  Die deutsche Übersetzung von dem Begriff „identity politics“ stammt aus der deutschen Ausgabe von Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991, S. 20. Die deutsche Bezeichnung wird jedoch der englischen Pluralform nicht gerecht.  Heyes, Cressida: Identity Politics. In: Stanford Encyclopedia of Philosophy, http://plato.stan ford.edu/entries/identity-politics/ (19. 12. 2017).

5.2 Identity Politics

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den schwarzen Feminismus bilden, sondern stellte auch die erste Nennung des Begriffes „Identitätspolitik“ dar. We realize that the only people who care enough about us to work consistently for our liberation is us. Our politics evolve from a healthy love for ourselves, our sisters, and our community which allows us to continue our struggle and work. This focusing upon our own oppression is embodied in the concept of identity politics. We believe that the most profound and potentially the most radical politics come directly out of our own identity […].⁴⁷

Neben dieser grundlegenden Definition von Identity Politics lieferte das Pamphlet eine Begründung für den Aktivismus jener Art. Es wird deutlich, dass auf „Identität“ zweierlei projiziert wurde: Sie fungiert sowohl als Ziel als auch als Vehikel für die entstehende Bewegung. Genau dieselben Muster sind in der Rhetorik des Zionismus zu finden. Um zunächst nur ein Beispiel anzuführen: Nachum Sokolow (1859 – 1936) verwies auf diesen Aspekt der Selbsthilfe bereits in seinem Werk Hibbath Zion zur Philosophie der „Zionsliebenden“, wenn er schreibt: „[T]he salvation of the Jews can only come about in a natural way, by self-help“. Er fügte in Klammern hinzu: „In this respect Kalischer was a precursor of Dr. Pinsker who only popularized the idea in a more modern form“.⁴⁸ Ein Blick in Pinskers Autoemancipation bestätigt Sokolows Aussage. Zunächst reicht natürlich ein Blick auf den Buchdeckel, der den Titel Autoemancipation trägt und somit explizit Haltung zur Selbsthilfe bezieht. Pinsker verdeutlicht sein Bestreben jedoch auch ausführlicher: „So wenig wie wir das Recht haben, alle anderen Völker für unser nationales Unglück verantwortlich zu machen, ebensowenig sind wir berechtigt, unser nationales Glück einzig und allein in ihre Hände zu legen“.⁴⁹ Auch in der Instruction für Zionisten befindet sich unter anderem eine Liste zionistischer Broschüren für die „Massenagitation“.⁵⁰ Die dort aufgeführte Broschüre von F. Hemann ist besonders interessant, da er der einzige christliche Autor war, der in dieses Verzeichnis aufgenommen

 The Combahee River Collective: A Black Feminist Statement. In: Feminist Theory Reader. Local and Global Perspectives. Hrsg. von Carole R. McCann und Seung-kyung Kim. New York/ London 2010, S. 106 – 112, hier S. 108. Hervorhebung d. Verf. Zudem ist hinzuzufügen, dass das Combahee River Collective, „a collective of black feminists“, durch die doppelte Unterdrückung in gender und in race, fortschrittliche Ideen entwickelte. Beispielsweise grenzten sie sich nicht so stark von Männern ab, da sie sich über den Race-Faktor noch mit „schwarzen“ Männern identifizieren konnten.  Sokolow, Nahum: Hibbath Zion. Jerusalem 1934, S. 23. Hervorhebung d. Verf.  Pinsker, Autoemancipation, S. 19.  Instruction für Zionisten, CZA Z1/9 – 3.

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wurde. Sein Das Erwachen der jüdischen Nation beginnt mit der Feststellung, dass die „Judenfrage […] in ein neues, großes und, wie zu hoffen ist, heilversprechendes Stadium getreten“ sei, „da die Juden ihre Lösung selbst in die Hand nehmen wollen“. So wäre laut Hemann damit „die Frage in die rechten Hände gekommen“, da die Judenfrage „durch niemand anderes, als die Juden selbst gelöst werden“ könne.⁵¹ Um nach diesem Beispiel auf die Theorie zurückzukommen: In den letzten Jahrzehnten wurde die Kritik an Identity Politics stärker. Besonders die anti-essentialistischen und dekonstruktivistischen Ansätze in der Forschung führten zu einer kritischen Distanz vom Konzept der Identität im Allgemeinen, und von der auf Differenzkategorien basierenden Konstruktion essentieller Identitäten im Besonderen. So ist auch das zionistische Denken, das von einem inneren essentiellen Wesen jedes Menschen ausgeht, nur schwer vereinbar mit poststrukturalistischen Konzeptionen, die mittlerweile in der Forschung breite Akzeptanz finden. In Reaktion auf die poststrukturalistischen Kritiker fordern dennoch einige Theoretikerinnen und Theoretiker, wie beispielsweise Linda Alcoff, eine „realistische“ Theorie der Identität, die darzustellen versuche, dass „Identitäten“ nicht „fictions imposed from above“ sondern „social embodied facts“ seien. Laut Alcoff ist daher auch Identitätspolitik zunächst „weder positiv noch negativ“ zu werten, sondern als „claim that identities are politically relevant“.⁵² Die Zionisten hätten dieser Aussage Alcoffs sicherlich zugestimmt. Argumentationsweisen dieser Art sind daher als aktivistische zu klassifizieren: Sie werden von einer Vielzahl anderer um Anerkennung kämpfender Bewegungen geteilt, entsprechen jedoch nicht den Ansprüchen poststrukturalistischer Forschung. Wie Rogers Brubaker und Frederick Cooper es formulierten: „Everyday ,identity talk‘ and ,identity politics‘ are real and important phenomena. But the contemporary salience of ,identity‘ as a category of practice does not require its use as a category of analysis“.⁵³ Daher können Begriffe wie „Nation“, „Identität“,

 Heman, F.: Das Erwachen der jüdischen Nation. Der Weg zur endgültigen Lösung der Judenfrage. Basel 1897, S. 3.  Alcoff, Linda: Reconsidering Identity Politics. An Introduction. In: Identity Politics Reconsidered. Hrsg. von Linda Alcoff. New York 2006, S. 1– 9, hier S. 6 f.  Brubaker, Rogers und Frederick Cooper: Beyond „Identity“. In: Theory and Society 29 (2000), S. 1– 47, hier S. 5. Sie beziehen sich auch auf das Konzept „Nation“: „Consider an analogy. ,Nation‘ is a widely used category of social and political practice. Appeals and claims made in the name of putative ,nations‘ – for example, claims to self-determination – have been central to politics for a hundred-and-fifty years. But one does not have to use ,nation‘ as an analytical category to understand and analyze such appeals and claims. One does not have to take a category inherent in the practice of nationalism – the realist, reifying conception of nations as real communities – and make this category central to the theory of nationalism. Nor does one have to use ,race‘ as a

5.3 Universalismus versus Partikularismus

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„Kultur“ oder auch „Authentizität“ der zionistischen Denker im Kontext des Aktivismus verstanden werden und sollten nicht – um Brubakers und Coopers Begriff aufzugreifen – als Analysekategorie dienen. Trotz der Parallelen ist es wichtig zu betonen, dass es zwischen den einzelnen Bewegungen erhebliche Unterschiede gab und gibt und jede in ihrem spezifischen Kontext eingebunden war und ist. In unserem Zusammenhang soll jedoch primär gezeigt werden, inwieweit die zionistische Argumentation Überschneidungen mit anderen Identitätspolitiken hat, ein Fakt, der vor allem im nächsten Unterkapitel deutlicher werden wird.

5.3 Universalismus versus Partikularismus Das Verhältnis von Partikularismus und Universalismus ist ein besonders herausstechendes Paradigma des zionistischen Diskurses. Die europäische Idee einer Nation hatte zunächst einen universalen Charakter. Doch in der Praxis, und auch nicht zuletzt aufgrund des Ideals der Authentizität, nahmen die Nationalismen einen anderen Kurs ein. In der Nationalismusforschung wird diese Zweischneidigkeit des Nationalismus anhand der Wechselbeziehung zwischen Universalismus und Partikularismus verdeutlicht. Wie Benedict Anderson, einer der Schlüsselfiguren der Nationalismusforschung, schreibt, manifestiert sich dieses Paradox durch einen „formellen Universalismus der Nationalität als sozio-kulturellem Konzept – in der modernen Welt kann, sollte und wird jeder eine Nationalität ,haben‘, so wie er oder sie auch ein Geschlecht ,hat‘“; und durch eine „unabänderliche Partikularität seiner konkreten Manifestationen […]“.⁵⁴ Mit anderen Worten, neben einer universalistischen Kategorie handelt es sich bei „Nation“ auch immer um eine partikulare Entität.⁵⁵

category of analysis – which risks taking for granted that ,race‘ exists – to understand and analyze social and political practices oriented to the presumed existence of putative ,races‘. Just as one can analyze ,nation-talk‘ and nationalist politics without positing the existence of ,nations‘, or ,race-talk‘ and ,race‘-oriented politics without positing the existence of ,races‘, so one can analyze ,identity-talk‘ and identity politics without, as analysts, positing the existence of ,identities‘“.  Anderson, Benedict: Imagined Communities. London/New York 1991 [1983], S. 5.  Ein plakatives Beispiel des ausgehenden 20. Jahrhunderts soll die Dynamiken des „Minderheitendiskurses“ und von Identitätspolitiken verdeutlichen. In seinem 1992 veröffentlichten Buch The Disuniting of America. Reflections on a Multicultural Society warf der Historiker Arthur Schlesinger den Aktivisten der African-American-Bewegung partikularistische Tendenzen vor. In seinem Buch – seinerzeit ein Bestseller in den USA – bezeichnete er die Identitätspolitik der African Americans als „artificial ethnic chauvinism“ (Schlesinger, Jr., Arthur M.: The Disuniting of America. Reflections on a Multicultural Society. New York/London 1992, S. 90). In der Einleitung

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Im Folgenden sollen in chronologischer Abfolge einige prägnante Beispiele präsentiert werden, die illustrieren, wie sich zionistische Autoren zu partikularistischen und universalistischen Aspekten positionierten. So wie zahlreiche andere marginalisierte Gruppen, die Identitätspolitik betrieben, mussten sich die Zionisten von Beginn an mit dem Vorwurf des Partikularismus auseinandersetzen. Bereits im ersten wienerischen zionistischen Periodikum Selbst-Emancipation beschäftigte sich Nathan Birnbaum eingehend mit solchen Anschuldigungen. So schreibt er: „Das Nationaljudenthume sei Separatismus, Eclusivität. Das ist das Erste, was wir zu hören bekommen“.⁵⁶ Birnbaum fährt fort: Vorwürfe, wie dieser, kommen eben daher, wenn Gegensätze einer früheren Zeit als Gegensätze der Gegenwart ausgegeben werden, während die letztere bereits ganz andere Unterscheidungsgründe und Unterscheidungszwecke hat.⁵⁷

Birnbaum wollte die Bestrebungen der Zionisten von diesem Separatismus abgegrenzt wissen. So schreibt er weiter: Separatismus im gehässigen Sinne des Wortes liegt nur vor, wenn sich irgend eine Gemeinschaft unnatürlicher Weise strenge absondert; die Separation verliert aber ihren ge-

zu The Afrocentric Idea bezog sich Molefi Kete Asante 1998 auf die von Schlesinger getroffenen Aussagen und verteidigte die Identitätspolitik der African-American-Bewegung folgendermaßen: „Schlesingerʼs argument, based on an idealized vision of a united America, was that the Afrocentrists, along with the multiculturalists, had manufactured ideas that would fragment the nation and capture the imagination of the American public in a manner that endangered both our culture and our future. His assumptions about American society and his conclusions about Afrocentricity were equally wrong. In fact, the aim of Afrocentrists is to seek ways to unite the country based on mutual respect for the cultural agency of all its peoples“ (Asante, Molefi Kete: The Afrocentric Idea. Philadelphia 1998, S. XI). In Asantes Reaktion auf den Partikularismusvorwurf zeigt sich deutlich, wie eine marginalisierte Gruppe ihre Aktivitäten als Verteidigung ihrer eigenen „Kultur“ und „Zukunft“ versteht. Der letzte Satz ist hier besonders wichtig, da Asante die Bestrebungen der Afrozentristen auf die gesamte Gesellschaft bezieht, die erst durch gegenseitigen Respekt zur Einheit („to unite the country“) komme. Tatsächlich ziehen sich Auseinandersetzungen wie diese durch die Diskurse zahlreicher Minderheitenbewegungen, die in einer distinkten „Nation“, „Kultur“ oder „Identität“ ein Vehikel zur Teilhabe an der Weltgemeinschaft sehen. Vor allem um den Begriff der „Identität“ und die Theorie der „Identitätspolitik“ werden sowohl zwischen Aktivistinnen und Aktivisten als auch zwischen Theoretikerinnen und Theoretikern sowie Forscherinnen und Forschern rege Diskussionen geführt, die stark zwischen Polen des Partikularismus und des Universalismus alternieren.  B[irnbaum], Nathan: Philister über Dich! In: Selbst-Emancipation, Nr. 7, 1. April 1891, S. 1. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Birnbaum, Philister, S. 1. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.

5.3 Universalismus versus Partikularismus

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hässigen Charakter, das Odium ihres Namens, wenn sie auf den natürlichen Unterschied der Nationalität sich gründet.⁵⁸

Die universale Ebene des Nationalismus ist hier deutlich zu erkennen: Der „natürliche Unterschied“ zwischen den Menschen, der die Begründung für die Unterteilung in Nationen sei, bedeute auch, dass jedes Individuum auf eine „natürliche“ Weise einer Nation angehöre. Birnbaum konkretisiert weiter: Der orthodoxe Jude, der aus angeblich bloß religiösen Gründen sich selbst aus der Gesellschaft der Andersgläubigen ausschloß, war thatsächlich Separatist, der Nationaljude aber, der sich offen zu einem besonderen Stamme und dessen Eigenart bekennt, und gerade deshalb den Anschluß an die übrigen Nationalitäten, freilich als selbstständiger und gleichwerthiger Genosse derselben, suchen muß, ist kein Separatist, oder ist es höchstens nur so weit, als es auch die Assimilanten sein müssen, nämlich so weit der ausschließende Zwang seitens der anderen Völker reicht. Wer würde es wagen, den Sclaven, der sich gerne auf eigene Füße stellen möchte, einen Separatisten zu nennen? ⁵⁹

An dieser Stelle dient der Verweis auf den „Sclaven“ vor allem dazu, die Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit der zionistischen Forderungen zu betonen und die zionistische Argumentation in den Minderheitendiskurs einzubetten. Zum einen möchte Birnbaum seine Bestrebungen von dem religiösen Separatismus abgegrenzt wissen; zum anderen argumentiert er für den Nationalismus als partikularistischen Weg, der allerdings zum „Anschluss“ an die anderen Nationen führe – soll heißen, ein universales Ziel verfolge. Mit anderen Worten, der Zionismus biete Juden die Möglichkeit, mit partikularen Bestrebungen eine universale Kategorie – jene der Nation – zu erreichen. Eine der zahlreichen Artikel, die zur Wechselbeziehung PartikularismusUniversalismus verfasst wurden, erschien bereits 1885 unter dem Pseudonym Ibn Asrak in der Jüdischen Rundschau. ⁶⁰ Ibn Asrak griff das berühmte Zitat des ebenso berühmten Rabbinen Hillel auf, das sowohl dem Pinskerʼschen Pamphlet Autoemancipation aus dem Jahre 1882 vorangestellt war als auch die Titelseite der wienerischen zionistischen Zeitschrift Selbst-Emancipation in den Jahren 1885

 Birnbaum, Philister, S. 1.  Birnbaum, Philister, S. 1. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.  Die Zeitung gebrauchte sehr häufig Pseudonyme und andere Ver- und Abkürzungen zur Unkenntlichmachung der Autoren. Beispielsweise „K… ‥y“. Siehe Selbst-Emancipation, Nr. 1, 1. Februar 1885, S. 3. Auch Herausgeber Nathan Birnbaum gebrauchte zahlreiche verschiedene Pseudonyme. Er nannte sich unter anderem Theodor Schwarz, Pantarhei und Mathias Palme.

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und 1886 schmückte: „Wenn ich selbst mir nicht helfe, wer denn? Und wenn nicht heute, wann denn?“⁶¹

Abb. 1: Titelblatt der ersten Ausgabe der Zeitschrift Selbst-Emancipation mit dem Zitat Hillels im Kopf

Laut Ibn Asrak in der Jüdischen Rundschau war dieses Zitat Hillels „ein von Zionisten und Nationaljuden viel geliebtes und vielgebrauchtes Wort“ geworden. Er bemängelte jedoch Pinskers selektive Wiedergabe des rabbinischen Ausspruchs, die den mittleren Teil des Zitats bewusst überging.⁶² Der erste Teil jenes Satzes – „Wenn ich nicht für mich bin, wer soll dann für mich sein?“ – drückte laut Ibn Asrak „den Egoismus, den Individualismus“ aus, und der zweite – „und wenn ich [für mich] alleine bin, was bin ich“ – den Universalismus. Ibn Asrak erläutert seinen Ansatz folgendermaßen: Keine der entgegengesetzten Weltanschauungen allein, sondern beide zu einem harmonischen Ganzen verschmolzen – das ist der grosse Gedanke, den Hillel ausspricht. Er warnt sein Volk vor jeder Einseitigkeit, sowohl vor einem starren, nackten Nationalismus, als auch vor

 Pinsker zitierte hier den Ausspruch Hillels aus Pirkei Avot 1, 14, („[…] Wenn ich nicht für mich bin, wer soll dann für mich sein; und wenn ich [für mich] alleine bin, was bin ich; und wenn nicht jetzt, wann dann?“), verzichtete jedoch auf den mittleren Teil, „und wenn ich für mich [alleine – Anm. d. Verf.] bin, was bin ich?“ Hebr. ‫ מה אני; ואם לא‬,‫ מי לי; וכשאני לעצמי‬,‫ אם אין אני לי‬,‫הוא היה אומר‬ .‫ אימתיי‬,‫עכשיו‬  Hebr. ‫וכשאני לעצמי מה אני‬

5.3 Universalismus versus Partikularismus

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einem verschwommenen, nichtssagenden Universalismus und Kosmopolitismus. Nationalismus mit einer Portion Universalismus, Universalismus mit einer Dosis Nationalismus – das ist das Rezept, welches er uns empfiehlt. Die Mischung soll zu einem einheitlichen Elemente werden, das nicht zerlegt werden darf. Einen oder den anderen der Urbestandteile allein anwenden, heisst Hillels Worte fälschen.⁶³

Hillels Worte seien bereits verfälscht worden, „als man einen blossen Kosmopolitismus vertrat und damit viel Unheil anrichtete, dadurch, dass man grosse Teile des Volkes aus dem Volkskörper ausschied“. Ibn Asraks Kritk am „nichtssagenden Universalismus und Kosmopolitismus“ tritt hier deutlich zum Vorschein. Als man zudem begann sich vom Kosmopolitismus anzuwenden, „da blieb man an einem bizarren Nationalismus kleben, allein der Worte ,im en ani li, mi li‘ gedenkend“.⁶⁴ Die Abwertung dieser Form des Nationalismus, beziehungsweise Chauvinismus wird im Artikel klar. Dieser Nationalismus sei zudem nach Ibn Asrak nicht „natürlich“, denn […] die Entwickelung der Menschheit geht darauf hinaus, wie im wirtschaftlichen, so auch im geistigen und kulturellen Leben die Grenzen zwischen den einzelnen Menschengemeinschaften zu beseitigen und ein gemeinsames, neutrales Gebiet zu schaffen. Diese Entwicklung lässt sich nicht aufhalten und sie ist auch tatsächlich durch keine der modernen Nationalitätsbestrebungen aufgehalten worden.⁶⁵

Etwas anderes könne nur ein Blinder behaupten, so der Autor weiter. Bei dem „edelsten Zweig menschlichen Geisteslebens“, der Wissenschaft, gebe es schließlich auch keine „nationale Wissenschaft“. Haben nicht die Juden unendlich viel für die deutsche Wissenschaft geleistet? Sollen sie davon ablassen? Das würde wohl kaum der fanatischste Nationalist verlangen können. Aber mit Recht darf er die Forderung aufstellen, dass der Jude sich auch jüdisches Wissen aneigne und es zu fördern sich bemühe […]. Aber er soll die jüdische Wissenschaft nicht in einer Weise beackern, die nur dem Juden, oder gar nur einem kleinen Teile von ihnen verständlich ist; er soll dafür sorgen, dass die Früchte des spezifisch jüdischen Geisteslebens auch anderen Völkern zugute kommen. Damit leistet er sowohl dem eigenen Volke einen unermesslichen Dienst, indem er ihm Einfluss auf das gesamte menschliche Geistesleben sichert […]; aber er ist auch zugleich ein treuer Diener der universalen Geistesbildung, der er etwas gibt, was ihr nicht ein jeder zu geben vermag, die er neu belebt und erfrischt und befruchtet.⁶⁶

 Ibn Asrak: Gegen den abstrakten jüdischen Nationalismus. In: Jüdische Rundschau, Nr. 1, 2. Januar 1903, S. 2– 3, hier S. 2. Hervorhebung d. Verf.  Ibn Asrak, Gegen den abstrakten jüdischen Nationalismus, S. 2.  Ibn Asrak, Gegen den abstrakten jüdischen Nationalismus, S. 2 f.  Ibn Asrak, Gegen den abstrakten jüdischen Nationalismus, S. 3.

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Um sein Argument zu untermauern, zitiert Ibn Asrak den dritten Teil des Satzes des von ihm nationalisierten Hillel: „Und wenn nicht jetzt, wann denn?“ Er argumentiert, dass beide „Prinzipien [auch zeitlich] eine geschlossene Einheit bilden“ sollen. „Ferner, sie sollen vereint die Grundlage für ein Gegenwartsprogramm sein, keine Zukunftsmusik!“ Was verbietet uns Hillel? Unsere Person, unser Leben, unsere Kultur, unser Denken und Fühlen, unser Wissen und Können gegen Einflüsse und Eindrücke, die von wo anders her als aus dem eigenen Volke kommen, hermetisch abzuschliessen und nur für unsere engere Gemeinschaft zu wirken und zu streben. Was gebietet er uns? Unsere Eigenheit zu bewahren, rastlos für das jüdische Volk zu arbeiten und dabei auch stets an das Ganze an die grosse, alle Menschen umfassende Gemeinschaft zu denken.⁶⁷

Mit diesem Ansatz versucht Ibn Asrak, „zwei moderne Gegensätze zu einer wahrhaft idealen Weltanschauung [zu] vereinigen“.⁶⁸ Kurzum, mithilfe der Konstruktion einer eigenen Nation strebten die Zionisten danach, die Gesellschaft an sich zu vereinen. Indem sie sich eine Nation erschaffen, würde die wirkliche Gleichstellung von Juden und damit auch die Einheit der Menschheit und der Welt erreicht werden. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie sich Differenzkategorien in Identitätspolitiken, wie „Nation“, „Identität“ und „Kultur“ oder auch „Authentizität“, verhalten: Einerseits wird eine Differenz konstruiert, mit deren Hilfe eine Gleichheit in der Gesellschaft erreicht werden soll. Andererseits wurde im deutschsprachigen Zionismus der Begriff der „Nation“ nicht ausschließlich als ein Differenz- oder ein Universalbegriff, sondern vor allem als ein hybrides Konzept verstanden, das zwischen Partikularismus und Universalismus oszillierte. Die Sicht, dass die Fragmentierung der Menschheit in Nationen lediglich eine Entwicklungstufe ihrer Geschichte ausmacht, die früher oder später überwunden werden kann, wurde bereits von Pinsker formuliert. Pinsker betonte in Autoemancipation, dass „[j]ener Messiastag, an welchem die ,Internationale‘ verschwinden und die Nationen in der Menschheit aufgehen werden“ ja „noch in unsichtbarer Ferne“ liege. „Bis dahin müssen die Wünsche und Ideale der Völker sich darauf beschränken, einen erträglichen modus vivendi zu schaffen“.⁶⁹ Kurz, der Nationalismus entspricht zwar nicht dem Idealzustand, aber als „modus vivendi“ erscheint er unabdinglich. So misstraute man zwar einerseits den uni-

 Ibn Asrak, Gegen den abstrakten jüdischen Nationalismus, S. 3.  Ibn Asrak, Gegen den abstrakten jüdischen Nationalismus, S. 3.  Pinsker, Autoemancipation, S. 1.

5.3 Universalismus versus Partikularismus

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versalistischen und kosmopolitischen Prinzipien, wie in den zionistischen Pamphleten nur zu deutlich wurde, andererseits stellte der Zionismus lediglich ein partikularistisches Intermezzo auf dem Weg zur universalen messianischen Zukunft dar. Martin Buber folgte einem ähnlichen Modell, das jedoch noch stärker den jüdischen Messianismus miteinbezog. Die Vervollkommnung des eigenen Volkes sollte letztendlich einen umfassenden Humanismus entstehen lassen. Auch für Buber war der Partikularismus des jüdischen Nationalismus ein Mittel zum Zweck für das Erreichen der Einheit des Menschengeschlechts. Diese messianische Perspektive gestattete es Buber und anderen Vertretern des Kulturzionismus, das Streben nach individueller und kollektiver Authentizität im Rahmen eines höheren ethischen und humanistischen Ideals zu betrachten. Besonders in den Zwanzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts, als die politische Situation in Palästina sich zuzuspitzen begann, versuchten einige Zionisten auf dieser Art des Buberʼschen jüdischen Nationalismus zu beharren. Gerhard Holdheim und Walter Preuss, beides zionistische Aktivisten der zweiten Generation, griffen diese Ansätze in ihrer Informationsbroschüre Die theoretischen Grundlagen des Zionismus von 1919 auf.⁷⁰ Darin behaupteten sie, dass der Kosmopolitismus erstens wegen der „natürliche[n] Unterschiede der Völker“ im Grunde „utopisch“ sei. Zweitens wäre er „keineswegs als Ideal erwünscht“, da „diese Art der Gleichmacherei, ,das häßliche Graubraun ohne alle Leuchtkraft‘“ ihrer Meinung nach „durchaus kulturfeindlich und zudem nicht einmal notwendig“ wäre, „um die Vorteile des höheren Glückes und Friedens zu erreichen“.⁷¹ Sie sahen zudem keine Gefahr, dass der jüdische Nationalismus in einen „chauvinistischen Nationalismus“ abdriften könne:⁷² Das Judentum, aus dem die Idee der messianischen Gerechtigkeit geboren wurde, wird bei noch so starker Betonung der nationalen Zusammenhänge den Menschheitsgedanken stets als oberstes Prinzip anerkennen. So setzen wir dem alles verwischenden utopischen Kosmopolitismus nicht nationalen Egoismus gegenüber, der das Streben nach passiver oder aktiver Unterdrückung anderer Volksart ist, sondern die Gesinnung, die die Nation als Naturgegebenheit bejaht und deren schöpferische Auswirkung im Menschheitsinteresse erstrebt.⁷³

 Holdheim, Gerhard und Walter Preuss: Die theoretischen Grundlagen des Zionismus. Ein Leitfaden. Berlin 1919. Vgl. auch Miron, Zionut we-leʼumiut jehudit be-Germanja, S. 305 f.  Holdheim/Preuss, Die theoretischen Grundlagen, S. 44.  Holdheim/Preuss, Die theoretischen Grundlagen, S. 45.  Holdheim/Preuss, Die theoretischen Grundlagen, S. 45.

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5 Der deutsche Zionismus, „Minderheitendiskurs“ und Liberalismus

Der aus Prag stammende Nationalismusforscher und ehemalige Zionist Hans Kohn (1891– 1971) betonte in seinen Memoiren Bürger vieler Welten, dass „[d]ie Weite von Bubers geistigem Horizont“ ihn und seine Mitzionisten „vor nationalkultureller Enge“ beschützt und dafür gesorgt habe, dass sie ihr „nationales Denken in ein umfassendes humanitäres und kosmopolitisches Weltbild“ integriert hätten.⁷⁴ Kohn, der aufgrund der politischen Realität in Palästina dem Zionismus den Rücken zugekehrt hatte, beschäftigte sich eingehend mit Fragen des Universalismus und Partikularismus im Nationalismus. Sein 1944 erschienenes Buch The Idea of Nationalism behandelte den Nationalismus zusammen mit dem Universalismus von der Antike bis 1789.⁷⁵ Kohn beharrte angesichts der sich zuspitzenden politischen Lage in Palästina und in Auseinandersetzung mit dem revisionistischen Zionismus auf einem ethischen jüdischen Nationalismus. „[D]ie Schaffung eines ,Staates‘“, so fasst es Christian Wiese zusammen, sei das „Ziel des aus dem Geist der Aufklärung und der Französischen Revolution stammenden sittlichen, menschlichen, kosmopolitischen Nationalismus“. Dieser solle jedoch „keine Herrschaft mehr ausübe[n]“ und nicht „von dem eitlen Wahn der politischen Unabhängigkeit“ geleitet werden.⁷⁶ Kohns Meinung nach sollten sich die Zionisten angesichts der Situation in Palästina nicht „von nationalistischem Chauvinismus betören“ lassen, denn „[d]er jüdische Nationalismus“ sei „stets ein sittlicher Nationalismus“ gewesen.⁷⁷ Auch für den Prager Zionisten und späteren Herausgeber der Jüdischen Rundschau Robert Weltsch (1891– 1982) waren, wie Christian Wiese darstellt, Auseinandersetzungen mit dem Nationalismus ebenso geprägt von dem Bewusstsein der positiven und negativen Gesichtspunkte des Nationalismus oder einer „Doppelgesichtigkeit des Nationalismus“, wie er es 1925 in seinem Artikel in der Jüdischen Rundschau formulierte. Für Weltsch hatte der Zionismus nur dann eine Berechtigung, wenn er von ethischen Idealen, der „Idee des Friedens“

 Kohn, Hans: Bürger vieler Welten. Ein Leben im Zeitalter der Weltrevolution. Frauenfeld 1965, S. 98. Zu Hans Kohn und dem Prager Zionismus siehe auch Shumsky, Dimitry: Zweisprachigkeit und binationale Idee. Der Prager Zionismus 1900 – 1930. Göttingen 2013.  Kohn, Bürger vieler Welten, S. 217.  Wiese, Christian: „Doppelgesichtigkeit des Nationalismus“. Die Ambivalenz zionistischer Identität bei Robert Weltsch und Hans Kohn. In: Janusfiguren. „Jüdische Heimstätte“, Exil und Nation im deutschen Zionismus Hrsg. von Andrea Schatz und Christian Wiese. Berlin 2006, S. 213 – 252, hier S. 227.  Kohn, Hans: Zur Araberfrage. In: Der Jude, Nr. 4, 1919/1920, S. 567– 569, hier S. 569. Zitiert in Wiese, Doppelgesichtigkeit des Nationalismus, S. 228. Zu Kohns Auseinandersetzung mit Kolonialismus siehe Maor, Zohar: Hans Kohn and the Dialectics of Colonialism: Insights on Nationalism and Colonialism from Within. In: LBIYB 55 (2010), S. 255 – 271.

5.3 Universalismus versus Partikularismus

177

und der „gegenseitigen Achtung der Völker“ geleitet war. Daher auferlegte er dem Zionismus buchstäblich die „Läuterung des Nationalismus“ als Aufgabe.⁷⁸ Dabei sticht in diesem Kapitel vor allem die Tatsache hervor, dass universale und humanistische Ansätze bei zahlreichen Persönlichkeiten dennoch oftmals mit harschen Abgrenzungen zu anderen Marginalisierten gepaart waren. In der jüngeren Forschung wurde bereits aufgezeigt, dass das von den Zionistinnen und Zionisten vertretene Ideal des Liberalismus voller Widersprüche war.⁷⁹ Zum einen, wie bereits in der vorliegenden Studie argumentiert wurde, lag eine Grenze in der nationalen Theorie selbst, in der die Vorstellung herrschte, dass sich das Individuum, um frei zu sein, vollkommen der Nation unterstellen müsse. Darüber hinaus wurden bereits geschlechtsspezifische Grenzen aufgezeigt, die ebenso am allumfassenden Liberalismus der zionistischen Denker zweifeln lassen. Auch die in diesem Kapitel herausgearbeiteten hierarchischen Abgrenzungen zu anderen Marginalisierten belegen zusammen mit dem Versuch der Harmonisierung partikularer und universaler Aspekte eine für den zionistischen Diskurs spezifische Verbindung von liberalen und anti-liberalen Aspekten.

 Wiese, Doppelgesichtigkeit des Nationalismus, S. 219.  Siehe beispielsweise auch Stanislawski, Michael: Zionism and the Fin de Siècle. Cosmopolitanism and Nationalism from Nordau to Jabotinsky. Berkeley [u. a.] 2001. Stanislawski widmet sich in dieser Monographie den Persönlichkeiten Max Nordau, Ephraim Lilien und Vladimir Jabotinsky. In seinem Sammelband At the Edges of Liberalism. Junctions of European, German, and Jewish History beleuchtet Steven E. Aschheim den ambivalenten Zusammenhang zwischen dem deutsch-jüdischen Diskurs und Liberalismus bei anderen Persönlichkeiten wie Theodor Adorno, Hannah Arendt, Walter Benjamin, Franz Rosenzweig, Gerschom Scholem und Leo Strauss (Aschheim, Steven E.: At the Edges of Liberalism. Junctions of European, German, and Jewish History. New York 2012, besonders das Kapitel „Icons Beyond Their Borders: The German-Jewish Intellectual Legacy at the Beginning of the Twenty-First Century“, S. 7– 20).

6 Authentizität in Kunst, Literatur und kultureller Praxis „Die gesellschaftliche Artikulation von Differenz ist aus der Minderheitenperspektive ein komplexes, fortlaufendes Verhandeln, welches versucht, kulturelle Hybriditäten zu autorisieren, die in Augenblicken historischen Wandels aufkommen“. – Homi K. Bhabha¹

In diesem Kapitel schließt sich hinsichtlich der Analyse des Konzeptes der Authentizität ein Kreis. Um die zionistische Kunst, Literatur, die kulturellen Praktiken und am Rande auch die Musik zu besprechen, bewegt sich dieses Kapitel in der künstlerischen Sphäre, in der der allgemeine Diskurs der Authentizität im 16. Jahrhundert einen seiner Anfänge fand. Die kulturellen Zusammenhänge des zionistischen Diskurses wurden in der Forschungsliteratur bisher vor allem anhand der von zionistischen Organisationen ausgewählten Ästhetiken und kulturellen Praktiken analysiert. So führt Michael Berkowitz in seinem Standardwerk Zionist Culture and West European Jewry before the First World War eine Vielzahl von Aspekten zionistischer Kultur an, darunter die Zionistenkongresse, die Feierlichkeiten der den deutschen Studentenverbindungen nachempfundenen Kommersfeste auf den Kongressen, die Gestaltung der Zeitschrift Die Welt, die Etablierung einer Hymne und einer Flagge, Personenkulte um Figuren wie Herzl und Nordau, die Einrichtung des Jüdischen Nationalfonds Keren Kajemet (Hebr. ‫)קרן קימת לישראל‬, die Ölbaumspende und das Führen des Goldenen Buches, in dem die Namen der Spender für den Nationalfonds vermerkt wurden.² Neben den von Berkowitz erwähnten Aspekten stehen im Folgenden andere Genres, und zwar vor allem künstlerische Produktionen aus dem privaten Raum und aus der Kindererziehung im Mittelpunkt. Quellen dieser Art geben Einblicke in das Privatleben zionistischer Aktivistinnen und Aktivisten und erklären die Rolle, die der Zionismus darin spielte. Um die Konstruktion einer jüdischen kulturellen Authentizität nachzuzeichnen, wird sich die folgende Diskussion mit dem Ehepaar Adele Straus und Aron Sandler beschäftigen. Dabei stehen jene Kunstwerke, die ihr gemeinsames Leben begleiteten, im Fokus. Anhand der hier dargestellten außergewöhnlichen Objekte wird deutlich, in welchem Ausmaß

 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000, S. 3.  Berkowitz, Michael: Zionist Culture and West European Jewry before the First World War. Chapel Hill/London 1993. https://doi.org/10.1515/9783110546019-008

6.1 Aron und Adele Sandler

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das Kaiserreich für das Paar das Zentrum deutsch-zionistischer kultureller und sprachlicher Verortung bildete. Zionistische und jüdische Assoziationen dienten dabei der Erschaffung eines Gegennarratives und einer transkulturellen deutschjüdischen Kultur. Sie versuchten damit – um mit den eingangs zitierten Worten Homi K. Bhabhas zu sprechen – die deutsch-jüdische Kultur als transkulturelle Entität im Kaiserreich zu „autorisieren“.³ Neben der deutsch-zionistischen Kunst und Literatur – zum Teil für Kinder, zum Teil für Erwachsene – wird zudem in diesem Kapitel eine buchstäblich obligatorische kulturelle Konvention der Zionisten ausgewertet: die Palästina-Reise.

6.1 Aron und Adele Sandler Zunächst sind einige biographische Daten zu Aron (1879 – 1954) und Adele (1883 – 1946) Sandler angebracht. Aron studierte zunächst am Berliner Rabbiner-Seminar von Dr. Esriel Hildesheimer (1820 – 1873) und später Medizin in den Städten Königsberg, Berlin und Würzburg. Ungefähr um das Jahr 1900 begann sich in Würzburg „ein kleiner Kreis junger Zionisten“ zu formieren, zu dem sich auch Aron gesellte. Die Künstlerin Adele Sandler (geb. Straus) wurde 1883 in Karlsruhe geboren. Sie war augenscheinlich jedoch nicht verwandt mit der Familie Rahel Strausʼ, die auch aus Karlsruhe stammte und eine mittlerweile sehr bekannte Autobiographie verfasste.⁴ Die wenigen biographischen Informationen zu Adele erhält man aus den Memoiren ihres Mannes Aron, die sich im Zionistischen Zentralarchiv in Jerusalem befinden. Ihr Vater Samuel Straus arbeitete als Bankier in ihrer Heimatstadt und war „ein frommer Mann, der einen großen Ruf als Philanthrop genoss“.⁵ Adeles Vater engagierte sich für einzelne Projekte im „alten Jischuw“. Er war in die Gründung des Cheder Straus [hebr. ‫חדר שטראוס‬, ein nach ihm benanntes Lehrhaus – Anm. d.Verf.], der Batei Machse [hebr. ‫בתי מחסה‬, Armenhäuser – Anm. d. Verf.], und des Krankenhauses Shearei Zedek [hebr. ‫שערי‬

 Wie bereits in Kapitel 3 dieser Arbeit in Zusammenhang mit dem Konzept der Assimilation bemerkt wurde, schwingt bei diesen Konzepten oftmals die Gegenwärtigkeit einer „reinen Kultur“ mit. Auch impliziert der Verweis auf Hybridität nicht selten, dass es andere „Kulturen“ gäbe, die nicht hybride seien.  Vgl. Straus, Rahel: Wir lebten in Deutschland. Erinnerungen einer deutschen Jüdin. Stuttgart 1962. Adeles Vater, der Bankier Samuel Straus, „[e]ine der wichtigsten und menschlich bedeutendsten Persönlichkeiten der Trennungsgemeinde“, nahm bei Rahels Vater religiösen Privatunterricht (Ebd. S. 28).  CZA A 69/8, S. 50.

180

6 Authentizität in Kunst, Literatur und kultureller Praxis

‫ ]צדק‬involviert.⁶ Adele war eines von acht Kindern, die allesamt „von Jugend auf Zionisten“ waren.⁷ „Ihr zionistisches Interesse“ zeigte Adele laut Aron dadurch, dass sie „eine hebräisch sprechende Lehrerin (aus Palästina)“ engagierte, damit „die Kinder frühzeitig das hebräische als Umgangssprache lernten“.⁸ Aron und Adele lernten sich schließlich auf dem siebten Zionistenkongress in Basel im Jahre 1905 kennen und heirateten am 7. Februar 1907. Das erste Mal besuchten sie Palästina anlässlich ihrer Hochzeitsreise noch im selben Jahr. Die Reiseroute führte sie durch Ägypten, Palästina, Libanon, Smyrna, Konstantinopel, Budapest und Breslau.⁹ 1912 zogen sie nach Berlin, wo sie bis zu ihrer Emigration nach Palästina im Jahr 1934 lebten.

6.2 Die „Kulturfrage“ Die sogenannte „Kulturfrage“, in deren Kontext die Bedeutung einer eigenen jüdischen Kunst, Kultur und Literatur verhandelt wurde, hat den zionistischen Diskurs überaus tangiert. Sie wurde bereits vor dem ersten Zionistenkongress von 1897 kontrovers diskutiert. Oftmals ging man in der Forschung davon aus, dass sich die Bewegung in drei Lager teilen lässt: Erstens die sogenannten „Kulturzionisten“ und die Demokratische Fraktion, für die kulturelle Belange einen zentralen Stellenwert einnahmen; zweitens „religiöse Zionisten“, die einer säkularisierten jüdischen Kultur ablehnend gegenüberstanden; und drittens eine offenbar „neutrale“ Gruppe, vertreten durch Herzl, der es wichtig war, die Einheit der Bewegung zu schützen.¹⁰ Diese Klassifizierung wurde in der jüngeren Forschung jedoch weitgehend relativiert oder gar revidiert.¹¹ Dimitry Shumsky bezeichnete es sogar als „einen der tiefsten Mythen der frühen zionistischen Historiographie“, Herzl als kulturell „neutral“ zu bezeichnen. Herzl sei nicht weniger ein kultureller Zionist als Achad Haam gewesen; Herzls „kulturelle Vision“ un-

 CZA A 69/8, S. 50.  CZA A 69/8, S. 50.  CZA A 69/8, S. 51.  Vgl. CZA A 69/8, S. 51.  Vgl. Almog, Shmuel: Zionism and History. The Rise of a New Jewish Consciousness. Jerusalem 1987, S. 84. Er bezieht sich damit auf Vital, David: Zionism. The Formative Years. Oxford 1982, S. 207 f.  Siehe hierzu auch Gelber, Melancholy Pride, S. 10. Für weitere Widersprüche im konstruierten Antagonismus zwischen Theodor Herzl und Achad Haam siehe Kapitel 4 dieser Arbeit.

6.3 Zionistische Kunst, Kultur und Literatur

181

terschied sich lediglich von jener Achad Haams.¹² In derselben Weise nahm man Abstand von der Behauptung, Achad Haam habe sich ausschließlich mit kulturellen Belangen beschäftigt, da auch er politisch agierte.¹³ Die im Folgenden diskutierten Quellen bestärken diese Infragestellung. So bemerkte beispielsweise Aron Sandler vermutlich 1934 in seinen unveröffentlichten Memoiren: Die meisten denkenden Zionisten in Deutschland waren sich der Wurzellosigkeit ihres bisherigen Innenlebens bewusst und strebten nach einer jüdischen kulturellen Vertiefung, gleichviel ob sie auf das rein politische Programm eingeschworen waren oder der praktischen Arbeit in Palästina und zumeist auch in der Golah zuneigten. ¹⁴

Laut Sandler waren demnach die „meisten“ zionistischen Denker in Deutschland – nicht nur die „Kulturzionisten“ – an kulturellen Zusammenhängen interessiert und wollten der mit dem von Kurt Blumenfeld geprägten Schlagwort bezeichneten „Wurzellosigkeit“ entkommen. Selbst Hermann Struck, einer der bekanntesten Künstler des frühen deutschen Zionismus, war Anhänger der 1902 gegründeten religiös-zionistischen Mizrachi-Gruppe [Akronym für hebr. ‫מרכז‬ ‫רוחני‬, Merkaz Ruchani, geistiges Zentrum] und widerlegt somit die oftmals stark stilisierte Abwehrhaltung der Religiösen gegenüber der „Kulturfrage“. Tatsächlich war es einer der „großen Erfolge der Bewegung“, so Berkowitz, dass die Mythen und Symbole, derer sich die Zionisten bedienten, als Teil einer „authentischen, typisch jüdischen Identität“ akzeptiert wurden.¹⁵ Die zionistischen Denker versuchten, „Juden mit einer kompletten Lebensart auszustatten, oder zumindest den Tenor ihrer Leben zu bestimmen“.¹⁶

6.3 Zionistische Kunst, Kultur und Literatur Die Bedeutung von Kunst für die zionistische Bewegung wurde auf dem 5. Zionistenkongress, der vom 26. bis zum 30. Dezember 1901 in Basel tagte, von Martin Buber betont. In seiner Kongressrede stellte Buber dar, wie während der Zeit des

 Shumsky, Dimitry: „This Ship Is Zion!“ Travel, Tourism, and Cultural Zionism in Theodor Herzlʼs Altneuland. In: The Jewish Quarterly Review 104 (Summer 2014), No. 3, S. 471– 493, hier S. 479.  Vgl. hierzu Zipperstein, Steven J.: Elusive Prophet. Ahad Ha᾽am and the Origins of Zionism. Berkeley/Los Angeles 1993. Als ein Beispiel sei hier herausgegriffen, dass Achad Haam stark in die Angelegenheit der Balfour-Deklaration involviert war.  CZA A 69/2, S. 17. Hervorhebung d. Verf.  Berkowitz, Zionist Culture, S. XIII.  Berkowitz, Zionist Culture, S. 2.

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6 Authentizität in Kunst, Literatur und kultureller Praxis

„Exils“ Juden „das künstlerische Schaffen“ vorenthalten gewesen sei.¹⁷ Im Einklang mit seinen neo-romantischen Ansätzen bezeichnete er Kunst als jene Essenz, „worin sich das Wesen einer Nation am vollsten und am reinsten ausspricht“, als „[…] das heilige Wort der Volksseele“.¹⁸ Mittlerweile gebe es wieder nicht nur Künstler „jüdischer Abstammung“, sondern durch und durch jüdische Künstler, die – hier bediente sich Buber abermals des Blut-Narrativs – „von der Kraft des Blutes getrieben“ sind.¹⁹ Sie bedienten sich in ihren Werken eines „Schatz[es] von feinen heimlichen Seelenwerten“ und „verwandten das von der unbewußten Arbeit der Volksgeschlechter Geschaffene: Motive und Stoffe“. Konkret meinte Buber damit „die Sprache, die Sitten, die naive Volkskunst der Lieder und Melodien, der Leuchter und Gewänder“. Laut Buber sollte man diesen Schatz „nicht als etwas Heiliges mit scheuer Ehrfurcht betrachten, sondern als das Material, aus dem […] eine neue Schönheit“ geschaffen werden sollte. Mit anderen Worten, „nicht als Statuen, die man nur von ferne bewundern darf, sondern als einen wertvollen Marmorblock“, der nur auf die „Hand“ und den „Meißel“ der jüdischen Künstler wartete.²⁰ Für Buber belegte jedoch auch diese Art von Künstlern noch nicht das „Vorhandensein einer nationalen Kunst“, da es noch nicht genügend „Zusammenhang der Künstler, sowohl untereinander, als mit dem Volke selbst und dessen Idealen“ gebe. Zudem benötige eine „nationale Kunst“ auch „einen Erdboden, aus dem sie hervorwächst, und einen Himmel, dem sie entgegenblüht“.²¹ Kurz, „[e]ine vollendete jüdische Kunst wird erst auf jüdischem Boden möglich sein, ebenso wie eine vollendete jüdische Kultur überhaupt“.²² Die bereits bestehende jüdische Kunst repräsentierte demnach „Kulturkeime“ beziehungsweise „Kunstkeime“, denen man sich „in der Fremde“ widmen müsse, bevor man sie „in heimatliche Erde verpflanzen“ könne.²³ In anderen Worten ausgedrückt: „Das, was wir jüdische Kunst nennen, ist kein Sein, sondern ein Werden“:²⁴ Denn in dem künstlerischen Schaffen sprechen sich die spezifischen Eigenschaften der Nation am reinsten aus; alles, was diesem Volke, und nur ihm, eigen ist, das Einzigartige und

 Buber, Martin: Von jüdischer Kunst. In: Martin Buber: Die jüdische Bewegung. Gesammelte Aufsätze und Ansprachen 1900 – 1915. Berlin 1916, S. 58 – 67, hier S. 59.  Buber, Von jüdischer Kunst, S. 59.  Buber, Von jüdischer Kunst, S. 61 f.  Buber, Von jüdischer Kunst, S. 62.  Buber, Von jüdischer Kunst, S. 63.  Buber, Von jüdischer Kunst, S. 64.  Zum Konzept der Verpflanzung bei Theodor Herzl vgl. Shumsky, This Ship Is Zion, S. 480.  Buber, Von jüdischer Kunst, S. 64.

6.3 Zionistische Kunst, Kultur und Literatur

183

Unvergleichbare an ihm, findet greifbare lebendige Gestalt in seiner Kunst. So ist unsere Kunst der schönste Weg unseres Volkes zu sich selbst.²⁵

Damit käme der Kunst gleichermaßen die Aufgabe eines „Erzieher[s] zu lebendigem Anschauen der Natur und der Menschen, zu lebendigem Empfinden alles Starken und Schönen“ zu:²⁶ Und es ist sehr wesentlich für uns als Zionisten, daß dieses lebendige Anschauen und Empfinden unserem Volke wiedergewonnen werden. Denn nur ganze Menschen können ganze Juden sein – die fähig und würdig sind, eine eigene Heimat sich zu erschaffen. Aber unsere Kunst bedeutet noch in viel direkter Weise einen Erzieher zum wahren Judentum. Keine Sprache ist so eindringlich, so überzeugend wie die Sprache der Kunst, keine kann so wie sie offenbaren, was das Leben und was die Wahrheit ist.²⁷

Buber fasst hier zusammen, inwieweit eine jüdische Kunst für das Erreichen eines authentischen Judentums unverzichtbar ist. Durch die Kunst, die hier für das Lebendige im Volk stehe, werde der Jude ein authentischer Mensch. Die Kunst wird dadurch als Ausdruck eines lebendigen, authentischen Judentums schlechthin interpretiert. Diese Ansichten veranlassten Buber zur Gründung des Jüdischen Verlags, in dem gleich zu Beginn sowohl der Juedische Almanach (1902) als auch das Werk Jüdische Künstler (1903) veröffentlicht wurden.²⁸ Um Kultur als entscheidenden Faktor für den Zusammenhalt des jüdischen Volkes hervorzuheben, argumentiert Buber im Juedischen Almanach, dass ein Zusammenhang zwischen der Kultur und dem „Blut“ bestehe. Er schrieb: Ein Volk wird zusammengehalten durch primäre Elemente: das Blut, das Schicksal – soweit es auf der Entwickelung des Blutes beruht – und die kulturschöpferische Kraft – soweit sie durch die aus dem Blute entstandene Eigenart bedingt wird. Ein Volk wird nicht zusammengehalten durch sekundäre Elemente: Nutzzweck und Glauben (wie wirtschaftliche oder religiöse Gruppen).²⁹

 Buber, Von jüdischer Kunst, S. 65.  Buber, Von jüdischer Kunst, S. 66.  Buber, Von jüdischer Kunst, S. 66. Hervorhebung d. Verf.  Buber, Von jüdischer Kunst, S. 75 f.  Buber, Martin: Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung. In: Juedischer Almanach. Teilweise veraenderte Neuausgabe. Berlin 1904, S. 24– 30, hier S. 24. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.

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6 Authentizität in Kunst, Literatur und kultureller Praxis

Dass hier das Blut und die konform mit diesem erschaffene Kunst ein Volk mehr eint als alles andere, ist hier besonders bezeichnend.³⁰ Das nationale Judentum manifestiert sich somit in der von Juden erschaffenen Kultur. Die Teilhabe an dieser Kultur ist wiederum für den einzelnen Menschen außerordentlich bereichernd. In Bubers Worten: „So wird der erlöst, der zum Volke kommt“, beziehungsweise: „Durch das Volkstum wird der einzelne allezeit bereichert und gefestigt […]“.³¹ Auch der österreichische Zionist und Schriftsteller Berthold Feiwel (1875 – 1937) betonte im Vorwort vom Juedischen Almanach die Verbindung zwischen jüdischer Kunst und dem Erschaffen authentischer Menschen: Ein Stück jüdischer Kulturarbeit wollten wir leisten und mehr noch vermitteln helfen, da wir eine Zentralstelle zur Förderung jüdischer Literatur, Kunst und Wissenschaft ins Leben gerufen haben. Neben dem jüdisch-sittlichen Ideal, das dem jüdischen Menschen wieder Einheit und Festigkeit, nationales und persönliches Selbstbewusstsein gibt, soll das jüdische-ästhetische aufgerichtet werden. In die neue jüdische Lebensanschauung soll etwas Tiefinnerliches, Seelenvolles einströmen, eine neue Macht, eine neue Schönheit.³²

In seinem Geleitwort zur ersten Ausgabe beschreibt Feiwel den Juedischen Almanach selbst als die Darstellung eines ästhetischen Judentums, das sich in Büchern, Bildern und Musik widerspiegelt. Auch hier ist der Versuch zu erkennen, ein authentisches Judentum zu konstruieren. Feiwel erläuterte diese Strategie folgendermaßen: Denen aber, die das Judentum bisher nicht kannten oder nicht kennen wollten, und denen, die glaubten, das aller Glanz ihm erstorben und nur ein tagscheuer Rest dunkler Altertümlichkeiten übriggeblieben sei, soll in Formen, die sie bis jetzt nur bei anderen Völkern finden und lieben konnte, das lebendige, schaffende, ringende, sich befreiende Judentum gezeigt werden. So sollen sie auf schönen Strassen zu ihrem Volke und zu seiner Zukunft den Weg finden. […] Das jüdisch-ästhetische Ideal wird bald nicht nur vor dem Volke stehen, sondern in jedem jüdischen Hause wohnen können. Jüdische Bücher, jüdische Bilder, jüdische Musik werden eine neue Weihe in die Familie tragen, einen schönen nationalen Stolz, der sich in lebendige Volksenergie umsetzen wird.³³

Feiwel setzt jedoch nicht nur sein Hauptaugenmerk auf künstlerische Werke, sondern sieht in diesen auch das Potential, die jüdische Nation vereinigen zu

 Zum Blutnarrativ bei Buber vgl. Kapitel 3 dieser Arbeit.  Buber, Die Schaffenden, S. 27.  Feiwel, Berthold: Geleitwort zur ersten Ausgabe. In: Juedischer Almanach. Teilweise veraenderte Neuausgabe. Berlin 1904, S. 13 – 20, hier S. 16.  Feiwel, Geleitwort, S. 16 f.

6.3 Zionistische Kunst, Kultur und Literatur

185

können. Denn für ihn war die jüdische Kunst über diese oftmals politisch geprägten Zwistigkeiten erhaben. So schreibt er: Keine einseitige Parteitendenz hat die künstlerischen Zwecke des Buches beeinflusst. Wenn uns eine Tendenz vorgeschwebt hat, so war es nur die, eine gewisse Einheit innerhalb des lebendigen Judentums deutlich werden zu lassen: die Einheit der Schaffenden. […] So ist das jüdische Motiv oder die jüdische Anschauung in allen ihren Formen hier vertreten: als tief im Volkstum und in der Tradition wurzelnd, wie es meist die Produktion der Ost-Juden ist; als bewusst aus der europäischen Kultur heraus dem modernen National-Judentum zustrebend, wie es die Produktion der Zionisten Westeuropas ist.³⁴

Kulturell betrachtet sollten vor allem die in der jüdischen Ästhetik stereotypen Vorstellungen von „Ost-“ und „Westeuropa“ vereint, und die bestehenden Differenzen mit Hilfe der Künste überwunden werden. Übrigens wurde parallel zu diesen Plänen auch eine Renaissance jüdischer Musik avisiert. Als federführende Organe gelten hier die Zeitschrift Ost und West unter der Ägide von Leo Winz und die Gesellschaft für jüdische Volksmusik in St. Petersburg. Winz selbst sammelte viele Liedtexte und Melodien, so dass er 1904 bereits über 1.200 Titel zusammengetragen hatte. 1905 wurde die jüdische Musik ein wichtiger Fokus von Ost und West. In diesem Rahmen wurden auch Konzerte organisiert.³⁵ Hugo Herrmann verfasste im Sammelband Vom Judentum einen Beitrag mit dem Titel „Erziehung im Judentum“, in dem er ein idealtypisches Curriculum für Kinder entwarf, das darauf abzielte, ihr Jüdischsein zu bejahen. Märchen, Lieder, Bilderbücher und Spiele aller Art sollten den Kindern helfen, ein jüdisches Selbstverständnis zu entwickeln.³⁶ Herrmann schrieb über jüdische Kindergärten und Schulen und die Mitgliedschaft in jüdischen Hochschulvereinen. An die Erschaffung einer jüdischen Hochschule „im Galuth“ glaubte Herrmann allerdings nicht. Laut Herrmann war das „Mittel dieser Erziehung […] der schöne völkische Idealismus, der der Gemeinschaft, der jeder einzelne verbunden ist, eine hohes, leuchtendes Ziel“ setzt, und zwar, „daß sich diesem Ziel hinzugeben schöner ist“ und „glücklicher macht, als sich selber durchzusetzen“.³⁷ Soweit die theoretischen Formulierungen zur zionistischen Kunst und Kultur.

 Feiwel, Geleitwort, S. 18 f.  Nemtzov, Jascha: Der Zionismus in der Musik. Jüdische Musik und nationale Idee. Wiesbaden 2009, S. 60 – 62.  Vgl. Herrmann, Hugo: Erziehung im Judentum. In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hrsg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag. Leipzig 1913, S. 186 – 191, hier S. 189.  Herrmann, Erziehung im Judentum, S. 191.

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6 Authentizität in Kunst, Literatur und kultureller Praxis

Eine Debatte sticht im Zusammenhang mit jüdisch-deutscher Kultur besonders hervor, die „Kunstwart-Debatte“ von 1912.³⁸ In vorangegangen Debatten zum jüdischen Beitrag zur deutschen Kultur, wie dem „Berliner Antisemitismusstreit“ von 1879 bis 1881 wurde beispielsweise vom Historiker Heinrich von Treitschke argumentiert, dass die deutschen Juden, um sich vollkommen in der deutschen Gesellschaft und Kultur zu „assimilieren“, sämtliches „Jüdische“ ablegen müssten. In der „Kunstwart-Debatte“ wurde die Möglichkeit einer vollkommenen „Assimilation“ der Juden angezweifelt und Ferdinand Avenarius, der Gründer der Zeitschrift Kunstwart – die Namensgeberin der Debatte – forderte von Juden, sich offen erkennbar zu machen, damit der „jüdische Einfluss“ von der „authentischen“ deutschen Kultur zu unterscheiden und zu trennen wäre.³⁹ Auslöser des Disputs war Moritz Goldsteins Abhandlung Deutsch-jüdischer Parnaß. ⁴⁰ Goldstein stellte dort die These auf, dass der Großteil der deutschen Kultur und des Kulturbetriebs von Juden erschaffen und koordiniert wurde, Juden jedoch dennoch in Deutschland nicht anerkannt und damit ihre kulturellen Errungenschaften für die deutsche Kultur höchst fragwürdig seien. Juden seien in Deutschland in einer ständigen „Halbheit“ gefangen und könnten somit keinen authentischen Zustand, der wirkliches oder wahres Schaffen ermöglichen würde, erreichen. Als Abhilfe schlug er vor, erstens „sich laut und rücksichtslos, ich möchte beinahe sagen schamlos als Juden [zu] bekennen“;⁴¹ zweitens sollte „die Übertreibung des Nationalitätsprinzips“,⁴² soll heißen der stilisierte Gegensatz zwischen Juden und Deutschen, der nicht bestände, wenn man den Fokus auf die Gemeinsamkeiten legen würde, ein Ende finden; und drittens plädierte er für die „Schaffung eines neuen Typus Jude, neu nicht im Leben, sondern in der Literatur“

 Die Kunstwart-Debatte wurde bereits ausführlich erforscht und wird daher hier lediglich am Rande erwähnt. Für Literatur siehe die Bibliographie von Albanis, Elisabeth: German-Jewish Cultural Identity from 1900 to the Aftermath of the First World War. A Comparative Study of Moritz Goldstein, Julius Bab and Ernst Lissauer. Tübingen 2002. Vgl. auch Eloni, Zionismus, S. 266 – 269. Ebenso Aschheim, Steven E.: Assimilation and Its Impossible Discontents. The Case of Moritz Goldstein. In: In Times of Crisis. Essays on European Culture, Germans, and Jews. Hrsg. von Steven E. Aschheim. Madison 2001, S. 64– 72. Für die kritische Analyse der Kunstwart-Debatte im größeren Kontext des Begriffes des „jüdischen Beitrags“ zur deutschen Kultur in den deutsch-jüdischen Studien bis heute siehe Gelber, Mark H.: German-Jewish Literature and Culture and the Field of German-Jewish Studies. In: The Jewish Contribution to Civilization. Hrsg. von Jeremy Cohen und Richard I. Cohen. Oxford/Portland (OR) 2008, S. 165 – 184.  Albanis, German-Jewish Cultural Identity, S. 71.  Goldstein, Moritz: Deutsch-jüdischer Parnaß. In: Der Kunstwart 25, 1. März 1912, S. 281– 294.  Goldstein, Deutsch-jüdischer Parnaß, S. 292.  Goldstein, Deutsch-jüdischer Parnaß, S. 292. Hervorhebung im Original.

6.4 Adele Sandlers Bilderbuch

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und in einer neuen jüdischen Kunst allgemein.⁴³ In dieser Hinsicht gab es zwischen Goldstein und den zionistischen Denkern zahlreiche Überschneidungen, da auch von den Anhängern des Zionismus explizit eine deutsch-jüdische Kultur gefordert wurde.⁴⁴

6.4 Adele Sandlers Bilderbuch Im Gegensatz zur den stark ideologisch geprägten Schriften verstanden die zionistischen Künstlerinnen und Künstler ihr kreatives Schaffen nicht lediglich als „Keime“, die auf eine „Verpflanzung“ nach Palästina warteten. Vielmehr bildete das Kaiserreich in deren Arbeiten ein zentrales Motiv – auch in der sogenannten „zweiten Generation“, die in der Forschung oftmals als klassisches Beispiel einer „Radikalisierung“ des Zionismus angeführt wird. In Arons Memoiren wird das künstlerische Schaffen Adeles erwähnt. Zum einen wird ein Bilderbuch genannt – wohlgemerkt und besondererweise „das erste Jüdische Bilderbuch“ – überhaupt,⁴⁵ das laut Aron „jahrzehntelang in den jüdischen, besonders den zionistischen Familien wohlbekannt war“. In Adeles Bilderbuch sticht besonders hervor, dass der Fokus auf Kindererziehung beziehungsweise die Unterweisung der nächsten Generation gelegt wird. Adeles Bilderbuch von 1905 ist heutzutage eine kaum bekannte Rarität.⁴⁶ Die auf dickere Pappe gedruckten Illustrationen und Begleittexte legen eindrucksvoll Zeugnis darüber ab, was jüdische Kinder um die Jahrhundertwende im Kaiserreich beschäftigen sollte. Neben dem Motiv der Titelseite – eine Straßenszene, in der Kinder zu einer Litfaßsäule aufblicken – enthält das Werk siebzehn farbige Lithographien. Es werden augenscheinlich typische Szenen aus dem Kaiserreich gezeigt. In der Zeitungsannonce für das Buch werden die einzelnen Abbildungen folgendermaßen umschrieben: 1. „Der kleine König Salomo“, 2. „Die Marktfrau“, 3. „Freitag Abend“, 4. „Die kleine Schwester“, 5. und 6. „Aus der Arche Noahs“,

 Goldstein, Deutsch-jüdischer Parnaß, S. 293. Hervorhebung im Original.  Vgl. hierzu Gelber, Melancholy Pride, S. 1– 16.  Aron fügt in Klammern hinzu, daß es in einem Duisburger Verlag erschien. Er meint hier die Lithographische Kunstanstalt J. A. Steinkamp in Duisburg, bei der das Buch gedruckt wurde. Der Verlag ist jedoch der Jüdische Volksschriften-Verlag G.m.b.H. in Frankfurt a. M.  Das einzige öffentlich zugängliche Exemplar wird in der Cotsen Childrenʼs Library im Department of Rare Books and Special Collections der Universitätsbibliothek Princeton aufbewahrt: Sandler, Adele: Bilderbuch, ca. 1905, Cotsen Childrenʼs Library im Department of Rare Books and Special Collections, Signatur: Moveables #29875. Eine Auswahl von Abbildungen siehe im Verlauf dieses Kapitels.

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7. „Simchas Thora“, 8. „Der fremde Gast“, 9. „Der Schneemann“, 10. „Schlittenfahrt“, 11. „Der kleine Baumeister“, 12. „In der Sukkoh“, 13. „Grossmamas Regenschirm“, 14. „Chanukkah“, 15. „Aus dem dunkelsten Afrika“, 16. „Purim“, 17. „Der Zeppelin“, 18. „Grosse Wäsche“.⁴⁷ Die Illustrationen sind mit 4- bis 8zeiligen kindgerechten Gedichten versehen. Im Bilderbuch wird ein Gegennarrativ für jüdische Kinder gegenüber den christlichen deutschen Narrativen des Kaiserreichs geschaffen. Annonciert wurde es seinerzeit mit dem folgenden Text: Das jüdische Bilderbuch – nun ists endlich da, das viel- und langersehnte „Jüdische Bilderbuch“! Wie brannten die Kinder danach, auch im bunten Bild tief und nachhaltig sich einzuprägen, was ihnen Vater oder Mutter von jüdischen Festen, von jüdischem Frohsinn erzählt, oder was sie selbst mit leuchtenden Augen wahrgenommen hatten. Wie wars den Eltern oft so unbequem und lästig, ja zuweilen angstvoll, wenn ihre Kleinen, denen sie das neue moderne Bilderbuch von Schmidhammer, Kreidolf, Caspari oder anderen groben und originellen Künstlern der Gegenwart auf den Geburtstags- oder Festtisch gelegt hatten, den Weihnachtsbaum oder andere nichtjüdische Ceremonien erläutert haben wollten! Und wie weh wars diesen ernsthaft auf das Wohl und die jüdische Entwicklung ihrer Kinder bedachten Eltern dann wieder zu Mute, daß sie sich das wertvolle und bedeutsame Erziehungsmittel der Kinderstube: die Weckung und Festigung der jüdischen Anschauung und Gesinnung durch die Betrachtung und Erörterung angemessener Bilderbücher, entgehen lassen mußten, weil nichts, aber seltsamer Weise auch gar nichts auf diesem Gebiete vorhanden war. Nun liegts da, das Jüdische Bilderbuch, schmuck und stattlich, von frohen Farben und großzügig in der Zeichnung. Jedem modernen Bilderbuch hälts in der Art die Waage, in sieben Farben prunkts und prangts und wendet sich in seinen 18 Bildern großen Formats, von denen je ein Gruppenbild die ganze Seite deckt und von hübschen Versen begleitet ist, einerseits jüdischen Stoffen zu, indem es das Helle, Gemütvolle des Freitagabends, des Purim, Chanuka, Sukkoth usw. darstellt, andererseits aber auch aus Natur und Kunst, von Ernstem und von Lachendem frisch herausgreift, was den Kindern im Alter von 3 – 9 Jahren wohlgefällig ist. So ists ein allgemeines Bilderbuch, jedem zugänglich, jedes sonstige ersetzend und jedwedem erfreulich, und so ists noch im Besonderen ein jüdisches Bilderbuch, den Kindern eine frohe Augenweide und Herzenslabe, den Eltern eine liebe und sicherlich bald begehrte Stütze.⁴⁸

Im Bilderbuch wurde damit eindeutig ein anderes Ziel verfolgt als in Bubers und Feiwels theoretischen Ausführungen zur ausschließlichen Authentizität jüdischen Schaffens in Palästina. Einen Großteil des Buches machen die Illustrationen typischer Alltagsszenen des Bürgertums im Kaiserreich aus Kinderperspektive aus. Neben solchen Alltagsszenen werden jüdische Feiertage dargestellt, darunter Schabbat, Simchat Tora, Purim, Sukkot und Chanukka. Auffällig ist hier,

 Annonce für das Bilderbuch. CZA A69/10.  Annonce für das Bilderbuch. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.

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dass Pessach keine Erwähnung findet. Die Schabbatszene (siehe Abbildung 2) zeigt einen gedeckten Tisch mit zwei Kerzen. Über dem Tisch hängt der klassische aschkenasische Schabbatleuchter. Links wird die Tür geöffnet und der Vater betritt in klassisch bürgerlicher Robe – einem schwarzen Zylinder und Anzug – den Raum. Die Kinder stehen bei ihm an der Tür und heißen ihn in Festtagskleidung willkommen. An der Wand, zunächst etwas unscheinbar wenn auch zentral in der Bildkomposition angeordnet, hängt ein Bild mit einer skizzenhaften Ansicht Palästinas.⁴⁹ Die Zeichnung Adeles samt dem Gedicht sind zunächst ein Indiz für das Ideal der Häuslichkeit des deutschen und deutsch-jüdischen Bürgertums. Denn der Großteil der jüdischen Assoziationen, die im Bilderbuch zu finden sind, sind im privaten Raum der Familie oder des Hauses angesiedelt. Eine Ausnahme könnte die Szenerie von Simchat Tora bilden: Es ist hier nicht klar ersichtlich, ob der Kinderumzug innerhalb oder außerhalb des Hauses stattfand. Wie bereits in den vorangegangen Kapiteln gezeigt wurde, definierte sich das Ideal der Häuslichkeit über gesellschaftlich akzeptierte Genderaspekte. Die Mutter war zuständig für die Vorbereitungen des Schabbats, entzündete traditionell die Schabbatlichter und deckte den Tisch. Der Vater kehrte vom Synagogenbesuch zurück ins eigene Heim. Die Kinder sehen zu ihm auf, während er den Raum betritt. Bei „Freitag Abend“ handelt es sich übrigens um die einzige Illustration einer Vaterfigur im Kinderbuch, denn im Kinderalltag des Kaiserreichs spielte vor allem die Mutter eine zentrale Rolle.⁵⁰ Bilder von Palästina, die oftmals auch in religiösen Haushalten an die Wand gehängt wurden, erinnerten auch an das jüdische Exilsnarrativ. Feste wie der Schabbat, die erst nach der Zerstörung des Tempels ihre rituelle Bedeutung bekamen und die im 19. Jahrhundert durch das Ideal der Häuslichkeit eine weitere Aufwertung erfuhren, repräsentierten in diesem Kontext eine Verortung des diasporischen Jüdischseins. Auch die Synagoge selbst, in der schon Moses Hess das authentische Judentum konserviert sah, reflektierte in traditioneller Sicht durch ihre Entstehungsgeschichte die Situation des jüdischen Galuthnarrativs.⁵¹ Die Präsenz Palästinas in der deutsch-jüdischen und deutsch-zionistischen Wahrnehmung lässt sich anhand einer weiteren Illustration gut erkennen. Dort bauen Kinder Jerusalem mit Bauklötzen nach. Ergänzt wird das Bild durch den folgenden Reim: „Wir bauen uns Jerusalem / Aus bunten Steinen auf. / Der Bibi tanzt ein Hopsasa / Und grunzt: Ich freu mich drauf!“⁵²  Sandler, Bilderbuch, [S. 3].  Kaplan, Jüdisches Bürgertum, S. 80.  Für die Rolle der Synagoge in der deutsch-jüdischen Geschichte der Neuzeit siehe Kapitel 2 dieser Arbeit, für das Galuthnarrativ siehe Kapitel 3 dieser Arbeit.  Sandler, Bilderbuch, [S. 15].

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Abb. 2: Die Schabbatszene in Adele Sandlers Bilderbuch: „Mama hat längst den Tisch gedeckt, / Die Sabbatlichte angesteckt, / Hat Strauß und Torte hergebracht / Und Bub und Mädel fein gemacht. / Nun warten alle auf Papa – / Gut Schabbes, rufts, da bin ich ja!“

Das „Jerusalem“ aus Bauklötzen nimmt den größten und zentralsten Teil des Bildes ein, es ist sogar größer, als die abgebildeten Kinder. Es besteht aus roten, grauen und lilafarbenen Bauklötzchen, die zu einer Mauer mit einzelnen Türmen und Türmchen kombiniert wurden. In das „Stadttor“ wurde die Puppe eines Offiziers gestellt. Betrachtet man die vorgegebenen Formen der Klötzchen, so erkennt man, dass aus ihnen ebenso jede Art von Burg oder Festung erbaut werden könnte. Aus dem Spielzeug im Kaiserreich, welches den Kindern hier zur Verfügung stand, wurde so ein Jerusalem errichtet und das Spielen konnte damit eine jüdische Nuance bekommen. Auch die weiteren Spielfiguren im Bild sind nicht mit dem Thema Jerusalem verbunden, was ein weiterer Hinweis darauf ist, inwiefern bestimmte jüdische Assoziationen in den ansonsten klassisch bürgerlichen Kinderalltag integriert werden sollten. Im Bild befinden sich neben

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Abb. 3: „Der kleine Baumeister“ aus Adele Sandlers Bilderbuch

den Bauklötzchen und der Offiziersfigur, die in das Tor von „Jerusalem“ hineingestellt wurde, die Figur eines Elefanten und ein Dackel. Nicht nur spielerisch durch den einfachen Reim, sondern auch durch das tatsächliche Spiel mit Bauklötzen können Kinder hier in exzeptioneller Weise motiviert werden, „Jerusalem“ nachzubilden und damit zu einem Teil ihres (Spiel‐)Alltags im Kaiserreich werden zu lassen. Auch wenn das Gebaute sehr entfernt an die Altstadtmauer in Jerusalem erinnert, so kann man dennoch davon ausgehen, dass hier im Buch ein Phantasiegebilde errichtet wurde. Die Genderfrage in der Illustration bleibt etwas unklar. Die beiden Kinderfiguren sind sehr unterschiedlich groß, die Kinderfigur im Vordergrund ist sehr klein gestaltet und der Dackel im Bild passt von seiner Größe ausschließlich zur größeren Kinderfigur neben „Jerusalem“. Zwar sieht die kleinere Figur im vorderen Bildteil eher wie ein Mädchen aus. Doch im Gedicht wird von „Bibi“ ge-

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sprochen, der ein Hopsasa tanzt. Die kleinere Figur scheint tatsächlich mit dem Elefanten zu tanzen. Die nächste für unsere Belange aussagekräftige Szene illustriert Sukkot, das Laubhüttenfest (Abb. 4). In ihr sieht man, wie zwei Kinder den Innenraum einer Sukkah ausschmücken. Die Sukkah weist deutliche Merkmale eines Zimmers auf – samt Tür, Fenster und Gardinen – wie es oftmals im aschkenasischen Raum Tradition war. Der Junge steht auf einer Leiter und hängt Blumen an eine Girlande; das Mädchen kniet vor dem Korb mit dem Dekorationsmaterial. An der Tür ist mit einer Schleife ein Davidstern befestigt. Von der Mitte der Decke hängt der traditionelle Festtagsleuchter. Im rechten Bildteil stehen in einer Vase der Palmzweig, die Bachweidenzweige und die Myrtenzweige der Arba’a Minim.

Abb. 4: „In der Sukkoh“ aus Adele Sandlers Bilderbuch: „Seht den Bubi, wie geschickt / Er mit Ruth die Sukkoh schmückt! / Blumen, Kränze, schöne Früchte, / Bilder, Fähnchen, bunte Lichte. / Abends dann bei Lampenschein / Wird das ganze herrlich sein“.

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Auffällig ist auch hier das verhältnismäßig große ovale Wandbild, auf dem ein weiteres Mal Palästina abgebildet ist.⁵³ Der Brauch, die Sukkah mit Bildern von Palästina zu verzieren, ist kein dezidiert „zionistischer“.⁵⁴ Dennoch sollen in dieser Illustration damit Assoziationen des Jüdischen in den Kontext des Kaiserreiches eingepasst werden. Palästina ist hier ein Sehnsuchtsort, an dem man zwar nicht leben möchte, den man aber trotzdem präsent haben will. Als gerahmte Wandbilder stellten die Bilder von Palästina einerseits einen permanenten Assoziationsraum dar; andererseits sind sie integraler Bestandteil des aktiven Spiels, wie anhand des Beispiels vom „Aufbau Jerusalems“ zu erkennen ist. Wenn auch in der Bildkomposition zentral angeordnet, nehmen diese „zionistischen“ Themen keinen sonderlich großen Raum in der Gesamtdarstellung ein; sie scheinen eher eine periphere, wenn auch stete Präsenz reflektieren zu sollen, was für das Ziel der Erschaffung von Gegennarrativen im Kaiserreich spricht. Dieses deutsch-jüdische Narrativ spiegelt sich auch in den Namen der Kinder wider: neben Liese und Peter werden die Kinder hier auch Ruth, Rafael, Bubi und Bibi genannt. Andere jüdische Assoziationen, wie beispielsweise König Salomo, werden ebenso in den Kontext des Kaiserreichs gesetzt. Der Reim lautet: „Ich bin der König Salomo / Mit Zepter und mit Krone, / Mein Kanzler ist der Pikkolo, / Er steht an meinem Throne“.⁵⁵ Die dazugehörige Illustration zeigt einen kleinen Jungen, der in eine rote Decke – wie in einen königlichen Umhang – gehüllt auf einem großen weiß-blau-goldenen Stuhl sitzt, in der Hand ein Zepter und auf dem Kopf eine Krone. Der Stuhl steht etwas erhöht auf einem Podest und der erhöhte Teil wird links und rechts von einem Geländer begrenzt, nur direkt vor dem Stuhl ist der Aufgang. Davor befindet sich etwas verteilt weiteres Spielzeug, wie ein Pferd auf Rollen, eine Offiziersfigur, eine Spielzeugtrompete und eine Puppe mit roten Haaren. Diese Illustration zeigt, wie die biblische Figur des Königs Salomo kindgerecht in den Spielalltag im Kaiserreich transponiert wurde. Der wie ein typischer europäischer König gekleidete Salomo bekommt hier für diesen Zweck sogar einen Kanzler – Pikkolo, die Puppe. In Adeles Bilderbuch werden jüdische Assoziationen im Kaiserreich somit vor allem mit traditionell religiösen Manifestationen des Jüdischen erzeugt. Jüdischsein wird sowohl durch die Feste als auch durch die Präsenz Palästinas, durch die Wandbilder und durch das Spiel mit den Bauklötzen, erkennbar. Pa Sandler, Bilderbuch, [S. 16].  Auch die aufwendig verzierte Sukkah aus Fischach aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die im Israel Museum in Jerusalem ausgestellt wird, wurde mit einer Ansicht der Klagemauer, neben Abbildungen von Fischach selbst und biblischen Szenen gestaltet.  Sandler, Bilderbuch, [S. 1].

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lästina wurde damit, neben den Festen, in diesem Werk zu einem zentralen Code für die jüdische Selbstverortung und die Erschaffung einer distinkten jüdischdeutschen Kultur im Kaiserreich.

6.5 Der Huldigungs-Reigen für das Ehepaar Sandler Der Huldigungs-Reigen (siehe Abb. 5) ist ein weiteres Zeugnis künstlerischen Schaffens im zionistischen Kontext.⁵⁶ Er muss vor Februar 1907 entstanden sein. Es handelt sich dabei um ein Hochzeitsgeschenk für das Ehepaar Sandler und ist eine Art „Hochzeitszeitung“, die bis heute von ambitionierten Hochzeitsgästen produziert wird, oder aber ein „Hochzeitssiddur“. Der Reigen zeichnet eine imaginäre, mit Illustrationen versehene Hochzeitsreise nach, die einige Reisestationen ihrer kurz darauf folgenden, realen Reise vorwegnimmt.⁵⁷ Der Huldigungs-Reigen enthält zehn internationale Stationen: „Abschiedsgruß der Hochzeitsgäste“; „Italien“; „Ägypten“; „Erez Jisroel (Hafen von Jaffa)“; „Jerusalem“; „Hospital in Jerusalem“; „Bote Machsze in Jerusalem“; „Kolonieen“; „Constantinopel“ und „Heimath“. Es ist ein aufwendig gestaltetes, etwa DIN A 4 großes 12-seitiges Heft, welches auf edlem, dickerem Papier gedruckt ist. Das Deckblatt trägt den vollständigen Titel und die Illustration „Vor Wadi el Chanin“ von Hermann Struck. Die folgenden Seiten sind, bis auf drei leicht abweichende, folgendermaßen aufgebaut: Zunächst ist in der oberen Hälfte der Seite eine passende Illustration des bedeutenden zionistischen Künstlers Hermann Struck eingefügt. Unterhalb der folgenden römischen Nummerierung steht der Name der Station, der gleichermaßen als Überschrift für das darunter folgende Gedicht fungiert. Zwischen dem Namen der Station und dem Gedicht ist noch, in kleinerer Schrift, der Titel eines Liedes angegeben, mit dessen Melodie das Gedicht zu singen ist. Ausnahmen bilden die dritte Seite, auf der – ohne Illustration – das Gedicht „Abschiedsgruß der Hochzeitsgäste“ steht, die sechste Seite, auf der das Werk „Brunnen bei Jaffa“ das komplette Blatt ausfüllt, und die siebte Seite, auf der – wieder ohne Illustration – das Gedicht der Station „Erez Jisroel (Hafen von Jaffa)“ zu finden ist. Bei den Liedern, die den einzelnen Gedichten zugeschrieben sind, handelt es sich entweder um traditionelle jüdische religiöse Lieder oder um weitaus  Es trägt den Titel Huldigungs-Reigen. Die Fahrt nach dem heiligen Lande. Dem Brautpaare Adele Straus, Aron Sandler. Gewidmet von S. u. E. CZA AK 169/1. Wer sich hinter dem Kürzel „S. u. E.“ verbirgt konnte bis dato nicht geklärt werden. Es befindet sich zusammen mit zahlreichen anderen selbstverfassten Gedichten in der Akte von Hedwig Mayer-Lübke.  Zum Reisen im Kaiserreich siehe auch Kaplan, Jüdisches Bürgertum, S. 174– 177.

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jüngere zionistische Kreationen. Das Umdichten deutscher Lieder beziehungsweise das Kombinieren eines neuen Textes mit einer altbekannten Melodie war eine weit verbreitete Praxis in deutschen und internationalen Studentenkreisen. Heinrich Loewe veröffentlichte 1894 ein gesamtes Liederbuch solcher zum Teil umgedichteter Versionen.⁵⁸ Walter Fischer erwähnt in seinen Erinnerungen eines Hasmonäers, wie in den Kneipen „teils allgemeine Studentenlieder, teils solche, wo man nach der Melodie eines deutschen Liedes einen jüdischen Text sang“ gesungen wurden. Fischer beschrieb die folgenden Beispiele: So z. B. nach der Melodie des kerndeutschen Liedes „Der Gott, der Eisen wachsen liess“ einen Text: „Und stritten wir für Judas Ruhm voll Kraft in Jugendzeiten, so werden wir im Mannestum noch zehnmal besser streiten“. Und nach dem Refrain eines gefühlvollen Rheinliedes „Gott schütze die Reben am sonnigen Rhein“ sang man: „Gott schütze die Schwärmer in Israel“. Und zum Schluss der Kneipe wurde stehend das Lied „Dort wo die Zeder schlank die Wolke küsst“ gesungen, und damit wurde die zionistische Gesinnung zum Ausdruck gebracht.⁵⁹

Wenn in der Loeweʼschen Liedersammlung die traditionellen jüdischen Melodien noch äußerst selten waren, so sind sie im Huldigungs-Reigen bemerkenswerterweise fast ausschließlich zu finden. Die dort erwähnten Lieder sind (in der Quelle in aschkenasischer Transkription) „Moaus Zur“ [‫מעוז צור‬, Maʻos zur, Fels meiner Rettung], „Schir Hamaalaus“ [‫שיר המעלות‬, Schir ha-maʻalot, Lied des Aufstiegs], „Schiw’im hemoh haggiborim“ [‫שבעים המה הגיבורים\שיר המים‬, Schiwʻim hema hagibborim/Schir ha-majim, Es waren 70 Helden/Lied des Wassers], „Jaum seh lejisroel“ [‫יום זה לישראל‬, Jom seh le-jisrael, Dieser Tag ist für Israel], „Dort wo die Ceder“, „Eli Zijaun weoreho“ [‫אלי ציון ועריה‬, ʼEli zion we-ʻareiha, Beweine Zion und ihre Städte], „Aud lau owdoh“ [‫עוד לא אבדה )תקוותנו(\התקווה‬, ʻOd loʼ ʼawda (tikwatenu)/hatikwah, Unsere Hoffnung ist noch nicht verloren, Die Hoffnung], „Bimheroh, bimheroh“ [‫ במהרה\אדיר הוא‬,‫במהרה‬, Bimhera, bimhera / ʼadir huʼ, Bald, bald / Er ist groß] und zum Ende wieder „Moaus Zur“. Auf diese Lieder wird am Schluss des Kapitels noch ausführlicher eingegangen werden. Die zehn Stationen sind mit Illustrationen von Hermann Struck versehen. Wie schon von Michael Berkowitz erwähnt wurde, ist in Strucks Bildsprache eine

 Loewe, Heinrich: Liederbuch für jüdische Vereine. Berlin 1894.  Fischer, Walter: Erinnerungen eines Hasmonäers. In: Meilensteine. Vom Wege des Kartells Jüdischer Verbindungen (K.J.V.) in der Zionistischen Bewegung. Hrsg. von Eli Rothschild. Tel Aviv 1972, S. 24– 29, hier S. 25. Zum Thema zionistischer Musik siehe: Nemtzov, Der Zionismus in der Musik. Für unsere Zwecke ist auch vor allem der Anhang „Zionistische Liederbücher aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa 1894– 1935“ von Belang.

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6 Authentizität in Kunst, Literatur und kultureller Praxis

Abb. 5: Titelblatt des Huldigungs-Reigens

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klar stilisierte Vorstellung von Palästina „fixiert“,⁶⁰ nämlich das durch ihn imaginierte Palästina deutscher Zionisten. Das Ehepaar Sandler und Hermann Struck waren laut Arons Memoiren bereits von „Jugend [an] eng verbunden“ und befreundet. Struck war unter den Anhängern der zionistischen Bewegung besonders populär, da seine „tief aufgefasste[n] Radierungen, besonders des ,ostjüdischen Antlitzes‘ – wie auch der Titel eines später von ihm illustrierten [und von Arnold Zweig verfassten – Anm. d. Verf.] Buches lautete – die zionistische Welt lebhaft ansprachen“.⁶¹ Struck wurde damit laut Sandler „eine Art centrale Figur für die jüdische Kultur der deutschen Zionisten“.⁶² Der fünfte Zionistenkongress, auf dem Martin Buber den vormals erwähnten Vortrag zur Relevanz der Kunst für den Zionismus hielt, wurde von einer Ausstellung jüdischer Kunst begleitet.⁶³ Es war die erste Ausstellung dieser Art in Zentraleuropa und es wurden auch einige Werke Strucks präsentiert.⁶⁴ Diese Schau trug sicher dazu bei, ihn zu einem der „Repräsentanten der neu auflebenden jüdischen Kunst“⁶⁵ emporzuheben. In dem von Buber veröffentlichten Juedischen Almanach (1902) und seinem Buch Jüdische Künstler (1903) sowie in den Zeitschriften Ost und West, Die Welt und Schlemiel wurden Strucks Werke regelmäßig abgedruckt und damit einer breiten Masse zugänglich.⁶⁶ Darüber hinaus fertigte er Auftragsarbeiten für zionistische Vereine, Festschriften und Einladungskarten für die Zionistenkongresse an. Zu seinen populärsten Arbeiten zählt zweifelsohne das Porträt Theodor Herzls aus dem Jahre 1903.⁶⁷ Als 1905 in der Zeitschrift Ost und West drei Palästina-Radierungen von Hermann Struck veröffentlicht wurden, war es auch Martin Buber, der begleitend hierzu einen Artikel mit dem Titel „Die Entdeckung von Palästina“ beisteuerte. Darin beschrieb er Strucks Palästinabilder in starkem Gegensatz zu den bisherigen Werken anderer Künstler, die geradezu mit „unsäglicher Stimmungsarmut [gemalt]“ seien.⁶⁸ Strucks Bilder zeigten hingegen erstmals „das wahre Land

 Berkowitz, Zionist Culture, besonders S. 144– 164.  CZA A 69/8, S. 16 f.  CZA A 69/2, S. 17. Auch Michael Berkowitz schreibt über diese Position Strucks.Vgl. Berkowitz, Zionist Culture, S. 132.  Vgl. zu dieser Ausstellung Schmidt, Gilya Gerda: The Art and Artists of the Fifth Zionist Congress 1901. Syracuse (NY) 2003.  Vgl. Rusel, Jane: Hermann Struck (1876 – 1944). Das Leben und das graphische Werk eines jüdischen Künstlers. Frankfurt a. M. [u. a.] 1997, S. 74.  Rusel, Hermann Struck, S. 80.  Rusel, Hermann Struck, S. 75 – 77.  Rusel, Hermann Struck, S. 78 f.  Buber, Martin: Die Entdeckung von Palästina. In: Ost und West, Nr. 2, Februar 1905, Sp. 127– 130, hier Sp. 129.

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unseres Gefühls: ganz und gar weite sehnsuchtsvolle Stimmung“.⁶⁹ Buber führte das auf Strucks „jüdische Art zu sehen“ zurück. Damit transportiere der Künstler in seinen Bildern „in Wahrheit jüdische Erde, durch das Medium eines jüdischen Temperamentes gesehen“.⁷⁰ Buber formulierte hier mit romantischem Vokabular seine im Grunde „völkische“ Auffassung, dass nur Juden selbst in ihrer Kunst gefühlvoll oder authentisch Palästina darstellen könnten. Die Skizzen für Strucks Palästinabilder waren auf seiner eigenen „Orientreise“ im Jahre 1903 entstanden. Zusammen mit Adolf Friedemanns Reisebeschreibungen,⁷¹ wurden sie 1904 als Reisebilder aus Palästina veröffentlicht.⁷² Sowohl die Reisestationen, als auch die Bilder Strucks ähneln sehr dem Reigen für die Sandlers, so dass das Werk hier als Vorlage für das Geschenk gelten kann.⁷³ Gerade die Reproduktion derselben werbekräftigen Bilder war eine Besonderheit der zionistischen Bewegung und diente der Verbreitung der zionistischen Idee.⁷⁴ Reisebilder aus Palästina beschreibt aber auch die „klassische“ Reiseroute der damaligen deutschsprachigen Palästina-Touristen. Der Palästina-Tourismus war keine zionistische Erfindung. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts war in bestimmten Kreisen eine Reise „in den Orient“ und nach Jerusalem eine weit verbreitete „Modeerscheinung“.⁷⁵ Der Verweis auf die geo-

 Buber, Die Entdeckung, Sp. 130.  Buber, Die Entdeckung, Sp. 130.  Darin kann man ebenso gut erkennen, inwiefern das Reisen für die zionistische Bewegung von großem Belang war.Vgl. Roemer, Nils: Jewish Traveling Cultures and the Competing Visions of Modernity. In: Central European History 42 (2009), S. 429 – 449, hier S. 432.  Friedemann, Adolf: Reisebilder aus Palästina. Berlin 1904.  Michael Berkowitz analysiert auch in seinem Kapitel zum Palästina-Tourismus in seinem 2. Buch zur zionistischen Kultur vor allem Zeitschriften und spätere Reiseberichte, was ihn zu der Annahme führt, dass „[t]he work of popular Zionist artists, such as E. M. Lilien and Hermann Struck, were rarely, if ever, applied to tourist promotions“ (Berkowitz, Michael: Nationalized Tourism in Palestine. In: Berkowitz, Michael: Western Jewry and the Zionist Project 1914– 1933. Cambridge 1997, S. 125 – 146, hier. S. 132). Die Quelle hier zeigt ein anderes Bild.  Vgl. Berkowitz, Michael: „From Swamp to Settlement“. Rural and Urban Utopian Visions of Palestine. In: Berkowitz, Michael: Western Jewry and the Zionist Project 1914– 1933. Cambridge 1997, S. 91– 124, hier S. 92.  Vgl. Gibson, Shimon [u. a.]: Tourists, Travelers and Hotels in Nineteenth-Century Jerusalem. Leeds (UK) 2013, S. 2: „There were also some tourists who went on a ,Tour of the East‘, with a trip to Jerusalem. Simply because it was the proper thing to do in certain affluent circles of European society. About such tourists Revd [Reverend – Anm. d. Verf.] Robert Walter Stewart wrote dimissively in 1854: ,They had seen nothing; they had scarcely time to fix the general features of the city in their memory; and it therefore seemed, as a tour to Palestine was at that time the fashion with a certain class of tourists, as if their only object was to be able to brag on their return that they were not behind the age, for they had visited Jerusalem‘“.

6.5 Der Huldigungs-Reigen für das Ehepaar Sandler

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kulturellen Einheiten „Osteuropa“ und „Orient“ diente den Zionisten zur eigenen kulturellen Vertiefung. Dazu zählt auch der Wunsch, den „Orient“ zu bereisen. Da sich die Vorstellungen von Osteuropa und Orient simultan und mit gleichen Prämissen herausbildeten, kann sowohl die Hinwendung nach Osteuropa als kulturelle Hochburg als auch das Interesse an Palästina, soll heißen am „Orient“ als Ort der kulturellen Vervollkommnung, im Zeichen des Orientalismus des 19. Jahrhunderts gesehen werden.⁷⁶ Auch wenn man in diesen Reisen Parallelen zu jüdischen Pilgerfahrten erkennen mag, so scheinen sie doch eher touristisch motiviert zu sein. Denn, wie bereits Berkowitz argumentierte, wohnte dem Zionismus im deutschsprachigen Raum schon früh ein touristischer Aspekt inne.⁷⁷ Auf dem berühmten 13. Delegiertentag, auf dem die sogenannte Posener Resolution verabschiedet wurde, hat die Versammlung auch den folgenden Antrag des Oberschlesischen Gruppenverbandsauschusses angenommen: Es ist Pflicht jedes Zionisten, nach Möglichkeit Palästina aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Das Zentralkommittee wird beauftragt, in dieser Beziehung eine lebhafte Initiative zu entfalten und durch geeignete Mittel die Vornahme von Palästinareisen zu erleichtern.⁷⁸

Wenige Monate später begann die Zionistische Vereinigung für Deutschland Touren zu organisieren.⁷⁹ Bis 1933, also über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten, schafften es so die Zionisten, den jüdischen Palästina-Tourismus als ein „secularJewish pilgrimage ritual“ zu etablieren, so Berkowitz.⁸⁰ Diese touristische Ausrichtung wird auch im Huldigungs-Reigen deutlich. Die erste Station – „Abschiedgruß der Hochzeitsgäste“ – wird zur Melodie von Maos Zur gesungen. Maos Zur ist ein traditionelles Lied des Chanukkah-Festes, an dem,

 Vgl. Saposnik, Arieh Bruce: Europe and Its Orients in Zionist Culture before the First World War. In: The Historical Journal 49 (December 2006), No. 4, S. 1105 – 1123. Vgl. auch die Monographie von Saposnik: Becoming Hebrew. The Creation of a Jewish National Culture in Ottoman Palestine. Oxford [u. a.] 2008.  Vgl. Berkowitz, Nationalized Tourism, S. 125: „Over 70,000 total visitors came to the country from the West during 1924, and in the spring of 1925, 1,200 were present on a single day. Some 40,000, including an estimated 4,000 Jews, saw Palestine in 1930, despite the ongoing Arab revolt and the deepening worldwide economic crisis“. Berkowitz sieht das verbunden mit dem „Diaspora-Nationalismus“.  Anonym: Zusammenstellung der Anträge, die vom XIII. Delegiertentag zum Beschluß erhoben wurden. In: Jüdische Rundschau, Nr. 24, 14. Juni 1912, S. 222.  Reinharz, Fatherland or Promised Land, S. 161.  Berkowitz, Nationalized Tourism, S. 126.

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wie bereits erwähnt wurde, der Sieg der Makkabäer über die Hellenen und die Weihe des zweiten Tempels gefeiert wird. Das dazugehörige Gedicht lautet: Abschiedsgruß der Hochzeitsgäste Moaus Zur In des Hymens muntre Lust Webt Euch Sehnsucht stille Freud, Hoffung schwellet Euch die Brust, Denket Ihr der nahen Zeit, Wo das heil’ge, hehre Land, Dem Herzen, ach! so lieb so traut, Das Felsenland am Meeresstrand Thränenfeucht das Augʼ erschaut. Über weite, weite Flur, Durch des Meeres wogend Bahn, Fernen Zieles leuchtend Spur Locket Euch zu sich heran. Glücklich, wohlbehütet seid Unter Völkern fremder Zungʼ! In junger Ehe Seligkeit Heil geleitʼ die Wanderung!⁸¹

In der ersten Strophe des Gedichts werden mit empfindsamem Vokabular des Sturm und Drangs die Sinne des Brautpaares mit Palästina verwoben. Einige der zentralsten Begriffe der Romantik („Sehnsucht“, „Lust“, „Hoffnung“, „Wanderung“) werden zusammen mit stilisierten Aspekten Palästinas präsentiert. Durch den Wechsel zwischen Versen mit emotionalen Termini der Freude und Versen zur Beschreibung des Landes wird diese enge Verflechtung besonders deutlich. Die Alliterationen zu Beginn der zweiten Strophe („weite, weite“ / „Durch des“ / „leuchtend Spur Locket“) wird der rhythmische Aspekt der bevorstehenden Wanderung betont. Die hier erzeugte emotionale Bindung an Palästina und die bevorstehende „Wanderung“ sind Anzeichen für einen gefühlvollen Nationalismus; sie verdeutlichen auch, wie affektiv die Angelegenheit der Palästinareise behandelt wurde. In diesem Falle wird das durch die Verbindung mit dem glücklichen Ereignis der Hochzeit (Abschiedsgruß der Hochzeitsgäste / Hymens [vom gr. Hochzeitsgruß Hymenaios]) noch besonders hervorgehoben. Sie wird noch verstärkt durch die Verwendung einzelner Begriffe aus dem wahrscheinlich be-

 CZA AK 169/1.

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rühmtesten zionistischen Lied Dort wo die Ceder („hehre“, „Meeresstrand“). Die festliche Aufbruchsstimmung führt schließlich zur ersten Station – Italien. Italien Schir Hamaalaus Junges Pärchen! Herzlich willkommen Unter Italiens Himmelsazur! Möge Euch laben, möge Euch frommen Künstlerisch Zauber, holde Natur. Kunstsinnig Weibchen! Treuliche Mühe Weihtest der Kunst Du mit Kraft und Geschick. Heiterer Musen Segen erblühe Euch in ewigem Gattenglück.⁸²

Die Station „Italien“ spielt bewusst auf Adeles Künstlerdasein an, was dem Geschenk eine persönliche Note verleiht. Vor allem zeigt sich hier bereits, dass der Huldigungs-Reigen – neben den zahlenmäßig deutlich überwiegenden Etappen in Palästina – auch weitere Destinationen enthält (Italien, Ägypten, Constantinopel), die die Hochzeitsreise zu einem touristischen Unternehmen transformiert. Kosmopolitisch bewegten sich die Reisenden sowohl im Geschenk als auch auf der später stattfindenden Reise entlang einer bereits damals populären Strecke. Auch die nächste Station des Reigens – „Ägypten“ – war zur Jahrhundertwende bereits ein beliebtes Reiseziel.⁸³ „Ägypten“ hat einen offensichtlichen Bezug zum Exodus. Das Gedicht soll in der Melodie des Schir Hamaalot gesungen werden – ein Lied über den Auszug aus Ägypten, das bei der Auswahl der Hymne in Konkurrenz zur Ha-Tikwah stand. Dadurch werden die Bedeutungen des Pessachfestes, des Auszuges aus Ägypten und der Weg ins von Gott versprochene Land abermals deutlich. Adolf Friedemann beschreibt in seinem Reisebericht den Besuch der Mumien der Pharaonen, darunter auch „Ramessu“, den „Pharao der Unterdrückung“, der seinerseits „nichts wusste von Joseph“. Er schreibt dort: „Ich trat […] mit einigem Bangen an den Sarg. Wenn wir als Kinder von ihm lasen, erschien er uns zwar hassenswert, aber doch als eine Verkörperung von Grösse und Macht“.⁸⁴ Er fügt hinzu: „Und mit ihm ist alles ringsum vergangen, die Könige, die unsere Vernichtung befahlen, die riesigen Steinbauten, die man unsere Väter zu errichten zwang […]. Ringsum  CZA AK 169/1.  Siehe auch: „In fact, by 1872, ,Egypt and Palestine had become so commercially important‘ to Thomas Cook Ltd. that Cook could regard them as ,the two greatest features in our present programme‘“ (Berkowitz, Nationalized Tourism, S. 128).  Friedemann, Reisebilder, S. 13.

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Särge, nur wir leben!“⁸⁵ In diesem Zitat nennt Friedemann die Israeliten in Ägypten seine „Väter“ und konstruiert damit eine Kontinuität der jüdischen Geschichte bis zu seinem Besuch in Ägypten. Der Pharao sowie seine Pyramiden seien größtenteils vergangen, doch es gebe immer noch Juden. Friedemann erkennt zwar die „Grösse und Macht“ des Pharaos an und er besucht die Sehenswürdigkeiten, genau wie nicht-jüdische Touristen auch. Die Fokussierung auf die für Juden relevanten Kapitel der ägyptischen Geschichte erzeugt dabei eine jüdische Variante des Erlebnisses. An dieser Station heißt es im Huldigungs-Reigen: Gern ich Euch willkommen heisse, heisse, an des schwarzen Niles Bahnen. Wo einst fügten Steinʼ auf Steine in dem Schweisse, Schweisse, keuchend die Ahnen! Wo dann Freiheit, sel’ge Freiheit Eurem Volke ist von Gott geschenket! Sel’ge Freiheit, ew’ge Freiheit gebʼ Euch, der die Weltgeschichte lenket!⁸⁶

Der Auszug aus Ägypten – hier explizit mit der vorangegangenen Geschichte der Versklavung verbunden – wird durch die Reise selbst durchlebt. Die meisten Zionisten fuhren zunächst nach Ägypten, bevor sie ihre Reise nach Palästina fortsetzten. Friedemann äußert sich auch besorgt darüber, dass er aufgrund der Quarantäneregelungen vor der Einreise nach Palästina nicht pünktlich zu Pessach sein Ziel erreichen würde. Wenn nun die Reise über Ägypten führte und die Reisenden anschließend zu Pessach, dem Fest des Gedenkens des Auszugs aus Ägyptens, nach Palästina gelangten, hätten sie demnach symbolisch den antiken Auszug aus Ägypten am eigenen Leibe vollzogen. Später sollte von den Reiseveranstaltern vermutlich auch aus diesen Gründen – neben den optimalen Temperaturen – Pessach als beste Reisezeit für Palästina beworben werden. Die zionistischen Reisenden gaben somit der bereits existierenden „Orientreiseroute“ eine „jüdische Nuance“ und sahen den Palästinabesuch als Teil des zionistischen Erlebnisses. Wenn auch diese Reisen zwar einerseits den aufkommenden Kosmopolitismus reflektieren, und mit dem Bildungs- und Freizeitideal des deutschen Bürgertums in Einklang standen, so schwang hier auch das Motiv der romantischen Wanderung, insbesondere die Selbstfindung und Selbstverwirklichung mit. Reisen war somit auch Ausdruck jüdischer Authentizität. Neben den emotionalen und symbolischen Ebenen wurde die Reise nach Palästina mit einer nicht weniger gefühlvollen Antwort auf den Ruf ihrer „Mutter“ verstanden. An der vierten Station des Huldigungs-Reigens wird der Hafen von Jaffa erreicht, gefolgt von der fünften Station, „Jerusalem“. Das dort angeführte Gedicht gilt „Zion“, beziehungsweise „ihr, die so tief, ach! fiel“ und der Refrain  Friedemann, Reisebilder, S. 15.  CZA AK 169/1.

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enthält die Aufforderung: „Ans Herz Eurer Mutter, / Kinder, o eilet! / Mutterherz Euch ruft!“⁸⁷ Dieser kurze und einfache Refrain birgt einen fast beschwörenden oder nachdrücklichen Aufruf durch die Wiederholung desselben Inhalts in anderen Worten („Herz Eurer Mutter“ und „Mutterherz“). Auch die einzelnen Verse werden im Gedicht jeweils wiederholt, was diesen Effekt noch verstärkt. Berkowitz beschreibt die Symbolfigur Zion, die der Germania, Britannia oder Marianne ähnlich war, als eine engelsgleiche Figur, die auf den zionistischen Postkarten benutzt wurde auf denen sie meist Juden den Weg nach Palästina weist.⁸⁸ Wie Marianne als „Mutter ihres Volkes“, oder Germania als „sorgende Mutter ihres Volkes“,⁸⁹ galt auch Zion hier als Mutter der Juden. Damit entsprach auch die Symbolfigur Zion selbst den Tugenden der deutschen Bürgerlichkeit. Diese mütterlichen Tugenden der „duldenden Seele“ waren allen bekannt und dienten sicherlich einer leichteren Identifikation mit der Bewegung an sich, so wie auch die Parallelen zur eigenen Mutter in den zionistischen Memoiren herausstachen.⁹⁰ Kurz, die Liebe zur Mutter wurde mit der Liebe zur Nation gleichgesetzt. Im Hochzeitsgeschenk, dem Huldigungs-Reigen, wird hingegen eine andere Figur beschrieben. Es scheint daher angebracht, zwischen unterschiedlichen weiblichen Zionsfiguren zu unterscheiden. Die Mutter Zion in dieser Quelle übernahm eine eher passivere Rolle. Sie wurde unter Rückbezug auf die biblische Darstellung als eine „duldende Seele“, die „tief gefallen“ war, beschrieben. Es war Teil der zionistischen Selbstverwirklichung, Zion wieder aufzurichten und ihr, der zukünftigen Königin, einen Thron zu erbauen. Die Anhänger des Zionismus konnten durch diese Aktivitäten zahlreiche bürgerliche Tugenden erfüllen: Sie lieben ihre Mutter Zion, ohne sie jemals gesehen zu haben, was eine herausragende Treue illustriert. Zudem schämen sie sich nicht für Zion, obwohl sie gefallen ist, was eine ebenso tugendhafte Einstellung widerspiegelt. Ob des desolaten Zustands von Zion können die Zionisten wohl nicht durch „eitle Reize“

 Die vierte und die fünfte Station haben denselben Refrain und dieselbe Melodie, nämlich „Jom zeh lejisrael“. Die beiden Gedichte werden daher hier gemeinsam aufgeführt (CZA AK 169/1): „Ans Herz Eurer Mutter, / Kinder, o eilet! / Mutterherz Euch ruft! / Ihr liebet die Mutter, noch ehʼ Ihr sie erschaut. / Ihr hegtet im Herzen das Mutterbild so traut. / Ihr schämet Euch nimmer der Mutter, leidergraut, / Ihr ehrtet die Mutter mit kühnem Kampfeslaut! / Ans Herz Eurer Mutter, / Kinder, o eilet! / Mutterherz Euch ruft! Doch nicht eitle Reize entflammen Euer Herz./ Der duldenden Seele gilt Euer kindlichʼ Schmerz. / Den Thron zu errichten ihr, die so tief, ach! fiel. / ‫מציון‬ ‫ – תצא תורה‬ist Euch der Hoffnung Ziel. / Ans Herz Eurer Mutter, / Kinder, o eilet! / Mutterherz Euch ruft!  Vgl. Berkowitz, Zionist Culture, S. 121 f. und S. 127.  Mosse, Nationalismus und Sexualität, besonders S. 111– 122.  Zu den Beschreibungen der Mütter in den zionistischen Memoiren siehe Kapitel 3 dieser Arbeit.

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geblendet worden sein. Zion kann hier durch die Zionisten wieder zu ihrem alten Glanz kommen. In anderen Worten, mit ihrer Arbeit des Aufrichtens der Mutter Zion erfüllen die Zionisten die Ideale ihrer bürgerlichen Tugend. Diese Ansätze nehmen damit im Grunde einige Aspekte der Posener Resolution vorweg. Auch die darin enthaltene Forderung, dass jeder Zionist eine „Übersiedlung nach Palästina“ in sein „Lebensprogramm“ aufnehmen müsse, fußte auf der Prämisse der „überragenden Bedeutung der Palästina-Arbeit für die Befreiung der Einzelpersönlichkeit“.⁹¹ Wie die Hinwendung der deutschen Zionisten nach Osteuropa und die Aufwertung der dortigen jüdischen Kultur, hatte auch die Hinwendung nach Palästina einen rebellischen Zug. Zwar erfüllten einige Zionisten mit ihrem Engagement für Palästina ihre kolonialen Träume und Pläne, doch die Sorge um die „Mutter Zion“ geschah eben nicht nur wegen ihres hier beschriebenen betrübenden Zustands sondern auch trotz ihrer Situation. Zu den Tätigkeiten zugunsten von „Mutter Zion“ gehörten die „Modernisierungsmaßnahmen“ im Jischuw, die auch im Reigen konkret thematisiert werden. Die sechste Station – „Hospital in Jerusalem“ – wird mit der Zeichnung „Ein Kranker in Jerusalem“ gestaltet. Das darauf folgende Gedicht soll zur Melodie des zionistischen Klassikers Dort wo die Ceder gesungen werden.⁹² Ähnlich zu „Italien“ und der dortigen Bezugnahme auf Adeles künstlerisches Schaffen ist diese Station in Anlehnung an Aron Sandlers medizinische Forschungen zu Palästina zu verstehen. Aron hatte vor 1907, besonders in den Zeitschriften Altneuland und Palästina, bereits zahlreiche Artikel über die Augenkrankheit Trachom sowie über Lepra und Malaria in Palästina veröffentlicht. Dieser wissenschaftliche Zugang zu Palästina ist an dieser Stelle zentral für zionistische Ärzte wie Aron Sandler. „Jünger zu lehren allzeit bereit“ verweist sicherlich auf die akademischen Palästinakurse, die Aron Sandler mit veranstaltete.⁹³ Die Wahl der Melodie des Liedes Dort wo die Ceder verstärkt hier abermals den zionistischen Hintergrund. Diese Fokussierung auf die Wissenschaft spiegelt nicht nur die Ambiguität zionistischer Projektionen auf Palästina wider, sondern auch die „klar definier-

 Zusammenstellung der Anträge. In: Jüdische Rundschau, Nr. 24, 14. Juni 1912, S. 222.  Das dazu gehörende Gedicht lautet: Dort, wo der Krankheit wehrt des Arztes Kunst, / Dort, wo man Siechen milde Pflege beut, / Dort nennt in Ehren man und reicher Gunst / Ihn, der erforscht hat mit Beflissenheit / Asiens eigentümlich Krankenleid, / Jünger zu lehren allzeit eifrig bereit.  Der erste Kurs fand 1905 an der Technischen Hochschule in Cöthen statt. CZA A 69/2, S. 13 f.: „Die vielfachen, besonders technischen Fragen kolonisatorischer Arbeit wurden in einem 2-wöchigen volltägigen Kurs vor etwa 200 Hörern in Vorlesungen behandelt, in denen die Cöthener und auswärtigen Dozenten über die Kolonisation Deutschlands in überseeischen Gebieten, die zionistischen über Palästina lasen. Von Palästina-Sachverständigen trugen Warburg, Soskin, Franz Oppenheimer vor; ich las an 6 Tagen über Klima und Krankheiten des Landes“.

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ten Rollen“, die den Westeuropäern im wissenschaftlichen Sektor im Jischuw zukamen.⁹⁴ So erschien es als der „natürliche Kurs“, so argumentiert Zionismusforscher Bruce Saposnik, als es 1908 um die Einrichtung technologischer Institute wie des Technions ging, mit dem Hilfsverein der Deutschen Juden zu kooperieren.⁹⁵ Laut Saposnik war die „westliche Überlegenheit in wissenschaftlichen Belangen unbestritten“. „Der Osten“, so drückt Saposnik es aus, „nahm zentralere Positionen in kulturellen Arenen ein“.⁹⁶ An einem Satz in Sandlers Memoiren wird diese Einstellung zu Palästina besonders deutlich. Anstelle von romantischen Bildern über die Heimkehr zur „Mutter Zion“, wie es in dem Hochzeitsgeschenk gezeichnet wurde, fällt Sandler ausgerechnet die folgende biblische Parallele ein: Ich kann nicht umhin, gleich hier auf den trostlosen Eindruck hinzuweisen, den die Entwaldung und die nackten Felsen des Gebirgslandes machten. Man hatte gelesen, dass die alten Ägypter hierher fuhren, um Holz einzukaufen, man erinnerte sich der Stelle im Buche Josua über die Aurodung des Waldes im Gebiete des Stammes Josef.⁹⁷

Beim Anblick des Landes wird ausgerechnet an die Waldrodung erinnert. In seinen weiteren Beschreibungen der Reise thematisiert Sandler, neben der Malaria, den zweiten medizinischen Hauptaspekt des damaligen Palästinas: die Augenkrankheit Trachom. Seine Eindrücke über das dortige Gesundheitswesen ergaben ein „trübes Bild“. So fasste er 1912 mit einer Gruppe von anderen Medizinern „den Entschluss, eine internationale Ärzteorganisation zu gründen“, die sich den „Sanierungs- und medizinischen Forschungsarbeiten in Palästina“ widmen sollte. 1913 wurde daraufhin das Hygienische Institut in Jerusalem gegründet und Sandler reiste 1914 nach Palästina, um dieses zu besichtigen.⁹⁸ Er schilderte in seinem späteren Bericht über diesen Besuch die Verbesserungen, die in den vergangenen sieben Jahren vonstatten gegangen sind. Im Huldigungs-Reigen wird Sandlers Engagement für Palästina als Familientradition geschildert. Die nächste Station mit der Überschrift „Bote Machsze in Jerusalem“ bezieht sich auf den Einsatz von Adeles Vater Samuel Straus, im Besonderen die Errichtung der ‫[ בתי מחסה‬hebr. Batei Machse, Armenhäuser], die zwischen 1860 und 1890 gebaut wurden und noch heute im jüdischen Viertel der

 Saposnik, Europe and Its Orients, S. 1112. Für hebräische Sekundärliteratur zu diesem Thema siehe Miron, Al ha-derech ha-mejuchedet bejn misrach le-maʻarav, S. 285, Fußnote 6.  Saposnik, Europe and Its Orients, S. 1112.  Saposnik, Europe and Its Orients, S. 1112.  CZA A 69/2, S. 22.  CZA A 69/2, S. 37.

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Jerusalemer Altstadt zu sehen sind.⁹⁹ Das Bild über dem Gedicht zeigt den Turm Davids in Jerusalem.¹⁰⁰ Bei der für das Gedicht verwendeten Melodie ‫אלי ציון ועריה‬ handelt es sich um ein folkloristisches aschkenasisches Lied unbekannten Ursprungs, in welchem Zion beweint wird und das zu Tischʼa be-Av während der Rezitation der Kinot – der Klagelieder – gesungen wird. Auffallend ist hier der Fokus auf der Kontinuität der Unterstützung Palästinas, im Speziellen Jerusalems, zu erkennen.¹⁰¹ Samuel Strausʼ Tätigkeit kann sicherlich mit jener von Wilhelm Herzberg verglichen werden.¹⁰² Um einen weiteren Hinweis zur Kontinuität zu geben: Auch Aron und Adele Sandler statteten auf ihrer tatsächlichen Hochzeitsreise dem ehemals von Wilhelm Herzberg, dem Autor der Jüdischen Familienpapiere, und mittlerweile von Dr. Grünhut geleiteten Waisenhaus einen Besuch ab. So erhielten die Tätigkeiten der letzten Generation im „alten“ Jischuw eine entscheidende Beständigkeit und wurden durch die Palästinareisen, auf denen die entsprechenden Orte besucht wurden, mit den Tätigkeiten dieser Generation verbunden.¹⁰³

 Das Gedicht an der Station lautet: Wehmüt’gen Gruss entbietet Euch / Ein schlichter Ort, das „Zufluchtshaus“, / Mit dem verwoben liebereich / Ewig ein Name: Samuel Straus. / Wie hat ihn Zions Elend erfaßt!/ Für Zion sann bei Tag er und Nacht! / Bis an den Tod die Liebʼ nicht erblaßtʼ! / Ihm Ehre, der solchʼ Zions-Taten vollbracht! (CZA AK 169/1).  „Turm Davids zeigt eine Straße, die diagonal entlang einer Häuserzeile nach links verläuft, in Richtung der Stadtmauer, die mit ihren Türmen und Zinnen die ganze Darstellungsbreite einnimmt und sich gegen den hellen Himmel abhebt. Rechts steht der Turm Davids“. Aus: Rusel, Hermann Struck, S. 105. Vor der zionistischen Bewegung gehörte der Turm Davids sicherlich zu den Bildern, die Juden verbunden mit Palästina bekannt waren (Vgl. Berkowitz, Zionist Culture, S. 144 zum Turm Davids). Die anderen beiden bekannten Bilder waren die Klagemauer und Rachels Grab.  Diese Kontinuität ist auch im Reisebericht von Friedemann erkennbar. Er ging in Jerusalem gemeinsam mit Dr. Grünhut los, „um jemand zu finden, der mir auf dem Friedhof das von der Gemeinde errichtete Denkmal meiner Urgrossmutter, Frau Deborah Pollak, zeigen könne“. Seine Urgroßmutter hatte „s. Zt. der aschkenasischen Gemeinde ein grosses Stück Land geschenkt und auch sonst, gemeinsam mit Sir Moses Montifiore, dessen Freundin sie war, für die Armen Jerusalems gesorgt“ (Friedemann, Reisebilder, S. 47).  Siehe Kapitel 2 dieser Arbeit.  So wie später „[t]he Herzliya Gymnasium, Haifa Technikum, and Mikweh Israel agricultural school, and the Hebrew University, Bezalel Art Institute, and Hadassah hospital in Jerusalem“ zur klassischen Route gehörten (Berkowitz, Nationalized Tourism, S. 135), scheint es früher zur klassischen „deutschen“ Reiseroute gehört zu haben, in Jerusalem dem deutschen Konsul, dem Direktor des deutschen Waisenhauses und Nachfolger Wilhelm Herzbergs, Dr. Grünhut, und dem Chacham Baschi (Oberrabbiner) einen Besuch abzustatten. Friedemann schreibt, und diese Beschreibung wiederholt sich in zahlreichen Reiseberichten: „Jerusalem, 16. April [1903]. Unser Konsul, Dr. Schmidt, ist ein ausserordentlich liebenswürdiger Herr, der sich in der deutschen Kolonie allgemeiner Beliebtheit erfreut. Er interessiert sich lebhaft für die Kolonisation und

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Im zionistischen Diskurs wurde jedoch auch die Vorstellung eines Bruchs und eines Neubeginns forciert. Die letzten drei besprochenen Stationen „Jerusalem“, „Hospital in Jerusalem“ und „Bote Machsze in Jerusalem“ stellen dabei eine Art Tryptichon dar, in dem ein negatives, durch „Krankheit“ und „Armut“ geprägtes orientalistisches Bild zu erkennen ist. Es repräsentiert die zionistische Wahrnehmung des „alten Jischuw“. Diametral entgegengesetzt zum alten Jischuw folgen nun die „Kolonieen“, oder der „neue Jischuw“.¹⁰⁴ Der Kontrast zwischen dem „heruntergekommenen“ alten Jischuw und den „blühenden“ neuen jüdischen Kolonien wurde in zahlreichen zionistischen Produktionen umrissen.¹⁰⁵ Die Station „Kolonieen“ im Huldigungs-Reigen wird von Hermann Strucks Gemälde „Häuser in Petach Tikwah“ begleitet und das dazugehörige Gedicht sollte zu der Melodie von Od lo avdah, beziehungsweise der Ha-Tikwah, der heutigen Nationalhymne des Staates Israel,¹⁰⁶ gesungen werden. Eine symbolträchtigere Kombination ist kaum denkbar.¹⁰⁷ Im Gedicht wird das „neue Leben“ mit viel hoff-

rühmte Petach Tikwah, das er persönlich kennt. Er bot uns Sitze für die Zeremonie des hl. Feuers in der Konsulatsloge der Grabeskirche an und versprach, mit dem Eigentümer von Abou Schûsche Rücksprache zu nehmen, um uns die eingehende Besichtigung der dortigen Ausgrabungen zu ermöglichen. Dann suchten wir Herrn Dr. Grünhut, den Leiter des deutsch-israelitischen Waisenhauses auf, der Struck seit lange befreundet ist und sich uns in liebenswürdigster Weise für die Zeit unseres Aufenthalts zur Verfügung stellte. Gemeinsam mit ihm gingen wir zum Chacham Baschi, der in der europäischen Vorstadt ein Haus bewohnt“ (Friedemann, Reisebilder, S. 41). Neben der Betonung dieser Kontinuität werden bezogen auf Jerusalem in den Reiseberichten meist die Chalukka-Probleme, also die Probleme mit dem in anderen Ländern für die Juden in Palästina gesammelten Geld, das Schul- und das Gesundheitswesen geschildert. Siehe beispielsweise CZA A69/2, S. 26 – 31.  Berkowitz, Zionist Culture, S. 159.  Aron Sandler schreibt in seinem Reisebericht: „Welch anderes Bild boten nun nach dem Besuch der Städte die jüdischen Kolonien mit ihrer, der freien Natur zugeführten Bevölkerung, in kleinen, hübschen, mit roten Dachziegeln gedeckten Häusern, z. T. auch schon stattlichen Häusern; die jüngsten Siedlungen auch noch im primitiven Anfangsstadium“ (CZA A 69/2, S. 33). Auch Friedemann bemerkt in seinem Reisebericht: „Rischon macht äusserlich einen prachtvollen Eindruck“ (Friedemann, Reisebilder, S. 84).  Der Text der Ha-Tikwah wurde 1878 von Naftali Herz Imber verfasst. Das Lied war bereits in den frühesten jüdischen Studentenvereinen populär. Zwischen dem ersten und zweiten Kongress wurde von Theodor Herzl und Max Nordau ein Hymnen-Preisausschreiben veranstaltet, bei dem sich Teilnehmer mit ihren eigenen Dichtungen einer Nationalhymne bewerben konnten. Und obwohl die Persönlichkeit Imbers Herzl und Nordau widersprach, wurde dennoch „Od lo avdah“ die Hymne. Siehe Berkowitz, Zionist Culture, S. 22 f.  Kolonieen: Aus den Ruinen neues Leben blüht – / „Heil dem Augʼ, dem dies zu seh’n gewährt“! / In den Herzen junge Hoffnung glüht. / Lichte Zukunft Euch den Blick verklärt. ‫מצות יישוב‬ ‫ארץ ישראל \ מצות הגדיל תורת ישראל \ בארץ הקדושה לקים בפחד \ נזכה כולנו יחד‬

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nungsvollem und aufklärerischem Vokabular („glühen“ / „Lichte“ / „Blick verklärt“) und mit den Kolonien verknüpft.¹⁰⁸ Zudem werden im Gedicht zahlreiche andere, miteinander verwobene Ebenen deutlich. Zum einen sticht die gleichzeitige Verwendung des Deutschen und des Hebräischen, beides wohlgemerkt zu gleichen Teilen, hervor. Die hebräische Strophe stammt jedoch nicht, wie man annehmen könnte, aus dem ursprünglichen Text von Od lo avdah, sondern ist ebenfalls eine extra für dieses Geschenk komponierte Fassung. Der Inhalt des hebräischen Textes verdeutlicht die religiöse Konnotation, die das Hebräische hier hatte. Er lautet übersetzt: „Die Mitzwa, sich in Erez Jisrael niederzulassen / die Mitzwa, die Tora Israels glorreich zu machen [zu vergrößern] / Im heiligen Land sollen sie [die beiden Mitzwot] mit Furcht [‫פחד‬, pachad]¹⁰⁹ erfüllt werden / Dafür werden wir alle belohnt werden“.¹¹⁰ Hierbei wird besonders deutlich wie sehr das Deutsche und das Hebräische miteinander verbunden sind, nachgerade fest verwoben werden die beiden Sprachen an dieser Stelle, ein Aspekt der durch den Anklang des deutschen Klassikers von Friedrich Schiller Wilhelm Tell („Und neues Leben blüht aus den Ruinen“) noch intensiviert wird. Die Quelle enthält jedoch noch weitere translinguale Ebenen. Dazu gehört die Transkription der aschkenasischen Aussprache des hebräischen Liedtitels in lateinische Buchstaben („Aud lau owdoh“). Ebenso fällt auf, dass der Vers „,Heil dem Augʼ, dem dies zu seh’n gewährtʼ!“ die Assoziation einer dem Reimschema angepassten freien Übersetzung des Verses „‫ “עין לציון צופיה‬aus dem hebräischen Text der Ha-Tikwah erweckt. Neben dem Deutschen und dem Hebräischen verfügt diese Quelle also weiterhin sowohl über die Ebene der Transkription als auch über jene der Rückübersetzung ins Deutsche aus dem Hebräischen, beides Aspekte, die die bloße Zweisprachigkeit übersteigen.¹¹¹ Darüber hinaus wird in der graphischen Nebeneinanderstellung der deutschen Strophe voller Hoffnung für die Kolonien und der hebräischen Strophe mit religiösem Inhalt das Ideal des zionistischen Pioniergeistes mit religiösen Inhal Zur jüdischen Kolonisation siehe Penslar, Derek J.: Zionism and Technocracy. The Engineering of Jewish Settlement in Palestine 1870 – 1918. Bloomington/Indianapolis 1991.  ‫פחד‬bedeutet eigentlich „Furcht“, doch in diesem Zusammenhang wurde es sicherlich wegen des Reimschemas anstelle von ‫(יראה‬Gottesfurcht, Demut) verwendet.  CZA AK 169/1.  Zur Translingualität der deutsch-zionistischen Literatur siehe Gelber, Melancholy Pride, S. 17– 54. Und besonders auch: Gelber, Mark H.: The Hebraic Poetics of German Cultural Zionism. An „Umlaut“ over the „Vav“. In: Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Festschrift für Hans Otto Horch zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Mark H. Gelber, Jakob Hessing und Robert Jütte. Tübingen 2009, S. 171– 180.

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Abb. 6: Station „Kolonieen“ des Huldigungs-Reigens

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ten kombiniert.¹¹² Dieses Phänomen stimmt somit auch mit der jüngsten Zionismus-Forschung überein, in der eine solche „Fusion von Motiven und Stilen“ als eine „Reflexion der impliziten Feststellung, dass die neuen Juden Palästinas in ihrem Wesen eine Mischung aus Ost und West sein würden“ dargelegt wird.¹¹³ Mark H. Gelber hat bereits festgestellt, wie die „technische redaktionelle Gestaltung“ literarischer Quellen – wie der bereits erwähnte Juedischen Almanach aus dem Jüdischen Verlag – eine „einheitliche jüdisch-nationale Ästhetik“ erzeugte, die eine „Verbindung von Ost und West“ suggerieren sollte.¹¹⁴ Die letzte Station des Reigens setzt die gesamte Reiseroute in einen wichtigen Kontext, der zum touristischen Abenteuer der Zionisten selbstverständlich dazugehörte: die Rückkehr ins Kaiserreich. Das Gedicht zur „Heimath“ lautet folgendermaßen: Heimath Moaus zur Frohbewegt ins eig’ne Zelt Lenket Ihr die Schritte. Sahet eine neue Welt, Morgenlandes Sitte. An Herz an Geist geadelt beidʼ – So kehret ihr zurücke Ins Friedensheim, bewahrt vor Leid, Zu sel’gem, sel’gem Glücke!¹¹⁵

An dieser Station kann der Sonderstatus des deutschen Zionismus sehr gut veranschaulicht werden. Sehnen die beiden Reisenden sich zwar zu ihrer „Mutter“ nach „Zion“, und engagieren sich für „ihr“ Wohlergehen, wie an der fünften Station beschrieben, so kehren sie dennoch glücklich in ihre Heimat Deutschland zurück. Das „Heimliche“ an dieser letzten Station, wird durch die Illustration „Sabbatausgang“¹¹⁶ von Struck untermauert. Der „Hell-Dunkel-Ef Vgl. Berkowitz, Zionist Culture, S. 119 – 143.  Saposnik, Europe and Its Orients, S. 1114.  Gelber, Melancholy Pride, S. 35.  CZA AK 169/1.  „Die Radierung zeigt das halbfigurige Bildnis eines alten bärtigen Mannes im Halbprofil nach links gewendet. Sein Haupt ist mit einer Kippa bedeckt.Vor ihm stehen auf einem Tisch eine Kerze, ein Becher Wein und ein schlankes mit Gewürzen gefülltes Gefäß, eine sogenannte Bessomimbüchse. Der Kopf des Mannes ist leicht nach vorn gebeugt, seine Augen sind gesenkt. Er hält seine Hände vor sich, die Handflächen sind nach oben gerichtet, die Finger nach innen umgebogen. Gesicht und Oberkörper werden von der brennenden Kerze beleuchtet, der Rücken liegt in einem dunklen Schatten“. Aus: Rusel, Hermann Struck, S. 95.

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Abb. 7: Station „Heimath“ des Huldigungs-Reigens

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fekt“ des Bildes, der auf den partiellen Schein der Kerze zurückzuführen ist, charakterisiert die religiöse Handlung des dargestellten Mannes.¹¹⁷ Das Bild unterstreicht somit die Ruhe des „Friedensheims“. Berkowitz argumentiert, dass die Palästina-Reise generell ein „Ritual“ war, um ein „vollkommener Zionist“ zu werden.¹¹⁸ Er stellt überzeugend dar, dass Zionisten „ihr Potenzial als Volk und Nation, ziemlich buchstäblich mit ihren Augen gesehen haben müssten […] um sich selbst als vollkommen menschlich wahrzunehmen“.¹¹⁹ Mit anderen Worten, durch die Reise nach Palästina wird Zionisten das Potential des jüdischen Volkes bewusst und sie können sich danach als „vollkommene Menschen“ wahrnehmen. Des Weiteren zeigt Berkowitz, dass die Reise nach Palästina als der „Höhepunkt“ im Leben eines jeden Zionisten betrachtet werden sollte. Dazu gehörte, dass die Reisenden fühlten, sie hätten „die wahre Heimat der Tiefen ihrer Seelen“ gesehen, denn „Palästina sollte nicht eine zusätzliche Heimat fern der eigenen Heimat, oder nur ein herrlicher Urlaubsort – sondern der Ort, den westeuropäische Juden als ihre authentischste Heimat anerkennen würden, werden“.¹²⁰ Wie Dimitry Shumsky in seinem Artikel zum zionistischen Tourismuskonzept herausarbeitete, repräsentiert das Modell des Reisens im Roman Altneuland eine dritte Variante. Shumsky stellt ein Zirkulieren der Reisenden „between the Old cultural homeland(s) of Altneuland Jews [d. h. Europa – Anm. d. Verf.] and the New territorial homeland in Palestine“ fest. Dadurch würden im Roman Begriffe wie „home“ und „away“ aufgelöst und die Reise an sich stünde für die „Heimkehr“.¹²¹ Der Titel des Hochzeitsgeschenks enthält den Begriff „Reigen“, was ebenso ein solches Zirkulieren indizieren würde. Doch in unserer Quelle ist die Heimkehr augenscheinlich die wichtigste Station, denn hier findet die „Selbstverwirklichung“ erst wirklich statt: Dort erst werden sie an „Herz“ und an „Geist geadelt beidʼ“. Dies illustriert also weder Berkowitzʼ betonte Anerkennung Palästinas als „authentic home“, noch das Verwischen der Begriffe „home“ und „away“, die Shumsky Altneuland attestierte, sondern eine dritte Variante: Die Rolle Palästinas für die jüdische Selbstverortung ist im Huldigungs-Reigen mehr als deutlich, doch die Heimat von Aron und Adele Sandler war unbestreitbar das Kaiserreich. Trotzdem lässt die Abbildung der letzten Station gewisse Ambivalenzen des Heimatbegriffes durchscheinen. Sie zeigt nämlich nicht einen spezifischen Ort oder eine Landschaft im Kaiserreich, sondern die Hawdala-Zeremonie am Schabbat    

Rusel, Hermann Struck, S. 95. Berkowitz, Nationalized Tourism in Palestine, S. 126 f. Berkowitz, Nationalized Tourism in Palestine, S. 146. Hervorhebung d. Verf. Berkowitz, Nationalized Tourism in Palestine, S. 129. Shumsky, This Ship Is Zion, S. 492.

6.5 Der Huldigungs-Reigen für das Ehepaar Sandler

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ausgang. Wie bereits in Bezug auf Adele Sandlers Bilderbuch argumentiert wurde, trug der Schabbat die Konnotation der Diaspora und wurde im deutsch-jüdischen Diskurs, parallel zur Synagoge, zum konservierten authentischen Judentum stilisiert. Auch bei dieser Station der „Heimath“ schwingt daher die Vielschichtigkeit der jüdischen Selbstverortung im Kaiserreich mit. Der Schabbath selbst scheint hier als „Heimath“ zu fungieren. Damit möchte ich argumentieren, dass der Zionismus im Allgemeinen und die Reisen nach Palästina im Besonderen zu einer Mentalität der Selbstvervollkommnung führten. Andererseits, und das wird sowohl im Bilderbuch als auch an der Station der „Heimath“ des Huldigungs-Reigens in beispielloser Weise klar, wird derWunsch ausgedrückt, Transkulturalität im Kaiserreich zu etablieren. Dieses lässt sich analog zu dem diesem Kapitel vorangestellten Zitat Bhabhas, als das Streben „welches versucht, kulturelle Hybriditäten zu autorisieren […]“ begreifen.¹²² Und auch die Probleme dieses „Verhandelns“ werden hier, beispielsweise an der letzten Station, deutlich. Diese Autorisierung kultureller Hybriditäten, um im Jargon Bhabhas zu bleiben, wurde im zionistischen Diskurs vorangetrieben. Im Huldigungs-Reigen werden die traditionellen jüdischen Melodien fast ausschließlich mit deutschen Texten versehen. Dabei wird die deutsche Sprache mit zahlreichen als „authentisch“ jüdisch markierten Codes verbunden. Dies wird im Besonderen auch in den für die Quelle verwendeten Liedern deutlich. Ma’os Zur – ein traditionelles aschkenasisches Lied für Chanukka, Schir ha-Maʼalot – ein Lied aus Zitaten aus den Psalmen, die von den antiken Jerusalempilgern gesungen worden sein sollen, Schiw’im hemah ha-Gibborim – ein Lied aus dem 19. Jahrhundert, welches angeblich bereits vor der ersten Alijah in Palästina gesungen wurde, Jom seh le-Jisrael – ein Schabbatlied welches Isaak Luria, dem prominenten Kabbalisten des 16. Jahrhunderts, zugeschrieben wurde, Dort wo die Ceder – ein zionistisches Lied, es erschien das erste Mal in der Selbst-Emancipation 1885 und konkurrierte mit der Ha-Tikwah als Nationalhymne, Eli Zion we-Areiha – ein aus dem Mittelalter stammendes Lied zum 9. Av, Od lo avdah – jenes Lied, welches später die Hymne Israels werden wird, Bimherah, Bimherah – ein traditionelles Pessachlied. Kurz, von religiösen Liedern mit Bibelzitaten und folkloristischen hebräischen Melodien bis hin zur heutigen Hymne Israels ist hier, kombiniert mit der deutschen Sprache, praktisch alles vertreten. Allerdings erkennt man in dieser Verflechtung deutschen und jüdischen Materials noch ein weiteres Moment. In Anbetracht der bereits besprochenen ständigen Hinterfragung der deutsch-jüdischen und deutsch-zionistischen Authentizität sollte das Verflechten des Deutschen mit dem Hebräischen, der jüdischen Religion und mit

 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 3.

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6 Authentizität in Kunst, Literatur und kultureller Praxis

osteuropäischen Symbolen die west-zionistische Kultur im gesamtzionistischen Kontext „authentifizieren“.¹²³

6.6 Das Palästina-Quartett von Adele Sandler Auf ihrer gemeinsamen Palästina-Reise fertigte Adele Sandler anscheinend zahlreiche Skizzen an, die sie unter anderem für die Illustration ihres PalästinaQuartetts verwendete.¹²⁴ Im Vergleich zum Bilderbuch und dem Huldigungs-Reigen, die größtenteils auf Deutsch verfasst wurden, sind die Karten des Quartetts gänzlich auf Hebräisch. Während im Bilderbuch die Verweise auf Palästina als Code für die jüdische Selbstverortung im Kaiserreich dienten und im Huldigungs-Reigen die Rolle Palästinas für die Selbstverwirklichung und Authentifizierung der Zionisten deutlich wurde, lässt sich anhand des Quartetts die Wahrnehmung Palästinas noch genauer ergründen. Das Kinderspiel setzt sich aus zwölf Quartetten zusammen, die die folgenden Titel tragen: „Städte im Süden“, „Städte im Norden“, „Moschawot“, „Meere und Flüsse“, „Berge“, „Früchte“, „Blumen“, „berühmte Orte“, „Landwirtschaft“, „Bewohner des Landes“ und „Häuser“.¹²⁵ Zum einen findet sich hier eine vornehmlich orientalistische Sicht, die die „westliche“ Welt als überlegen darstellt, zum anderen dennoch die Apperzeption Palästinas als arabisches Land, dem sich die jüdischen Siedler anzupassen hätten. Im Reisebericht Adolf Friedemanns liest man, dass Kairo das „Tor des Orients“ sei, ein Ort des „Aufeinanderprallen[s] der Kulturen von Ost und West“ und damit ein Schauplatz, an dem „der Verzweiflungskampf arabischer Sitten und Gewohnheiten gegen die überlegene, wenn auch weniger farbenschöne

 Zur Hinterfragung deutsch-zionistischer Authentizität siehe vor allem Kapitel 4 dieser Arbeit.  Das Palästina-Quartett liegt im Jüdischen Museum Berlin.  Sandler, Adele: Palästina-Quartett, Berlin o. J. Die einzelnen Quartette sind: I: Städte im Süden (I,1: Jaffo; I,2: Jerusalem; I,3: Jericho; I,4: Hebron); II: Städte im Norden (II,1: Haifa; II,2: Akko; II,3: Tiberias; II,4: Safed); III: Kolonien (III,1: Rechovot; III,2: Rosch Pina; III,3: Petach Tikwah; III,4: Rischon Lezion); IV: Meere und Flüsse (IV,1: Jordan; IV,2: See Genezareth; IV,3: Totes Meer; IV,4: Mittelmeer); V: Berge (V,1: Hermon, V,2: Karmel, V,3: Libanon; V,4: Tabor); VI: Gebiete (VI,1: Judäa, VI,2: Samaria; VI,3: Galiläa, VI,4: Transjordanien); VII: Früchte (VII,1: Orange, VII,2: Traube, VII,3: Zitrone, VII,4: Granatapfel); VIII: Blumen (VIII,1: Lilie, VIII,2: Rose, VIII,3: Meeresnarzisse, VIII,4: Narzisse); IX: Berühmte Orte (IX,1: Rahels Grab, IX,2: Klagemauer, IX,3: Davidsturm, IX,4: Herzlberg); X: Landwirtschaft (X,1: Pflug; X,2: Sichel; X,3: Ernte/Ertrag; X,4: Weinlese); XI: Die Bewohner des Landes (XI,1: Bauer, XI,2: Schomer, XI,3: Jemenite, XI,4: Fellache); XII: Häuser (XII,1: Bauernhof, XII,2: Synagoge, XII,3: Schule, XII,4: arabisches Zelt)

6.6 Das Palästina-Quartett von Adele Sandler

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westliche Welt“ stattfinde.¹²⁶ Bei seinem Besuch der Kolonien bemerkte er: „Zunächst sollte man in einem arabischen Lande die [jüdischen – Anm. d. Verf.] Kinder arabisch lernen lassen. Es ist doch naturgemäss, dass man die Landessprache spricht!“¹²⁷ Aron Sandler vermerkte Ähnliches in seinem Reisebericht. Bei seinem Ritt durch Galiläa passierte er „die kleinen aber stellenweise zahlreichen arabischen und tscherkessischen Dörfer“ und erkannte: „Wahrhaftig – das Land war, selbst hier in Galiläa, nicht leer“.¹²⁸ Nach seiner Rückkehr teilte er diese Erkenntnis mit anderen Zionisten, die daran „bisher nicht Recht gedacht“ hatten. Die Reaktion zweier führender Zionisten sei gewesen: „Da werden wir wohl umlernen müssen!“¹²⁹ Bei dem Quartett, welches Adele Sandler gestaltete, findet sich in der Serie „Die Bewohner des Landes“ neben dem Bauern, dem Schomer und dem Jemeniten auch der Fellache. Die Serie „Häuser“ beinhaltet einen Bauernhof, eine Synagoge, eine Schule sowie ein arabisches Zelt. Man erkennt daran eine positive Wahrnehmung der arabischen Bewohner Palästinas. Dazu gesellte sich bereits in der Frühphase des Zionismus eine Art Zwischenform, die Schomrim [hebr. Wächter], die auch in Adele Sandlers Quartett aufgenommen wurden. Die Beschreibung von Aron Sandlers zweiter Palästinareise ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, denn er bemerkt, ebenso mehrsprachig wie in den Gedichten seines Hochzeitgeschenkes: Wir befanden uns beim Besuch des Palästinaamtes auf dem Boden Jaffas. Mit Ruppin fuhr ich auf einem Küstendampfer nach Galiläa, wo er den zu Besuch weilenden Baron Edmond Rothschild zu begrüssen hatte. Die offizielle Begrüssung erfolgte im Freien – ich glaube, es war bei Rosch Pinah […]. Zu dem Akt war eine Abteilung der ‫[שומרים‬hebr. Schomrim, Wächter – Anm. d.Verf.] erschienen, und diese veranstalteten am Abend am Lagerfeuer eine Festszene in arabischem Style mit Schwerttänzen, die zu der Garnitur der Wächter wie ihrer kleinen Pferde wohl passten; weniger harmonisch wirkte die in den Tanz hineingezogene Figur Ruppins, die mehr der eines steifen preussischen Assessors entsprach. Ganz arabisch wirkte auch der Abzug der reitenden ‫ שומרים‬in der Dunkelheit mit ihrem monotonen Gesang des ewig wiederkehrenden ‫[ אל יבנה הגליל‬hebr. El jivne ha-galil, Gott wird Galiläa errichten – Anm. d. Verf.].¹³⁰

Arthur Ruppin (1876 – 1943), den Sandler hier erwähnt, hatte 1908 das PalästinaBüro in Jaffa gegründet und vertrat seitdem dort zionistische europäische Inter-

    

Friedemann, Reisebilder, S. 7 f. Friedemann, Reisebilder, S. 93. CZA A 69/2, S. 23. CZA A 69/2, S. 23. CZA A 69/2, S. 44.

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6 Authentizität in Kunst, Literatur und kultureller Praxis

essen. Wie Etan Bloom zeigte, begrenzten sich seine Tätigkeiten im „Neuen Jischuw“ keineswegs auf politische Aktivitäten. Er war auch an der Erschaffung der „prä-israelischen Kultur“ maßgeblich beteiligt. Durch Ruppins „völkische“ Weltanschauung wurden, so Bloom, nicht nur heutzutage noch immer brisante inner-israelische Hierarchien zwischen Aschkenasim und Misrachim geprägt. Auch die „Verschiebungspolitik“ des Zionismus den Arabern gegenüber könne man auf Ruppin zurückverfolgen.¹³¹ Adele Sandler griff dieses von ihrem Mann beschriebene Erlebnis in ihrem Quartett auf (Abb. 8). Es ist bereits mehrmals betont worden, welche besondere Stellung den Schomrim im zionistischen Diskurs zukam.¹³² Diese Stellung charakterisiert sich teils durch die geschilderte Mimikry der jüdischen Kolonisten – soll heißen ihrer Nachahmung des arabisch-palästinensischen Stils – und teils durch den beschriebenen Kontrast zur Figur Arthur Ruppins. Im Grunde hatten die Schomrim, so formulierte es Zionismusforscher Arieh Saposnik, einen „militanten Stand“ gegenüber den Arabern, waren jedoch in „Kleidung, Angewohnheiten und sogar ihren Pferden“ den „ansässigen Beduinen“ und auch, weniger offensichtlich, dem „russischen Kosacken“ nachempfunden.¹³³ Repräsentierten für einige die Beduinen auf eine romantische Art die antiken Israeliten, so war doch das Kopieren ihres Habitus ebenso ein „Vertrautmachen mit einem potentiellen Feind“.¹³⁴ An diesen Ausführungen ist sicherlich klar, dass sie, wie Saposnik darstellt, vor 1908 geschrieben wurden, also vor jenem Jahr, indem sich durch die jung-türkische Revolution auch der Konflikt zwischen den Arabern und Juden in Palästina zu verschärfen begann.¹³⁵ Diese facettenreiche Imaginierung Palästinas wurde auch von Moses Calvary in seiner Einleitung zum Bildband Palästina. Bilder von Land und Leben von 1921 bestätigt. In der Vielfalt selbst, und vor allem in den Gegensätzen in der Natur, glaubte Calvary sogar das Jüdische schlechthin an Palästina zu erkennen. Er erklärt: Es herrschen die größten Unterschiede, Unterschiede der Temperatur zuweilen an demselben Orte innerhalb eines Tages bis zu 25 Grad, Unterschiede der Trockenheit und der Regenzeit, endlich die stärksten Unterschiede der Landschaft selbst. Und wenn es wahr ist, daß

 Vgl. Bloom, Etan: Arthur Ruppin and the Production of Pre-Israeli Culture. Leiden/Boston 2011.  Zu den Schomrim siehe Berkowitz, Zionist Culture, S. 152– 154 und Saposnik, Europe and Its Orients, S. 1122.  Saposnik, Europe and Its Orients, S. 1122.  Saposnik, Europe and Its Orients, S. 1122.  Vgl. Saposnik, Europe and Its Orients, S. 1105 – 1123.

6.6 Das Palästina-Quartett von Adele Sandler

Abb. 8: Das Quartett: „Bewohner des Landes“: Jemenite, Bauer, Schomer, Fellache

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6 Authentizität in Kunst, Literatur und kultureller Praxis

der moderne Jude charakterisiert wird durch die Weite und Intensität der Spannung zwischen Gegensätzen, im Moralischen, im Geistigen, ja im Körperlichen und vielleicht auch durch den Willen, aus diesen Gegensätzen eine Einheit zu schaffen, – eine etwas allgemeine, vorläufige, neue Fragen erweckende, aber einleuchtende Formel für dieses verschlungene Problem, – so zeigt sich eben noch der Jude des Galuth als echter Sohn Erez Israels.¹³⁶

Durch Analogie zwischen dem Land voller innerer Gegensätze und dem zerrissenen modernen Juden bezweckte Calvary hier die Markierung Palästinas als jüdisches Land. Diese Gegensätze müssten jedoch – wie auch in modernen Juden selbst – in Palästina zu einer Synthese kommen. So schreibt er: Das ist es, was dem Besucher Palästinas, besonders dem jüdischen, den nachhaltigsten Eindruck hinterläßt: die beiden Pole der Entwicklung, die uralte Größe der Landschaft und das erwachende jüdische Leben. Wohl fehlt es dazwischen auch nicht an denkwürdigen Bauten der Geschichte: Gräber der Urzeit, Städteruinen, Synagogentrümmer, Reste der großartigen Anlagen des Herodes, hellenistische Bauten, Kreuzritterburgen, die Mauer des Salomonischen Tempels als ergreifendstes, erinnerungsschwerstes Denkmal jüdischer Vergangenheit, und die Omarmoschee, das schönste, reinste Gebäude des Landes. Wohl ragt auch das alte jüdische Leben in Gegenwart und Zukunft hinein, das Leben der Städte Jerusalem, Safed und Tiberias. Wohl drückt die Buntheit und Sorglosigkeit des orientalischen Lebens, seien nun Juden oder Araber seine Träger, dem Bilde ihren Stempel auf, und manche Erscheinung, so der einsame Brunnen, die wassertragenden Frauen, sind wie ein Teil der Landschaft selbst. Aber das Entscheidende wird sein, ob eben das neue Leben und die ewige Natur des Landes sich wieder zu einer Synthese zusammenfindet [sic]; nur dann findet die Sehnsucht des Juden ihre Erfüllung.¹³⁷

Die in diesem Kapitel analysierten Quellen zeigen die Konstruktion einer transkulturellen deutsch-jüdischen Kultur, die mithilfe von Gegennarrativen erschaffen wurde. Damit zeichnet sich in diesem Kapitel ein anderes Bild ab, als das eingangs beschriebene von den Theoretikern zionistischer Kultur propagierte. So sehr in den theoretischen Pamphleten auch für die Erschaffung wahrhaft authentisch jüdischer Kultur auf die notwendige „Verpflanzung“ nach Palästina beharrt wurde, so wenig wurde in den hier herangezogenen Quellen Palästina als eine „authentische Heimat“ stilisiert. Palästina war unabdingbar im zionistischen Streben nach Authentizität, doch diese Authentizität wurde für Aron und Adele Sandler nicht in Palästina, sondern in Deutschland erreicht. Für das erschaffene Gegennarrativ waren traditionelle und religiöse Begrifflichkeiten in den hier bearbeiteten Quellen von herausragender Bedeutung. Diese

 Palästina. Bilder von Land und Leben. 57 Abbildungen mit einer Einleitung von Moses Calvary. Berlin 1921, S. 5.  Palästina. Bilder von Land und Leben, S. 8.

6.6 Das Palästina-Quartett von Adele Sandler

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wurden nationalisiert und „kulturisiert“. Sie erfuhren also eine Umdeutung, die sie für den deutsch-jüdischen Kontext bedeutungsvoll machte. Die zionistischen Kulturschaffenden adaptierten jüdische Motive, um im Kaiserreich eine idiosynkratische Transkulturalität zu etablieren. 1933 stieß dieses Unterfangen an seine Grenzen. Durch die gravierenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen – bereits zuvor, doch besonders nach 1933 – wurde Deutschland als „Heimath“ für Aron und Adele Sandler unmöglich. 1934 kehrten sie Deutschland gezwungenermaßen den Rücken und ließen sich, indem sie dem bereits 1923 nach Haifa ausgewanderten Hermann Struck folgten, in Palästina nieder.

7 Fazit Die vorliegende Studie ging der Frage nach, wie sich zionistische Denkerinnen und Denker zu der so oft gestellten Frage der Authentizität verhielten. Entgegen der bisherigen Tendenz in der Forschung, jüdische Authentizität ausschließlich in Osteuropa zu verorten, wurde deutlich, wie komplex sich der Authentizitätsdiskurs auch in den deutschen Ländern und im Kaiserreich gestaltete. Für die gesamte untersuchte Periode gilt: Das Authentische ist allgegenwärtig. Die zionistischen Denkerinnen und Denker hatten vor, der moralischen Notwendigkeit für das Individuum der Moderne schlechthin zu genügen und strebten nach der Erkenntnis ihres authentischen Selbst und dessen Verwirklichung. Dazu gehörte auch das gefühlvolle Erleben des „eigenen Selbst“, der „eigenen Kultur“ und der „eigenen Nation“. Für die Erforschung des deutschen Zionismus bedeutet die Berücksichtigung der mit der Authentizität eng verbundenen Subjektivitätsfrage eine neue Herangehensweise an die Entstehung und die Situierung des zionistischen Diskurses. Dadurch ließen sich völlig andere Kontinuitäten aufzeigen als jene, die bis dato im Zentrum der Debatte standen. Denn bereits vor Theodor Herzl war das national-jüdische Gedankengerüst – wie man sowohl in Moses Hessʼ Rom und Jerusalem von 1862 als auch im Roman von Wilhelm Herzberg Jüdische Familienpapiere von 1868 gesehen hat – eng mit der Idee der Authentizität verbunden. Die Subjektivitätsvorstellungen in den hier verwendeten Quellen zionistischer Denkerinnen und Denker müssen im Kontext der poststrukturalistischen Subjektivitätstheorien und der Dekonstruktion situiert werden. Für den zionistischen Diskurs sind eher die romantischen Vorstellungen einer geheimen Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, eines zerrissenen Selbst, der Entfremdung vom eigenen, authentischen Inneren, das romantische Verlangen nach dem eigenen Ich und dessen Mystifizierung und das Auflehnen gegen die verkünstelte Gesellschaft relevant. Nicht zuletzt deshalb, weil an dieser Stelle Theorien und Ideologien wie der Nationalismus ansetzen können und vorgeben, Lösungsansätze im Hinblick auf die Selbstentfremdung anzubieten und das vermeintlich einzige Mittel zur Erreichung des Status eines authentischen Selbst aufzuweisen. Mithilfe sogenannter Gegennarrative wurde eine distinkte deutsch-zionistische Authentizität konstruiert. Wichtig erscheint dabei, dass, so sehr zionistische Denkerinnen und Denker selbst auch essentialisierten, sie oftmals die eigens erschaffene Distinktion unterwanderten. Denn die deutsch-zionistischen Gegennarrative der Authentizität dienten in erster Linie der Etablierung einer transkulturellen Authentizität. Diese Authentizitätskonstrukte enthalten damit das Potential, die Idee der als authentisch markierten und essentialisierten deuthttps://doi.org/10.1515/9783110546019-009

7 Fazit

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schen Nation zu unterminieren. Zionisten dachten damit „konstant aus einer Zwischenposition heraus, einer Position zwischen Deutschland und ,Zion‘, zwischen Kolonialisten und Kolonisierten, zwischen Universalismus und Partikularismus“, wie Stefan Vogt es formuliert.¹ Doch, und das erhellt die Forschung zum Konzept der Authentizität, sahen sie ihre Zwischenposition als etwas Authentisches, und somit auch Einheitliches, als „oneness“, um mit Stuart Halls Begriff zu operieren.² Anders ausgedrückt, die Texte und die kulturellen Produktionen, in denen sich sowohl die individuellen als auch die kollektiven Authentizitäten manifestierten, etablierten einerseits Transkulturalität und nahmen damit Abstand von ausschließlich „deutschen“ oder „jüdischen“ Identitäten. Andererseits wurde in der Transkulturalität selbst auch die „deutsch-jüdische“ Authentizität gesehen, und das gab einer als homogen imaginierten „Authentizität“ eine ganz andere Nuance. Damit versuchte der Zionismus eine von vielen partikularen Identitäten im Kaiserreich zu etablieren. Ein bestimmtes Kräfteverhältnis bleibt in den Texten jedoch immer offenbar: So wird in Wilhelm Herzbergs Roman die christliche Judenmission im 19. Jahrhundert explizit mit kolonialen Missionaren in Verbindung gebracht und die zionistischen Vergleiche zu anderen Unterdrückten sprechen dieselbe Sprache. Das Streben nach einem authentischen Selbst geriet zudem bereits innerhalb der zionistischen Reihen an seine genderspezifischen Grenzen, denn Jüdinnen wurde eine ambivalente Rolle zugeschrieben. Zwar assoziierte man sie mit emotionalen Begriffen wie „Gefühl“ oder „Herz“, welche klar in den Bereich des Authentischen fallen. Dennoch waren jüdische Frauen der geschlechtsspezifischen nationalen Theorie und Praxis ausgesetzt. Es zieht sich durch die gesamte Entwicklung des Authentizitätsdiskurses daher auch der Aspekt der Exklusion. So universalistisch und humanistisch die Ansätze vieler idealistischer zionistischer Denker auch waren, das Streben nach Authentizität gehörte den jüdischen Männern und nicht den Jüdinnen. Die Analyse der Genderspezifität der frühen Quellen ergab damit die Existenz klarer und vorbestimmter Rollen für die Frau in der Nation. Zwar sollten sich Frauen, wie auch Männer, in erster Linie der Nation unterordnen, jedoch bestand für Frauen eine zweifache Subordination, da sie auch den Männern untergeordnet waren. Die Schwierigkeiten der Bestimmung einer einzigen, allgemeingültigen Authentizität und die Hinderlichkeit einer solchen lassen sich anhand der Politisierung des Konzeptes der Authentizität, beziehungsweise der Gegenwärtigkeit einer „Authentizitätspolitik“ erkennen. Die Anstrengungen national-jüdischer

 Vogt, Subalterne Positionierungen, S. 15.  Hall, Cultural Identity, S. 223.

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7 Fazit

und zionistischer Autoren richteten sich nicht ausschließlich gegen vorherrschende antisemitische Narrative in den deutschen Ländern und dem Kaiserreich, sondern auch gegen bestimmte Haltungen innerhalb der zionistischen Gesamtorganisation. Die Authentizitätspolitik macht vor allem deutlich, dass Ideen, so innerlich sie auch sein mögen, äußerst selten von politischen Strukturen zu trennen sind. Dies gilt auch für die Forschung. Losgelöst von überkommenen Verhaftungen der Authentizität, kann in der zukünftigen Forschung eine sehr viel flexiblere und dynamischere deutsch-jüdische Kulturgeschichte geschrieben werden. Die Zeichen „deutsch“ oder „jüdisch“ waren mitnichten statische Entitäten, sondern wurden im Zwischenraum verhandelt und situativ und individuell gelesen. Auch wurde in diesem Zusammenhang die lange haltbare Kategorisierung des deutschen Zionismus als allem voran liberale Theorie und Bewegung relativiert. Zwar verweist die im zionistischen Denken vorangetriebene Harmonie zwischen Partikularismus und Universalismus ohne Frage auf eine dezidiert liberale Nationalismustheorie. Doch neben der Geschlechtsspezifität tragen auch die Vergleiche zu anderen Minderheiten – die mitunter durch eine sehr harsche Abgrenzung und Hierarchisierung geprägt waren – dazu bei, diese Einschätzung nicht ohne Einschränkung zu übernehmen. Eher findet man im deutschen Zionismus eine charakteristische Verbindung von liberalen und anti-liberalen Haltungen. Auch wenn diese Ergebnisse dazu beisteuern, die Genese und Morphologie zionistischen Denkens zu skizzieren, schöpfen sie selbstverständlich einige Aspekte nicht vollkommen aus. In fast sämtlichen hier analysierten Texten bedienten sich die Autoren eines emotionalen Vokabulars. Gelegentlich setzten sie sich auch mit dem Begriff des Gefühls selbst auseinander. Die Ideale der Empfindsamkeit, die für eine Ablehnung des Rationalismus durch eine Betonung des Gefühls optierten und schließlich auch die Romantik inspirierten, sind in den frühen national-jüdischen Werken unverkennbar. Das Christentum repräsentierte beispielsweise in Herzbergs Roman den Rationalismus und Dogmatismus, die in Texten der Romantik mit Betonung auf Empfindsamkeit üblicherweise klar abgelehnt wurden. Das Judentum, im Gegensatz zum Christentum, wurde zu einer gefühlvollen und authentischen nationalen Entität stilisiert. Diesen Weg zu einem authentischen Selbst zu beschreiten, war auch in den folgenden Generationen in vielerlei Hinsicht ein emotionales Unterfangen, da es bei Authentizität meist um eine innere Haltung ging. Wenn sich am Lebensmittelpunkt der zionistischen Denkerinnen und Denker meist nicht viel änderte, so bedeutete der verinnerlichte Zionismus die Erreichung eines authentischen Selbst. Gerade diese emotionale Ebene ermöglicht eine vielversprechende Perspektive und eine wichtige Erwei-

7 Fazit

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terung. Wünschenswert wäre hier eine stärkere Integration des Zionismus als Gegenstand in der Emotionsforschung. Nicht nur die Anwendung von postkolonialer und literaturwissenschaftlicher Theorie verdeutlichte, wie produktiv eine Öffnung zugunsten neuer theoretischer Ansätze sein kann. Auch die Genderperspektive erscheint nach den hier vorgelegten Analysen für zukünftige Studien unabdingbar, insbesondere wenn es um Themen der Subjektivität geht. Sie offenbarte die klaren Grenzen des Strebens nach Authentizität, die sonst nicht derart deutlich geworden wären. Ein besonders bedeutsamer Tatbestand, der weitere Anstöße für zukünftige Forschungen geben könnte, sind in dieser Hinsicht die in dieser Arbeit präsentierten zionistischen Selbstvergleiche mit anderen Identitätspolitiken. Die Einbettung des zionistischen Diskurses in den allgemeinen „Minderheitendiskurs“ erscheint besonders fruchtbar und kann daher weitere Studien motivieren, die andere jüdische Gruppierungen oder andere Zeitspannen umfassen und auch konkret historische Verflechtungen untersuchen könnten.

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Abbildungsnachweise Abb. 1: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/3092674 Abb. 2: Reproduced courtesy of the Cotsen Children’s Library, Department of Rare Books and Special Collections, Princeton University Library Abb. 3: Reproduced courtesy of the Cotsen Children’s Library, Department of Rare Books and Special Collections, Princeton University Library Abb. 4: Reproduced courtesy of the Cotsen Children’s Library, Department of Rare Books and Special Collections, Princeton University Library Abb. 5: From the collections of the Central Zionist Archives, Jerusalem Abb. 6: From the collections of the Central Zionist Archives, Jerusalem Abb. 7: From the collections of the Central Zionist Archives, Jerusalem Abb. 8: Adele Sandler, Kartenspiel: Palästina-Quartett, Berlin: Verlag Hajeled ca. 1922. Chromolithographie auf Papier, auf Karton kaschiert, 10,3 x 7,3 cm; Jüdisches Museum Berlin. Foto: Jens Ziehe

https://doi.org/10.1515/9783110546019-011

Personenregister Achad Haam 6, 13, 84 – 86, 88, 101 f., 104, 121, 130 – 134, 137 – 145, 154, 160, 162, 180 f. Adorno, Theodor W. 16, 27 f. Ahad Ha᾽am; Siehe Achad Haam Alcoff, Linda 168 Anderson, Benedict 12, 25, 169 Antiochus IV. 87 Arama, Jitzchak 72 Aristoteles 58 Aschheim, Steven E. 7, 10, 61, 148 Auerbach, Berthold 50 f. Auerbach, Elias 127 Bamberg, Michael 5 Bar-Yosef, Eitan 161 f. Barg, Elias 163 f. Bartal, Israel 144 f. Ben-Ari, Nitsa 38 f., 45, 50 f., 53, 55 Bendix, Regina 12 f., 19, 27, 63, 74 Benjamin, Walter 28, 114 Berkowitz, Michael 178, 181, 195, 199, 203, 212 Bhabha, Homi K. 178 f., 213 Biale, David 109, 121 Birnbaum, Nathan 87, 170 f. Bloch, Joseph Samuel 83 f., 86 – 88 Bloom, Etan 216 Blumenberg, Hans 17 Blumenfeld, Betty 126 f. Blumenfeld, Kurt 1, 6, 109 – 111, 113, 119, 126 f., 146, 150, 181 Blyden, Edward 158 Bodenheimer, Max 127 Böhm, Adolf 30 f., 91 f. Bollnow, Otto Friedrich 27 Borut, Jacob 81, 106 Brenner, David A. 10 Brenner, Michael 10 Brubaker, Rogers 168 f. Buber, Martin 99 f., 109 f., 113 f., 117, 120 – 125, 146, 175 f., 181 – 184, 188, 197 f. Butler, Judith 29 f. https://doi.org/10.1515/9783110546019-012

Calvary, Moses 13, 40, 97 f., 114 – 119, 129, 154, 216, 218 Chamberlain, Joseph 147 Charmé, Stuart Z. 9 Chireau, Yvonne 159 Cooper, Frederick 168 f. Crémieux, Adolphe 160 Descartes, René 21 Diderot, Denis 19 Dohm, Christian Wilhelm

75, 156

Efron, John 57 Einstein, Albert 1 Estermann, Leo 152 f. Feiwel, Berthold 98 f., 150 f., 184 f., 188 Ferrara, Alessandro 16 f. Fischer, Walter 195 Foucault, Michel 28 f., 130 Frankel, Zacharias 40, 76 f., 159 f. Franzos, Karl Emil 50 Friedemann, Adolf 89, 105, 141, 147 f., 198, 201 f., 214 f. Friedländer, David 76 Fuld, Ludwig 78 Gelber, Mark H. 210 Goldschmidt, Abraham Mayer 55 Goldstein, Moritz 186 f. Golomb, Jacob 16 Graetz, Heinrich 34 – 36, 39, 41, 49, 76 Grünhut, Dr. 206 Guignon, Charles 16 Hall, Stuart 7, 155, 221 Heidegger, Martin 17 f., 22, 27 f. Heine, Heinrich 32, 76, 97 Hemann, F. 167 f. Herder, Johann Gottfried 21, 56 Herrmann, Hugo 185 Herzberg, Wilhelm 12, 32 f., 35 – 48, 50 – 55, 58 – 67, 73, 146, 206, 220 – 222

Personenregister

243

Herzl, Theodor 3, 6, 13, 68, 78, 108, 112 f., 128, 130 – 143, 145, 147, 154, 158, 161 f., 164, 178, 180, 197, 220 Hess, Josephine 64 Hess, Moses 3, 12, 32 – 35, 40 f., 49 – 51, 55 – 62, 64, 72, 146, 158, 189, 220 Heyes, Cressida 166 Hildesheimer, Esriel 115, 179 Hillel 171 – 174 Hirsch, Samuel 67 Hobsbawm, Eric 12, 25 Hölderlin, Friedrich 109 Holdheim, Gerhard 175 Hyman, Paula E. 100 f.

Nordau, Max 6, 78 f., 90 – 94, 96 – 99, 102 – 104, 111, 138 – 142, 148, 152, 178 Novalis 109

Ibn Asrak

Rand, Frieda 125 Renan, Ernest 133 Riesser, Gabriel 159 Roemer, Nils 81 Rosenblüth, Felix 1, 115 Rosenblüth, Martin 115 Rosenblüth, Mirjam 40 Rosenzweig, Franz 106 f. Rousseau, Jean-Jacques 19, 41 Rülf, Isaak 35, 160 f. Ruppin, Arthur 215

171 – 174

Jaspers, Karl

27

Kaplan, Marion 55, 100, 125 Kaufmann, David 51, 54 Kedourie, Elie 12, 22 f. Kohn, Hans 176 Lewanda, Leon 86 f. Lezzi, Eva 53 Lichtheim, Richard 6, 109, 112 f., 115, 128, 153 f., 163 Locke, John 21 Loewe, Heinrich 39 f., 105, 127, 157, 163 f., 195 Maimon, Mosche 94 Meinhardt, Gustav; Siehe Herzberg, Wilhelm Mendelssohn, Moses 76, 156 Mendes-Flohr, Paul 84, 104 Meyer, Conrad Ferdinand 107 Mill, John Stuart 133 Miron, Guy 146 Montefiore, Judith 72 Morel, Benedict Augustin 93 Mosse, George L. 22, 65, 67, 71 Motru, C. R. 102 Natonek, Joseph 12, 33, 35, 67 – 73, 99 Nietzsche, Friedrich 22, 92, 117 f.

Oppenheimer, Franz 129 f., 148 – 152

6, 105, 107 – 110,

Philippson, Phöbus 93 Pinsker, Leon 35 f., 74, 77 f., 90, 94, 101, 160, 162, 167, 171 f., 174 Platon 58 Poppel, Stephen M. 3 Prestel, Claudia 157 f. Preuss, Walter 175

Sandler, Adele (geb. Straus) 6, 14, 178 – 180, 187 – 194, 197 f., 201, 204 – 206, 212 – 216, 218 f. Sandler, Aron 6, 14, 178 – 181, 187, 197 f., 204 – 206, 212, 215, 218 f. Saposnik, Arieh Bruce 205, 216 Satlow, Michael 87 Schiller, Friedrich 43, 208 Scholem, Gerschom 109, 113 f., 119 f., 122 f., 141, 146, 152 Schorsch, Ismar 51 Seligmann, Caesar 142 f. Shavit, Yaacov 56 Shumsky, Dimitry 106, 180, 212 Silberstein, Laurence J. 15, 29 Simonsohn, Emil 147, 164 f. Smith, Anthony D. 25 f. Sokolow, Nachum 94 – 96, 167 Solomon, Louis 158 Sorkin, David 10, 80

244

Personenregister

Spector, Scott 106 Spinoza, Baruch 108, 116 Straus, Adele; Siehe Sandler, Adele Straus, Rahel 179 Straus, Samuel 179, 205 f. Struck, Hermann 181, 194 f., 197 f., 207, 210, 219 Tarde, Gabriel 84 Taylor, Charles 1 f., 12, 16, 20 – 22 Tomaschoff, B. 68 Trilling, Lionel 12, 16, 18 – 20, 22 Ussischkin, Menachem

147

Varga, Somogy 16 Vital, David 154 Vogt, Stefan 221 von Hippel, Theodor Gottlieb 157 von Treitschke, Heinrich 186 Weill, Alexandre Abraham 64 Weltsch, Robert 176 f. Wiese, Christian 176 Winz, Leo 138, 140 – 142, 144, 185 Zangwill, Israel 148 Zitkala-Ša 164 f. Zweig, Arnold 197