Zerbrechliche Lebensformen: Widerstreit - Differenz - Gewalt 9783050080055, 9783050036687


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German Pages 398 [400] Year 2001

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung
Teil I Lebensformen im Zeichen des Widerstreits
1. Herausforderungen einer künftigen Philosophie der Lebensformen
1.1 Lebensform: im Singular, im Plural
1.2 Normalität und Versehrbarkeit
1.3 Lebensform, Zugehörigkeit und Identität
1.4 Ethische Nicht-Indifferenz und Gewalt
1.5 Politik, Zugehörigkeit und Identität
1.6 Grenzen des Rechts
1.7 Probleme der „Integration“
2. Identität und Lebensform: Taylor
2.1 Wer-Fragen - im Ausstand
2.2 Exklusive Weltverhältnisse?
2.3 Kontextualisierung und Situierung
2.4 Topografie und Teleologie
2.5 Ethnische Rezentrierung vs. moderne Dezentrierung?
3. Ontologie des Mitseins: Heidegger
3.1 Dasein und Mitsein
3.2 In der Welt Anderer
3.3 Ethischer Sinn des Mitseins?
3.4 Mitsein - ethnisch beschränkt?
3.5 Mitsein und Unzugehörigkeit
3.6 Ontologie und Ethik
4. Lebensformen und Sprachspiele: Wittgenstein
4.1 Spielräume des Verhaltens
4.2 Regeln und die fungierende Logik der Praxis
4.3 Übereinstimmung in Lebensformen
4.4 Interferenzen oder abgekapselte Seinsregionen?
5. Lebensformen im Widerstreit: Lyotard
5.1 Zwischen Konflikt, Strittigkeit und Gewalt
5.2 Sätze, Diskursarten und der „Bürgerkrieg der Sprache“
5.3 Ansprüche im Widerstreit
5.4 „Unsere Art zu denken“
5.5 Widerstreit und Politik
5.6 Identität im ethisch-politischen Widerstreit
Teil II Widerstreit und Differenz Zwischen Ethik und Politik
6. Ethische Differenzsensibilität vs. politische Differenzvergessenheit? Die Sensibilität der Differenz: Ethik vs. Politik
6.1 Indifferente Differenz?
6.2 Differenz - relativ und radikal
6.3 Ansprechbarkeit jenseits der Verschiedenheit
6.4 Imprägnierungen des Rechtsstaats
6.5 Differenzsensible Politik?
6.6 Ethische Verwandtschaft und „verschiedene“ Andere
6.7 Politik und ethische Differenz - Revisionen
6.8 Chiasma und Widerstreit von Ethik und Politik
6.9 Zwischen uns
7. Kulturelle Identität Zwischen ethnischer Zugehörigkeit und politischer Mitgliedschaft
7.1 Das Hobbesianische Erbe
7.2 Nationalisierung zwischen Eigen- und Fremdgeschichte
7.3 Zwischen „Wir“ und „Man“
7.4 Politik der Identität
7.5 Amerika im Plural
7.6 Der Wille, zusammen zu leben
8. Moral des Widerstreits - Moral im Widerstreit
8.1 Nicht-substanzielle Überzeugungen
8.2 Mit „Rücksicht“
8.3 Überzeugungen und Überzeugen
8.4 Verkörperte Überzeugungen
8.5 Kritik einer „dialektischen“ Rationalität
8.6 Maßstäbe für Lebensformen?
8.7 Mit Widerstreit umgehen
8.8 Widerstreit und Tragik praktischer Konflikte
Teil III Horizonte der Gewalt
9. Widerstreit, Gewalt und die „manichäische Versuchung“
9.1 Widerstreit - ursprünglich und okkasionell
9.2 Radikalisierungen
9.3 Dämonisierungen
9.4 Entmischung und Unterscheidung
9.5 Unterschiedswesen
9.6 Selbstunterscheidung durch Verfeindung
10. Feindschaft zwischen Affirmation und Exzess
10.1 Vom Bösen zur Feindschaft
10.2 Spielräume der Feindschaft
10.3 Zur Feindschaft bestimmt? Im Horizont der Vernichtung
10.4 Feindschaft ohne Hass?
10.5 Exzessivität
11. „Endlösungen“ ohne Ende
11.1 Vielfaltige Gewalt
11.2 Atavismen oder „moderne“ Formen?
11.3 Rücksichtslose Gewalt - Im Geist der „Endlösung“
11.4 Utopische Gewalt
11.5 Gewalt und Gegen-Gewalt
11.6 Anhang I: Krieg und Genozid
11.7 Anhang II: Verantwortung, Recht und „europäische“ Politik
12. „Wilde Gewalt“ und das Versprechen des Gewalt-Verzichts
12.1 Zwischen Apologie und Verzicht
12.2 Rechtfertigung und Legitimität
12.3 Unter Vorbehalt? Gewalt-Verzicht als Versprechen
12.4 Gewalt und Verantwortung
12.5 Ein glaubwürdiges Versprechen?
Nachwort
Literatur
Siglen
Namenregister
Sachregister
Nachweise
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Zerbrechliche Lebensformen: Widerstreit - Differenz - Gewalt
 9783050080055, 9783050036687

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BURKHARD

LIEBSCH

Zerbrechliche

Lebensformen

BURKHARD

LIEBSCH

Zerbrechliche

Lebensformen WIDERSTREIT

Akademie Verlag

I

DIFFERENZ

I

GEWALT

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen Abbildung auf dem Einband: Serge Poliakoff: Komposition 1956 © VG Bild-Kunst, Bonn 2001

Die Deutsche Bibliothek - CIP - Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. ISBN 3-05-003668-0

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2001 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Einbandgestaltung: GuteGrafik, Hans Baltzer, Berlin

Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort Einleitung

9 13

Teil I Lebensformen im Zeichen des Widerstreits 1. Herausforderungen einer künftigen Philosophie der Lebensformen . .

35

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7

35 37 40 43 46 49 54

Lebensform: im Singular, im Plural Normalität und Versehrbarkeit Lebensform, Zugehörigkeit und Identität Ethische Nicht-Indifferenz und Gewalt Politik, Zugehörigkeit und Identität Grenzen des Rechts Probleme der „Integration"

2. Identität und Lebensform: Taylor

63

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

64 69 71 73 76

Wer-Fragen - im Ausstand Exklusive Weltverhältnisse? Kontextualisierung und Situierung Topografie und Teleologie Ethnische Rezentrierung vs. moderne Dezentrierung?

6

Inhalt

3. Ontologie des Mitseins: Heidegger

85

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

85 87 90 93 96 101

Dasein und Mitsein In der Welt Anderer Ethischer Sinn des Mitseins? Mitsein - ethnisch beschränkt? Mitsein und Unzugehörigkeit Ontologie und Ethik

4. Lebensformen und Sprachspiele: Wittgenstein

109

4.1 4.2 4.3 4.4

109 112 116 118

Spielräume des Verhaltens Regeln und die fungierende Logik der Praxis Übereinstimmung in Lebensformen Interferenzen oder abgekapselte Seinsregionen?

5. Lebensformen im Widerstreit: Lyotard

123

5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6

123 125 129 134 140 146

Zwischen Konflikt, Strittigkeit und Gewalt Sätze, Diskursarten und der „Bürgerkrieg der Sprache" Ansprüche im Widerstreit „Unsere Art zu denken" Widerstreit und Politik Identität im ethisch-politischen Widerstreit

Teil II Widerstreit und Differenz Zwischen Ethik und Politik 6. Ethische Differenzsensibilität vs. politische Differenzvergessenheit? Die Sensibilität der Differenz: Ethik vs. Politik

155

6.1 6.2 6.3 6.4 6.5

155 157 162 165 170

Indifferente Differenz? Differenz - relativ und radikal Ansprechbarkeit jenseits der Verschiedenheit Imprägnierungen des Rechtsstaats Differenzsensible Politik?

Inhalt

6.6 6.7 6.8 6.9

Ethische Verwandtschaft und „verschiedene" Andere Politik und ethische Differenz - Revisionen Chiasma und Widerstreit von Ethik und Politik Zwischen uns

7

177 181 183 189

7. Kulturelle Identität Zwischen ethnischer Zugehörigkeit und politischer Mitgliedschaft . . 193 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6

Das Hobbesianische Erbe Nationalisierung zwischen Eigen-und Fremdgeschichte Zwischen „Wir" und „Man" Politik der Identität Amerika im Plural Der Wille, zusammen zu leben

193 198 203 207 209 214

8. Moral des Widerstreits - Moral im Widerstreit

219

8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7 8.8

219 223 226 229 236 243 247 251

Nicht-substanzielle Überzeugungen Mit „Rücksicht" Überzeugungen und Überzeugen Verkörperte Überzeugungen Kritik einer „dialektischen" Rationalität Maßstäbe für Lebensformen? Mit Widerstreit umgehen Widerstreit und Tragik praktischer Konflikte

Teil III Horizonte der Gewalt 9. Widerstreit, Gewalt und die „manichäische Versuchung"

259

9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6

259 262 266 271 277 281

Widerstreit - ursprünglich und okkasionell Radikalisierungen Dämonisierungen Entmischung und Unterscheidung Unterschiedswesen Selbstunterscheidung durch Verfeindung

8

Inhalt

10. Feindschaft zwischen Affirmation und Exzess

285

10.1 10.2 10.3 10.4 10.5

286 288 293 301 304

Vom Bösen zur Feindschaft Spielräume der Feindschaft Zur Feindschaft bestimmt? Im Horizont der Vernichtung Feindschaft ohne Hass? Exzessivität

11. „Endlösungen" ohne Ende

313

11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6 11.7

313 317 323 328 332 335 337

vielfältige Gewalt Atavismen oder „moderne" Formen? Rücksichtslose Gewalt - Im Geist der „Endlösung" Utopische Gewalt Gewalt und Gegen-Gewalt Anhang I: Krieg und Genozid Anhang II: Verantwortung, Recht und „europäische" Politik

12. „Wilde Gewalt" und das Versprechen des Gewalt-Verzichts

341

12.1 12.2 12.3 12.4 12.5

341 343 349 353 356

Zwischen Apologie und Verzicht Rechtfertigung und Legitimität Unter Vorbehalt? Gewalt-Verzicht als Versprechen Gewalt und Verantwortung Ein glaubwürdiges Versprechen?

Nachwort

361

Literatur

365

Siglen

384

Namenregister

385

Sachregister

393

Nachweise

397

Vorwort

Wir leben in Zeiten beispielloser Diffusion, Interferenz, Kontamination, Vermischung und Verflechtung von Ideen und Kulturen, Denk- und Lebensformen. Daraus resultieren quasi entropische Prozesse der Nivellierung und der Einebnung von Gegensätzen ebenso wie Prozesse ihrer lebenspraktischen Zuspitzung und Radikalisierung. Gegensätzliche, aber auch in sich widersprüchliche Formen menschlicher Koexistenz kollidieren mit anderen und beschwören gewaltförmige Konflikte herauf, wenn sich das Gegensätzliche nicht auflösen, versöhnen oder „aufheben" lässt. Das besagt jedenfalls das klassische Vernunftdenken, so wie man es auf die heutige, konfliktträchtige Lage von heterogenen, aber miteinander verflochtenen Lebensformen anzuwenden versucht hat. Das „einzige Interesse der Vernunft" sei es, „festgewordene Gegensätze" miteinander zu versöhnen, um ihre Widersprüchlichkeit „aufzuheben", schrieb Hegel in der Differenzschrift. Auch dort, wo lebenspraktische Formen menschlicher Koexistenz in Konflikt geraten, muss es demnach im Interesse der Vernunft liegen, praktische „Gegensätze" fur aufhebbar zu halten. Nicht nur tragisch zugespitzte Erfahrungen, die Hegel bedacht hat, auch alltägliche Konflikte spotten aber vielfach dieser Vorstellung, insofern sie uns in praktischen Widerstreit verwickeln, der sich dem VernunftInteresse an Versöhnung widersetzt. Zwar deuten seit langem zahlreiche Befunde auch der Wissenschaften von der Erfahrung auf eine solche Widersetzlichkeit hin. Doch ist es bis heute ein Desiderat geblieben, zu ermitteln, in welchem Ausmaß sie unser inneres, soziales und (inter-)kulturelles Leben bestimmt. Die Psychoanalyse ist dem Widerstreit als einem dem psychischen Leben von Anfang an immanenten Moment auf die Spur gekommen. Ethnologen und Soziologen erforschen seit langem einander widerstreitende Zugehörigkeiten zu heterogenen Lebensformen, welche die Identität der Betroffenen auf eine Zerreißprobe zu stellen scheinen und in unversöhnliche, gewaltförmige Konflikte zu münden drohen. Historiker schließlich fuhren uns Fälle vor Augen, in denen man vom Widerstreit der Überlebensinteressen oder konfligierender „historischer Existenzrechte" verschiedener Gruppen, Völker oder Staaten überzeugt war. Wenn kein kosmopolitisches Recht zwischen einander widerstreitenden Interessen und Rechten vermitteln kann, wie man von Hegel bis Carl Schmitt annahm, muss dann nicht der Krieg entscheiden, in dem unweigerlich ein Interesse oder Recht der Durchsetzung des jeweils anderen zum Opfer fallen muss? Noch heute können wir ein immer neues Wieder-

10

Vorwort

aufleben von Denkweisen beobachten, die die Behauptung eines „existenziellen" Widerstreits zwischen geschichtlichen Überlebenseinheiten - vor allem zwischen Lebensformen, Ethnien oder ganzen Kulturen - mit dramatischen politischen Folgerungen verknüpfen. Rechtfertigt

der „reale" existenzielle Widerstreit selber nicht am Ende sogar die Gewalt, mit

der man sich gegen „gegensätzliche" Lebensformen, Ethnien oder Kulturen zu behaupten sucht? Bleibt überhaupt eine andere Möglichkeit, wenn Lebensformen, Ethnien oder Kulturen sich im scheinbar unvermeidlich

agonalen oder polemogenen

Verhältnis zueinander als

Ganze in einem praktischen Widerstreit befinden? Die im Licht des gegenwärtigen Wiederauflebens ethnischer Konflikte augenfällige Brisanz und die problematische Suggestionskraft dieser Frage zwingt zu sorgfältiger Bestandsaufnahme dessen, wie praktischer Widerstreit konkret vorliegt und wie er gewaltförmig virulent wird. Nur so werden begriffliche Kurzschlüsse zwischen Widerstreit, Differenz und Gewalt zu vermeiden sein, die auf eine fahrlässige theoretische Affirmation der Konflikte hinauszulaufen drohen, die wir zwischen angeblich „unvereinbaren" Lebensformen beobachten. Beschwört denn Widerstreit, die „Unversöhnlichkeit" und „Unaufhebbarkeit" praktischer Gegensätze, wirklich unweigerlich gewaltsame und am Ende radikale Konflikte herauf? Das vorliegende Buch ist als ein energischer Einspruch gegen eine umstandslose affirmative Antwort auf diese Frage gedacht. Deshalb befasst es sich immer wieder mit soziologischen, politischen und sozialphilosophischen Positionen, die eine solche Antwort zumindest nahe legen. Es ist weitgehend aus einer Beobachterperspektive geschrieben, die den Blick schärfen kann für fragwürdige Übergänge von Erfahrungen und Behauptungen von Widerstreit und Differenz zu einer Gewalt, über deren radikales Potenzial man sich nicht täuschen sollte. Wer heute eine neuartige Sozialtheorie oder -philosophie der Lebensformen für möglich und - angesichts eines vielfach beobachteten, allerdings höchst unterschiedlich diagnostizierten „Formwandels des Sozialen" - für dringlich hält, muss die Rede von Lebensformen in den Horizont radikaler, selbst genozidaler Gewalt rücken, deren Zeugen wir in unserer Gegenwart sind. Nur so kann man hoffen, der unhintergehbaren Geschichtlichkeit dieser Rede Rechnung zu tragen. Schon einmal, vor und nach der Wende zum 20. Jahrhundert, hat dieser Begriff auf fragwürdige Weise Karriere gemacht. Die semantische Nähe zu Begriffen wie Lebensreform und Lebensrow/M sollte noch heute jedem eine Warnung sein, der sich auf dieses Terrain wagt. Ob eine neuartige, nicht nur anachronistisch „wieder aufgelegte" Sozialphilosophie der Lebensformen möglich ist, bleibe einstweilen dahingestellt. Eine solche Philosophie, die die Erfahrungen unserer Zeit in Gedanken zu fassen suchte, dürfte jedenfalls die objektiven historischen Konstellationen, in die dieser Begriff gehört, nicht ignorieren. Nun wird im folgenden nicht Begriffsgeschichte, Ideengeschichte oder Diskursanalyse betrieben. Es geht aber darum, nicht noch auf historisch unreflektierte Art und Weise gewissermaßen theoretische Beihilfe zu leisten zu einer pathologischen Konfrontation „heterogener" Lebensformen, wenn man den Gründen ihrer Zerbrechlichkeit

nachgeht. Einer - und nicht der unwichtigste

- dieser Gründe ist ihr „Verurteiltsein" zu einer Koexistenz im Widerstreit, die polemogene Konfrontationen womöglich provoziert. Der Dramatik solcher Konfrontationen ist gewiss

11

nicht damit zu begegnen, dass man die Unumgänglichkeit der Konflikte, die aus ihnen entstehen, affirmiert und mehr oder weniger normalisiert, indem man erklärt, Widerstreit habe als Quelle sozialer Auseinandersetzungen auch sein Gutes, das gerade ein demokratisches Ethos zu inspirieren vermöge. Der niemals adäquat vorwegzunehmende Widerfahrnischarakter, das pathos, das im Widerstreit stes auch liegt, verbietet eine solche, allzu bequeme Lösung. Es geht mir insofern mitnichten um eine Apologie des Konflikts, sondern die Frage, welche politischen, ethischen oder moralischen Spielräume des Verhaltens Widerstreit eröffnet. Vor jeder möglichen Antwort auf diese Frage liegt aber die fallige Wahrnehmung des Widerstreits als Widerstreit. Wie existiert er, wie widerfährt er uns „leibhaftig" - in uns selbst, im Verhältnis der Geschlechter, in der Differenz des Anderen und der Anderen? Betrifft er nur verschiedene Lebensformen, oder gehört er konstitutiv zu jeder denkbaren lebenspraktischen Form sozialer Koexistenz? Muss man die Frage nach Lebensformen im Widerstreit nicht von Anfang an in dieser zweifachen Hinsicht aufwerfen? Vor allem dank einer gewissen Konvergenz der Philosophien Wittgensteins und Lyotards zeichnet sich zwar ein zunehmendes soz/a/philosophisches Interesse an diesen Fragen ab. Querverbindungen zu den sogenannten Erfahrungs-Wissenschaften, die zeigen, wie Menschen im Zeichen ihrer Differenz, ihrer Andersheit und Fremdheit „sozial" in Lebensformen im Widerstreit koexistieren, werden aber allzu selten hergestellt. Angesichts der Vielzahl und Vielgestaltigkeit der sich aus den Fesseln der Konventionalität befreienden Lebensformen, von denen die Wissenschaften berichten, wäre es allerdings vermessen, ohne weiteres mit einer Theorie der Lebensformen aufwarten zu wollen. Weder bloß begriffs- oder ideengeschichtliche Reprisen, mit denen man in der Philosophie leicht bei der Hand ist, noch grobe Typologien, die neben „sesshaften", „nomadischen" und „diasporischen" ... immerhin auch „experimentellen" Lebensformen Rechnung tragen könnten, helfen in dieser unübersichtlichen Lage wirklich weiter. Nur im Zuge eines interdisziplinären Ansatzes kann umfassend deutlich werden, ob und wie Lebensformen, in denen „verschiedene" und „fremde" Andere auf mannigfaltige Art und Weise koexistieren, zu Widerstreit, Differenz und Gewalt verurteilt sind. In diesem Sinne ist das vorliegende Buch als eine Ouvertüre zum Problemfeld einer Sozialphilosophie der Lebensformen zu verstehen. Es zielt darauf ab, die Topografie dieses Problemfeldes abzustecken, ohne den konkreten Forschungen vorgreifen zu wollen, mit denen es verbunden ist und die in anschließenden Arbeiten dokumentiert werden, in denen neben sozialphilosophischen Grundproblemen sozialwissenschaftliche, psychologische, pädagogische, ethnologische, geschichtliche und politische Dimensionen dieses Themas zur Sprache kommen sollen. Die folgenden Arbeiten sind überwiegend im Rahmen der Vorbereitung der Arbeit der Studiengruppe „Lebensformen im Widerstreit", die ich zusammen mit Jürgen Straub seit Ende 1999 am Essener Kulturwissenschaftlichen Institut im Wissenschaftszentrum des Landes Nordrhein-Westfalen geleitet habe, entstanden. Mehrere Kapitel gehen auf eine Reihe von Konferenzen zurück, die u.a. im KWI, in der Evangelischen Akademie Villigst, in Zusammenarbeit mit der Katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und mit

12

Vorwort

dem Bochumer Institut für Genozid- und Diasporaforschung durchgeführt worden sind. Über diese Aktivitäten geben im einzelnen die Arbeitsberichte im Jahrbuch des Kulturwissenschaftlichen Instituts Auskunft. Das Manuskript wurde im Dezember 2000 abgeschlossen. Für vielfältige Anregungen und Kritik möchte ich den Mitgliedern der Studiengruppe, den eingeladenen Gästen und den Mitveranstaltern jener Tagungen, besonders Dagmar Mensink und Mihran Dabag, danken. Vor allem gilt mein Dank Jürgen Straub für die freundschaftliche und inspirierende Zusammenarbeit, Mischka Dammaschke für die sorgfältige Betreuung, Brigitte Blockhaus, Gesine Worm, Monika Wühle, Gabriele Schäfers, Carlos Kölbl und Veit Friemert für technische Hilfe, Jörn Rüsen für die gewährte materielle Förderung sowie Käte Meyer-Drawe als erster Leserin.

Essen, im März 2001

Einleitung

Wer sich selbst überlassen bleibt, wird niemals das, was er von Natur aus sein kann. Zwar wissen wir nicht, was uns die Natur alles „zu sein erlaubt", wie Rousseau feststellte, denn sie entlässt die Neugeborenen in eine Unbestimmtheit und Offenheit möglichen Seins, der nur ein Leben unter Anderen Form geben kann. 1 Auch ein „natürliches" oder „naturgemäßes" Leben kann es nur als ein mit und von Anderen geformtes, nicht aber als sich selbst überlassenes geben. Die Geschichten, die seinerzeit von „wilden Kindern" überliefert waren, schienen das hinreichend zu bestätigen. 2 Nur ein mit und unter Anderen gelebtes Leben verdient wirklich, ein „menschliches" genannt zu werden, das es von Natur aus, der Möglichkeit nach, nur sein kann. Noch die Möglichkeit des Rückzugs in ein solitäres Leben, das alle Beziehungen abbricht, setzt eine vorgängige Sozialisation voraus. In diesem Sinne muss auch die Lebensform des Einzelgängers noch als sozialisiert gelten. Nun stellen sich die sozialisierenden und sozialisierten Lebensformen, welche die Unbestimmtheit und Offenheit menschlicher Natur im Zusammenleben gestalten, in kulturgeschichtlicher und ethnologischer Perspektive in einer überwältigenden Vielfalt dar, die es seit der Zeit der Frühaufklärung, als die sich formierende bürgerliche Öffentlichkeit in Europa durch zahlreiche Reiseberichte vom kulturell Fremden zu erfahren begann, immer wieder als rätselhaft erscheinen ließ, was sie als Lebensformen eigentlich mit einander verbindet. Angesichts dieser Vielfalt fragt Ernest Gellner: spielen die Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu ganz verschiedenen Lebensformen am Ende „radikal verschiedene Spiele, an die sinnvollerweise unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden müssen"? 3 Sind dabei nicht nur unterschiedliche „Sprachspiele" (Wittgenstein), sondern auch „radikal verschiedene Probleme" im Spiel, die man erst einmal in Erfahrung bringen müsste, bevor man an die Bewertung oder Kritik von Lebensformen denkt? 4 Was haben Jäger und Sammler et-

' 2 3

4

J.-J. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, Paderborn 1983, S. 38. Siehe L. Malson, J. Itard, O. Mannoni, Die wilden Kinder, Frankfurt/M. 1972. Vgl. E. Gellner, Pßug, Schwert und Buch. Grundlinien der Menschheitsgeschichte, Stuttgart 1990, S. 44, sowie zum historischen Hintergrund der Entdeckung fremder Lebensformen, die jene Frage hat virulent werden lassen, K.-H. Kohl, Entzauberter Blick, Frankfurt/M. 1986; U. Bitterli, Die , Wilden' und die , Zivilisierten', Μ ünchen 2 1991. Vgl. E. Gellner, Pflug, Schwert und Buch, S. 19.

Einleitung

14

wa, deren archaische Lebensformen von Angst, Not und Gewalt gezeichnet sind, mit der Saturiertheit moderner oder postmoderner Lebensformen zu tun, die sich - wenn wir zweifelhaften Ratgebern in Sachen Lebenskunst Glauben schenken wollen - gar nicht mehr um den Mangel am Lebensnotwendigsten oder um eine „Sache", sondern scheinbar nur noch um Probleme des Stils und nicht mehr um ihr Wofür zu drehen scheinen? Hat nicht schon jene „erwerbssüchtige urtümliche Proto-Bourgeoisie" des ausgehenden Steinzeitalters, die sich nicht nur dem Befriedigungsaufschub oder dem verzögerten Ertrag, sondern der „Herrschaft des ins Unendliche verzögerten Ertrags" zu unterwerfen begann, mit dem archaischen, noch auf das Lebensnotwendigste zentrierten Kommunismus der Lebensformen gebrochen, auf die Marshall Sahlins in seiner Rekonstruktion der neolithischen Revolution gestoßen zu sein scheint? 5 Aber wie weit ist diese „Bourgeoisie" noch von jenen protestantischen Lebensformen entfernt, aus deren Nährboden dann der Geist des okzidentalen Rationalismus keimte! Und waren diese Lebensformen nicht wie die mittelalterlichen Zeiten mit ihren demografischen Katastrophen von einer radikalen, existenziellen Unsicherheit geprägt, die sich von Zeitgenossen, die sich der Illusion einer umfassenden Kapitalisierung und Versicherung ihres Lebens hingeben, nur noch erahnen lässt? 6 Wie wirkte sich die nach aller Erfahrung äußerst knapp bemessene Lebenserwartung auf die Lebensformen aus, die kaum Zeit hatten, sich zu stabilisieren? 7 Wie gelang es ihnen, traditionale bürgerliche Strukturen auszubilden, durch die sich die „Mentalität" einer Kapitalisierung der Lebenszeit ausbreiten konnte, die bereits die Moderne vorausahnen lässt? 8 War - bei aller Verwandtschaft mit kapitalistischen Lebensformen 9 späterer Zeiten, die man nachträglich zu erkennen meint - das damalige Leben aber nicht wiederum mit tagtäglichen und jahreszeitlichen Arbeits-Zeit-Ökonomien, mit Gebräuchen, mit zeitgemäßen Formen der Gastlichkeit und der Gabe verflochten, von denen sich nur noch Relikte finden und die die Vergleichbarkeit mit heutigen Lebensformen sogleich wieder in Frage stellen? 10 Musste es sich nicht einer Tyrannei der Konventionen beugen, die sich kaum mehr nachvollziehen lässt? Lassen sich sogenannte postkonventionelle Lebensformen, die sich kollektivem Zwang aus Prinzip widersetzen und denen man deshalb eine moralische Überlegenheit bescheinigt, wirklich mit Formen sozialen Lebens früherer Zeit normativ vergleichen? Oder spiegeln sie lediglich einen anderen Aus-

5

Vgl. ebd., S. 36, sowie M. Sahlins, Stone Age Economics,

6

Vgl. V. Fumagalli, Wenn der Himmel sich verdunkelt. Lebensgefühl im Mittelalter, Berlin 1988.

7

Vgl. Α. E. Imhof, Die Lebenszeit, München 1988. J. LeGofT, „Zeit der Kirche und Zeit des Händlers im Mittelalter", in: C. Honegger (Hg.),

8

London 1974.

Schrift

und Materie der Geschichte, Frankfurt/M. 1977, S. 393-414. 9

Vgl. mit Blick auf Max Weber K. Mannheim, „Eine soziologische Theorie der Kultur und ihrer Erkennbarkeit" [1924/5], in: Strukturen des Denkens, Frankfurt/M. 1980, S. 155-322, hier: S. 179 f. O h n e den Terminus terminologisch zu verwenden, liefert Mannheim eine Reihe von begrifflichen Bestimmungsstücken - ausgehend von praktischen Erfahrungsgemeinschaften, deren „Lebenszusammenhang" (Dilthey) narrativ artikuliert wird (S. 229 ff., 252). Parallelen zur Phänomenologie der InterSubjektivität fallen hier überall ins Auge.

10

Vgl. A. J. Gurjewitsch, Das Weltbild des mittelalterlichen

Menschen, München 1986, S. 247-305.

Einleitung

15

schnitt aus dem weiten, unüberschaubaren Spektrum dessen wieder, was für die einen oder die anderen jeweils gut ist bzw. war? Viele verstehen den Staat heute als Garanten einer irreduziblen und normativ nicht über einen Leisten zu schlagenden Pluralität von Lebensformen, die man als Vielfalt und Bereicherung eigener Identität bejaht, statt sie normativ zu disqualifizieren oder als Bedrohung zu werten. Demnach scheinen sich die politischen Probleme, die man unvermeidlich mit dieser Pluralität hat, schlicht darauf zu reduzieren, dass sie zu tolerieren ist, oder - falls Toleranz bloß Ausdruck einer Duldung ist, die dem Tolerierten stillschweigend doch nur eine anfechtbare Missbilligung entgegenbringt - darauf, dass man sich dazu durchringen muss, die Lebensformen in ihrer Verschiedenheit anzuerkennen." Beides setzt offenbar nur voraus, dass die Lebensformen - gemessen an minimalen, unverzichtbaren Maßstäben - tolerierbar oder anerkennungswörJ/g sind. Als Kriterium wird Verschiedenes angeboten: die Frage, ob Lebensformen für diejenigen, die ihnen zugehören, oder für diejenigen, die von ihnen ausgeschlossen sind, demütigend sind, ob sie die Würde einzelner oder ganzer Gruppen verletzen; die Frage, wie hoch der Preis ist, der für die Zugehörigkeit, ihre Aufkündigung oder für eine dosierte oder radikale, womöglich revolutionäre Kritik zu zahlen ist, usw. 12 So trennscharf und unverzichtbar solche Maßstäbe sein mögen, so zurückhaltend ist indessen von ihnen Gebrauch zu machen. Nicht, weil die Frage der Kritik und des Vergleichs von Lebensformen von geringer Bedeutung wäre, sondern weil man über den Gegenstand - ungeachtet der überbordenden Vielzahl empirischer Befunde - so wenig weiß. Auch eine der Gewaltlosigkeit oder der geringstmöglichen Gewalt verpflichtete Kritik verfährt (auf vermeidbare Weise) gewaltsam, wenn sie sich über die Natur ihres Gegenstandes nicht Klarheit verschafft hat. Das gilt auch ftir eine Kritik, die mit besten Absichten nur auf Konfliktbereinigung, Verständigung und Versöhnung aus ist. Versöhnung setzt Versöhnbarkeit voraus. Deshalb muss sich diese Kritik die Gegenfrage gefallen lassen, ob sie von der Versöhnbarkeit dessen, was in der Existenz jeder Lebensform und in Konflikten zwischen Lebensformen an Widerstreitendem zu Tage tritt, eine an-

Vgl. A. Margalit, Politik der Würde, Berlin 1997, S. 210. Solche negative Kriterien sind in sich problematisch genug und bleiben auch dann anfechtbar, wenn man sich auf sie geeinigt hat. Denn was etwa als Demütigung überhaupt zu gelten hat oder konkret so erfahren wird (oder erfahren werden sollte), ergibt sich nicht aus ihnen. Notfalls muss eine entsprechende Kritik, welche die Kriterien reklamiert, von außen gegen Repräsentanten einer Lebensform vorgebracht werden, die Außenstehenden jedes Recht absprechen, für Andere zu sprechen, die sich selbst nicht äußern. Sehr schnell verwickelt sich auf diese Weise die kritische Entlarvung von Gewalt selbst in eine gewaltsame Auseinandersetzung. Sehr viel schwieriger aber als solche negative Kriterien sind positive Maßstäbe zu rechtfertigen, die bspw. auf angemessene Bedürfnisinterpretationen, richtige Orientierung, gerechte Konfliktregelung, funktionale Koordination oder auch auf gelingende Vergesellschaftung oder Vergemeinschaftung abstellen können. Vgl. B. Peters, Die Integration moderner Gesellschaften, Frankfurt/M. 1993, S. 92 ff., 399. Angesichts der Vielzahl offerierter, einander vielfach widerstreitender Kriterien und angesichts dessen, dass sie jeweils nur einen Teilaspekt von Lebensformen tangieren, erscheint es vermessen, Lebensformen im ganzen normativ beurteilen zu wollen.

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Einleitung

gemessene Vorstellung hat. Das Modell der Versöhnung, das die neuzeitliche Philosophie anzubieten hat, ist das der Aufhebung von Widersprüchen. Existieren aber Lebensformen nur in sich widersprüchlich und im Widerspruch mit anderen? Gewiss gibt es „Unvereinbarkeiten" und Widersprüche von Lebensformen. Für „unvereinbar" hält beispielsweise Margalit Lebensformen dann, „wenn es praktisch unmöglich ist", ihnen gleichzeitig an- oder zuzugehören. „In Konkurrenz" stehen sie dagegen seiner Meinung nach dann, „wenn sie einander widersprechen, das heißt, wenn die Überzeugungen und Werte der einen im Widerspruch zu denen der anderen stehen".13 Der Widerspruch eröffnet freilich noch die Option seiner Aufhebung und in diesem Sinne eine Perspektive seiner Auflösung; hingegen verbaut das Vorliegen eines Widerstreits diese Aussicht. Verfährt nicht auch eine der Aufhebung von Widersprüchen verpflichtete Praxis und Philosophie dann latent gewaltsam, wenn sie das Widerstreitende nicht als Widerstreitendes zur Geltung und zu seinem Recht kommen lässt? Gibt es als Alternative zur diskursiven Verständigung über auflösbare Widersprüche nur Konflikte, die sich wie angeblich „in antagonistischen Lebensformen verkörperte Glaubensmächte" nur in der „Ambivalenz von Anziehung und Abstoßung" bewegen, die „an die Stelle des Wahren und des Falschen" tritt?14 Vollzieht sich im Widerstreit der Lebensformen gleichsam nur der berüchtigte clash of civilizations im Kleinen?15 Liegen hier „existenzielle Unvereinbarkeiten" vor, die ein anthropologisierendes Denken unbedenklich auf ein gewisses „natürliches" Verlangen der Menschen zurückfuhrt, sich unter Berufung auf „Überzeugungen" und „starke Wertungen" ihr Selbst im Unterschied zu anderen bestätigen zu wollen? 13 14 15

A. Margalit, Politik der Würde, S. 210. So J. Habermas, „Wahrheit und Wahrhaftigkeit", DIE ZEIT, Nr. 50 (1995), S. 59 f. Vgl. beispielsweise A. Cesana, „Kulturelle Identität, Inkommensurabilität und Kommunikation", in: Studien zur interkulturellen Philosophie 5 (1996), S. 119-130. Obwohl sich der Autor mit R. A. Mall gegen die überzogene These einer „völligen Inkommensurabilität" von Kulturen wendet, mündet seine Analyse doch in das Szenario unüberwindlicher Differenzen „zwischen ganzen Wertsystemen", „die in einer kulturellen Lebensform fundiert sind", deren Beeinträchtigung „einen kulturellen Identitätsverlust zur Folge hätten". Das soll offenbar unter allen Umständen verhindert werden. Es geht, so wird nebenher kryptonormativ unterstellt, um die Selbsterhaltung dieser kollektiven Identität als oberstes Gebot. Die hier schon theoretisch vorgezeichnete Konfrontation zwischen heterogenen Lebensformen fallt um so schroffer aus, als sie von der mit Blick auf Th. Kuhn und P. Feyerabend zugespitzten Inkommensurabilität von Aussagen, Werten und Wertsetzungen ausgeht, deren Gegensatz mangels eines „Dritten" als unüberwindlich und als nicht kompromissfähig erscheint. Mit solchen Gegensätzen steht am Ende eine ganze „Seinsweise" auf dem Spiel, deren „Verteidigung" offenbar schon - gleichsam präventiv - im Sinne kultureller Identität liegt, die „zur letzten, allein maßgebenden und abschließenden Orientierungsinstanz in Wert- und Glaubensfragen erhoben wird". So zeichnet die Analyse bereits den Kampf oder Krieg der Identitäten vor. Aber liegt dieser in der Existenz heterogener Lebensformen? Was, wenn diese sich als prädiskursiv verflochten erweisen und diskursive Werte ihre Existenz nicht total zu imprägnieren vermögen? Eröffnen sich dann nicht Spielräume für Interferenzen bereits bevor Unvereinbarkeiten drohen, zu denen sich eine rein diskursive, geltungsund rechtfertigungstheoretische Analyse, die die Frage der Werte fahrlässig mit der Existenz ganzer Kollektive kurzschließt, kaum mehr zu verhalten weiß? Beginnt für sie nicht genau dort, wo man über Unvereinbares nicht mehr reden kann, die Gewalt?

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Gellner bringt dieses Denken auf den Punkt. Wonach die Menschen demnach „wirklich verlangen, ist die Zugehörigkeit zu einer eindeutig bestimmten, abgegrenzten, symbolgestützten Gemeinschaft. Und sie haben außerdem den Wunsch, ihren bestimmten Platz in dieser Gemeinschaft einzunehmen. Wenn das so ist, dann sind universales Miteinander und Brüderlichkeit aller Menschen unhaltbare Vorstellungen; denn die Zugehörigkeit zu einer geschlossenen Gemeinschaft impliziert die Existenz anderer, die von der Gemeinschaft ausgeschlossen sind." Als Gegenmittel gegen die „existenzielle" Unsicherheit, die man hinsichtlich der eigenen Zugehörigkeit empfindet, wird ohne weiteres „die Rückkehr zu hierarchischer Ordnung und Disziplin" empfohlen. „All das weist in die Richtung einer [...] massiv theatralischen Politik", die sich notfalls wieder eines naturalistischen Idioms bedient, das es jedem gestattet, sich gestützt auf gänzlich leere Signifikanten selbst dann für vollkommen „integriert" zu halten, wenn in einer anonymen Massengesellschaft niemand mehr so recht die vermeintliche Wärme der „Zugehörigkeit" verspürt. 16 Unter Titeln wie „Primordialität", Zugehörigkeit und Lebensform beschwört man wieder die Geister des eigenen Ursprungs, der Geschichte, der Genealogie, des Ortes, die in finsteren „Seinskonflikten" ihr Unwesen zu treiben scheinen, wo der Diskurs versagt oder gar nicht erst zum Zuge kommt. Tatsächlich aber können alle diese Begriffe nur als Problemtitel gelten. Bedeutet die Zugehörigkeit zu einer Lebensform wirklich, auf eine Weise dem Leben, der Geschichte, den Überzeugungen und den Werten Anderer in einer Weise verbunden zu sein, die „existenzielle Unvereinbarkeiten" mit „heterogenen" Lebensformen und darauf aufbauend die mögliche Verfeindung und eine gewaltsame Auseinandersetzung mit ihnen heraufbeschwört? Wird sich so gesehen Carl Schmitts Schrift Der Begriff des Politischen als die zeitgemäße Deutung des Widerstreits der Lebensformen erweisen, wie T. v. Trotha nahegelegt hat? 17 Steht uns - theoretisch wie praktisch - eine massive Renaissance partikularer Nomoi von Lebensformen bevor, denen man als Zugehöriger mit Haut und Haaren einverleibt ist? Erfährt die angeblich rückhaltlos dezentrierte okzidentale Vernunft nun unter diesen Vorzeichen ihre ethnische Situierungln Impliziert das radikal „situierte Selbst", von dem die Kommunitaristen reden, infolge seiner Zugehörigkeit zu bestimmten Lebensformen und aufgrund seiner „ontologischen" „Anhänglichkeit" an seinen ethnischen oder kulturellen Ort „die Trennung der Menschheit in Autochthone und Fremde"? Ist nicht „in dieser Perspektive [...] die Technik weniger gefährlich als die Geister des Ortes", wie Levinas mit 16

Vgl. J. Baudrillard, „Le Pen hat die Macht des Bösen", in: DIE ZEIT, Nr. 22 (1997), S. 39; E. Gellner, Pflug, Schwert und Buch, S. 285 f.

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Vgl. T. v. Trotha, „Die Zukunft liegt in Afrika. Warum Staatszerfall und Rückkehr der k o n z e n trischen Ordnung' auch den Westen betreifen", in: DIE ZEIT, Nr. 33 (2000), S. 9. Die Idee einer Situierung der Vernunft nahm in den Auseinandersetzungen um Universalität und Endlichkeit des frühen 20. Jahrhunderts u.a. in M. Merleau-Pontys Kritik der „dezentrierten" Vernunftkonzeption seines Lehrers Leon Brunschvicg Gestalt an und war in diesem Kontext keineswegs im Sinne einer ego- oder soziozentrischen Partikularisierung oder Rezentrierung gemeint. Das ist auch bei Habermas natürlich nicht der Fall, bei dem gelegentlich von einer „situierten Vernunft" die Rede ist, wobei eine Auseinandersetzung mit der französischen Phänomenologie aber weitgehend unterbleibt.

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Blick auf Heidegger meint? 19 „Irgendeinen Ort zu seinem eigenen machen, heißt das nicht zugleich, seinen Nachbarn ausschließen?" Was uns trennt (und am Ende zu ethisch Indifferenten zu machen droht, die einander „nichts angehen"), sind das nicht die gastlichen Behausungen? „Indem sie radikal zwischen dem Drinnen und dem Draußen scheiden, zwischen denen, die drinnen sind, und denen, die draußen sind, gewöhnen sie uns daran, daß wir uns nicht kennen." 20 Geradezu ängstlich sucht Levinas jegliche Kontamination einer gewissen Nicht-Indifferenz angesichts des Anderen, deren irreduzible ethische Bedeutung er kompromisslos verteidigt, mit einem irdischen Ort zu vermeiden. 21 Immer wieder ist von einem „Nicht-Ort" die Rede, an dem sich die ethische Offenheit für die Differenz des Anderen ereignen soll, der auch als Zugehöriger eine absolute Fremdheit wahre, die sich jeder restlosen Eingemeindung in welche Lebensform auch immer verweigere. Was geht aber diese Fremdheit das Politische an, in dem das „Zusammen an einem Ort" geregelt wird?22 Bezieht es sich nicht stets nur auf Zugehörige als Mitglieder derselben politischen Gemeinschaft, die Anderen, Unzugehörigen bestenfalls mit Kant noch eine gewisse Hospitalität einräumt? - Einen weiten Bogen macht Levinas um den Gedanken eines Wohnens im Sein, einer ontologischen Situiertheit des Menschen. Wenn man „ontologisch" der Tatsache Rechnung zu tragen sucht (wie es Sandel, Taylor und andere verlangen), dass die Menschen als Zugehörige in Lebensformen ko-existieren, folgt dann daraus, wie Levinas offenbar annimmt, dass die Koexistenz unsere Empfänglichkeit für den Anderen als Fremden zum Verschwinden bringt? Oder ist umgekehrt nun das Phänomen der Zugehörigkeit von der Fremdheit des Anderen her neu zu deuten? Fremdheit des Anderen gibt es nicht jenseits oder unabhängig von jeglicher Zugehörigkeit; sie kann nur in und zwischen den Lebensformen zur Geltung kommen, in denen Menschen mit und unter Anderen konkret koexistieren. Widerstreit und Widerspruch treten nicht erst in der interkulturellen Begegnung mit Fremden auf, denn wir gehören nicht nur einer „komplexen Lebensform" an, die man mit einer Kultur identifizieren könnte. Was bedeutet es aber konkret, mehreren, einander widerstreitenden und in sich widersprüchlichen Lebensformen zuzugehören? Bekanntlich gehen dieser Frage seit langem verschiedene Disziplinen nach, vor allem die Ethnologie, die Kulturpsychologie und die Soziologie. Schon in ihren Anfängen, die noch Ende des 19. Jahrhunderts vielfach miteinander verflochten waren, stellten sie auf habituelle, rituelle, kultische, sittliche und im weitesten Sinne „normalisierende" Strukturmomente von Lebensformen ab. Damit war der thematische Bogen von der Frage der körperlichen Realisierung von Lebensformen bis hin zu ihren ethischen, moralischen und rechtlichen Normierungen weit gespannt.

E. Levinas, Schwierige

Freiheit, Frankfurt/M. 1992, S. 173 ff.

Vgl. dazu E. Jabes, Ein Fremder mit einem kleinen Buch unter dem Arm, München, Wien 1993, S. 34 f. Vgl. aber J. Derrida, Adieu. Nachruf auf Emmanuel Levinas, München, Wien 1999, S. 134, sowie Anm. 18 zu Kap. 2. E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg, München 1992, S. 343.

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Der Physiologe, Psychologe und Ethiker Wundt sei hier nur als ein Beispiel genannt. Wundt, der sich zunächst als Physiologe mit Forschern wie v. Helmholtz auf einem diskursiven Terrain bewegte, der dann aber als „Völkerpsychologe" die Befunde der Ethnologie aufnahm, fragte in seiner Ethik (1886) im Hinblick auf die kulturgeschichtlich vergegenwärtigten „Tatsachen des sittlichen Lebens" nach „individuellen", „sozialen" und „humanen" Lebensformen, deren Spektrum er von Weisen der Nahrungsaufnahme, über Arten des Wohnens bis hin zur Gastfreundschaft und Wohltätigkeit entfaltete. 23 Was diese Formen zu Lebensiormtn teleologisierten

macht, klärt Wundt indessen nicht. Als Physiologe hatte er zunächst einen deLebensbegriff übernommen, mit dem sich die moderne Biologie auf der Hö-

he der Newtonschen Physik hatte etablieren wollen. Von einer wirklichen Vermittlung des Begriffs der Lebensform, so wie er in der Ethik kulturgeschichtlich erläutert wird, mit biologischem Denken, das unter dem Titel einer „Wissenschaft vom Leben" den Begriff des Lebens zu besetzen schien, 24 kann aber weder bei Wundt noch bei Simmel, Eucken, Spranger, Cassirer oder anderen die Rede sein, bei denen das Wort später wieder auftaucht. 25 Dasselbe 23

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W. Wundt, Ethik, Bd. 1, Stuttgart 4 1912, 3. Kap. Nur am Rande sei die Verwandtschaft des Begriffs der Lebensform bei Wundt mit einem weiten Begriff der Ethik als einer „Hermeneutik der sozialen Wirklichkeit" vermerkt, die eine Brücke schlagen konnte zum ethnologischen und kulturpsychologischen Denken der Zeit; vgl. zum Kontext, G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1995, S. 91 f. Der Begriff „Biologie" wurde um 1800 in unterschiedlicher Weise von Roose, Burdach, Treviranus und Lamarck eingeführt. In der Biologie setzte sich alsbald ein kausaler Vitalismus durch, der unter newtonschen Prämissen und unter Rückgriff auf Begriffe wie Lebenskraft und Bildungstrieb zu erklären beanspruchte, wie das Leben (epigenetisch) neue Formen annehmen kann. (Der frühe Wundt erachtete diesen Ansatz ebenfalls als für sich verbindlich.) Es war aber zuvor Herder gewesen, der Montesquieus kulturgeschichtliche Deutung verschiedener Lebensweisen mit Hilfe des Bildungsbegriffs an ein biologisches Lebenskonzept heranrückt. In Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) weiß man oft nicht, ob ein biologischer oder ein kulturgeschichtlicher Begriff der Form gemeint ist, wenn „Formen des Lebens" als Produkte einer ontogenetischen oder gattungsgeschichtlichen (epigenetischen) „Bildung" zur Sprache kommen. Herder wäre diese Alternative künstlich vorgekommen. Vgl. in den Ideen, 5. Buch III, 7. Buch IV, sowie 9. Buch I; Montesquieu, Vom Geist der Gesetze [1748], Stuttgart 1965, S. 24, 30, 65; D. v. Engelhardt, „Die organische Natur und die Lebenswissenschaft in Schellings Naturphilosophie", in: R. Heckmann (Hg.), Natur und Subjektivität, Stuttgart 1985, hier: S. 40 f.; O. Temkin, „German Concepts of Ontogeny and History around 1800", in: Bulletin of the History of Medicine XXIV (1950), Nr. 3, S. 227-246. Die interessanteste Implikation der maßgeblich von Herder angebahnten Interferenz von biologischem und kulturgeschichtlichen Denken ist, dass sich mit dem epigenetischen Denken eine radikale Verzeitlichung des Formgebenden (eidos, Gestalt usw.) oder ΐ omannehmenden anbahnt, die es nicht mehr gestatten wird, auf eine PräFormation zu rekurrieren. Die Form der Lebensformen steht demzufolge in ihrem zeitlichen Geschehen stets selber mit auf dem Spiel. Noch heute können sich Theorien sozialer Lebensformen so gesehen vom biologischen Paradigma der Verzeitlichung belehren lassen. Das Wort taucht bereits bei Schleiermacher und im Kontext der romantischen Biologie auf. Bemerkenswert ist v. a. Schleiermachers Augenmerk auf Widersprüche zwischen Lebensformen (bzw. Lebensgemeinschaften), die er zwar auf das Leben im Staat bezieht, ohne dabei aber auf ein festes anthropologisches oder teleologisches Fundament zu bauen. Vgl. seine Vorlesung aus

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ist noch von Helmuth Plessner zu sagen, der sich einerseits besonders dem biologischen Denken seiner Zeit verpflichtet fühlte, andererseits aber nicht daran dachte, der Biologie die Frage zu ersparen, ob sie die menschliche, „exzentrische" Lebensform (im Gegensatz zur animalischen, „geschlossenen Lebensform") überhaupt angemessen zur Sprache zu bringen vermag. In seinem Buch Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) kommt der Begriff allerdings nur en passant - im Singular und im Plural („soziale Lebensformen") zur Sprache, ohne aber terminologisch verwandt zu werden. 26 Bemerkenswert an der weit verzweigten, Befunde und Begriffe der Ethnologie, der Kulturpsychologie und -geschichte, der Soziologie, der sogenannten Lebensphilosophie und der Sozialontologie aufnehmenden Diskussionslage, 27 auf die Plessner sich bezieht, ist weniger ein klar geschnittenes Konzept der Lebensform als vielmehr, wie sich allmählich ein radikalisiertes Fragen danach herausschält, wie denn zum menschlichen Leben das Leben mit und unter Anderen „gehört", inwiefern es womöglich als konstitutiv „soziales" und kulturell ausgeprägtes zu verstehen ist. Genügt es, einem zunächst biologisch, kausal-dynamisch determinierten physischen Sein nachträglich das Attribut „sozial" anzuheften, insofern Andere hinzutreten? Existieren immer schon biologisch individuierte Wesen zunächst j e für sich, um dann in „soziale Verhältnisse" einzutreten, die das biologische Sein des Lebendigen zunächst aber nicht tangieren? Ober betrifft die Koexistenz der Wesen von Anfang an ihr gelebtes Sein? Lässt es sich womöglich überhaupt nur als das Sein von Koexistierenden denken, das die Gestalt von Lebensformen annimmt? Auf dem Weg in Richtung auf ein derart radikalisiertes Fragen konnte die Biologie nicht mehr folgen. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts trennen sich ihre Wege scheinbar endgültig von den Disziplinen, die einer konstitutiven Sozialität menschlicher Koexistenz auf der Spur sind. Abgesehen von wenigen Ausnahmen hat sie sich die Last dieser Problematik ersparen

dem Jahre 1828 in: Pädagogische Schriften, Bd. 1, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1983, S. 19, 28 f., 150. Wo das Wort ansatzweise terminologisch Verwendung findet, ist zunächst aber meist nicht eine Form „sozialer" Koexistenz gemeint, sondern eine kategoriale, dem Denken, einem Werk oder dem „Geist" zu verdankende Formqualität des Lebens, das zunächst als ungeformt und asozial vorgestellt wird. Mit Blick auf einen Widerstreit von Form und Leben, die des Widerstreits aber bedürfen, verwendet J. Cohn den Begriff der Lebensform auch in sozialer Hinsicht: Der Sinn der gegenwärtigen Kultur, Leipzig 1914, S. 130-144. - Auf G. Simmel wird in Kap. 10 zurückzukommen sein. Zu R. Eucken vgl. Mensch und Welt, Leipzig 2 1920, S. 2 1 2 ff.; zur Verwandtschaft von Lebensform und -Stil E. Rothacker, Geschichtsphilosophie, München, Berlin 1934, S. 40, 80, 120; zu E. Cassirer die Philosophie der symbolischen Formen, Bd. II [1924], Darmstadt 7 1964, S. 9 zum Mythos als einer Lebensform, die sich zur Unterscheidung von Subjektivem und Objektivem „indifferent" verhält, sowie M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik [1929], Gesamtausgabe Bd. 3, Frankfurt/M. 1991, S. 266. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch [1928], Berlin, N e w York 3 1975, S. V, 302-325,331,345. Vgl. v. Verf., „Einleitung", in: B. Liebsch (Hg.), Sozialphilosophie, 9-45.

Freiburg, München 1999, S.

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wollen. 2 8 Das rächt sich an der theoretischen Naivität der sogenannten Soziobiologie bis heute. Daraus, dass die Biologie - ungeachtet ihres heutigen, imperialen bio-technischen AnDie Gründe hierfür wären eine eigene, ausführliche Auseinandersetzung wert, zumal heute, wo nach nunmehr über zweihundert Jahren die moderne Biologie, die „Wissenschaft vom Leben", über ihren Gegenstand endgültig zu triumphieren scheint. Indem sie die genetischen Mechanismen der Reproduktion des Lebendigen, den Bio-Logos, aufdeckt, destruiert sie die „Naturwüchsigkeit" der biologischen Wesen, um sie ganz und gar einer Bio-Technik auszuliefern, die es gestattet, in die genetische Verfassung der Wesen einzugreifen, sie zu manipulieren und sie auf einen projektierten neuen Zweck hin auszurichten. Während die Archäologen auf allen Kontinenten noch immer nach den Spuren diverser Ursprünge hominider Lebensformen suchen, deren Originale ihnen nirgends begegnen - sie bleiben ein Geheimnis, das die Spuren nicht verraten liebäugelt die Bio-Technik längst mit dem Gedanken, in die im Archiv der DNS niedergelegten genetischen Originale hineinzupfuschen, um der Gattung womöglich zu einem neuen Leben, zu einem Über-Leben zu verhelfen. Nicht erst in dieser utopischen Perspektive beginnen die begrifflichen Konturen des Lebens zu verschwimmen. Schon die seit dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts unter dem Titel Biologie firmierende „Wissenschaft vom Leben" vermochte sich über diesen Begriff keine Klarheit mehr zu verschaffen. Unter ihren mechanistischen, dem aristotelisch-teleologischen Erbe programmatisch absagenden Prämissen, die sich bereits in der Embryologie des 17. und 18. Jahrhunderts, nachhaltig dann im Zeichen des darwinistischen Evolutionismus durchgesetzt haben, konnte sie weder an den Begriff des bios noch an den des zoon anknüpfen. (Vgl. H. Jonas, Organismus und Freiheit, Göttingen 1973, S. 64 ff., v. Verf., Spuren einer anderen Natur, München 1992, Kap. III, Teil A; R. Low, Philosophie des Lebendigen, Frankfurt/M. 1980; E.-M. Engels, Die Teleologie des Lebendigen, Berlin 1982; E. Mayr, Das ist Biologie. Die Wissenschaft des Lebens, Heidelberg, Berlin 1998, S. 45 ff., sowie Kap. 12 über „soziale Tiere" ...) Weder ein bios theoretikos (vgl. Aristoteles, Politik 1295 b, 25) noch die Existenz eines zoon politikon, eines politischen, auf ein Leben in Gemeinschaft teleologisch angelegten Lebewesens lässt sich als Gegenstand einer modernen Biologie vorstellen. Ungeachtet wiederholter Anleihen der romantischen und idealistischen Naturphilosophie beim Aristotelismus und ungeachtet der bis heute anhaltenden Renaissancen einer „Organischen Naturphilosophie" wird sich ein ganz anderer, nämlich ein deteleologisierter Begriff des Lebens durchsetzen, der zwar zweckmäßig organisierte, im übrigen aber nur „blind", kausal-dynamisch reproduzierte Wesen kennt, die sich weder praktisch noch theoretisch zu sich verhalten. Da die Biologie selber aber ein Projekt ist, das als ein theoretisches Sich-zu-sich-Verhalten derer verstanden werden kann, die es betreiben, lässt sich unter diesen Prämissen nicht mehr verstehen, wie es von lebendigen Wesen verfolgt werden kann, die unter dem Titel Mensch zugleich als ihr Objekt auftreten und ihr Subjekt zu sein scheinen. Das ist nicht erst Foucault aufgefallen, der in Les mots et les choses (1966) diese Aporie beschrieben hat. Von den Epigenetikern des 18. Jahrhunderts, Goethe, Hegel, Schelling, C. G. Carus und der romantischen Psychologie über Lotze, Wundt, Dilthey, Simmel und Bergson bis hin zu Plessner reicht die Reihe derer, die sich in unterschiedlicher Weise um die Rückgewinnung eines Lebensbegriffs bemüht haben, der sowohl der körperlichen Verfasstheit aller lebendigen Wesen als auch der leiblich situierten menschlichen Subjektivität, die theoretische Projekte zu entwerfen vermag, gerecht zu werden verspräche. Was noch heute als „Leib-Seele-Problem" bezeichnet wird, stellt nur einen kleinen Ausschnitt aus der diffusen Erbmasse dieser Diskussionslage dar, in der es auch darum ging, die spezifischen biographischen, sozialen und kulturellen Ausprägungen menschlicher Lebensformen in ontogenetischer und kulturgeschichtlicher Hinsicht zu beschreiben und zu verstehen. Dass dazu die Geschichte der Ethnologie wesentliche Beiträge geliefert hat, ist bekannt. Weniger bekannt ist,

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spruchs - keinen Begriff eines Lebens bereitstellt, das in menschlichen, sozialen Formen zu Gesicht kommt, mag sich erklären, dass man sich andernorts bedient, um verständlich zu machen, ob und inwieweit Lebensformen Manifestationen eines konstitutiv sozial verfassten Lebens mit und unter Anderen sind. 29 Philosophen greifen mit Vorliebe wieder auf Aristoteles zurück, dem es gelungen zu sein scheint, einen Begriff menschlichen Lebens mit dem Sinn sozialen bzw. politischen Zusammenlebens zu verbinden. 30 Neoaristotelische oder sog. kommunitaristische Reprisen antiker Ethik ignorieren freilich vielfach allzu leichtfertig die Herausforderung, die in der Geschichte sozialphilosophischen Denkens selber liegt: Auch sie hat sich, in demselben epistemologischen Rahmen, der zur Ausbildung der modernen Physiologie und Biologie gefuhrt hat, mit einer nachhaltigen Destruktion teleologischen Denkens auseinandersetzen müssen. Weit entfernt, eine in der menschlichen Natur vorgezeichnete Bestimmung zu sozialem Zusammenleben im Sinne gemeinsamer Orientierung am Guten einfach voraussetzen zu können, beginnt die Geschichte der modernen Sozialphilosophie gerade mit einer weitgehenden Verunsicherung aller entsprechenden Voraussetzungen. Unter oder neben Anderen leben, das heißt wie nahe sich ein von der modernen Biologie und Physiologie her begründeter Begriff des Lebens und Ansätze zu kulturgeschichtlichen Rekonstruktionen menschlicher Lebensformen einmal standen. Wundt ist das beste Beispiel dafür. Die aufgeworfenen Fragen bleiben im übrigen fur die Biologie als Wissenschaft systematisch von Bedeutung. Sie betreffen zentral die Sinngenese des biologischen Diskurses im Verhältnis zur Lebenswelt derer, die leibhaftig in Lebensformen koexistieren und „relational leben". Wenn die Biologie als Wissenschaft mit einem Begriff des Lebens operiert, der von einer solchen Relat i o n a l s t nichts mehr erkennen lässt, muss die Biologie spätestens dann in Rechtfertigungsnöte geraten, wenn sie die Erkenntnisse, die sie bspw. über die genetische Reproduktion des Lebendigen gewonnen hat, in die Lebenswelt zurückwirken lässt, von der sie sich epistemologisch zunächst abgehoben hat. Infolge dieser Rückwirkung konfligieren Lebensbegriffe, die wie im Fall der Elternschaft oder der Nachkommenschaft, des Kindschaftsverhältnisses, nur als relationale zu verstehen sind, mit einem biologischen Lebensbegriff, der ganz und gar auf die Reproduktion und Evolution von Organismen zugeschnitten ist. Können wir uns aber zu Nachkommen als bloßen Organismen ins Verhältnis setzen? Diese Frage berührt das Recht, mit dem die Biologie sich als Wissenschaft vom „naiven", relationalen Verständnis der Generationenverhältnisse absetzt. Dass in diesem Zusammenhang „theoretische" und „praktische" Ideale guten oder gelingenden Lebens noch heute im Streit miteinander liegen, ist bekannt. Vgl. H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 4 1985, S. 281 ff., sowie P. Hadot, Philosophie als Lebensform, Berlin 1991. Nur nebenbei sei vermerkt, dass Hadot nicht unwesentlich Foucaults späte Schriften zur Philosophie der „Techniken des Selbst" inspiriert hat. Foucault hat seinerseits diese Ansätze nicht mit seinen früheren Analysen zum Schicksal des Lebensbegriffs in der Moderne verknüpfen können, was meine Einschätzung nur bestätigt, dass die rezenten Rückgriffe auf die antiken Lebensbegriffe nicht mit der modernen Biologie auf einen Nenner zu bringen sind. Dass ungeachtet dessen eine Verbindung zwischen moderner „Bio-Technik", einer Gesellschaft, die das Leben technisch vergegenständlicht, und einer anhaltenden Popularität fragwürdigerweise wiederum als „Technologie" angepriesener Selbst-Kultur besteht, widerspricht dem nicht. In diesem Sinne müsste man aber Foucaults Ordnung der Dinge (1966, dt. Frankfurt/M. 1971) seine Vorlesungen In Verteidigung der Gesellschaft aus den Jahren 1975/6 (Frankfurt/M. 1999) und seine Beiträge zu Technologien des Selbst (Frankfurt/M. 1993) zusammen lesen.

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für Hobbes, dessen Philosophie nach wie vor wie keine andere für diese Verunsicherung steht, zunächst nichts anderes, als in der völligen Ungewissheit zu leben, was man vom Anderen zu erwarten hat: das aber bedeutet, im äußersten Fall das Schlimmste befürchten zu müssen. Da der äußerste Fall aber im Prinzip immer eintreten kann, ist das Schlimmste als Möglichkeit und Drohung ständig präsent und allgegenwärtig. Das soziale Sein der Menschen ist nicht von einem rätselhaften Vorverständigtsein über das für alle Gute, Rechte oder Gerechte, von einem an sich unstrittigen Ideal des Zusammenlebens und seiner praktischen Einrichtung, sondern von der Furcht bestimmt, die den „Naturzustand", das Verhältnis, in das die Menschen von Natur aus zueinander gesetzt sind, letztlich nur als einen andauernden, aber meist latenten Kriegszustand verständlich werden lässt. Dieses sozialontologische Denken hat im 18. und 19. Jahrhundert (mit Folgen bis in unsere Tage) auch die Deutung der zwischenstaatlichen Verhältnisse bestimmt. Und hat man nicht in den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von der angeblich „friedlichen Koexistenz" zwischen Ost und West gesprochen, die im wesentlichen ein „Kalter Krieg" war? Zeigt die Tatsache, dass beide Ausdrücke beinahe zu Synonymen haben werden können, nicht eine sehr weitgehende Ungewissheit darüber an, wie es um den Sinn menschlichen Zusammenlebens bestellt ist? Dennoch - oder vielmehr gerade deshalb - halten nicht wenige ungeachtet der Hobbesianischen Destruktion des teleologischen Erbes am vorbildlichen Charakter gerade des antiken politischen Denkens fest, um weiterhin menschliche Koexistenz als von Natur aus auf den Sinn eines guten Zusammenlebens ausgerichtet zu begreifen oder um an diesem Denken systematische Probleme wie die Rechenschaftspflicht legitimierter Macht, Fragen der Gleichbehandlung und der Begrenzung der Freiheit deutlich zu machen, denen sich auch moderne Lebensformen noch stellen müssen. 31 So geht Jean-Pierre Vernant in seiner Untersuchung der Entstehung des griechischen Denkens der Herausbildung einer öffentlichen Lebensform nach, die ihm Produkt eines städtischen Zusammenlebens zu sein scheint: sie nimmt im öffentlichen, rhetorisch strukturierten Raum eine politische Form an, die unter den Mitgliedern der polis Gleichheit stiftet. Was das damalige Denken dieser Form angeht, so scheint es nicht mehr vom Verhältnis der Menschen zu den Dingen, sondern von den Verhältnissen der Menschen untereinander auszugehen, insbesondere von der Art und Weise, in der sie rhetorisch aufeinander Einfluss zu nehmen versuchen. Der Gegenstand dieses Denkens scheint weniger das Reich der physis zu sein als vielmehr „die Welt der Menschen: aus welchen Elementen sie sich zusammensetzt, welche widerstreitenden Kräfte ihre Einheit gefährden und wie diese in ein harmonisches Verhältnis gebracht und vereinigt werden können, auf dass aus ihrem Streit die menschliche Ordnung der Stadt geboren werde". 32 Einheit und

Vgl. vor allem Chr. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M. 1983, der als Althistoriker gleichwohl das angedeutete systematische Interesse am Sinn des Politischen besonders herausstellt. Eine „natürliche" Vorzeichnung dieses Sinns, wie sie im aristotelischen Verständnis zum Sein der „politischen Lebewesen" gehört, kommt dabei - anders als bei Sternberger oder Arendt etwa - freilich nicht in Betracht. S. a. D. Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, Frankfurt/M. 1984, S. 95 ff.; H. Arendt, Vita activa, S. 37 f. Vgl. J.-P. Vernant, Die Entstehung des griechischen Denkens, Frankfurt/M. 1982, S. 36, 134 f.

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Ordnung gibt es aber nicht jenseits von Streit und Widerstreit, sondern erweisen sich von beidem affiziert: die „politische", öffentliche Lebensform existiert nur in den Auseinandersetzungen, die verbinden, indem sie trennen - was einer „Ideologie" gemeinschaftlicher Existenz widerspricht, die Widerstreit ( d i a p h o r ä ) , Gewalt, Feindschaft und (Bürger-) Krieg lieber verbietet oder totschweigt, als diesen Phänomenen einen für das Zusammenleben konstitutiven „Sinn" zuzugestehen. 3 3 Gerade in der Weise, wie dieses Denken der inneren Strittigkeit und polemogenen Verfasstheit 34 gemeinschaftlicher Koexistenz Rechnung zu tragen versucht, könnte man es wenn nicht für vorbildlich, so doch für unvermindert aktuell halten. Aber mit dem Zerfall der realen Lebensgrundlagen der öffentlichen Lebensform, wie sie Vernant und andere beschrieben haben, musste zunächst auch deren Überzeugungskraft und „vorbildliche" Wirkung versiegen. 3 5 Nach dem Zusammenbruch der antiken Staatlichkeit verschwinden die Relikte jener Lebensform von der historischen Bildfläche und fristen nur mehr in der philosophischen Überlieferung ein Schattendasein. Und selbst die überlebt fur Jahrhunderte nur im arabi-

Vgl. N. Loraux, „Das Band der Teilung", in: J. Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/M. 1994, S. 31-64., sowie J. Ranciere, La Mesentente. Politique et philosophie, Paris 1995, der in diesem Zusammenhang von einem als Widerstreit reformulierbaren „Dissens" spricht, den er bereits auf perzeptiver Ebene als ein Moment angesiedelt sieht, das für ein „strittiges" Politisches konstitutiv zu sein scheint. Radikalisierte Formen der Gewalt beginnen fur Ranciere gerade infolge einer versuchten Eliminierung des Dissenses. - In sozialphilosophischer und -theoretischer Hinsicht kommt es entscheidend darauf an, wie der Zusammenhang von Widerstreit und Zusammenleben gedacht wird. Vielfach wird der Begriff des Widerstreits allzu schnell an den des Krieges herangerückt, so als ob Widerstreit vernichtende Gewalt heraufbeschwören müsste. Auch bei Derrida, der ähnlich wie M. Blanchot, Ph. LacoueLabarthe und J.-L. Nancy dem Denken des Gemeinschaftlichen die Aufgabe stellt, der „anonymen Singularität" Anderer (als niemals ganz Zugehöriger) Rechnung zu tragen, rückt die diaphorä als Differenz / und Widerstreit im Sinne der Nichtübereinstimmung eng an den Bürgerkrieg (stasis) und den Krieg (pölemos) heran, die stellenweise wie die zwei Erscheinungsweisen des Widerstreits behandelt werden. Aber Widerstreit „bedeutet" von sich aus weder Gewalt noch Krieg. Sozialphilosophisch interessieren gerade die Spielräume des Verhaltens, die er lässt. Vgl. J. Derrida, Politiques de l'amitie, Paris 1994, bes. S. 111 f., 349 f., sowie zur an-ökonomischen, d.h. in keiner genealogischen, familialen oder natürlichen „Zugehörigkeit" aufgehenden ethischen Dimension des Gemeinschaftlichen ebd., S. 129, 178. - Auf die Debatten zwischen den o.g. Autoren wird im folgenden nur sporadisch Bezug genommen, da sie sich allzu sehr auf eine alteritätsphilosophische Kritik des Politischen, nur selten aber auf kontingente soziale oder politische Ordnungen, Lebensformen oder konkrete Gemeinschaften bezogen haben. Mit allzu sicherem Zugriff wird „das Politische" sowie „das Gemeinschaftliche" dekonstruiert, wobei Unterschiede zwischen Gemeinschaften (und ihr polemogenes Sich-von-einander-Unterscheiden) in einem indifferenten Begriff des Politischen unterzugehen drohen; vgl. den Bericht von S. Critchley, „Re-Tracing the political: politics and community in the work of Phillipe Lacoue-Labarthe and Jean-Luc Nancy", in: D. Campbell, M. Dillon (eds.), The Political Subject of Violence, Manchester, New York 1993, S. 73-93. J. Patoöka, Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1988, S. 66, 164. Vgl. Κ. Löwith, „Welt und Menschenwelt" [1960], in: Sämtliche Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1981, S. 295-328.

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sehen Exil. Während sich die späteren Philosophen in das antike „Erbe" vielfach affirmativ einschreiben, um es sich den Anschein nach bruchlos anzueignen, sehen sich die Historiker angesichts der zwischenzeitlichen Geschichte dazu gezwungen, eine neutralere, deskriptive Haltung einzunehmen, die nicht von vornherein vom normativen Vorbild einer Lebensform ausgeht. Ein Blick in die kulturgeschichtliche Literatur, die sich mit den historischen Ausprägungen von Lebensformen und mit deren Wandlungen befasst, bestätigt diesen Befund. An die Stelle des Kults, des Rechts und der Institutionen der antiken Staatlichkeit, wie sie Fustel de Coulanges (1864) beschrieben hat, 36 treten in Mitteleuropa nach deren Zusammenbruch zunächst vor allem sub-staatliche Lebensformen. Unter dem Titel Lebensformen im Mittelalter beschreibt Arno Borst unter Berufung auf Ciceros De officiis denn auch Verhältnisse der Lebensfristung und -erhaltung, der gemeinschaftlichen Für- und Vorsorge, die auf die Familie, das Haus und die Stadt zentriert sind - obgleich der Horizont der societas humana, in dem sein Gewährsmann die lokalen Lebensformen situiert hatte, Vaterland und Menschheit hatte einschließen sollen. Im Mittelalter scheint dieser Horizont ebenso verblasst wie das Vorbildliche einer - sei es individuell-theoretischen, sei es gemeinschaftlich-praktischen - Lebensform vergessen, die Cicero im Rückblick auf Piaton noch vor Augen hatte. Der Historiker des Mittelalters sieht sich bereits mit einer „Vielförmigkeit" der Lebensformen konfrontiert, die es ihm erklärtermaßen unmöglich macht, mit Piaton, Cicero oder auch Augustinus davon auszugehen, dass es „Konstanten" oder eidetische Kerne eines einheitlichen Phänomens „Lebensform" gibt. Lebensformen sind nach Borst nichts als „historische Erscheinungen", die allerdings sämtlich Gemeinsamkeiten aufweisen. (Mit Wittgenstein sollte man vielleicht besser von „Familienähnlichkeiten" sprechen.) Alle Lebensformen, die der Historiker vor Augen fuhrt, haben mit der Befriedigung elementarer Bedürfnisse, sowie mit Konventionen und sozialen Regelungen des Zusammenlebens zu tun. Im Kern soll es sich um habituelle, „eingeübte soziale Verhaltensweisen" handeln. Auf einen normativen Begriff wird ausdrücklich verzichtet. Keine Rede ist mehr von einem teleologischen Bestimmtsein der Menschen des Mittelalters zum Zusammenleben in einer bestimmten Art der Gemeinschaft oder Lebensform. 37 Vorstellungen einer richtigen oder gelungenen forma vivendi oder eines vivendi ordo erscheinen bestenfalls noch als Gegenstände der historischen Vergegenwärtigung, die den hier einfließenden Gedanken einer Formbarkeit und Geformtheit menschlichen Lebens und Zusammenlebens zwar zur Kenntnis nimmt, nicht aber wertet. Borst geht es allein um die historische Wirklichkeit und Wirksamkeit gewisser Lebensformen - allerdings im Hinblick auf das ständig riskante Geschehen, das zu vergegenwärtigen auch heute noch lehrreich sein könne, denn „vielleicht ist die Aufgabe", welche die mittelalterlichen Menschen „schlecht und recht bewältigten, noch die unsere". 38

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38

Vgl. N. D. Fustel de Coulanges, Der antike Staat, München 1988. Wie problematisch im übrigen die vielfach suggerierte Nähe von „Gemeinschaft" und „Lebensform" ist, wird noch deutlich werden. Vgl. A. Borst, Lebensformen

im Mittelalter,

Frankfurt/M., Berlin 1973, S. 9-26.

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Dieses bescheidene „vielleicht" des Historikers signalisiert in Wahrheit einen nachdrücklichen Bruch mit jeglicher teleologischen Gewissheit, die es vermeintlich gestattet, selbst fremdeste Lebensformen über den geschichtlichen Abstand hinweg zu beurteilen, der uns von ihnen trennt. Immerhin widersetzt es sich der Eröffnung einer Urteilsperspektive nicht von vornherein; aber muss diese nicht sorgsam erarbeitet werden im lateralen Durchqueren der Verbindungen zwischen den „Aufgaben" unseres Lebens und denen, die uns nun als geschichtlich Fremde begegnen? Ebenso berechtigt wie die Skepsis des Historikers gegenüber einer unkontrolliert anachronistischen Begrifflichkeit, die verschiedenste Lebensformen unter das Joch eines Konzepts zwingen würde, erscheint die Reserviertheit, mit der er einer normativen Interpretation von Typen verschiedener Lebensformen begegnet. Sprangers und Flitners 39 entsprechende Vorschläge erfahren denn auch die Kritik, die sie verdienen. Sprangers individuelle Lebensformen „passen nicht ins Mittelalter", denn weder der Bauer noch der Ritter sind im modernen Verständnis „individuelle Persönlichkeiten". 40 Die Sortierung bäuerlicher, handwerklicher, (raub-)ritterlicher, monastischer, höfischer u.a. Lebensformen mag zum Zweck einer gewissen Übersichtlichkeit hilfreich sein.41 „Aber wie, wenn die Typen nicht an Nonnen orientiert sind? Hat denn der vagabundierende Außenseiter keine Lebensform?" 42 Diese Frage lässt sich um so weniger von der Hand weisen, als im Mittelalter soziale Normen offenbar „nur in einem kleinen Führungskreis [verkörpert waren], dem eine ungegliederte Menge gegenübersteht: Pöbel der kleinen Leute, Untertanenvolk, Haufe des Fuß39

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W. Flitner, der sich zunächst an E. Sprangers kulturpsychologisches, aber auf die „Sittlichkeit" als „Form des Lebens" gemünztes Konzept geistiger (individueller) Lebensformen anlehnt (Lebensformen:, Halle 6 1927, S. 279), bekennt sich im Gegensatz zu Borst zu einer normativen Beurteilung dessen, was er im Blick auf Lebensformen (ähnlich wie schon Wundt) zur „Gesittungsgeschichte" zählt, die erst nach und nach den normativen Kern von Lebensformen, dem sie gerecht werden müssen, herausgeschält habe: Maßstäbe „menschenwürdigen Daseins" nämlich; vgl. W. Flitner, Die Geschichte der abendländischen Lebensformen [1967], Paderborn 1990, S. 15, 18, 27 (zuerst erschienen unter dem Titel Europäische Gesittung, Zürich 1961). So wichtig diese - zuletzt von A. Margalit (sozialphilosophisch) wieder aufgeworfene - Fragestellung ist, so sehr muss man sich hüten, sie gleichsam im Handstreich einer Lösung zufuhren zu wollen. Gewiss ist es nicht falsch, Lebensformen auch daran zu messen, ob sie diejenigen, die ihnen zugehören, oder Fremde nicht demütigen; aber das setzt voraus, dass man weiß, wofür der Begriff der Lebensform überhaupt steht. Auf die Frage einer möglichen Kritik von Lebensformen wird in Kap. 8 zurückzukommen sein. Vgl. N. Zemon Davis, „Bindung und Freiheit. Die Grenzen des Selbst im Frankreich des sechzehnten Jahrhunderts", in: Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit, Berlin 1986, S. 7-18; A. Heller, Der Mensch der Renaissance, Köln 1982, S. 220 ff.; E. Auerbach, Mimesis, Bern 2 1959, Kap. XII. Was sie eigentlich ausmacht (im Unterschied zu bäuerlichen, tagtäglichen oder jahreszeitlichen Ordnungen der Arbeit bspw.), ist dagegen die wirklich interessante Frage; vgl. A. Gurjewitsch, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, zur Tages-Zeit, die topografisch gebunden scheint, S. 108 ff. Vgl. A. Borst, Lebensformen im Mittelalter, S. 345. Dieselbe Frage ließe sich für die Intellektuellen stellen; vgl. J. LeGoff, Die Intellektuellen im Mittelalter, Stuttgart 2 1987.

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volks, volkssprachliche Laien, Menge des Gottesvolkes".43 Inzwischen gibt es eine legitime Geschichte der Marginalen, der Außenseiter, der anonymen Masse, also derer, die zu jeder Zeit in der Mehrheit waren, aber nur als Staffage und statistisch in Rechnung gestellt worden sind.44 Wenn im Mittelalter eine gewisse „Tyrannei"45 in Konventionen erstarrter Lebensformen geherrscht hat, der nicht wenige sich nur durch das innere Exil oder durch die Flucht in die Unzugehörigkeit des Fremden zu entziehen vermochten, so darf jedenfalls heute kein Begriff der Lebensform mehr nebenbei unterstellen, nur gemäß einer „normalen" Zugehörigkeit zu einer bloß typischen Lebensform könne von Menschen als miteinander „koexistierenden" die Rede sein. Wenn am Ende nicht auszuschließen ist, dass auch der Nichtsesshafte seine habits of life (Burke), seine Lebensform hat, dann haben wir damit den Punkt der größten Entfernung von einem normativen, auf das Zusammenleben einer lokalen sittlichen oder politischen Gemeinschaft bezogenen Begriff erreicht. Diese Entwicklung hat auch vor der Familie nicht halt gemacht, die lange Zeit als paradigmatisches Vorbild einer gemeinschaftlichen Lebensform herhalten musste. Die Familie mag in der Antike als bloß der Sicherung des Lebensnotwendigen, der Arbeit und Vorsorge für sich selbst und die eigenen Angehörigen dienende Lebensform nur eine private und despotische Art der Haushaltung gewesen sein, wie Hannah Arendt meint, die der Familie daher den Rang eines genuin politischen Phänomens nicht glaubte zugestehen zu dürfen.46 Doch gerade aufgrund ihrer elementareren Aufgaben hat die Familie und ihre „Moral" - in allerdings ganz verschiedenen Formen - überleben können, während die politischen Ordnungen, deren Teil sie jeweils war, immer wieder untergingen. Noch als die modernen bürgerlichen und staatlichen Ordnungen sich formierten und jeweils in (nationale) Ökonomie, Staat und Gesellschaft auseinander traten,47 glaubte man sich auf nichts so sehr verlassen zu können wie auf die „moralische" Stabilität der Familie, deren autonome Öko-Nomie, wie sie das „Ganze Haus" dargestellt hatte, freilich schon weitgehend zusammengebrochen war.48 Vom 43 44

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A. Borst, Lebensformen im Mittelalter, S. 335. Vgl. J. LeGoff, R. Chartier, J. Revel (Hg.), Die Rückeroberung des historischen Denkens, Frankfurt/M. 1990. A. Borst, Lebensformen im Mittelalter, S. 663. Wenn Arendt daher von einer „öffentlichen Lebensform" spricht, so meint sie gerade nicht eine politische Form der Koexistenz, die (wie vermeintlich die der Familie) bloß der Erhaltung des Lebens dient. Vielmehr soll diese Lebensform gerade vom bloßen Leben und Überleben weitestgehend entbunden sein, um die Dimension einer kulturellen Dauer zu eröffnen, die das Gemeinwesen geschichtlich überleben lässt. Vgl. Vita activa, Zweites Kapitel, sowie v. Verf., „Zwischen aristotelischer und radikaler' Ethik", in: H.-R. Sepp (Hg.), Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München (i.E.). Vgl. G. Bien, „Die aktuelle Bedeutung der ökonomischen Theorie des Aristoteles", in: B. Biervert, K. Held, J. Wieland (Hg.), Sozialphilosophische Grundlagen ökonomischen Handelns, Frankfurt/M. 1990, S. 33-64, zu den hier einfließenden geschichtlichen Wandlungen im Ökonomie-Begriff. Vgl. M. Horkheimer, „Allgemeiner Teil", in: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, Paris 1936, S. 3-76; I. Weber-Kellermann, Die deutsche Familie, Frankfurt/M. 7 1982. Zur Familie im historischen Kontext einer Separierung

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Haus-Verband einer societas domestica, die noch im 18. Jahrhundert der societas civilis gleichberechtigt zur Seite stand, schrumpft sie dem Anschein nach zur bloß „privaten" Lebensgemeinschaft, die ihre ökonomische Selbständigkeit und ihre Bedeutung als Ort gemeinschaftlicher Arbeit weitgehend einbüßt. Die Funktionen der Zivilisierung, der Moralisierung und der Enkulturation der Nachkommen werden ihr zwar vielfach nachdrücklich zugesprochen, doch geht mit der bedingungslosen Unterordnung der Familie unter den modernen Staat, unter nationale Ökonomien und bürgerliche Öffentlichkeiten ein umfassender Aufbau von Instanzen einher, welche die staatliche, ökonomische und bürgerliche Konformität ihrer inneren und äußeren Ordnung überwachen, sichern und wenn nötig korrigieren sollen. 49 Unter der Voraussetzung ihrer weitgehenden ökonomischen Entmachtung hat sie Rechtssubjekte, sogenannte „Personen", als ausgebildete Mitglieder des politischen Gemeinwesens aus sich zu entlassen und freizugeben, die in ihrer Isoliertheit (Hegel) die bürgerlichen Freiheiten genießen und in Konkurrenz zueinander treten, um für sich selbst und zum Nutzen wenn nicht aller, so doch der Macht des Gemeinwesens Besitz und Kapital zu akkumulieren. Zwischen den „Personen", die uneingeschränkt im Besitz ihrer selbst sind, stiftet vor allem das „Interesse" ein „bürgerliches", die Fesseln seiner „Naturwüchsigkeit" weitgehend abstreifendes Beziehungsgeflecht, das sich aber als „gemeinschaftliches" im antiken Sinne einer koinonia politike, societas oder communitas nicht mehr ansprechen lässt. 50 So kann die Familie im Zeichen des modernen Besitzindividualismus ungeachtet der faktischen Liquidierung ihrer ökonomischen Autarkie zum kompensatorischen Vorbild des Gemeinschaftlichen, zum Ideal und Klischee einer gelebten Einheit aufrücken, die sich praktisch im Zusammenleben der Verwandten zu realisieren scheint. Nach wie vor muss sie aus den gleichen Gründen sogar in makropolitischer Perspektive als Vorbild einer angeblich quasi-familialen Zugehörigkeit zu sozialen Systemen herhalten, die man gegen einen desintegrativen Individualismus und Liberalismus aufzubieten versucht. Dabei erfahrt die längst in Zweifel gezogene, aber immer wieder unterstellte innere Einheit dieser Zugehörigkeit nur selten die kritische Würdigung, die sie verdient. Hat man die Familie nicht als den ersten Hort des Hasses entlarvt, der sich, auf Unschuldige übertragen, seine Surrogate sucht, um sozialen Unfrieden zu stiften und sich in exzessiver Gewalt zu entladen? Nährt sich aus der Brüderlichkeit nicht eine mordende Phantasie, die einen gewissen Kosmopolitismus als eine bloße Naivität erscheinen lassen kann? Beginnt die „Kriegsgeschichte" des Einzelnen (Nietzsche) nicht im Zeichen einer tödlichen Drohung des Vaters, der im Anderen, als der

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und Privatisierung von Lebensformen, die einen zuvor angeblich „allumfassenden polymorphen sozialen Körper" hat „verfallen" lassen, nach wie vor instruktiv: Ph. Aries, Geschichte der Kindheit, München 1978, S. 559 ff.; E. Shorter, Die Geburt der modernen Familie, Hamburg 1977; B. Beuys, Familienleben in Deutschland, Frankfurt/M. 1984; M. Mitterauer, R. Sieder, Vom Patriarchat zur Partnerschaft, München 2 1980. Vgl. die von Foucault inspirierte Untersuchung von J. Donzelot, Die Ordnung der Familie, Frankfurt/M. 1980. Hier geht es um eine staatlich gelenkte bio-politische Lebens-Formierung, welche die „Normalisierungsgesellschaft" hervorbringt. Vgl. zum begriffsgeschichtlichen und historischen Hintergrund M. Riedel, Studien Rechtsphilosophie, Frankfurt/M. 1969, S. 104, 111 f., 118, 122 ff.

zu

Hegels

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ihm sein Sohn begegnet, nichts als das Überleben seiner selbst sehen möchte? Haben uns Nietzsche, Freud, Lacan, Ricceur und Levinas (um nur einige zu nennen) nicht anderes gelehrt, als in der Familie die affektive Einheit einer ungetrübten Zugehörigkeit zu sehen, die man sich politisch zum Vorbild einer „gemeinschaftlichen" Koexistenz nehmen könnte? Haben sie nicht immer mehr der Fremdheit zu ihrem Recht verholfen, in der gerade der uns Nahestehendste, der mehr noch als alle anderen von unserer Beziehung zu ihm vereinnahmt zu werden droht, seine untilgbare Anderheit wahrt? Selbst das „eigene" Kind, das aus der Anonymität seiner embryonalen Vorgeschichte heraus auftaucht, begegnet uns zunächst als fremd und streift diese ihm eigene Fremdheit niemals ganz ab. Gerade weil man sich zunehmend oft auf die Familie als paradigmatisches Vorbild einer gemeinschaftlichen Lebensform glaubt berufen zu sollen, um politische Analogien denkbar zu machen, wo das politische Leben seine „gemeinschaftlichen" Konturen weitgehend eingebüßt zu haben scheint, ist eine radikale Revision dessen angezeigt, was man sich unter dem Kindschaftsverhältnis, der Brüder- oder Schwesterlichkeit, unter Mutter- und Vaterschaft vorzustellen hat. Tatsächlich ist dieser Prozess längst im Gang, 51 doch hat er die Soziologie dieser Lebensform offenbar noch nicht erreicht. Angesichts einer ausufernden empirischen Vielfalt von familialen oder quasi-familialen Lebensformen zerfallen ihr ihre Typologien wie modernde Pilze. 52 Nicht einmal die Heterosexualität der Eltern, die Verwandtschaft der Kinder oder das Wohnen unter einem Dach lässt sich eindeutig als formales Moment festhalten. Was eine Familie als Lebensform - abgesehen von einer bloßen Konsum· und Lebensstilgemeinschaft - eventuell noch ausmacht, 53 können dem Soziologen jedenfalls nur die Betroffenen selber sagen. 54 Das bestärkt uns in dem ohnehin gehegten Verdacht, dass man von Lebensformen in dem Moment inflationär zu reden beginnt, wo jedes eindeutige Verständnis dessen, was „Leben" heißt und wodurch es als soziales seine „Form" gewinnt, nur noch historische Reminiszenz zu sein scheint. Viele Anstöße sind in diesem Zusammenhang von philosophischen Beiträgen zur Problematik der Gechlechterdifferenz ausgegangen. Aus der umfänglichen Literatur sei hier nur das von S. Stoller und H. Vetter herausgegebene Buch Phänomenologie der Geschlechterdifferenz genannt (Wien 1997). Das um so mehr, wie man realisiert, dass Typologien nur Äußerlichkeiten erfassen, wenn sie nicht auf den „Geist" abstellen, in dem eine Lebensform praktiziert wird oder geschieht. Womöglich ist von der Familie als Oberbegriff für verschiedene, typische Familienformen „nur noch der Name geblieben", wie Donzelot sagt; Die Ordnung der Familie, S. 227. - Angesichts der Fülle der aktuellen empirischen Literatur zum Wandel der Familienformen sei stellvertretend nur die Übersicht von H. Bertram genannt: „Soziologie der Familie", Soziologische Revue 22 (1999), S. 15-24. Vgl. U. Beck, A. Giddens, S. Lash, Reflexive Modernisierung, Frankfurt/M. 1996, S. 272. So lange ist es freilich noch nicht her, dass Soziologen mit normativ bewehrten Begriffen der diffus werdenden empirischen Realität zu Leibe zu rücken versuchten. Vgl., im Sinne kontrastreicher Stichproben, A. Heller, M. Vajda, „Familienform und Kommunismus", in: G. Lukäcs et al., Individuum und Praxis, Positionen der .Budapester Schule', Frankfurt/M. 1975, S. 110-127; C. Lasch, Geborgenheit, München 1981; B. Berger, P. L. Berger, In Verteidigung der bürgerlichen Familie, Frankfurt/M. 1984.

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Allerdings könnte es sein, dass nur konventionelle, relativ leicht in Typologien fassbare Formen seit längerem im Schwinden begriffen sind, während uns für die Vielzahl individualisierter Lebensformen, deren Gestaltung die zusammen Lebenden in ihre eigene Hand nehmen, ohne sich noch in ihrer Koexistenz staatlich mediatisieren zu lassen,55 nur die Namen fehlen. 56 Wenn es sich so verhält, bietet es sich um so mehr an, die Lebensformen von jenen „Aufgaben" oder Herausforderungen her zu verstehen, die auch Borst im Blick hatte. Diesen Herausforderungen können diejenigen, die nicht nur in einem formalen und indifferenten Sinne „zusammen" bzw. nebeneinander her leben möchten, vermutlich nicht aus dem Weg gehen. Wie auch immer sie auf diese Herausforderungen Antwort geben werden - sie können nicht nicht auf sie antworten. 57 Das hatte offenbar auch N. Elias im Sinn, als er in seiner Rekonstruktion des „Prozesses der Zivilisation" von einem „Geflecht von Angewiesenheiten" sprach, das die Menschen aufeinander bezieht und Anlass gibt zur Ausbildung sogenannter „Figurationen", in denen „höfliche", „zivilisierte", „rücksichtsvolle" Verhaltensweisen routinemäßig Gestalt annehmen. 58 Von diesen „Angewiesenheiten", die auch unter postmodernen Bedingungen noch weit mehr als nur eine gewisse wünschenswerte Umgänglichkeit erfordern dürften, 59 wissen wir lebenspraktisch; doch wo ist die Sozialpsychologie, Soziologie oder Sozialphilosophie, die ihnen gebührend Beachtung schenkte? 60 Wenn W. Kersting hervorhebt, die für eine „kommunitäre", demokratische Lebensform ausschlaggebende, kollektive Identität stiftende Grundlage müsse nicht ein übergreifender Konsens, sondern eine „Gemeinsamkeit [...] des Sichkümmerns um die Belange in einer bestimmten, in ihren Erfahrungs-, Verständigungs- und Bewertungsweisen durch geschichtliche und kulturelle Überlieferung geprägten Gesellschaft" sein, so wird auch hier nicht der „Bestand" jener „Aufgaben" eruiert, sondern nur an „vorpolitische", am Ende ethnische „Gemeinsamkeiten" appelliert, die zu den umstrittensten Themen der gegenwärtigen Diskussion um die Frage gehören, was Gesellschaften eigentlich noch zusammen hält oder „integriert", in denen sich eine disparate Vielzahl heterogener Lebensformen ausgebreitet hat.61

Damit dürfte auch die vermeintlich prästabilisierte Harmonie von Lebensformen als Teilen eines Ganzen zerbrechen, als das man den Staat verstanden hat. Vgl. Aristoteles, Politik, 1280b, 33-35, w o Familien und Geschlechter (genos) auf diese Art mit der Existenz der pol is kurzgeschlossen werden. 56

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U. Beck, W. Vossenkuhl, U. Erdmann Ziegler, Eigenes Leben, München 1995; P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Frankfurt/M. 1987, w o sich alles um die soziale „Distinktion" dreht. Es sei denn mit Rousseau in der Weise eines nachträglichen „que m'importe", „was geht mich das an?", das aber vergleichgültigt, was nicht von sich aus gleichgültig ist: vgl. D. Sternberger, Die Stadt als Urbild, Frankfurt/M. 1985, S. 32 f. Vgl. N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1 [1936], Frankfurt/M. 1976, S. LXVII. Wenn wir A. Heller folgen, schließen jene Herausforderungen die Frage nach einem gemeinsamen „sinnvollen Leben" ein: Das Alltagsleben, Frankfurt/M. 2 1981, S. 319. Die Beschwörung einer responsive community bzw. einer sozialen responsiveness beispielsweise, wie sie sich vielfach im Kontext der Kommunitarismus-Diskussion findet, ersetzt eine philosophische Rechtfertigung dieser Begriffe jedenfalls nicht; vgl. A. Etzioni, The Spirit of Community, N e w York 1993, S. 16 f., 255 f. Vgl. W. Kersting, „Verfassungspatriotismus, kommunitäre Demokratie und die politische Vereinigung der Deutschen", in: P. Braitling, W. Reese-Schäfer (Hg.), Universalismus, Nationalismus

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Gewiss, die Beschwörung von „Nationalität", kollektiver Gesinnung und „prosozialen" Tugenden hat ebenso Konjunktur wie ständig zu fragen „brauchen wir dies?", „brauchen wir das?", wenn uns eine scheinbar überall zu bemerkende fortschreitende Desintegration der Gesellschaft und eine globalisierte Ökonomie, der bislang weder weit-bürgerliche Institutionen noch eine politische Öffentlichkeit angemessen kontra zu geben vermochten, nicht endgültig auseinander dividieren sollen. Statt aber zu appellieren und nach technischen Rezepten zu suchen, die sich all zu oft an weitgehend unbedacht bleibenden und deshalb nur um so fragwürdigeren Vorgaben wie Integration und Gemeinschaftlichkeit orientieren, empfiehlt es sich, zuerst den wirklichen Herausforderungen nachzugehen, vor die sich Lebensformen heute in ihren verschiedensten Erscheinungen - aber auch die Philosophie, die ihnen zu entsprechen sucht - gestellt sehen. Das soll im folgenden geschehen. Meine Überlegungen beginnen mit einer Skizze gegenwärtiger Herausforderungen einer Philosophie der Lebensformen (Kap. 1), die nicht direkt auf eine Theorie abzielt, sondern in einem ersten Anlauf die Topografie der Probleme absteckt, die dieser Begriff impliziert, wenn er wie angedeutet engstens mit der Identität von „Zugehörigen" verknüpft gesehen wird (Kap. 2), die „ontologisch" koexistieren (Kap. 3) und in dieselben Sprachspiele verstrickt sind (Kap. 4). Der mit Lyotard zu erhärtende Verdacht, dass Lebensformen nicht nur „widersprüchlich", sondern im Widerstreit existieren (Kap. 5), wird Anlass zu der weitergehenden Frage sein, wie Widerstreit in der Koexistenz Anderer, deren Differenz und Fremdheit zu achten ist, zum Tragen kommt (Kap. 6) und welche Vorstellungen von Zugehörigkeit und Mitgliedschaft (Kap. 7) im politischen Gemeinwesen man sich infolge dessen machen muss. Ich frage auf dieser Grundlage weiter nach einer Moral, die dem Widerstreit gerecht zu werden verspricht (Kap. 8), angesichts der Gewaltsamkeit, die im Widerstreit der Lebensformen zwar heraufbeschworen wird, keineswegs aber unvermeidlich in Gewalttätigkeit umzuschlagen droht. Zur Sprache kommen sodann Horizonte der Gewalt vom Widerstreit, der sie herausfordert (Kap. 9), über die potentielle Exzessivität der Verfeindung (Kap. 10), die in vernichtenden Endlösungen ohne Ende kulminiert (Kap. 11), bis hin zum Gedanken des Gewalt- Verzichts (Kap. 12), der nur dann noch als glaubwürdig gelten kann, wenn er sich in diesen Horizonten situiert. - Wenn ich die Herausforderung einer künftigen Philosophie der Lebensformen so sehr von Widerstreit und Gewalt her akzentuiere, so nicht, um in den Chor derjenigen einzustimmen, die im Zeichen des Wiederauflebens nicht selten genozidaler ethnischer Konflikte auf theoretischer Ebene affirmieren, was sich praktisch als eine „existenzielle Unvereinbarkeit" verschiedener Lebensformen darstellt. Vielmehr sind die folgenden Überlegungen dem Konzept einer Kritik, Vermeidung und Verminderung der Gewalt sowie einem Leben im und mit Widerstreit verpflichtet, das nur dann Glaubwürdigkeit beanspruchen kann, wenn es sich dem Widerstreit und der Gewalt als Widerfahrnissen gestellt hat, die auch keine Versöhnungsphilosophie eskamotieren kann. Wenn selbst die Prinzipien möglicher Versöhnung einander widerstreiten,

und die neue Einheit der Deutschen.

hier: S. 166.

Philosophen

und die Politik, Frankfurt/M. 1991, S. 143-166,

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steht uns der Weg einer konfliktlösenden Vernunft, die nicht selber in die Gewaltsamkeit praktischer Auseinandersetzungen verwickelt wäre, in Wahrheit nicht offen. Das heißt aber nicht, dass nun ein quasi-evolutionärer Kampf nicht wahrheitsfahiger „Meinungen" und unzureichend legitimierter „Überzeugungen" anheben müsste, in dem nur noch die „stärkere" überleben würde. Das zu glauben könnte sich als fatale Kehrseite einer Philosophie erweisen, die dazu tendiert hat, Vernunft und Gewalt als einander ausschließende Gegensätze zu sehen.

Teil I Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

Kapitel 1 Herausforderungen einer künftigen Philosophie der Lebensformen

1.1 Lebensform: im Singular, im Plural Vor kurzem hat die Zahl der auf der Erde lebenden Menschen die sechste Milliarde überschritten. In Zukunft wird der Tod reichere Ernte halten als je zuvor. Angesichts einer vielerorts ungebremsten, apokalyptischen menschlichen Fruchtbarkeit kann aber gerade der Tod zur letzten Hoffnung werden. Paradoxerweise kann scheinbar nur er verhindern, dass die menschlichen Lebensformen sich auf der Erde zu Tode leben. Längst unterhöhlen sie die Grundlagen ihrer eigenen Reproduktion. Jeder Zutritt neuen Lebens erfolgt unter dem Vorzeichen des Zuviel. 1 Ohnehin sind „zuviele" da. Nicht alle freilich gelten als „überschüssig". Beweisen diejenigen, die ständig an Hunger leiden und ohne Obdach leben, den anderen nicht eben dadurch, dass sie „zuviel" sind? Unter denen, die bereits da sind, beweisen sich die einen durch ihren relativen Wohlstand, dass sie berechtigterweise da sind (obgleich doch das Existenzrecht den Wohlstand bzw. das Sorgetragen für ihn begründen sollte), während die anderen sich in ihrer Not zusätzlich mit dem Skrupel belastet sehen, in ihrer bloßen Existenz liege die Ursache ihrer Misere. Ihre Not „beweist": sie sind das Zuviel, für das man nicht sorgen kann. Oder man versucht es erst gar nicht und gibt sich statt dessen fatalistisch einem Lauf der Technik hin, die immerfort ihre eigenen fortgeschrittensten Produkte frisst, um als ständige Innovation ihr eigenes Über-Leben zu sichern. Als ein solches Über-Leben delegitimiert sie sich freilich selbst, wenn mit ihrer immer extremeren Entwicklung gleichzeitig zunehmend deutlich wird, dass man im globalen Maßstab der herrschenden ökologischen Anomie nicht einmal den einfachsten Hausaufgaben der Fürsorge und der Vorsorge gerecht zu werden vermag. Für die Technik ist die Not der Anderen offenbar keine Maßgabe. Ungeachtet dessen fuhrt sie diese Not in medialer Echtzeit immerfort vor Augen. So durchkreuzt sie die Vermutung, Hunger und Obdachlosigkeit seien nur lokale Ausnahmen von überwiegend doch passabel geregelten Ökonomien. Was man für die „Regel" hält, wird bei genauerer Betrachtung als Ausnahme im weltweiten Schicksal all derer erkennbar, die

Vgl. R. Klüver (Hg.), Zeitbombe 1993.

Mensch. Überbevölkerung

und Überlebenschance,

München

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Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

sich als diejenigen sehen müssen, die „zuviel" sind, weil niemand für ihre Lebensgrundlagen Sorge tragen kann oder will. Die Zerrüttung der Lebensgrundlagen betrifft nicht nur „humanspezifische" Existenzbedingungen, sondern darüber hinaus eine Vielzahl kulturell ausgeprägter Lebensformen, von denen ungezählte, von Vegetationen des Elends bereits überwucherte zum Untergang verurteilt sind. Die Statistik der menschlichen Mortalität schweigt darüber ebenso wie über das Schicksal, das die einzelnen erleiden. Wen kümmert's, wann und wo irgendein Straßenkind verendet? Wann und wo werden die Tausende seiner Schicksalsgenossen verenden, deren Spuren sich in der Namenlosigkeit der Vorstädte verlieren? In der Statistik der menschlichen Mortalität gilt ihr unbetrauerter Tod ebenso wie ihre nicht begrüßte Geburt, der keine eigentliche Aufnahme unter die Lebenden folgte, je mehr als ein indifferentes Faktum. Statistisch wird nur das Am-Leben-gewesen-sein verzeichnet. Die Frequenzen und Amplituden der Sterblichkeitswellen sagen aber bestenfalls indirekt etwas aus über die massive Deformierung und Zerrüttung der menschlichen Lebensformen, die sich unter dem Druck der Geburten- und Todesraten verzweifelt gegen ihren Untergang wehren. Unter dem Begriff der Lebensform stellen wir uns mehr vor als nur eine Existenzweise, welche die Wesen, die aufrecht gehen, von den Primaten unterscheidet, die den Schutz der Bäume nur gelegentlich verlassen. Wir meinen die „soziale", kulturell ausgeprägte Gestalt, die praktisches menschliches Zusammenleben unter oder mit Anderen (freilich nicht mit allen Anderen 2 ) unweigerlich annimmt, sobald es nur eine gewisse Zeit andauert und die Chance hat, sich zu konsolidieren. 3 Diese Gestalt gibt es nur im Plural. Keineswegs lassen sich die unterschiedlichsten menschlichen Lebensformen gleichsam im Handstreich auf den gemeinsamen Nenner einer Gestalt bringen, die sich weltweit überall wiedererkennen ließe. Im Gegenteil: so ziemlich alles variiert, angefangen bei den einfachsten Formen der Kontaktaufnahme, des Grußes über Initiationsriten, Regeln, Normen, Sitten, Gebräuche und Institutionen bis hin zu Formen, die den Ausschluss oder den - letzten - Abschied regeln. (Vorläufig ist wie gesagt nur eine Art Familienähnlichkeit dieser Formen zu vermuten. 4 ) Vielfach sind diese Formen

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4

Vgl. D. Sternberger, Die Politik und der Friede, Frankfurt/M. 1986, S. 48. Einen Grenzfall stellen diejenigen dar, die sich wie Eremiten auch räumlich oder wie (irrefuhrenderweise) als „Randexistenzen" Bezeichnete innerlich von allen Anderen absondern. Zweifellos hat man die Wahl, aus eigenem Entschluß „vereinzelt", getrennt von den Anderen zu leben. Doch selbst die endgültige Vereinzelung ist als solche nur vor dem Hintergrund einer der „Vergangenheit" überantworteten Bezogenheit auf Andere zu verstehen, die den Vereinzelten bis in seine stumme Zwiesprache mit sich selbst hinein verfolgt. Vgl. Kap. 1, oben. - Wie wenig mit einer allzu allgemein gehaltenen Liste angeblich „konstitutiver Bedingungen des Menschen" bzw. der „Grundstruktur der menschlichen Lebensform" gewonnen ist, zeigt der entsprechende Versuch von M. Nussbaum, in deren Analyse Begriffe wie „Sterblichkeit", „Fähigkeit zum Erleben von Freude und Schmerz", „Praktische Vernunft", „Verbundenheit mit anderen Menschen" usw. derart unbestimmt angesetzt werden, dass sie jedenfalls in interkultureller Perspektive völlig unbrauchbar zu werden scheinen. Vgl. M. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt/M. 1999, S. 49 ff., 122 ff., 178 ff.

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gerade aufgrund der Selbstverständlichkeit, mit der sie praktiziert werden, nur schwer als solche auszumachen. Gleichwohl treten sie im Fall ihrer Brüchigkeit und ihres Versehrtwerdens wie auf einer Negativfolie deutlich hervor. Was ist den Menschen und ihren Lebensformen widerfahren, wo ganze Landstriche entvölkert wurden oder zahllose Bewohner eines Landes wie Tschetschenien in wilder Flucht von irgendwo nach nirgendwo sich befinden? Nicht nur ihre Städte wurden verwüstet, ihr Wasser vergiftet, ihre Aussaat zerstört; nicht nur sehen sie sich mit armseligem Hab und Gut durchdringender Feuchtigkeit und Kälte ausgesetzt; nicht nur haben sie ihre Heimat verloren; sie werden auch keine neue mehr finden, d.h. ihre Geschichte droht in der Diaspora der Überlebenden früher oder später abzureißen. Zur Zufluchtslosigkeit ihrer Gegenwart kommt die Hoffnungslosigkeit ihrer kollektiven Zukunft und die sich anbahnende Geschichtslosigkeit ihrer Vergangenheit und damit der zweite Tod derer, die man als Opfer fremder Gewalt irgendwo zurücklassen musste. Was bedeutet es, in dieser Weise den „eigenen" Toten fremd zu werden? Wie sind Pietät, Kult und Trauer noch möglich, wenn der Tod keinen Ort mehr hat, an dem kollektives Gedenken sich zu versammeln vermöchte? Droht so nicht auch der geschichtliche Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu zerreißen?

1.2 Normalität und Versehrbarkeit Die aufgeworfenen Fragen betreffen keineswegs bloß extreme Ausnahmebedingungen, die dem ersten Anschein nach auf den Sinn „normaler" menschlicher Lebensformen kein Licht werfen können. Im Gegenteil kann die Beantwortung dieser Fragen vom Verständnis des Elends, der Brüchigkeit und Versehrbarkeit der zerstörten Lebensformen her möglicherweise dazu beitragen, den „Sinn" normalen menschlichen Zusammenlebens besser zu verstehen, über den sich ein Leben in weitgehend ungestörter Selbstverständlichkeit nur allzu leicht hinwegtäuscht. Nicht von einer mehr oder weniger fraglosen Normalität her, sondern von deren Unterbrechung oder Abbruch her lässt sich nach dieser Vermutung verstehen, was es mit dem Zusammenleben der Menschen und mit ihrer Verletzbarkeit aufgrund ihres Angewiesenseins auf menschliche Lebensformen auf sich hat. 5 Nicht über gemäßigtes Leben, das zwischen den Extremen die Mitte hält und sich vermeintlich keiner Exzessivität ausliefert, sondern über die rückhaltlos exponierte, ungeschützte, entsicherte Erfahrung fuhrt der heuristisch direkteste Weg zum Verständnis dessen, worum es auch „normalen", nicht in ihrer Existenz bedrohten Lebensformen angesichts ihrer grundsätzlichen Brüchigkeit und Versehrbarkeit - jetzt und in Zukunft 6 - geht. Das heißt nicht, dass menschliche Lebensformen

Vgl. in diesem Sinne T. Todorov, Angesichts des Äußersten, München 1993. Hier geht die aufgeworfene sozialphilosophische Fragestellung in eine geschichtsphilosophische über. Von den Erfahrungen des Versehrtwerdens menschlicher Lebensformen ist nicht einfach indifferent zu berichten; sie erweisen sich vielfach als „unannehmbar". Zugleich beinhalten sie aber

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nur von ihrer Auseinandersetzung mit ihrer Brüchigkeit und Versehrbarkeit her als solche verständlich werden können. Aber was soll man von einer Soziologie oder Sozialphilosophie etwa halten, die weder das eine noch das andere wirklich in Rechnung stellt? Hier ist es nicht mit anachronistischen Reprisen des Hobbesianischen Naturzustandes getan. Was in zertrümmerten Lebensformen wirklich zum Vorschein kommt, ist nicht etwa ein lange unterdrückter - oder latent im menschlichen Sein angelegter, als solcher nie zu beendender Krieg aller gegen alle. Erkennbar werden aber Umrisse menschlicher Verletzbarkeit, deren Botschaft wir nur bei Strafe einer abenteuerlichen Beschönigung dessen ignorieren können, was es für die Menschen bedeutet, auf dieser Erde zu „koexistieren". Der massivste Widerstand dagegen, diese Botschaft zu vernehmen, darin stimme ich Tzvetan Todorov zu, rührt in der Tat von den „Normalsterblichen" her, deren Normalität ständig eben die Gefahren „frisiert", die sie „außen vor" zu halten verspricht.7 Der Schlaf dieser Normalität bedeutet die Verharmlosung der Versehrbarkeit der menschlichen Lebensformen. Sie profitiert von einer solchen Beschönigung um den Preis ihrer Ignoranz angesichts der Erfahrungen derer, welche die menschlichen Lebensformen an ihren eigentlichen „Sinn" erinnern könnten. Die Erinnerung an diese Erfahrungen der Brüchigkeit und Versehrbarkeit der menschlichen Lebensformen müsste uns demgegenüber helfen, deren Gegenwart und ihr „Funktionieren" besser zu verstehen. Mobilisiert werden müsste in diesem Sinne die Erfahrung der totalitären Politik, der Deportation und „ethnischen Säuberung" ebenso wie die Erfahrung des genozidalen Verbrechens, der „Liquidierung" und der systematischen Internierung zum Zweck der Vernichtung, sei es durch Arbeit, sei es durch Gas. Mit Recht schreibt Todorov: „Die Erinnerung an die Lager muss [...] zu einem Instrument werden, das uns hilft, die Gegenwart besser zu beurteilen und zu analysieren; und zu diesem Zweck müssen wir in dem Zerrbild, das uns die Lager zurückwerfen, unser eigenes Bild erkennen, so entstellend ein solcher Spiegel auch sein mag. Alsdann wäre die schreckliche Erfahrung der Lager, wenigstens auf Gattungsebene, nicht völlig umsonst gewesen: sie würde uns Lehren erteilen, uns, die wir in einer völlig anderen Welt zu leben meinen."8 Aber nicht nur die Lager, die Todorov hier vor Augen hat, verdienen diese Art der Betrachtung. Tatsächlich stellen sie nur eine residuale Erscheinungsform zertrümmerten sozialen und kulturellen Lebens dar, dessen Schicksal längst vorher seinen zerstörerischen Lauf genommen hat. Wann und wo aber hatte dieser jeweils seinen Beginn? Wann und wo fangt das an, was man schließlich in Internierung und Liquidierung münden sieht? Der zunächst gebannte Blick auf diese Extreme sollte uns letztlich aufmerksamer machen fur die Keime dessen, was schließlich in Formen „rücksichtsloser" Gewalt zu Tage tritt. Sind die Ursprün-

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eine Aussage darüber, was aus „normalen" Lebensformen werden kann und wie wir uns ihre Zukunft zu denken haben. Vgl. T. Todorov, Angesichts des Äußersten, S. 279. Vgl. ebd., S. 281, sowie meine Rezension „Von der Wahrheit moralischer Normalität", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43, Nr.l (1995), S. 173-176, und H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 674 ff.

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ge dieser wie aller Gewalt nicht im „normalen" Leben verwurzelt? 9 Kommt im Gedanken einer „ethnischen Säuberung" beispielsweise nicht ein Zerwürfnis zum Ausdruck, welches das „normale" Zusammenleben der Menschen bereits unterhöhlt und mit Hass durchsetzt hat? Die „barbarische" Art, diesen Gedanken systematisch in die Tat umzusetzen, um mit einem solchen Zerwürfnis „endgültig Schluss zu machen", d.h. um die Existenz „der Anderen" von der ethnischen Bildfläche verschwinden zu lassen, mag Abscheu hervorrufen. Was aber haben wir von den Ursprüngen solcher Gedanken zu halten? Wo müssen wir sie vermuten? Und was wird da eigentlich gedacht?10 Wie kann aus dem äußeren Anschein nach „normalem" Zusammenleben die Idee einer Beseitigung oder Vernichtung Anderer, ja ganzer, als „unverträglich" wahrgenommener Lebensformen keimen? Wie kommt ein solcher Gedanke zum Tragen, bevor er in die Tat umgesetzt werden kann? Wie, wenn nicht in einoder vielfachem Mord, wirkt er sich aus? Die systematische Liquidierung ist doch nur eine extreme äußere Erscheinungsform einer Idee, die auch ein weit raffinierteres Vorgehen nahe legen kann. Die ausufernden „makrokriminellen" 11 Ereignisse, mit denen uns das 20., das „Jahrhundert der Genozide" (Picht) konfrontiert hat, haben nicht nur eine zeitgemäße, diesen Erfahrungen entsprechende Terminologie nach sich gezogen, die von der Erfahrung Zeugnis ablegt, dass man Verbrechen nicht nur gegen Einzelne verüben kann. Sie haben nachdrücklich auch die Frage nach ihrem eigentlichen „Sinn" auf den Plan gerufen. Der Genozid ist ein Verbrechen gegen eine Ethnie oder gegen ein Volk, gegen eine mehr oder weniger große Gruppe von Menschen jedenfalls, die sich als einander zugehörig empfinden. Gewiss: er wird stets auf dem Weg über Verbrechen an einzelnen exekutiert. Aber er richtet sich gegen einzelne als dieser Ethnie oder Gruppe Zugehörige. Deren abweichende Zugehörigkeit genügt, um eine tödliche Bedrohung heraufzubeschwören. Insofern ist der Genozid ein Verbrechen gegen eine Ethnie als Inbegriff dieser Zugehörigkeit. Sie ist es, auf die man abzielt und die man zu vernichten strebt. Aber zu diesem Zweck muss man nicht zum plumpen Mittel der physischen, blutigen Liquidierung greifen. Bereits die UNOKonvention von 1948 trägt dem Umstand Rechnung, dass man die Existenz, die soziale oder kulturelle Situierung und die Geschichte Anderer ebenso effektiv unterminieren kann, wenn man deren biologische Reproduktion zu verhindern weiß. 12 Die Besinnung auf die Vielzahl der Maßnahmen, die in irgendeiner direkten oder indirekten Weise die Lebensgrundlagen der Existenz, der Situierung und der Geschichte Anderer zu zerstören geeignet sind, hat inzwischen zu einer regelrechten Scholastik von theoretischen Definitionsversuchen gefuhrt,

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Vgl. C. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizei-Bataillon 10! und die ,Endlösung' in Polen, Hamburg 1996, sowie Z. Bauman, Modernity and the Holocaust, Ithaca, N e w York 1989. Genau hier ist der Anknüpfungspunkt der in Teil III („Horizonte der Gewalt") versammelten Studien angesiedelt. Sie dienen der Präzisierung jener Fragen, können Antworten im Hinblick darauf, wie Lebensformen angesichts der historischen Erfahrung, die wir zu vergegenwärtigen haben, eingerichtet sein sollten, aber bestenfalls vorbereiten. Das ist der Sinn der hier vorgelegten „Ouvertüre" (s. Vorwort). Vgl. H. Jäger, Makrokriminalität, Frankfurt/M. 2 1989. Vgl. A. Grosser, Verbrechen und Erinnerung,

München 1993.

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welche die Welt der Verbrechen mit einer Vielzahl von Neologismen bereichert hat - ecocide, cultural genocide, Ethnozid ...13 Zu den besonders raffiniert ausgedachten Maßnahmen gehört die systematische Vergewaltigung, die sich der physischen Liquidierung weitgehend enthält, um den künftigen Kindern als Erben ihrer verbrecherischen Väter jegliche bruchlose Identifikation mit der ethnischen Zugehörigkeit ihrer Mütter vorab zu rauben oder gar ihre serbische Nationalität etwa vorprogrammieren. Worauf es dieser Strategie offenbar ankommt, ist die Zerstörung der attackierten Zugehörigkeit als solcher. Gerade die Perfidie dieser Verbrechen, denen es um Vernichtung von Identität geht, fuhrt unmissverständlich diese Dimension der Verletzbarkeit ihrer Opfer vor Augen, die mit deren Zugehörigkeit zu den Lebensformen, in denen ihre Identität verwurzelt ist oder war, im Prinzip bereits gegeben ist.

1.3 Lebensform, Zugehörigkeit und Identität Wenn es sich um Verbrechen gegen Lebensformen handelt, so kann angesichts dieses hier nur vorläufig vermuteten, allerdings erklärungsbedürftigen Zusammenhangs von Lebensform, Zugehörigkeit und Identität offensichtlich nicht bloß eine „humanspezifische", biologisch vorgezeichnete Lebensweise gemeint sein. Das Verbrechen, das auf die Existenz einer Lebensform als solcher abzielt, richtet sich nicht in erster Linie gegen die biologische Existenz Anderer, durch die sich die Täter nicht von ihnen unterscheiden können, sondern gegen ein meist als ethnisch „fremd" kategorisiertes Sein, das Menschen nicht etwa aufgrund einer in ihrer „Biologie" vorgezeichneten „Sozialität" zukommt, das vielmehr in ihrem selektivexklusiven Zusammenleben mit Anderen verwurzelt zu sein scheint. Als wer wir uns dem gemäß ethnisch verstehen, ergibt sich aus einer Zugehörigkeit, die Andere einbezieht oder „einschließt", andere Andere aber ausschließt und gerade aus diesem Spannungsverhältnis von Ein- und Ausschluss Identität im Sinne des Unterschiedenseins oder des Sichunterscheidens gewinnt. „Ethnische" Konflikte nähmen zweifellos nicht eine derart dramatische und tödliche Form an, wie sie in unseren Tagen vielfach festzustellen ist, wenn diejenigen, die sich als ethnisch gegensätzlich erfahren, mit ihrer Zugehörigkeit und deren territorialer Gewährleistung nicht kategorisch ihr geschichtliches Schicksal verknüpfen würden. Unmittelbar umkämpft ist in diesem Zusammenhang weniger eine humanspezifische Lebensform bzw. deren elementare Lebensgrundlage, die freilich am Ende häufig ebenfalls ruiniert wird, so dass nicht einmal mehr das „nackte Überleben" gesichert ist; umkämpft ist vielmehr vor allem der Ort, den man für die „eigene", mit dem „fremden" Sein als unvereinbar erachtete ethnische Existenz reklamiert: Das ethnische Sein, die Zugehörigkeit der einen schließt dann das Sein der ande-

Vgl. W. Churchill, „Genocide: Toward a Functional Definition", in: Alternatives 403-430.

XI (1986), S.

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ren wenn nicht absolut, so doch auf demselben Territorium definitiv aus. Wenn Carl Schmitts Rede von einer „seinsmäßigen Negierung", die in der Existenz eines Feindes liegen soll,' 4 überhaupt einen Funken Wahrheit enthält, dann dort, wo die ethnische Zugehörigkeit eine derartige polemische Zuspitzung und „ontologische Grundierung" erfährt, dass - nach entsprechender propagandistischer Zurichtung - die Nicht-Zugehörigkeit anderer für sie zur Frage von Leben und Tod wird. Aber ist sie das je „an sich"? Liegt in der bloßen Tatsache der Nicht-Zugehörigkeit an sich, sobald andere denselben Ort beanspruchen, so dass ein indifferentes Nebeneinander-existieren unmöglich scheint, eine tödliche Bedrohung? Beschwört unsere bloße Nicht-Zugehörigkeit - und in diesem Sinne unsere Fremdheit - bereits die Gefahr unserer Vernichtung herauf? 15 Diese meist nicht ausgesprochene, untergründig aber virulente sozial-ontologische Prämisse scheint mir in der Tat den Diskurs der Ethnizität seit langem zu prägen, in dem noch immer das Gespenst des hobbesianischen Naturzustandes umgeht. Man spricht zwar nicht mehr vom „Kampf aller [einzelnen] gegen alle [einzelnen]"; nicht die „Individuen" des neuzeitlichen Atomismus sind es, die hier als auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen und ontologisch gegeneinander in Stellung gebracht begriffen werden. 16 Innerhalb der Ethnien mag die Zugehörigkeit immerhin für eine gewisse, allerdings ebenfalls brüchige Pazifizierung der Lebensverhältnisse sorgen. Aber zwischen ihnen, wo Fremdheit im Sinne der Nicht-Zugehörigkeit herrscht, so dass unklar wird, was man einander überhaupt „angeht" und ob man einander überhaupt irgend etwas „schuldet", ist da nicht ontologisch gewissermaßen „alles erlaubt", sobald die Existenz der einen mit der gleichzeitigen Existenz der anderen auf demselben Boden als „unvereinbar" gilt? In der Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts galten die Völker und die Nationen als die kollektiven Überlebenseinheiten, die auf der Bühne der Welt-Geschichte auf Gedeih und Verderb um ihre Existenz zu kämpfen haben. Angesichts ihres unbezweifelten und scheinbar unbedingten „Interesses" an ihrem eigenen Überleben rechtfertigte man den Krieg, der sich ohnehin als Surrogat einer nicht existenten inter-nationalen Rechtsprechung anzubieten

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Vgl. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 6 1996, S. 27, 33; D. Sternberger, Die Politik und der Friede, S. 84 ff. Dass eine darauf hinauslaufende dramatische Unterstellung in den entsprechenden soziologischen und ethnologischen Diskussionen in der Tat eine große Rolle spielt, ist an dem Bericht von V. Stolcke deutlich zu erkennen: „Talking Culture. New Boundaries, New Rhetorics of Exclusion in Europe", Current Anthropology 36, Nr. 1 (1995), S. 1-24. Hier werden verschiedene Versionen eines „kulturellen Fundamentalismus" diskutiert, die mit „organizistischen" oder „voluntaristischen" Konzeptionen „inkommensurabler" Zugehörigkeit verbunden sind. Von der Behauptung einer solchen, angeblich mit kultureller bzw. ethnischer Zugehörigkeit als solcher verbundenen Inkommensurabilität ist es nur ein Schritt zur Annahme einer „natürlichen" Xenophobie und zur Behauptung eines Rechts auf kulturelle Differenz, dessen Durchsetzung auf dem Wege der Verfeindung auf diese Weise ebenfalls als „natürlich" erscheinen kann (vgl. ebd., S. 4 ff., sowie G. Elwert, „Nationalismus und Ethnizität", Kölner Zeitschrift f . Soziologie und Sozialpsychologie 41 [1989], S. 440-464). Vgl. G. Freudenthal, Atom und Individuum im Zeitalter Newtons, Frankfurt/M. 1982.

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schien. Wenn zwischen den einander widerstreitenden Überlebensinteressen der Völker und Nationen kein unparteiliches kosmopolitisches Recht entscheiden und schlichten kann, was bleibt dann denen, die sich als tödlich bedroht erfahren, anderes, als den Kampf um Leben und Tod zu suchen? 17 Gibt ihnen eine solche Situation nicht jedes „Recht" dazu? Heute aber, wo ein weltbürgerliches Recht in den Spuren Kants eine echte sanktionsbewehrte Chance bekommt, gelten Krieg und Genozid als Verbrechen. Es kann keine Rede davon sein, dass mangels eines solchen Rechts noch im Anschluss an Hegel ein quasi hobbesianischer Naturzustand zwischen den Staaten und Völkern zu rechtfertigen wäre. 18 Gleichwohl triumphiert ein ethnisches Überlebensdenken, fur das es weder soziale „Atome" oder auf Andere an sich nicht bezogene, nur an ihrem eigenen Überleben interessierte „Einzelne" noch auch „den Menschen" gibt. Niemand, so besagt dieses Denken, kommt als sozial unbezügliche, ohne „Rücksicht" auf Andere bestimmte Überlebensmaschine zur Welt, wie es sich Hobbes vorstellte. Der Begriff des Menschen andererseits gilt als ethnisch leer. Nirgends trifft man unmittelbar auf ein solches Wesen. Manche gehen mit Joseph de Maistre noch einen Schritt weiter und erklären: „Es gibt gar keinen Menschen in der Welt. Ich habe in meinem Leben gesehen: Franzosen, Italiener, Russen usw. Ich weiß sogar, dank Montesquieu, dass man Perser sein kann. Aber was den Menschen anbelangt, so erkläre ich, dass ich ihm in meinem Leben nicht begegnet bin. Wenn er existiert, dann wohl ohne mein Wissen [ά mon insu]."19 Zieht man so gesehen von den „Menschen" ihre Zugehörigkeit gleichsam ab, bleibt nur ein leeres Abstraktum, mit dem sich keinerlei konkreter sozialer Sinn verbinden lässt. Der Begriff des Menschen besagt in ethnischer Perspektive nichts, solange er nicht im Sinne der Zugehörigkeit zum Leben Anderer - im Unterschied zu fremden Anderen - interpretiert wird. Das gilt auch dann, wenn man diesen Begriff biologisch „reduziert", es sei denn man gibt an, auf welche Weise bereits aus der natürlich-anfänglichen Existenz des Neugeborenen etwa irgend etwas „sozial" Bedeutsames folgt. Auf rein biologischer Grundlage lässt sich aber wiederum nicht angeben, was die Menschen einander als solche überhaupt „angehen". Reziprozität, nicht-eigennütziges Verhalten und Nepotismus als die viel diskutierten „natürlichen" Grundlagen, auf denen manche eine „realistische" Ethik errichten wollen, sind jedenfalls zunächst für biologisch Nahestehende reserviert. 20 Mit Mühe sucht man zu erklären, wie auf diesen Grundlagen aufbauend auch Andere ethisch „in Betracht kommen" können. Ob diese Erklärungsversuche 17

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Zum historischen Hintergrund vgl. M. Mori, „Krieg und Frieden in der klassischen deutschen Philosophie", in: H. Joas, H. Steiner (Hg.), Machtpolitischer Realismus und pazifistische Utopie, Frankfurt/M. 1989, S. 49-91. Vgl. M. Lutz-Bachmann, J. Bohman (Hg.), Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, Frankfurt/M. 1996; R. Merkel, R. Wittmann (Hg.), „Zum ewigen Frieden." Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, Frankfurt/M. 1996. J. de Maistre, CEuvres Completes, Lyon 1891, S. 174. Vgl. E. Holenstein, Kulturphilosophische Perspektiven, Frankfurt/M. 1998, Kap. 11. Vgl. E. Voland (Hg.), Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel, Frankfurt/M. 1992, sowie v. Verf., Vom Anderen her. Erinnern und Überleben, Freiburg/München 1997, Kap. III.

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zu überzeugen vermögen, steht indessen hier nicht zur Diskussion. Worum es mir geht, ist, die Prämisse herauszustellen, die ihnen generell zugrundezuliegen scheint; die Prämisse nämlich, dass Andere ethisch nur als Nahestehende in Betracht kommen, wovon andere Andere, Fremde, zunächst ausgeschlossen sind. In dieser Prämisse trifft sich eine soziobiologisch angereicherte Wissenschaft vom Leben mit Apologeten der Ethnizität. Was die „Menschen" einander ethisch angehen, hängt von ihrer Zugehörigkeit ab. Wo sie keinerlei Zugehörigkeit „verbindet", herrscht Fremdheit im Sinne der Indifferenz, die freilich dann durchbrochen wird, wenn sich die Existenz der einen mit der gleichzeitigen Existenz der anderen, der Nicht-Zugehörigen auf demselben Boden als „unvereinbar" erweist. Wenn der „Kreis der Ethik" (P. Singer) aber ethnisch, d.h. hier: binnenethisch beschränkt ist und wenn das, was uns Andere ethisch angehen, vom Horizont unserer Zugehörigkeit exklusiv vorgegeben wird, ist im Extremfall nach außen, gegen die nicht-zugehörigen Anderen, alles erlaubt.

1.4 Ethische Nicht-Indifferenz und Gewalt Ich möchte nicht behaupten, dass es - abgesehen vielleicht von gewissen Soziobiologen einflussreiche Positionen gibt, die ausdrücklich auf einen solchen Standpunkt hinauslaufen. Ich möchte auch nicht behaupten, dass eine solche binnenethische Beschränktheit tatsächlich gängige Praxis ist, wohl aber, dass im Diskurs der Ethnizität vielfach unkritisch Zuordnungen von Ethik und Zugehörigkeit vorgenommen werden, die nicht verständlich machen, wie uns „Fremde", d.h. hier: Nicht-Zugehörige ethisch etwas angehen können und wie sich gerade im Fall der Entfesselung ethnischer Gewalt gegen Unzugehörige - deren Zeugen wir sind - eine ethische Nicht-Indifferenz angesichts ihrer Fremdheit behaupten kann. Gewiss erhalten Dimensionen des Ethischen wie die Fürsorge, die vorsorgende Verantwortung, die distributive Gerechtigkeit, vor allem aber auch Dimensionen der Sittlichkeit oder des Ethos erst durch ihre Beschränkung auf Zugehörige, Angehörige oder Mitglieder sozialer Ordnungen ihr eigentümliches Profil. 21 Es geht hier nicht darum, die Existenz oder den Sinn einer solchen Beschränkung anzufechten, sondern um das ethische Niemandsland, das sich scheinbar jenen Positionen zufolge zwischen Zugehörigen einerseits und Nicht-Zugehörigen andererseits erstreckt. 22 Wenn aus jenen ethnisch motivierten Zuordnungen von Ethik und Zugehörigkeit theoretisch folgt, dass man sich im dramatisch zugespitzten Konflikt der Lebensformen zwischen Zugehörigen und Unzugehörigen in einem solchen Niemandsland bewegt, so sind sie mit einer „hobbesianischen Hypothek" belastet: Sie implizieren eine ethische Indifferenz zwar nicht zwischen allen einzelnen, wie es im Leviathan vorgesehen ist, wohl aber

Für eine Bestandsaufnahme gängiger Zuordnungen von Elementen der Sittlichkeit oder des Ethos zu Konzeptionen politischer Gemeinschaften vgl. R. Plant, „Community: Concept, Conception and Ideology", Politics and Society 8, Nr. 1 (1978), S. 79-107. Allerdings geht das Ethische niemals in seiner Zu-Ordnung zu sozialen Ordnungen auf.

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zwischen den ethnischen Überlebenseinheiten, mit deren Existenz und Geschichte sich die Menschen im extremen Konfliktfall offenbar nahezu bedingungslos identifizieren. Diese Indifferenz lässt alles als erlaubt erscheinen. In ihr widerspricht nichts einer nur dem eigenen ethnischen Überleben verpflichteten Gewalt, die u. U. rücksichtslos andere Lebensformen versehrt. Mit solchen Formen der Gewalt sind wir wirklich konfrontiert. Wenn sich aber auf der Basis der angedeuteten Zuordnung von Ethik und Ethnizität „letztlich", d.h. gerade fur den Fall des Ausbruchs solcher Konflikte merkwürdig wenig gegen diese Gewaltformen sagen lässt, insofern sie sich im theoretischen Niemandsland zwischen einander nicht zugehörigen Fremden abzuspielen scheinen, müssen wir diese Zuordnung dann nicht grundsätzlich in Zweifel ziehen? Bei dieser Frage setze ich voraus, dass wir diese Gewalt selber noch „ethisch" deuten können und müssen. So „rücksichtslos" gerade die ethnische Gewalt von der alltäglichen Diskriminierung über die Aufhetzung und Verleumdung ganzer Bevölkerungsgruppen bis hin zur Vertreibung und Ausrottung vorgeht, so schwer muss es auf der Grundlage einer Reduktion des Ethischen auf Bedingungen der Ethnizität23 bzw. der Zugehörigkeit fallen, anzugeben, wogegen die Gewalt gegen Nicht-Zugehörige eigentlich verstößt und inwiefern deren Fremdheit - ungeachtet dieser Gewalt - vielleicht doch ein ethisch unhintergehbares Faktum darstellt. Die Phänomene dieser Gewalt konfrontieren uns in Wahrheit mit einer dieser Reduktion genau entgegengesetzten Herausforderung: das Ethische angesichts des Fremden zu begründen. Der gegenwärtige Diskurs der Ethnizität ist, obgleich er sich vielfach an die Ethnologie als „Wissenschaft vom Fremden"24 anlehnt, weit entfernt von einem solchen Ansatz. Über weite Strecken kommt er über eine gewisse kryptoethisch-suggestive Apologie kultureller Differenz kaum hinaus - so als ob die viel gelobte „Pluralität" kultureller „Selbstverständnisse" und „Identitäten" beispielsweise schon ein Argument wäre. Es gibt sie, also ist zu verlangen, dass man sie respektiert und anerkennt, sagt man. Wie verfänglich eine solche Art der Argumentation ist, wenn etwa die Anerkennung nicht primär dem Einzelnen in seinem kulturellen Selbstverständnis, sondern einer kollektiven Entität gelten soll, der womöglich sogar politische Rechte auf Wahrung ihrer geschichtlichen und ethnischen Identität zustehen sollen, hat die Diskussion um die entsprechenden Thesen Charles Taylors gezeigt.25

Unter einer solchen Reduktion verstehe ich genau die (meist nur implizite) These, dass Bedingungen ethnischer Zugehörigkeit erfüllt sein müssen, damit von einer ethischen Beziehung zum Anderen die Rede sein kann. In radikaler Weise hat vor allem Levinas diesem Standpunkt widersprochen. Die „Verantwortung angesichts des Anderen", die er zu begründen versuchte, lässt sich seiner Auffassung nach von keinerlei ethnischer Vorbedingung „bevormunden". An anderer Stelle habe ich zu zeigen versucht, daß dieser Alternativvorschlag freilich nicht die faktischen „ethnischen Demarkationslinien" ignorieren kann, die man polemisch in der Welt zieht. Vgl. v. Verf., Moralische Spielräume. Menschheit und Anderheit, Zugehörigkeit und Identität, Göttingen 1999. 24 25

Vgl. K.-H. Kohl, Ethnologie — die Wissenschaft vom kulturell Fremden, München 1993. Vgl. C. Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/M. 1997. Dabei gehört Charles Taylor gerade nicht zu den Apologeten kultureller Pluralität, die aus ethnographi-

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Wenn sich Politik in der Optik eines solches Ansatzes primär sogar darum dreht, für Ausgleich zwischen unterschiedlichen Lebensformen zu sorgen, die unter dem Dach eines Staates koexistieren müssen, wird die Anerkennung der heterogenen Identitäten, die in diesen Lebensformen verkörpert sind, nur allzu leicht zum obersten Gebot. Der Begriff des Politischen erfährt selber eine weitgehende „Ethnisierung"26 Er kennt am Ende nur noch Zugehörige und Unzugehörige, deren wechselseitige Verhältnisse legitim geregelt werden sollen. Von Geburt aus ist „der Mensch" auch hier, wie in der Anthropologie des 19. Jahrhunderts, nichts,27 es sei denn ein zur „Interpretation" seiner selbst und seiner Welt von Natur aus befähigtes Tier, wie Taylor sagt. In die Traditionalität vor-gegebener Interpretationen hineingeboren, deren Uminterpretation einem allerdings frei steht, gehören wir in dieser hermeneutischen Sicht ganz und gar dem kulturellen Kreis an, der unseren Horizont vorläufig endgültig beschränkt. Man mag diesen Horizont überschreiten und sich vom Angesprochenwerden durch die ursprünglich „eigene" Überlieferung entfernen, um sich einer anderen Zukunft und einer anderen Geschichte zuzuwenden. Ein solcher Weg wird aber nur in andere Zugehörigkeiten münden. Diejenigen, die ins Exil gehen und dort fremd bleiben, oder diejenigen, die sich in der eigenen Welt fremd werden, ohne je ihre Zugehörigkeit aufgekündigt zu haben, können als derart Marginalisierte bestenfalls als Grenzfall einer Unzugehörigkeit (die im zweiten Fall in der Zugehörigkeit selber sich geltend macht) gelten, werfen für jene Hermeneutik aber scheinbar kein grundsätzliches Problem auf. Im Gegenteil: sie verschreibt sich mit Haut und Haaren einem Verstehen, das selber ethisch verfasst ist, insofern es sich der Achtung der Identität des Anderen verpflichtet weiß. Diese Hermeneutik steht in voller Blüte, wenn sie realisiert, als wer der Andere sich versteht. Die Wer-Frage ist die IdentitätsFrage par excellence. Sie mag sich von Anderen, von Dritten oder auch anonymen Fremden her stellen; stets aber stellen sie diejenigen, die man kulturell bzw. ethnisch zu verstehen sucht, auch sich selbst und geben ihre eigene Antwort, sei es auf nachträglich-narrativem, sei es auf unmittelbar lebenspraktischem Wege. Die Hermeneutik, die dieses Selbst-Verständnis zu rekonstruieren versucht, ist ganz und gar Respekt für die Andersheit dieses Verständnisses. Nichts gestattet es ihr, diese Andersheit gering zu veranschlagen oder gar zu übergehen. Ihre vornehmste Aufgabe sieht sie am Ende darin, einer ethnisierten Politik zuzuarbeiten. Diese kann ihrer Aufgabe, für Ausgleich zwischen heterogenen Lebensformen zu sorgen, nur gerecht werden, wenn die Hermeneutik den entsprechend heterogenen Identitäten in ihrer gegenseitigen Andersheit zur Geltung verholfen hat.

sehen Befunden umstandslos normative Schlüsse ziehen. Zur Kritik vgl. S. Benhabib, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit, Frankfurt/M. 1999.

Vgl. K. Dörre, „Modernisierung der Ökonomie - Ethnisierung der Arbeit", in: W. Heitmeyer (Hg.), Was treibt die Gesellschaft auseinander?, Frankfurt/M. 1997, S. 69-117, hier: S. 104 f.; W. Kymlicka, „Liberalism and the Politicization of Ethnicity", Canadian Journal of Law and Jurisprudence IV, No. 2 (1991), S. 239-256; W. Connor, Ethnonationalism, Princeton 1994. Vgl. G. Buck, „Selbsterhaltung und Historizität", in: Η. Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt/M. 1976, S. 208-302.

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1.5 Politik, Zugehörigkeit und Identität Lassen sich aber die Verhältnisse politischer „Koexistenz" so einfach auf eine dimensionale Polarität von Zugehörigkeit und Unzugehörigkeit abbilden? 28 Gehen die einzelnen überhaupt derart in ihrer Zugehörigkeit auf, wie man es unterstellt, wo wie im Blick auf den Balkan Hunderttausende nur noch nach Maßgabe ihrer ethnischen Herkunft Erwähnung finden? Verwendet man nicht ethnische Kategorien, die alle einzelnen, auf die diese Kategorien Anwendung finden, unter der Hand gleich macht? Verschwindet hier nicht jegliches Sich(anders-)unterscheiden von Anderen, das sich nicht mit diesen Kategorien deckt? Kann sich eine oft propagierte, ganz auf jene Polarität zugeschnittene „Politik der Differenz" 29 mit „Unterschieden" bzw. Andersheiten zwischen Zugehörigen und Unzugehörigen bescheiden? So unproblematisch ist eine solche Beschränkung nicht, wenn man bedenkt, dass Differenz doch nicht bloß als (komparative) Andersheit zwischen bereits unabhängig voneinander gegebenen Entitäten etwa, sondern auch als Fremdheit zu verstehen ist, die nicht erst einem sekundären Vergleich entspringt. - Findet aber eine nicht-komparative, vielmehr originäre, auch den Zugehörigen „eigene", aber radikale Fremdheit in den vorliegenden Entwürfen einer „Politik der Differenz" überhaupt Berücksichtigung? Entschiedene Zweifel daran sind angebracht. 30 Fremdheit wird vielfach nur zwischen getrennten und verschiedenen ethnischen Sphären des Eigenen vermutet. Das Eigene, d.h. hier: die Sphäre der Zugehörigkeit wird, so scheint es, in sich von keinerlei Fremdheit im Sinne der Unzugehörigkeit unterwandert.31 Infolgedessen wird der Eindruck erweckt, die Zugehörigen gehörten der eigenen ethnischen Sphäre tatsächlich restlos zu. Es kommt einem schon merkwürdig deplaziert vor, im politischen Feld dieser Diskussionen daran zu erinnern, dass die Einzelnen doch auch „für sich" etwas sein könnten, was in ihrer Zugehörigkeit nicht völlig aufgeht. Vielleicht sind sie paradoxerweise gar „mehr" als bloß Seiende. Hat nicht schon Kant den „Zweck an sich selbst" als den Grund der freien Selbständigkeit des Anderen in einem Jenseits-des-Erscheinens lokalisiert und damit die Achtung vor der Ander(s)heit des Anderen einem bloßen Kategorisieren von innerweltlich Seiendem entzogen? 32 Abgesehen von der Frage, ob der Gedanke der moralischen Person, die prima facie überhaupt nicht durch eine Ethnizität fassbar Vgl. R. Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, München 1994. Vgl. bspw. C. Calhoun (Hg.), Social Theory and the Politics of Identity, N.Y. 1996; S. Benhabib (Hg.), Democracy and Difference, Princeton 1996; M. Walzer, Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, Berlin 1992, S. 228 ff. Vgl. das Kapitel 6 in diesem Band. Darauf laufen Konstruktionen kollektiver Identität vielfach hinaus, besonders dann, wenn sie die Behauptung einer „primordialen" Zugehörigkeit implizieren; vgl. S. N. Eisenstadt, B. Giesen, „The Construction of Collective Identity", in: Archieves europeennes de sociologie 26, Nr. 1 (1995), S. 72-102, R. Brubaker, „Rethinking Nationhood", Contention 4, Nr. 1 (1994), S. 3-14; A. Nassehi, D. Richter, „Die Form ,Nation' und der Einschluss durch Ausschluss", Sociologica Internationalis 34 (1996), S. 151-176, hier: S. 156 f. S. dazu v. Verf., Moralische Spielräume, S. 51 ff.

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oder begründbar scheint, politisch artikulierbar ist - kann man die schon im Denken der polis angelegte Spannung zwischen ethnos und demos so ohne weiteres ignorieren, wie es offenbar diejenigen tun, die das Politische primär, wenn nicht ausschließlich, als eine Angelegenheit inter-ethnischen Ausgleichs begreifen? 33 Mit Recht, meine ich, wird auf einer systematischen Unterscheidung von ethnischer Zugehörigkeit und politischer Mitgliedschaft in einem rechtlich verfassten Gemeinwesen insistiert. 34 Ein Rechtsstaat ist kein Stamm; und die rechtlich fixierten Bedingungen der Mitgliedschaft lassen sich nicht auf genealogische Voraussetzungen reduzieren. Man muss, mit anderen Worten, nicht im Sinne der Abstammung beispielsweise verwandt sein mit denen, die dem politischen Gemeinwesen bereits angehören, zu dem man Zugang begehrt. Die ausgedehnte Diskussion dieser Fragen in den letzten Jahren hat aber auch gezeigt, dass in die rechtliche „Konstitution" politischer Gemeinwesen stets auch Identitätsmomente eingehen, die aus einer kaum zu entwirrenden Gemengelage wenn nicht unmittelbar verwandtschaftlicher, so doch quasi-verwandtschaftlicher Beziehungen und Loyalitäten, geschichtlicher Hintergründe und ethischer Gemeinsamkeiten (im Sinne teleologischer Orientierungen an Vorstellungen guten Zusammenlebens) resultieren. Aus dem geschichtlich erstreckten Zusammenleben in einem rechtlich verfassten Gemeinwesen ergeben sich auch quasiverwandtschaftliche Zugehörigkeiten kultureller Art, die man mit Max Weber im Sinne einer kulturellen Abstammung verstehen kann. Diese wiederum zeigt sich mit einem kollektiven teleologischen Verständnis dessen verquickt, worum es im politischen Leben gehen soll. Der Anspruch auf Rechtlichkeit der politischen Institutionen und auf Gerechtigkeit der politischen Entscheidungen, heißt das, wird als zu einer guten Regelung des Zusammenlebens dienend begriffen. 35 Die normative Frage, ob eine ethische Teleologie einerseits und eine moralische Deontologie in dieser Weise einander zugeordnet werden sollten, braucht uns an dieser Stelle nicht zu beschäftigen. Es geht hier allein um die kaum zu bestreitende Tatsache, dass man selbst dann, wenn man ethnos und demos begrifflich trennen möchte, zugeben muss, dass das eine mit dem anderen stets faktisch unvermeidlich kontaminiert sein wird. 36

33 34

35

36

Vgl. Aristoteles, Politik, 1261 a ff. Nur auf der Grundlage dieser Unterscheidung wird die Suche nach einer angemessenen Zuordnung und nach Übergängen im Spannungsfeld zwischen „polyethnischen" und „multinational" verfassten staatlichen Ordnungen verständlich; vgl. dazu wiederum den oben bereits zitierten Essay von W. Kymlicka („Liberalism and the Politicization o f Ethnicity"). Entsprechend lautet Ricoeurs Grundformel, es gehe den Menschen um ein gutes Zusammenleben mit Anderen in gerechten Institutionen; vgl. Das Selbst als ein Anderer, München 1996, bes. die siebente und achte Abhandlung, sowie unten die Kap. 7 und 8. Speziell ist von einer ethischen Imprägnierung des Rechtsstaats die Rede; vgl. J. Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt/M. 1998, Kap. 4; S. Benhabib, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit, 1. Kapitel. Vgl. auch M. Hettling, P. Nolte (Hg.) Nation und Gesellschaft in Deutschland, München 1996; M. R. Lepsius, „,Ethnos' oder ,Demos'", in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 247-255. Ob sich eine „Konfundierung" von ethnos und demos ausschließen lässt, wie der Autor offenbar hofft (S. 253), ist allerdings zu bezweifeln. S. u. das Kapitel 6 und 7.

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Mit anderen Worten: es steht nicht zu erwarten, dass man die Rechtlichkeit eines politischen Gemeinwesens so einrichten kann, dass keine Momente in sie eingehen, die einer besonderen Geschichte, Identität, quasi-verwandtschaftlichen Ethnizität oder lokalen Ethik des Zusammenlebens zu verdanken sind. Das heißt aber wiederum nicht, dass die Verfassung der politischen Mitgliedschaft bloß als ein juridischer Aspekt einer primär doch genealogisch fundierten Zugehörigkeit gelten kann. 37 Das gilt gewiss dort nicht, wo die Regelung der Mitgliedschaft wie im Asylrecht ausdrücklich einen von keinerlei Zugehörigkeit abhängigen Rechtsanspruch einräumt. In diesem Fall wird den „Unzugehörigen" seitens der „Zugehörigen" ein Recht auf Aufnahme in ihr Gemeinwesen zugesichert. Die Tatsache der politischen Verfolgung oder der Zerstörung von Lebensformen als Asylgrund soll ja gerade die Frage der Zugehörigkeit außer Kraft setzen. Dieser prinzipielle Anspruch bricht sich freilich unvermeidlich an den faktischen Bedingungen der Aufnahme. Diese misslingt nämlich zwangsläufig, wenn es bei einer durchgängigen, durch nichts gemilderten gegenseitigen Fremdheitserfahrung im Spannungsverhältnis zwischen den ethnisch Zugehörigen und Unzugehörigen auf Dauer bleibt. Wo das Recht auf Aufnahme von vornherein mit Rücksicht auf die im Sinne einer wirklichen Aufnahme der Fremden erforderliche Hospitalität instituiert wird, erweist es sich als selber ethnisch kontaminiert und als in sich mit der Frage verknüpft, ob die Gewährung dieses Rechts dem kollektiven Zusammenleben bekommt. Mit Rücksicht auf diese Frage hat das Recht hier selber eine ethisch-teleologische Dimension. 38 Und gerade weil man sich der Unfähigkeit des Rechts bewusst ist, seine eigene Anwendung zu regeln, insofern die Aufnahme der Fremden nur in einer gastlichen Kultur gelingen kann, besinnt man sich auf „ethische" Grundlagen des Zusammenlebens zurück. Auch bei denen, die die Rechtlichkeit einer rechtsstaatlich verfassten Zivilgesellschaft in den Vordergrund stellen, um sich jeglicher Reduktion des politischen Gemeinwesens auf eine bloß genealogisch-ethnisch konstituierte (Pseudo-)„Gemeinschaft" zu widersetzen, steht deshalb eine ethische Zugehörigkeit hoch im Kurs. In ihr wird vielfach die unverzichtbare motivationale Grundlage der Wertschätzung einer kollektiven Lebensform vermutet, die sich - ungeachtet ihrer „partikularen" geschichtlichen und ethnischen Prägung - auch fur Fremde öffnet. Wo, wenn nicht in der gelebten Ethik einer solchen Lebensform könnte etwa jene Hospitalität ihre Grundlagen haben? Diese Hospitalität erst löst das Recht auf Aufnahme

Vgl. E. Gellner, Nationalismus und Moderne, Hamburg 1995, S. 201; C. Leggewie, „Ethnizität, Nationalismus und multikulturelle Gesellschaft", in: H. Berding (Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Frankfurt/M. 2 1996, S. 46-65. Daraus zu schließen, die faktische Gewährung jenes Rechts müsse ohne Wenn und Aber von ihrer „Zumutbarkeit" fur die Zugehörigen abhängig gemacht werden, löst das Spannungsverhältnis zwischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft in diesem Fall einseitig auf. Im übrigen erhält diese Problemstellung von vornherein einen übertriebenen polemischen Anstrich, wenn man die Zugehörigkeit vorschnell homogenisiert. Wer sind denn die Zugehörigen - und wer spricht mit welchem Recht in ihrem Namen, um Grenzen der Zumutbarkeit zu ziehen? Die gegenwärtige, seit langem vorherzusehende Diskussion um die Frage, ob man nicht aus demografischen Gründen neue (diesemal: /teproduktions-) Gastarbeiter braucht, zeigt auf ihre Weise, wie hohl die öffentlichen Debatten um jene Zumutbarkeit wirklich waren.

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gewissermaßen ein; doch kann niemand zu ihr verpflichtet werden. Sie ist Sache des Umgangs mit den Unzugehörigen, Fremden, ohne dessen Gastlichkeit das Recht praktisch nichts wert ist. Es muss sich also auf eine gelebte Ethik stützen. Wenn diese aber ihren Grund in partikularen Lebensformen von „Zugehörigen" haben muss, können diese sich dann von sich aus im Sinne einer gastlichen Aufnahme von „Unzugehörigen" öffnen, die nicht darauf hinauslaufen darf, dem Fremden für seine Anerkennung als Mitbürger den Preis abzuverlangen, seine Fremdheit aufzugeben, um sich auch ethisch und ethnisch „integrieren" zu lassen? Was wäre von einer Aufnahme zu halten, welche die Fremdheit des Fremden auf dem Weg seines völligen ethnischen Assimiliertwerdens oder auf dem Weg seiner Akkomodation effektiv vernichten müsste?

1.6 Grenzen des Rechts Eine verstärkte Rückbesinnung auf ethische Grundlagen rechtsstaatlich verfasster Gemeinwesen lässt sich nicht nur im Kontext des Asylrechts feststellen. Man ist sich deutlich der Grenzen der Rechtlichkeit selber bewusst.39 Diese betreffen nicht bloß ihre viel diskutierte „ursprüngliche" Konstitution oder die nicht wiederum durch juridische Regeln regelbaren Fragen ihrer Anwendung, sondern auch das Problem der „Rechtsfähigkeit" des Sozialen überhaupt.40 Wenn rechtliche Regelungen eine spezielle Form der Instituierung „sozialer" Verhältnisse darstellen, die nicht von Anfang an als rechtsformige gelten können, inwieweit kann diesen Verhältnissen dann überhaupt eine rechtlich geregelte Form gegeben werden? Inwieweit lassen sich etwa die „polemogenen" sozialen Verhältnisse, aus denen Konflikt, Streit und Krieg resultieren können, überhaupt rechtsförmig fassen? Wenn wir zu der Einsicht kommen, dass dies grundsätzlich nur in einem sehr begrenzten Ausmaß gelingen kann, muss das so nicht fassbare soziale Leben dann schutzlos einer gewaltträchtigen Anarchie überantwortet bleiben? Oder lassen sich nicht-juridische (Selbst-) Regelungen dieser Verhältnisse aufweisen, die ein Missverhältnis zwischen Rechtlichkeit und Sozialität geradezu voraussetzen? In dem Maße, wie dieses Missverhältnis bewusst wird, wird vielfach die ethische Identität einer Gemeinschaft beschworen, in deren Homogenität in evaluativen und normativen Fragen man scheinbar das einzige Palliativ gegen den „Ausbruch" einer anarchischen Anomie sieht, die für den Fall droht, dass die rechtliche Verfassung des politischen Gemeinwesens nicht mehr zureichend in den Lebensformen der Menschen verankert ist. Selbstverständlich gibt es zwischen Neoaristotelikern und Kommunitaristen, zwischen Liberalen und demokratischen Experimentalisten eine Vielzahl im einzelnen strittiger Deutungen dieser Problema-

40

Vgl. A. Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida - Benjamin, Vgl. H. Kantorowicz, Der Begriff des Rechts, Göttingen o. J., S. 36 f.

Frankfurt/M. 1994.

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tik, die an dieser Stelle nicht ausführlich zu erörtern sind.41 Eine dieser Deutungen, auf die ich mich beschränken will, besagt, dass „Gemeinschaftlichkeit" in jenen Fragen „intrinsisch wertvoll" und folglich wie die sie tragende und „ermöglichende Lebensform" zu bewahren sei.42 Ist aber dieser Singular gerechtfertigt? Der Begriff der Lebensform bezieht sich hier auf die gelebte Ethik im Sinne von Werten, an denen sich einander kraft ihrer ethischen Gemeinsamkeit Zugehörige praktisch orientieren. Es kann aber keine Rede davon sein, dass sich etwa in den westeuropäischen Staaten jeweils genau eine solche Ethik und in diesem Sinne jeweils eine sie prägende Lebensform nachweisen ließe. Im Gegenteil sprechen die empirischen Verhältnisse für eine Vielzahl unterschiedlicher, teilweise inkompatibler oder inkommensurabler „Ethiken". Und je mehr man die Charakteristik der Lebensform(en), die man im Blick hat, unter Hinweis auf „shared beliefs, folklore, high culture, collectively shared metaphors and imagination, and so on" anreichert,43 desto schillernder und uneinheitlicher wird das Bild. Nicht einmal ein minimaler, an sich unstrittiger ethischer Kern der Lebensformen lässt sich deskriptiv ohne weiteres ausmachen; noch viel weniger ein derart breiter „gemeinsamer Nenner", der es rechtfertigen würde, in ethischer Hinsicht von einer, das politische Gemeinwesen insgesamt prägenden Lebensform zu sprechen. Auch der Weg, einen ethischen „kleinsten gemeinsamen Nenner" auszumachen, fuhrt offenbar in eine Sackgasse. Denn nach vorherrschender Auffassung lässt sich der evidente ethische Wertepluralismus44 und die mit ihm verknüpfte Divergenz ethisch abgestützter Überzeugungen, die zur Identität von Lebensformen gehören, rein argumentativ gar nicht vereinheitlichen.45 Vieles spricht demnach für eine irreduzible ethische Pluralität von Lebensformen und zugleich dagegen, als Fundament einer aus eigener Kraft offenbar weder beständigen noch ausreichend motivierenden Rechtlichkeit eines politischen Gemeinwesens genau eine „sittliche Lebensform" auszuzeichnen.46 Die ethische Verfassung des Sittlichen

42

Vgl. M. Brumlik u. H. Bronkhorst (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1993; J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt/M. 1996; H. Brunkhorst (Hg.), Demokratischer Experimentalismus, Frankfurt/M. 1999. Vgl. W. Kersting, „Verfassungspatriotismus, Kommunitarismus, Republikanismus", in: R Braitling, W. Reese-Schäfer (Hg.), Universalismus, Nationalismus und die neue Einheit der Deutschen, Frankfurt/M. 1991, S. 143-166, hier: S. 162.

43

Vgl. bspw. J. Raz, The Morality

44

Vgl. Th. Nagel, Mortal Questions, Cambridge 1979, S. 128-141, der hier von einer „Fragmentierung der Werte" spricht. Das erübrigt natürlich nicht die Arbeit an „wohlerwogenen Überzeugungen" und die Suche nach ihnen; aber sowohl die existenzielle Verankerung unserer Überzeugungen als auch deren halb empirisch-geschichtlicher, halb apriorischer Zwittercharakter lässt, wie sich zeigen wird, eine rein argumentative Auseinandersetzung mit ihnen sehr bald an Grenzen stoßen. Vgl. auch R Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, S. 350 zum Begriff des Wertes.

45

46

of Freedom, Oxford 1986, S. 311.

Vgl. L. Honnefelder, „Die Krise der sittlichen Lebensform als Problem der philosophischen Ethik - eine Einfuhrung", in: ders. (Hg.), Sittliche Lebensformen und praktische Vernunft, Paderborn, München, Wien, Zürich, 1992, S. 9-25; R. Bubner, „Rationalität, Lebensform und Geschichte", in: H. Schnädelbach (Hg.), Rationalität, Frankfurt/M. 1984, S. 198-217, hier: S. 205.

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wird selber von Widerstreit zwischen heterogenen Lebensformen affiziert, die sich heute unter dem Dach jedes größeren politischen Gemeinwesens zusammenfinden.47 In dieser komplizierte Problemlage hilft kein definitorischer Gewaltstreich, der aus der Pluralität von Lebensformen eine einzige Lebensform machen würde. Nirgends scheinen sich heute die Grenzen ethnischer Zugehörigkeit und ihre ethischen Implikationen mit den Grenzen politischer Mitgliedschaft zu decken. Der Versuch einer eindeutigen territorialen Interpretation der Bedingungen politischer Mitgliedschaft in einem Gemeinwesen kann so gut wie nie darauf bauen, innerhalb dieser Grenzen sei auch eine entsprechende ethnische Homogenität vorzufinden. Und innerhalb dieser Grenzen ist eine Zugehörigkeit zu nur einer Lebensform die Ausnahme, nicht die Regel. Der Widerstreit der Lebensformen durchdringt die Einzelnen, die als solche ohnehin in keiner einzigen Lebensform je ganz aufgehen können, wenn sie als Personen „an sich" (Kant) oder als nicht auf ihre innerweltliche Erscheinung reduzierbare „Andere" existieren. So gesehen müssen wir von einer radikalen, durch nichts aus der Welt zu schaffenden Unzugehörigkeit in der Zugehörigkeit ausgehen, die konkret aber auch in der Heterogenität der Lebensformen selber begründet liegt. Niemand gehört uns je ganz und gar zu, sondern nur insofern er unsere Lebensform teilt. Insofern er anderen Lebensformen angehört, die unserem Leben ganz oder weitgehend verschlossen sind, gehört er uns zugleich nicht zu. Hier bilden Zugehörigkeit und Unzugehörigkeit keinen einfachen polaren Gegensatz mehr, sondern treten wie Gestalt und Hintergrund zusammen auf und durchdringen einander. Der Andere erweist sich auf diese Weise als irreduzibler Anderer in seiner Zugehörigkeit; in seiner Unzugehörigkeit, die ihn uns als anderen Anderen Zugehörigen entrückt, bleibt er doch mit der Lebensform verflochten, die er mit uns teilt. So gesehen alternieren Zugehörigkeit und Unzugehörigkeit auch nicht einfach, sondern interferieren, fechten sich gegenseitig an, überlagern sich... Von einem hinreichend subtilen Verständnis solcher Prozesse sind wir weit entfernt, wo man zwar einerseits einer irreduziblen Heterogenität von Lebensformen unter dem Dach eines Staates das Wort redet, die „Toleranz gegenüber der Differenz", die man infolgedessen propagiert, aber andererseits lediglich mit einer ziemlich eindeutigen Zuordnung Anderer zu einer anderen Lebensform verbindet. Bei Walzer beispielsweise ist von verschiedenen Lebensformen wie von sich gegenseitig nicht durchdringenden „Kulturkreisen" die Rede, so dass die Toleranz genau dann zum Zug kommen soll, „wenn die anderen keine Mitspieler

München, Wien, Zürich, 1992, S. 9-25; R. Bubner, „Rationalität, Lebensform und Geschichte", in: H. Schnädelbach (Hg.), Rationalität, Frankfurt/M. 1984, S. 198-217, hier: S. 205. Diese Problemstellung wird übersprungen, wenn man den Begriff der Lebensform als die „Art und Weise" definiert, „in der das Leben im ganzen seine Inhalte gewinnt". Auf der Basis einer universalen Ethik (etwa der Anerkennung als Person) allein erscheint das schwerlich möglich; und von welchem Wir ist die Rede, wenn es heißt, „Lebensform" sei eine „Weise der Orientierung [...], welche alle unsere Lebenssituationen und Lebensverhältnisse durchzieht" und angeblich „immer zur Anwendung kommt"? Vgl. F. Kambartel, Philosophie der humanen Welt, Frankfurt/M. 1989, S. 21, 47.

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sind" und „wenn es kein gemeinsames Spiel gibt". 48 Von einer inneren Unzugehörigkeit oder von interferierenden Zugehörigkeiten erfahren wir hier nichts. Die „Zivilisierung der Differenz", zu der sich der Autor herausgefordert sieht, kennt nur eine Differenz des Anderen: seine Zugehörigkeit zu einer anderen Lebensform, die angeblich bedingt, dass wir kein gemeinsamenes Spiel mehr mit ihm spielen oder spielen können. Ungeachtet der löblichen Rhetorik der Toleranz besteht hier die Gefahr, dass unter der bei Walzer stellenweise einfließenden Voraussetzung eines „ethnisierten" Politikbegriffs, 49 der Politik als Ausgleich zwischen Zugehörigen und Unzugehörigen fasst, wiederum eine Art hobbesianischer Naturzustand zwischen den ethnischen, sich zunächst nicht als „zivilisiert" darstellenden Regionen des Sozialen heraufbeschworen wird. Wird auf diese Weise nicht schon im Ansatz eine polemogen zugespitzte Konfrontation zwischen Zugehörigen und Unzugehörigen gewissermaßen präjudiziell;, die einander in einer solchen theoretischen Perspektive nur als solche begegnen und weder von einer inneren Unzugehörigkeit noch von einer „Verwandtschaft" mit den Fremden etwas wissen? Verspielt ein solcher Ansatz so gesehen nicht von vornherein theoretische Einspruchsmöglichkeiten gegen eine Politik, welche die Menschen polemisch derart „auseinanderdividiert", dass es schließlich den Anschein haben kann, als hätten sie nichts mehr miteinander gemeinsam, nichts mehr jedenfalls, was es ihnen gestatten würde, noch irgendein „Spiel" miteinander zu spielen? Ist aber eine solche Politik nicht als eine polemogene, nachträgliche Aktivität der Entflechtung einer Bezogenheit zu verstehen, die sich keineswegs α priori an Begriffe genealogischer, ethnischer oder kultureller „Verwandtschaft" etwa und an entsprechend eindeutig gezogene Demarkationslinien zwischen Zugehörigen und Unzugehörigen zu halten hat? Eine solche Problemstellung legt es nahe, nicht allein nach mehr oder weniger undurchdringlichen ethnischen Grenzen, sondern, mehr noch, nach Aktivitäten der Grenzziehung und nach deren genealogischen, ethnischen, ethischen, moralischen, rechtlichen und/oder politischen Hinsichten zu fragen und es zunächst dahingestellt sein zu lassen, als was oder wer Menschen diesseits und jenseits der jeweiligen, sich keineswegs notwendig deckenden Grenzen gegenüberstehen. Diese Problemstellung und die aus ihr abzuleitenden Fragen sind nicht einmal verständlich, wenn man von einem Politikbegriff ausgeht, der von Anfang an gemäß einer eindeutigen Zuordnung zu getrennten Lebensformen nur Zugehörige und Unzugehörige kennt. 50

48 49

50

M. Walzer, Über Toleranz, Berlin 1998, S. 18. Keineswegs möchte ich Walzers Position aber auf diese Voraussetzung reduzieren, vgl. sein Buch Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1998, S. 80 ff. So gesehen stellt sich die Frage der Verstrickung von Theorien in eben die schismogenen sozialen oder kulturellen Verhältnisse, die sie nur unter Rückgriff auf Kategorien der Zugehörigkeit bzw. der Unzugehörigkeit beschreiben. S. P. Huntingtons Auffassung ist in dieser Hinsicht ein besonders lehrreiches Beispiel, insofern sie auf theoretischer Ebene keinerlei Distanz zu agonalen und polemogenen Differenzierungen zwischen Zugehörigen (die „auf der richtigen Seite" stehen) und anderen wahrt, gegen die man den angeblich unvermeidlichen „Kampf der Kulturen" zu gewinnen sucht; vgl. „The Clash of Civilizations?", in: Foreign Affairs 2 (1993), S. 22-49. So

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Ist aber die Zugehörigkeit vs. Unzugehörigkeit die einzige oder in allen Hinsichten entscheidende Dimension, auf die es ankommt? Lässt sich die Einordnung der Menschen in jeweils eine Lebensform überhaupt rechtfertigen? Worin zeigt und manifestiert sich überhaupt die Zugehörigkeit zu einer Lebensform? Und inwiefern schließen Zugehörigkeiten einander aus? Wie sind die Spannungsverhältnisse zwischen Lebensformen zu verstehen? Als grundsätzlich Ao«/7/feträchtig? Oder im Sinne von Widersprüchen? Oder muss man von Lebensformen im Widerstreit sprechen, wie wir es vorgreifend bereits getan haben? Hieße das, dass Lebensformen als Ganze zueinander in einem Verhältnis des Widerstreits stehen? Lässt sich damit ein konkreter Sinn verbinden? 51 Sucht Widerstreit die innere Konstitution von Lebensformen heim? Existieren Lebensformen also im Widerstreit? Hat der zugestandene Plural der Lebensformen nur den Aspekt eines Nebeneinanders - oder muss man im Gegenteil von einem Ineinander von heterogenen Lebensformen ausgehen, wenn sich eine eineindeutige Zuordnung einzelner zu Lebensformen gar nicht rechtfertigen lässt? Dann würde einer ethnischen Zugehörigkeit etwa nicht erst nachträglich und „von außen" Widerstreit widerfahren; vielmehr müssten wir von Anfang an von einer in sich selbst heterogenen, in sich selbst in Widerstreit verwickelten Zugehörigkeit ausgehen. Und es würde sich lohnen, solch verwickelten Verhältnissen genauer nachzugehen, weil zu erwarten steht, dass in dem Maße jene Präjudizierung vermieden werden kann, wie wir ein differenzierteres Bild menschlicher Lebensformen erarbeiten, als es ein bedenkenlos ethnisierter Politikbegriff gestattet. D.h. eine Phänomenologie der Lebensformen, die sich den skizzierten Fragen stellte, wäre besser (immerhin: besser, aber gewiss nicht absolut) dagegen gefeit, schon im Ansatz polemogene Entgegensetzungen von Lebensformen vorzuzeichnen, die nicht mehr verständlich werden lassen, wie man zunächst Verflochtenes auseinanderdividiert hat. Das ethnische „Polemisieren" würde als solches auf diese Weise nicht mehr recht verständlich. Die Theorie würde es in sich stillschweigend nachvollziehen und jene Politik insgeheim affirmieren. Je mehr wir nun aber Gewicht auf einen Plural von Lebensformen legen, desto zweifelhafter wird, ob unter ethnisch derart diversifizierten Voraussetzungen überhaupt noch ein „politisches Spiel" denkbar ist, in dem sich die Regionen des Sozialen zusammenfinden können. Die einen setzen beschwörend auf einen „overlapping consensus", die anderen auf ein umfassendes Ethos oder auf eine „Gemeinschaft von Gemeinschaften", die deren Heterogenität von vornherein bändigt und auch auf theoretischer Ebene erst gar nicht zum Vorschein kommen lässt. Das ist evident, wenn etwa Charles Taylor dieses Ethos als eine Art Patriotismus beschreibt, der neben einer „Liebe zum Besonderen", d.h. zur eigenen Be-

affirmiert die Theorie scheinbar bedenkenlos eine ihrerseits bereits polemische Beschreibung der interkulturellen Verhältnisse. Mit gutem Recht skeptische Anmerkungen zu dieser Frage finden sich bei H. J. Schneider, „Offene Grenzen, zerfaserte Ränder: Über Arten von Beziehungen zwischen Sprachspielen", und N. Garver, „Die Unbestimmtheit der Lebensform"; beide Aufsätze in: W. Lütterfelds u. A. Roser (Hg.), Der Konflikt der Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache, Frankfurt/M. 1999, S. 37-53 und 138-155, hier: S. 51 und 140.

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Sonderheit, so wie sie in der Erde des kollektiven Lebens Verwurzelten scheint, „die gemeinsame Treue zu einer bestimmten historischen Gemeinschaft" einschließen müsse. Hier wird die mehr postulierte als nachgewiesene Gemeinschaft heterogener Lebensformen von vornherein in der Einheit einer kollektiven „Sittlichkeit" aufgehoben gedacht, die von keiner ethischen Fremdheit angekränkelt scheint. 52 Die anderen, die deontologischen Kritiker solcher „neoaristotelischer" Ansätze bestreiten teilweise die Existenz einer ethischen Gemeinschaft oder Gemeinsamkeit überhaupt oder verwerfen die Meinung, sie sei im Sinne einer politisch-rechtlichen „Integration" ein zureichendes Fundament. Nicht wenige von ihnen geben einerseits zu, dass auch eine primär auf Recht und Gerechtigkeit abstellende Integration ethische Voraussetzungen hat oder sich auf eine ethische „Motivation" im Sinne kollektiver Vorstellungen guten Zusammenlebens stützen muss. 53 Aber sie bestreiten, wenn sie dies zugeben, gleichwohl, dass sich eine derart ethisch situierte Vernunft auf eine entsprechende kollektive Sittlichkeit reduzieren lasse. Mit anderen Worten: wenn sich diese situierte Vernunft als unvermeidlich ethisch kontaminiert erweist, so geht sie doch niemals in einem Ethos etwa auf. - Politik, Recht und Gerechtigkeit werfen ähnliche Fragen auf. Selbst wenn man beispielsweise zugeben muss, dass das Politische ethnisch, durch die regionale Identität von Zugehörigen geprägt ist, lässt es sich niemals in einem ethnisierten Politikbegriff auflösen·, jedenfalls solange nicht, wie es nicht nur dem Ausgleich zwischen Zugehörigen und Unzugehörigen, sondern auch einem Begriff legitimer Mitgliedschaft im politischen Gemeinwesen verpflichtet ist, die man zunächst ohne Rücksicht auf Ethnizität, genealogische Verwandtschaft, kulturelle Abstammung usw. zu fassen sucht.

1.7 Probleme der „Integration" Unter diesen Voraussetzungen tritt eine komplizierte Problemlage ans Licht: Hält man erstens eine eher ethisch ausgerichtete Politik der Zugehörigkeit einerseits und eine eher juridisch/deontologisch ausgerichtete Politik der Mitgliedschaft andererseits auseinander und gibt zu, dass letztere sich auf erstere stützen muss, ohne auf diese reduzierbar zu sein, so stellt sich die Frage, wie sich angesichts jener Heterogenität der Lebensformen noch ein einheitliches „politisches Spiel" denken lassen soll. Zerbricht nicht durch eben diese Heterogenität, auf die wir im Feld des Ethischen und des Ethnischen verwiesen werden, die Basis von Recht und Gerechtigkeit, die diese aus eigener Kraft offenbar nicht garantieren kön-

Ch. Taylor, „Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus", in: A. Honneth (Hg.), Kommunitarismus, Frankfurt/M. 1993, S. 123. Vgl. H. Münkler, „Politische Tugend. Bedarf die Demokratie einer sozio-moralischen Grundlegung?", in: ders. (Hg.), Die Chancen der Freiheit. Grundprobleme der Demokratie, München, Zürich 1992, S. 25-46.

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nen? 54 Oder kann sich in der Verflochtenheit der Lebensformen, d.h. gerade im Medium ihrer nicht zu leugnenden Heterogenität ein „laterales

Politisches"

behaupten, das sowohl

den Grenzen zwischen multiplen Zugehörigkeiten als auch der Irreduzibilität von Recht und Gerechtigkeit auf Ethnizität und ethische Orientierungen Rechnung trägt? Lässt sich ein nicht allein auf vertikale

Sozialintegration abstellender Begriff des Politischen denken, der

weder eines auf das andere reduziert noch eines dem anderen absolut vor- oder überordnet und zugleich keine Zwangsintegration suggeriert, die einem Ethos, der Politik oder dem Recht eine Aufhebung jener Heterogenität zumutet? Diese Problemlage spiegelt sich in Formulierungen wie der folgenden: Eine „multikulturelle Gesellschaft muß eine kollektive Identität finden, die das Dilemma der substanzlosen

Substanz

lösen kann: die politische

Identität einerseits nicht zu substanziell zu verstehen und Minderheiten nicht zu marginalisieren, andererseits jedoch nicht zu schwach, um politische Integration und gesellschaftliche Solidarität ermöglichen zu können. Auf dieses Problem muß ein differenzierter Begriff von Staatsbürgerschaft antworten, der ethische Differenz, rechtliche Gleichheit, politische und soziale Inklusion miteinander verbindet." 55 Hier wird kollektiver Identität die schwere, vielleicht allzu schwere Last einer „Verbindung" aufgebürdet, die sich besser als eine Art gegenstrebiger Fügung von Momenten beschreiben ließe, die einander unvermeidlich ins Gehege kommen, ohne dass eines von ihnen in jeder Hinsicht absoluten Vorrang genießen könnte. Zugleich lässt sich keine neutrale Plattform konstruieren, auf der das Zusammenspiel und Davon geht das von Jürgen Straub und mir initiierte Projekt „Lebensformen im Widerstreit" aus: „Die Frage, wie moderne Gesellschaften integriert zu denken sind, hat in den letzten Jahrzehnten die soziologische Diskussion um den viel zitierten ,Wertewandel', um Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse, die sozialphilosophische Diskussion um den sog. Kommunitarismus und historisch-politische Debatten um denkbare Surrogate nationalstaatlicher Identität bestimmt. Dabei ist deutlich geworden, daß weder eine nur anonym-systemische noch eine bloß rechtliche Formierung moderner Gesellschaften eine effektive Bürgschaft für den Fall des Versagens einer zunehmend fragwürdiger erscheinenden sozialen Integration übernehmen kann. Diese Integration kann aber auch nicht durch die Propagierung einer homogenen kollektiven Identität, durch pädagogische Rückbesinnung auf gewisse Tugenden oder auf eine (neo-aristotelische) Ethik des angeblich für alle einheitlich Guten bloß suggeriert oder herbeigeredet werden." Diesseits des abstrakten Gegensatzes von Anomie und (Zwangs- oder Über-) Integration, mit dem man nicht selten noch immer so operiert, als hätten sich die sozialstrukturellen Gegebenheiten seit Dürkheims Zeiten nicht nachhaltig gewandelt, müssen wir nach differenzierteren Formen und Bedeutungen sozialer Integration suchen. (Vgl. die Bestandsaufnahme von Η. H. Bohle, W. Heitmeyer, W. Kühnel, U. Sander, „Anomie in der modernen Gesellschaft", in: W. Heitmeyer [Hg.], Was treibt die Gesellschaft auseinander?, S. 2968.) „ Wodurch, wenn nicht durch ein System von Funktionen oder durch positives Recht, wird sie möglich und bedroht? Worin liegt eigentlich das Moment der Bedrohung?" Liegt sie etwa in der Heterogenität der Lebensformen selber? Oder entsteht dieser Eindruck nur durch einen vorausgesetzten Politikbegriff, der zu dieser - in der „Natur der Sache" Lebensform liegenden Heterogenität bislang kein Verhältnis hat? Vgl. B. Liebsch, J. Straub, „Lebensformen im Widerstreit. Identität und Moral unter dem Druck gesellschaftlicher Desintegration", Jahrbuch 1998/9 - Kulturwissenschaftliches Institut Essen im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen, S. 375-379. Vgl. R. Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfürt/M. 1996, S. 172.

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Gegeneinander dieser Momente so zur Sprache kommen könnte, dass keinem von ihnen Gewalt angetan würde. Die Privilegierung der Rolle des „Staatsbürgers" kann in dieser Hinsicht so wenig als neutral gelten wie die Forderung nach „starken Wertungen" als normativethischer Grundlage eines politischen Gemeinwesens, der sich alle gleichermaßen verpflichtet fühlen sollen. Die derart primär auf „Ethik" oder vorrangig auf „Deontologie" setzenden Vorschläge befinden sich ihrerseits im Widerstreit miteinander und sind in ein polemisches Feld der Auseinandersetzung um die Frage verwickelt, worum es hinsichtlich der „Integration" moderner Gesellschaften etwa vor allem gehen muss. Gegen die Theorie „starker Wertungen" wird argumentiert, sie impliziere illiberale Folgen gerade weil sie letztlich darauf hinauslaufe, aus einem politischen Gefüge eine ethische, umfassende Gemeinschaft 5 6 zu machen. „Dies jedoch würde einer ethisch pluralistischen Gesellschaft differenter Lebensformen nicht gerecht" - vorausgesetzt, wohlgemerkt, es geht in einer solchen Gesellschaft nicht um ein im Sinne des Guten integriertes Zusammenleben, sondern um etwas anderes, nämlich um eine möglichst „formale" Integration, die keinerlei ethische Bevormundung implizieren soll. In dieser Perspektive muss „der gemeinsame Horizont ethischer Werte" wenn es ihn gibt - „einerseits abstrakt genug sein, um keine partikularen, exklusiven Auffassungen des [für alle!] Guten zu verfestigen und für verschiedene Lebensziele offen zu sein, ohne andererseits ,die solidarisierende Kraft der kollektiven Identitätsbildung zu verlieren'". 5 7 Eine rein formale, ethisch indifferente Integration aber wäre zu schwach, um jene heterogenen Momente zusammenzuhalten. Stützt sie sich auf ethische Voraussetzungen, so droht sie mit deren „Partikularität" kontaminiert zu werden. Wenn das unvermeidlich ist, wofür vieles spricht, 58 widerfährt abweichenden Vorstellungen des Guten in ebenso unvermeidlicher Weise Gewalt - eine „strukturelle" Gewalt, die in die Grundlagen der Integration einer Gesellschaft selber eingebaut ist. Wenn es darum geht, eine solche Gewalt so weit wie möglich zu vermeiden, bietet sich als Ausweg die Minimierung der Anforderungen, denen der Begriff der Integration gerecht werden soll, sowie eine Flexibilisierung der Integration an. Ziel gewisser Theorien der „Zivilgesellschaft" sowie „deliberativer Demokratie" ist es in diesem Sinne, „die Vorstellung eines ethisch integrierten politischen Großsubjektes durch die Theorie einer Pluralität demokratischer Formen und Assoziationen zu ersetzen, die in institutionalisierten und nichtinstitutionalisierten politisch-öffentlichen Diskursen argumentativ die Legitimationsfragen behandeln, die in einer pluralistischen und komplexen Gesellschaft regelungsbedürftig sind". 59 Wie problematisch dieser Rückzug auf scheinbar minimale, nämlich auf die Regeln diskursiver Verständigung beschränkte Integrationsanforderungen ist, wird deutlich, wenn man ihn auf die Situation von Lebensformen im Widerstreit bezieht, deren Spannungsverhältnisse ein außerordentliches polemogenes Potential in sich bergen können, das gewiss nicht deshalb einfach unbeachtet bleiben kann, weil es sich womöglich nicht im Diskurs als privile56 57 58 59

Vgl. Ch. Taylor, Hegel and Modern Society, Cambridge 1979, S. 87, 153 ff. R. Forst, Kontexte, S. 422. Ebd., S. 141. Ebd., S. 180.

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giertem Ort der Verständigung zeigt oder austragen lässt. Widerstreit entzündet sich keineswegs nur an strittigen Legitimationsfragen, sondern bereits in der Wahrnehmung des „Regelungsbedürftigen". Hierbei stehen mitnichten nur Geltungsansprüche zur Disposition, sondern auch vorgängige Erfahrungsansprüche auf dem Spiel. Und diese treten wiederum nicht erst im vollen Licht der Öffentlichkeit im engeren Sinne auf. Nehmen wir den zentralen Anspruch jener komplexen Theorie demokratischer Lebensverhältnisse Ernst, der einer Ethik der Nicht-Gewalt bzw. der geringstmöglichen Gewalt verplichtet ist, so wird die Verengung deutlich, die droht, wenn man Gewalt bloß als Missachtung von Geltungsansprüchen definiert. Man kann mit Fug und Recht das Geltungskriterium speziell „negativer" Erfahrungen in der allgemeinen und wechselseitigen Nichtbestreitbarkeit der Ansprüche vermuten, die aus diesen Erfahrungen erwachsen. 60 Aber das setzt voraus, dass diese Erfahrungen zunächst einmal als solche wahrgenommen werden und infolgedessen „zur Geltung kommen" können. Nicht erst die Geltung von Ansprüchen, auch schon ihr Erfahrenwerden ist einer möglichen Strittigkeit ausgesetzt, die sich vielfach als mit unterschiedlichen Lebensformen verknüpft erweisen, welche vielleicht mehr noch als die Horizonte unseres Denkens die Horizonte unserer Erfahrung und Wahrnehmung bestimmen und limitieren. So wenig wie die Ansprüche kommen die Erfahrungen und Wahrnehmungen der einen mit den Erfahrungen und Wahrnehmungen der anderen von sich aus zur Deckung. Die Frage der Gewalt wird selber gewaltsam verkürzt, wenn man den genealogischen Zusammenhang zwischen Erfahrungs- und Geltungsansprüchen unterschlägt. In diesem Zusammenhang ist nirgends ein archimedischer Punkt auszumachen, von dem aus ein unparteilicher Blick auf die Verstrickung der Menschen in einander widerstreitende, schließlich strittige und diskursiv umstrittene Erfahrungs- und Geltungsansprüche sowie auf deren inneren Zusammenhang möglich wäre. Deshalb kommen wir auch nicht an der Frage nach einer Gewaltsamkeit vorbei, die unserer „Perspektive" auf den Zusammenhang von Erfahrungs- und Geltungsansprüchen selber inhärent sein könnte. Erweist sich dieser Zusammenhang aber als „integraler", ohne den strittige Geltungsansprüche gar nicht als Formen verstanden werden können, in denen das strittige Potential einer Erfahrung „zur Sprache" und „zur Geltung kommt", dann muss die Auseinandersetzung mit latenter Gewaltsamkeit und manifester Gewalt jedenfalls auf das ganze hier involvierte Spektrum von „Ansprüchen" ausgedehnt werden. 61 D.h. aber, dass auch die Verwurzelung der Erfahrung in unterschiedlichen Lebensformen neu bedacht werden muss; nur dann nämlich kann 60

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Vgl. ebd., S. 262. Freilich wird die Nichtbestreitbarkeit ihrerseits wiederum nur als „prätendierte" gelten können, die auf zum Teil undurchschaubaren kontingenten und historischen, an Lebensformen gebundenen Voraussetzungen ruht. Aufgrund „unserer" Sozialisation in diesen Lebensformen erscheint es „uns" - was für ein fragwürdiges, niemals gewisses „Wir", das ich hier in Anspruch nehme! - als schlechterdings nicht bestreitbar, daß man niemandem absichtlich Schmerz zufügen soll. Ob das „absolut", gewissermaßen letztinstanzlich zu begründen ist, ist eine andere Frage und wird wohl selbst dann, wenn sie negativ zu beantworten ist, nichts an dieser Position ändern. Zum Begriff des Anspruchs vgl. die ausfuhrlichen Darlegungen von B. Waldenfels, Antwortregister·, Frankfurt/M 1994, bes. Teil II.

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Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

überhaupt in den Blick kommen, inwiefern bereits im genealogischen Zusammenhang der Erfahrung mit der Geltung, die schließlich nach diskursiver Artikulation verlangt, eine gewisse Gewaltsamkeit liegen könnte. Diese Problemstellung betrifft zum einen die Verwurzelung der Erfahrung in Lebensformen; zum anderen betrifft sie die Verhältnisse verschiedener Lebensformen, zwischen denen vielfach unterschiedliche Wahrnehmungen und deren Deutungen so umkämpft sind, dass die einen den anderen bereits auf dem Weg zum Diskurs62 zum Opfer fallen, ohne dass dafür eine Rechtfertigung (oder auch nur eine Möglichkeit der Rechtfertigung) vorläge. Man kann dieses „genealogische Vorfeld", das strittigen Geltungsansprüchen vorausliegt, nicht einfach ignorieren, um jene Theorie einer minimal erforderlichen Integration komplexer Gesellschaften auf gewisse „diskursive Tugenden" und Prinzipien wie die gegenseitige Anerkennung zu beschränken. Muss man einander nicht erst einmal wahrnehmen, um sich gegenseitig - trotz aller Divergenzen - anerkennen zu können? Liegt nicht bereits in der Wahrnehmung Anderer als Anderer, die ihrer Berücksichtigung oder ihrer Einbeziehung in eine diskursive Auseinandersetzung allemal vorausgehen muss, ein unverzichtbares ethisches Moment, das jene Theorie um so weniger übergehen darf, wie sie sich ausdrücklich der Achtung der nicht zuletzt auf heterogene Lebensformen zurückzuführenden Verschiedenheit Anderer verschreibt und nur unter der Voraussetzung dieser Achtung auch gesellschaftlicher Integration das Wort redet? Diese Fragen sind bislang, ungeachtet der Konjunktur, der sich diverse Theorien der Anerkennung immer wieder erfreuen, kaum zureichend aufgeworfen worden. Wenn wir sie stellen wollen, so können wir dies in nicht-anachronistischer Weise nur tun, wenn wir einem tiefgreifenden Formwandel des Sozialen Rechnung tragen, der weder in den Horizont der „Dialektik der Anerkennung" noch in den Horizont ihrer unmittelbaren marxistischen Erben getreten war. Heute können wir nicht länger die Gesellschaft als Ganzes verstehen, die manche zur Zeit der amerikanischen und der französischen Revolution zum eigentlichen „Subjekt" des Sozialen aufrücken sehen, „das den Lebenszusammenhang der Menschen im ganzen organisiert". 63 Dieser Lebenszusammenhang stellt sich uns heute vielmehr als eine Verflechtung einer Vielzahl von Ordnungen unterschiedlichster Niveaus und Größen dar - von der Dyade über einander widerstreitende und sich überlagernde Zugehörigkeiten zu konkreten Kollektiven, mit denen man sich identifiziert, bis hin zu anonymen Systemen, in denen keiner mehr den Anderen kennt. So schwierig im Einzelfall zu beantworten sein mag, was die Zugehörigkeit eigentlich ausmacht, so wenig ist die Relevanz dieser Kategorie selber zu bestreiten. Man braucht sie nicht zu einem Surrogat des Politischen hochzustilisieren; und man muss nicht zwangsläufig einer generellen Ethnisierung der Politik bzw. des Politikbegriffs anhängen, wenn man diese Relevanz anerkennt, die überdeutlich wird, wo die sozialen Formen reflektiert werden, auf denen nicht zuletzt die rechts- und sozialstaatlichen Institutionen ruhen. Dieses Problem betrifft freilich auch das Innere der Lebensformen, ζ. B. dann, wenn jemand für oder anstelle Anderer spricht, ohne sie streng genommen „repräsentieren" zu können Vgl. J. Habermas, Theorie und Praxis. Sozialphilosophische

Studien, Frankfurt/M. 1978, S. 108.

Herausforderungen einer künftigen Philosophie der Lebensformen

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Die nicht zuletzt aus der Erfahrung der Gewalt geborene Einsicht, dass diese Institutionen sich nicht aus eigener Kraft am Leben zu erhalten vermögen und dass sie auch keine Ausfallbürgschaft übernehmen können, wenn die „sittlichen" Lebensverhältnisse erodieren, hat die Frage nach der Möglichkeit einer praktischen Vernunft auf den Plan gerufen, die auf der Höhe der Zeit jenes vielfach diagnostizierten Formwandels ist. Die soziologische Diagnostik belegt weder die ungestörte Fortexistenz einer kollektiven Sittlichkeit noch deren völlige Fragmentierung. Sie passt vielmehr zu jenem Bild einer gegenstrebigen Fügung des Sozialen, das konstitutiv plural, sich widerstreitend und in sich zerstritten erscheint, gleichwohl aber eine Art „Einheit im Streit" darstellt. Was uns verbindet, ist vielfach gerade das, was uns einander „polemisch" entgegensetzt: ungesellige Geselligkeit, zwieträchtige harmonia oder pathologischer Aufruhr (stasis), der die politische Ordnung als noch im Streit gewahrte Einheit bedroht und die Beteiligten eben dadurch wieder zusammenschweißt. 64 So wie Ethik und Deontologie, so treten ethische bzw. kulturelle Zugehörigkeit und politische Mitgliedschaft auseinander und bleiben doch in spannungsreicher Weise aufeinander bezogen. Nicht allein auf Zugehörigkeit zu konkreten Lebensformen kommt es also im sozialen Leben an. Ihr kommt aber - im Gegensatz zum kosmopolitischen Begriff des „Menschen" oder zum Begriff der Rechtsperson - besondere Bedeutung zu, insofern sie in intimer Weise mit der Identität „sozialer" Wesen verknüpft zu sein scheint. Denn nicht als Menschen oder als Subjekte bestimmter Rechte sind wir sozial, im Leben mit und unter Anderen Jemand". „Jemand" - im Sinne der Frage danach, als wer wir uns verstehen sollen - sind wir als dem Leben Anderer Zugehörige oder Unzugehörige. Soziale Identität kann ohne Rückgriff auf diesen, in der Existenz von heterogenen Lebensformen begründeten Kontrast von Zugehörigkeit und Unzugehörigkeit gar nicht artikuliert werden. Der kosmopolitische und der juridische Begriff der Person bleiben auf schlechte Weise abstrakt, wenn sie nicht auf soziale Identität bezogen werden, so wie sie sich entlang kontrastiver Gegensätze zwischen Zugehörigen und Unzugehörigen und in diesem Sinne zwischen „Verschiedenen" formiert. Paradoxerweise sind es stets von Anderen Verschiedene oder sich von Anderen Unterscheidende, denen kosmopolitisch oder rechtlich Gleichheit attestiert wird. Nur Differente können gleich sein, nur Gleiche wirklich als Verschiedene gelten. 65 Erstaunlicherweise gerät aber gerade dies in einem apologetischen Diskurs der Ethnizität häufig völlig aus dem Blick, wenn er sich auf die Beschreibung „kultureller Differenz" beschränkt, so wie sie zwischen verschiedenen, meist als voneinander bereits getrennt vor-

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Vgl. N. Loraux, „Das Band der Teilung" in: J. Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/M. 1994, S. 31-64; J. PatoCka, Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1988, S. 66 ff., 164; A. Finkielkraut, Die vergebliche Erinnerung, Berlin 1989, S. 83 ff.; W. Maihofer, „Realität der Politik und Ethos der Politik", in: K.-O. Apel, M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt/M. 1992, S. 84-126, hier: S. 86. Das heißt nicht, dass „absolute Gleichheit" und „absolute Differenz" in jedem Einzelnen zusammentreffen, wie Habermas immer wieder formuliert, der dabei Differenz bloß als Verschiedenheit fasst. S.u. Kap. 6.

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Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

ausgesetzten Ethnien auffällig wird. Das Loblied auf die interkulturelle Differenz erweist sich als merkwürdig differenzvergessen. Zum einen ignoriert es den Unterschied zwischen radikaler Differenz (Fremdheit) und komparativer Differenz (Verschiedenheit). Zum anderen lässt es zwischen Zugehörigen vielfach alle Unterschiede verblassen. In der Zugehörigkeit, so scheint es, gibt es keine unaufhebbare Ander(s)heit oder Fremdheit. 66 Unter dieser kaum je in Zweifel gezogenen Annahme fällt es leicht, die Sphären der Zugehörigkeit ethisch und ethnisch zu homogenisieren. Das geschieht etwa, wenn sich Maclntyre politische Zugehörigkeit nach dem „vorpolitischen" Vorbild der Familienzugehörigkeit vorstellt. Darin mag man eine gewisse Sentimentalität erkennen - wenn diese Zugehörigkeit tatsächlich, wie vielfach unterstellt, eine ungetrübte „Gemeinschaftlichkeit" repräsentiert, in der eine teleologische Ausrichtung auf ein für alle Gutes, eine gemeinsame Geschichte und nicht zuletzt eine komplette Ethik „of responsibility, bonding, and sharing" sowie „corresponding feelings [such as] love, care, sympathy, and solidarity" zusammentreffen. 67 Dieser philosophische Kitsch bräuchte an sich nicht weiter zu beunruhigen, wenn er nicht in diametralem Gegensatz zum Inhalt jener Apologie stünde: Hier wird nicht über „Differenz" nachgedacht; vielmehr wird sie bis auf einen kümmerlichen Restbestand getilgt. Von Zugehörigkeit reden heißt demgegenüber weder, dass man jegliche Unzugehörigkeit oder radikale Differenz in ihr zum Verschwinden bringen, noch, dass man sie ontologisch festschreiben müsste. Gemäß den Regeln einer bestimmten Lebensform Anderen zuzugehören, bedeutet tatsächlich, dass das eigene Sein mehr oder weniger weitgehend davon durchdrungen wird. Das gerade unterscheidet Zugehörigkeit von einer jederzeit formell aufzukündigenden Mitgliedschaft. Andererseits gibt es keine Zugehörigkeit, zu der man nicht auch ein sie interpretierendes, d.h. hermeneutisch gestaltendes und umgestaltendes Verhältnis hätte. Selbst eine geschichtlich so tief verwurzelte Zugehörigkeit wie die zur eigenen Familie kann am Ende aufgekündigt werden, wenn sie unerträglich wird und dem eigenen Selbstverständnis oder gar der Selbstachtung widerspricht. 68 Zugehörigkeit verpflichtet nicht zu ihrer bedingungslosen Aufrechterhaltung, selbst wenn sie uns im familialen Horizont in schwer zu durchschauende Loyalitäten verstrickt. Und sie zwingt wohl nur im pathologischen Ausnahmefall, wo das familiale System zur geschlossenen Anstalt wird, dazu, sich ganz und gar als Zugehöriger, aber niemandem sonst verbundener „Angehöriger" zu verstehen, dem weder nach außen Beziehungen gestattet sind, noch nach innen Nicht-Beziehung zukommt. Mit anderen Worten: man sollte dem (hobbesianischen) sozialontologischen Erbe, Diese implizite Voraussetzung wäre nicht zuletzt auch identitätstheoretisch zu kritisieren; vgl. v. Verf., „Einleitung. Fragen nach dem Selbst - im Zeichen des Anderen", in: ders. (Hg.), Hermeneutik des Selbst - Im Zeichen des Anderen. Zur Philosophie Paul Ricceurs, Freiburg, München 1999, S. 11-43. Vgl. S. Benhabib, Critique, Norm and Utopia, N e w York 1986, S. 341; C. Offe, „Bindung, Fessel, Bremse. Die Unübersichtlichkeit von Selbstbeschränkungsformeln", in: A. Honneth et al. (Hg.), Zwischenbetrachtungen im Prozeß der Aufklärung, Frankfurt/M. 1989, S. 765. Die Folgen einer „aufgekündigten" Zugehörigkeit werden freilich, um das Mindeste zu sagen, stets einschneidendere sein als in Fällen, wo lediglich eine reversible Mitgliedschaft auf dem Spiel steht.

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das lediglich äußerliche, meist quasi-kontraktuell vorgestellte Beziehungen zwischen sozialen Atomen zu denken erlaubte, anderes entgegensetzen können als bloß eine Ontologie der Zugehörigkeit, die am Ende weder die - bereits bei Hobbes aufscheinende - in keiner Lebensform zu tilgende Fremdheit des Anderen noch eine „Verbundenheit" mit Unzugehörigen zu verstehen erlaubt. Nur wenn man beiden Desideraten Rechnung trägt, fuhrt die Rede von einer „pluralist citizenship" (Walzer) 69 und von mannigfaltigen Zugehörigkeiten, die einander ins Gehege kommen, weiter als nur bis zu einer Ethnologie modernen oder postmodernen Stammeslebens. 70 Gewiss kann man Theorien der Demokratie, die einem demokratischen Ethos auf der Spur sind, das sich mit dem vielfach, allerdings keineswegs einstimmig diagnostizierten Formwandel des Sozialen noch vereinbaren ließe, nicht vorwerfen, es bei einer solchen Position bewenden zu lassen. Sie verknüpfen j a gerade die Beschreibung heterogener Lebensformen mit einer politischen Moral der Anerkennung von Rechten, die ihrerseits nicht ethnisch, mit Rekurs auf Zugehörigkeiten abgeleitet werden. Diese - „weder im kommunitaristischen Sinne ethisch" zu fassende, noch „einer bestimmten Lesart liberaler Theorien zufolge primär nach dem Vorbild der gegenseitigen Anerkennung von Rechtspersonen" zu explizierende - Moral impliziert: „(a) als Reflexion auf den Pluralismus ethischer Gemeinschaften die Toleranz und Respektierung ,differenter' Lebensformen, die durch (b) die gegenseitige Zusicherung subjektiver Rechte geschützt sind; [...] (c) die Anerkennung als gleichberechtigte(r) Teilnehmer(in) an politischen Diskursen, mit dem (oder der) man gemeinsam die Verantwortung flir politische Entscheidungen und deren Folgen gegenüber Mitbürgern wie auch anderen betroffenen Personen übernehmen muss. Schließlich impliziert dies (d), daß kein Mitbürger von der Vollmitgliedschaft in einer politischen Gemeinschaft ausgeschlossen werden darf [...]. Die Ansprüche von Bürgern auf die Anerkennung und Verwirklichung ihrer subjektiven Freiheitsrechte, ihrer politischen und sozialen Rechte [sind] nicht an ein von allen Bürgern geteiltes ethisches Wertsystem gerichtet, sondern richte[n] sich danach, was es in einer Gesellschaft heißt, ,Bürger' zu sein. In der Verwirklichung dieser Dimension von Staatsbürgerschaft besteht das Ethos der Demokratie."7I Hier wird aber immerfort mit zwei Unbekannten operiert: mit dem kaum verstandenen Begriff der Lebensform und mit der noch weniger verstandenen Frage, was es eigentlich heißt, Lebensformen „zuzugehören". Eine ontologische Wendung, die geboten scheint, wenn wir verstehen wollen, wie Lebensformen das Sein derer prägen, die „koexistieren" und deren Leben zusammen Gestalt annimmt, wird dieser Frage nur selten gegeben; vielleicht deshalb, weil man nach wie vor die Berührung mit einer ontologischen Hermeneutik „sozialen" Seins scheut, die sich bekanntlich nicht gerade durch besonderen politischen Scharfblick ausgezeichnet hat. Gemeint ist die in Sein und Zeit entwickelte Hermeneutik des „Mitseins". 69

M. Walzer, Obligations,

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Vgl. H. Bude, „Konstruktionen des sozialen Konflikts", in: H.-J. Giegel (Hg.), Konflikt in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1998, S. 153-172, hier: S. 162. R. Forst, Kontexte, S. 237 f. - Ethik und Politik werden an anderer Stelle, entgegen ihrer konzedierten gegenseitigen Kontamination, freilich doch wieder all zu sehr entgegengesetzt: S. 211.

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Cambridge 1970, S. 219 f.

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Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

Nachdem nun ein ganzes Bündel unterschiedlicher „Herausforderungen einer künftigen Philosophie der Lebensformen" angesprochen worden ist, wende ich mich im folgenden zunächst dieser Hermeneutik auf dem Umweg über die Sozialphilosophie Charles Taylors zu, in der die ontologische Dimension der skizzierten politischen Diskussionslage besonders hervorgehoben wird.

Kapitel 2 Identität und Lebensform: Taylor

Charles Taylor ist einer der wenigen, die Querwege zwischen jener ontologischen Hermeneutik einerseits und sozialphilosophischen, vor allem vom Wittgensteinschen Begriff der Lebensform ausgehenden Ansätzen andererseits zu bahnen versucht haben. Bekanntlich war es Peter Winchs im Jahre 1958 veröffentlichte Schrift The Idea of α Social Science,

durch

die besonders die sozialtheoretische und -philosophische Brisanz des Lebensformbegriffs deutlich geworden ist, der in Wittgensteins Spätwerk zunächst nur in sprachanalytischer Perspektive entwickelt worden war. 1 Winch war es auch, der den Begriff der Lebensform von der Frage her entfaltete, was es heißt, einer Regel zu folgen. 2 Der Regelbegrifif wiederum erwies sich als sozialwissenschaftlich außerordentlich fruchtbar, was sich an einer breiten, inzwischen freilich deutlich abgeschwächten Rezeption 3 der auf Wittgensteins sche Untersuchungen

Philosophi-

zurückgehenden Gedanken zeigte. An dieser Rezeption hat sich neben

Toulmin, Harre, Cicourel, Habermas u. a. 4 auch Charles Taylor maßgeblich beteiligt. Ich

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Zum kulturellen, zeitgeschichtlichen Hintergrund der Rede von Lebensformen bei Wittgenstein vgl. die Hinweise bei A. Janik, S. Toulmin, Wittgensteins Wien, München, Zürich 1987, bes. S. 301-326, sowie die zu Recht geübte Kritik an diesen Autoren bei H. R. Fischer, Sprache und Lebensform. Wittgenstein über Freud und die Geisteskrankheit, Frankfurt/M. 1987, Kap. II. Bis auf den heutigen Tag hat die sozialphilosophische Diskussion im Anschluss an Wittgenstein und Winch die historische Tragweite des Begriffs kaum wahrgenommen. Lehrreich in dieser Hinsicht sind vor allem die Hinweise bei A. Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt/M., Berlin 1973, S. 14 ff., 344 ff., 652 ff., 662 ff. - Inwiefern der platonische Begriff des bios oder der lateinische Begriff der forma vivendi (Cicero) bspw. sozialontologisch und -ethisch heute zu reinterpretieren wären, bedürfte einer eigenständigen Untersuchung. Mit begriffs- und ideengeschichtlichen Reprisen ist es jedenfalls nicht getan, wenn gerade das Profil des „Heute" in Frage steht, das uns möglicherweise zu einem ganz anderen Begriff der Lebensform veranlassen muss. Vgl. in diesem Sinne auch die Übersicht bei E. Martens, „Lebensformen", in: H. Hastedt u. E. Martens (Hg.) Ethik, Hamburg 1994, S. 215-232. P. Winch, Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie, Frankfurt/M. 1974. Vgl. demgegenüber aber J. Straub, Handlung, Kultur, Interpretation, Berlin 1999, wo Winch im Rahmen einer wissenschaftstheoretischen Diskussion der Psychologie wieder zu Ehren kommt. Vgl. u. a. H. J. Heringer (Hg.), Seminar: Der Regelbegriff in der praktischen Semantik, Frankfurt/M. 1974; T. Mischel (Hg.), Understanding Other Persons, Oxford 1974; J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt/M. 4 1977; Α. V. Cicourel, Cognitive Sociology, New York 1974; R. Wiggershaus (Hg.), Sprachanalyse und Soziologie, Frankfurt/M. 1975.

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werde die Geschichte dieser Rezeption an dieser Stelle nicht im einzelnen nachzeichnen, sondern mich auf die Frage beschränken, was Taylor dazu bewogen hat, über Wittgenstein hinaus auf Sein und Zeit zurückzugreifen - mit der Folge, dass der Begriff der Lebensform gewissermaßen eine ontologische Färbung erhält. Es wird sich allerdings zeigen, dass hinsichtlich der Frage, was die Zugehörigkeit zu Lebensformen im „sozialen Sein" eigentlich ausmacht, dabei wichtige Momente verlorengegangen sind, die in einem Vergleich von Heidegger und Wittgenstein wieder in Erinnerung zu bringen sind (Kap. 3). Erst danach wird die Frage wieder aufzuwerfen sein, was es heißt, von Lebensformen im Widerstreit zu reden (Kap. 4).

2.1 Wer-Fragen - im Ausstand Nicht erst in seiner groß angelegten, unter dem Titel Sources of the Self veröffentlichten Forschung nach Ursprüngen moderner Identität, auch schon in früheren Schriften hat sich Taylor mit dem Problem auseinandergesetzt, wie sich unter neuzeitlichen, noch heute geltenden Bedingungen eigentlich die Frage danach beantworten lässt, wer wir sind. Taylor beschäftigt sich zunächst nicht mit denkbaren inhaltlichen Antworten, sondern mit den historischen Voraussetzungen, unter denen diese Frage virulent wird und die eine Art geschichtliches Apriori möglicher Antworten darzustellen scheinen. Ein erstes Ergebnis dieser Überlegungen lautet, dass diese Frage gleichzeitig mit einer weitgehenden Entsicherung traditioneller Antwortmöglichkeiten in aller Schärfe hervortritt. Die Geschichte dieser Frage ist vom ständigen Ausbleiben, vom Ausstand „definitiver" Antworten gezeichnet. Erst im Lichte dieses ständigen Ausstands erfahrt sie eine Zuspitzung, die uns daran zweifeln lässt, ob sich Menschen unter „prä-modernen" Bedingungen überhaupt jemals radikal mit der Frage konfrontiert sahen, wer sie sind. Für die Entsicherung möglicher Antworten werden mehrere Gründe genannt: Erstens die Erosion ökonomischer Lebensformen, die scheinbar eindeutig vorzeichneten, was die Soziologen als „Rollenidentität" bezeichnen. 5 Wo durch den Nomos praktischen Zusammenlebens und -arbeitens nicht mehr eindeutig vorgegeben wird, was man zeit seines Lebens angesichts Anderer zu tun hat, findet die Wer-Frage an einer „georteten" Ordnung des Zusammenlebens bestenfalls noch einen geschwächten, aber keinen zureichenden Anhalt mehr. Zweitens erfahrt die Deutung aller Ordnungen des Zusammenlebens eine nachhaltige Deteleologisierung.6 Selbst eine beschränkte familiale Ökonomie - von umfassenderen kollektiven Le-

Angesichts einer überbordenden Literatur müssen an dieser Stelle zwei Hinweise genügen: vgl. M. Kessel, „Neuzeit", in: P. Dinzelbacher (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, Stuttgart 1993, S. 38-53; J. Habermas, Kultur und Kritik, Frankfurt/M. 1973, Kap. 6 und 7. Auf den Befund, dass dieser Prozess mit der Heraufkunft eines neuzeitlichen Natur- und Ordnungsverständnisses überhaupt sowie mit einem entsprechend transformierten Verständnis der staatlichen Einbettung von Lebensformen verknüpft ist, ist oft hingewiesen worden; vgl. dazu H.

Identität und Lebensform: Taylor

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benszusammenhängen ganz zu schweigen - gibt dem nach klassischer Auffassung unweigerlich „despotischen" Haushaltsvorstand nicht mehr schicksalhaft vor, als wer er sich auf Lebenszeit zu verstehen hat. Der damit auch Frauen und Kindern freigegebene hermeneutische Spielraum gestattet eine Arbeit am eigenen Selbstverständnis, die das Telos der familialen Ökonomie nicht unberührt lassen kann. Eine ungebrochene familiale Rollenidentität erscheint nun im nachhinein als eine Form der Zwangsintegration, welche die Frage, wer man ist, im Leben gemäß dem teleologischen Sinn der jeweiligen Lebensform aufgehen ließ. Was man als Emanzipation der Frau und gelegentlich auch des Mannes bezeichnet hat, hat die Einheit der Wer-Frage mit dem teleologischen Sinn familialer Lebensformen (um beim Beispiel zu bleiben) endgültig zerbrechen lassen. Drittens geraten alle Lebensformen im Zeichen der Moderne in den Sog einer Temporalisierung, die sie auf den Primat ihrer Funktionalität fur einen beschleunigten Systemwandel hin ausrichtet.7 Wo diese Funktionalität nicht gewährleistet wird, erfahren die Lebensformen früher oder später eine nachhaltige „Anachronisierung". Sie driften ins Unzeitgemäße ab, werden vom beschleunigten Systemwandel nach und nach entkoppelt und schließlich „überholt". Sie drohen an ihrer eigenen Unzeitgemäßheit zugrundezugehen, wenn sie sich nicht dem Imperativ ihrer Systemfunktionalität unterwerfen, um ihre Form flexibel anzupassen oder umgestalten zu lassen. Nicht nach einer vorgegebenen Zugehörigkeit zu überkommenen Lebensformen darf sich fortan der Lebensentwurf der Einzelnen richten; sie müssen im Gegenteil ihre Existenz als temporalisiertes „Fortkommen" begreifen, das nur dann gewährleistet ist, wenn man bereit ist, ihm gegebenenfalls die eigene Zugehörigkeit zu opfern. Die Lebenswege der einzelnen werden nicht länger vom Horizont überkommener Lebensformen vorgezeichnet;8 Lebensformen gelten selber bloß noch als Stationen, auf denen sich - viertens - individualisierte Trajektorien von Lebensbahnen treffen, vorübergehend verknäueln und schließlich wieder voneinander lösen, um neue Anpassungen an die Forderungen zu ermöglichen, die das System einer schließlich universalisierten Ökonomie stellt.9

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Münkler, Im Namen des Staates, Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M. 1987, S. 132 ff., 188 ff. Vgl. N. Luhmann, „Weltzeit und Systemgeschichte", in: Η. M. Baumgartner u. J. Rüsen (Hg.), Seminar: Geschichte und Theorie, Frankfurt/M. 2 1982, S. 337-387; ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, Frankfurt/M. 1980, Kap. 4. Vgl. H. Rosa, „Kapitalismus und Lebensführung", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47, Nr. 5 (1999), S. 735-758, hier: S. 737. Zweifel daran, dass Lebensformen unter dem Druck jener Prozesse tatsächlich mehr oder weniger frei „zur Wahl stehen", wie oft unterstellt wird, sind allerdings angebracht. Vgl. dazu den der Psychologie von William James entlehnten Begriff der „life options" bei A. Margalit (Babylon 19 [1999], S. 106 ff). Dieser hier nur en passant angesprochene Zusammenhang tangiert nicht zuletzt die Auflösung eindeutiger Korrelationen von Klassenlagen und Lebensformen oder Weisen der „Lebensführung" (Max Weber). Zur soziologischen Diagnostik dieser Entwicklung vgl. U. Beck, Die Erfindung des Politischen, Frankfurt/M. 1993, S. 72 ff, sowie den Überblick bei M. Garhammer, „Das Leben: eine Stilfrage", Soziologische Revue 23 (2000), S. 296-312. Bezeichnend ist hier die weitgehende Verschiebung von der Frage, in welchen Formen man (zusammen) lebt und worum es dabei geht, hin zur Beschreibung dessen, wie gelebt wird. Die Begriffe Lebensform und Lebensstil werden

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Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

Dieses System hat längst den Rahmen anschaulicher familialer Ordnungen und selbst nationaler Ökonomien überschritten.10 Es hat diese Ordnungen zwar nicht einfach zerstört und gesprengt; doch es durchdringt sie überall und macht sich mit unnachsichtiger Autorität als die letzte Maßgabe aller Lebensformen geltend: Sie alle sind dazu verurteilt, sich einer globalisierten Ökonomie zu fugen, die von sich aus auf keinerlei Zugehörigkeit mehr irgendeine Rücksicht nimmt. Wo die Ökonomie bedingungslos die Anpassung, Deformation, Fragmentierung und Temporalisierung der Lebensformen verlangt und die Einzelnen auf eine unvorhersehbare Reise durch verschiedene Lebensformen schickt, gibt es - extrapoliert man die Richtung der Temporalisierung - am Ende keine parallelen Lebenswege mehr.11 Selbst der uralte Chronotopos des Lebensweges selber wird fragwürdig.12 Genügt nicht dort, wo sich die Trajektorien der Einzelnen treffen, ein situationistisches Verständnis dessen, wer man ist?13 Bedarf es überhaupt noch einer „lebensgeschichtlichen" Darstellung, die narrativ den inneren Zusammenhang eines „Lebens im ganzen" zu rekapitulieren vermöchte? Eben davon ist Taylor offenbar unbeirrt überzeugt und widersetzt sich deshalb einer Auflösung von Identität in momentanen, passageren Konstellationen, die die entsprechend geschrumpften „Orte" des Zusammenlebens rückhaltlos der Herrschaft einer temporalisierten Zeit zu überantworten scheinen. Nach klassischem hermeneutischen Verständnis hat das, worauf die Frage nach dem Wer abzielt, das Selbst, an sich einen solchen „Lebenszusammenhang"; das Selbst vollzieht sich als ein solcher Zusammenhang und wird nicht nur nachträglich entsprechend narrativ rekapituliert.14 Aber kann man unter den hier lediglich angedeuteten modernen Bedingungen 15 davon von daher vielfach synonym verwendet. Man konzentriert sich auf Fraggen der „methodischen" Lebensführung und der individuellen Expression, aus der durch Selbststilisierung „symbolisches Kapital" zu schlagen ist. Worum es dabei geht, so wird vielfach unterstellt, ist, auf dem Markt zu bestehen, der die Gesetze der sozialen Kapitalbildung vorschreibt. Dem steht in der Philosophie eine überwiegend neoaristotelische Rückbesinnung auf die Frage nach dem guten als Leben als dem Worumwillen eigenen Lebens gegenüber. Der Begriff des Eigenen wird dabei vielfach als unproblematisch vorausgesetzt. Widerstreit, (radikale) Differenz und Gewalt tauchen kaum auch nur als Problemtitel auf, wo die Frage nach individuellen „Sinnbedürfnissen" und „Lebenskonzeptionen" ganz im Vordergrund steht. So wird die Rede von einer „Pluralität" von Lebensformen, die diese Frage in einer unüberschaubaren Vielzahl möglicher Antworten aufzulösen drohen, allzu leicht zum bloßen Euphemismus. 10

11 12 13 14

15

Vgl. G. Bien, „Die aktuelle Bedeutung der ökonomischen Theorie des Aristoteles", in: B. Biervert, K. Held u. J. Wieland (Hg.), Sozialphilosophische Grundlagen ökonomischen Handelns, Frankfurt/M. 1990, S. 33-64. Vgl. v. Verf., Geschichte im Zeichen des Abschieds, München 1996, bes. S. 132 ff. Vgl. M. Bachtin, Formen der Zeit im Roman, Frankfurt/M. 1989. Vgl. K. J. Gergen, The Saturated Self, Basic Books 1991. Vgl. D. Carr, Time, Narrative and History, Bloomington 1986, mit Bezug auf Dilthey, Heidegger, Merleau-Ponty und Ricoeur v. Verf., Geschichte im Zeichen des Abschieds, Kap. II/A, 1, sowie v. Ver.f., „Einleitung. Fragen nach dem Selbst - im Zeichen des Anderen", in: ders. (Hg.), Hermeneutik des Selbst - Im Zeichen des Anderen. Zur Philosophie Paul Ricceurs, Freiburg, München 1999, S. 11-43; J. Straub (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein, Frankfurt/M. 1998. Auf weitere Bedingungen wird am Ende dieses Kapitels einzugehen sein.

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Identität und Lebensform: Taylor

ausgehen, dass ein solcher Lebenszusammenhang nicht nur in diachron-temporaler, sondern auch in synchron-sozialer Hinsicht noch unangefochten zur Geltung kommen kann? Würde das nicht voraussetzen, dass das Selbst in jedem Fall auch unter diesen Bedingungen noch einen sozialen Ort hat, der seiner Verwurzelung in Lebensformen entspricht? Steht nicht gerade das in Frage? Muss eine Philosophie des Selbst nicht dessen brüchig gewordener Situierung Rechnung tragen? Genau das versucht Taylor zwar einerseits in Quellen Selbst,

des

hält es andererseits aber fur einen Irrtum, wenn man annimmt, die „modernen" Be-

dingungen der Existenz dessen, worauf unser Wer-Fragen abzielt, erforderten in Wahrheit, ein „ungebundenes" Selbst zu denken. Taylors Philosophie kreist im Gegenteil um den Begriff eines unweigerlich radikal situierten

Selbst, der besagt, dass die Frage danach, wer wir

jeweils sind, ohne Bezug auf die Lebensformen, denen wir zugehören, gar keinen rechten Sinn ergibt. Die Radikalität der „sozialen" Situierung liegt für Taylor nicht darin, dass wir auf Gedeih und Verderb einer Lebensform zugehören, oder darin, dass wir zur Aufrechterhaltung einer (guten oder idealen) Lebensform ohne Einspruchsmöglichkeit irgendwie verpflichtet

sind, 16 sondern zunächst in einer unhintergehbaren hermeneutischen Kontextua-

lisierung des Selbst. Selbst die kritische, vermeintlich alle Brücken zur eigenen Vergangenheit abbrechende Abstandnahme von Lebensformen vermag demnach nicht völlig die Bezogenheit auf sie zu tilgen. 17 Das Selbst bleibt bis zuletzt und in den Augen Anderer selbst Uber den Tod hinaus ein durch und durch, d.h. konstitutiv

relationales,

das nur im kontextuellen

Geflecht seiner vielfachen sozialen Bezogenheit existiert. 18 Auch die kritische Distanzierung, 16

17

18

Diesen Schluss aus einer ontologischen radikalen Situierung des Selbst scheint M. Sandel ziehen zu wollen; vgl. Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1982, S. 20 ff. Nur als ein Grenzfall lässt sich eine scheinbar gegen Andere völlig „gleichgültige" und insofern „beziehungslose" Bezogenheit denken. Diese These lässt sich verteidigen, auch wenn man nicht der Überzeugung ist, das Selbstsein könne je in den Geflechten seiner regionalen Koexistenz mit Anderen „aufgehen". Die betonte Regionalität sozialer Koexistenz schließt weder eine innere Unzugehörigkeit noch eine SelbstFremdheit aus. Allerdings liest sich Taylors Plädoyer für ein situiertes Selbst stellenweise als Apologie eines stets exklusiven, territorial fixierten Nomos der Lebensformen, die so weder als nomadisch, noch als nach innen sich selbst fremd, noch auch als nach außen geöffnet vorzustellen sind. Demgegenüber ist die Rede von einer situierten Bezogenheit auf Andere (die auch bei im weitesten Sinne nomadischen Lebensformen vorliegt) aber keineswegs im Sinne einer territorialen Fixierung zu verstehen, sondern als ein Existenzial, das nicht konkretistisch mit bloßer Ortsgebundenheit zu verwechseln ist. Mit anderen Worten: Auch in Lebensformen, die sehr weitgehend ortsungebunden zu sein scheinen, liegt eine situierte Bezogenheit auf Andere vor. Wie sie sich konkret ausprägt, ist eine andere Frage. Dass die Bezogenheit auf Andere sich nicht allein nach sozialer Zugehörigkeit richten kann, sondern auch Fragen der rechtlich geregelten Mitgliedschaft, aber auch radikale ethische Fragen der Verantwortung für die Unzugehörigen aufwirft, die an den jeweiligen situierten Lebensformen nicht teilhaben, wird später deutlich werden. Wer dem Anderen, jedem Anderen, eine radikale Anderheit und nicht nur eine auf die eigene Existenz relative Verschiedenheit oder Differenz zugesteht, muss jedenfalls auch einer radikalen Welt-Fremdheit und Ort-Losigkeit Rechnung tragen, die nichts damit zu tun hat, ob die einen etwa sesshaft sind und die anderen nicht. Mit Blick auf Heidegger und Levinas, der von einem „Aufenthalt ohne Ort" spricht und der Sozialontologie des Mitseins vorwirft, die vom

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Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

die Verachtung und selbst der Bruch sind als verschiedene, nur hermeneutisch darstellbare Weisen zu verstehen, in denen diese Bezogenheit konkret Gestalt annimmt. So gesehen steht der Begriff der Bezogenheit für ein - manchmal sehr brüchiges - Geflecht der Koexistenz, ohne das es kein Selbst geben kann. Von einer konstitutiven sozialen Bezogenheit des Selbst in diesem Sinne zu reden, bedeutet nicht, es ohne Wenn und Aber im Horizont einer Lebensform eingeschlossen zu denken, die es mit Anderen teilt, läuft aber, nach Taylors Auffassung, auf eine gewisse Regionalisierung des Selbst hinaus, das niemals konkret auf alle Anderen bezogen existieren kann. „Ich definiere, wer ich bin, indem ich den Ort bestimme, von dem aus ich spreche: meinen Ort im Stammbaum, im gesellschaftlichen Raum, in der Geographie der sozialen Stellungen und Funktionen, in meinen engen Beziehungen zu den mir Nahestehenden [...]." 19 Aber kann man überhaupt ohne weiteres an einem Ort sein und ihn gleichzeitig zur Sprache bringen? Taylor, der von Situierung im Sinne der Zugehörigkeit zu Lebensformen spricht, weiß, dass man seiner eigenen, geschichtlich und psychodynamisch tief „verwurzelten" Zugehörigkeit nicht reflexiv inne werden kann. Was sie ausmacht, kann man gewiss nicht im ganzen zur Sprache bringen. So wird sich der thematisierte „Ort" niemals mit dem Ort decken können, von dem man im Prozess der Thematisierung selber ausgeht. 20 Insofern wird die Rede über unsere Zugehörigkeit stets gleichsam gegen sich selbst verschoben, ana-topisch sein müssen. Und diese innere Orts-Verschiebung wird alle unsere Verhältnisse sowohl zu Zugehörigen als auch zu Unzugehörigen tangieren, die anders situiert leben.

Anderen als Fremdem her zu begründende Ethik zu vergessen, wird auf diesen Problemkreis wiederholt zurückzukommen sein. Taylors Anleihen bei dieser Ontologie lassen von deren ethischer Kritik (die hier nichts mit einer Teleologie des Guten zu tun hat) rein gar nichts ahnen. Vgl. E. Levinas, Eigennamen, München, Wien 1987, S. 37; Schwierige Freiheit, Frankfurt/M. 1992, S. 173 ff. Weiter heißt es: „und [...] im Raum der moralischen und spirituellen Orientierung, in dem ich die für mich wichtigsten definierenden Beziehungen durch das Leben selbst herstelle". Ch. Taylor, Quellen des Selbst, Frankfurt/M. 1996, S. 69 (fortan zit. mit der Sigle QS). Das lässt darauf schließen, dass Identität bzw. Selbst-Sein doch nicht restlos in den Ordnungen der Zugehörigkeit aufgeht. In jener Orientierung kann schon die Quelle der Dissidenz liegen; doch kann diese sich nicht auf eine im Lichte der „Menschheit" etwa definierte Identität stützen, denn diese müsste nach Taylors Prämissen der sozialen Konturlosigkeit verfallen. Vgl. dazu B. Waldenfels, Topografie des Fremden, Frankfurt/M. 1997, Kap. 9.

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2.2 Exklusive Weltverhältnisse? Wenn die Frage, wer wir sind, nur nach Maßgabe unserer Zugehörigkeit zum Leben mit und unter Anderen konkret Gestalt annimmt, die den Ort (oder vielmehr die Orte) unserer Identität ausmacht, so muss man zugeben, dass in dieses Leben nicht alle Anderen eingeschlossen sein können, wenn es nicht jegliche soziale Kontur einbüssen soll. Ich bin jemand auf der Folie meiner Zugehörigkeit zu Anderen, von der andere Andere ausgeschlossen sind - aus welchen Gründen auch immer. 21 Vor dem Hintergrund der Nicht-Zugehörigkeit der anderen Anderen nimmt meine Zugehörigkeit soziale Konturen an. Die konkrete „soziale Welt" des situierten Selbst umfasst niemals alle Menschen. Umgekehrt erfasst aber die Situierung die Welt der Zugehörigen radikal. Es gibt nicht die Welt und außerdem noch etwas, was ihr einen lokalen sozialen Anstrich verleihen würde. Weder der Kosmos noch die Erde noch gar eine cartesianische res externa oder, mit Husserl zu reden, eine „Schicht" nackter Dinglichkeit behauptet eine ontologische Unabhängigkeit oder Irrelativität gegenüber der „sozialen Welt". 22 Die Welt erscheint von Anfang an als soziale, als Welt-für-uns, d.h. fur die Zugehörigen, so dass die Selektivität und Exklusivität der Zugehörigkeiten auf die Weltverhältnisse der Menschen durchschlagen muss. Wer derselben Lebensform zugehört wie Andere, lebt in derselben sozialen Welt; Nicht-Zugehörige scheinen in einer „anderen Welt" zu leben. Von hier aus ist es nur noch ein Schritt zu einer Position, die „inkommensurablen" Welten und entsprechend blockierten Verständigungsverhältnissen zwischen einander nicht Zugehörigen das Wort redet. Eine solche Position lässt sich aber gewiss nicht halten, wenn man den Gedanken der Verflechtung von Lebensformen Ernst nimmt. Ich möchte auf diese Fragen aber erst später eingehen und mich an dieser Stelle auf Taylors hermeneutische Folgerungen aus dem Begriff des situierten Selbst konzentrieren. Soziale Zugehörigkeit, glaubt Taylor, imprägniert die Welt, in der man mit und unter Anderen „engagiert" lebt. Zu sagen, dies sei die Welt, in der jemand lebe, bedeutet, dass wir ihn in dieser Welt situiert verstehen. Situiert können aber nur verkörperte bzw. „leibhaftige" (iembodied) Subjekte sein. Die Leibhaftigkeit widerspricht einem „view from nowhere" (Th. Nagel); sie schreibt nicht vor, wo man zu sein hat, wohl aber dass man irgendwo sein muss und dass man sich nur von einem Ort zum anderen bewegen kann. 23 Das Selbst existiert niemals ortlos. Das Verdienst, diesen elementaren Gedanken für die Praktische Philosophie rehabilitiert zu haben, schreibt Taylor Heidegger und Wittgenstein zu. „Both Heidegger and Wittgenstein had to struggle to recover an understanding of the agent as engaged, as embedded in a culture, a form of life, a ,world' of involvements, ultimately to understand the agent as embodied." Taylor spricht von einer „,world shaped' by embodiment". 2 4 Die Welt lässt sich ohne die leibhaftige Situierung der in ihr Lebenden nicht denken. Und umgekehrt lässt sich die Erfahrung des Selbst nur vor dem Hintergrund „seiner" Welt verstehen. „To say that Gemeint ist nicht, dass ein aktiver Ausschluss erfolgt sein muss. 22

Vgl. E. Husserl, Erfahrung und Urteil, Hamburg 1985, S. 54 f.

23

Vgl. Th. Nagel, Mortal Questions, Cambridge 1979, S. 208. Ch. Taylor, Philosophical Arguments, Cambridge, London 1995, S. 61 f.

24

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this world is essentially that of this agent is to say that the terms in which we describe this experience [...] make sense only against the background of this kind of embodiment."25 Hier geht es Taylor zunächst vor allem um die Verständlichkeit des Tuns Anderer. Die „conditions of intelligibility" liegen in der Relation Verkörperung-Welt, die der Begriff der Situierung zum Ausdruck bringt. Der Kontext der Verständlichkeit ist freilich nicht gleichmäßig strukturiert. Manches tritt als „prägnant" Verständliches, um einen gestaltpsychologischen Ausdruck zu benutzen, aus ihm hervor, um den Preis, dass anderes im gleichen Zug in den Hintergrund treten muss. Dieses „Gesetz" der Verständlichkeit, die als ihre Kehrseite unweigerlich eine gewisse (relative) Nicht-Verständlichkeit impliziert, bedeutet, „that the idea of making the background completely explicit, of undoing its status as background, is incoherent in principle".26 Praktisch ist nichts außerhalb seines Kontextes überhaupt verständlich; und nichts ist innerhalb seines Kontextes völlig verständlich. Wir verstehen nie „ganz", wenn und insofern zum Verstehen dasjenige gehören muss, was im Verstehen von etwas als etwas in den „Hintergrund" drängt, wie dieses „etwas" anders zu verstehen wäre. Bestenfalls ließe sich hier eine Alternanz denken: dieses etwas einmal als dieses, einmal als anderes verstehen. Wenn aber beide „Hinsichten" zum Wesen der jeweils im Verstehen erschlossenen Sache zu gehören versprechen, muss jede von ihnen zugleich die Erschlossenheit der Sache als ganzer durchkreuzen und sich als ein solches Durchkreuzen zu erkennen geben. Diese Überlegungen, die von der signifikativen Differenz, welche in der Erfahrung von etwas als etwas liegt,27 auf die Spur eines bereits fur den Prozess der Wahrnehmung konstitutiven Widerstreits fuhren, verfolgt Taylor nicht weiter. Er begnügt sich damit, unter Verweis auf Heidegger zu unterstreichen, dass dieses Verstehen von etwas als etwas unhintergehbar zu sein scheint. Man kann mit anderen Worten stets anders verstehen, aber nicht aus dem Verstehen überhaupt aussteigen, um sich eine nicht-verstandene Welt zu erschließen. Auf privativem Wege ist der Gedanke einer solchen Welt möglich, aber er wird niemals auf die Spur dessen führen, wie „uns" Welt ursprünglich begegnet: als „world ready to hand" bzw. als Horizont des Erscheinens, in dem die Bewandtnis der Dinge Gestalt annimmt.28 Genau in diesem „uns" liegt aber die Crux. Ist „unsere" Welt „die" Welt? Für Taylor offenbar nicht. Den Begriff der Welt führt er als „Kontext der Verständlichkeit" ja gerade ein, um heterogene Kontexte voneinander unterscheiden zu können. Dieses Problem besteht überhaupt nur, weil wir, hermeneutisch gesehen, nicht ohne weiteres davon ausgehen können, in einer Welt zu leben. Dem entsprechend glaubt sich Taylor auf Wittgensteins Philosophische Untersuchungen berufen zu dürfen. Nachdem Wittgenstein sich gezwungen sah, seine frühe Abbildtheorie der Sprache aufzugeben, die von einer Welt nur um den Preis ausgehen konnte, dass das Problem der Verschiedenheit der Sprachen und der Kontexte ihrer Verwendung 25 26 27 28

Ebd., S. 62. Taylor, Philosophical Arguments, S. 69. Vgl. B. Waldenfels, Der Spielraum des Verhaltens, Frankfurt/M. 1980, S. 86. Heidegger hat so wenig wie Husserl die Welt selbst j e als „zuhandene" gedacht, wie es Taylor nahelegt (Philosophical Arguments, S. 73).

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ignoriert wurde, rekurrierte er in seinem Spätwerk bekanntlich auf den Kontext des Sprachgebrauchs als das, was mangels einer „Isomorphie" mit der Welt allein noch die Verständlichkeit dessen, was Menschen sagen, schien garantieren zu können. Als unmittelbarer Kontext figuriert in Wittgensteins Analyse das Sprachspiel, als weiterer Kontext die Lebensform, von der jedes Sprachspiel ein Teil sein soll.29 Die Parallele zu Heidegger sieht Taylor darin, dass sich mit beiden, mit Heidegger und Wittgenstein, für eine unhintergehbare Kontextualisierung bzw. Situierung argumentieren lässt: für die Situierung des Selbst in einer ihm und Anderen - aber vermutlich nicht allen Anderen - verständlichen Welt einerseits, für die Kontextualisierung der Sprache bzw. dessen, was mittels der Sprache geschieht (Ausdruck, Verstehen, Verständigung), andererseits.

2.3 Kontextualisierung und Situierung Offen bleibt aber, wie Kontextualisierung und Situierung - etwa im Sinne der Verständigung über etwas mit Anderen, mit denen man in einer Welt von Lebensformen ko-existiert - zusammenhängen: Wittgenstein spricht nicht von einem Selbst-Sein oder von einer „ontologischen" Relationalität zwischen Selbst und Welt. Und ungewiss bleibt, inwiefern die Kontextualisierung von Bedeutungen jeweils „Welten" vorzeichnen kann.30 Hat umgekehrt Heidegger dort, wo er das Sein des Selbst (als Antwort auf die Frage Wer?) einem Mitsein einschreibt, überhaupt soziale Lebensformen im Auge? Diese Frage bräuchte sich Taylor gar nicht zu stellen, und er müsste gar nicht auf den „Umweg" über eine Ontologie des Mitseins verweisen, wenn sich ein sozialphilosophischer Begriff der Lebensform hinreichend sprachanalytisch explizieren ließe. Davon ist Taylor aber offenbar nicht überzeugt. Sobald man nicht nur Bedeutungen, die kontextualisiert zur Sprache kommen, sondern auch die Existenz derjenigen in Erwägung zieht, die sich in ihrem Sagen, d.h. indem sie etwas zur Sprache bringen, über etwas in der Welt, über sich und die Anderen verständigen, drängt sich die weitergehende Frage auf, was es hinsichtlich dieser Existenz selber bedeutet, von einer unhintergehbaren Situierung zu sprechen. Als „situiert" hat nach Taylors Auffassung nicht allein das Sagen oder das Gesagte, sondern vor allem das menschliche Leben selber zu gelten. Taylor schließt sich nicht denen an, die die Sprache diskurstheoretisch derart verselbständigen, dass sich der Gedanke, in ihr komme etwas zur Sprache, was nicht immer schon „Sprache ist, gar nicht mehr denken lässt. Taylor folgt mit Nachdruck der von ihm herausgestellten, auf Herder zurückgehenden Tradition des „Expressivismus" (I. Berlin), die Sprache als Zur-Sprache-Kommen und Existenz als ihr Anderes begreift, das dessen bedarf,

Die notorische Unklarheit beider Begriffe kommt weiter unten zur Sprache. Wenn sich eine segmentierte Vorstellung verschiedener und voneinander geschiedener sozialer Welt nicht halten lässt, dann wird es unter Taylors Prämissen auch mit separierten Formen der Koexistenz in Lebensformen nicht weit her sein.

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gesagt zu werden. 31 - Für den Begriff der Existenz tauchen bei Taylor verschiedene Äquivalente auf: Selbst, menschliches Leben, Dasein. In Quellen des Selbst wird besonderes Gewicht auf den Umstand gelegt, „daß das Dasein als Selbst nicht zu trennen ist von der Existenz in einem Raum moralischer Probleme, wobei es um Identität geht und darum, wie man sein sollte. Ein solches Dasein heißt: imstande sein, den eigenen Standpunkt in diesem Raum ausfindig zu machen, heißt: imstande sein, in diesem Raum eine Perspektive einzunehmen, ja eine solche Perspektive zu sein,"32 Die Kursivierung wird sodann erläutert mit dem Hinweis, gerade das sei es, „worauf Heidegger mit seiner bekannten Äußerung Uber das Dasein" hinauswolle, „wenn er sagt, es sei ein ,Befragtes'. Das Dasein, schreibt er, sei ,ein Seiendes', und es sei ,dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht'." 33 Das ist für Taylor keine existenziale Tautologie. Dem Dasein geht es nicht um das, was es an ihm selbst ohnehin schon ist. Es „ist" vielmehr nur in der Weise eines ständigen Geschehens, das auf etwas aus ist, was dieses Geschehen aus sich heraus gerade nicht „ist" oder „hat" - schon gar nicht in der Weise des Verfugens. Dasein verfugt nicht über das, worauf es als Dasein eines Selbst aus ist: Identität im Sinne des Sich-Verstehens. Selbst-Sein setzt in der Diaspora des Sich-nicht-Verstehens ein: es existiert zunächst in der Verlorenheit seiner selbst und erfährt sich von Anfang an als dazu bestimmt, einen Ausweg aus dieser SelbstVerlorenheit zu finden. Die Erfahrung des Sich-nicht-Verstehens lässt sich ohne dieses vorausgesetzte Urmotiv des Selbst-Seins nicht als solche beschreiben. Ungeachtet dieses Motivs kann aber das Selbst niemals ein Bestand sein. Das Sich-nicht-Verstehen versteht sich als die Unfähigkeit, auf die Frage, wer man ist, angemessen Antwort zu geben. 34 Das treibt die Suche nach möglichen Antworten an. Aber das Selbst existiert gerade als diese Suche, der sich eine endgültige, definitive Antwort immerfort entzieht. Würde man „Identität" also als eine solche, affirmative Antwort verstehen wollen, so müsste man annehmen, dass in ihr die Existenz des Selbst aufgehoben wäre. Es würde dann nicht mehr in der Weise der Suche existieren. Was Taylor als die „Perspektive" bezeichnet, die man ist, steht aber gerade nicht für die Gewissheit einer solchen Identität, sondern für die ständige, das eigene Leben wie ein basso continuo begleitende Erfahrung, Quelle des Fragens nach Identität zu sein. Dieses Fragen entfaltet sich in verschiedene Richtungen: temporal-diachron als Fragen danach, woher man kommt und wohin uns die Zukunft führt; sozial-synchron als Fragen danach, wie und wozu man mit und unter Anderen leben soll. Jede dieser Fragen lässt sich ihrerseits

31 32 33 34

Vgl. QS, S. 328; C. Taylor, Hegel, Frankfurt/M. 1978, S. 28. QS, S. 209. Ebd.; vgl. auch M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1 5 1984, S. 12. Man mag eine Antwort geben können, aber nicht die Antwort auf die Frage, wer man in Wahrheit ist. Aus Heideggers Sicht existiert das Selbst „gleichursprünglich" im Wahren und Unwahren, so aber, dass ihm die Wahrheit nicht gleichgültig sein kann; vgl. v. Verf., „Selbstheit und Bezeugung. Soi-meme comme un autre als Antwort auf Sein und Zeit", in: A. Breitling, S. Orth u. B. Schaaff (Hg.), Das herausgeforderte Selbst. Perspektiven auf Paul Ricaurs Ethik, Würzburg 1999, S. 157-177.

Identität und Lebensform: Taylor

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wiederum unterschiedlich explizieren und verstärkt auf diese Weise von vornherein die Disparatheit aller möglichen Antworten. So kann die Frage Wie? ästhetisch, ethisch oder moralisch akzentuiert werden; und die Frage Wozu? muss durchaus nicht in die Rhetorik der berüchtigten „Sinnfragen" ausscheren, die von letzten Zwecken oder Zielen alles abhängig machen, ohne das teleologische Denken selber zu befragen. 35 Für Taylor gibt es nun aber einen gemeinsamen Brennpunkt gewissermaßen, auf den hin alle diese Fragen konvergieren: die Frage nach dem Wer. Sie ist es, die das Selbst-Sein als ein ständiges relationales, mit der Existenz Anderer verflochtenes Geschehen umtreibt. Es ist nach Taylors Überzeugung nicht nur „nie möglich, ein Selbst zu beschreiben, ohne auf diejenigen Bezug zu nehmen, die seine Umwelt bilden" - was uns auf jene „Kontexte der Intelligibilität" von Bedeutungen zurückverweist; es ist auch nicht möglich, ein Selbst zu sein, ohne sich in einer regionalen Bezogenheit auf Andere zu bewegen. Diese regionale Bezogenheit ist konstitutiv für das Selbst-Se/'w, so dass wir allen Grund haben, dem reichlich abgenutzten Begriff der Ko-Existenz sein volles ontologisches Gewicht zurückzuerstatten. Fraglich erscheint aber, ob und wie das bei Taylor selbst geschieht.

2.4 Topografie und Teleologie Wo Taylor die Frage nach der Situierung des Selbst als Frage nach dessen „Ort" aufwirft, handelt es sich bei näherem Hinsehen doch überwiegend um ethische oder moralische Bestimmungen, die sich auf mit Anderen vermutlich geteilte Vorstellungen guten Lebens beziehen. „Wissen, wer ich bin", heißt es dem entsprechend, „ist eine Unterart des Wissens, wo ich mich befinde. Definiert wird meine Identität durch die Bindungen und Identifikationen, die den Rahmen oder Horizont abgeben, innerhalb dessen ich von Fall zu Fall zu bestimmen versuchen kann, was gut oder wertvoll ist oder was getan werden sollte bzw. was ich billige oder ablehne." 36 Die Frage Wo? zielt gewiss nicht nur auf eine Ortsangabe, wie sie mit Bezug auf geographische Koordinaten möglich ist;37 sie bezieht sich vielmehr auf eine moralische oder ethische Topografie, 38 in der das Feld der evaluativen, der teleologischen und deontologischen Bezüge abgesteckt ist, auf die es dem Selbst, dem es um Identität geht, ankommen muss. Die Ecksteine dieser Topografie bilden sogenannte „starke Wertungen", die Unterscheidungen beinhalten „zwischen Richtig und Falsch, Besser und Schlechter,

Vgl. QS, S. 40, sowie v. Verf., „Erinnerung an die Zukunft der Geschichte", in: tion. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften 73-98. 36 37

38

Selbstorganisa10 (1999), S.

QS, S. 55 ff. Freilich ist dieser Aspekt der „Räumlichkeit", die Taylor im Blick hat, nicht ganz unwichtig; vor allem dann nicht, wenn die moralische Topografie, auf die die Wo-Frage abstellt, mit einer territorialen Abgrenzung von Lebensformen einhergeht. QS, S. 203.

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Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

Höher und Niedriger, deren Gültigkeit nicht durch unsere eigenen Wünsche, Neigungen oder Entscheidungen bestätigt wird, sondern [...] von diesen unabhängig" sind und „selbst Maßstäbe [beinhalten], nach denen diese beurteilt werden können". 39 Inwiefern aber „muss" es dem Selbst auf diese wertenden Bezüge ankommen? Weil es aufgrund seiner Zugehörigkeit zu sozialen Lebensformen mit Anderen ein praktisches soziales Feld 40 teilt, das gleichsam von einem Netz solcher Wertungen durchzogen ist. Es ist nicht so, dass man hinsichtlich der „starken Wertungen" mit Anderen unbedingt überstimmen müsste; aber man kann nicht umhin, ständig auf sie als maßgebende Markierungen Bezug zu nehmen, die gleichsam vorgeben, wo man sich in der Landschaft der Praxis befindet. Die Wertungen mögen strittig sein, und man kann Werte stets, transitiv ausgedrückt, anders „werten", sie um- und entwerten. Offenbar glaubt Taylor freilich, dass die Orientierung am Guten inmitten dieser strittigen Wertungen grundsätzlich die Führung behält, 41 weil sie auf ein „Verlangen" zurückgeht, das sich „aus dem menschlichen Leben nicht wegdenken" lasse: das Verlangen, „im Verhältnis zum Guten den richtigen Standort ein[zu]nehmen". 42 - Die „Sorge" des Selbst, die Taylor stellenweise in Anlehnung an Sein und Zeit beschreibt, hat in diesem Licht von Anfang an einen teleologischen Bezug auf Lebensformen, in denen das Gute als das Maßgebende par excellence etabliert ist. Die Sorge gilt nicht nur einem ständig vertagten Sich-Verstehen, der „Suche" nach sich, die sich im Medium sozialer Koexistenz vollzieht, um schließlich narrative Formen anzunehmen; sie ist von Anfang an auch „auf der Spur" des Guten, und zwar unweigerlich. Nicht kommt zu einem „biologischen" Leben nachträglich noch eine teleologische Ausrichtung hinzu. Es vollzieht sich als menschliches von Anfang an im Zeichen des Guten, das sich wie auch immer fragmentiert oder entstellt in sozialen Lebensformen ausprägt. Weil es aber nie völlig realisiert ist, hat die Orientierung am Guten zugleich den Charakter einer geschichtlich artikulierbaren Ausrichtung, die erst auf seine Realisierung abzielt. Während die Beschreibung der Sorge um Sich-Verstehen auf die Spur der Ontologie eines Daseins zurück fuhrt, dessen temporaler Zusammenhang als

39 40

41

42

QS, S. 17. Taylor spricht ähnlich wie Hannah Arendt von einem „gemeinschaftlichen Raum". Diesen Terminus braucht man nur jener topographischen Begrifflichkeit anzupassen (vgl. QS, S. 70), die Taylor an anderer Stelle bereits für eine „moralische Topografie des Selbst" entwickelt hat; vgl. den gleichnamigen Aufsatz in S. Messer, L. Sass, R. Woolfolk (Hg.), Hermeneutics and Psychological Theory, N e w Brunswick 1988, S. 298-320. Dem entsprechend hat Carl Schmitt unter dem Titel „Die Tyrannei der Werte" den Zusammenhang zwischen dem Wert-Denken und einer allgemeinen „Ökonomisierung" herausgestellt, die alle Werte (die man nicht als „Güter", sondern wie einen relativen Preis auffasst) miteinander verrechenbar und austauschbar macht. (Vgl. C. Schmitt, E. Jüngel, S. Schelz, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, bes. S. 13, 21 f.) Wo Taylor dagegen jene Werte bzw. Wertungen als Güter versteht, gewinnt man den entgegengesetzten Eindruck, dass sie für eine ethische Inkommensurabilität von Lebensformen stehen, die sich an verschiedenen Werten orientieren. Vgl. QS, S. 66, 89, 125, 177. Hier teile ich die Kritik an Taylor, die Quentin Skinner geübt hat: „Who Are ,We'? Ambiguities of the Modern S e l f , in: Inquiry 34 (1991), S. 133-153. QS, S. 89.

Identität und Lebensform: Taylor

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„ganzer" narrativ zur Geltung kommen soll, mündet die Art, wie Taylor das Gute dem Geschehen des Selbst-Seins einschreibt, in eine neo-aristotelische Harmonisierung von Selbst und Lebensform. Selbst-Sein, auf der Spur des Guten, ist so nur im Rahmen von Lebensformen möglich, die es teleologisch vorzeichnen und in nicht-verallgemeinerbaren „Wertungen" zum Ausdruck bringen, in deren „Sprache" man stets bereits hineingewachsen ist, bevor man daran denken kann, sie zurückzuweisen. Man findet sich nicht nur in „webs of interlocution",43 sondern auch in kaum zu durchschauende Vorgaben der Richtung verstrickt, in der das eigene Selbst sich orientieren soll. Im Geschehen des Selbst ist bereits eine entsprechende Ausrichtung am Werk. „Da wir nicht umhin können, uns nach dem Guten zu orientieren und dementsprechend die Richtung unseres Lebens festlegen [oder vielmehr festgelegt werden], müssen wir das eigene Leben unbedingt in narrativer Form - als ,Suche' - begreifen."44 Taylor hält die narrativ-geschichtliche Artikulation einerseits und die Ausrichtung gemäß dem Guten andererseits fur zwei nicht-fakultative und sich notwendig ergänzende Aspekte des Selbst, die den Sinn seines Geschehens bestimmen. Dieses Geschehen erscheint somit auf unhintergehbare Weise, im Sein des Selbst, mit Feldern oder Räumen der Koexistenz in Lebensformen verquickt. Man kann die Geschichtlichkeit des Selbst, wie sie in Erzählungen zum Ausdruck kommt, nicht verstehen, wenn man sie nicht auf die ethischen Vorgaben der Lebensformen bezieht, die unser Leben a tergo teleologisch ausrichten. Die zum Verständnis des Erzählten erforderliche Kontextualisierung der narrativen Bedeutungen fugt sich so gesehen mit einer ontologischen Situierung zusammen, die das Sein des Selbst an die Spielräume menschlicher Koexistenz bindet, die wir als Lebensformen bezeichnet haben. Taylor folgert aus den eingangs skizzierten „modernen" Rahmenbedingungen des Fragens danach, wer wir sind, offensichtlich gerade nicht, dass Selbst und Lebensformen nicht länger eng zusammengehören können, weil die Erosion konkreter Öko-Nomien, Prozesse wie die soziale Deteleologisierung, die Temporalisierung und die Individualisierung jene Spielräume allzu sehr labilisieren. Im Gegenteil insistiert er auf dem internen, nicht nur Kontexte der Verständlichkeit, sondern auch Kontexte sozialen Seins betreffenden Zusammenhang zwischen Selbst und Lebensform. Seine groß angelegte Forschung nach „Quellen des Selbst" macht vor dem Hintergrund jener Prozesse ironischerweise verständlich, warum Selbst-Sein im Zeichen der Moderne vor allem im ständigen Ausbleiben der Antwort auf die Frage erfahren wird, wer man „eigentlich" ist...45 Im übrigen suggeriert sie aber eine ontologische Dimension der Zugehörigkeit zu Lebensformen mehr, als dass sie sie begründen würde. So erweckt Taylor den Eindruck, als „soziale", ko-existierende Wesen gingen die Menschen in ihren jeweiligen regionalen Zugehörigkeiten weitestgehend auf, was bedenkliche politische Schlüsse nahelegen kann, beispielsweise wenn man die ontologisierende Rede vom Mitsein, der Taylor sich anschließt, ohne weiteres ethnisch interpretiert.

43 44 45

QS, S. 71. QS, S. 94, 103. Vgl. Ch. Taylor, The Ethics of Authenticity, Cambridge, London 1992.

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Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

Um nur ein Beispiel zu nennen: Scott Lash geht im Namen einer Rehabilitierung des Gemeinschaftlichen unter Berufung auf Heidegger ohne Umschweife zum Angriff auf diejenigen über, die gegen ethnische, nationale, kulturelle Zugehörigkeiten eine „Ethik der Differenz", 46 des Anderen oder des Nicht-Identischen und des Verdachts gegen jegliche Verleugnung dieser Begriffe ins Spiel gebracht haben: Gemeinschaft, so behauptet er bedenkenlos, „in welcher Form auch immer, ,Wir', nationale und andere kollektive Identität benötigt keine Form von Hermeneutik des Verdachts, wohl aber eine , Hermeneutik der Wiedergewinnung', die im Gegensatz zu den Meistern (und heutigen Gesellen) des Verdachts nicht unablässig Voraussetzungen beseitigt, sondern den Versuch unternimmt, die ontologischen Grundlagen des In-der-Welt-Seins als Gemeinschaft aufzudecken". Hier geht es um eine ontologische Festschreibung kollektiven Seins, das sogar die „wesentlichen Güter als Grundlage jeglicher Form gemeinschaftlicher Ethik" eindeutig vorgeben soll; 47 und zwar so, dass nichts, wofür jene Begriffe stehen, dem Zugriff des kollektiven Seins noch entkommen kann. Dass diese Rhetorik unter der Flagge der „reflexiven Modernisierung" segelt, ändert an ihrem totalitären Gestus nichts. Ist aber die hier einfließende Annahme, dass wir als „soziale", ko-existierende Wesen in unseren jeweiligen regionalen Zugehörigkeiten weitestgehend auch ethisch aufgehen, durch die Sozialontologie des „Mitseins", auf die sich Lash beruft, wirklich gedeckt? Folgen die angedeuteten Konsequenzen unweigerlich, wenn man die Frage der Zugehörigkeit zu sozialen Lebensformen von einer Sozialontologie des Mitseins her zu verstehen versucht?

2.5 Ethnische Rezentrierung vs. moderne Dezentrierung? Am Beispiel Lashs wird deutlich, welche Brisanz in der sozialontologischen Rede von einer unhintergehbaren Situierung des Selbst liegt, wenn sie suggestiv mit der Unterstellung einer ungebrochenen Gemeinschaftlichkeit einer ethisch zentrierten kollektiven Koexistenz kurzgeschlossen wird, die überdies immer wieder vom Paradigma sesshafter, einen bestimmten Ort exklusiv für sich in Anspruch nehmender Lebensformen her verstanden wird. Unter diesen Voraussetzungen können die archaischsten Bilder „georteter", soziozentrischer Koexistenz wieder aufleben und unversehens zum anachronistischen Vorbild von Lebensformen werden, die sich unter jenen Rahmenbedingungen in ihrer Existenz bedroht sehen. Ethnologen, die Spuren archaischer Lebensformen nachgehen, scheinen eindeutig zu bestätigen, dass die ursprünglichen menschlichen Lebensformen ohne ihre intensive territoriale Bindung

Auf die Bedeutung dieses Ausdrucks, für den auch Taylor selber einsteht, wird in Kap. 6 zurückzukommen sein. Vgl. S. Lash, „Reflexivität und ihre Doppelungen: Struktur, Ästhetik und Gemeinschaft", in: U. Beck, A. Giddens, S. Lash, Reflexive Modernisierung, Frankfurt/M. 1996, S. 195-288, hier: S. 251.

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gar nicht zu verstehen sind. 48 Aufgrund dieser Bindung nehmen sie einen „angestammten Lebensraum" 49 ftir sich in Anspruch und versichern sich offenbar noch heute ihrer „Anciennität" oder „genealogischen Seniorität". Im Lichte ihrer georteten Genealogie können sie sich ihre kollektive Identität geschichtlich ohne weiteres bestätigen lassen. Vor allem dazu diente offenbar immer schon die rituelle Verlebendigung gemeinsamer Vergangenheit: sich von den Ahnen und ihrem Geist her, der das Leben am eigenen Ort inspiriert, sagen zu lassen, wer man ist. In der Perspektive des Ethnologen lebt die kollektive ethnische Identität nur durch die Bindung ans angestammte Land; durch eine Bindung, die „der Fremde aufzureißen" droht. 50 In solchen ethnologischen Beschreibungen entsteht das Bild eines geschichtlich und territorial zentrierten ethnischen Kosmos. Situierung und Zentrierung im Sinne einer bruchlosen „Einheit" 51 von Land, Sozialität und Ethnizität scheinen nur zwei Ausdrücke für denselben Sachverhalt zu sein. Diese Einheit mag zerfallen sein; 52 doch sind damit nicht auch „Lebenssinn und Orientierung" gemäß einer gemeinschaftlichen Koexistenz „verlorengegangen"? 53 Bietet sich die Ethnologie der archaischen Lebensformen nicht geradezu zur Therapie von Modernisierungsschäden an, wenn man sich nur daran erinnert, dass „die sakralen Stätten und Überlieferungen, die Gräber mit den Gebeinen der Toten, das Brauchtum, die Kulte, nicht zuletzt der Glaube, der alles begründend trug, [...] der Kosmos [waren], in dem allein das Dasein lebenswert und sinnvoll erschien"? 54 Muss man sich in diesem Sinne nicht für eine Re-Kosmisierung und Wiederverortung der Lebensformen einsetzen, wenn jene Rede von einer sozialontologischen Situierung des Selbst nichts anderes als eine unumgängliche ethnische Zentrierung bedeuten kann, deren es umwillen eigener Identität bedarf? Taylor würde einen solchen Vorschlag zweifellos für regressiv halten, denn er versucht einer (nicht erst der Moderne zu verdankenden) De-sozio-Zentrierung der Lebensformen durchaus Rechnung zu tragen. Seine Vorstellung von einer sozialen Situierung des Selbst soll nicht einer soziozentrischen kollektiven Identität das Wort reden, die sich mit dem 48

49

50 51 52

53 54

Ich beziehe mich hier und im folgenden lediglich in illustrierender Absicht auf Κ. E. Müller, Die fünfte Dimension. Soziale Raumzeit und Geschichtsverständnis in primordialen Kulturen, Göttingen 1999. An die politische Brisanz dieser Begrifflichkeit muss man hierzulande wohl nicht eigens erinnern. Sie ist mit der Zäsur des Jahres 1945 nicht „erledigt"; vgl. etwa O. F. Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart 1963, S. 256 ff. Vgl. Κ. E. Müller, Die fünfte Dimension, S. 8, 24, 39, 42 ff. Ebd., S. 93, 122, 58. Allerdings lohnte es sich, genauer der Frage nachzugehen, ob nicht speziell neo-aristotelische Versuche der Erneuerung des Zusammenhangs von Ethik und Politik anachronistisch auf die skizzierten Kurzschlüsse zurückzufallen drohen; vgl. bspw. A. Schwan, „Politik als ,Werk der Wahrheit'. Einheit und Differenz von Ethik und Politik bei Aristoteles", in: Paulus Engelhardt OP (Hg.), Sein und Ethos, Mainz 1963, S. 69-110. Hier wird die kollektive, territorial geortete Existenz als Volk im „gemeinschaftlichen" Raum einer politischen Kosmisierung gedacht (S. 86 ff., 90 f.). Κ. E. Müller, Die fünfte Dimension, S. 144. Ebd., S. 125.

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dezentrierenden - Zwang, sich im Verhältnis zu anderen Lebensformen „relativ" zu begreifen, gar nicht mehr auseinander zu setzen hätte. Der Diagnostiker der Moderne kann nicht unter Berufung auf eine Ethnologie archaischer Lebensformen auf die Apologie eines kollektiven „Privatsinns" (Kant) hinaus wollen, der sich zum Anspruch, der „Perspektive" Anderer Rechnung zu tragen und sich womöglich in diese zu „versetzen", gleichgültig verhalten könnte. Für ihn ist die Moderne wesentlich durch das Aufbrechen einer universalen Perspektivierung kultureller, ethischer und moralischer Selbstverständnisse gekennzeichnet; und er möchte diese als Relativierung verstandene Dezentrierung nicht anachronistisch unterlaufen sehen. Dezentrierung bedeutet in diesem Sinne nicht etwa die Beseitigung jeglichen „Zentrums", sondern die ungeahnte Erweiterung operativer Möglichkeitsspielräume, in denen Relativierungen und Perspektivierungen erfolgen können und müssen. Zur Dezentrierung bildet der (Ego- oder Sozio-) Zentrismus, der sich nicht zu relativieren versteht, nicht die Perspektivität den entscheidenden Gegensatz. 55 Keine kognitive oder affektive Dezentrierung 56 hebt die Perspektivität der menschlichen Weltverhältnisse auf. Diese aber setzen eine Situierung, also einen Ort, von dem aus sich diese Verhältnisse perspektivisch darstellen, voraus. Situierte, so oder so verortete57 Existenz ist gerade das, woran sich Prozesse der Dezentrierung (ontogenetisch wie kultur- bzw. gattungsgeschichtlich) abspielen. Während eine dezentrierte Situierung gar nicht in den Blick des Ethnologen archaischer Lebensformen tritt, sieht sich aber Taylor genau mit dieser Frage konfrontiert: wie transformieren spezifisch moderne Bedingungen des Zusammenlebens menschliches Selbstsein, das im Interesse einer Antwort auf die Wer-Frage darauf angewiesen ist, sich situiert zu verstehen?

Im Sinne einer solchen Erweiterung ist eigentlich auch der Begriff der Dezentrierung bei Piaget, der hierzulande v. a. durch die kognitivistische Interpretation von Habermas Verbreitung fand, zu verstehen. Der Gedanke einer operativen Erweiterung der Möglichkeitsspielräume des Erkennens bei Piaget hat nichts mit einer naiven Sf«/erctheorie der Entwicklung zu tun, als die seine Genetische Epistemologie vielfach angegriffen worden ist. Insofern zielt die gängige Kritik am rationalistischen Dezentrierungsbegriff meist ins Leere. Vgl. K. Meyer-Drawe, „Zähmung eines wilden Denkens? Piaget und Merleau-Ponty zur Entwicklung der Rationalität", in: A. Metraux, B. Waldenfels, Leibhaftige Vernunft, München 1986, S. 258-275, sowie v. Verf., Spuren einer anderen Natur, München 1992, Zweiter Teil; „Phänomenologische Einsprüche gegen ein verkennendes Erkennen. Spannungsfelder zwischen Phänomenologie und Epistemologie in der Philosophie Merleau-Pontys"; in: Philosophisches Jahrbuch 103/2 (1996), S. 382-399. Zu diesen Begriffen vgl. J. Piaget, Etudes sociologiques, Paris 1965. Folgenreiche Missverständnisse ergeben sich hier schon dann, wenn man die - empirisch höchst unterschiedlichen - Ottsbezüge im Sinne einer - womöglich exklusiven - Territorialität oder Onsbindung versteht, wie es etwa der Begriff der Ortung bei C. Schmitt nahelegt. - Eine nuancierte Beschreibung räumlicher Situierung findet sich im übrigen bei E. S. Casey, Getting Back into Place, Bloomington 1993. Auch hier fließen zugegebenerweise „prämoderne" Vorbilder einer denkbaren Rezentrierung der menschlichen Lebensverhältnisse (vgl. S. xiv, 39) ein, verbunden mit der Hoffnung, sie werde den Menschen wieder „Identität zuweisen" (S. 23); doch wird auch einer inneren Heterotopie Aufmerksamkeit geschenkt. Die von Casey bevorzugte Phänomenologie der Verschränkung von Innen und Außen zeigt überdies, dass „to be fully in a place [...] is to be already on the way out" (S. 29).

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Im Gegensatz zu Lash weiß Taylor, dass die Philosophen phänomenologischer und hermeneutischer Provenienz, die für den sozialontologischen Begriff der Situierung einstehen, keineswegs einer ungebrochenen ethnischen Zentrierung das Wort geredet haben,58 welche die Zugehörigkeit des einzelnen restlos in einem kollektiven Mitsein aufgehen lassen würde, das Lash gegen Verdacht und Zweifel zu immunisieren strebt. Von Heidegger her, dessen Ontologie in dieser Hinsicht freilich kritischer zu beurteilen ist, wie das folgende Kapitel zeigen wird, hat vor allem Merleau-Ponty eine Phänomenologie leibhaftiger Situierung menschlicher Koexistenz herausgearbeitet, die sich zwar dem Gedanken einer „decentration absolue" widersetzt,59 die aber weder den dezentrierenden Sinn einer Erweiterung der operativen Möglichkeitsspielräume sozialer Perspektivität bestreitet, noch die Perspektivität des Wahrnehmens, Tuns und Denkens durchgängig als irrelativ „zentriert" beschreibt.60 Zwar wird der eigene Leib mit Husserl immer wieder als „Zentrum" oder „Nullpunkt" der Orientierung beschrieben, von dem aus es überhaupt nur so etwas wie Welt geben kann. Der Leib ist nicht einfach in der Welt; vielmehr stiftet er überhaupt erst das Weltverhältnis. Darin knüpft Merleau-Ponty an Heideggers existenzialer Interpretation des In-der-Welt-Seins an. Doch die phänomenologische Detailanalyse der Weltverhältnisse entdeckt eine „ekstatische" Subjektivität; und sie fuhrt auf Spuren einer ersten, vor-kognitiven (ästhesiologisch geltend gemachten) „Dezentrierung", wie sie durch den Blick des Anderen erfahren werden kann noch bevor sich ein Ego abgegrenzt hat. In der Erfahrung liegt nicht immer schon ein Bezug auf ein Ego als Subjekt des Erfahrens, vielmehr das Milieu eines „generalisierten", noch von keiner Grenzziehung bevormundeten, insofern „wilden" Lebens, das sich von keiner Zentrierung je ganz bändigen lässt.61 Wenn in diesem Zusammenhang von einer nicht hintergehbaren Situierung in einer intersubjektiven Welt die Rede ist,62 so läuft das gerade nicht darauf hinaus, einem von Prozessen der Dezentrierung vermeintlich nicht angefochtenen „wilden" Sein eine durchgängige Zentriertheit zu bescheinigen oder diese anachronistisch als Vorbild zur Behebung von Moder-

Taylor hat sich sowohl mit Merleau-Ponty als auch mit Ricoeur, durch den die „Hermeneutik des Verdachts" unter diesem Titel in Umlauf gekommen ist, auseinander gesetzt, ohne ihren Sachstand wie Lash einfach zu unterlaufen. Vgl. besonders seine Aufsätze „Leibliches Handeln", in: A. Metraux, B. Waldenfels, Leibhaftige Vernunft, München 1986, S. 194-217 (hier ist mit Blick auf Heidegger und Merleau-Ponty von einem „Primat meines Seins als Lebensform" ,,,ϊη' der Welt als einem Milieu" die Rede [S. 205]), sowie M. Kullman, C. Taylor, „The pre-predicative world", in: M. Nathanson (Hg.), Essays in Phenomenology, The Hague 1969; C. Taylor, „Force et sens", in: Sens et existence, Paris 1975, S. 124 ff. 59

60

Vgl. ausführlich dazu „Merleau-Ponty ä la Sorbonne. Resümee de ses cours etabli par des etudiants et approuve par lui-meme", in: Bulletin de Psychologie, no. 236, t. XVIII (1964). Vgl. M. Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens, Berlin 1976, S. 179, 207, 219; Das Auge und der Geist, Hamburg 1984, S. 119; Vorlesungen /, Berlin 1973, S. 4, 163.

61

Vorlesungen I, S. 54, 128; Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, S. 77, 296 f.; Das Auge und der Geist, S. 55 f., 60; Die Prosa der Welt, München 1984, S. 42, 66, 150.

62

M. Merleau-Ponty, Phänomenologie

der Wahrnehmung,

Berlin 1966, S. 407, 508 f.

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nisierungsschäden anzubieten. 63 Vielmehr geht es darum, die „Sache" zu beschreiben, an der sich diese Prozesse abspielen und die es überhaupt erst erlaubt, sie als Transformationen menschlicher Koexistenz zu verstehen. Ich habe die Phänomenologie Merleau-Pontys an dieser Stelle ohne eingehende Diskussion lediglich erwähnt, um dem gravierenden, nicht nur bei Lash anklingenden Missverständnis vorzubeugen, das darin liegt, das ontologische Gewicht - unweigerlich „situierter" - menschlicher Lebensformen mit einer Rechtfertigung einer Ethnozentrik kollektiven, in sich womöglich homogenen Wir-Seins kurzzuschließen. Eher unter der Hand als ausdrücklich geschieht genau das vielfach, wo der vermutete integrale Zusammenhang von Identität und Lebensform bedacht wird. Daraus sollte aber nicht der Schluss gezogen werden, dass jeglicher Gedanke an eine ontologische Situierung des Selbst zu verwerfen oder zu vermeiden ist. Wenn diese Situierung eine Faktizität von Formen der Koexistenz bedeutet, die uns wie ein geschichtliches Apriori immer schon als solche begegnen, bevor wir sie reflektieren und von transzendentalen Bedingungen ihrer Möglichkeit her befragen können, dann haben wir in Wirklichkeit gar nicht die Wahl, ob wir diese Situierung denken müssen, sondern nur wie wir sie uns als eine von geschichtlichen Transformationen affizierbare vorzustellen haben. Haben sich nicht in diesem Sinne längst die modernen Erfahrungen des Exils, der Vertreibung, der Fremdheit, der Ungastlichkeit auf das Denken einer ontologischen Situierung sozialer Koexistenz ausgewirkt? Wenn Levinas im Anschluss an Heidegger ontologische Strukturen des Wohnens, des Ortes, des geschützten Aufenthalts, der Ruhe und des Schlafes beschreibt, so begegnet er in ihnen doch auch einer namenlosen Welt-Fremdheit, 64 einer Unzugehörigkeit zum Ort, Zeichen eines a-topischen Exiliertseins, dem sich jeder als Anderer überantwortet sehen kann. 65 Selbst Bachelard, der sich in seiner Poetique de l'espace erklärtermaßen ganz auf die „Bilder glücklichen Raums" beschränkt, entziffert noch in der Intimität des Wohnens eine Phantasie des Anderswo, eine untilgbare Heterotopie, von der nicht bloß ein oft belächelter Bovaryismus in der Provinz des 19. Jahrhunderts geplagt wurde. 66 Die „ontologische" Situierung in Lebensformen lässt sich heute nicht mehr ohne einen mehr oder weniger weit ausgreifenden Möglichkeitssinn für Anderes beschreiben. Und dieser Sinn betrifft nicht nur den Ort,

Vgl. etwa K. Meyer-Drawe, Illusionen hauptung stützt.

von Autonomie,

Kirchheim 1990, deren Buch meine Be-

64

Von der im einzelnen strittigen Deutung dieser Fremdheit im Zeichen des il y α der Welt bei Levinas, Blanchot und anderen sehe ich hier ebenso ab wie von der Deutung des Ortes als Bleibe etc. - Vgl. dazu die Beiträge in M. Fischer, H.-D. Gondek u. B. Liebsch (Hg.), Vernunft im Zeichen des Fremden. Zur Philosophie von Bernhard Waldenfels, Frankfurt/M. 2001; P. Delhom, Der Dritte. Levinas' Philosophie zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit, München 2000, S. 40 f., 67, 125, 273.

65

Vgl. E. Levinas, Vom Sein zum Seienden, Freiburg, München 1997, S. 85 ff. Vgl. G. Bachelard, Poetique de l'espace, Paris 4 1964 (dt., S. 214); M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 332; H.-D. Bahr, Die Sprache des Gastes, Leipzig 1994. Von einer dezentrierenden Heterotopie war im übrigen nicht nur die eine oder andere Romanfigur Flauberts, sondern auch der Autor selbst affiziert, wie Sartres Der Idiot der Familie in vielen Facetten zeigt.

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wo man mit oder unter Anderen lebt, sondern auch die Form oder Art und Weise, in der das geschieht. Die Imagination des Anderen macht auch vor der Form selbst nicht halt. Ganz andere, am Ende paradoxerweise sogar wietestgehend entformalisierte Formen können ausgemalt werden, in denen die Form des Lebens nur noch eine Frage des Stils zu sein scheint. Die Frage, was man lebt (um welchen Gehalt das Leben sich dreht und wie es mit der Wahrheit dieses Gehalts steht), tritt dann ganz in den Hintergrund oder wird gegenstandslos. Unter dem Titel „Ästhetisierung" der Lebensformen hat es tatsächlich zu einer irreführenden Entgegensetzung von Gehalt und Art und Weise kommen können. Wenn die Devise Stil statt Wahrheit ausgegeben wird, droht mit der Auflösung des Gehalts von Lebensformen in der Art und Weise ihres Geschehens auch die Frage aus dem Blickfeld zu verschwinden, was sie überhaupt zu Formen des Zusammenlebens macht. Nicht zufällig geht die Propagierung einer ästhetisierenden Ersetzung der Frage nach dem Was oder nach dem Gehalt von Lebensformen mit einer programmatischen Apologie demonstrativer Gleichgültigkeit einher. 67 Allerdings lassen sich Prozesse der Ästhetisierung von Lebensformen auch anders deuten; beispielsweise im Sinne einer Veralltäglichung des Ästhetischen und im Sinne einer gegenläufigen Poetisierung des Alltags, wodurch eine gegenseitige Verschränkung, nicht aber eine einseitige Reduktion oder Ersetzung der Form oder des Gehalts von Lebensformen durch das Wie ihres Geschehens bewirkt wird. 68 Der entsprechenden historischen Entwicklung, die zu einer Vielzahl von Experimenten mit Lebensformen geführt hat, muss ein ontologischer Begriff der Situierung Rechnung tragen, so dass verständlich wird, inwiefern unser (mehr oder weniger undurchschautes) Verstricktsein in Lebensformen es gleichwohl gestattet, sie „experimentell" 69 zu transformieren, um zu werden, was man ist: ein Anderer... - sei es auch um den Preis einer radikalen Entwurzelung, die es unumgänglich macht, sich von allen Bindungen an „angestammtes" Land zu verabschieden, um in der Diaspora ganz von vorn zu beginnen. 70

67

Gemeint ist hier das dadaistische Extrem einer Ästhetisierung von Lebensformen, die „entformelt" und im Grenzfall zum inhaltslosen, reinen Stilgebilde werden sollten; vgl. L. Wiesing, Stil statt Wahrheit. Kurt Schwitters und Ludwig Wittgenstein über ästhetiscche Lebensformen, München 1991, S. 13, 56 ff., 71, 85 ff., 100 ff. Affirmativ im Sinne der Ersetzbarkeit des Begriffs der Lebensform durch den Begriff des Lebensstils äußert sich F. Fellmann, Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung, Hamburg 1993, S. 222 f.

68

Ich beziehe mich auf P. Kiwitz, Lebenswelt und Lebenskunst. Perspektiven einer kritischen Theorie des sozialen Lebens, München 1986, S. 31, 41, 47 f. Offensichtlich ist dieser Begriff aber selber deutungsbedürftig. Lässt sich etwa wirklich ein „Labor fur Lebensformen" denken - oder ist das eine im Konkreten u.U. irreführende Metapher (vgl. ebd., S. 87, 212), die die Trägheit des Mitseins unterschätzt? Inwieweit lassen sich etwa mit einer familialen Lebensform Experimente veranstalten, ohne dass sie zerbricht? In der Literatur lässt sich ein gewisses Kokettieren mit dem Begriff des Experimentellen, aber auch des Provisorischen und des Nomadischen feststellen, das zu Übergeneralisierungen verfuhrt. Die Frage, inwieweit eine konkrete Lebensform gewisse Transformationen zulässt, wird stets nur im Einzelfall praktisch zu beantworten sein und entzieht sich einem direkten theoretischen Zugriff.

69

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Vgl. J. Clifford, „Diasporas", in: Cultural Anthropology

9, Nr. 3 (1994), S. 302-338.

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Lockes Diktum: ursprünglich „war die ganze Welt ein Amerika" 71 lässt sich mit Kant 72 auch so deuten: Ursprünglich gehörte sie niemandem; 73 jeder Anfang, den man irgendwo gemacht hat, konnte in einem Akt der Gründung einer neuen Lebensform in der universalen Diaspora der Erde, wo jeder ein Fremdling war, nur eine Ursprünglichkeit fingieren und glauben machen, eigene Identität sei einer exklusiven, bis in unvordenkliche Zeiten zurückreichenden Bindung an den Boden eines gemeinsamen Lebens zu verdanken. So gesehen führt jeder durch Exil, Vertreibung oder bloße Mobilität erzwungene Neu-Anfang, der auf jeglichen „ursprünglichen" Anspruch Verzicht leisten muss, die originäre Situation der Gründung neuer Lebensformen wieder vor Augen: Man muss sie „gründen" und „verorten", ohne sie aber „machen" und ex nihilo, in einem Akt radikaler Schöpfung, konstruieren zu können. Wenn Richard Sermett Hannah Arendts Begriff der Natalität mit Blick auf die eigentümlich „aufenthaltslosen" und an-archischen Städte der Moderne, die vielfach die ursprungslose Neu-Gründung von Lebensformen erzwingen, als Aufforderung zu deren Konstruktion und Selbst-Erfindung auffasst, so hat er diesen Begriff gründlich missverstanden. Dass Lebensformen als praktisch verfasste weder machbar noch konstruierbar sind, ist die eigentliche Aussage von Vita activa. Neue Lebensformen mögen in Gedanken erfindbar sein, als praktische Formen des Zusammenlebens werden sie das niemals sein. 74 Mit Recht bestreitet Sennett freilich, dass wir in der Vergangenheit Modelle des Zusammenlebens, des Engagements, der Teilnahme und Teilhabe an einem Leben finden können, dessen Konturen sich heute zunehmend in einer unsichtbaren, in keinem „öffentlichen Erscheinungsraum" (H. Arendt) mehr zentrierbaren Komplexität verlieren. Wenn der Autor angesichts einer weitgehend segmentierten, anonymisierten städtischen Welt, die uns mit einer überbordenden Überfülle von „Differenzen" konfrontiert, ein rezentriertes Selbstsein15 propagiert, so weiß er doch, dass dieses in der modernen oder postmodernen Stadt niemals mehr so irrelativ zentriert wird sein können wie (scheinbar) ein archaisches Selbst in „primordialen" Kulturen. Simone Weils anthropologische Idealisierung einer „natürlichen" Verwurzelung, nach der sich angeblich alle sehnen, brandmarkt er deshalb als eine „romantisch-reaktionäre Sentimentalität" 76 und verlangt, dass das Selbst nicht zu einer territorial gebundenen, pseudo-ursprünglichen Identität zurückkehrt, von der Andere mehr oder weniger radikal ausgeschlossen bleiben müssten, sondern dass es sich auch in der Diaspora eines 71 72

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74

75 76

J. Locke, Über die Regierung, Stuttgart 1983, S. 38. Vgl. I. Kant, „Zum ewigen Frieden", in: Werkausgabe, Bd. XI (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 213 f. Für das historische Amerika traf das bekanntlich keineswegs zu. Was man verharmlosend als „Landnahme" bezeichnet, die scheinbar in einem unschuldigen Akt einen neuen, den Zusammenhang von Ort (bzw. Raum) und Recht stiftenden N o m o s begründen konnte, hatte, wie wir wissen, von Anfang an genozidale Implikationen; vgl. dagegen C. Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 3 1988, S. 66, 264, zu Lockes Diktum. Genau das scheint Sennett aber zu unterstellen; s. Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, Frankfurt/M. 1994, S. 176. Vgl. ebd., S. 14, 301 ff. Ebd., S. 288.

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städtischen, entwurzelten Lebens der Überfülle von Differenzen stellt, die Anderen und ihren Lebensformen zu verdanken sind.77 Es soll dabei weder nur eine komparative Existenz (Rousseau) führen, um sich ständig in den Augen Anderer zu vergleichen, noch sich zu diesen Differenzen gleichgültig verhalten. Allzu oft bilden „die Differenz und die Indifferenz gegenüber den anderen Menschen ein eng umschlungenes Paar", so dass „das Auge [...] Unterschiede wahrnimmt], auf die es mit Gleichgültigkeit reagiert".78 Auf die Frage, was die hier anklingende Forderung nach einer nicht-indifferenten Differenzsensibilität bedeuten könnte, wenn sie wirklich darauf bezogen wird, was Andere (nicht nur im Sinne der komparativen Verschiedenheit) zu Anderen macht, werde ich später zurückkommen. Vorläufig festhalten möchte ich aber, dass diese Forderung nicht einmal sinnvoll gestellt werden kann, wenn man das von Taylor aufgeworfene ontologische Problem des Zusammenhangs von Identität und Lebensform nicht von den dezentrierenden gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen unterscheidet, die Transformationen dieses Zusammenhangs erzwingen können. Ein unvermittelter Rekurs auf archaische Lebensformen und die in ihnen vermeintlich bruchlos „geortete" Identität erscheint als irreführender Anachronismus, der am Ende nicht einmal der inneren Andersheit dieser Lebensformen gerecht wird. Erst recht versagt er, wo historischen Transformationen der Bedingungen zur Diskussion stehen, unter denen Lebensformen konkret Gestalt annehmen können. Diese Transformationen gestatten es nicht mehr, die Rede von einer unumgänglichen Situierung des Selbst ohne weiteres mit der Annahme einer ungetrübten „Gemeinschaftlichkeit", mit einer ungebrochenen ethnischen Zentrierung sozialer Koexistenz oder gar mit der fragwürdigen Vorstellung eines sesshaften Lebens zu verknüpfen. Die eingangs mit Blick auf Taylors Quellen des Selbst genannten Rahmenbedingungen, Prozesse der Ästhetisierung, der Poetisierung, der Ver- oder Entalltäglichung, der Perspektivierung, der Potenzierung eines sozialen - wenn nicht u-topischen, so doch hetero- und anatopischen - Möglichkeitssinns, Zwänge zur Neugründung von Lebensformen in einer „Welt der Differenz", von der sie sich durchdringen lassen müssen, ganz zu schweigen von Prozessen der Rationalisierung, Technisierung, der Medialisierung müssen aber daraufhin befragt werden, woran sie sich eigentlich abspielen. Lassen sich denn Lebensformen denken, die nicht so oder so situiert wären und möglichen Antworten auf die Identitätsfrage keinen „örtlichen" Anhalt mehr bieten würden? Gewiss können wir uns von den Orten, die uns als lieux de memoire unsere Identität in Erinnerung rufen, keine nostalgische Vorstellung mehr machen. Ist das Haus nicht auch der Ort des schlimmsten Unverstandenseins (durch die Nächsten), des bloßen Nebeneinanderherlebens, in dem jeder jeden zu „kennen" behauptet, aber niemand als Anderer geachtet wird, der Ort des inneren Exils, des ödipalen Dramas, der nächtlichen Ängste und der verborgenen Gewalt, die ihre Opfer dem Schutz der Öffentlichkeit entzieht?79 Aber selbst wenn man Levinas Recht geben möchte, der meint, die Anderheit 77 78

79

Vgl. M. de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 202 ff. R. Sennett, Civitas, S. 121, 169.

Und was soll man erst von den öffentlichen Erinnerungsorten sagen, wo man sich doch gewiss nicht bloß versammelt, um „die eigene Biographie und Geschichte [...] noch einmal wieder-

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des Anderen sei letztlich gar nicht zu orten, muss man doch anerkennen, dass jede(r) Andere auf einen „eingeräumten" konkreten Spielraum seiner bzw. ihrer Koexistenz unter Anderen angewiesen ist, von denen er oder sie - sei es als Zugehörige(r), sei es als Mitglied oder anders - „einbezogen" zu werden verlangt. So gesehen erinnert gerade der niemals in seiner leibhaftigen Existenz „an Ort und Stelle" aufgehende Andere daran, dass man noch in einem weitgehend dezentrierten und anonymisierten weit-städtischen Leben, das zunehmend die Räumlichkeit eines Nicht-Ortes80 anzunehmen scheint, auf situierte Lebensformen verwiesen bleibt - wie gebrochen und widersprüchlich sich Ortsbezüge, Orts-Angehörigkeiten oder Zugehörigkeiten unter ethnischen, kulturellen, ethischen und politischen Gesichtspunkten auch immer darstellen mögen. Unter diesem Vorbehalt wende ich mich jetzt der von Taylor bemühten Ontologie des Mitseins zu.

aufleben zu lassen, abzuschätzen, was vielleicht richtig und gut, zu erkennen, was falsch und verhängnisvoll war, um dem Ganzen einen Sinn abgewinnen zu können, der möglicherweise auch für die kommenden Jahre trägt, erneuernd Halt und Orientierung für die Zukunft verleiht". (Vgl. Κ. E. Müller, Die fünfte Dimension, S. 84.) Nein, an Orten wie Dünkirchen und Stalingrad, die Müller als „Beispiele aus der neueren europäischen Geschichte" nennt, um die auch hier ungebrochene Anwendbarkeit seiner an „primordialen" Gesellschaften gewonnenen Theorie „sozialer Raumzeit" zu behaupten, wird man nicht bloß in der eigenen Identität bestätigt, sondern ihr im Modus der Ergriffenseins entrissen - wenn man nicht bloß als Geschichtstourist kommt. 80

Zu diesem Begriff vgl. M. Auge, Orte und Nicht-Orte,

Frankfurt/M. 1994.

Kapitel 3 Zur Ontologie des Mitseins: Heidegger

3.1 Dasein und Mitsein In den ausgedehnten Kontroversen um die politischen „Affinitäten" der Philosophie Heideggers zum Nationalsozialismus ist deutlich geworden, welche Brisanz in einer Ontologisierung der sozialen Zugehörigkeit zum Leben Anderer liegen kann. Deutlich geworden ist aber auch, dass die Zugehörigkeit des Selbst zu Lebensformen, aus denen es sich versteht, auf die Spur einer ontologischen Dimension menschlicher Koexistenz führt, der man sozialphilosophisch Rechnung tragen muss. Läuft diese Dimension nun aber darauf hinaus, dass das Selbst als mit Anderen existierendes ganz und gar in einem regionalen „Mit(da)sein" aufgeht? Muss, wenn es so ist, eine im ethnischen, kulturellen und politischen Horizont zweifellos hochbrisante Selektivität und Exklusivität von Zugehörigkeiten als im „Sein" der Menschen vorgezeichnet gelten? Wie gehört Mitsein zu jenem Dasein des Seienden, „das wir je selbst sind" und dem es, in der auch von Taylor zitierten Formulierung, „in seinem Sein um dieses selbst geht"? Bezeichnet diese Formulierung einen „ontologischen Egoismus", wie Levinas vermutet hat? Oder handelt es sich doch um eine existenziale Tautologie, in der das „Unwillen" jenes Seienden mit seiner Existenz einfach zusammenfällt? Offenbar nicht, wenn wir die näheren quasi-teleologischen Bestimmungen berücksichtigen, die präzisieren sollen, worum es dem Seienden, „das wir je selbst sind", geht, es verhält sich nämlich zur „eigenen" Existenz umwillen „eigensten Seinkönnens".1 Das Seinkönnen geht aber niemals in der „wirklichen" Existenz auf. Diese ist grundsätzlich und auf unhintergehbare Weise ,je meine". Niemand kann dem Anderen seine Existenz „abnehmen". Nicht einmal wenn ich für jemanden sterbe, anstelle seiner oder stellvertretend für ihn, ist ihm seine Existenz „erlassen". Es ist unerlässlich, selber zu existieren. Jedem ist die Existenz die „eigene", d.h. eine je-meinige. Die Jemeinigkeit ist ontologisch unhintergehbar. Zu ihr gehört aber nicht allein Sein, sondern auch im „realen" Sein nicht aufgehendes Seinkönnen, das im Verstehen erschlossen ist. Das Verstehen greift vor auf ein Seinkönnen, das ich entwerfen kann. So stellt sich Existenz als stän-

M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1984, 15. Aufl., S. 191 (=SZ), sowie Die Grundprobleme der Phänomenologie, Gesamtausgabe Bd. 24, Frankfurt/M. 1989, 2. Aufl., S. 194 ff.

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diges Projekt dar. Die „künftige" Existenz, folgen wir jener teleologischen Bestimmung, ist zwar auch eine je-meinige. Aber in ihr geht es um das, was mein „eigenstes" Seinkönnen ausmacht, ohne schon meine Wirklichkeit auszumachen. Dieses Telos zeichnet paradoxerweise die Bewegung einer Aneignung der eigenen Existenz vor, die sich im Verstehen vollziehen soll. Das Verstehen ist die Aneignung des Eigenen. Zur jemeinigen, eigenen Existenz verurteilt, bin ich doch (noch) nicht im Besitz meiner selbst. „Das Dasein ist als verstehendes Seinkönnen, dem es in solchem Sein um dieses als das eigene geht. Das Seiende, dergestalt seiend, bin je ich selbst." 2 In meiner eigenen Existenz ist mir auf unerlassbare Weise die verstehende Sicherung des Eigenen aufgegeben, über das ich im Horizont meines Seinkönnens gerade nicht verfüge. Von Anfang an erfahre ich mich dieses „Eigensten" in meiner eigenen Existenz beraubt und enteignet. Insofern kann das Verstehen als die Bewegung der Wieder-Aneignung der eigenen Existenz gelten. 3 Als Wieder-Aneignung zielt das Verstehen aber auf etwas ab, was keineswegs zuvor schon in unserem Besitz war. Der Selbst-Besitz erweist sich nachträglich als zuvor immer schon verlorener. Verfolgen wir die Spur dessen, worum es dem Seienden, das wir je selbst sind, geht, in Sein und Zeit weiter, so drängen sich zunächst Zweifel hinsichtlich der Frage auf, ob diese Ontologie für das Verständnis eines „sozialen" Mitseins fruchtbar gemacht werden kann. Denn die „eigenste Möglichkeit des Daseins", auf die es abzielt, läuft auf den Tod hinaus. Der Tod schert aber in die Unbezüglichkeit aus. 4 Gerade diese „Möglichkeit" erhellt, dass J e d e s Mitsein mit Anderen versagt, wenn es um das eigenste Seinkönnen geht". 5 So mündet „die eigenste Möglichkeit" letztlich in eine „unbezügliche". Unbezüglichkeit ist hier als ein anderer Ausdruck für eine Fremdheit zu verstehen, die im Verhältnis zum Anderen ihr Ausscheren aus jeglichem Verhältnis zum Anderen ankündigt. Es handelt sich um eine aus der „sozialen" Bezüglichkeit hinausweisende, insofern irrelative, d.h. absolute Fremdheit, angesichts dessen gerade das „Eigenste" hervortritt. Von Anfang an wird in Sein und Zeit das Umwillen der Existenz von dieser Fremdheit her gedacht: Von ihr her, die am Ende die Bezüge zur Welt der Anderen kappt, weiß ich, worum es dem um sich besorgten Dasein geht: nämlich darum, sich dazu zu verhalten, „daß ihm als äußerste Möglichkeit der Existenz bevorsteht, sich selbst aufzugeben". 6 Angesichts des Todes, der es aus der sozialen Bezüglichkeit herausfallen lassen wird, realisiert die Sorge, dass sie nichts wird retten können. Alles ist im vorhinein verloren; jede Hoffnung, den Tod zu überleben, ist vergeblich, d.h. zu verabschieden. Wenn sich in diesem Realisieren der Sorge eine Art Abschied von sich vollzieht, wie man vermutet hat, 7 so folgt er aus der Unumgänglichkeit, das, was apriori verloren ist, auch verloren zu geben. Nur so „anerkennt" die Sorge den Tod. Heidegger bezeichnet dies als „Freiwerden für den eigenen Tod".

2 3 4 5 6 7

SZ, S. 231. Vgl. P. Ricceur, Die Interpretation, Frankfurt/M. 1974. Vgl. M. Theunissen, Der Andere, Berlin, N e w York, 2 1977, S. 179. SZ, S. 263. SZ, S. 264. Vgl. M. Theunissen, Negative

Theologie

derZeit,

Frankfurt/M. 1991, S. 211.

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Ontologie des Mitseins: Heidegger

Dieses Freiwerden ist aber nur ein Zwischenschritt, den die hermeneutische Ontologie vollzieht, um dann darzulegen, dass erst auf dieser Grundlage „die faktischen Möglichkeiten" des Daseins verständlich werden, „die der unüberholbaren vorgelagert sind". Ist erst einmal die „äußerste Möglichkeit der Selbstaufgabe" realisiert, soll ,jede Versteifung auf die je erreichte Existenz" zerbrechen. „Frei für die eigensten, vom Ende her bestimmten, das heißt als endliche verstandenen Möglichkeiten, bannt das Dasein die Gefahr, aus seinem endlichen Existenzverständnis her die es überholenden Existenzmöglichkeiten der Anderen zu verkennen oder aber sie mißdeutend auf die eigene zurückzuzwingen."8 Mitnichten hat also die absolute, „unbezügliche" Fremdheit des eigenen Todes in der existenzialen Analyse das letzte Wort. Im Gegenteil geht es ihr darum, vor dem Hintergrund dieser Fremdheit die realen, faktischen Möglichkeiten als solche zu verstehen, die stets Möglichkeiten in den Spielräumen des Mitseins darstellen. Zwar versagt am Ende Jedes Mitsein mit Anderen"; aber gerade angesichts dieses künftigen, ständig bevorstehenden Versagens gewinnt das Mitsein sein eigentliches existenziales Profil. Das bedeutet gerade nicht, dass Weisen des Daseins wie die Fürsorge etwa für unwesentlich erklärt oder dass sie „vom eigentlichen Selbstsein" „abgeschnürt" würden. Ihre Bedeutung verstehen wir im Gegenteil erst vor dem Hintergrund eines letzten, unausweichlichen Versagens des Mitseins. Dieses erschließt zugleich, was für die Anderen auf dem Spiel steht. „Als unbezügliche Möglichkeit vereinzelt der Tod [...] nur, um als unüberholbare das Dasein als Mitsein verstehend zu machen für das Seinkönnen der Anderen."9 Angesichts des Todes, der von Anfang an bevorsteht, ist das Mitsein ursprünglich „versagendes". Es versagt nicht erst am Ende, das später, irgendwann, eintritt. Es ist vielmehr von Anfang an von seinem Versagen „gezeichnet". So wie der eigene Tod, an dem sich das Versagen des Mitseins erweist, „nicht indifferent nur dem eigenen Dasein zu[gehört]", sondern dieses als einzelnes „beansprucht, so gehört der Tod des Anderen nicht indifferent zum Mitsein, sondern nimmt dieses von Anfang an in nichtindifferenter Weise in Anspruch.

3.2 In der Welt Anderer So gesehen lässt man sich vom ersten Eindruck dieser Passagen in Sein und Zeit täuschen, wenn man zu dem Schluss kommt, hier werde das Mitsein grundsätzlich zugunsten einer monologischen Existenz vergleichgültigt. Sowohl als mit der Fremdheit des eigenen Todes konfrontiertes als auch als vom immer schon kommenden „fremden" Tod des Anderen gezeichnetes geschieht Dasein im Zeichen des Mitseins. Es geschieht nicht ,jemeinig" und irgendwie zusätzlich noch als Mitsein, sondern von Anfang an gewissermaßen zweiseitig.10 8 9 10

SZ, S. 264. Ebd. Vgl. M. Heidegger, Die Grundbegriffe 1992, 2. Aufl., S. 301 f.

der Metaphysik,

Gesamtausgabe Bd. 29/30, Frankfurt/M.

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Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

In der Bestimmung der Jemeinigkeit selber liegt dem gemäß bereits eine implizite Rücksicht auf den Horizont einer „sozialen" Koexistenz: Das Leben als „meiniges" ist nicht das „deinige", „unseres" oder „eures". In diesem „nicht" deutet sich eine erste Abgrenzung, eine Einfurchung in einem „generellen" Leben an, das sich keineswegs von Anfang an an Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem etwa hält. Doch kennen wir keine /To-Existenz, in der diese Generalität" des Lebens nicht schon von Lebensformen als Gestaltbildungen gezeichnet wäre, die sich von dem generellen Hintergrund abheben. Aber was bedeutet es denn, jemeiniges Sein als «//seiendes anzusetzen? Existieren „Mit(da)seiende" zusammen - oder doch nur «eZ>e«einander? Liegt im mit mehr als nur ein indifferentes oder gleichgültiges Nebeneinandervorkommenln Und wenn ja, inwiefern dann? Neben den zitierten Paragrafen, die das Sein-zum-Tod verhandeln, versprechen auch die Analysen der existenzialen Strukturen des Verstehens eine Antwort auf diese Frage. Im hermeneutischen Verständnis ist das Verstehen kein reflexiver Akt. Insofern gibt es kein direktes Verstehen. Und im Selbst-Verstehen hat das Selbst keinen unmittelbaren Zugang zu sich. Es weiß sich im Gegenteil auf die Welt angewiesen, von der her auch das Selbst als Selbst allein in den Blick kommt. Zwar muss es sich vorgängig erschlossen sein. Wie wäre der Welt sonst ein Hinweis auf sich zu entnehmen, wenn die Möglichkeit eines solchen Rückbezugs nicht bereits eröffnet wäre? Zum Verstehen gehört nicht nur ursprünglich, dass es sich immer darum handelt, etwas zu verstehen, sondern auch, dass das zu Verstehende „innerhalb der Welt zugänglich" erscheint. So auch das Selbst. Als Selbst begegnet es „im Rahmen der Welt" und versteht sich von ihr her. Es hat die „Tendenz, das eigene Sein aus dem Seienden her zu verstehen, zu dem es sich wesenhaft ständig und zunächst verhält, aus der , Welt'". 13 Das Weltverständnis strahlt auf die Auslegung des Selbst zurück. Das gilt auch und gerade, wenn wir fragen, wer es ist, der sich in der Weise der Selbstheit zur Welt verhält. Jede Antwort auf diese Wer-Frage, 14 die das Selbst zur Sprache bringt, wird sich von der Welt kontaminiert erweisen, in der jegliches Verstehen zunächst aufgeht. Dabei handelt es sich aber nicht um die Welt als universalen Horizont allen Erscheinens, sondern um eine alltägliche Welt, in der ein naives Verstehen seine eigenen Voraussetzungen zunächst nicht befragt. Das Verstehen erweist sich so gesehen als unvermeidlich „sozialisiert"; es kontaminiert auch das „Subjekt" des Verstehens mit den Strukturen einer sozialen Welt, die immer schon „verstanden" zu haben glaubt und dabei das Verstehen als Verstehen vergisst. Die ontologische Hermeneutik mag schließlich zeigen, dass das Seiende, das zu verstehen sucht,

12

13 14

Vgl. M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986. Es versteht sich von selbst, dass fur eine umfassende Sozialphänomenologie, deren Grundprobleme hier nur gestreift werden, die Existenziale des Neben- oder Miteinander nicht ausreichen können. Ein Leben „im Anderen" bzw. im Modus des Ineinander, wie es Husserl idealisiert hat, kennt Heidegger nicht. Vgl. B. Waldenfels, Im Zwischenreich des Dialogs, Berlin 1971; sowie K. Schuhmann, Husserls Staatsphilosophie, Freiburg, München 1988, S. 60, 79. SZ, S. 15, 58. Mit der Frage Wer? fragen wir nach dem ,,Seiende[n], das je in der Weise des In-der-Welt-seins ist". SZ, S. 53. Vgl. auch S. 114.

Ontologie des Mitseins: Heidegger

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„nie die Seinsart des innerhalb der Welt nur Vorhandenen" haben kann, gerade weil und insofern es sich selber verstehend zur Welt verhält. Aber in der durchschnittlichen „Indifferenz der Alltäglichkeit", bei der sie zunächst ausdrücklich und programmatisch ansetzt, scheint doch gerade ein Seinsverständnis vorzuherrschen, das gleichsam auf das Selbst abfärbt 15 und dem gemäß es selber ein irgendwie in der Welt Vorhandenes ist, das nachträglich und äußerlich zu anderem Vorhandenem in Beziehung zu setzen ist. Als Sozialontologie ist Sein und Zeit eine konzentrierte Anstrengung, eine naive Ontologie der sozialen Welt zu destruieren, 16 die auf eine Verdinglichung des Selbst hinausläuft, mit der Folge, dass Selbstheit zur Selbigkeit gerinnt, wie sie auch Dingen zukommt, solange sie nur in Raum und Zeit reidentifizierbar sind. Weder das „Subjekt" des Verstehens noch der Andere ist aber etwas Selbiges. Nur versteht es in seiner Alltäglichkeit so wenig vom Verstehen, dass es die Verstehenden selber als quasi „sinnendinglich" Vorhandene einzustufen nahe legt, die nebeneinander in der Welt vorkommen. Zwar kann, wie Heidegger im Widerspruch zur oben zitierten Stelle einmal einräumt, „auch Seiendes, das nicht weltlos ist, ζ. B. das Dasein selbst, [...] mit einem gewissen Recht in gewissen Grenzen als nur Vorhandenes aufgefaßt werden". Doch „hierzu ist ein völliges Absehen von, bzw. Nichtsehen der existenzialen Verfassung des In-der-Welt-Seins notwendig". 17 Das alltägliche Verstehen vergisst sich als Absehen von... Es realisiert am Ende gar nicht mehr, dass es da etwas gibt, wovon es abgesehen hat. In Wahrheit geschieht Selbstheit aber wesentlich im Modus des Verstehens; und dieses Geschehen entzieht sich den Kategorien, mit denen man Seiendes in der Welt belegt. Nicht, dass wir uns nicht auch als Seiende in der Welt verstehen könnten. Aber das als darf nicht vergessen werden. Geschieht das, so vergisst sich das Verstehen als Verstehen, das seinem Sinn nach doch ganz und gar Verstehen von etwas als etwas ist. Vergessen wird so auch die mit dem „Sein des Menschen" 18 gleichursprüngliche Bezogenheit auf Andere, die von diesem Sein als einem Mitsein zu sprechen erlaubt. Genauer: diese Bezogenheit wird als etwas nachträglich zu bereits Vorhandenem Hinzukommendes gedacht und auf diese Weise indirekt dem menschlichen Sein an sich abgesprochen. Wenn es sich aber nicht so verhält, dass dieses Sein gelegentlich die Laune hat, „Beziehungen" zur Welt aufzunehmen, ohne die es sich an sich auch denken ließe, und wenn es nicht bloß zufallig und nachträglich, etwa anlässlich der Begegnung mit anderem Seiendem auf seine eigene „Sozialität" gestoßen wird, wie gehört eine „soziale" Bezogenheit dann ursprünglich zu diesem Sein? 19

15 16 17 18 19

Vgl. SZ, S. 16,43. Vgl. SZ, S. 45, 51, 63 f., 178. SZ, S. 55. SZ, S. 25. Vgl. SZ, S. 57. Was der Autor an dieser Stelle über das In-Sein ausführt, braucht nur parallel fur das „soziale" Sein gesagt zu werden. Kritisch zum Weltbegriff in sozialphilosophischer Perspektive, der es besonders um eine Pluralität miteinander interferierender Ordnungen geht, auch H. Rombach, Phänomenologie des sozialen Lebens, Freiburg, München 1988, S. 120 ff.

Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

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3.3 Ethischer Sinn des Mitseins? Bekanntlich hält sich Sein und Zeit auch in der Hinsicht dieser Frage weitgehend an den Leitfaden der Dinge, freilich nicht der vorhandenen, sondern der „zuhandenen" Dinge, mit denen es seine Bewandtnis hat - je nach praktischem Zusammenhang, in dem wir „engagiert" sind. Es gibt eine Mannigfaltigkeit solcher Zusammenhänge, in der sich das In-derWelt-Sein zu zersplittern droht: „zutunhaben mit etwas, herstellen von etwas, bestellen und pflegen von etwas, verwenden von etwas, aufgeben und in Verlust geraten lassen von etwas, unternehmen, durchsetzen, erkunden, befragen, betrachten, besprechen, bestimmen..." Jedesmal handelt es sich um etwas, was „besorgt" wird. 20 Indirekt, von dem besorgten Etwas her, lässt sich die Hermeneutik des Daseins die Existenz anderer anzeigen. Mit in Arbeit befindlichem Zeug etwa, begegnen die Anderen „mit", für die es bestimmt ist. In der Bewandtnis von etwas liegt eine „Verweisung" auf mögliche Benutzer beispielsweise, denen das bearbeitete Objekt schließlich „auf den Leib zugeschnitten" sein soll. Selbst das „fremde Boot", von dem niemand gerade weiß, wem es gehört, verweist so auf Andere, die es benutzen könnten usw. „Die so im zuhandenen, umweltlichen Zeugzusammenhang ,begegnenden' Anderen werden nicht etwa zu einem zunächst nur vorhandenen Ding hinzugedacht, sondern diese ,Dinge' begegnen aus der Welt her, in der sie für die Anderen zuhanden sind f...]."21 Hier geht es ersichtlich gerade nicht um Begegnung mit den Anderen als Anderen, sondern darum, zu zeigen, dass selbst dort, wo wir unmittelbar nur „Dinge" vor uns zu haben glauben, die Anderen mit im Spiel sind: denn es sind die Dinge ihrer Welt, deren Bewandtnis sich uns erschließt. „ Dinge" gibt es nur in der Welt Anderer, zu der ich gehöre oder nicht gehöre. Gehöre ich zu ihr, was Heidegger als den generellen Fall voraussetzt, so verstehe ich wenigstens annähernd, was es mit dieser Bewandtnis auf sich hat; gehöre ich nicht zu ihr, so kann ich womöglich nur irgendeine Bewandtnis vermuten oder unterstellen. Die Dinge, heißt das, sind mir in dem Maße vertraut oder fremd, wie mir die Welt der Anderen, zu denen ich gehöre oder nicht gehöre, vertraut oder fremd ist. Die Zugehörigkeit oder Unzugehörigkeit zu einer sozialen Welt entscheidet darüber, wie wir uns unter den Dingen befinden werden. 22 Dabei wird die jeweilige soziale Welt, in der wir uns, sei es als Zugehörige, sei es als Unzugehörige und insofern Fremde, befinden, niemals mit der Welt aller zusammenfallen können. Vertrautheit jedenfalls wird wenn nicht ausschließlich, so doch vorrangig in der Welt erfahren, die wir mit Anderen teilen; und die Erfahrung des Mitseins profiliert sich konkret stets parallel im Zeichen der Differenz Zugehörigkeit vs. Unzugehörigkeit. Insofern hat sie stets einen selektiven und exklusiven Charakter. Das wird besonders deutlich, wo Heidegger endlich vom „Zeug" absieht und zu der Einsicht vorstößt, dass „die Welt des Daseins [...] Seiendes [freigibt, das nicht nur von Zeug 20 21 22

SZ, S. 56 f. SZ, S. 117 f. Vgl. SZ, S. 137, sowie Die Grundprobleme der Phänomenologie, S. 428. Von selbst versteht es sich, dass die empirischen Verhältnisse kaum jemals einem grobschlächtigen Entweder-oder entsprechen. Sie werden kaum je insgesamt als vertraute oder fremde begegnen.

Ontologie des Mitseins: Heidegger

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und Dingen überhaupt verschieden ist, sondern gemäß seiner Seinsart als Dasein selbst in der Weise des In-der-Welt-Seins ,in' der Welt ist, in der es zugleich innerweltlich begegnet. Dieses Seiende ist weder vorhanden noch zuhanden, sondern ist so, wie das freigebende Dasein selbst - es ist auch und mit da."23 Dieses Mit-da-Sein ergibt sich gerade nicht aus einem nachträglich, etwa auf dem Weg der Einfühlung, eines unbewussten Schlusses oder der Appräsentation erst zu suchenden Übergang zu Anderen. „Zur Vermeidung dieses Missverständnisses ist zu beachten, in welchem Sinne hier von ,den Anderen' die Rede ist. ,Die Anderen' besagt nicht soviel wie: der ganze Rest der Übrigen außer mir, aus dem sich das Ich heraushebt, die Anderen sind vielmehr die, von denen man selbst sich zumeist nicht unterscheidet, unter denen man auch ist. Dieses Auch-da-sein mit ihnen hat nicht den ontologischen Charakter eines ,Mit'-Vorhandenseins innerhalb einer Welt. Das ,Mit' ist ein Daseinsmäßiges, das ,Auch' meint die Gleichheit des Seins als umsichtig-besorgendes Inder-Welt-sein. [...] Auf dem Grunde dieses mithaften In-der-Welt-seins ist die Welt je schon immer die, die ich mit den Anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen. Das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitdasein."2* Die Anderen, von denen hier die Rede ist, sind nicht alle Anderen, sondern diejenigen, von denen ich mich als auf diese Welt sich Beziehender nicht unterscheide - im Unterschied zu anderen Anderen aber, die derselben Welt nicht zugehören. Im Horizont derselben sozialen Welt ko-existieren wir so gesehen insofern, als wir unser Unterschiedensein oder die Art und Weise, in der wir uns unterscheiden, im Hinblick auf unsere Weltbezüge „vergessen" oder glauben vernachlässigen zu dürfen. Wo der Weltbezug als solcher nicht fraglich wird und keine Differenz zwischen mir und Anderen aufbrechen lässt, bewegt man sich - wenigstens vermeintlich oder vorläufig - in einer sozialen Welt. Wird darüber hinaus auch vergessen oder vernachlässigt, dass das Leben in derselben sozialen Welt an sich nur rechtfertigt, dass man als auf dieselbe Welt sich Beziehender nicht unterschieden wird, droht am Ende jegliches eigenes Unterschiedensein oder Sichunterscheiden in einem unterschiedslosen Man unterzugehen. Deshalb keimt im Bezug auf dieselbe Welt, auf dieselben Dinge, um die man „besorgt" ist, ständig „die Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen". „Das Miteinandersein ist - ihm selbst verborgen - von der Sorge um diesen Abstand beunruhigt. Existenzial ausgedrückt, es hat den Charakter der Abständigkeit."25 In einem „abstandslosen" Sein mit und unter Anderen könnte auf die Wer-Frage nur im Sinne einer kollektiven Identität Antwort gegeben werden, die in sich alle Unterschiede tilgen müsste. Das jemeinige Sein aber zeigt sich von Anfang an besorgt um seine Differenz. Denn die Bezogenheit auf dieselbe soziale Welt beschwört die Gefahr herauf, dass „man" schließlich jegliche Andersheit in dieser Bezogenheit vergisst oder vernachlässigt. Man muss

SZ, S. 118. Gleich auf der nachfolgenden Seite überdeckt allerdings das „umweltliche Begegnen" Anderer wieder diesen Ansatz. Trifft man bei Heidegger je auf ein Von-Angesicht-zu-Angesicht? 24 25

SZ, S. 118. SZ, S. 126.

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sich anders auf dieselbe Welt beziehen, um überhaupt Jemand" sein zu können.26 Existenzial gesehen ist man nicht schon deshalb Jemand", weil man ausweislich gewisser äußerer Merkmale, persönlicher „Eigenschaften" oder eines rechtlichen Status als der und der zu identifizieren ist. Die Identifikationsmöglichkeit im Register der Selbigkeit verträgt sich durchaus damit, im Register der Selbstheit „niemand" zu sein. Man muss darum die Andersheit des Sich-Beziehens auf dieselbe Welt sichtbar machen und zur Geltung bringen - gegen die Anderen, vor allem aber gegen sich selbst, gegen das eigene Mitsein, das unversehens der „Herrschaft der Anderen" den Weg bahnt und sich nicht nur der Anonymität, sondern in gewisser Weise auch der Selbst-losigkeit ausliefert. Die Anderen, gegen die sich die Sorge um den eigenen „Abstand" richtet, sind nun „nicht bestimmte Andere". „Entscheidend ist nur die unauffällige, vom Dasein als Mitsein unversehens schon übernommene Herrschaft der Anderen. Man selbst gehört zu den Anderen und verfestigt ihre Macht. ,Die Anderen', die man so nennt, um die eigene wesenhafte Zugehörigkeit zu ihnen zu verdecken, sind die, die im alltäglichen Miteinandersein zunächst und zumeist ,da sind'. Das Wer ist nicht dieser und nicht jener, nicht man selbst und nicht einige und nicht die Summe Aller. Das ,Wer' ist das Neutrum, das Man."21 So gesehen entspricht dem „Man" aber gerade eine nivellierte, gewissermaßen in-differenzierte Zugehörigkeit und schließt insofern Unzugehörige nicht mit ein. Erneut zeigt sich eine „regionale" ontologische Bestimmtheit „sozialer" Existenz. Ontologisch gilt das Dasein hier als für das Leben unter Anderen derart aufgeschlossen, dass es sich von seinem „eigentlichen" Umwillen, von der Sorge um sein „Eigenstes" abbringen lässt und sogar vergisst, dass es sich so hat von sich abbringen lassen. Die Aufgeschlossenheit hat die Herrschaft der Anderen zur Folge, die um so wirksamer sich geltend macht, je stillschweigender sie sich vollzieht, wenn das eigene Mitsein ihr willigster Komplize ist. Auf diese Zuordnung von Aufgeschlossenheit und Herrschaft folgen unmittelbar die merkwürdigen, ressentimentgeladenen Passagen in Sein und Zeit, deren Rhetorik suggeriert, nur im Sichverschließen gegenüber dem allzu leicht korrumpierbaren Mitsein könne das „Sein, dem es in seinem Sein um es selbst geht" seinem ihm offenbar eingeborenen Telos gerecht werden. Die Korruption wird überall vermutet: „in der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, in der Verwendung des Nachrichtenwesens (Zeitung)", überhaupt in der „Öffentlichkeit"... Überall droht Jeder Andere wie der Andere" behandelt und gleichgemacht zu werden. „Dieses Miteinandersein löst das eigene Dasein völlig in die Seinsart ,der Anderen' auf, so zwar, daß die Anderen in ihrer Unterschiedlichkeit und Ausdrücklichkeit noch mehr verschwinden."28 „Das Man" wird als Inbegriff einer „Normalisierungsmacht" (Foucault) beschrieben, die konkret von niemandem ausgeübt wird, die vielmehr im Mitsein selber wurzelt. Unter der Diktatur der Normalität „genießen und vergnügen [wir] uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt [...]". Sie schreibt die „Seinsart der Alltäglichkeit" vor; „in der Vorzeichnung dessen, was gewagt werden kann und

27 28

Andernfalls bleibt es bei der von Heidegger suggerierten Gleichung von Man und Wir, vgl. M. Theunissen, Der Andere, S. 173. SZ, S. 126. SZ, S. 126 f.

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darf, wacht [sie] über jede sich vordrängende Ausnahme. Jeder Vorrang wird geräuschlos niedergehalten. Alles Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt geglättet." Was hier auf dem Spiel steht, ist nicht weniger als die eigenste Seinsmöglichkeit, die in einer unterschiedslosen Normalität - die angeblich „unempfindlich ist gegen alle Unterschiede" - „eingeebnet" zu werden droht.29 Dagegen wird die Sorge um das eigene Seinkönnen, um die eigene Differenz aufgerufen. Die Sorge kann zwar aus dem Mitsein nicht aussteigen, man sieht aber, welche Vorstellung der Autor von ihm hat: Auch in der Weise des „Miteinanderseins" bedroht es das Selbst mit dem Vergessen dessen, worum es diesem in seinem Sein gehen muss. Gegen diesen Verlust, der dem Selbst durch sein Ausgeliefertsein an ein die Seinsmöglichkeiten normalisierendes Mitsein droht, setzt Heidegger die Besinnung auf den Tod - im Zeichen der Unbezüglichkeit, die nun als Verheißung des Eigensten erscheinen kann.

3.4 Mitsein - ethnisch beschränkt? Aber finden wir in Sein und Zeit nicht auch die Gegenbewegung, die Hinwendung zu einem Füreinander? Zeigt dieses Für einen ethischen Sinn des Mitseins an sich an, oder geht es um einen speziellen „Modus des Seins mit Anderen" (Gurwitsch), neben dem sich andere denken lassen?30 Geht das Existenzial des Mitseins selber bereits über eine Besinnung auf rein „formale Strukturen des Miteinanderseins" (Löwith) hinaus?31 Das scheint nicht der Fall zu sein, wenn Heidegger betont, der Andere begegne niemals als lediglich „vorhandenes Menschending", sondern in seinem Mit(da)sein.32 Zwar soll das nicht bloß besagen, mit mir kommen noch Andere vor. Mitseiend existieren wir auch dann, wenn gerade niemand mit da ist. Auch fehlen können Andere nur einem ursprünglich bereits in der Form des Mitseins konstituierten Leben. Das Vermissen des Abwesenden ist so gesehen aber nur ein Modus unter anderen Weisen sozialer Bezogenheit, in denen Mitsein sich konkret ausprägt. Die Anderen begegnen auch als „gleichgültige", „fremde" usw. Wird das Mitsein aber so nicht rein formal betrachtet und aller ethisch relevanten Momente entkleidet - oder bedeutet das im Mitsein gegebene Aufgeschlossensein für den Anderen als Anderen bereits, dass das Mitsein als Bestimmtsein zum Füreinander zu verstehen ist? Heidegger spricht von Fürsorge gleichfalls als einem Existenzial, was gerade nicht besagen soll, dass man „fürsorglich" im gewöhnlichen Sinne ist. Wiederum rein formal soll gelten: „Das Für-, Wider-, Ohne-einandersein, das Aneinandervorbeigehen, das Einandernichts-angehen sind mögliche Weisen der Fürsorge. Und gerade die zuletzt genannten Modi 29 30 31

32

Ebd. Vgl. A. Gurwitsch, Die mitmenschlichen Begegnungen in der Milieuwelt, Berlin, N e w York 1997. Vgl. K. Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, Stuttgart 1981; R. Marten, Heidegger lesen, München 1991, S. 7Iff., 96 f. Vgl. SZ, S. 120.

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Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

der Defizienz und Indifferenz charakterisieren das alltägliche und durchschnittliche Miteinandersein. Diese Seinsmodi zeigen wieder den Charakter der Unauffälligkeit und Selbstverständlichkeit, der dem alltäglichen innerweltlichen Mitdasein Anderer ebenso eignet wie der Zuhandenheit des täglich besorgten Zeugs. Diese indifferenten Modi des Miteinanderseins verleiten die ontologische Interpretation leicht dazu, dieses Sein zunächst als pures Vorhandensein mehrerer Subjekte auszulegen." 33 Doch folgt daraus mehr, als dass Andere nicht als bloß „vorhanden" gelten können? Immerhin „besteht zwischen dem gleichgültigen' Zusammenvorkommen beliebiger Dinge und dem Einander-nichts-angehen miteinander Seiender ein wesenhafter Unterschied." Die Dinge können uns nie in derselben Weise „kalt lassen" wie Andere. Gleichgültigkeit im Verhältnis zum Anderen entspricht einem „defizienten Modus der Fürsorge"; sie vergleichgültigt, was nicht an sich gleichgültig ist. Der hier einfließende ontologische Begriff der Nicht-Gleichgültigkeit ist aber kein ethischer. Er besagt zunächst nur, dass die Seinsmöglichkeiten im Verhältnis zu den Anderen einen Bezug haben auf das, worum es dem Selbst in seinem Sein geht. Das gilt, wenn die Sorge für den Anderen „einspringt" oder wenn sie dem Anderen dazu verhilft, zu seiner Sorge zurückzufinden, ebenso, wie wenn beides unterlassen wird. Dasselbe lässt sich für Rücksicht und Nachsicht, Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit als Modi der Fürsorge sagen. Auf den ersten Blick widerspricht dieser Deutung, dass im weiteren Verlauf davon die Rede ist, als Mitsein sei das Dasein „wesenhaft umwillen Anderer". Auch diese Bestimmung muss aber als ethisch neutral gelten, denn sie trifft den „Sinn" des Mitseins angeblich auch dann, wenn „das jeweilige faktische Dasein sich an Andere nicht kehrt". 3 4 Aus dem „Umwillen Anderer" folgt offenbar in keiner Weise, dass diesen etwas „zugute" kommen müsste oder dass uns die Anderen etwas „angehen" müssen. Gewiss: für Heidegger ist das Mitsein existenzial unhintergehbar. Aber die existenziellen Seinsmöglichkeiten, die es im unaufkündbaren Verhältnis zu den Anderen grundsätzlich offen lässt, ruhen als Modi des Mitseins nur auf einer vorgängigen Erschlossenheit der Anderen auf; aber aus dieser „Erschlossenheit" ist zunächst nichts Ethisches zu gewinnen. 35 Versteht man die Nicht-Gleichgültigkeit des Mitseins aber so, dann folgt aus ihr nicht, was uns der Schmerz oder das Unglück Anderer angehen. Eine angeblich im menschlichen Sein begründete „nichtmetaphysische Nächstenethik", wie sie Werner Marx vorschwebte, lässt sich auf dieser Basis nicht gewinnen. 36 Nicht zufällig stützt man sich auf sekundäre, SZ, S. 121. Vgl. F. A. Elliston, „Heidegger's Phenomenology of Social Existence", in: ders. (Hg.), Heidegger's Existential Analytic, The Hague, Paris, N e w York o. J. [1978], S. 61-77, hier: S. 65 f. 34 j5

36

SZ, S. 123. W. Janke (Existenzphilosophie, Berlin, N e w York 1982) suggeriert, Heideggers Analyse sei ethisch relevant, z.B. indem er schreibt, im Zustande der Gleichgültigkeit seien wir von der eigentlichen Rücksicht auf den Anderen abgewandt. S. 180. Vgl. W. Marx, Gibt es auf Erden ein Maß?, Frankfurt/M. 1986, S. 12, 36. Marx beruft sich auf eine „Wechselwirkung von Anspruch und Entsprechen" und auf ein daraus wie von selbst sich herausbildendes Maß-gebendes. Aber erst in der Erfahrung äußerster (eigener!) Hilflosigkeit, aus der Einsamkeit des Selbst heraus vergeht die „Gleichgültigkeit gegenüber den anderen als bloß

95

Ontologie des Mitseins: Heidegger

zusätzliche Bestimmungen, um zu erklären, was uns „Andere" eigentlich angehen oder angehen sollen - so als ob die bloße Anderheit nicht genügen würde. Hinzukommen muss vor allem die Zugehörigkeit

des Anderen. 37 Zwar hält sie sich zumeist in der „Gestimmtheit der

uninteressierten Gleichgültigkeit", unter der misstrauische Beobachter wiederum eine latente Bereitschaft zum hobbesianischen Kampf zu erkennen meinen; doch diese Gleichgültigkeit stellt sich dem Phänomenologen als „Entzugsgestalt der Zugehörigkeit" dar. Von der „erfüllten Zugehörigkeit" her ist aber zu verstehen, was uns Andere „ethisch angehen". Ruht eine auf dieser Grundlage entwickelte Ethik dann nicht auf ethnischen Prämissen, insofern sie von vornherein die unzugehörigen Anderen bzw. die Unzugehörigkeit der Anderen nicht als ethisches Problem zur Kenntnis nimmt? Solche Prämissen treten in der Tat zu Tage in den Paragrafen, welche die ontologische Geschichtlichkeit des Mitseins herausstellen. Wenn nämlich, so heißt es in §74, Dasein als „In-der-Welt-sein wesenhaft im Mitsein mit Anderen existiert, ist sein Geschehen ein Mitgeschehen und bestimmt als Geschick.

Damit bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft,

des Volkes. Das Geschick setzt sich nicht aus einzelnen Schicksalen zusammen, sowenig als das Miteinandersein als ein Zusammenvorkommen mehrerer Subjekte begriffen werden kann. Im Miteinandersein in derselben Welt und in der Entschlossenheit für bestimmte Möglichkeiten sind die Schicksale im vorhinein schon geleitet." 38 Was hier Geschick genannt

mit Vorhandenen" und läßt sie zu Mitmenschen werden, an die man sich, um Hilfe flehend, wenden kann (S. 56). Dann erst erkennt man: Sie bedürfen ebenso der Hilfe. Im Gegensatz zu Levinas entspringt hier aus dem „Eigensten" der eigenen Sterblichkeit das Mit-leiden-können (S. 50). W. Marx, Ethos und Lebenswelt, Hamburg 1986, S. 42 ff. SZ, S. 384. Die Brisanz dieser Terminologie wird nicht durch den Hinweis entschärft, sie stehe nur für das, was der „traditionelle Begriff des Geistes" abdeckt. Denn erstens wird dieser Begriff hier apolitisch, d.h. hier: ohne jede Rücksicht auf konkrete Institutionen und auf ein Handeln gemäß der sublunaren Logik des Wahrscheinlichen gedacht, die im Feld des Politischen vorherrscht (vgl. O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, München 1999, S. 146 f., 188 ff., 221 f., 227-9); und zweitens wird der Begriff des Geistes ungeachtet dessen bei Heidegger allzu oft nur benutzt, um eine universale geschichtliche Sendung des deutschen, des eigentlich metaphysischen Volkes hervorzuheben (vgl. J. Derrida, Vom Geist. Heidegger und die Frage, Frankfurt/M. 1992, S. 12, 26 f., 45 f., 56; A. Schwan, „Heidegger, Politik und Praktische Philosophie", in: Philosophisches Jahrbuch 81 [1974], S. 148-171, hier: S. 152 f.; K. Harries, „Heidegger as a Political Thinker", in: Μ. Murray [Hg.], Heidegger and Modern Philosophy, New Haven, London 1978, S. 304-328). Das entsprechend in Anspruch genommene „Wir" ist darüber hinaus stets ein in sich homogenes und zugleich exklusives. Die spätere Absage an einen „Egoismus des Volkes" (Piatons Lehre von der Wahrheit, Bern 1954, S. 85) erscheint mir als nachgeschobene Antwort auf die zu spät wahrgenommene Kontamination von Volk und Geist, die in der Existenzialisierung des Mitseins angelegt war. Die darin liegende Gefahr hat bereits Karl Löwith klar herausgestellt: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, Frankfurt/M. 1989, S. 30-41. Tatsächlich hat das „Volk" in der frühen Ontologie nicht seinen Ort „im Sein" überhaupt, sondern einen bestimmten, als Boden bezeichneten exklusiven Ort, der gegen Andere zu verteidigen ist. Das war zwar nicht rassistisch gemeint, ließ aber doch den Gedanken eines Naturzustandes zwischen den weit-geschichtlichen Kollektiven anklingen. Entsprechend sensibel wurde auf eine so verstandene „Situierung" des Mitseins reagiert; vgl. R. Altwegg (Hg.), Die Heidegger-

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wird, entspricht der Zugehörigkeit zur Überlieferung, die nicht die Überlieferung aller sein kann. Der Überlieferung, d.h. einer bestimmten, regionalen Überlieferung zuzugehören, indem man sich als durch sie „ansprechbar" erweist, bedeutet nicht, ein „menschheitliches" Erbe anzutreten. Im Gegenteil stellt sich uns die Geschichtlichkeit einer Gemeinschaft oder eines Volkes nur im Kontrast zur von ihr ausgeschlossenen, „fremden" Geschichtlichkeit der Anderen, d.h. der Unzugehörigen dar. Dieser Ausschluss bestimmt die Geschichtlichkeit des Mitseins „im vorhinein schon". Dasselbe gilt hinsichtlich der Frage, wer als im Sinne des Mitseins konkret „Anderer" überhaupt in Betracht kommt. Dafür kommen, gemäß jenen Prämissen, je nur die Zugehörigen infrage. So gesehen kann keine Rede davon sein, dass das Mitsein generelle Erschlossenheit des Anderen als des Anderen bedeutet. Die Erschlossenheit, die sich in der Ansprechbarkeit zeigt, steht gleichsam unter dem Vorbehalt der Zugehörigkeit. Die Anderen, fur die wir im Modus des Mitseins „aufgeschlossen" sind, sind nach Maßgabe ihrer Zugehörigkeit lediglich „Unseresgleichen". Dem Anderen als Fremdem kann man aber nicht von einem ganz und gar auf Zugehörigkeit zugeschnittenen Mitsein ethisch gerecht werden. Wenn wir demgegenüber den Fremden als Unzugehörigen verstehen und die Prämisse der Beschränkung des Mitseins auf eine Ansprechbarkeit für Zugehörige infragestellen, lässt sich dann aber denken, dass uns die Fremden auf unhintergehbare Weise „etwas angehen"? Bekanntlich hat vor allem Levinas energisch bestritten, dass dies auf der Grundlage einer Ontologie des Mitseins allein gelingen könne. Bevor ich deren Ertrag resümiere, sei vorläufig wenigstens en passant auf diese grundsätzliche Kritik hingewiesen.

3.5 Mitsein und Unzugehörigkeit Läuft diese Ontologie nicht, so fragt Levinas in polemischer Absicht, auf die Apologie eines „heidnischen Existierens" hinaus, dem ursprünglich jegliche Rücksicht auf den Anderen in seiner Fremdheit fremd ist und das sich womöglich nur aus einer gewissen Generosität heraus zur Sorge um oder für den Anderen und zum Mitleid aufschwingt? 39 Kann eine Ontologie unserer Einfügung ins Sein angeben, was uns der Andere nicht etwa in Kontroverse, Frankfurt/M. 1988, S. 64, 80, 233, und bes. E. Levinas, „Heidegger, Gagarin und wir" [1961], in: ders., Schwierige Freiheit, Frankfurt/M. 1992, S. 173-176; E. Levinas, Vom Sein zum Seienden, Freiburg, München 1997, S. 117. - Ungeachtet der deutlich benannten Nähe von „höriger" Zugehörigkeit zu einem Volk einerseits und Mitsein andererseits sucht Derrida letzteres (wenn ich sein Buch richtig verstanden habe) so zu verteidigen, dass eine ontologische Vergemeinschaftung ohne „Eingemeindung" des Anderen denkbar wird, der in seiner radikalen Anderheit niemals ganz „dazugehörgen" oder Mitglied sein kann. Dabei rückt indirekt das Mitsein sehr weit vom antiken ethnischen Vorbild einer „Syngenealogie" ab, die im modernen Begriff des Volkes zweifellos anklingt. Vgl. J. Derrida, Politiques de l'amitii, Paris 1994, S. 115, 128 f., 331-363. Man wird den Sinn dieser Frage auch dann verstehen, wenn man Levinas' Zuordnung von ethischer Rücksichtslosigkeit und „heidnischem" Existieren für anfechtbar hält.

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einer freiwilligen, gegebenenfalls aber verweigerten Fürsorge, sondern auf unhintergehbare Weise angeht? 40 Levinas geht es gerade nicht um eine ethische Dimension, die zur jemeinigen Sorge nachträglich hinzukommen würde wie das sogenannte Mitleid gegebenenfalls zur Selbsterhaltung oder auch zu einem bloßen Mit-sein hinzukommt. Die Frage „Warum betrifft mich überhaupt der Andere?" oder „Bin ich meines Bruders Hüter?" hat nur Sinn, „wenn man bereits zur Voraussetzung gemacht hat, daß das Ich sich nur um sich selbst sorgt [...]. Unter dieser Voraussetzung bleibt es in der Tat unverständlich, daß das absolute Außerhalb meiner - der Andere - mich betrifft." 41 Keineswegs will Levinas mitleidsethisch einer „Großzügigkeit des Sich-dem-Anderen-anbietens" das Wort reden, sondern den Sinn menschlichen Seins selbst als einen der Verantwortung für den Anderen gewidmeten verständlich machen. Dabei soll sich diese Verantwortung von keinerlei vorgängiger Bedingung einer Zugehörigkeit des Anderen bevormunden lassen. Nur unter dieser Voraussetzung wird in der Frage, was das Mitsein ethisch bedeutet, nicht der Andere als Fremder bzw. der als Fremder begegnende Andere von vornherein ausgeschlossen. Die Begegnung mit dem Anderen hat darüber hinaus für Levinas weder bloß einen hinsichtlich des j e eigenen Seinkönnens nicht indifferenten noch einen lediglich formalen Charakter. „Die ethische Beziehung, das Miteinandersein, ist bei Heidegger nur ein Moment unserer Präsenz in der Welt. Sie hat keine zentrale Bedeutung. Mit, das heißt immer sein neben..., das ist nicht in erster Linie das Antlitz, das ist, Zusammensein, vielleicht zusammenmarschieren."42 Levinas bezweifelt aber, dass das wechselweise als Füreinander, als Miteinander oder auch als Mitdasein charakterisierte Mitsein über den formalen Aspekt des nicht hintergehbaren Bezogenseins auf Andere irgendeinen ethischen Sinn hat. Levinas sieht durchaus, dass etwa die Fürsorge in Sein und Zeit nicht erst nachträglich zum Mitsein hinzukommt; es handle sich vielmehr um eine „konstitutive Artikulation" des Daseins. Mehr noch: das Phänomen der Gleichgültigkeit scheint ihm ganz im Sinne von Sein und Zeit als Mangel an Für-den-Anderen den eigentlichen Sinn der Fürsorge zu be-

40

Vgl. A. Peperzak, „Einige Thesen zur Heidegger-Rezeption von Emmanuel Levinas", in: A. Gethmann-Siefert, O. Pöggeler (Hg.), Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt/M. 1988, S. 373-389, hier: S. 380, 388. Zu weit geht gewiss die Behauptung, die Ontologie Heideggers „impliziere die Unmöglichkeit einer Ethik". Immerhin ist die Bestimmung des Unwillen des Daseins eine Uminterpretation des Kantischen „Zwecks an sich selbst" (siehe M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 194 f.) Aber wird dieser Begriff einer uns immer schon entzogenen Anderheit, die in ihrer radikalen Pluralität nicht als von vornherein vor dem moralischen Gesetz „gleich" gedacht werden kann, gerecht? Vgl. die Weiterfuhrung dieser Fragen in: B. Waidenfels, I. Därmann (Hg.), Der Anspruch des Anderen, München 1998; F. Dastur, „Das Denken des Anderen: eine französische Besonderheit?", in: Th. Bedorf, G. W. Bertram, N. Gaillard, T. Skrandies (Hg.), Undarstellbares im Dialog, Atlanta, 1997, S. 29-50.

41

Vgl. E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg, München 1992, S. 260; Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, S. 76. E. Levinas, Zwischen uns, München, Wien 1995, S. 148. Ähnlich: Humanismus des anderen Menschen, S. 135.

42

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stätigen. 43 So gesehen wäre Dasein als Mit(da)sein also doch eigentlich ein Für-denAnderen-sein, ein Für-ihn-bestimmt-sein - an einem ,,konkrete[n] bevölkerte[n] Ort, an dem die einen mit den andern und für die anderen da sind"? Mit Recht ruft Levinas, nachdem er sich diese Frage gestellt hat, die bereits diskutierten Stellen aus Sein und Zeit in Erinnerung, wo eine finale Unbezüglichkeit als Maß der Seinsmöglichkeiten eingeführt wird, um die das Dasein besorgt sein muss. Zweifellos bedeutet dieses Maß einen ontologischen Primat der je-meinigen Sterblichkeit. 44 Demgegenüber beginnt für Levinas die Ethik überhaupt erst dort, wo der Tod des Anderen der „erste Tod" ist; und zwar nicht als ein Ereignis, bei dem wir gelegentlich als mehr oder weniger mitbetroffene Zuschauer „dabei" sind, sondern als Gabe der Verantwortung für den Anderen angesichts seiner Sterblichkeit, als Gabe, die wir immer schon in Empfang genommen haben. Da offenbar keiner dem Anderen wie gesagt sein Leben abnehmen kann, 45 möchte Levinas nicht den Sinn der Rede von Jemeiniger" Existenz bestreiten. Aber das Für-den-Anderen betrifft in seiner Sicht noch deren Sinn; und zwar so, dass wir immer schon zu spät kommen, wenn wir diesen Sinn in Abrede stellen wollen. Das uns in der Verantwortung für den Anderen „gegebene" Für-den-Anderen steht uns nicht zur Verfügung als eine Seinsmöglichkeit neben anderen. Im Gegenteil ist jedes Ergreifen einer Seinsmöglichkeit nur im Zeichen der Gabe der Verantwortung zu verstehen, d.h. als deren Annahme und Bejahung oder als Weigerung, sie in Empfang zu nehmen. Noch eine solche Weigerung kann aber nicht umhin, als Weigerung die Gabe zu bestätigen. 46 Die „Übernahme" von Verantwortung kann also niemals bloß als eine Art Generosität oder Großmut gelten, mit der Mitsein sich dem Anderen „öffnet"; sie trägt im Gegenteil einer stets vorgängigen Beunruhigung aufgrund der Sterblichkeit des Anderen Rechnung „vor" aller Subjektivität, d.h. an-archisch. 47 Die Verantwortung bindet auf diese Weise an ein jeglicher Verfügung entzogenes „Außerhalb", in das die radikale Anderheit des Anderen für immer zurückgezogen bleiben wird. Diese Andeutungen mögen genügen, um zu verdeutlichen, wie Levinas eine Ontologie des Mitseins in Richtung auf eine der An-

44

Zwischen uns, S. 245 f. Bei W. Marx finden wir ihn bestätigt: s. o. Anm. 36.

45

Vgl. J . Derrida, „Den Tod geben", in. A. Haverkamp (Hg.), Gewalt furt/M. 1994, S. 331-445.

46

Vgl. J. Derrida, Adieu. Nachruf auf Emmanuel Levinas, München, Wien 1999, sowie im Sinne einer geschichtlichen Gegenprobe dieses Ansatzes im Lichte radikaler Weigerung, die Gabe der Verantwortung im Empfang zu nehmen, um auf diese Weise die „Hospitalität" einer „menschlichen" Empfänglichkeit fur den Anderen in Abrede zu stellen, v. Verf., Geschichte als Antwort und Versprechen, Freiburg, München 1999, bes. Kap. IV, V. Vgl. E. Levinas, Die Spur des Anderen, Freiburg, München 2 1987, S. 290, sowie v. Verf., „Von der Phänomenologie der Offenheit zur Ethik der Verwundbarkeit. Merleau-Ponty und Levinas auf den Spuren einer An-Archie der Subjektivität", in: R. L. Fetz, R. Hagenbüchle u. P. Schulz (Hg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität Bd. 2, Berlin, N e w York 1998, S. 12481276.

47

und Gerechtigkeit,

Frank-

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derheit verpflichtete Ethik zu überschreiten versucht. 4 8 Nicht „neben" den Anderen, die ihre „Differenz" in einer nivellierten Normalität einzubüßen drohen, sondern angesichts des Anderen, der jeder andere sein kann, setzt die Ethik ein. 4 9 Keineswegs leugnet Levinas das weite Spektrum der Erscheinungsformen des Anderen - vom „Du", über diverse Rollenträger bis hin zu Namenlosen, die wir nie kennen werden. Aber er wendet sich gegen eine von vornherein nivellierte Koexistenz unter anderen,

wo

jeder „irgendeiner" ist, ebenso w i e gegen eine absolute, dialogistische Privilegierung des

Keineswegs gelingt es Levinas dabei, die Last des ontologischen Erbes völlig abzuwerfen. Denn das Entzogensein des Anderen bzw. seine Transzendenz macht sich nur als „Überschuss" über das Erscheinen oder die „Seinsverhaftetheit" des Anderen hinaus geltend. Insofern kommt sie nicht ohne diese aus. Vgl. E. Levinas, Humanismus des anderen Menschen, S. 80. Einen weiten Bogen macht Levinas um den Gedanken eines Wohnens im Sein, einer ontologischen Situiertheit des Menschen bzw. eines Ethos, wie es der späte Heidegger beschrieben hat. Zwar wird hier Hestia, die Hüterin des Herdfeuers, zum Symbol dieses Wohnens. Aber von diesem ist das bzw. der Fremde mitnichten ausgeschlossen. Das Sein geschieht nicht „ohne den Anderen"; es ist, in J.-P. Vernants Worten, ganz und gar im Zeichen des Hermes vom „Draußen", von der Öffnung, vom „Kontakt mit dem Anderen als man selbst" inspiriert. (Vgl. J. Greisch, „Hermes und Hestia. Kritische Überlegungen zum Gegensatz Hermetik/Hermeneutik", in: G. Stenger, M. Röhrig [Hg.], Philosophie der Zukunft - „Fahrzeug" der Zukunft?, Freiburg, München 1995, S. 277-304, hier: S. 283ff., 302; E. S. Casey, Getting Back into Place, Bloomington 1993, 137 ff.) Hat nicht diese Hermeneutik die falsche Antithetik von Drinnen und Draußen, Eigenem und Fremdem, Selbem und Anderem unterlaufen? Hat sie nicht die Un-heimlichkeit und die Fremdheit des Anderen inmitten des Wohnens im Sein auftauchen lassen? Ist es nicht ein gravierendes Missverständnis, jenes Ethos mit einer ethnischen Konfliktlage zu verknüpfen, die Zugehörige und Fremde gegeneinander ausspielt? - Wenn man „ontologisch" der Tatsache Rechnung zu tragen sucht, dass die Menschen als Zugehörige („mitseiend") ko-existieren, folgt dann daraus, wie Levinas offenbar annimmt, dass die Koexistenz unsere Empfänglichkeit für den Anderen als Fremden zum Verschwinden bringt, indem sie sie ethnisch oder durch die Zugehörigkeit zu einem „Volk" konditioniert? Wenn es so wäre, hätte eine Ethik der radikalen Differenz des Anderen in einer Ontologie des Mitseins in der Tat keinen Ansatzpunkt. Wenn sich aber zeigen sollte, dass die Sorge gleichursprünglich um eigene und um „fremde" Differenz sich dreht (insofern sie zum Anderen nur im Lichte dieser Differenz ein „unverkürztes" Verhältnis bewahren kann), treten die Sozialontologie (des Mitseins) und die Ethik nicht weit näher zusammen, als es Levinas' dezidiert antiontologische Position zulassen möchte? - Ganz in diesem Sinne würde ich die gegenwärtigen Versuche verstehen wollen, die Umdeutung der menschlichen Rezeptivität, wie sie Heidegger in seinem Kant-Buch vornimmt, als Phänomenologie ihrer „Gastlichkeit" zu verstehen. (F. Dastur, „Das Gewissen als innerste Form der Andersheit", in: B. Waldenfels, I. Därmann [Hg.], Der Anspruch des Anderen, S. 51-64, bes. S. 53.) Hier wird das Selbst von seinem rezeptiven Empfang des Anderen her verstanden, von einem Empfang her, den es, wie Derrida sagt, in gewisser Weise nicht verweigern kann. Vor jeder möglichen Zurückweisung findet die In-Empfang-Nahme des Anderen im gastgebenden Selbst statt. So gesehen kann sich das Selbst gar nicht an einem Ort verschanzen, der von keinerlei Fremdheit getrübt wäre. Der Andere muss selbst in seiner radikalen Differenz am Ort des Selbst in Erscheinung treten; d.h. aber nicht, dass er bedingungslos den Bedingungen des Ortes, etwa der regionalen Zugehörigkeit des Selbst oder einer ethnischen, Fremden gegenüber womöglich allergischen Identität unterworfen wäre.

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Anderen als des Nächsten oder im Sinne der „zweiten Person". 50 Wenn jeder anonyme andere uns als Anderer begegnen kann und wenn umgekehrt die genealogische Verwandtschaft oder ethnische Nähe anderer keineswegs ständige und ausnahmslose Vorherrschaft radikaler Anderheit bedeutet, so lässt sich das Verhältnis von radikaler Anderheit, wie sie mit der Singularität des Anderen verbunden ist, und Pluralität, die in die Namenlosigkeit zahlloser Anderer ausstrahlt, überhaupt nicht in ontische Bezirke oder in soziale Sphären aufteilen. Radikale Anderheit ist immer im Spiel - auch wenn sie im Einzelfall, angesichts Namenloser oder angesichts dessen, den wir bestens zu kennen glauben, ganz in den Hintergrund treten kann. 51 Umgekehrt kommt radikale Anderheit niemals ohne das In-Erscheinung-treten anderer zur Geltung. Sie ist wirklich nur als ethischer Überschuss über die innerweltliche Erscheinung des „anderen" hinaus und hat unabhängig von dieser kein eigenes Gewicht. 52 Nicht erst jene Normalität, die Sozialphilosophie selber liefert sich von vornherein einer ethischen Gesichtslosigkeit aus, wenn sie unbesehen beim Du, beim Nächsten als socius (James Mark Baldwin), 53 beim „Nebenmenschen" oder einfach bei irgendwelchen anderen inter aliis beginnt und kategorisierte Andere nur noch gewisse Rollen spielen lässt - und sei es die des Fremden oder des Samariters. 54 Der im jenem Außerhalb beheimatete Andere ist nichts, worauf sortale Termini, Kategorien und Klassifikationen Zugriff hätten. Eben deshalb, weil er sich dem Reich der Kategorien, j a selbst der Existenzialien entzieht, ist er gerade „Anderer". Der Phänomenologie, die hier an ihre Grenzen stößt, bleibt es überlassen, aufzuweisen, wie das Gesicht des Anderen dieses Sich-Entziehen und damit die eigentliche Anderheit des Anderen „anzeigen" kann. 55 Keineswegs wird hier an eine mystische Erfahrung appelliert, die sich womöglich nur an geheimen Orten abspielen würde. Der Andere als Anderer erscheint - selbst im vollen Licht der Öffentlichkeit aber so, dass das Angesichts-des-Anderen uns zugleich die Weigerung bedeutet, sich Bedingungen der Zugehörigkeit zu unterwerfen. So wendet sich diese Ethik radikal gegen eine implizit ethnisch restringierte Ontologie des Mitseins. Die ethische Ansprechbarkeit für Andere macht nicht halt an den Grenzen der Zugehörigkeit; und sie schert als Ansprechbarkeit für Fremde (und in diesem Sinne Unzugehörige) nicht aus dem Reich des Ethischen aus. Weder angesichts des unzugehörigen Fremden noch angesichts des namen-

50 51 52 53 54 55

Vgl. M. Theunissen, Der Andere, S. 421 ff. In dieser Sicht wäre Sozialphilosophie ohne Ethik ein verfehltes Unterfangen. Vgl. J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, S. 139. Vgl. P. Ricceur, Geschichte und Wahrheit, München 1974, S. 114. Ebd., S. 111. Man nähert sich dem Anderen nicht auf dem Weg des Wissens, und er ist uns ursprünglich nicht als Gewusster erschlossen. Vielleicht nicht einmal als Gesehener, oder anders „in Erfahrung Gebrachter". Die Erfahrung als Bericht, als Sagbares kommt vielleicht immer schon zu spät gegenüber der ursprünglichen Exposition. Vgl. v. Verf., „Disziplinierte Naivität und Grenzen der Erfahrung. Marginalien zu aktuellen Problemen der Phänomenologie", in: Phänomenologische Forschungen NF 4/2 {1999), S. 213-237.

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losen Nebenmenschen (von dem wir uns in einer indifferenten Normalität nicht unterscheiden, gerade weil er zu uns gehört) spielt das Gesicht keine Rolle. 56

3.6 Ontologie und Ethik Von der Fragwürdigkeit einer nur „formal" auf das Mitsein abzielenden Ontologie her werden wir an dieser Stelle erneut auf das Erfordernis gestoßen, die Erschlossenheit Anderer bzw. das ontologische „Aufgeschlossensein" für Andere nicht von vornherein auf eine Sphäre der Zugehörigkeit zu beschränken. Wo dies geschieht, hat das Mitsein von Anfang an kein Verhältnis zum fremden Anderen und zum Anderen als Fremdem. Es kann freilich nicht darum gehen, den Anderen in dem einen oder in dem anderen Sinne als Zugehörigen ins Mitsein einzubeziehen. Es handelt sich vielmehr darum, einerseits seiner Unzugehörigkeit Rechnung zu tragen und dieser anderseits nicht jeglichen ethischen Sinn abzusprechen. Wenn der Begriff des Mitseins in diesem Sinne ein ontologisches Aufgeschlossensein selbst für fremde Andere und für den Anderen als Fremden „einschließen" soll, kann er nicht mehr mit einer Kategorie der Zugehörigkeit wie Gemeinschaft, Volk oder Nation kurzgeschlossen werden. Als was, wenn nicht als „zugehörig", kann der fremde Andere oder der Andere als Fremder dann gelten? Dass sich eine unhintergehbare Bezogenheit auf ihn, die gerade auch für den Fall der Unzugehörigkeit des Anderen gelten soll und ihn nicht der ethischen Indifferenz überlässt, mit Levinas im Sinne einer nichtbiologischen und nicht-ethnischen Verwandtschaft deuten lässt, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht.57 Dieser Begriff bezeichnet genau den Sachverhalt, dass der Andere auch als Fremder und der fremde Andere selbst bei völliger Unzugehörigkeit ethisch auf uns bezogen bleiben. Dafür steht der Begriff der radikalen Verantwortung bei Levinas.58 Unter dem mit Levinas geltend gemachten Vorbehalt, dass diese ethische Bezogenheit niemals an den Grenzen eines regionalen Mit(da)seins halt machen kann und dass dieses ständig mit der Möglichkeit zu rechnen hat, dass der „zugehörige" Andere als Fremder zu Gesicht kommt, müssen wir nun aber auf die vorläufigen Resultate der Ontologie des Mitseins zurückkommen. Denn es soll ja nicht in Abrede gestellt werden, dass „Andere" ontologisch von der Mitwelt erfasst werden, der sie als „Ko-existierende" zugehören, und

Vgl. demgegenüber E. Levinas, Humanismus des anderen Menschen, S. 133. Vgl. v. Verf., Moralische Spielräume. Menschheit und Anderheit, Zugehörigkeit und Identität, Göttingen, 1999. Die Problemstellung geht weit über die Frage hinaus, ob Menschen alle füreinander Andere sind. Das wird gewöhnlich leichten Herzens zugegeben, wobei aber die Anderheit selber unbedacht bleibt. Sie widersetzt sich als radikale in Levinas' Verständnis jedenfalls einer universalen Reziprozität, wie sie zwischen Gleichen sich darstellen mag; vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen, Hamburg 1977, S. 133. Der Bezug zum Anderen, der durch diese Verantwortung gegeben ist, bedeutet freilich nicht, dass eine reziproke Beziehung vorliegen müsste.

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dass darin eine „regionale" Prägung ihres Seins liegt. - Das Mitsein ist konstitutiv für das jemeinige Selbstsein. 59 Dieses versteht die Dinge und sich von der sozialen Welt her - auf die Gefahr der eigenen Verdinglichung hin, die es sich nur noch als Selbiges, aber nicht mehr als Selbst in der Welt wiedererkennen lässt. Dagegen richtet sich die Sorge um Differenz, die sich der Differenz von Selbigkeit und Selbstheit und auf der Grundlage dieses Unterschieds des Unterschiedenseins vom Anderen vergewissern muss, wenn dieser seinerseits als Selbst in den Blick kommt. Diese Sorge lediglich als Sorge um „eigene" Differenz zu verstehen, löst dieses Spannungsverhältnis zwischen Selbst und Anderem einseitig auf. Es geht gleichursprünglich auch um die Differenz des Anderen als des Anderen. Weigern wir uns aber, die in Sein und Zeit zumindest nahegelegte Reduktion des Anderen auf einen mitseienden Zugehörigen mitzumachen, so müssen wir die durch die Anderheit des Anderen ins Spiel tretende Differenz auch als Fremdheit zur Geltung kommen lassen. 60 Differenz geht nicht in Verschiedenheit auf. Selbst der zugehörige Andere ist nicht einfach anders/verschieden; er kann mir ungeachtet seiner Zugehörigkeit als fremd begegnen. Das Mitsein ist vor innerer Fremdheit nicht geschützt. Heidegger, der den Orten des Mitseins allzu schnell eine weitgehend ungefährdete Vertrautheit 61 zu attestieren bereit ist, neigt dazu, die Fremdheit wie die Angst, die freilich inmitten der Vertrautheit aufbrechen kann, 62 lediglich als Bedrohung zu werten. Eine Sorge um Fremdheit als Sorge um und fur die in schierer Verschiedenheit nicht aufgehende „Differenz" des Anderen taucht nirgends auf, obgleich es „eigene" Differenz ohne „fremde" doch nicht geben kann. 63 Diese Überlegung entfernt uns weit von einer immer wieder nahegelegten Reduktion des Mitseins auf von keinerlei Fremdheit getrübte Orte der Zugehörigkeit, die, in Taylors Sprache, nur mit mehr oder weniger „bekannten" und signifikanten Anderen bevölkert zu sein scheinen. Sie lässt sich prima facie auch nicht mit einer Ethik des Guten vereinbaren, die für alle Zugehörigen gelten soll, jedenfalls dann nicht, wenn der Begriff der Ethik im gleichen Zug ethnisch beschränkt wird - so als ob sich keine ethische Bezogenheit auf den unzugehörigen Fremden oder auf den als Fremden begegnenden Zugehörigen denken ließe. Gewiss: man hat Heidegger oft genug vorgeworfen, keine Ethik entwickelt zu haben (als ob dazu eine Verpflichtung bestünde). 64 Hier geht es aber gar nicht

Selbst w o dieses den Tod vorwegnimmt, bleibt die Bezogenheit auf Andere, deren Zerstörung wir antizipieren können, als Ausgangspunkt maßgeblich. 60 61 62 63

64

S. u. Kap. 6. Vgl. SZ, S. 54, 87; M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, S. 428. SZ, S. 186 f. Das gilt auch dann, wenn man die Differenz als das Selbst von innen unterwandernde versteht - ein Gedanke, der auf die Spur einer selbst-eigenen Differenz und auf die Spur der SelbstFremdheit fuhrt. Zur Bestimmung einer primär gegen den Anderen „gewahrten" Identität vgl. E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt/M. 2 1 9 8 1 , S. 289. Vgl. M. Heidegger, Piatons Lehre von der Wahrheit, S. 104 ff. Hier wird der Begriff der Ethik in einer Antwort auf diese Kritik auf das herakliteische ethos im Sinne der ontologischen Bestimmung eines Aufenthalts des Menschen im Sein gedacht. Regeln wie auch konkrete Formen des Mitseins werden ausdrücklich aus dem Blickfeld dieser „Ethik" herausgerückt.

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darum, in diese „Vorwürfe" einzustimmen, sondern darum, auf die ethischen Konsequenzen aufmerksam zu machen, die naheliegen, wenn man von einer ontologischen Erschlossenheit Anderer im Sinne des Mitseins ausgeht, die im Verdacht steht, ethnisch restriktiv gedacht zu sein. Scheinbar besteht dieser Verdacht nicht zu Recht, wenn der Begriff des Mitseins lediglich den „Raum möglicher Begegnung" mit Anderen bezeichnet. 65 Im Gegensatz zu dieser Bestimmung, die zunächst keinerlei selektive oder exklusive Bezogenheit auf Andere oder gar auf einen Anderen - etwa im Sinne eines dialogphilosophisch privilegierten „dualen Wir" 66 - nahe legt, lassen aber die phänomenologischen Beschreibungen konkreten Mitdase'ms stets an eine lediglich regionale Bezogenheit auf Andere denken. Zwar ist für Heidegger der Andere gerade nicht (wie etwa für Löwith) das Du {alter), dem gegenüber die Welt der anderen (alii) als uneigentlicher Horizont pluraler Wirheiten erscheint, zu dem das duale Wir eine äußerliche Beziehung unterhielte, doch suggeriert auch die Ontologie des Mit(da)seins ein konzentrisches Modell des Sozialen. 67 Sobald sie Mitsein nicht mehr als Zusammenvorkommen in derselben, mit Anderen „geteilten" Welt 68 begreift, sondern konkret expliziert, was Ko-Existenz darüber hinaus bedeutet, evoziert sie die Vorstellung eines regionalen Wir, das sich weder auf die Dyade reduziert noch auch auf die Menschheit erstreckt. In der durchschnittlichen Alltäglichkeit, von der sie ausgeht, gilt „die Gleichung von Man und Wir": „was ,man' da tut, das tun wir - wir alle, die wir in derselben Welt leben. Diese Welt ist selbst [...] ,die öffentliche' Wir-Welt." Als solche würde sie ihre regionalen Konturen aber völlig einbüßen, wären von ihr nicht andere Andere ausgeschlossen, die sich jenseits der Grenzen derer aufhalten, die der Wir-Welt zugehören. Mit Theunissen kann man das Man als die „existenziale Gestalt des Wir, das Husserl als die Grundform der menschlichen Gemeinschaft betrachtet", verstehen. 69 Dann muss man aber zur Kenntnis nehmen, dass dieses „gemeinschaftliche" Wir nicht alle Menschen umfasst. Es nimmt vielmehr als „Wertewelt, Güterwelt, praktische Welt" stets eine regionale Gestalt an. 70 Die Gemeinsamkeit dieser Welt besteht in der Sicht Husserls für „Mitglieder der sozialen Welt, von der evidenterweise Andere ausgeschlossen sind. 71 Weil der Verdacht so leicht nicht auszuräumen ist, dass selektiv-exklusive Ordnungen sozialer Welt, die nur im Plural auftritt, auf die Ontologie des Mitseins gleichsam abfärben, zieht Levinas in Zweifel, ob das Mitsein für den Anderen als Anderen auch dann noch aufgeschlossen ist, wenn er als radikal Unzugehöriger, als Fremder begegnet. Demgegenüber beschreibt Husserl vor allem in seinen Manuskripten zur Phänomenologie der Intersubjektivität, wie das Leben mit „anderen Subjekten" zur Konstitution einer

66 67 68 69 70 71

M. Theunissen, Der Andere, S. 191. Vgl. ebd., S. 420 ff. Vgl. ebd., S. 437. Vgl. ebd., S. 16, 165. Zum Vorangegangenen vgl. ebd., S. 173. Vgl. E. Husserl, Ideen I, § 27. Vgl. M. Theunissen, Der Andere, S. 125.

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„praktischen Welt" fuhrt, als deren „Mitträger" sie fungieren. 72 Aber diese praktische Welt, in deren Horizont man „wir" sagt, wird ohne weiteres als „gemeinschaftliche" identifiziert, die ihre „Normalität" hat. „Jeder neu in meinen Kreis [d.h. in den Kreis meiner Welt als meiner praktischen] Umwelt Eintretende wird nach meinem Ebenbild apperzipiert, und nun heißt er normal,"73 Eine Normalisierung widerfährt auch der Erfahrung, die man im praktischen Zusammenleben „gesammelt" hat und die sich im Maße ihrer zunehmenden Selbstverständlichkeit in Form von „Sinnesniederschlägen" zu sedimentieren beginnt.74 Diese Sedimente imprägnieren schließlich derart die Wahrnehmung, dass es keinen Ausweg mehr zu geben scheint aus „unserer" Welt. Die Welt in ihrer „ursprünglichsten Konkretion" 75 kann nicht die Welt aller sein.76 Die sprachliche „Verleiblichung" der Welt erst vollzieht sich in einem WirHorizont, der immer wieder mit einer lokalen Gemeinschaft oder gar mit dem „Volk" identifiziert wird.77 Es handelt sich um eine Welt-für-uns, für „Unseresgleichen" in „unserer" Normalität.78 Dabei soll es zwar nicht bleiben: Husserl fragt sich, was eigentlich die „Welt zur Gemeinwelt für alle Menschen überhaupt macht, als Menschen überhaupt, die im weitesten Sinn füreinander da sind, miteinander in wirklicher und möglicher Verständnisgemeinschaft stehen, somit als Mitglieder unserer Menschheit". Offen bleibt dabei aber gerade, wie die praktischen Formen beschaffen sein sollen, über die sich eine „universale Verständnisgemeinschaft" im Horizont einer Welt ausbilden könnte, zu deren „Mitkonstitution" alle, womöglich selbst „noch außerhalb unserer Erde" lebende Wesen „berufen und befähigt wären". 79

73 74 75 76

E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass, Zweiter Teil: 1912-1928 (=Husserliana XIV), Den Haag 1973, S. 162 f. Texte dieser Ausgabe werden im folgenden als „Huss." mit Bandangabe zitiert. Ebd., S. 135 f. Huss. IX, S. 56 f. E. Husserl, Ideen I, §27. Es sei denn, man rekurriert auf eine uninterpretierte Erfahrungsschicht, auf eine quasi-cartesianische Dinglichkeit, der aber kaum mehr Welt-Charakter zuzusprechen sein dürfte. In den Cartesianischen Meditationen, S. 136, heißt es: Jedermann lebe in derselben Natur, in einer Natur aber, „die er in notwendiger Vergemeinschaftung seiner Lebens mit dem Anderer in individuellem und vergemeinschaftetem Handeln zu einer Kulturwelt, einer Welt mit menschlichen Bedeutsamkeiten gestaltet hat - mag sie auch noch so primitiver Stufe sein. Aber das schließt j a nicht aus, w i e a priori so faktisch, daß die Menschen einer und derselben Welt in loser oder gar keiner kulturellen Gemeinschaft leben und danach verschiedene kulturelle Umwelten konstituieren, als konkrete Lebenswelten [...]."

77

Huss. VI, S. 382.

78

Vgl. L. Landgrebe, „Lebenswelt und Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins", in: B. Waidenfels, J. M. Broekman, A. Pazanin (Hg.), Phänomenologie und Marxismus, Bd. 2, Frankfurt/M. 1977, S. 13-58, hier: S. 36, 51, 55. Gegen eine radikale Pluralisierung der Welt richtet sich freilich gerade Landgrebes Argumentation. Er hofft, im Rückgriff auf eine „formale Allgemeinheit" den Begriff einer universalen Lebenswelt zu retten. Aber „sofern die Lebenswelt konkret-geschichtlich ist, ist sie kein universales Fundament, und insofern sie ein solches ist, ist sie nicht konkret-geschichtlich". Zu dieser Kritik vgl. B. Waidenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt/M. 1985, Kap. 1. Huss. XIV, S. 163.

79

Ontologie des Mitseins: Heidegger

105

Die Phänomenologie der Lebenswelt hat sich in der Folge von der kosmopolitischen Inspiration solcher Zeilen wenig beeindrucken lassen. Sie hat den Weltbegriff immer wieder so regionalisiert, dass wiederum der Umkreis der ethnischen Zugehörigkeit (zu „Unseresgleichen") mit dem Welthorizont schien zusammenfallen zu müssen.80 In diesem Sinne hatte schon Husserl selber den Begriff der Normalwelt mit der Umwelt situierter Menschen identifiziert.81 Die Rede von einer „Welt für alle"82 wird ständig dementiert von der phänomenologischen Explikation eben der Strukturen, die dieses für bewerkstelligen. Aufgrund „gemeinsamer Erfahrung" 83 (was Gemeinsamkeiten des Erfahrens selber einschließen soll, da sich das Wie der Erfahrung seinerseits als „sozialisiert" erweist), aufgrund intersubjektiver Thematisierbarkeit, Relevanzstrukturen und Vorzeichnungen des zu Erwartenden, die sich wiederum auf gemeinsame vergangene Erfahrung stützen soll, schließlich aufgrund einer Tradition, der man wie Andere (aber im Unterschied zu anderen Anderen) als durch das Überlieferte Ansprechbarer zugehört, soll diese Welt eine „Welt für alle" sein. Bei näherem Hinsehen erweist sich diese Welt aber stets als Welt fur Zugehörige, in die teils namentlich Bekannte, teils anonyme Zeitgenossen noch irgendwie einbezogen sein mögen, die aber in jedem Fall andere Andere ausschließt (was weder deren eventueller späterer Einbeziehung, noch einer gewissen Durchlässigkeit oder Interferenz der „Welten" widersprechen muss).84 Die Phänomenologie bringt so nur die Konsequenzen ans Licht, die im Schicksal des modernen Weltbegriffs von Anfang an angelegt waren: In dem Moment, wo man begann, die Welt nicht als eine Art Ultra-Ding, das an sich gegeben ist, zu betrachten, sondern sie von den Bedingungen ihres Erschlossenseins in der Erfahrung her aufzufassen und der lokalen sowie geschichtlichen Prägung der Erfahrung inne zu werden, konnte die Einheit der Welt bestenfalls noch als „Idee" gelten oder aber, wenn man sich konsequent an die Erfahrung selber halten wollte, im Sinne einer nachträglichen lateralen Verflechtung von Weltbezügen gedacht werden. Vom Herderschen und Humboldtschen Kulturbegriff, über Umwelt- und Milieu-Lehren bis hin zu Philosophien der Lebenswelt und der Lebensform

80

S. aber K. Held, Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft, Berlin, N e w York 1980; ders., „Heidegger und das Prinzip der Phänomenologie", in: A. Gethmann-Siefert, O. Pöggeler (Hg.), Heidegger und die praktische Philosophie, S. 111-139, bes. S. 117 ff. Der Welt als bloßem Horizont des Erscheinens, auf den die Phänomenologie abstellt, muss jegliche konkrete politische Artikulation abgehen. Insofern kann sie nicht ohne weiteres in v/e\t-bürgerlicher Perspektive gedacht werden.

81

Huss. IX, S. 118. Ausfuhrlich wird freilich in den Manuskripten zur Phänomenologie der Intersubjektivität die „Zugänglichkeit" fremder Welten im Ausgang von der jeweils „eigenen" Welt in Erwägung gezogen.

82

Huss. XV, S. 534. A. Schütz, Th. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1, Frankfurt/M. 1979, S. 98. Die Selektivität und Exklusivität gilt allemal für die „natürliche Einstellung", in der die Anderen im Verständnis Husserls stets „Freunde" oder „Feinde", „Fremde" oder „Verwandte"... sind. Vgl. E. Husserl, Ideen I, §27.

83 84

106

Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

hat sich nicht nur nachdrücklich der Plural der „gelebten" Welten, 85 sondern auch die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Plural die Erfahrung von Anfang an erfasst. In der Genealogie der Erfahrung selber kann man demnach nur von einer gelebten, situierten Welt zur nächsten sich voranarbeiten, um Querbezügen 86 zwischen Welten auf die Spur zu kommen, die verhindern, dass die Welt eine radikale Segmentierung erleidet, die am Ende die Idee einer „Verständnisgemeinschaft" (s.o.) als obsolet erscheinen lassen würde. Die moderne Karriere des Kulturbegriffs war zwar seit dem 18. Jahrhundert vom Plural gezeichnet. Die Einsicht, dass es „Kultur" wie „Welt" nur im Plural gibt, erhält inzwischen aber eine neue Wendung: Kulturen existieren pluralisiert, nicht nur im Verhältnis zu anderen, fremden Kulturen, sondern auch jeweils in sich. Für manche Beobachter hat sich in dieser Perspektive jegliche denkbare kulturelle Einheit aufgelöst. Gleichwohl - oder vielmehr gerade deshalb - sucht man im Sinne lateraler Bezüge nach einer Vernunft, die nicht mehr von vornherein alle Kulturen - auch die, die man kaum oder gar nicht kennt übergreift, sondern imstande wäre, sich zwischen ihnen zu bewegen. Dabei beerbt der Begriff der Lebensform den Begriff der Kultur scheinbar mühelos: Unter der Devise „Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen" behauptet W. Welsch: „An die Stelle der Kulturen alten Zuschnitts - die man sich immer als eine Art National- oder Regionalkulturen vorgestellt hat - sind heute diverse Lebensformen getreten. Diese Lebensformen [...] machen nicht an den Grenzen der alten Kulturen halt, sondern gehen quer durch diese hindurch." 87 Als „Zeitdiagnose" soll diese Konsequenz an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Worauf es hier ankommt, ist, dass sich das im Hinblick auf das Schicksal des Weltbegriffs angesprochene Problem gleichsam tiefer gelagert zu wiederholen scheint. Waren es zunächst kulturelle Welten, so sind es nun regionale Lebensformen oder „Milieuwelten" (ein Ausdruck Aron Gurwitschs), denen eine das Sein der Menschen prägende Zugehörigkeit und Ontologie ihrer Ko-Existenz entspricht. Es gibt gute Gründe für die Einschätzung, dass die Annahme holistischer, klar abgegrenzter kultureller Einheiten immer schon eine realitätsferne Fiktion war. Im übrigen ist sie aber hinsichtlich konkreter Lebensformen kaum plausibler. Dennoch lebt die alte, den Kulturalismus seit eh und j e bestimmende Denkweise wieder auf, die besagt, wer oder was der einzelne sei, das sage ihm seine ethnische, nunmehr offenbar in Lebensformen verkörperte Situierung und Kontextualisierung. Wie gezeigt, wird im gleichen Maße, wie man so argumentiert, fragwürdig, was 85

86 87

Vgl. zur Übersicht R. Welter, Der Begriff der Lebenswelt. Theorien vortheoretischer Erfahrung, München 1986. Schon Husserl spricht von „wechselseitiger Tradition". Vgl. ebd., S. 85. Nur am Rande sei vermerkt, dass auch der Vorschlag, Kulturen geradezu als Lebensformen zu verstehen, längst gemacht worden ist; vgl. W. Perpeet, „,Kulturphilosophie'", in: Archiv für Begriffsgeschichte 20 (1976), S. 42-99, hier: S. 78, 89; W. Welsch, „Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen", Information Philosophie 2 (1992). - So gesehen könnte einer fragwürdigen Depolitisierung der Gesellschaft zur Kultur nun eine nicht weniger fragwürdige Ethnisierung der Kultur folgen - wenn man Lebensformen umstandslos ethnisch interpretiert. Vgl. W. Kaschuba (Hg.), Kulturen - Identitäten - Diskurse, Berlin 1995.

Ontologie des Mitseins: Heidegger

107

„uns" unter dieser Voraussetzung die unzugehörigen „Anderen" angehen, und das Bewusstsein dafür getrübt, dass „wir" in keiner Zugehörigkeit je aufgehen können - verspreche sie auch noch so viel „Gemeinschaftlichkeit". 88 Gibt es dafür nicht Anhaltspunkte im Begriff der Lebensform selber?

Husserl spricht ausdrücklich von einer „homogenen Wir-Gemeinschaft"; vgl. Huss. VI, S. 4 1 6 B. - Zum „nostalgischen" Hintergrund einer solchen Vorstellung vgl. J.-L. Nancy, La Commu-

naute desceuvree, Paris 2 1990, S. 31 ff.

Kapitel 4 Lebensformen und Sprachspiele: Wittgenstein

4.1 Spielräume des Verhaltens Zu Beginn war - provisorisch - von Lebensformen als „sozialen Gestalten" die Rede, „die praktisches menschliches Zusammenleben unter und mit Anderen unweigerlich annimmt, sobald es nur eine gewisse Zeit andauert und die Chance hat, sich zu konsolidieren". Bei dieser Festlegung, die einer genaueren Klärung nicht vorgreifen mochte, handelte es sich nicht um eine präzise Definition. Wenn ein begriffliches Feld wie dieses „Familienähnlichkeiten" aufweist, die sogar den eidetischen Kern der intendierten Sache in Frage stellen, ist es um den Sinn von Definitionen ohnehin schlecht bestellt, wie wir von Wittgenstein lernen können, der genau dieses Feld auch vor Augen hatte. 1 Dabei ist Wittgenstein beileibe nicht der einzige, dem die Karriere des Lebensform-Begriffs zu verdanken ist. Ohne nun Etymologie und Doxografie treiben zu wollen, sei wenigstens an F. Schleiermacher, W. Wundt, J. Huizinga, G. Simmel, den frühen A. Schütz, an E. Spranger und an R. Eucken erinnert. 2 Die zuletzt genannten Autoren bleiben jedoch dem Ausgang von einem bereits individuell und bewusst ausgeprägten Leben verhaftet, dem sie sekundär eine gewisse Sozialität attestieren. Deren Formen kommen dabei als originäre „Verhältnisse", die Menschen autochthone Spielräume des Verhaltens zueinander vorgeben, kaum in den Blick. Dagegen versprechen Wittgensteins Philosophische Untersuchungen einen solchen Zugang - wobei eine gewisse

Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische

Untersuchungen,

Frankfurt/M. 1977, S. 57 ff., §§ 67-69

(=PU). Vgl. neben den in der Einleitung gegebenen Hinweisen W. Wundt, Ethik, Eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens. Bd. 1 [1886], Stuttgart 4 1912, drittes Kap., J. Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden [1919], Stuttgart 7 1953; ders., Wege der Kulturgeschichte, München 1930, sowie A. Schütz, Theorie der Lebensformen, Frankfurt/M. 1981. Hier handelt es sich um in den Jahren 1924-1928 entstandene Manuskripte, die I. Srubar aus dem Nachlass herausgegeben hat. Weiterhin E. Spranger, Lebensformen [1914], Halle 1927. Hier geht es um Typen von Menschen wie den „energischen" oder den „hingebenden" etwa, deren primäre „Lebenseinstellung" eine „besondere [individuelle] Lebensform" ausbildet, wenn sie sich gegenüber anderen auswirkt (vgl. S. 69). E. Rothacker, Zur Genealogie des menschlichen Bewußtseins, Bonn 1966, S. 30. Auf G. Simmel wird noch eigens zurückzukommen sein.

110

Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

Nähe zur Ontologie des Mitseins nicht zu übersehen ist, insofern Wittgenstein den Sprachgebrauch, die jeweilige Lebensform und die Welt, die in ihr eröffnet ist, eng zusammenschließt. 3 Man braucht die berühmte „Gebrauchstheorie der Bedeutung" als „Pragmatisierung des Sinns" (Apel) nur mit dem Heideggerschen Terminus der Bewandtnis zu verbinden, um eine wesentliche Konvergenz erkennen zu können. Wie Heidegger auch, wendet sich Wittgenstein vom Primat des assertorischen Satzes bzw. des apophantischen Logos ab. Nicht nur das „Festgestellte", der kognitive Sprachgebrauch oder die deskriptive Aussage ist der philosophischen Befragung würdig; und nicht nur dem Gesagten, auch dem Sagen, aus dem es erwächst, wird nun Aufmerksamkeit geschenkt. Stellt man mit Wittgenstein den Satz in den weiteren, pragmatischen Sinnzusammenhang hinein, den er normalerweise hat, so sieht sich die Sprachanalyse mit dem Problem des hermeneutischen Verstehens konfrontiert, das nach der Bewandtnis, dem Weltbezug des Sagens und nach dem In-der-Welt-sein dessen fragt, der das Gesagte „zur Sprache bringt". 4 Umgekehrt wird dieses Verstehen auf die konkrete sprachliche Praxis zurückverwiesen, in dem dieser Zusammenhang immer von neuem reproduziert werden muss; und zwar dadurch, dass Sprachspiele gespielt werden. Es geht Wittgenstein nicht mehr im Sinne traditioneller Hermeneutik um den Nachvollzug innerer Erlebnisse, die sprachlichem Ausdruck zugrundeliegen mögen, sondern um das „Spiel" als solches. Was bedeutet es, dass wir diese Spiele spielen müssen? Wenn man in die Welt „geworfen" ist, muss man, wenn man sich mit anderen „Geworfenen" über etwas verständigen will, mit eben solcher Notwendigkeit Sprachspiele spielen. Bevor man sie als solche versteht, begründet oder erklärt (falls das überhaupt möglich ist5), findet man sich

Für einen ausfuhrlichen Vergleich eines von Heidegger her „existential" entwickelten und im Hinblick auf eine Entsprechung „von grammatischen Formen und existenzialen Vollzügen" dargestellten Lebensformbegriff mit Wittgenstein s. T. Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 1985, bes. S. 3, 40, 74, 224 f. Dem Verf. geht es um „vielleicht .universale' Charakteristika menschlichen Lebens" im Sinne einer (!) - im Sprachspielen angezeigten - Situation, „in der wir alle uns stets befinden". - Kritisch zu einem überzogenen Sprachspiel- und Lebensformbegriff, der die Sprache als Zeichensystem nicht zu denken erlaubt, dagegen P. Ricceur, „Husserl and Wittgenstein on Language", in: Ε. Ν. Lee, Μ. Mandelbaum (Hg.), Phenomenology and Existentialism, Baltimore 1967, S. 207-217, hier: S. 216. 4

5

Vgl. K.-O. Apel, „Wittgenstein und das Problem des hermeneutischen Verstehens", in: Transformation der Philosophie, Bd. I, Frankfurt/M. 1976, S. 335-377. Dazu hat sich Wittgenstein bekanntlich programmatisch erklärt: „Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben. Denn sie kann ihn auch nicht begründen. Sie läßt alles, wie es ist." (PU, S. 82 f., § 123.) Ich würde das Argument umdrehen: Weil wir den Gebrauch der Sprache nicht begründen können, können wir ihn nur beschreiben und müssen ihn demnach hinnehmen. Das erscheint aber nicht schlüssig, wenn man einen besonderen Gebrauch nicht der Sprache, sondern bestimmter Ausdrücke, also einen bestimmten „Sprachgebrauch" ins Auge fasst, der sich sehr wohl, wenn nicht absolut, so doch im Unterschied zu einem anderen begründen und rechtfertigen ließe. Wittgenstein oder eine heutige sprachanalytische Philosophie müsste schon über letzte Einsicht in den richtigen Sprachgebrauch verfugen können, wenn die zitierte Position mit jener anderen

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Lebensformen und Sprachspiele: Wittgenstein

immer schon in sie verstrickt. Ihre Beherrschung, besser: das sprachliche Können geht dem Kennen voraus. Und wenn sich im Können ein Kennen oder ein Wissen darum verbirgt, wie man spielt, so lässt es sich nur mühsam in ein explizites Wissen transformieren. Deshalb hält sich Wittgenstein lange mit Beschreibungen auf - um schließlich auf die Idee der Begründbarkeit und Rechtfertigung von Sprachspielen, erst recht aber von Lebensformen, als deren „Teile" er die Sprachspiele versteht, weitgehend zu verzichten. „Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ,Urphänomene' sehen sollten. D.h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt."6 Wir gelangen, will Wittgenstein offenbar sagen, hinter diese kontingente Faktizität, diese nicht auf „Ursprünge" rückfuhrbare „Gegebenheit" von Sprachspielen nicht zurück. Dasselbe wird er von Lebensformen sagen: das Hinzunehmende, so lautet ein viel zitierter (und ebenso vieldeutiger) Satz, seien Lebensformen. 7 So steht am Beginn wie auch am Ende der Philosophischen Untersuchungen dieses Zeichen der Bescheidung: es gibt Lebensformen, in denen wir situiert sind, und wir können hinter dieses „es gibt" nicht zurück. Mehr noch: es gibt nichts außerhalb dieser Faktizität; keiner Reflexion, Kritik oder Begründungsanstrengung gelingt es, sie gewissermaßen von außen zu betrachten. Wie eine Fliege im Glas stößt man nur von innen an ihre Grenzen. Aber was genau wird derart in seiner Faktizität als die würdigsten philosophischen Ambitionen durchkreuzend ausgezeichnet? Wendet Wittgenstein nur die Heideggersche Einsicht, dass „im Zeuggebrauch [...] das Dasein je schon auf das Mitdasein Anderer eingespielt ist", auf den Sprachgebrauch an? 8 Nimmt er, jeglicher Ontologie abstinent, nur diese Metapher beim Wort, um nach den Regeln des Spiels zu fragen, das schließlich in einem Eingespieltsein resultiert? Hat er dabei konkrete soziale Lebensformen im Blick, die - nach unseren ersten Befunden - mit der Identität von Zugehörigen sowie mit deren Situierung, Existenz und Geschichte verknüpft sind und dementsprechend miteinander in Konflikt geraten können? Genau das wird von Kennern der Materie nicht selten bestritten. Um nur ein Beispiel zu geben: Newton Garver behauptet, dass die mit heterogenen Lebensformen verknüpften Unterschiede, von denen Wittgenstein spricht, nicht die sind, „die verschiedene Volksstämme oder Sekten oder Nationen voneinander unterscheiden. Das Begrüßen und das Bedrohen, das Befehlen und das Einladen, die Gefühle und die Gemütsbewegungen, unterscheiden Inder nicht von Europäern, Araber nicht von Juden u.s.w. Wenn wir diese Hauptlinien von Wittgensteins Philosophie betrachten, werden wir nicht abgeneigt sein zu sagen, daß Wittgenstein nie von mannigfaltigen und unterschiedlichen menschlichen

programmatischen Erklärungs Wittgensteins zusammenstimmen können soll, wonach die Philosophie „ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer 6

7 8

Sprache" ist. (PU, S. 79, § 109.) PU, § 654. Das mag freilich für eine Hermeneutik, die die Prämissen ihrer Rede über solche Phänomene reflektiert, nicht genügen. Aber das steht hier nicht zur Debatte. PU, S. 363. Vgl. M. Heidegger, Die Grundprobleme 414.

der Phänomenologie

[1927], Frankfurt/M.

2

1989, S.

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Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

Lebensformen gesprochen hatte - und besonders nicht von Konflikten der Lebensformen." 9 Gewiss: von ethnischen Konflikten etwa steht bei Wittgenstein nichts zu lesen. Doch machen die Philosophischen Untersuchungen auf Infrastrukturen von Lebensformen aufmerksam, an denen sich ihr Konflikt oder Widerstreit entzünden kann. Das kann deutlich werden, wenn man die sprachanalytische Perspektive, die sich mit der Kontextualisierung von Bedeutungen 10 befasst, mit der sozialontologischen Frage nach Zugehörigkeit zu Lebensformen im Sinne „mitseiender" Koexistenz und mit einer sozio- oder ethnologischen und historischen Diagnostik wieder verknüpft, 11 die die realen kulturellen und geschichtlichen Bedingungen von Lebensformen zur Sprache bringt.

4.2 Regeln und die fungierende Logik der Praxis Als Infrastrukturen von Lebensformen thematisiert Wittgenstein vor allem Regeln, nach denen man sich im überwiegend impliziten Einverständnis mit Anderen, die derselben Lebensform zugehören, verhält. Dieses Einverständnis muss keineswegs auf einer bewussten Einwilligung beruhen. Wenn jemand sagt, um bei einem von Wittgenstein und seinen Interpreten stark strapazierten Beispiel zu bleiben, „ich habe Schmerzen" und wenn ich darauf nicht mit einem theoretisch immer möglichen Zweifel reagiere, sondern frage: „wo?" oder „woher rühren sie?", und wenn ich überlege, wie den Schmerzen begegnet werden könnte, so glaube ich den Ausdruck „ich habe Schmerzen" auch dann, wenn ihn jemand anders gebraucht, immer schon verstanden zu haben, weil ich mit dem Gebrauch des Wortes „Schmerz" vertraut bin. Ich kenne die üblichen Regeln seiner Verwendung und bin auf sie eingespielt. Aber ich war niemals in einer Situation, in der ich hätte vor jeglichem Gebrauch des Wortes „Schmerz" in seine Verwendung einwilligen können. Keiner hat mich je gefragt. So konnte ich auch keine andere Verwendung vorschlagen. Was ich ursprünglich mitgebracht habe, war nur die Fähigkeit, ein (Sprach-)Spiel zu spielen, Regeln zu erkennen und im Nachvollzug selber anzuwenden. Jetzt, da ich die Regeln beherrsche, kann ich sie veränderten Gegebenheiten anpassen, sie ändern usw. Insofern fuhrt der Vergleich von Sprachspielen mit Spielen, deren Regeln festliegen, in die Irre. Wer nicht die taktischen oder strategischen, sondern die formal möglichen, fur das Spiel selbst konstitutiven Regeln des Schachspiels ändert, spielt schließlich ein ganz anderes Spiel, während derjenige, der die Semantik des Wortes Schmerz „verrückt", immer noch dasselbe Sprachspiel spielt, dessen Regeln ohnehin nicht völlig klar und gegen andere Sprachspiele abgegrenzt zu sein scheinen. In beiden Fäl9

N. Garver, „Die Unbestimmtheit der Lebensform", in: W. Lütterfelds u. A. Roser (Hg.), Der Konflikt der Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache, Frankfurt/M. 1999, S. 37-52, hier: S. 52.

10

Im Sinne einer „Grammatik" von Sprachspielen; vgl. PU, S. 72, § 90. Dieses Desiderat wäre allerdings nur durch ein entsprechend umfassendes Forschungsprogramm einzulösen.

11

Lebensformen und Sprachspiele: Wittgenstein

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len bedarf aber eine Abweichung von bereits eingespielten Regeln des impliziten oder expliziten Einverständnisses eines Anderen, um verständlich zu sein.12 Die Verständlichkeit auch des anders zu Sagenden ist an Regeln gebunden, die es dem Anderen erlauben, mitzuspielen. Und von Regeln kann nur die Rede sein, wenn sich nicht nur fur einen, sondern fur alle Beteiligten eine richtige Anwendung der Regeln von anderen Fällen unterscheiden lässt. In diesem Sinne kann man nicht alleine einer Regel folgen. Vor allem implizite Regeln stellen eine Art vor- oder unbewusste Infrastruktur der Verhältnisse dar, in die wir mit Anderen „eingelebt" sind. Sie lassen sich nur als Strukturen möglicher praktischer Relationen zwischen Beteiligten verständlich machen. Diese Relationen werden vorgefunden, nicht hergestellt. Ihre Explikation kann wie eine Antwort auf die Frage nach ihrer Begründung oder Rechtfertigung stets nur nachträglich erfolgen. Die dabei je nach Regeltyp in unterschiedlicher Weise auftretenden Hindernisse diskutiert Wittgenstein nicht systematisch; er betont aber mehrfach, dass selbst dort, wo wir nicht bloß empirische Regelmäßigkeiten beobachten, sondern die Befolgung von Regeln vermuten müssen, 13 nicht unbedingt zu erwarten steht, dass derjenige, der vermutlich der Regel folgt oder sie befolgt, sie auch sagen kann. „Was nenne ich die ,Regel, nach der [jemand] vorgeht'? - Die Hypothese, die seinen Gebrauch der Worte, den wir beobachten, zufriedenstellend beschreibt; oder die Regel, die er beim Gebrauch der Zeichen nachschlägt; oder, die er uns zur Antwort gibt, wenn wir ihn nach seiner Regel fragen? - Wie aber, wenn die Beobachtung keine Regel klar erkennen läßt und die Frage keine zu Tage fördert?" Und wenn nun der Betreffende die von ihm selbst formulierte Regel „zu widerrufen und abzuändern" bereit ist? „Wie soll ich also die Regel bestimmen, nach der er spielt? Er weiß sie selbst nicht. - Oder richtiger: Was soll der Ausdruck ,Regel, nach welcher er vorgeht' hier noch besagen?" 14 Selbst wenn der Betreffende nachträglich die Regel nennen kann, die er befolgte bzw. der er folgte, wissen wir offenbar noch nichts darüber, wie er es zuvor bewerkstelligte, der Regel zu entsprechen. Damit steht der Modus des Regel-folgens zur Diskussion. Die Analogie der Sprache mit dem Spiel" fuhrt in dieser Hinsicht zu keinem klaren Resultat, nur zu einer neuen Frage: „Wir können uns sehr wohl denken, daß sich Menschen auf einer Wiese damit unterhielten, mit einem Ball zu spielen, so zwar, daß sie verschiedene bestehende Spiele anfingen, manche nicht zu Ende spielten, dazwischen den Ball planlos in die Höhe würfen, einander im Scherz mit dem Ball nachjagen und bewerfen, etc. Und nun sagt einer: Die ganze Zeit hindurch spielen die Leute ein Ballspiel, und richten sich daher bei jedem Wurf nach bestimmten Regeln." Aber in der Zwischenzeit hat man doch die gerade gültigen Regeln

Oft genug kann dieses Einverständnis nur „zugemutet" werden. Der neue Sprachgebrauch muss je bereits „im Spiel" sein, sonst könnten wir nicht erkennen, in was wir überhaupt einwilligen sollen. Aber ein gleichsam nur provisorisches, halbherziges oder unter Vorbehalt erfolgendes Einverständnis kann einer stets fraglichen und später widerrufbaren Einwilligung nicht vorgreifen. 13

14

Dass das eine vom anderen häufig genug nicht klar zu trennen ist, sei mit Wittgenstein nur nebenbei vermerkt, PU, S. 92 f., § 142 f. PU, S. 67, § 82.

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Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

geändert bzw. andere zum Zug kommen lassen. Wie geschieht das in gegenseitigem Einverständnis? Man geht von einem Spiel mit seinen Regeln, die zwischendurch eine gewisse Entregelung erfahren, zu einem anderen Spiel mit anderen Regeln über, ohne dass aber die Situation insgesamt, die Wittgenstein hier vor Augen hat, völlig dem gegenseitigen Einverständnis entgleitet: die ganze Zeit spielt man eben Ball - unter der Prämisse, dass die Regeln in der Zwischenzeit geändert werden können, ohne dass Streit über deren Verletzung ausbricht. Einverständnis herrscht zwischen den Beteiligten zunächst vielleicht nur in dem Sinne, dass sie sich sagen, wir wollen irgendwie spielen und „make up the rules as we go along". 15 Wenn diese Prämisse ihrerseits als eine Art Regel gelten kann, so hat sie hier den Status einer Meta-Regel, die Spielraum zwischen den Regeln zulässt, auf die sie angewandt wird. Auch diese Regeln regeln auf ihrem Feld nicht alles: vor allem nicht ihre eigene Anwendung, aber auch nicht ihre eigene Entregelung, die in der Zwischenzeit den Spielraum für das Inkrafttreten neuer Regeln eröffnet, usf. Lässt sich, fragt Wittgenstein, überhaupt ein Spiel denken, „dessen Regeln keinen Zweifel eindringen lassen; ihm alle Löcher verstopfen"? 16 Gehört Vagheit in den Regeln, d.h. eine Art „Verunreinigung" nicht mehr oder weniger zu allen Regeln? 17 Führt nicht das Ideal einer quasi algorithmischen Regel, die wiederum lückenlos mit anderen Regeln zu einem durchgängigen Regelzusammenhang verknüpft wäre, in die Irre? 18 Da Wittgenstein mehr an solchen Fragen liegt, suggeriert er vielfach nur passende Antworten, die sich, wenn sie vorschnell verallgemeinert werden, allzu leicht als falsch oder einseitig entpuppen können. So folgen wir tatsächlich vielen, aber nicht allen Regeln „blind". 19 In diesem Fall fungieren sie in unserem Verhalten und sind operativ praktisch wirksam. Man könnte von einer fungierenden Logik der Praxis sprechen. Entsprechend dem praktischen Modus des Fungierens der Regeln lassen sie sich vielfach (aber nicht immer) nur schwer als Regeln kenntlich machen, beschreiben, begründen und ggfs. rechtfertigen. Schon die Nachträglichkeit der Beschreibung hat ein fragwürdiges Verhältnis zur operativen Wirksamkeit von Regeln, die oft „im Spiel" sind, ohne dass wir sie jeweils vorher als solche bedenken könnten. Ein dem Spiel gegenüber vorgängiges Bewusstsein der Regel wird aber gerade durch deren nachträgliche Beschreibung vielfach unterstellt. 20 Während sich dies nun aber von Fall zu Fall verschieden verhalten mag, gilt prima facie für Regeln aller Art und unter allen Bedingungen, (a) dass sie auf Regelungsbedürftiges Anwendung finden; 21 (b) 15 16 17 18

19 20 21

PU, S. 67, § 83. PU, S. 67, § 84. PU, S. 76, § 100. Vgl. R. Bubner, Handlung, Sprache und Vernunft, Frankfurt/M. 1982, S. 192, zur „Fiktion durchgängiger Geregeltheit der Praxis" in der Soziologie, die den Autor fragen lässt, wie weit sich etwa das Feld von Maximen „in die Dunkelheit des Ungeregelten hinein" erstreckt. PU, S. 134, § 2 1 9 . Kritisch dazu v. a. P. Bourdieu, Sozialer Sinn, Frankfurt/M. 1993, S. 71 ff. Wie wenig trivial diese Voraussetzung spätestens dann ist, wenn es um normative Regeln geht, beweist der Witz, demzufolge „in Deutschland alles verboten ist, was nicht ausdrücklich erlaubt

Lebensformen und Sprachspiele: Wittgenstein

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dass sie aus eigener Kraft wie gesagt nicht ihre eigene Anwendung regeln; (c) dass sie in ihrem Verhältnis zum Feld des Regelungsbedürftigen nicht die Anwendbarkeit anderer Regeln ausschließen, so dass (d) ein Spielraum zwischen Regel und Anwendung freigegeben ist, der sowohl deren Anfechtbarkeit oder Strittigkeit heraufbeschwört als auch Übergänge zu anderen Regeln ermöglicht, die sich in einem Zwischenbereich abspielen, wo Regelwidriges, Entregeltes und neu zu Regelndes interferiert. Was aus der Perspektive der einen Regel schlicht als Regelwidriges begegnet, lässt sich mit Rekurs auf eine andere bereits als neu Geregeltes verstehen, so dass ein Widerstreit vorliegt, wenn kein dritter Gesichtspunkt ins Spiel tritt, der zu entscheiden erlaubt, was jeweils der Fall ist. Übergänge erfordern das zumindest unterstellte oder zugemutete, grundsätzlich prekäre Einverständnis Anderer (e). Wird dieses brüchig oder entzogen, steht der Weg der Berufung auf Meta-Regeln offen (f), deren Geltung aber ihrerseits wiederum auf das Einverständnis des Anderen setzen muss. Selbst wenn dieses in Zweifel zu ziehen ist und Streit ausbricht, wird sich die dann folgende Auseinandersetzung niemals in einem regelfreien Raum bewegen. Jede Auseinandersetzung mit und um Regeln muss wiederum Regeln in Anspruch nehmen, voraussetzen und sie in diesem Sinne dem Verständnis Anderer zumuten (g). Nirgends zieht Wittgenstein die Überlegung in Erwägung, dass es bestimmte, universale Regeln geben könnte, die einer möglichen Auseinandersetzung entzogen zu denken wären. Er erwägt auch nicht den Grenzfall der gänzlichen Regellosigkeit,22 die nicht nur mit einer absoluten Unverständlichkeit des jeweiligen Verhaltens, sondern auch mit absoluter „Übereinstimmungslosigkeit" zusammenfallen würde. Wittgenstein versteht die Begriffe Regel und Übereinstimmung erklärtermaßen als engstens „miteinander verwandt".23 Wo zumindest noch eine Regel herrscht oder befolgt wird, können wir das entsprechende Verhalten im Prinzip noch verstehen. Wird diese Regel gemeinsam praktiziert, so herrscht wenigstens in diesem Punkt noch Übereinstimmung oder Einverständnis - und sei es auch nur darin, dass man einander feindselig begegnet. Was Wittgenstein interessiert, ist die Funktion von Regeln im Zusammenhang ihrer Verständlichkeit. Der Bezug auf Regeln macht nicht nur etwas verständlich, sie sind selber erst in ihrer Verflechtung mit einem weiteren Zusammenhang verständlich. Für Sprachspiele - Wittgenstein nennt als Paradigmata eine Reihe von Sprechakten - mögen sogenannte konstitutive und regulative Regeln gelten, wie sie etwa Searle für das Versprechen herausgearbeitet hat. Aber Sprachspiele wie Befehlen, Beschreiben, Berichten, Bitten, Grüßen usw.24 erweisen sich für Wittgenstein als mit einem weiteren Lebens-

22

23 24

ist, in Frankreich alles erlaubt ist, was nicht verboten ist, und in Russland alles erlaubt ist, auch das, was verboten ist". Allerdings scheint ihm gelegentlich „alles so verzwickt geworden, daß, es zu bewältigen, ein ausnahmsweiser Verstand gehörte". Denn es genügt - angesichts „der Ansprüche des Lebens" „nicht mehr, das [!] Spiel gut spielen zu können; sondern immer wieder ist die Frage: ist dieses Spiel jetzt überhaupt zu spielen und welches ist das rechte Spiel"? Hinzuzufügen wäre: „soll überhaupt gespielt werden"? Vgl. L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Frankfurt/M. 1978, S. 57. PU, S. 135, § 224. PU, S. 28 f., § 23.

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Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

Zusammenhang, d.h. mit einer praktischen Lebensform verwoben. Im Zusammenhang einer solchen Lebensform übernehmen Regeln gleichsam die Funktion von Wegweisern in einer Topographie der Praxis. 25 Diese lässt in praktischen Bewandtniszusammenhängen offen, was, wie, wann... zu tun ist. Wo sich die Wege möglicher Praxis entsprechend gabeln, fungieren Regeln des Tagtäglichen beispielsweise als Wegweiser in bestimmte Richtungen, die aber nicht eingeschlagen werden müssen. Regeln, die besagen, was zu tun ist, wenn die Sonne aufgeht, präjudizieren nicht, was wirklich getan wird oder was jeweils getan werden muss. Aber sie erschöpfen sich auch nicht in bloßen Regelmäßigkeiten, die Anomalien zulassen. Als Regeln von Lebensformen, an denen Andere beteiligt sind, nehmen sie leicht normativen Charakter an, wobei die Übergänge zwischen Nomalität, Normalität und Normativität freilich fließende sind.

4.3 Übereinstimmung in Lebensformen Auf die „Anderen" kommt Wittgenstein leider nur selten zu sprechen, und wenn, dann als im Gebrauch von Worten, in Sprechakten, in der Anwendung von Regeln „implizierte" Andere. So soll „das Wort Sprachspiel [...] hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform". 26 Von welcher Tätigkeit oder von welcher „gemeinsamen menschlichen Handlungsweise" das Sprechen der Sprache ein Teil sein soll, bleibt ebenso ungeklärt wie die Frage, ob die Lebensform in dieser (einen?) Tätigkeit aufgeht oder ob dieser Begriff mehr meint, nämlich einen Lebenszusammenhang, in dem unter anderem Tätigkeiten, darunter was, was man „Kommunikation" nennt, „vorkommen". 27 Unsere anfänglichen Zweifel, ob Wittgenstein tatsächlich etwas im Blick hatte, was wir in einer ersten Annäherung „soziale Lebensformen" genannt haben, werden bestärkt durch seine Hinweise auf die Geschichte jener Handlungsweisen: 28 Sie erweisen sich nämlich als so alt wie die

25 26 27

28

PU, S. 68, § 85. PU, S. 28 f., § 23. Vgl. kritisch dazu auch R. Bubner, Handlung, Sprache und Vernunft, S. 158 ff. Auch „das Ganze: der Sprache und der Tätigkeit, mit denen sie verwoben ist", soll an anderer Stelle „Sprachspiel" heißen (PU, S. 19, § 7). Vgl. H. Putnam, „Wittgenstein über den religiösen Glauben", in: Für eine Erneuerung der Philosophie, Stuttgart 1997, S. 172-200. Die plausiblen politischen Implikationen des LebensformBegriffs, die der Autor hier andeutet, werden durch die Philosophischen Untersuchungen selber allerdings nicht gedeckt (vgl. S. 179 ff.). Dasselbe scheint mir für den Brückenschlag zum Kulturbegriff zu gelten, den S. Cavell von Wittgenstein aus versucht: „Wittgenstein als Philosoph der Kultur", Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46 (1998), S. 3-29; vgl. auch J. Ritsert, Gesellschaft, Frankfurt/M., N e w York 1988, S. 76 ff. Hier verschwindet die Faktizität der Lebensformen, in die man sich „immer schon" verstrickt erfährt, am Ende in einem rein transzendentalen Begriff der Lebensform im Sinne einer „Bedingung der Möglichkeit gesellschaftlichen Lebens" (S. 80).

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Menschheit selbst. Zwar gibt es „primitivste Sprachformen" schon bei Tieren; doch wissen sie nicht „how to do things with words" (Austin). „Befehlen, fragen, erzählen, plauschen gehören zu unserer Naturgeschichte so wie gehen, essen, trinken, spielen", heißt es in § 25. Wenigstens diese Sprachspiele sind also Sache einer humanspezifischen Lebensform, insofern Menschen im Unterschied zu den Tieren miteinander sprechen und gegebenenfalls durch bloßes Zusehen von Anderen lernen können, wie man die Sprachspiele spielt.29 Für das Verständnis von sozialen Lebensformen im Unterschied zu anderen Lebensformen gibt ein solcher Ansatz zunächst wenig her. Anders steht es, wenn Wittgenstein Sprachspiele wie das Befehlen als „Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen)" interpretiert.30 Befehlen ist hier nicht das gleiche wie dort, insofern beispielsweise Verschiedenes als Befehl „zählt", Verschiedenes als befehlbar gilt und Gehorsam nicht überall gleichermaßen und unter allen Umständen als Befolgung geschätzt wird. Schon diese Überlegung fuhrt auf die Spur der Verflechtung eines solchen Sprachspiels mit den weiteren Kontexten, aus denen sich nach Wittgensteins Überzeugung erst die „Signifikanz" von Sprachspielen ergibt. Mit diesen Kontexten, etwa mit dem routinemäßigen Verstehen von etwas (wie Befehlen) als etwas (eventuell zu Beargwöhnendem) sind wir aber selber verwachsen. Und diese Kontexte können wir nicht wie Sprechakte, die Wittgenstein paradigmatisch als Sprachspiele vorführt, als „Vergleichsobjekte" behandeln. Dazu müssten wir sie weitestgehend verobjektivieren können. Die Analyse von Sprachspielen als Vergleichsobjekten, „die durch Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ein Licht in die Verhältnisse unsrer Sprache werfen sollen", zeigen aber, dass wir uns gerade von ihrer Verflochtenheit mit den Lebensformen nur höchst begrenzt Rechenschaft ablegen können. Die Frage, warum wir so oder so handeln, oder warum wir etwas als etwas gelten lassen, führt allzu oft ins Leere, so dass die sprachanalytische Archäologie bekennen muss: „der Spaten biegt sich zurück", wir kommen nicht weiter als bis zu dem achselzuckenden Eingeständnis: so handeln, verstehen, deuten wir eben... Das heißt nicht: hier stehen wir und können nicht anders; und noch weniger, dass man zur „üblichen" Praxis ein fiir allemal verurteilt wäre. Aber wir können nicht umhin, von einer bestenfalls annähernd beschreibbaren, aber vielfach kaum zu begründenden und zu rechtfertigenden Praxis vorläufig auszugebend Wer aber ist „wir"? Wittgenstein würde sagen: alle, die denselben Regeln folgen, die dieselben Sprachspiele verstehen und denselben Lebensformen zugehören, alle also, die insofern „übereinstimmen". Man muss nicht in den Meinungen überstimmen, wohl aber in der Lebensform als „dem Gerüst, von welchem aus unsere Sprache wirkt". 32 Aufgrund dieser Übereinstimmung „kommt es nicht zu Tätlichkeiten", da man denselben Regeln folgt. Wenn wir notwendigerweise in unserer Lebensform „übereinstimmen" müssen, um etwa eine geregelte Praxis bzw. Regelanwendungen als richtig oder falsch bzw. als den Umständen ange29 30 31

32

Vgl. PU, S. 30, § 25; S. 50, § 54. PU, S. 127, § 199. Dass es hier besonders auf den genauen Anspruch ankommt, der auf Begründung erhoben wird, sei nur nebenbei festgestellt. PU, S. 138 f., § 240 f.

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Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

messen oder unangemessen beurteilen können, so entzieht sich uns notwendigerweise die Basis unseres Urteilens und unserer Übereinstimmung. Das heißt, wir stimmen „untergründig" in vielfach nicht eigens ausgesprochenen Regeln überein, die ihrerseits als Basis unserer inhaltlichen Übereinstimmung oder auch des Streits fungieren. Über diese Basis brauchen wir normalerweise kein Einverständnis eigens zu erzielen. Sie steht für den Ort, von dem aus Konsens oder Dissens sich als strittig oder unstrittig darstellen.

4.4 Interferenzen oder abgekapselte Seinsregionen? Aus diesen Überlegungen könnte man folgern, dass man jenem „wir" und damit der entsprechenden Lebensform als ganzer zugehören muss, damit von einer solchen, möglichem Konsens und möglicher Strittigkeit entzogenen Basis der Übereinstimmung die Rede sein kann. Und man könnte weiter folgern, dass in den Fällen, wo eine solche gemeinsame Basis nicht gegeben ist, die Gefahr nahe liegt, dass es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen kann, in denen auf keinerlei Übereinstimmung mehr zu bauen ist. Hängt der Ausbruch gewaltsamer Konflikte zwischen Lebensformen nicht wirklich damit zusammen, dass man aufgrund der „inkommensurablen" Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Lebensformen keine solche Basis hat? Wie brisant derlei Folgerungen aus Wittgensteins Spätphilosophie sind, ist schon daran erkennbar, wie leicht man gewaltsame Konflikte unter Hinweis auf eine solche Inkommensurabilität rechtfertigen könnte. Man braucht scheinbar Wittgensteins Begriff der Lebensform nur ethnisch zu reinterpretieren, um ihm eine entsprechend polemische Note zu geben. Aus der sprachanalytischen Hermeneutik kontextualisierter Bedeutungen lässt sich dann sehr bequem folgern, dass es gegenseitiges Verstehen nur auf der Grundlage der Übereinstimmung in einer praktischen Lebensform geben kann, der man (entweder ganz oder gar nicht) zugehört. Das Reich der Zugehörigen gilt darüber hinaus als apriori intern pazifiziert durch deren Eingelebt- und Eingespieltsein: Die kontextualisierten Bedeutungen fugen sich scheinbar bruchlos mit einer ontologischen Situierung der Zugehörigen zusammen, denen Unzugehörige nun aufgrund fehlender Übereinstimmungsbasis als fremd gegenüberzustehen scheinen. Unter der Hand kann der Begriff der Lebensform auf diese Weise in zweifacher Hinsicht eine holistische Grundierung erfahren: Suggestiv können die Kontexte der Bedeutungen, welche die Verständlichkeit dessen betreffen, was Menschen sagen (oder „mit Worten tun"), wie geschlossene Sprachwelten behandelt werden und die Sphären der Zugehörigkeit (oder der ontologischen Situierung) wie gegeneinander abgekapselte Seinsregionen erscheinen, in die das Soziale zerfällt. In Wahrheit lässt sich aber keine einzige dieser Schlussfolgerungen ohne weiteres aus Wittgensteins Spätphilosophie ableiten. Nirgends äußert sich Wittgenstein ausführlich und umfassend zu der Frage, was es eigentlich heißt, einer Lebensform „zuzugehören". Dass man jeweils nur einer Lebensform und dieser dann nur „mit Haut und Haaren" zugehören kann, steht bei ihm nirgends zu lesen. Vielmehr legt er den Gedanken nahe, dass Lebensformen einander nicht nur ähneln (so wie

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Sprachspiele in einer Beziehung der Familienähnlichkeit zueinander stehen33), sondern dass sie auch miteinander verflochten sind. Wenn es so ist, müssen aber Kontexte unmerklich in Intertexte übergehen, die uns auf heterogene Zonen gemischter Verständlichkeit zwischen Lebensformen verweisen; und es gehört zur Verfassung von Lebensformen selber, nicht scharf gegen andere abgegrenzt zu sein. Das heißt aber, dass aus der Zugehörigkeit zu einer Lebensform gerade nicht in jedem Fall eindeutig folgt, dass nur Regeln Anwendung finden können, die der Übereinstimmung „in" dieser Lebensform entsprechen. Im Fall strittiger Regelungen hilft es also unter Umständen nichts, sich auf die Zugehörigkeit zu einer Lebensform zu berufen, denn diese ist ihrerseits aufgrund ihrer unscharfen Grenzen mit der Interferenz anderer Lebensformen konfrontiert. (In Anlehnung an den Begriff einer Topografie der Praxis kann man einen Vergleich mit Höhen und Tiefen im Terrain ziehen: Nicht einmal objektive Isohypsen, also Linien gleicher Meereshöhe, zeigen eindeutig an, wo Berg und Tal in einander übergehen.) Keine Lebensform kann aus eigener Kraft einen geschlossenen Umkreis der Verständlichkeit von Bedeutungen oder der praktischen Übereinstimmung in Regeln entwerfen und sich auf diese Weise drohendem Widerstreit mit anderen Lebensformen von vornherein entziehen. Zweifellos: Grenzen zwischen Lebensformen werden gezogen, und man behauptet oft genug die „prinzipielle" Inkommensurabilität oder „Unverträglichkeit" der einen mit den anderen. So verfährt aber eine Politik der Zugehörigkeit, die abgrenzt, was nicht eo ipso in abgegrenzter Verfassung existiert oder gegeben ist. „Wo sich wirklich zwei Prinzipien treffen, die sich nicht miteinander aussöhnen können, da erklärt jeder den Andern ftir einen Narren und Ketzer", heißt es an einer viel zitierten Stelle bei Wittgenstein.34 Aber nirgends hat er auch nur die Position suggeriert, in der praktischen Verfassung von Lebensformen selber liege bereits eine Nichtaussöhnbarkeit begründet, gleichsam eine Allergie, welche die Zugehörigen und die Unzugehörigen gegeneinander aufbringen müsse. Wird dergleichen aber unterstellt, so trübt jene Politik den Blick auf die Interferenz der Lebensformen und verleitet dazu, die Abgrenzungen, die ihr zu verdanken sind, in eine ontologische Verfasstheit der auf diese Weise gegeneinander ausgespielten Lebensformen zu projizieren. Wittgenstein kann zur Rechtfertigung einer solchen Politik gewiss nicht herhalten. Einer hypostasierten Inkommensurabilität von Lebensformen widersetzt sich bereits das hermeneutische Prinzip, das der Sprachanalyse gerade auch dann zugrundeliegen muss, wenn sie sich mit „fremden" Lebensformen konfrontiert sieht: das Prinzip der Entdeckbarkeit der Regeln. Zwar erschwert es speziell der Modus praktischen Fungierens von Regeln vielfach, Fälle der Regelanwendung oder -befolgung als solche überhaupt zu erkennen. Und von der rekonstruierten Regelanwendung oder -befolgung ist es bis zu deren expliziter Formulierung und Interpretation nicht selten ein weiter Weg, auf dem die Nachträglichkeit der Explikation und der Deutung den Blick auf das vorgängige Funktionieren der Regeln auch verstellen kann. Aber die im Sinne wenigstens eines methodischen Prinzips zu unterstellende Entdeckbarkeit

33 34

PU, S. 59 ff., §§ 67 ff. Vgl. L. Wittgenstein, Über Gewißheit,

Frankfurt/M. 1971, S. 157, § 611.

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Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

von Regeln hängt nicht absolut von einer bereits gegebenen Übereinstimmung in denselben Regeln ab. 35 Und der fremde Beobachter muss sich keineswegs auf die Deskription von empirischen Regelmäßigkeiten beschränken, von denen man auf den ersten Blick zunächst nicht wissen kann, ob sie Resultate einer Regelbefolgung oder -anwendung sind oder nicht. Eine solche Deskription ist gar nicht ohne weiteres möglich, wenn sich der Ethnograph als auf den Nachvollzug „sinnvollen", vermutlich auf bestimmte Regeln bezogenen Verhaltens eingestellt erweist, an dem ihn Anzeichen von Enttäuschungsreaktionen zielsicher auf die Spur von Regeln führen. Enttäuschungen sind als Reaktionen auf der Grundlage von Erwartungen verständlich, 36 mit denen Regeln konstitutiv verknüpft sind. Regeln haben nur im Modus der Erwartung einen der Zukunft zugekehrten praktischen Sinn. 37 Gleichwohl lassen sich zwischen Regelbefolgung und Regelmäßigkeit keine eindeutigen Grenzen ziehen. Zwar ergibt der Begriff einer Regel, die „regelmäßig" nicht befolgt wird, letztlich keinen Sinn. Aber keine Regel wird immer befolgt. Jede Regel lässt Ausnahmen zu, die schon aufgrund der Tatsache unvermeidlich sind, dass keine Regel ihre eigene Anwendung regeln und die Interferenz anderer Regeln aus eigener Kraft ausschließen kann. Grundsätzlich kann sich also bei jeder unregelmäßig angewandten Regel die Frage stellen, ob sie noch gilt, ob schon eine andere oder scheinbar gar keine Regel mehr gilt. Dementsprechend können die Grenzen zwischen Fehlern einer Regelanwendung, die sich noch im Horizont des Erwarteten bewegt, und erwartungswidrigen Abweichungen verschwimmen, die auf die Spur von Entregelungen oder Neuregelungen führen mögen. Insofern die Praxis von Regeln stets auf eine gewisse Regelmäßigkeit angewiesen ist, um als solche verständlich zu sein, und insofern das Feld des mehr oder weniger Regelmäßigen keine klare Grenzziehung zwischen empirischen Anomalien und abnormen Abweichungen gestattet, ist diese Praxis unvermeidlich der möglichen Strittigkeit ausgesetzt. Diese Möglichkeit ist notwendig. Sie betrifft zunächst das Verständnis der geregelten Praxis als Praxis der Regel (a); dann aber auch die Frage, welche Regel anzuwenden ist (b). Diese Frage lässt sich aber im Rekurs auf Lebensformen als Horizont der Intelligibilität der Regeln wiederum nicht eindeutig oder „letztinstanzlich" beantworten, wenn Lebensformen interferieren (c). Was als - angemessene oder richtige - Praxis einer an sich unstrittigen Regel gilt, kann strittig sein; aber auch die Regel selbst. Und schließlich kann das „Ganze", wovon die Regel wie die Sprachspiele „ein Teil" sein soll, als „Grund" der Übereinstimmung in Zweifel gezogen werden, auf die man sich vergeblich beruft, wenn die Lebensformen nicht wie Seinsregionen oder holistische Βedeutungsweiten gegeneinander abgeschottet sind. In dieser dreifachen Hinsicht ist die Möglichkeit jener Strittigkeit notwendig und ge-

Gerade die Übereinstimmung kann uns blind machen... Näheres zur Nachträglichkeit der Verständlichkeit von Enttäuschungen bzw. von Erwartungen, die nur im nachhinein als solche erkennbar werden, vgl. v. Verf., Geschichte im Zeichen des Abschieds, München 1996, Teil I. Eigentlich fallige Unterscheidungen wie die zwischen Erwartungswidrigem und Fehlern, die sich noch im Rahmen des zu Erwartenden verstehen lassen, bleiben hier außer Betracht; vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1981, S. 32-39.

Lebensformen und Sprachspiele: Wittgenstein

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hört konstitutiv zur praktischen Verfassung unseres Situiertseins in Lebensformen. Durch nichts lässt sich diese dreifache „Notwendigkeit" umgehen, solange wir von Lebensformen im Sinne einer praktischen Verfasstheit menschlichen Zusammenlebens reden und sie nicht als solche abschaffen wollen. Man kann ihr nur „Rechnung tragen". Immer wird es anfechtbar erscheinen können, was als „Erfüllung" einer Regel gelten kann oder darf, welche Regel als relevant oder angemessen und welche Lebensform als Basis der Übereinstimmung gelten kann oder soll. In keiner Hinsicht lässt sich der Spielraum möglicher Strittigkeit, den die signifikative Differenz des „als" freigibt, durch eineindeutige Zuordnungen verschließen. Zwar erweckt Wittgenstein in gewisser Weise diesen Eindruck, wenn er von der regelgeleiteten Praxis zur Regel und von dieser zur Lebensform zurückgeht, um in dieser eine scheinbar so wenig begründbare wie anfechtbare Basis der Übereinstimmung zu entdecken, ohne die es gemeinsame Verständlichkeit praktischen Lebens nicht geben kann. Aber das heißt nicht, dass ohne weiteres nun umgekehrt von gegebenen - „hinzunehmenden", wie Wittgenstein selber sagt - Lebensformen auszugehen wäre, die dann nur noch auf die passenden Regeln und regelgeleiteten Verhaltensweisen hin zu befragen wären. Im Gegenteil schließt nichts aus, von einer als richtig erscheinenden Praxis ausgehend die Regeln oder von den für richtig gehaltenen Regeln aus die Lebensformen selber in Zweifel zu ziehen - was auch immer als Maßstab der Richtigkeit gelten mag. So gesehen hat Wittgenstein zwischen den abstrakten Gesichtspunkten des Regelungsbedürftigen und des Regelungsfähigen, von denen er offenbar ausging, ohne sie aber eigens als solche zur Sprache zu bringen, Regeln als die „greifbarsten" praktischen Infrastrukturen von Lebensformen beschrieben. Zur Affirmation einer polemischen Politik, die suggeriert, sie trage nur einem angeblich unvermeidlichen Zusammenstoß („clash") von in sich geschlossenen und „inkommensurablen" Lebensformen Rechnung, taugt seine Philosophie glücklicherweise ebenso wenig wie als Grundlage einer konservativen Dogmatisierung von „Übereinstimmungen", zu denen wir nie gefragt worden sind.

Kapitel 5 Lebensformen im Widerstreit: Lyotard

5.1 Zwischen Konflikt, Strittigkeit und Gewalt Im Licht der vorangegangenen Überlegungen genießt die unter dem Eindruck eines weltweiten Wiederauflebens ethnischer Konflikte dramatisierte Rede von „Lebensformen im Konflikt" eine fragwürdige Popularität. Vielfach suggeriert diese Rede, Lebensformen stünden sich als Ganze „unvereinbar" gegenüber und ihr nicht selten gewaltförmiger, ja genozidaler Konflikt resultiere daraus, dass man einander nicht einfach „aus dem Weg gehen" kann. Die Welt scheint definitiv nicht mehr „groß genug für uns alle" zu sein, wovon Kant noch überzeugt war. So kann die „Unvereinbarkeit" von Lebensformen zur Frage von Leben und Tod werden, wenn man behauptet, sie seien als „Ganze" betroffen: Entweder die einen überleben oder die anderen; die Unvereinbarkeit kann weder bestehen bleiben noch in Vereinbarkeit aufgelöst werden. Lebensformen kommen uns als Ganze aber nicht zu Gesicht; und es lässt sich wie gesagt kaum konkret sagen, was es heißen soll, dass Lebensformen „zur Gänze" unvereinbar sein sollen. Als nicht weniger problematisch erweist sich die Unterstellung, das Leben Einzelner oder ganzer Kollektive hänge ohne Wenn und Aber vom Überleben einer Lebensform ab, die man als mit anderen Lebensformen insgesamt „unvereinbar" erachtet. Eine entsprechende politische Rhetorik erweist sich allerdings dessen ungeachtet als höchst folgenreich und brisant, wenn sie das in und zwischen heterogenen Lebensformen gegebene Konfliktpotential polemisch zuspitzt und am Ende glauben macht, im ethnischen Dasein der einen liege bereits eine existentielle, womöglich tödliche Herausforderung für die anderen, die um ihr Überleben kämpfen sollen.' Eine solche Politik stellt sich unmittelbar als Aufforderung zur Gewalt dar, wenn sie auf der Grundlage eines „existenziellen" Widerstreits vermeintlich im ganzen unvereinbarer Lebensformen einen Konflikt stilisiert, in dem sich die Überlebensansprüche der einen mit denen der anderen messen lassen müssen. Im Fall eines Widerstreits kann das „Maß" der EntLediglich en passant sei auf eine nur auf den ersten Blick nicht mehr aktuelle, aber genau auf die angedeuteten Prämissen passende völkische Zuspitzung der Rede von Lebensformen verwiesen, die sinngemäß Carl Schmitt auf die angeblich „existenzielle Unvereinbarkeit" „Artfremder" bezogen hat. In welchen ideologischen Kontext das passte, ist bekannt; vgl. dazu jetzt R. Gross, Carl Schmitt und die Juden, Frankfurt/M. 2000, bes. S. 65 ff., 72, 105 f.

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Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

Scheidung aber kein über dem Konflikt stehendes Recht, keine unparteiliche Instanz und keine „Aufhebung" der widerstreitenden Ansprüche sein. Eine selber ethnisierte Politik kennt nicht nur keine dritte Position, sondern liefert sich auch von vornherein der Gewalt aus, wenn sie Widerstreit ohne weiteres in der Form eines Konflikts unvereinbarer Ansprüche zuspitzt, der Lebensformen im ganzen gegeneinander ausspielt. Die bisher angestellten Überlegungen liefern einer solchen polemischen Politisierung des Widerstreits, in dem Lebensformen angeblich unvermeidlich existieren, kaum eine Handhabe. Sie sind aber auch nicht geeignet, Widerstreit als ein für die Existenz von Lebensformen konstitutives Moment zu entschärfen. Im Gegenteil: Widerstreit begegnet bereits in den Infrastrukturen von Lebensformen, die Wittgenstein unter dem Begriff der Regel zur Sprache bringt; und zwar als ein strukturaler Widerstreit, der mit einer nicht aus der Welt zu schaffenden internen Strittigkeit des Zusammenhangs von Regelpraxis, Regel und Lebensform einhergeht. Die Frage, welche Regelpraxis den Regeln gerecht wird und welche Regeln die jeweilige Lebensform eigentlich ausmachen, ist unvermeidlich einer Anfechtbarkeit ausgesetzt, die wesentlich zu einem praktischen Regelzusammenhang zu gehören scheint. Darüber hinaus sind wir mit einem praktischen Widerstreit konfrontiert, wenn uns etwa Regeln als Wegweiser in der Topografie von Lebensformen vor Alternativen stellen, die man nicht gleichzeitig ergreifen kann. Praktischer Widerstreit begegnet uns aber nicht erst in sozialen Regelzusammenhängen. Schon das deutende Wahrnehmen muss sich „entscheiden" zwischen einander ausschließenden Möglichkeiten, etwas als dieses oder als anderes zu sehen. Es sieht sich konfrontiert mit einander widerstreitenden Erfahrungsansprüchen, denen man nicht im selben Zug gerecht werden kann und die man nicht zugleich „zur Geltung bringen" kann. D.h. in der Erfahrung selber wurzelt eine fungierende, zunächst nicht-diskursive Strittigkeit, die zum Streit Anlass geben kann, wenn man sich gegenüber Anderen auf eine selber in sich strittige Erfahrung beruft, die einer anderen Deutung grundsätzlich offen steht. Oft genug unterschlägt der soziale Streit freilich den genealogischen Zusammenhang von Erfahrungs- und Geltungsansprüchen mehr oder weniger, um sich am Ende nur noch als Auseinandersetzung um „Positionen" darzustellen, die einander widerstreiten, insofern kein gemeinsames Maß ihrer Bewertung vorzuliegen scheint. Der Streit geht dann mit Leichtigkeit über einen argumentativen Konflikt hinaus und wird schließlich mit anderen Mitteln ausgetragen, wenn die Positionen mit existenzieller Bedeutung aufgeladen werden und wenn ihnen weder nebeneinander, noch nacheinander, noch durch eine Art Schlichtung Rechnung zu tragen ist. Am Ende streift die Gewalt ihre diskursiven Fesseln ab und tritt ganz aus der Deckung jeglicher Legitimation, so dass der Weg einer progressiven Verfeindung frei ist, die ihre exzessivsten Möglichkeiten allerdings nicht immer ausschöpft.2 So gesehen besteht zwischen jener, vor allem mit strukturalem und praktischem Widerstreit verknüpften Strittigkeit, dem Streit, dem offenen Konflikt und der potentiell exzessiven Gewalt ein gewisser Zusammenhang, dessen innere Komplikationen nicht einfach aufzulösen sind; z.B. gewiss nicht in der Weise, dass man Widerstreit und Gewalt identifiziert. Fasst

In Teil III, Kap. 10, wird darauf zurückzukommen sein.

Lebensformen im Widerstreit: Lyotard

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man den Begriff der Gewalt nur weit genug, so schließt er nicht nur manifeste Gewalttätigkeit, sondern auch latente Gewaltsamkeit ein. Gewaltsamkeit kann man schon in einem einseitigen Verhältnis zum Widerstreit, also etwa darin erkennen, dass die Wahrnehmung oder Deutung von etwas als etwas eine andere Möglichkeit ausschließt. (Heidegger spricht so von der „Gewaltsamkeit" der Interpretation.) Ein derart weit gefasster Gewaltbegriff droht aber eine gewisse Nivellierung wichtiger Unterscheidungen nach sich zu ziehen. Widerstreit ist so wenig schon Gewalt, wie Gewalt sich umgekehrt auf Widerstreit reduzieren lässt. Widerstreit gibt Anlass zu Gewalt; und Gewalt trägt ihn aus. Das heißt nicht, dass Widerstreit nur gewaltsam auszutragen wäre. Sofern aber im Versuch, mit Widerstreit umzugehen, ihm Rechnung zu tragen oder ihn auszutragen, irgendwie Gewalt liegt, können wir uns die Frage, was für eine Art der Gewalt jeweils ins Spiel kommt, nicht ersparen. Die „Verwandtschaft" von Widerstreit und Gewalt liegt ebenso auf der Hand wie die Brisanz einer Strittigkeit, die nach einer Lösung verlangt und es zugleich ausschließt, einander widerstreitende Ansprüche einfach nebeneinander „koexistieren" zu lassen. Verheißt diese Zuspitzung nicht selbst schon Gewalt? Sollte nicht genau darin die Brisanz des Themas „Lebensformen im Widerstreit" liegen - und zwar nicht nur im Sinne des Widerstreits zwischen verschiedenen Lebensformen, die man schon gegeneinander ausgespielt hat, sondern auch und vor allem im Sinne der Existenz jeder Lebensform im „Medium" des Widerstreits? Existieren Lebensformen aufgrund des Widerstreits, der konstitutiv zu ihrer Verfasstheit gehört, nicht von Anfang an im Horizont der Gewalt? Ich denke, dass man nicht umhin kann, diese Frage zu bejahen. Das bedeutet aber nicht, dass man die begriffliche Differenz von Widerstreit und Gewalt tilgen sollte. Im Gegenteil: wenn Widerstreit Anlass gibt zur Gewalt und wenn Gewalt ihn austrägt, kommt Gewalt als ein Verhalten von Lebensformen zum Widerstreit, in dem sie existieren, in den Blick. Widerstreit verurteilt sie so gesehen weder in sich noch untereinander zu einer Gewalt, die eine bestimmte politische Rhetorik gerne als unvermeidlich hinstellt, um sie zu instrumentalisieren. Wenn wir demgegenüber fragen, welche Möglichkeiten des Verhaltens uns das Spannungsverhältnis zwischen Widerstreit und Gewalt eröffnet, so nicht, um Gewalt zu affirmieren, sondern um zu realisieren, wie sich uns die Frage der Gewalt angesichts eines „Verurteiltseins" zum Widerstreit stellt, das genauso zum „Hinzunehmenden" (wie Wittgenstein sagen würde), d.h. auch: zum zu Ertragenden gehört wie die Lebensformen selber, in deren Verfassung der Widerstreit wurzelt.

5.2 Sätze, Diskursarten und der „Bürgerkrieg der Sprache" Die Thematik „Lebensformen im Widerstreit" ruft vor allem zwei Autoren in Erinnerung: neben Wittgenstein Lyotard. An Lyotard denken wir nicht zuletzt deshalb, weil er in seinem Buch Der Widerstreit einerseits immer wieder auf Wittgensteins Sprachphilosophie Bezug nimmt und weil er andererseits die Problematik des Widerstreits konkret in einer „strittigen"

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Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

sozialen Realität zu situieren sucht, in der das „Wesen des Sozialen" selber in Frage steht. 3 Es kommt im folgenden nicht auf einen ausfuhrlichen Vergleich von Wittgenstein und Lyotard, sondern darauf an, ob uns dieser Versuch einer Klärung des vermuteten internen Zusammenhangs von Lebensform und Widerstreit näher bringt. Lyotard schließt sich erklärtermaßen nicht der Gebrauchstheorie der Bedeutung an. In diesem Punkt hält er Wittgenstein einfach für „das Opfer des anthropologischen Empirismus". 4 Was ihn aber beschäftigt, ist, dass offenbar dem Denken einer „Sprache im allgemeinen", einer alles Sagbare umfassenden Sprache, nicht zuletzt durch Wittgenstein der endgültige Todesstoß versetzt worden zu sein scheint. Vom frühen Wittgenstein des Tractatus will Lyotard gelernt haben, dass es kein außerweltliches Subjekt, kein Subjekt als „Grenze" der Sprache geben kann. 5 Wenn es ein „Subjekt" gibt, so muss dieses in der Welt, die es kraft des Sichereignens von Sätzen gibt, situiert sein. 6 Aber diese Angewiesenheit der Welt auf die Sprache gestattet nicht mehr den Gedanken einer Welt, die alle Welten umfassen würde, denn es gibt keine Meta-Sprache, die alle Sprachen oder alle Diskurse in sich einschließen könnte. Durch Kant und Wittgenstein, bekennt Lyotard, habe er „gründlich begriffen", „daß es keine Metasprache im allgemeinen gibt". Was aber „gibt es"? Lyotards Antwort: Sätze, die sich ereignen und die irgendwie aufeinander folgen, und zwar weder gänzlich parataktisch, gleichsam assoziativ, noch mit logischer Stringenz. Fest stehe nur, dass man Sätze, die aufeinander folgen, irgendwie „verketten" muss; fest steht aber nicht, wie dies im einzelnen zu erfolgen hat. Dem entsprechend gibt es verschiedene „Modi der Satzverknüpfungen, die durch je verschiedenartige Zwecke bestimmt werden: Vergnügen bereiten (Poetik des Aristoteles), überreden (Topik), überzeugen (Analytik), urteilen (Ethik), affizieren (Kants Ästhetik) und zeigen (Wittgenstein) sind Zwecke, die jeweils besondere Verknüpfungen oder Verkettungen von Sätzen verlangen." 7 Lyotard nennt diese Modi „Diskursgenres" 8 und ver-

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Das lässt sich aufrechterhalten, obwohl Lyotard den Widersteit zunächst auf der Ebene einer ontologischen Strittigkeit der Verknüpfung von Sätzen lokalisiert und gerade nicht vom Streit zwischen Personen, Gruppen oder Parteien und Klassen etwa spricht. Lyotard argumentiert dann aber doch sozialphilosophisch und macht aus der Tatsache kein Geheimnis, dass der Begriff des Widerstreits sich für ihn aus einer Abwendung vom hegelianisch/marxistischen Begriff des Widerspruchs ergab; vgl J.-F. Lyotard et al., lmmaterialität und Postmoderne, Berlin 1985, S. 37, 40 f.; ders., Grabmal des Intellektuellen, Graz, Wien 1985, S. 23.

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J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München 2 1 9 8 9 (=DW), S. 136, Nr. 123; ders., „Nach Wittgenstein", in: Grabmal des Intellektuellen, S. 73. Vgl. dagegen L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt/M. 1 4 1979, Nr. 5.632 und 5.641. DW,Nr. 119. J.-F. Lyotard et al., lmmaterialität und Postmoderne, S. 41.

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Der Begriff taucht in dem Buch über den Widerstreit in derart vielen Verwendungszusammenhängen auf, dass man sich fragen muss, ob überhaupt ein einheitlicher Begriff vorliegt. Diskursarten begegnen als Sprachspiele wie Rechthaben, Verfuhren, Rechtfertigen, Bewerten, Erschüttern etc. (DW, S. 10), aber auch als komplexere Konfigurationen, in denen verschiedene Sprachspiele unter einer Finalisierung zusammentreten können. Ein informeller Dialog wie auch ein juristischer Diskurs kann alle genannten Sprachspiele in bestimmten Mischungsverhältnissen

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mutet eine gewisse Verwandtschaft dieses Begriffs mit dem Wittgensteinschen „Sprachspiel". Freilich entspricht das, was jene Modi vorgeben, nicht den konstitutiven Regeln eines Spiels. Missachtet man diese, so spielt man ein anderes Spiel; missachtet man dagegen die für die Durchführung des Spiels unentbehrlichen Regeln, die besagen, wie man das jeweilige Spiel spielen kann, so spielt man nicht ein anderes Spiel, sondern man spielt schlecht. Diskursarten entsprechen nicht jenen konstitutiven Regeln - die im Fall der Sprache vor allem „das Regelsystem eines Satzes", seine Bildungs- und Verkettungsregeln, betreffen. Vielmehr steht dieser Begriff für Strategien, die verlangen, dass verschiedene Sätze so aneinander gefugt werden, wie es die Ziele der jeweiligen Strategie erfordern. 9 Hier, auf der Ebene dieser Zwecke, lokalisiert Lyotard wenn nicht ausschließlich, dann doch in erster Linie das Problem des Widerstreits. 10 Eine Diskursart - „ganz gleich welche" - schließt in seinem Verständnis „die anderen aus"; und das, obgleich zumindest die von Lyotard gelegentlich unterstellte eineindeutige Zuordnung von Sätzen zu Diskursarten keineswegs evident ist." D.h. ein und derselbe Satz könnte sowohl Überredung als auch Überzeugung bezwecken oder im Unklaren lassen, was er bezweckt. Oft genug wissen wir das erst im nachhinein. Und selbst dann lassen viele zwielichtige Satzgestalten keine eindeutige Entscheidung zu. Diese Überlegung taucht bei Lyotard nur am Rande auf, während die These einer prinzipiellen Inkommensurabilität von Diskursgenres ein derartiges Übergewicht erhält, dass der Begriff des Widerstreits über Gebühr generalisiert zu werden droht. Die Folge ist, dass man Widerstreit nun als Begleiter aller möglichen Satzverkettungen überall auftauchen sieht und dass er insoweit jegliche spezifische, etwa „soziale" oder „politische" Kontur einzubüßen scheint. Ich werde mich im folgenden dieser Ausweitung des Widerstreitbegriffs nicht anschließen, also nicht das diskutieren, was Lyotard den „Bürgerkrieg der Sprache mit sich selbst" nennt, sondern im Gegenteil nach einer möglichen Spezifizierung des Widerstreits suchen, beinhalten. - Diskursarten begegnen bei Lyotard weiterhin als „traditionelle", nicht etwa bestimmte Lebensformen, sondern ganze Kulturen (v. a. „die westliche") prägende Denkweisen, wie sie in der „mythischen Erzählung" oder in den „großen modernen Diskursarten" wie der deliberativen Politik oder dem „ökonomischen Diskurs" zum Ausdruck kommen. Wenn es sich aber bei jenen Sprachspielen bereits um Diskursarten handelt, dann wird jeder halbwegs anspruchsvolle Diskurs verschiedene Diskursarten in unterschiedlichen Zusammensetzungen beinhalten. So soll es sich beispielsweise bei der deliberativen Politik um eine „lose [aber darum doch keineswegs völlig ungeregelte] Anordnung von Diskursarten" handeln. So gesehen handelte es sich bei dieser Art der Politik um eine Art der Verflechtung von Diskursarten, die sich wiederum mit einer anderen Art der Verflechtung, wie sie etwa bei einer ethischen Diskursart vorliegt, in Widerstreit befinden kann. Die Frage, wo der Ort speziell des Widerstreits zwischen Ethik und Politik zu lokalisieren ist, wird uns weiter unten noch beschäftigen müssen. 9 10 11

DW,Nr. 185. Vgl. M. Frank, Die Grenzen der Verständigung,

Frankfurt/M. 1988, S. 28-32.

Vgl. DW, Nr. 201. „Als verkettete [...] sind die Sätze immer in (mindestens) eine Diskursart einbegriffen", heißt es an anderer Stelle. Damit ist eine nicht eineindeutige Zuordnung von Sätzen und Diskursarten grundsätzlich zugelassen. (Ebd., Nr. 147.) Hier setzt auch die Kritik von W. Welsch an, der mit Recht Überlagerungen zur Bedingung von Widerstreit macht: Vernunft, Frankfurt/M. 1996, S. 343.

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der für Lebensformen, etwa aufgrund einer speziellen „Affinität" zur Gewalt (im Sinne von Gewaltsamkeit und von Gewalttätigkeit) von besonderer Bedeutung sein könnte. Ich werde Lyotard nicht folgen, wo er den Widerstreit von Strategien oder Zwecken ohne weiteres als „Krieg" beschreibt, ohne dass noch zu erkennen wäre, wie sich auf das Vorliegen eines Widerstreits zurückzuführende konfliktträchtige Spannungsverhältnisse sozialer oder politischer Art ergeben können. Streit, potenziell exzessive Verfeindung und schließlich Krieg gibt es nicht allein deshalb, weil sich inkommensurable Sätze ereignen. Sätze, die gegenüber anderen und über etwas geäußert werden, geben bestenfalls Anlass zu Streit, Feindschaft und Krieg. Aber „von sich aus" können sie nichts Destruktives ausrichten. Es bedarf der Beihilfe von „Subjekten" des Sprechens, denen man ihr Mitbeteiligtsein daran zurechnen kann, dass aus Widerstreit ein polemogenes soziales Verhältnis erwächst, in dem, in Heideggers Terminologie, Miteinander schließlich nur noch im Modus des Gegeneinander stattfindet. Wenn man in das Gegeneinander ständig aktiv investiert, wird es als solches auffällig. Erst dann ergibt sich, was der Ethnologe G. Bateson Schismogenese genannt hat - d.i. eine tendenziell eskalative Entwicklung, die das Verhältnis der Mitseienden durch den Modus des Gegeneinander zu ruinieren droht. 12 Mit anderen Worten: Widerstreit, wenn er überhaupt gegenüber den Anderen zum Tragen kommt, beschwört nicht eo ipso Konflikt mit ihnen herauf. Und schismogene, am Ende im Zeichen abgrundtiefer Feindschaft jegliche Gemeinsamkeit mit dem Anderen aufkündigende, eskalative Investitionen in Konflikte erwachsen nicht von allein aus Kollisionen von Sätzen, denen Lyotard zutraut, Entitäten wie „Menschen" aus sich „resultieren" zu lassen. 13 Auseinandersetzungen finden nicht zwischen Sätzen, sondern - in meinem antiquierten Verständnis - zwischen Einzelnen statt, die Sätze gegenüber Anderen äußern, um etwas zu sagen, das sich in irgendeiner Weise auf die Welt bezieht, in der „Sender" und „Empfanger" von Sätzen situiert sind. Im folgenden werde ich die fragwürdige informationstheoretische Terminologie Lyotards nicht anfechten, 14 im übrigen aber unbeirrt davon ausgehen, dass Sätze, ungeachtet des Widerstreits, den man zwischen Diskursgenres lokalisieren kann, zunächst geäußert werden; und zwar mit Bezug auf eine vor-linguistische Welt und weltlich situierte Erfahrung, die danach verlangt, gesagt zu werden. 15 Bereits der Erfahrung mag eine gewisse Textur und damit 12

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Vgl. G. Bateson, Ökologie des Geistes, Frankfurt/M. 4 1983. Das Konzept geht auf Forschungen zurück, über die der Autor bereits in den dreißiger Jahren berichtet hat. Vgl. DW, Nr. 188. ... und ignoriere im übrigen keineswegs das Recht einer eigenständigen Thematisierung dessen, was verschiedene Autoren die „Ordnung des Diskurses" genannt haben, die man nicht einfach als Konstitut eines subjektiven Bewusstseins abhandeln kann; vgl. J.-F. Lyotards Anmerkungen zu dieser Frage in tacho 5 (1995), S. 47. Insofern setzt die Definition des (Wider)Streits als einer „ontologischen Situation richterlichen Urteilens" (s. Immaterialität und Postmoderne, S. 40) zu spät an. Widerstreit affiziert, wie man ohne weiteres mit Husserl zeigen könnte, bereits die Wahrnehmung und die Auffassung von etwas als etwas (s.u.), dann auch die Deutung und Beurteilung von etwas als etwas. In allen diesen Hinsichten kann Widerstreit auch ohne Rücksicht auf Andere vorliegen. Phänomenologisch gesehen befinden sich ohnehin nicht Sätze, sondern Ansprüche miteinander im Widerstreit; und

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eine „Vorform der Lesbarkeit" zukommen, doch erübrigt das nicht das Bemühen um Ausdruck, denn sie hat nicht, auch nicht in der Form des Schweigens, von sich aus die Form des Satzes, in dem stets etwas als etwas zur Sprache kommt, was nicht immer schon in einer fertigen sprachlichen Form „gegeben" ist. Es mag weiterhin sein, dass das „Etwas-als-etwas" keineswegs im Belieben eines Subjekts stehen kann, das seinerseits keiner Sprachlichkeit verhaftet wäre. Bereits die Erfahrung, nicht erst die Deutung von etwas als etwas, erweist sich als kulturell imprägniert. Mit Charles S. Peirce kann man von kulturimmanenten Interpretanten sprechen. 16 Ich halte an dieser kulturell imprägnierten referentiellen Dimension der Sprache, die uns auf mehr oder weniger institutionalisierte Regeln und Infrastrukturen der Verständigungsverhältnisse zwischen Menschen verweist, 17 ebenso fest wie am integralen Zusammenhang von Subjektivität und Kommunikation, die sich unter anderem, aber keineswegs ausschließlich im Medium des Satzes bewegt. Da er nicht behaupten kann, Welt, Referenz, Subjektivität begegneten nur aufgrund des Sichereignens von expliziten, gesagten Sätzen, sieht sich Lyotard, der „phänomenologisch belastete" Begriffe wie Ausdruck und Erfahrung gerne vermeiden möchte, 18 gezwungen, auch dem Ungesagten Satzform zu attestieren. Selbst das Schweigen ist demnach ein Satz, ein „negativer Satz". Wenn aber nicht klar ist, was das jeweilige Schweigen nicht sagt (bzw. was es verschweigt), dann verliert es theoretisch jegliche eindeutige Bestimmtheit, die es gestatten würde, ihm die Form eines Satzes zuzuschreiben. 19

5.3 Ansprüche im Widerstreit Verspricht Lyotards Analyse nun aber doch - ungeachtet dieser Bedenken - Wittgensteins Philosophie der Lebensformen nachträglich zu bereichern? Gewiss können wir von Lyotard zwar auch prädiskursive. Erst wenn jemand gegen einen Anderen Ansprüche „erhebt" oder „reklamiert", sprechen wir gewöhnlich von Streit oder Strittigkeit, zu der Lyotards Bestimmung des Widerstreits analytisch gleichsam quer steht: Evidenterweise gibt es Widerstreit ohne „Streit"; und letzterer muss sich keineswegs an der angeblichen Unvereinbarkeit von Sätzen entzünden. Das hat auch Lyotard natürlich gesehen. Immerhin schreibt er ja der Narration die Möglichkeit zu, eine Pluralität von „Sprachspielen" in sich aufnehmen zu können. Und das „soziale Band" besteht fur ihn geradezu aus einer Überkreuzung oder Verflechtung unterschiedlichster Sprachspiele, die nicht übergeordneten Regeln gehorchen. Vgl. J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien 1994, S. 57, 68. 16

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Ich folge hier P. Ricaeur, „Poetik und Symbolik", in: H.-P. Dürr (Hg.), In der Mitte der Welt. Aufsätze zu Mircea Eliade, Frankfurt/M. 1984, S. 11-34. Ricoeur spricht im Anschluss an Winch und Geertz von „symbolischer Regulierung", auf die man sich beziehen müsse, wenn man etwa die Funktionen von Ritualen verstehen wolle (ebd., S. 14). Vgl. auch die entsprechende Polemik G. Deleuzes in: Foucault, Frankfurt/M. 1987, S. 79 f., 152 f. - Auf die phänomenologische „Vergangenheit" Lyotards sei hier nur am Rande verwiesen: J.-F. Lyotard, La Phänomenologie [1954], Paris 2 1964. Vgl. DW, Nr. 8 1 , 9 1 , 153.

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keinen Beitrag zu der bei Wittgenstein nur angedeuteten, nicht aber wirklich geklärten Frage erwarten, wie denn Sprachspiele miteinander im Sinne des Zusammenhangs einer Lebensform verflochten sein können. Der Rede von Sprachspielen als Teilen, die zum Ganzen einer Lebensform gehören sollen, kann sich Lyotard als Kritiker jeglicher Form von Ganzheit, die als solche nicht der Dispersion der Sprache überantwortet wäre, nicht anschließen. 20 Nicht nur kann es für Lyotard keine nach außen klar abgegrenzten Sprachen oder Lebensformen geben; Zerstreuung, als Auflösung von Ganzheit, sucht sie radikal von innen heim, behauptet Lyotard doch die Unumgänglichkeit einer Dispersion, die „schlimmer ist als die Diaspora", insofern sie „die Sätze betrifft". 21 Sätze mögen sich noch gemäß den Zwecken gewisser Diskursarten regulär zusammenfügen lassen, doch zwischen das Telos des Überzeugens und das Telos des Überredens beispielsweise, zwischen diese beiden Sprachspiele, schiebt sich ein durch keinerlei Regel zu bändigendes „Nichts". Übergänge zwischen Sprachspielen oder Diskursarten sind prinzipiell radikal irregulärer Art: sie können überhaupt nicht geregelt werden. Infolge dessen lässt sich kein „nahtloser" Zusammenhang von Sprachspielen und Lebensformen denken - wenn nicht gar jeglicher Zusammenhang zerreißt. Lyotard gibt nicht nur keine Antwort auf die Frage, wie denn Diskursarten im Zusammenhang einer Lebensform stehen könnten; er stellt auch radikal in Frage, ob es überhaupt etwas wie einen allein sprachlich garantierten Zusammenhang geben kann. Wenn sich ein solcher Zusammenhang denken ließe, so müsste es sich jedenfalls um einen überaus löchrigen handeln, der uns vor massive Begründungsprobleme stellte, insofern wir niemals mit zureichenden Gründen sagen können, warum oder mit welchem Recht wir diese mit jener Diskursart oder dieses mit jenem Sprachspiel verknüpfen. Lebensformen müssen so gesehen unweigerlich in der Anarchie stets nur unzureichender Gründe existieren. Von der bei Wittgenstein nahegelegten Harmonie von Teilen im Horizont eines Ganzen, das zugleich als Rahmen der Intelligibilität der Teile (Sprachspiele oder Diskursarten) fungieren würde, sind wir hier so weit entfernt wie nur möglich. Dafür könnte man mit Lyotard nun immerhin die Rede von „Lebensformen im Widerstreit" präzisieren: Lebensformen existieren im Widerstreit, insofern sie durch das Sichereignen (bzw. durch die Äußerung) von Sätzen gezeichnet sind, für die es alternative, aber einander ausschließende Möglichkeiten der Anknüpfung gibt. „Die Vielfalt von Spieleinsätzen, die mit der Vielfalt der Diskursarten einhergeht, bewirkt, daß jede Verkettung zu einer Art ,Sieg' der einen über die anderen wird. Letztere bleiben ungenutzte, vergessene, verdrängte Möglichkeiten. [...] Es gibt nur einen Satz ,auf einmal' (...). Eine Menge möglicher Verkettungen (oder Diskursarten), nur ein einziges aktuelles ,Mal'." 22 Sollte es bei dieser Einsicht, die so neu und umwälzend nicht ist, bleiben, so wäre aus diesem Resultat wenig zu

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Vgl. „L'ange qui nage. Ein Engel, der schwimmt", in: tacho 5 (1995), S. 19, 21, wo Lyotard sich eindeutig zur Affinität der Diskursgenres zum Wittgensteinschen Sprachspielbegriff äußert und die umstandslose Übertragung der Problematik des Widerstreits auf interkulturelle Verhältnisse mit guten Gründen zurückweist.

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DW,Nr. 155. DW,Nr. 184.

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gewinnen. Wo es einen Überschuss von Möglichkeiten gibt, ist deren selektive Realisierung unumgänglich und in diesem Sinne notwendig. Das Problem dieser Selektivität ist aber unterschiedlichen Arten des Anknüpfens gemeinsam, die uns interessieren, wenn wir etwa lediglich ungenutzte von verdrängten oder vergessenen Möglichkeiten abheben. Betrifft der Widerstreit alle möglichen Arten des Anknüpfens gleichermaßen, dann kann, ja muss er uns gleichgültig sein, wenn wir die Frage aufwerfen wollen, wie wir besser oder angemessener auf eine bestimmte Art und Weise anknüpfen sollten. Erneut ergibt sich daraus die Forderung, den Widerstreit zu spezifizieren, um den Begriff vor einer extensiven Verwendung zu bewahren, in der alle in „sozialer" Hinsicht relevanten Unterschiede des Anknüpfens in-different erscheinen. 23 Welche Unterschiede können oder müssen aber als „relevant" gelten? Setzt sich Lyotard nicht selbst von einem ubiquitären Widerstreit ab, wo er den Begriff mit einer für die menschlichen Verhältnisse „wesentlichen" Strittigkeit des „Sozialen" in Verbindung bringt? Tatsächlich ist das ganze Buch über den Widerstreit von kryptonormativen Vorentscheidungen über die Arten von Widerstreit inspiriert, auf die es diesseits bloß logischer Inkommensurabilitäten in sozialen Verhältnissen ankommen muss. Bevor diese Vorentscheidungen in ihrer Tragweite herauszustellen sind, müssen wir der quasi-juridischen Form nachgehen, in die Lyotard den Widerstreit als einen dringlichen Konflikt fasst, dem mit stoischer Isosthenie nicht zu begegnen ist.24 Beim Widerstreit handelt es sich wie gesagt nicht um eine logische Kollision, die ohne unmittelbare praktische Bedeutung wäre. Vielmehr gewinnt der Widerstreit, den Lyotard im Blick hat, seine soziale Bedeutung gerade aus seiner Dringlichkeit: Man kann ihm nicht aus dem Wege gehen und er lässt weder eine einseitige Auflösung, noch eine Aufhebung, noch unsererseits „Indifferenz" zu. 25 Man muss sich also zu ihm verhalten. Man kann sich nicht nicht zu ihm verhalten. Was bedeutet das? Gegeben seien zwei Ansprüche, die sich auf dasselbe beziehen, ohne aber „vereinbar" zu sein. Jeder für sich genommen mag legitim sein. Dass ein Anspruch berechtigt erscheint, bedeutet nicht auch, dass der andere nicht legitim wäre. Einen solchen Bezug herzustellen bedeutet schon, zu unterstellen, beide Ansprüche seien an einem gemeinsamen Maß zu messen - wie in einem Rechtsstreit, wo sich Kläger und Beklagte derselben urteilenden Instanz unterwerfen. Geschieht dies aber mit Ansprüchen, auf die kein gemeinsames Maß anzuwenden ist, so liegt ein „Unrecht" vor. 26 Dieses Deshalb insistiert Waidenfels in seiner Auseinandersetzung mit Lyotard auf dem Begriff des Anspruchs, von dem her er eine nicht modallogisch verwässerte, ethische Präzisierung der Frage des „Unrechts" erwartet, das Möglichkeiten widerfährt, denen man nicht gerecht wird; vgl. Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt/M. 1995, S. 269-271. Vgl. Sextus Empiricus, Grundriß derpyrrhonischen Skepsis, Frankfurt/M. 1968, S. 94. Vgl. dazu C. Menke, „Die Vernunft im Widerstreit. Über den richtigen Umgang mit praktischen Konflikten", in: ders. u. M. Seel (Hg.), Zur Verteidigung der Vernunft gegen ihre Liebhaber und Verächter, Frankfurt/M. 1993, S. 197-218. Von der jeweils „strittigen" Sache her wird vielfach nicht klar sein, ob von einem solchen Maß auszugehen ist. Strittig ist dann die „Natur" des Konflikts selbst, d.h. ob er als differend oder als littige zu verstehen ist. Auch in diesem Fall gibt es keinen neutralen Schiedsrichter, der unabhängig entscheiden könnte; usw.

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Wort darf nun gerade nicht in dem Sinn genommen werden, den es suggeriert. Es bedeutet nicht: Verletzung eines Rechts (das wäre in Lyotards Terminologie ein bloßer „Schaden"), sondern bedeutet, dass dem Recht als Recht nicht angemessen Rechnung getragen wird. Wollte man behaupten, man könne dem einen Anspruch oder dem einen Recht und dem jeweils anderen zugleich gerecht werden, so müsste man über eine dritte, unabhängige Instanz verfugen, die den Widerstreit der Ansprüche in terms eines Schadensfalls zu reformulieren hätte. 27 Der Widerstreit ist nun aber gerade durch das Fehlen oder sogar durch die prinzipielle Unmöglichkeit einer solchen dritten Instanz definiert. Immer und überall wird dort, wo ein Widerstreit vorliegt, ein Fall, ein Sachverhalt, ein Anspruch oder ein Recht nach Regeln beurteilt, die dem Beurteilten selber fremd sind. Eben darin liegt das Unrecht. Schon im einleitenden Paragraphen legt Lyotard dieses juridische Modell auf „Konfliktfälle" zwischen unterschiedlichen Diskursarten fest. Infolgedessen droht alles ignoriert zu werden, was nicht in diskursiver Form auftritt. Und da der Begriff der Diskursart von Sprachspielen über Denkweisen bis hin zu Diskursen (!) 28 nichts auslässt, erfährt der Anwendungsbereich des Modells eine enorme Generalisierung. Das Modell besagt, kurz gefasst: mit intern geregelten Diskursarten gehen Ansprüche einher, die nur an Maßstäben zu messen (d.h. für Lyotard: zu beurteilen) sind, die mit der Diskursart konform gehen. An dieser strikten Zuordnung von Diskursgenres, Ansprüchen und Maßstäben, deren Anwendungsbereiche koextensiv sein sollen, wird eine kryptonormative Position deutlich, die Lyotard selber einnimmt: Unrecht soll nicht sein; jede Diskursart ist an ihren eigenen Maßstäben zu messen. 29 Wo dieses „Sollen" im zerstreuten Archipel der verschiedenen Diskursarten seinerseits seinen Ort hat, verrät uns Lyotard nicht, obgleich er sich uns als Wächter dieses (geheimen?) Ortes, als Instanz der Bezeugung des Widerstreits und als personifizierte Forderung nach Gerechtigkeit angesichts des Widerstreits vorstellt.

Die „dritte Instanz" könnte man sich auch als eine psychische etwa denken, die mit innerem Widerstreit konfrontiert wäre. Die Rede von einer solchen Instanz impliziert eine Dimension der Tertialität, die im praktischen Widerstreit stets mit im Spiel ist, auch wenn sich keine soziale Institution, kein konkreter Anderer und kein in uns selbst vermittelndes Drittes findet. Hinzuzufügen wäre noch das „wissenschaftliche Wissen", das mit dem denotativen Sprachspiel geradezu gleichgesetzt wird. Schließlich spricht sogar „die Welt" „unter der Regel des ökonomischen [...] Tausches", zu der Lyotard eine - widerstreitende - Alternative ins Spiel bringen will; vgl. Das postmoderne Wissen, S. 80; Grabmal des Intellektuellen, S. 4 9 f., 84 f. Inhaltlich ist diese Position um so schwerer einzulösen, als sie selbst rein formal begründet erscheint: wenn ich Überredungsversuche nur daran messen kann, ob an den Regeln des Überredens gemessen „gut" überredet wurde, braucht gar nicht zur Sprache zu kommen, wovon jemand hat überredet werden sollen. - Im übrigen drängt sich die Frage auf, ob die besagte Koextensivität von Diskursart, Ansprüchen und Maßstäben nicht schon durch die Nicht-Eineindeutigkeit der Zuordnung von Sätzen zu Diskursgenres in Frage gestellt wird. Wenn Sätze nicht eindeutig durch die Teleologie von Strategien bestimmt sind, wenn also Diskursgenres interferieren können, muss das auch von ihren jeweiligen Maßstäben und von den Ansprüchen gelten, die sie geltend machen oder die an sie zu stellen sind.

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Vergleicht man Lyotards Ansatz mit der traditionellen Terminologie, so fällt wie gesagt unmittelbar die juridische Form auf, in die er den Widerstreit fasst.30 Widerstreit liegt nicht als „realer" aufgrund zweier Wirkungen vor, die einander aufheben oder „vernichten" wie in der Newtonschen Mechanik reversibler Bewegungen.31 Es geht nicht um Gegenwirkungen aufgrund von Kräften, deren Resultante Null ist, oder um irgendwelche „entgegengesetzten Bestimmungen" (Hegel),32 sondern um konfligierende Ansprüche, wie sie paradigmatisch vor Gericht auftreten. Der Widerstreit betrifft aber nicht justiziable Schadensfalle, welche die juridische Logik des Urteilens nicht sprengen, sondern tritt in Fällen zutage, wo mindestens ein Anspruch zwar vor Gericht artikuliert wird, wo die urteilende Instanz aber zugeben muss, der Art des Anspruchs nicht gerecht werden zu können. So kann ein Arbeitsgericht Streitfälle zwischen Wirtschaftspartnern schlichten, ist aber überfordert und muss sich als unzuständig erklären, wenn ein Arbeiter erklärt, „daß es keine Ware ist, was er gegen Lohn soundsoviel Stunden in der Woche seinem Chef überläßt". Das Arbeitsgericht setzt die Unterordnung der Arbeit als sog. Lohnarbeit unter den Tausch bereits voraus. Es ergibt keinen Sinn, unter dieser geltenden Voraussetzung vor Gericht darauf bestehen zu wollen, dass in die eigene Arbeit etwas anderes als Tauschbares, nämlich reale eigene Lebenszeit etwa eingeht, für die man nicht nur nichts zurückerhält, sondern die der ökonomischen Logik selber sich entzieht. Der Richter mag eine solche Argumentation gegen die „Entfremdung", welche die ökonomische Logik voraussetzt, „verstehen", aber er kann sie nicht in sein Urteil eingehen lassen. Das Unrecht, das dem Anspruch widerfährt, der Lebenszeit gerecht werden zu sollen, kann vor Gericht nicht angemessen gewürdigt werden, da es sich nicht als verhandel-

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Vgl. das Stichwort „Gegensatz" im Wörterbuch der Philosophischen Begriffe, Hg. R. Eisler, Bd. 1, Berlin 2 1904, S. 361 f., wo logische Opposition und ontologischer (realer) Gegensatz (Repugnanz) unterschieden werden. Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1976, S. 318 ff. (=KrV, Β 328 ff.). Kant begründet den Widerstreit so im Zusammenhang der Amphibolie der Reflexionsbegriffe (d.h. im Sinne der Verwechselung von empirischem und transzendentalem „Verstandesgebrauch"). Dabei geht es auch um die Frage, ob realer Widerstreit uns als empirische, endliche Wesen erfasst, wenn etwa der Wirkung vernünftiger Selbstbestimmung durch entgegengesetzte sinnliche („pathologische") Affektionen Abbruch getan wird. Zum Widerstreit zwischen Naturnotwendigkeit und Freiheit im Kontext der praktischen Vernunft vgl. I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg 1974, S. 132. Eine Koliision bzw. einen Widerstreit innerhalb der praktischen Vernunft (also etwa zwischen je für sich geltenden Pflichten) hielt Kant für undenkbar; vgl. Die Metaphysik der Sitten, Frankfurt/M. 1977 (Werkausgabe, Hg. W. Weischedel), S. 330 (=A 23, Β 24). Für Hegel ist Widerstreit nicht allein ein logischer, sondern in einer antinomischen Wirklichkeit enthalten, die in einen „tragischen" und schuldhaften Zusammenhang verstricken kann, wenn ein Teil dieser Wirklichkeit seine „Berechtigung" nur um den Preis der Verletzung einer ihm entgegengesetzten behaupten kann. (Vgl. Th. Kesselring, Die Produktivität der Antinomie, Frankfurt/M. 1984, S. 113 ff.; G. W. F. Hegel, Ästhetik, Berlin 1955, S. 1971; J. van der Meulen, Heidegger und Hegel oder Widerstreit und Widerspruch, Meisenheim a. Glan 1959, S. 188 f.) Kant und Hegel setzen ständig eine dritte Instanz voraus, von der aus sich Widerstreit als solcher erkennen, beschreiben und schließlich auflösen lässt. Eine explizit juridische Form geben sie ihr aber nicht.

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barer Schaden artikulieren lässt. Gefühle von Traurigkeit, Zorn, Hass, Entfremdung, Frustration, Demütigung zeigen den vor keiner Instanz auszutragenden Widerstreit zwischen der ökonomischen Logik einerseits und der in die Arbeit „investierten" eigenen Lebenszeit (bzw. der Erfahrung, sie „opfern" zu müssen) andererseits an. Vor Gericht kann dieser Widerstreit als Widerstreit zweier Ansprüche artikuliert werden, die zuvor aber in der Erfahrung konfligieren. Lyotard geht es gerade nicht darum, den Widerstreit auf den Bereich von „Jura" zu beschränken, sondern an einem paradigmatischen Fall (der allerdings auch ein inhaltlicher Brennpunkt unserer noch immer von modernen Bedingungen der Vergesellschaftung geprägten Erfahrung ist33) die quasi-juridische Grundstruktur des Widerstreits deutlich zu machen, die überall wiederkehrt und keineswegs als Juristische" im engeren Sinne zu verstehen ist. Nehmen wir zur Erläuterung das Spannungsverhältnis zwischen Zeugnis und Bezeugung, das auch in Lyotards Überlegungen eine herausragende Rolle spielt.

5.4 „Unsere Art zu denken" Gemäß „unserer Art zu denken", an die Lyotard anknüpft, ist „Wirklichkeit" alles andere als ein unproblematischer, etwa durch ostensive Definitionen ohne weiteres einzulösender Begriff.34 Streng genommen kann gemäß dieser Denkweise der Anspruch, sich auf „Wirkliches" zu beziehen, nur ein Anlass dazu sein, ein „Ermittlungsverfahren" zu beginnen.35 Wirklichkeit ist nichts ohne weiteres Gegebenes und durch Erfahrung Autorisiertes, sondern bedarf unter dieser Voraussetzung jedenfalls einer Verifikation, die niemandem allein zu Gebote steht. Deshalb genügt es nicht, etwas „selbst gesehen" zu haben. Die Beweiskraft der Autopsie ist nämlich durchaus zweifelhaft. Wirklichkeit ist übereinstimmend beurteilte, zumindest bis auf weiteres, wenn nicht endgültig bewiesene Wirklichkeit. Also genügt es nicht, als Augen- oder Ohrenzeuge zu bezeugen, was man erfahren hat, damit das Erfahrene als „wirklich" gelten kann. Vor einer Instanz, die Wirklichkeit nur als beweisbare gelten lässt, verhallt der Anspruch der Bezeugung zwar nicht angehört; aber sie kann ihm nicht Rechnung tragen, es sei denn das Bezeugte gibt Beweisbares her. Insoweit das nicht der Fall ist oder nicht einmal der Fall sein kann, widerfährt der Bezeugung bzw. dem Anspruch, den sie geltend macht, unweigerlich ein Unrecht (kein Schaden). Und es gibt keine Instanz, die Bezeugtes und Bewiesenes zum Ausgleich zu bringen vermöchte. Das gilt so nicht erst für jedes Gericht, sondern bereits für ein quasi-juridisches Wirklichkeitsverständnis, das sich gerade dann an Beweisbares hält, wenn es sich mit einer zwar bezeugten, aber „unglaublichen" Wirklichkeit konfrontiert sieht. Um glaubwürdig erscheinen

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Insofern ist das gennante Beispiel kein bloßes Beispiel unter anderen, wie sich noch zeigen wird. Fragen der „Immaterialisierung", ja Derealisierung des Wirklichen, wie sie Lyotard der Moderne zuschreibt, bleiben hier außer Betracht; vgl. Immaterialität und Postmoderne, S. 10 f.; Postmoderne für Kinder, Wien 1987, S. 16, 22. DW, Nr. 10.

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zu können, muss man sich an das Mögliche bzw. an das normalerweise für möglich Gehaltene halten, so lautet ein alter, schon von Aristoteles nahegelegter Rat. 36 Berichtet der Augenzeuge „Unwahrscheinliches" oder als „unmöglich" Geltendes, so fällt das auf seine Glaubwürdigkeit zurück. Man wird eher zweifeln, ob er noch bei Verstand ist, als ihm um den Preis zu glauben, dass man revidieren muss, was man für möglich hält. Es sei denn, andere Zeugen treten hinzu und erhärten das Bezeugte. In diesem Fall folgt man aber wieder Regeln der Beweisführung, die nichts daran ändern, dass der Bezeugung als Bezeugung Unrecht widerfährt. Sie erhebt nicht Anspruch auf Beweiskraft, sondern darauf, dass man dem Zeugen glaubt. Wenn uns als Zeugen nichts zur Verfügung steht als unser Wahr-Sagen, das keine Chance hat, eine verifizierbare Aussage hervorzubringen, weil wir die Einzigen sind, die bezeugen konnten, oder weil das Bezeugte nach allen Grundsätzen des für möglich zu Haltenden als „unmöglich", d.h. als unglaubhaft erscheinen muss, so können wir nur daran appellieren, dass uns Andere glauben. Wir setzen unsere ganze Glaubwürdigkeit aufs Spiel: Sie soll wett machen, was Beweise nicht erbringen können. Zieht man mehrere Zeugen zu Rate, so liegt allein in diesem Verfahren schon die Weigerung, allein der Bezeugung Glauben zu schenken. Nicht, dass man auf diese Weise bezweifelte, was der Zeuge sagt; man zieht sich von der Zumutung des Glauben-sollens selber, mit der uns das Wahr-Sagen des Zeugen affiziert, hinter den Anspruch der Beweisbarkeit zurück. Erst unter der Voraussetzung, dass diesem Anspruch Genüge getan worden ist, will man glauben. Man will also gar nicht glauben, sondern wissen. Dem Anspruch der Bezeugung widerfährt Unrecht. Dieses Missverhältnis zwischen Beweis und Bezeugung prägt wie gesagt nicht erst Fragen juristischer Urteilsbegründung, sondern das, was Lyotard „unsere Art zu denken" nennt, d.h. den Wirklichkeit und Verifikation kurzschließenden common sense. Im Vorgriff auf die antizipierte Unfähigkeit oder Weigerung Dritter, ihnen „Glauben zu schenken", haben viele Opfer der Nationalsozialisten nach Möglichkeiten gesucht, das ihnen Widerfahrene in beweisfähiger Form zu überliefern. Der Widerstreit zwischen Bezeugung und Zeugnis als Beweis war ihnen in ihrer damaligen Erfahrung gegenwärtig. Sie mochten sich vielfach nicht auf das einzige ihnen zur Verfugung stehende Mittel der „Zumutung des Glaubens" verlassen. Sie wussten: man würde ihnen nicht glauben und vielleicht nicht einmal glauben können, da sie j a gerade etwas zu sagen hatten, was allem für möglich Gehaltenen widersprechen musste und wofür kein Idiom zur Verfugung stand. 37 Der Widerstreit zwischen BezeuVgl. Aristoteles, Poetik, 1451 b; DW, Nr. 31; sowie P. Ricoeur, Zufall und Vernunft in der Geschichte, Tübingen 1986, S. 18 ff. Zum Verhältnis von Zeugnis und Bezeugung, die eine Selbst-Bezeugung einschließt, vgl. v. Verf., „Selbstheit und Bezeugung. Soi-meme comme un autre als Antwort auf Sein und Zeit, in: A. Breitling, S. Orth, B. Schaaff (Hg.), Das herausgeforderte Selbst. Perspektiven auf Paul Ricceurs Ethik, Würzburg 1999, S. 157-177; Vom Anderen her. Erinnern und Überleben, Freiburg, München 1997, Kap. V und VI (zum Zeugnisbegriff und Lyotard), sowie das Kap. VI in: Geschichte als Antwort und Versprechen, Freiburg/München 1999 (=GAV). Ich nehme Lyotards aporetische Zuspitzung des Zeugnisproblems übrigens nicht als auch nur annähernd angemessene Reformulierung der historischen Befundlage. Lyotard lässt empfindlich eine ausfuhrliche Würdigung der Rolle der Dritten vermissen, an die die überlieferten Zeugnisse vielfach adressiert

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gung und Zeugnis als Beweis setzte sich weiter fort in der doxischen Verfassung einer Lebenswelt nach dem Krieg, in der man die eigene Normalität durch die überlieferten Zeugnisse gefährdet sah und sich der Zumutung zu glauben widersetzte, sowie in der epistemischen Verfassung einer Wissenschaft, die sich nach und nach zu der Einsicht durchrang, dass das Geschehene eine Herausforderung an die Adresse des Denkens bedeutet, der man mit den üblichen Methoden der historischen Beweisführung nicht gerecht werden kann. Diese Methoden sind - wie die in der Historik reflektierten Regeln der Zeugnis- und Quellenkritik zeigen - ihrerseits quasi-juridische. D.h. sie stellen sich gegenüber der Zumutung des Glauben-sollens gleichsam blind und lassen nur das als historische Erkenntnis gelten, was sich verifizieren lässt. Insofern das, wofür der Name „Auschwitz" steht, nun aber nicht bewiesen, sondern nur bezeugt werden kann, widerfährt dem Anspruch auf Bezeugung gerade durch den historischen Diskurs erneut ein Unrecht (kein Schaden). Damit liegt auch hier ein Widerstreit vor: Die Historiografie wird, wo sie des Bezeugten, aber nicht Beweisbaren inne wird, nicht behaupten, das Bezeugte sei nicht wahr oder wirklich und der Anspruch der Bezeugung bestehe nicht zu Recht; sie wird vielmehr ihre Unzuständigkeit oder ihre Unfähigkeit eingestehen, diesem Anspruch ihren eigenen methodologischen Regeln gemäß gerecht werden zu können. Auf diese Weise soll nicht etwa einem „Revisionismus" in die Hände gespielt werden, der das Bezeugte nicht nur im Rahmen dieser Regeln, sondern überhaupt in Abrede stellt und damit die Zeugen der Unwahrheit zeiht. Vielmehr wird auf ein inkommensurables Wahrheitsregister und auf einen anderen, nicht im Logos der beweisfähigen Aussage aufgehenden, sondern in der Weise der Bezeugung gegebenen Modus der Wahrheit verwiesen. Die Geschichtsschreibung kann es sich nicht so leicht machen, diesen Wahrheitsmodus einfach aus ihrem Zuständigkeitsbereich zu verweisen. Wo sie sich mit der Literatur der Überlebenden sei es auch nur als kritisch auf ihren Beweiswert hin befragten „Quellen" - auseinandergesetzt hat, hat sie sich deren Anspruch auf Bezeugung bereits zugezogen. Sie glaubt aber, zu ihm schweigen zu müssen, solange sie an den methodologischen Regeln einer traditionellen Historik festhält.38 Von diesen Regeln, vom methodologischen Selbstbewusstsein seiner Disziplin wird dem Historiker dieses Schweigen „abverlangt", wie Lyotard schreibt. Der in Schweigen mündende Widerstreit zwischen dem Anspruch der Bezeugung einerseits und einer auf Verifikation festgelegten historischen Kritik andererseits endet aber nicht in einer toten Aporie. Denn „mutatis mutandis ist das Schweigen, das das Verbrechen von Auschwitz dem Historiker abverlangt, für die Mehrzahl der Menschen ein Zeichen"; ein Zeichen dafür

waren (ganz abgesehen von den überlebenden Augenzeugen oder Grenzgängern wie Kurt Gerstein, die verhindert haben, dass die „Wahrheit" der Vergasung von allen Opfern spurlos mit in den Tod genommen werden musste). Vgl. A. Rosenberg, J. R. Watson, D. Linke (eds.), Contemporary Portrayals of Auschwitz. Philosophical

Challenges, New York 2000.

Vgl. v. Verf., „Prospettive di una revisione critica del rapporto tra istorica ed ermeneutica" [„Perspektiven einer kritischen Revision des Verhältnisses von Historik und Hermeneutik"], in: Unitä di senso della storia nell'orizzonte

2000, S. 41-72.

contemporaneo.

in: Discipline Filosofiche X, Nr. 1, Bologna

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nämlich, „dass etwas, das in Sätze gebracht werden muß, in den geltenden Idiomen nicht artikuliert werden kann". 39 Vorausgesetzt wird hier, dass das Bezeugte, das dank der Überlebenden in der Welt ist, danach verlangt, gesagt zu werden, denn es hat sich einem radikalen Anspruch der Erfahrung, einem Erfahrungsanspruch gestellt, der sich bislang durch kein Idiom, durch keinen poetischen Versuch des Sagens und erst recht durch kein akademisch Gesagtes hat abgelten lassen. Was aufgrund dieses Anspruchs 40 zu sagen bleibt, affiziert das „historisch Gesagte" selbst und gibt ihm den Skrupel zu denken auf, ob Schweigen genügt oder ob sich das Schweigen, das dem Historiker von den Regeln seines Diskurses abverlangt wird, nicht legitimerweise gegen diesen kehren muss, um die Geschichtsschreibung als wissenschaftliche Disziplin zur Suche nach anderen, neuen Idiomen zu bewegen, die den Widerstreit von Bezeugung und Zeugnis nicht gleichsam in einer starren Aporie einfrieren, sondern in einer fruchtbaren Bewegung zur Austragung zu bringen vermöchten. Ob diese von Lyotard immerhin eröffnete Perspektive nicht die Geschichtswissenschaft Uberfordert, bleibe dahingestellt. Vielleicht kann nicht sie, wohl aber eine an disziplinare Regeln nicht restriktiv gebundene Öffentlichkeit der Ort einer solchen Austragung sein. Die Öffentlichkeit, in der Episteme und Doxa ihre Vermittlung erfahren, braucht sich nicht um jeden Preis an methodologische Regeln zu halten, die das legitimerweise Gesagte über Gebühr auf Beweisbares einschränken. Sie kann alle, literarische, wissenschaftliche, textuelle und paratextuelle Formen des Gesagten ohne vorgängige Bevormundung durch diskursive Regeln aufeinander treffen lassen; und zwar als Formen, die sich originären Erfahrungsansprüchen stellen, um sie „zur Geltung kommen" zu lassen. Wird der durch Lyotards Rückzug auf Sätze und Diskursgenres unterbrochene genealogische Zusammenhang von Erfahrung und Geltung aber in dieser Weise wieder hergestellt, dann ist nirgends vorentschieden, welchen Regeln sich die Erfahrung, die Rede und das Gesagte der Zeugen zu unterwerfen hat. Der genealogische Zusammenhang beginnt nicht in bereits „entmischten", ganz verschiedenen Regeln folgenden Diskursen, sondern im Widerstreit, dem sich die Erfahrung zwischen dem Anspruch auf Bezeugung und dem Anspruch auf beweiskräftige, selbst anonyme Dritte überzeugende Zeugnisse zu stellen hat. In der Erfahrung sind diese Ansprüche nicht eindeutig auf verschiedene Genres verteilt. Das wird nicht einmal dann der Fall sein können, wenn sich unterschiedliche Diskursarten voneinander getrennt haben, denn vermutlich lässt sich kein Satz eineindeutig genau einer Diskursart zuordnen: Ein Blick in die entsprechende Literatur belehrt darüber ohne weiteres: Sätze, die zu Beweisfragen herangezogen werden können, bezeugen auch, wenn nicht eine bestimmte historische Wirklichkeit, die man ihnen nur abzulesen brauchte, dann doch das Selbst derer, die Zeugnis abgelegt haben. Nicht umsonst hat der Begriff des Zeugnisses umgangssprachlich den doppelten Sinn des abgelegten Zeugnisses, das zu Beweiszwecken herhalten kann, und des Zeugnisablegens, das der Zeuge mit seinem Anspruch auf Glaubwürdigkeit unterstreicht. Die nicht eineindeutige Zuordnung 39 40

DW, Nr. 93. Lyotard spricht statt dessen von „unabgegoltenen Bedeutungen", um dem Begriff der Erfahrung aus dem Weg gehen zu können. Vgl. DW, Nr. 93. Aber hat es Sinn, von einem Unrecht zu sprechen, das Zeichen oder Bedeutungen widerfährt?

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von Gesagtem zu Diskursgenres lässt einander bereits in der Erfahrung widerstreitende Ansprüche weiter interferieren. Und diese Interferenz verschwindet nicht, wo sich große Diskurse wie der der Historiker etablieren, die ihrerseits komplizierte Verflechtungen von Diskursarten darstellen. Nur insofern Lyotard 1. verkettete Sätze suggestiv eindeutig Diskursarten zuordnet, insofern er 2. keine Interferenz von Diskursarten denkt und insofern er 3. Diskurse insgesamt wie Diskursarten behandelt (als ob ein spezielles Sprachspiel wie das Überzeugen ein soziales System wie die Juristerei insgesamt bestimmen würde), kann es diesen Anschein haben. Aber der Widerstreit zwischen Bezeugung und Zeugnis pflanzt sich von der Erfahrung über das Sagen und das Gesagte bis in das (gemäß den methodologischen Regeln der Historiografie) legitimerweise Gesagte hinein fort; und zwar so, dass es dem historischen Diskurs nicht gelingt, sich hinter diesen Regeln zu verschanzen. Im Gegenteil: längst ist er auf der Suche nach anderen Idiomen - auch um den Preis der Einebnung gewisser Gattungsunterschiede. 41 Damit öffnet er sich der weiteren Öffentlichkeit, die den Rückzug auf Regeln, welche im Namen der Absicherung legitimer diskursiver Geltungsansprüche vorgängige Erfahrungsansprüche zu bevormunden drohen, zumindest erschwert, wenn nicht unmöglich macht. Veröffentlicht werden nicht nur historische Texte wie Vordenker der Vernichtung (Götz Aly/Susanne Heim), journalistische Protokolle wie Eichmann in Jerusalem (Hannah Arendt), autobiographische Bilanzen wie Charlotte Delbos Trilogie, Vermächtnisse wie Primo Levis Die Untergegangenen und die Geretteten, sondern auch Todesfugen und Nekrologe wie Jizchak Katzenelsons Großer Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk. Wenn es etwas Gemeinsames gibt, was sich lateral durch alle diese Arten des Sagens, des ständigen Widerrufens, dass das Erfahrene sagbar sei, und der Diskursarten hindurchzieht, dann ist es die Frage, wer wir angesichts dieser Infragestellung sind, die uns das Überlieferte zu denken gibt. Das Gemeinsame liegt gewiss nicht in einem universalen Idiom, 42 sondern im Rückverweis auf das, was ungeachtet alles Gesagten zu sagen bleibt. Dieses zeigt sich durch ein Schweigen an, das darauf hinweist, „daß Sätze schmerzvoll und unabgegolten auf ihr Ereignis warten" - oder, in unserer Sprache: dass Erfahrungen, die wie auch immer vermittelt uns überliefert worden sind, danach verlangen, gesagt zu werden. 43 Wenn das bisher Gesagte sich gleichsam selbst dementiert und den Anspruch widerruft, diesem Verlangen gerecht geworden zu sein oder gerecht werden zu können, so widerstreitet sich die Sprache hier selbst.

42

43

Vgl. ausfuhrlich dazu v. Verf., Geschichte im Zeichen des Abschieds, München 1996, sowie GAV, Kap. IV, VI, VII, IX. Zur entsprechenden Sprachkritik Lyotards vgl. T. Borsche, „Orte der Wahrheit, Orte des Widerstreits", in: J. Simon u. W. Stegmaier (Hg.), Fremde Vernunft. Zeichen und Interpretation IV, Frankfurt/M. 1998, S. 113-138; ders., „,Es ist in Namen, daß wir denken.' Lyotards Kritik des spekulativen Diskurses", in: Chr. Hubig (Hg.), Cognitio humana - Dynamik des Wissens und der Werte, Berlin 1996, S. 380-394. In geschichtsphilosophischer Perspektive wird das Motiv radikaler Sprachskepsis im Blick auf Levinas' Gedanke eines dedire und in Anlehnung an Lyotard bedacht in: GAV, Kap. VI, sowie in Vom Anderen her. Erinnern und Überleben, Kap. VI. - S. a. E. Weber u. G. Chr. Tholen (Hg.), Das Vergessen(e), Wien 1997. Vgl. DW, Nr. 93.

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Sie sagt aus, bringt Erfahrung zur Geltung und widerruft im gleichen Moment die Prätention, den Anspruch der Erfahrung in der Geltung des Gesagten aufgehen zu lassen. So fuhrt der öffentliche „Diskurs" seit langem vor, was Lyotard dem Historiker als noch ausstehende Antwort auf „Auschwitz" abverlangt: „mit dem Monopol, das dem kognitiven Regelsystem von Sätzen über die Geschichte eingeräumt wird, [zu] brechen und das Wagnis auf sich [zu] nehmen, auch dem Gehör zu schenken, was im Rahmen der Regeln der Erkenntnis nicht darstellbar ist". Wenn Lyotard nun aber fortfährt, indem er erklärt, ,jede Wirklichkeit" enthalte diese Forderung und „in dieser Hinsicht" sei Auschwitz nur „die wirklichste Wirklichkeit", 44 so schließt er den allgemeinsten Begriff des Widerstreits mit der Spezifität des Widerstreits kurz, der in der Frage ans Licht kommt, wer wir angesichts dessen sind, wofür „Auschwitz" steht. Bedeutet Auschwitz nicht die endgültige Zerstörung jeglicher kollektiven Identität, die, Täter und Opfer eingeschlossen, besagen könnte, wer wir Menschen angesichts dieses „Ereignisses" sind? Hat „Auschwitz" nicht eben die Erfahrung zerstört, die erst einmal sagbar sein müsste, um Uberhaupt in Form eines repräsentierbaren Anspruchs in Widerstreit zu einer Diskursart geraten zu können? 45 Wenn nicht einmal das Sagen gelingt, wie sollen wir dann erst auf diskursivem Wege zur Geltung bringen, wer „wir" sind? Und selbst wenn uns das gelingt, wird das Wir tatsächlich die Täter einschließen können? (Wird es auch künftige Täter und uns - da wir als „normale" Menschen „vom gleichen Schlag sind", wie P. Levi, Η. Arendt, Τ. Todorov, Chr. Browning und andere argumentieren - als „potenzielle" Täter einschließen können?) Haben sie nicht jegliche Gemeinsamkeit - der Rasse, aber schließlich auch der Gattung - angefochten? 46 Stellt ihr Verbrechen nicht die radikalste Aufkündigung jeglicher Gemeinsamkeit, jeglicher genealogischen Beziehung und jeglicher ethischen Verwandtschaft 47 und damit den radikalsten Anschlag auf das „Wesen des Sozialen" dar, der sich denken lässt? (In ihren Augen handelte es sich doch nur um eine unangenehme biopolitische Maßnahme zum Schutze des arischen Ebenbildes Gottes vor einer bösen Verzerrung seines Antlitzes durch inferiore Wesen, die ein solches Antlitz nur listig vortäuschten,48) Indem Lyotard das Problem des Widerstreits so zuspitzt, entfernt er sich weit von einer sprachtheoretischen Generalisierung, die den Begriff mit Kollisionen inkommensurabler Diskursgenres in Verbindung bringt, und stellt ganz auf einen spezifisch ethisch-politischen Widerstreit ab, um dessen Form es im folgenden gehen soll.

44 45 46 47

Ebd. Vgl. DW, Nr. 155. Vgl. R. Antelme, Das Menschengeschlecht, München 1990. Zu diesen, von Antelmes Erinnerung an die (biologische!) Einheit der Gattung abzuhebenden Begriffen vgl. v. Verf., Moralische Spielräume.

48

Identität, Göttingen 1999. S.u., Kap. 9-11.

Menschheit und Anderheit, Zugehörigkeit

und

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5.5 Widerstreit und Politik „Wenn Politik in der Möglichkeit des Widerstreits bei der geringfügigsten Verkettung besteht", dann ist Lyotard zufolge „alles Politik". Und Lebensformen wäre so gesehen gezwungen, „politisch", das heißt im Widerstreit zu existieren, insoweit nur unzureichende Gründe dafür vorliegen können, wie man Sätze verkettet. „Man könnte ebensogut sagen, daß die Politik unmittelbar mit einem Satz gegeben ist, und zwar als Widerstreit bezüglich der Frage nach der weiteren Verkettung dieses Satzes." 49 Die Fragwürdigkeit eines derart übergeneralisierten Politikbegriffs ist schon daran zu erkennen, dass der Autor ihn mit dem Gegebensein „sozialen Unfriedens" identifiziert. 50 Dass Widerstreit im Spiel ist, muss aber evidenterweise weder auf Streit, noch gar auf einen in der Verfassung der Sprache angelegten Krieg hinauslaufen, wenn wir den Vorschlag aufgreifen, dass Widerstreit zu Strittigkeit, Gewalt und Krieg Anlass bietet, ohne aber von sich aus deren Austragung bewerkstelligen zu können. Stets hängt es von uns ab, wie Widerstreit ausgetragen wird. Niemand kann sich oder andere grundsätzlich - etwa unter Verweis auf einen unumgänglichen „Krieg der Sprache mit sich selbst" - von der Verantwortung für seine Mitwirkung an der so oder anders möglichen Austragung von Widerstreit entbinden. Die Politik, die Lyotard der Forderung unterstellt, Unrecht solle nicht sein, beginnt, wenn sie mit dem Widerstreit anhebt, zugleich mit unserem möglichen Verhalten zu ihm. Von Anfang an sieht es sich mit der Frage konfrontiert, ob es das „Unrecht" auszuschließen vermag, ob es sich indifferent mit ihm arrangieren soll oder ob es ihm gerecht zu werden vermag. Alle unterschiedlichen Möglichkeiten des Verhaltens sind aber als solche Möglichkeiten nur verständlich, wenn wir sie als Antworten auf ihre Infragestellung durch den Widerstreit begreifen. Widerstreit verurteilt mit anderen Worten nicht zur Gewalt und „präjudiziell" sie nicht es sei denn in dem Sinne, dass auch der Versuch, dem Widerstreit gerecht zu werden, niemals anders als „einseitig" und insofern „gewaltsam" erfolgen kann, da der Widerstreit ja als Unvermeidlichkeit eines „Unrechts" definiert ist. Aber ob das als Rechtfertigung einer angesichts des „Unrechts" indifferenten Willkür oder im Gegenteil als Grund eines nicht endenden Skrupels, als an-archische Freiheit in einem „regellosen Konglomerat" des Sprachlichen, als Versuchung zu einem gewissen Despotismus 51 oder als Wegweiser zu einem politischen dritten Weg aufzufassen ist, ist damit nicht vorentschieden. Lyotard leugnet denn auch nicht den politischen Spielraum geringerer oder größerer Gewalt, indem er fur eine Ethik der „ge-

49

DW, Nr. 192, 198. An anderer Stelle heißt es allerdings, Politik sei nicht schon auf der Ebene der Verkettung von Sätzen und nicht einmal auf der Ebene der Diskursarten anzusiedeln, sondern werde erst durch deren Vielfalt möglich; vgl. DW, Nr. 190. - Es empfiehlt sich in diesem Zusammenhang, das Politische von der Politik zu unterscheiden. Das Problem der Verkettung markiert für Lyotard offenbar den Einzugsbereich des Politischen, nicht aber von Politik im engeren Sinne des politischen Handelns. Allerdings hält er diese terminologische Differenz keineswegs durch. Zahlreiche Belegstellen, die eine andere Deutung nahelegen, ließen sich finden.

50

DW,Nr. 194. Vgl. DW, Nr. 229.

51

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ringstmöglichen Gewalt" plädiert.52 Könnte eine solche, das Politische inspirierende Ethik, die zunächst keine positiven Regeln vorsieht, nicht einen gewissen „lateralen" (nicht durch eine „allgemeine Sprache" gleichsam „von oben" gestifteten) Zusammenhang des Heterogenen gewährleisten, das aufgrund seiner vermeintlich absoluten Regellosigkeit ohne weiteres einer radikalen „Dispersion" zu verfallen scheint? Wenn zuzugeben ist, dass Diskursarten oder Sprachspiele nicht in lückenlos begründeter Art und Weise miteinander verkettet werden können, so folgt doch daraus nicht die völlige Willkürlichkeit, in der man anschließt. Selbst im Fall des Fehlens jeglicher Begründung dessen, wie eine Diskursart an eine andere anschließt, bleibt noch die Möglichkeit, dass wir uns zu diesem Fehlen verhalten, indem wir zur vielleicht unvermeidlichen Gewaltsamkeit unseres Anknüpfens nicht noch dessen vermeidbare Gewalttätigkeit hinzufügen. Und selbst die Unvermeidlichkeit der Gewaltsamkeit braucht weder billigend noch indifferent in Kauf genommen zu werden: sie lässt einen ethischen Spielraum offen. Der Widerstreit liest sich wie eine gewisse Rechtfertigung der Gewaltsamkeit, wenn man die Hinweise auf eine Ethik des Widerstreits überliest, die der Autor mit jenem weiten, allzu weit gefassten Begriff des Politischen verknüpft. Widerstreit ist von Anfang an keine ethisch indifferente Realität, wenn er uns die Verantwortung fur den Spielraum seiner Austragung überantwortet. In diesem Spielraum steht nicht allein die Frage zur Disposition, welches Spiel man spielt - das Sprachspiel des Beweisens, des Überzeugens, des Bezeugens oder des Überredens etc.53 Denn niemand kann sich hinter gewissen Spielregeln so verschanzen, dass die konkrete Möglichkeit, andere Regeln - im Sinne einer Ent- oder Neuregelung - ins Spiel treten zu lassen, gänzlich ausgeschlossen wäre. Um auf das diskutierte Beispiel zurückzukommen: Wer sich angesichts der Zeugnisse - sei es als Historiker, sei es als geschichtsbewusster Laie - hinter die Regeln der Beweisführung zurückzieht, hat sich unweigerlich ihrem Anspruch auf Bezeugung, der sich nicht als Verifikation verstehen lässt, immer schon ausgesetzt. Der Erfahrungsanspruch, der von den Zeugnissen ausgeht, fugt sich nicht von vornherein den epistemologischen Grenzziehungen zwischen einer beweisbaren Wirklichkeit und dem, was scheinbar bloße Glaubenssache ist. Die Geltungsansprüche, die sich an solche Grenzziehungen halten sollen, erweisen sich so gesehen als selektive Anknüpfungen an vorgängige Erfahrungsansprüche. Wer das „Spiel" des Beweisens spielt, verhält sich nicht nur zu anderen Spielregeln der Geltungssicherung, die er zurückweist, sondern auch zur „Zumutung" der im Zeugnis niedergelegten Erfahrung, die uns nicht von sich aus sagt, wie ihr zur Geltung zu verhelfen ist. Fragen wir nun, was es im Spannungsfeld von Erfahrungs- und Gel-

Diese beliebte - und allzu bequeme - Formel entbindet uns nicht von der Aufgabe, zu untersuchen, worin denn im einzelnen die in Frage stehende Gewalt liegt. (S. u., Teil III.) Kann die Klärung dieser Frage dem Widerstreit entzogen gedacht werden? Unterstellt sie nicht wiederum ein Maß, an dem das „Geringstmögliche" zu bemessen wäre? Vgl. DW, Nr. 34. Die Frage, welches Spiel man spielt, lässt sich selbst für Kulturen aufwerfen, wenn man den Regelbegriff entsprechend weit fasst; vgl. E. Gellner, Pflug, Schwert und Buch. Grundlinien der Menschheitsgeschichte, Stuttgart 1990, S. 44, 310, sowie die Einleitung.

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tungsansprüchen und im Blick auf einen ethischen Begriff des Politischen, der unser Verhalten zum Widerstreit betrifft, heißen kann, „dem Widerstreit gerecht zu werden". Zeugt die Politik wirklich nur „vom Nichts, das sich bei jedem vorkommenden Satz öffnet und den Widerstreit zwischen den Diskursarten entstehen läßt"?54 Achtet sie den genealogischen Zusammenhang von Sprache und Erfahrung, so muss sie früher und spezifischer ansetzen. Erst einmal gilt es, Widerstreit als solchen zu erkennen, zu würdigen. Und zwar nicht erst dort, wo er als Rechtsstreit kaschiert wird, sondern bereits in der prädiskursiven Wahrnehmung von etwas als etwas. Das „Missverständnis", das darin liegen kann, Unrechts- als Schadensfälle zu behandeln, schlägt schon in der Wahrnehmung, im konkret Erlittenen oder in der Ignoranz gegenüber erfahrenem Leid Wurzeln.55 Wo der „abhängig Beschäftigte" Entwürdigung durch seine Behandlung als „Zeit kostende" Ware erfährt, kann er nur um eine Geld/Zeit-Ratio mit dem „Arbeitgeber" streiten, d.h. so, dass der ausgefochtene Streit genau die ökonomische Zeit-Logik bestätigt, in der der Grund der erfahrenen Entwürdigung liegt.56 Die Erfahrung antizipiert das Unrecht, das ihr widerfahren wird, sobald sie in Worte gefasst wird; eben deshalb verharrt sie an der Schwelle des Wortes, um immerfort auf eine ihr angemessene Sprache zu warten, ohne aber „Worte zu finden". Dem Widerstreit gerecht werden, heißt hier: ihn schon dort aufsuchen und wahrnehmen, wo er bereits auftaucht als „der instabile Zustand und der Moment der Sprache, in dem etwas, das in Sätze gebracht werden können muß, noch darauf wartet". Diesen „Zustand" als solchen wahrnehmen heißt: ihn in seiner Gegebenheit anerkennen - noch vor jedem diskursiven Streit. Und das bedeutet, sich vor der Gewaltsamkeit zu hüten, die in der umstandslosen Verkürzung von Erfahrungs- auf Geltungsansprüche liegen kann, wenn sie den Widerstreit „in einem Rechtsstreit erstickt".57 Es heißt, eine prädiskursive, allerdings keineswegs unanfechtbare Erfahrung anzuerkennen, die nur gewaltsam unmittelbar als Gegenstand eines diskursiven Streits behandelt werden kann. Wer dasselbe anders wahrnimmt oder deutend erfährt, ist darum weder schon im Recht noch auch im Unrecht. Wahrnehmung und Erfahrung sind noch kein Argument, wohl aber von der diskursiven Auseinandersetzung als solche zu achten: Beide Begriffe stehen für den Ort, von dem aus wir argumentieren und den der Diskurs nicht vorgeben kann. Was allererst Anspruch darauf erhebt, zur Sprache zu kommen, oder danach verlangt, gesagt zu werden, befindet sich gleichsam erst auf dem Weg oder an der Schwelle zur Geltung, um die gestritten und die gesichert werden kann. 54 55 56

57

DW,Nr. 199. Hier setzt auch J. Ranciere mit seiner Politischen Philosophie des „Dissenses" an. Diese Erfahrung hat heute auf den ersten Blick vielfach gewiss nicht mehr den eindeutig räuberischen, „ausbeuterischen" Charakter des frühen Kapitalismus. Sie macht sich aber spätestens dann einschneidend bemerkbar, wenn wie bei der im Zeichen progressiver „Rationalisierung" erfolgenden „Freisetzung" von Arbeitskräften die absolute Rücksichtslosigkeit der Zeit-Ökonomie des Wirtschaftens auf die Lebenszeit der Einzelnen deutlich wird. Wie lange wird dem Staat noch die Aufgabe zufallen, hier einen - faulen - Kompromiss zu beschönigen, den jede (täglich) an der Börse gefeierte Nachricht über neue Freisetzungen ad absurdum führt? Vgl. V. Forrester, Der Terror der Ökonomie, München 1998. DW, Nr. 22.

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Der gesicherte Geltungsanspruch muss so gesehen seinerseits als Antwort auf einen vorgängigen Erfahrungsanspruch aufgefasst werden, der zu diskursiver Strittigkeit Anlass geben mag, der aber als solcher zur unhintergehbaren Faktizität der Situation gehört, in der eine Auseinandersetzung überhaupt erst anheben kann. Schon hier, in der durch Wahrnehmung und Erfahrung erschlossenen Situation, gilt, was Lyotard erst für den diskursiven Widerstreit behauptet: der Andere hat nicht notwendigerweise „Unrecht", weil ich „Recht" habe; und ich habe nicht unbedingt „Unrecht", weil der Andere „Recht" hat. Über verschiedene Wahrnehmungen und Erfahrungen kann nicht wie über jederzeit revidierbare Argumente gestritten werden, denn sie sind, subjektive Wahrhaftigkeit vorausgesetzt, in der spezifischen Art ihrer Vorgegebenheit unhintergehbar. Den intersubjektiven Widerstreit der Wahrnehmungen und Erfahrungen anzuerkennen, bedeutet so gesehen auch, die diskursive Auseinandersetzung, in der deren Strittigkeit zum Vorschein kommt, vor dem unmäßigen Anspruch zu bewahren, einander Widerstreitendes in auflösbaren Widersprüchen „aufzuheben". Der diskursiven Auseinandersetzung würde unter dem Gewicht eines solchen Anspruchs selber Gewalt angetan. Kann es aber eine Politik im Zeichen des Widerstreits bei einer solchen doppelten Geste des Friedens und der Mäßigung bewenden lassen? Geht sie nicht der eigentlichen „Drohung des Widerstreits" aus dem Weg, die das „Wesen des Sozialen" betrifft? Worin liegt diese Drohung? Offenbar nicht in einem ubiquitären Widerstreit, der nach Lyotards eigenen Voraussetzungen zu keiner Zeit und von niemandem überhaupt zu vermeiden ist, sondern in einer Vorherrschaft bestimmter Weisen der „Verkettung", die zwar nicht mehr das erste und das letzte, wohl aber immer „das nächste Wort" haben wollen.58 Die Vorherrschaft der ökonomischen Diskursart bzw. des ökonomischen Diskurses droht alles zu überlagern und zu deformieren, was an sich nicht „der Tauschregel" unterliegt oder unterliegen kann. In der Sprache Kants und Marx': alles hat am Ende seinen relativen Wert und nur solchen-, auch die Menschen müssen sich, d.h. vor allem ihre Arbeit und ihre Zeit, zu kapitalisieren trachten. Sie müsssen ihre Haut zu Markte tragen. Es gibt nichts mehr, was nicht „marktfähig" wäre. Jedenfalls zeigt keine Rede mehr an, was sich den Gesetzen der generalisierten Arbeits-Zeit-Ökonomie entzieht. Indem Lyotard so die Gefahr einer rücksichtslosen, nichts mehr verschonenden (diskursiven) Ökonomisierung heraufbeschwört, kann er freilich nicht eine Drohung plausibel machen, die im Widerstreit selber liegt; vielmehr richtet sich seine Kritik gegen eine völlige Verdrängung des Widerstreits. Wo die Ökonomisierung, die am Ende die sozialen Beziehungen selber heimsucht, allein herrscht, werden gar keine alternativen Möglichkeiten der Verkettung mehr gesehen und realisiert, die einander widerstreiten könnten. Die Ökonomisierung zeichnet eine bestimmte Deutung des „Wesens des Sozialen" vor, die gar keine Strittigkeit mehr erkennen lässt. Lyotard macht sich dagegen gerade anheischig, an den im Zeichen der Ökonomisierung gleichsam eingeschläferten Widerstreit zu erinnern, ja ihn wach zu rufen, zu aktivieren. In der Kontingenz der Verkettungen nämlich liegt der Widerstreit der Anschlussmöglichkeiten 58

DW,Nr. 191.

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und die wesentliche Strittigkeit der Frage, als was die Beziehung zu gelten hat, die im Modus der Diskursivität „definiert" wird. Nirgends ist mit anderen Worten vorentschieden, wie das Wesen der sozialen Beziehung zu „definieren" ist. Aber genau das macht ein sich als alternativlos gerierender ökonomischer Diskurs glauben. Gegen ihn ist aber kein Beweis zu fuhren; auch nicht unter Rekurs auf einen „absoluten", nicht „tauschbaren" Wert des Einzelnen. Der Versuch eines Beweises liefert sich entweder selber ökonomischen Prämissen aus, dann nämlich, wenn er einen Schaden geltend machen soll; oder aber er verwirft diese Prämissen, läuft dann aber auf die Behauptung eines Unrechts hinaus, das im Rahmen des vorherrschenden ökonomischen Diskurses gar nicht dargestellt werden kann.59 Lyotard vertraut darauf, dass in dem Moment, wo das gezeigt werden kann, die Vorherrschaft des ökonomischen Diskurses bereits gebrochen ist, denn dieser kann seinerseits nicht vor einer dritten Instanz sein Vorrecht geltend machen. Die Erinnerung an den Widerstreit ist so gesehen bereits dadurch ein elementarer politischer Akt, dass er das Nebeneinander des Widerstreitenden zur Geltung bringt und auf diese Weise zeigt, dass es Unrecht gibt, während der ökonomische Diskurs doch glauben macht, es könne nur im Rahmen der Arbeits-Zeit-Ökonomie artikulierbaren Schaden geben, nichts also, was sich seiner Logik entzieht. Erst wenn der mögliche Widerstreit als solcher gegen diese Hegemonie wieder zur Geltung gekommen ist, kann sich die „soziale Frage", d.h. die Frage nach dem Wesen des Sozialen in ihrer ganzen Offenheit und Strittigkeit wieder stellen. Wodurch aber gibt es diese Offenheit und Strittigkeit? Lyotards Antwort weicht dem Problem der fälligen Spezifizierung des Widerstreits erneut aus: „Nicht weil die Menschen bösartig wären, sind ihre Interessen und Leidenschaften antagonistisch. Ebenso wie das NichtMenschliche, die Tiere, die Pflanzen, die Götter [...], die Gezeiten, Regen und Schönwetter, die Pest und das Feuer - werden die Menschen in Regelsystemen von heterogenen Sätzen situiert und von Spieleinsätzen aus heterogenen Diskursarten in Anspruch genommen, und so kann das Urteil, das sich auf das Wesen ihres sozialen Seins bezieht, nur einem dieser Regelsysteme oder wenigstens einer dieser Diskursarten entsprechen." Auf diese Weise gewinnt „dieses Regelsystem und/oder diese Diskursart die Oberhand über die anderen", mit der Folge, dass letzteren „notwendigerweise Unrecht" widerfährt. Der „Heterogenität der Sätze, um die es im Sozialen und in dessen Kommentar geht", kann aber grundsätzlich überhaupt kein Idiom angemessen sein.60 Andernfalls hätte es mit dem Widerstreit ein Ende. Das zentrale Problem des Sozialen ist aber das ständige Fortbestehen des Widerstreits in der Weise, dass die Fraglichkeit des Sozialen dabei radikal mit auf dem Spiel steht. Unterstellungen eines gewissen Vorverständigtseins über das für alle Gute, wie sie in den Debatten über den sog. Kommunitarismus und Neoaristotelismus immer wieder deutlich werden, verschließen sich gegenüber dieser Fraglichkeit und tun ihr Gewalt an. Das „soziale Spiel", das die Form von Sprachspielen (oder Diskursarten) und Lebensformen annehmen kann, kann nur im Widerstreit der Frage „gespielt" werden, worum es eigentlich in ihm geht. Wie der Widerstreit ist

60

So lückenlos bzw. total kann die Vorherrschaft des ökonomischen Diskurses gar nicht sein, wenn die Erinnerung an das, was ihm widerstreitet, überhaupt die Chance haben soll, Gehör zu finden. DW,Nr. 196.

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aber diese Frage darauf angewiesen, von uns „ausgetragen", d.h. als Frage aufgeworfen zu werden. Wie der Widerstreit lediglich Anlass gibt zur Gewalt, die nur durch mitverantwortliche Subjekte zum Tragen kommt, so ist diese Frage zwar unweigerlich als Infragestellung „im Spiel", fordert aber doch dazu heraus, gestellt zu werden. Wenn es den Widerstreit als durch keine dritte Instanz zu schlichtende „polemogene" Spannung zwischen alternativen Möglichkeiten gibt, das Wesen des Sozialen zu definieren, so erübrigt das nicht, sondern verschärft im Gegenteil die unsererseits aufzuwerfende Frage: Wer oder was sollen wir sein - angesichts des Widerstreits, in dem wir uns befinden?61 Diese als „ethisch" bezeichnete Frage stellt sich scheinbar gar nicht im Rahmen des ökonomischen Diskurses, wohl aber unter politisch-deliberativen Bedingungen, die „die Heterogenität der Diskursarten" zulassen. Zulassen heißt: ans Licht der Öffentlichkeit treten lassen, würdigen, als Gegebenheit anerkennen. Die Gegebenheit der Heterogenität kann auch ein noch so hegemonialer Diskurs nicht aus der Welt schaffen. Aber es macht einen entscheidenden Unterschied aus, ob man das Widerstreitende als solches „zur Geltung kommen" lässt oder nicht. Der Widerstreit soll „in der Beratschlagung [...] ans Tageslicht" kommen können; und zwar gerade in seiner allgemeinsten und unvermeidlichsten Form. Wenn wir fragen, was oder wer wir sind, so lautet die erste Antwort, die Lyotard uns einzuschärfen nicht müde wird: unvermeidlich sind wir vor jedem mehr oder weniger friedlichen Diskurs, der unsere Gegensätze ausgleichen könnte, in Widerstreit verstrickte Wesen, die, weil das so ist, auch anerkennen sollten, dass es so ist. Lyotard weiß freilich um die Nichtableitbarkeit dieses Sollens aus dem bloßen Verstricktsein in Widerstreit. Die von ihm afFirmierte Kontingenz des Verkettens unterhöhlt seine eigene Position und gestattet es ihr nicht, einen dritten Standpunkt zu behaupten, der seinerseits der Existenz im Widerstreit enthoben zu denken wäre. Das Sollen artikuliert nur eine Art und Weise, der Zumutung des Widerstreits, der man sich so oder so nicht entziehen kann, Rechnung zu tragen, indem man dieses Zugemutetsein des Widerstreits als solches anerkennt. Eine andere Position wäre natürlich denkbar - aber um welchen Preis? Um den Preis der Gewaltsamkeit, die sich bereits in die Wahrnehmung der Situation einschleichen würde, in der deliberative Politik allein möglich ist. Beratschlagung, Begründung, diskursive Auseinandersetzung können nicht anders als „situiert" stattfinden. D.h. diese politischen Verfahren können die Situation nicht selbst erzeugen, an die sie anknüpfen, um in ihr Gestalt anzunehmen. Was eine bloße Binsenwahrheit zu sein scheint, fuhrt aber dazu, dass sich die Frage nach dem Sinn der von Lyotard nahegelegten Anerkennung des Widerstreits hin zu der Frage verlagert, wie wir es mit jener uns immer schon zugemuteten Gewaltsamkeit halten wollen: die Anerkennung des Widerstreits als einer „Gegebenheit" ist nicht weniger als die erste Geste des Friedens, die im unvermeidlich „polemogenen" Spannungsverhältnis einander widerstreitender Ansprüche das Zeichen setzt, dass wir - um das Mindeste zu sagen - die sein wollen, die der Gewalt, so weit sie uns zu Gebote steht, absagen. Der Gewaltsamkeit, die in der Kontingenz des Anknüpfens an einander widerstreitende Ansprüche liegen kann, entkommen wir nicht, wohl 61

DW,Nr. 210, 253.

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aber können wir uns einer Affirmation dieser Gewaltsamkeit widersetzen, die den Nachweis ihrer Unvermeidlichkeit ohne weiteres zum Anlass einer dezisionistischen Behauptung des „Rechts" nimmt, das Widerstreitende zu ignorieren, um im übrigen indifferent zu einer selbstherrlichen Tat schreiten zu können. Unsere Wahrnehmung, unsere Erfahrung, unser Denken mag „im Recht" sein; aber daraus folgt nicht das Gegenteil hinsichtlich heterogener Wahrnehmungen, Erfahrungs- und Denkweisen, die unseren widerstreiten - zumal dann nicht, wenn kein Maß in Sicht ist, an das man sich in beiden Fällen halten könnte.

5.6 Identität im ethisch-politischen Widerstreit Ersichtlich beantwortet jene Geste keine Frage danach, wie mit Widerstreit umzugehen, wie mit ihm zu leben sei. Sie lässt sich aber als „minimalistischer" Versuch verstehen, dem Wesen des Sozialen von Anfang an in seiner Strittigkeit, seiner Anfechtbarkeit gerecht zu werden. 62 Soll dieser Versuch nicht erklärtermaßen allen gerecht werden - welchen Widerstreit sie auch immer ins Spiel bringen werden, d.h. selbst dann, wenn dieser Widerstreit ins Mark des Sozialen einschneidet? Wird er nicht ausdrücklich in der Auseinandersetzung mit jenen erprobt, die jegliche „soziale" Gemeinsamkeit mit Anderen abgestritten haben? Sucht Lyotard nicht mit Kant die „kosmopolitischen" Ideen zu retten, die alle in den Horizont eines universalen Wir einzubeziehen versprachen? Lyotard ist freilich konsequent genug, den Widerstreit auch hier wiederkehren zu lassen. Selbst die Menschenrechtserklärung von 1789 kontaminiert den „menschheitlichen" Adressaten mit einem „nationalen" Wir. „Insofern die Nation eine Gemeinschaft ist, verdankt sie ihren Bestand und ihre Autorität in der Hauptsache Traditionen von Namen und Erzählungen [...]. Diese Traditionen sind ausschließender Natur. Sie implizieren Grenzen und Grenzkonflikte. Ihre Legitimität hat der Idee der Menschheit nichts zu verdanken." 63 Auf der Basis dieser - fragwürdigen - partikularen Legitimität maßen sich aber einige an, fur alle zu sprechen, so als ob in ihrem Munde die Stimme aller sich vereinigte. Unvermeidlich erleidet die Idee der Menschheit eine nationale oder ethnische, stets mit exklusiven Implikationen behaftete Kontaminierung, wodurch der ihrem Gehalt widersprechende Eindruck entstehen kann, als umreiße sie im Verständnis derer, die ihr anhängen, doch nur den Horizont der (ethnisch definierten) Zugehörigen oder der (politisch definierten) Mitglieder eines konkreten Gemeinwesens. Von Zugehörigkeit und Mitgliedschaft sind aber immer Andere, Unzugehörige und Nichtmitglieder, ausgeschlossen. Kann man diese Anderen als solche vom partikularen Standpunkt der Zugehörigen oder der

Hier liegt eine gewisse Nähe zum „Moralischen Minimalismus" Walzers vor, insofern dieser der moralischen Anerkennung von Überzeugungen entspricht, die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen. Wo das anerkannt wird, realisiert und pazifiziert dieser Minimalismus die irreduzible moralische Verschiedenheit der Menschen; vgl. M. Walzer, „Moralischer Minimalismus", Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42 (1994), Nr. 1, S. 3-13. 63

DW, Nr. 209.

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Mitglieder aus aber wenigstens potentiell (vor allem natürlich in den Geltungsbereich jener Rechte) einbezogen denken, ohne dass diese Einbeziehung ihrerseits wiederum mit Bedingungen der Zugehörigkeit oder der Mitgliedschaft kontaminiert zu werden droht? Lyotard würde diese Frage zweifellos verneinen. Selbst der „minimalistische", ausdrücklich alle Anderen - wer auch immer sie seien - „bloß als Menschen" einbeziehende Diskurs, der sich rückhaltlos der Strittigkeit des Wesens des Sozialen zu stellen bemühte, würde niemals wahrhaft universal sein können. Nicht einmal der Begriff des Menschen ist dieser Strittigkeit eindeutig entzogen. Betrifft die Menschheit im extensiven Sinne die biologische Gattung? Oder das, was jeden Einzelnen ungeachtet seiner Zugehörigkeit oder Mitgliedschaft in irgendeiner Gemeinschaft „achtungswürdig" macht? Sind im Lichte dieser Achtungswürdigkeit alle „gleich" - selbst die Fremden und die Anderen als Fremde? Vereint der Begriff der Menschheit in diesem Sinne die absolute Gleichheit aller „Anderen" und ihre absolute Verschiedenheit als singulare Wesen? Weit entfernt, den in der Identitäts-Frage Wer oder was wir sind zum Tragen kommenden ethisch-politischen Widerstreit endgültig zu entschärfen, lässt gerade der Versuch seiner Aufhebung ihn erneut aufbrechen. Denn gegen eine (paradoxe) Zusammenfugung von Gleichheit und Verschiedenheit im Begriff des Anderen sowie im Begriff der menschlichen Gattung, die alle „Anderen" einschließen soll,64 kann eingewandt werden, dass sie die eigentliche Anderheit des Anderen gar nicht zur Kenntnis genommen hat. Genauer: ihr begegnet der Andere nur als einer unter anderen Anderen, d.h. nur als Dritter. Damit „begegnet" er ihr streng genommen überhaupt nicht, wenn Begegnung bedeutet (wie Lyotard mit Levinas annimmt), dass uns die Anderheit des Anderen widerfährt, bevor sie thematisiert und gesagt werden kann. Anderheit kommt nicht nachträglich, im Sinne einer gewissen InterSubjektivität, zu fur sich bereits existierenden Subjekten hinzu, die einander als gleich und als verschieden gelten lassen. Sie ruft die Subjektivität vielmehr allererst ins Leben: „Das Subjekt ist in diesem Fall kein ich denke und auch kein es denkt, sondern etwas, das mir geschieht [qui m'advient]." 65 Das Subjekt existiert vom Anderen her. Es beginnt nicht mit dem ,ich'-sagen, sondern es beginnt kraft seines Angesprochenwerdens. Die Quelle des im Angesprochenwerden uns widerfahrenden Anspruchs lässt sich aber auch nachträglich nicht in die Gegenwart des Subjekts einholen. Der Anspruch wird uns immer schon vorausgegangen sein und sich in eine vorgängige Vergangenheit zurückgezogen haben, „die nie Gegenwart" war und die nie Gegenwart wird sein können. 66 In dieser radikalen Diachronie des Anderen liegt 64

65 66

Vgl. J. Habermas, Kultur und Kritik, Frankfurt/M. 2 1977, S. 225 ff. - Kritisch dazu: v. Verf., Moralische Spielräume. Vgl. „L'ange qui nage. Ein Engel, der schwimmt", S. 65, 67. Zu dieser von Merleau-Ponty ins Spiel gebrachten, dann von Levinas und Derrida ausfuhrlich kommentierten temporalen Struktur vgl. v. Verf., „Von der Phänomenologie der Offenheit zur Ethik der Verwundbarkeit. Merleau-Ponty und Levinas auf den Spuren einer An-Archie der Subjektivität", in: R. L. Fetz, R. Hagenbüchle u. P. Schulz (Hg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität Bd. 2, Berlin, N e w York 1998, S. 1248-1276. Zur Verbindung dieser Struktur mit dem Gedanken des Anspruchs des Anderen vgl. B. Waidenfels u. I. Därmann (Hg.), Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik, München 1998.

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seine eigentliche Anderheit, die dem Geschehen des Antwortens auf den Anspruch des Anderen in gewisser Weise unvermeidlich fremd bleibt. Der Andere unterweist uns gerade durch diese seine Fremdheit.67 Der Begriff der Anderheit tangiert so nicht bloß die Vielzahl von Menschen, die man zur Gattung zählt und denen man ihre „Einzigartigkeit" bescheinigt. Der Diskurs, in dem man entsprechende universale, niemanden ausschließende Rechte einfordert, wird in keiner Weise entwertet, er wird vielmehr auf seine eigenen Voraussetzungen aufmerksam gemacht, wenn man darauf hinweist, dass der Andere nicht bloß Gegenstand oder direkt oder indirekt Beteiligter des Diskurses ist, sondern zunächst ein vordiskursives Widerfahrnis, das als solches keineswegs ethisch indifferent ist. Wenn in diesem Widerfahrnis bereits ein Anspruch liegen kann, so kann es sich allerdings nicht schon um einen Geltungsanspruch, sondern vorerst nur um einen Erfahrungsanspruch handeln, d.h. hier: um einen erfahrenen Anspruch, der danach verlangt, dass man ihm gerecht wird.68 Die Besinnung auf eine ethische Dimension des Widerstreits, die zunächst nur auf inter- oder intradiskursive Inkommensurabilitäten abstellt, kann auf einen Begriff prä-diskursiven Anspruchs nicht verzichten. Nur von einem solchen Anspruch her erfährt auch Lyotards Begriff des Unrechts eine radikale ethische Zuspitzung, die das Unrecht als ethische Verletzung zu deuten zwingt. Zwischen dem Übergehen bloßer „Möglichkeiten" und der Verletzung von Ansprüchen besteht doch offenbar ein erheblicher Unterschied. In beiden Fällen, die Lyotard terminologisch im Begriff des Unrechts einebnet, kann man in Wahrheit nicht in demselben Sinne von Unrecht und Opfer(n) sprechen. Bloß unverwirklichte Möglichkeiten, die verwirklichten Möglichkeiten widerstreiten, sind letzteren nicht in dem Sinne „zum Opfer gefallen", dass ihr Anspruch verletzt worden wäre. Wir müssen uns keineswegs zu der unhaltbaren Behauptung versteigen, nur in der radikalen Anderheit des Anderen liege ein streng genommen „verletzbarer" Anspruch. Aber wenn in der radikalen Anderheit des Anderen ein verletzbarer - vordiskursiver, aber ethisch nicht indifferenter - Anspruch liegt und wenn diese Anderheit immer im Spiel ist und bleibt, wo wir mit „Menschen", mit Dritten, mit Zugehörigen oder Mitgliedern etc. zu tun haben, dann werden alle diese Verhältnisse von einem nicht aus der Welt zu schaffenden Widerstreit unterwandert.69 Denn in der Existenz eines jeden liegt der Anspruch, ihm in seiner An-

„Nur das absolut Fremde kann uns [ethisch] unterweisen. [...] Die Fremdheit des Anderen, das ist seine eigentliche Freiheit", heißt es bei Levinas in: Totalität und Unendlichkeit, Freiburg, München 1987, S. 100. So gesehen geht sekundär auch von der Erfahrung, die dem „Erfahrungsanspruch" sich stellt, ein Anspruch aus. In diesem Zusammenhang ist besonders der Begriff des Dritten klärungsbedürftig. Zu unterscheiden ist die dritte Person, die zu zwei anderen hinzutritt und die Dyade überschreitet oder sprengt, von Sprecher- und Hmä\\ingsperspektiven „in der dritten Person", die man „einnehmen" kann, auch wenn man nicht aktuell in der Position eines Dritten sich befindet. Zu unterscheiden sind ferner unterschiedliche Rollen des Dritten wie Richter, Zeuge, Leser, anonymer Anderer. Letzterer kann das Dritte repräsentieren, das wie das Gesetz, eine Regel, das Recht, die Geschichte oder eine Instanz Vermittlungs- oder (Jrtdhfunktionen übernimmt. Wie die „Stimme des Gewissens" zeigt, kann dieses Dritte von einem Anderen her zur Geltung kommen, von dem

Lebensformen im Widerstreit: Lyotard

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derheit gerecht zu werden, während jede im üblichen Sinne moralische oder politische, etwa an Regeln der Fairness orientierte Gleichbehandlung genau die Erfüllung dieses Anspruchs aber versagen muss. Jede moralisch-politische Konzeption des für eine Gemeinschaft oder Gesellschaft Richtigen oder Guten wird diejenigen, die sie betrifft, gleich behandeln und droht so, deren Anderheit in Vergessenheit fallen zu lassen. Die Anderheit des Anderen lässt sich in keinem, sei es ethnisch, sei es politisch, auf Zugehörige oder Mitglieder bezogenen Begriff der Gemeinschaft oder der Gesellschaft aufheben. 70 In der Existenz des Anderen liegt gerade nicht deshalb ein unhintergehbarer, auch durch radikale Verbrechen nicht eliminierbarer ethischer Anspruch, weil er uns zugehört oder weil er die gleichen rechtlichen Privilegien genießt. Kein Anderer existiert aber auch völlig unbezüglich. Alle Anderen existieren bezogen auf mehr oder weniger miteinander verflochtene Ordnungen der Zugehörigkeit oder der Mitgliedschaft, die ihrerseits darauf hinauslaufen, andere Andere auszuschließen, im extremen Fall im Zuge sogenannter „ethnischer Säuberung". Aber auch dann, wenn sich diese Ordnungen aus freien Stücken der unbedingten Geltung universaler Rechte unterwerfen, werden sie der Anderheit des Anderen niemals völlig gerecht, denn kein Anderer ist bloß ein anderer unter anderen. Jeder Begriff, in dem eine solche Reduktion liegt, hat sich, so argumentieren Lyotard und Levinas, insgeheim bereits eines Gleichmachens des radikal Ungleichen schuldig gemacht. Vergleichen, als „verschieden" gelten lassen und dennoch als „gleich" behandeln, kann man aber nur Andere, die, gemessen an ihrem j e einzigartigen Anspruch, nicht gleich sind. Das „Maß" des ethischen Anspruchs der Anderheit einerseits und politisch-moralische Konzeptionen des Guten oder des Richtigen andererseits haben aber kein gemeinsames Maß. Insofern in der politisch-moralischen Sphäre die Anderheit unaustilgbar „im Spiel" ist, liegt damit ein radikaler politisch-ethischer Widerstreit vor. Erneut haben wir Anlass zu fragen: Geraten wir auf diese Weise wieder nur in eine unfruchtbare Aporie, oder sensibilisiert diese Zuspitzung der nicht zu umgehenden Frage nach einer ethischen Spezifizierung des Widerstreits für einen weiteren Aspekt der Rede von „Lebensformen im Widerstreit"? Ich meine, dass die bisherigen, mit Lyotard entfalteten Überlegungen in diese zweite Richtung weisen, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die Brisanz

ich nicht weiß, ob es auf die Spur des Anderen führt, der mich „persönlich" anspricht, oder auf „Ahnen, von denen es keinerlei Vorstellung gibt [...], oder Gott [...] oder eine Leerstelle". So zeigen sich der und das Dritte auf unentwirrbare Weise miteinander vermischt (vgl. P. Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 426). Unschwer lassen sich weitere Komplikationen denken, angefangen beim Anderen als Du, der die Perspektive des Dritten einnehmen oder antizipieren kann. Und es ist nicht abwegig, von einem inneren (Selbst-) Widerstreit zu sprechen, wenn im Selbst (das sich als ein Anderer begegnet) heterogene Ansprüche geltend machen, die nicht zu schlichten sind. Die Stimme des Gewissens ist, sofern sie auf einen Anspruch des Anderen hindeutet, die deutlichste, aber beileibe nicht die einzige Erfahrung, die fur eine Verquickung von innerem und äußerem Widerstreit spricht. Vgl. die Schlusspassagen im Exkurs Kant II in DW, Nr. 177.

150

Lebensformen im Zeichen des Widerstreits

des Widerstreits - abgesehen von praktischer Dringlichkeit 71 - gerade darin zu liegen scheint, dass er in allen, scheinbar friedlichen wie umkämpften sozialen Beziehungen die Frage nach dem „Wesen des Sozialen" gewissermaßen in Mitleidenschaft zieht. Radikal der Strittigkeit ausgesetzt, heißt das, ist grundsätzlich auch, wer oder was wir im Verhältnis zueinander sind. Und diese Frage findet selbst in einem auf den ersten Blick überaus bescheidenen, „minimalistischen" Ansatz, der auf den Begriff des Menschen abstellt, keine Antwort, die dem Widerstreit entzogen zu denken wäre. Reduzieren wir die Anderheit der Menschen nicht auf komparative Verschiedenheit, dann treten die Pluralität derer, denen man Gleichheit bescheinigt, einerseits und ihre radikale Singularität andererseits im Widerstreit von Ethik und Politik auseinander. Die Anderheit tritt aber nicht erst bei Unbekannten auf. Sie ist in diesem Sinne kein Phänomen des Fremden oder des Exotischen. Wenn der Andere uns in seinem Anspruch als solcher radikal fremd bleiben muss, wie Levinas behauptet, so sucht diese Fremdheit auch die Intimität der engsten Beziehungen und der behütetsten Lebensformen heim. Wenn der Begriff der Lebensform als Inbegriff der praktischen Verfasstheit des Lebens mit und unter Anderen gelten kann, so werden diese Formen sozialen Lebens rückhaltlos und von Anfang an von jenem ethisch-politischen Widerstreit affiziert: Sie existieren in diesem Widerstreit. Auch hier ließe sich die Forderung, den Widerstreit als solchen erst einmal wahrzunehmen und „gelten zu lassen", als eine Art Maxime 72 formulieren, welche die unvermeidliche Zumutung des Widerstreits mit einer ersten Geste des Friedens beantworten würde - mit einer Geste aber, die das Ansinnen als illusionär zurückweisen müsste, sich auf diese Weise dem Widerstreit und der Gewaltsamkeit entziehen zu wollen, die im unvermeidlich „einseitigen" Verhalten zum Widerstreitenden liegt. Vergessen wir nicht, dass der Widerstreit auf allen Ebenen, angefangen bei der prädiskursiven Erfahrung, keine Auflösung in Widerspruch und keine nicht-einseitige Aufhebung gestattet. Unweigerlich bleibt er „im Spiel". Die Tragweite dieser Einsicht bis hin zu jenem ethisch-politischen Widerstreit, der die Existenz der Lebensformen unterhöhlt, erschließt sich uns aber nur, wenn wir nicht von vornherein willkürlich bzw. konventionell festlegen, welches Spiel gespielt wird.73 Diese Frage ist radikal offen, wenn sich im „sozia-

Es ist ein Desiderat, verschiedene temporale Implikationen von Widerstreit herauszuarbeiten. Widerstreitendes, dem man nicht „zugleich Rechung tragen" kann, lässt immerhin eine Alternanz zu, wenn es nicht in der Form eines echten Dilemmas strukturiert ist, in dem etwas nur auf Kosten von etwas anderem zu realisieren ist. Auch Dilemmata wären weiter in temporaler Hinsicht zu differenzieren. Ein situatives Dilemma hat nicht das gleiche Gewicht wie ein existenzieller Konflikt, in dem unser Sein sich mit sich selbst in Widerstreit befindet. 72 73

Vgl. W. Welsch, Vernunft, S. 339. In diesem Sinne müsste man das Feld der ganzen Problematik über strittige praktische Entscheidungen, praktische Heterogenität im Spanungsfeld zwischen Ethik (des Guten) und Moral (des Richtigen oder der Gerechtigkeit), sowie über eine bloße Pluralität von Personen hinaus erweitern, um bereits prä-diskursive Wahrnehmung praktischer Situationen und Erfahrung (als Beispiele für andere Modi der Gegebenheit von Widerstreit), andere Quellen praktischer Heterogenität und andere soziale Bezüge von Widerstreit in den Blick zu bekommen. - Weil im übrigen

Lebensformen im Widerstreit: Lyotard

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len" Widerstreit unvermeidlich die Wer-Frage stellt: Wer sind wir, die „mitspielen" und Andere vom Spiel ausschließen? Die ständig ausstehende, jedenfalls keine End-Gültigkeit versprechende Antwort auf diese Frage wird weder in einer ethnischen noch in einer politischen Identität zur Ruhe kommen, wenn die Regeln des Spiels im Prinzip jederzeit der Ent- oder Neuregelung ausgesetzt werden können, wie von Wittgenstein zu lernen ist, und wenn keine Spielordnung das Ins-Spiel-treten außer-ordentlicher, „fremder" Ansprüche auszuschließen vermag, wie sie in der radikalen Differenz des Anderen liegen. Wie sich zeigen wird, entfernt uns die Frage, wer wir angesichts dieser fremden, aber selbst der vertrautesten Beziehung innewohnenden Ansprüche sind, am weitesten von der gängigen Vorstellung, die da glauben macht, in sich stimmige Lebensformen begegneten erst nachträglich einem ihnen nur von außen widerfahrenden Widerstreit. Denn als Verflechtungen der pluralen Existenz von Anderen können Lebensformen nicht anders existieren als im Widerstreit ihrer Ansprüche. Mit den vorangegangenen Überlegungen zum ethisch-politischen Widerstreit, der in der pluralen Existenz von „Anderen" liegt, deren Differenz sich als irreduzibel erweist, haben wir allerdings vorgegriffen. Die Konturen dieses Widerstreits werden mit Blick auf eine problematische Sensibilität für diese Differenz nun erst zu entwickeln sein.

keine noch so rigide geregelte Institution ein fur alle Mal festzulegen vermag, welches Spiel gespielt wird, kann Lyotard sagen, dass der Widerstreit in ihrer Mitte auftrete. Vgl. DW, Nr. 200.

Teil II Widerstreit und Differenz Zwischen Ethik und Politik

Kapitel 6 Ethische Differenzsensibilität vs. politische Differenzvergessenheit? Die Sensibilität der Differenz: Ethik vs. Politik

6.1 Indifferente Differenz? Der Begriff der Differenz erfreut sich zweifelhafter Beliebtheit. Man wird nicht müde, die Vorzüge einer „Politik der Differenz" anzupreisen, die uns abverlangt, die Differenzen zwischen einzelnen, zwischen Ethnien, Lebensformen oder Kulturen wahrzunehmen, um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. 1 Von einer ubiquitären, ,,unmittelbare[n] Präsenz der Differenz" ist die Rede, die angeblich aufgrund „alltäglicher Begegnung mit dem Anderssein noch nie so umfassend erfahren" wurde wie heute. 2 Man fordert „Toleranz gegenüber der Differenz", nicht nur deren resignierte Duldung; und zwar gerade dann, wenn „Differenzen sich auf die Kultur, Religion oder Lebensform beziehen, wenn die anderen keine Mitspieler sind, wenn es kein gemeinsames Spiel gibt und keine innere Notwendigkeit fur die Differenzen, die sie pflegen und in Szene setzen". 3 Paradoxerweise ist von Differenz aber vielfach eigentümlich unterschiedslos die Rede, so dass die Differenz zur begrifflichen Nacht zu werden droht, in der am Ende nur mehr das Grau-in-Grau einer indifferenten Verschiedenheit herrscht. 4

Vgl. etwa M. Minow, Making all the Difference. Inclusion, Exclusion and American Law, Ithaca, London 1990, S. 22; I. M. Young, „The Ideal o f Community and the Politics of Difference", in: Social Theory and Practice 12, Nr. 1 (1986), S. 1-26; M. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt/M. 1999, S. 181 ff.; S. Benhabib (Hg.), Democracy and Difference. Contesting the Boundaries of the Political, Princeton 1996. Hier läuft das Ernstnehmen „der" Differenz mit Bonnie Honig darauf hinaus, „to give up the dream of a place called home, a place o f free power, conflict, and struggle, a place - an identity, a form of life, a group vision - unmarked or unriven by difference and untouched by the power brought to bear upon it by the identities that strive to ground themselves in its place". (S. 8.) Immerhin fuhrt aber die gesuchte Verknüpfung einer „Politik der Differenz" mit einer „Politik der Würde" auf die angedeutete Problemstellung; vgl. S. Benhabib, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit, Frankfurt/M. 1999, S. 40 f. 2 3 4

Vgl. M. Walzer, Über Toleranz: Ebd., S. 18.

Von der Zivilisierung

der Differenz, Berlin 1998, S. 15.

Vgl. N. Luhmann, „Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen", in: P. Fuchs, A. Göbel (Hg.), Der Mensch - das Medium der Gesellschaft?, Frankfurt/M. 1994, S. 40-56, hier: S. 45 f.

Widerstreit und Differenz. Zwischen Ethik und Politik

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Am bestimmten Artikel kommen nur selten Zweifel auf. Differenz ist Differenz - oder nicht? Immerhin ist noch der konkrete Anlass der Forderung nach Toleranz und Achtung von Differenz zu erkennen, den Adorno in der unvergesslichen Frage zum Ausdruck gebracht hat, ob eine Gesellschaft denkbar sei, in der man „ohne Angst anders sein" könne. Was heißt aber „anders" sein? Gewiss: als Indiz eines inkriminierten Andersseins wird vielfach bereits die Hautfarbe genommen. Welche Haut wäre nicht „farbig" - und damit unter Umständen hinreichender Anlass, Angst um das eigene Leben zu haben, weil man auf den ersten Blick als ein Mensch „von der falschen Sorte" erkannt werden kann, der nicht „dazugehört"? Aber selbst der bemühtesten Zugehörigkeit des Konformisten, der alles tut, um nicht als „anders" zu erscheinen, kann es nicht gelingen, die Tatsache aus der Welt zu schaffen, dass er ein Anderer

ist. „Anderer" indessen ist nicht w i e „Mensch" ein

klassifikatorischer Terminus. Wir können „braune", „gelbe", „rote" und „weiße" Individuen nicht als Andere

so unterscheiden, wie man Menschen „rassisch" klassifiziert. A l s

sichtbare, leibhaftig existierende Wesen mag man Menschen kategorisieren, sortieren und vergleichen. Aber jeder von ihnen wahrt ungeachtet der seinem Sein 5 zu verdankenden

Bei Derrida ist das „a" in der differance bekanntlich nur eine Art Grabmal dessen, was Differenz geschehen lässt, was sich aber als solches dem Sein entzieht. (J. Derrida, Randgänge der Philosophie, Frankfurt, Berlin, Wien 1976, S. 15 f., 22.) Hier mag man eine Nähe zu Levinas erkennen, der die ethische Differenz des Anderen selbst der „ontologischen Differenz" entzieht. (Vgl. J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, S. 215, 128 [=SD]; R. Bernasconi, „The Trace of Levinas in Derrida", in: D. Wood, R. Bernasconi [eds.], Derrida & Differance, New York 1985, S. 17-44.) Diese Differenz, aus der Heidegger das Sein zu denken gedachte, „ist" ein Nichts zwischen Sein und Seiendem - und der Mensch erscheint in dieses Nichts - das „ganz Andere zum Seienden" - hineingehalten. Das Nichts der ontologischen Differenz „erscheint" nicht, sondern entzieht sich in jeglichem Erscheinen und fuhrt so an die Grenzen der Phänomenologie überhaupt. Ich muss an dieser Stelle davon absehen, wie der späte Heidegger (v.a. in den Beiträgen) das Ereignis dieser Differenz „zwischen" Sein und Seiendem als deren „Einheit" zu fassen versuchte. Was der Autor als „Austragung" (diaphorä) des „Streites" und der „Kreuzung" von Sein und Seiendem bzw. als deren „Unter-Schied" beschreibt, der nicht etwa die oberste „Gattung" der Differenz bezeichnen soll, kann jedenfalls nicht mit dem Ereignis der Nicht-In-Differenz kurzgeschlossen werden, das Levinas aus dem Ontologischen überhaupt ausscheren lässt. Wer ersteres tut, vermischt die von Heidegger beklagte „Vergessenheit" jenes „Unter-Schieds" mit der von Levinas decouvrierten Vergessenheit der ethischen Nicht-InDifferenz. Diese ist keineswegs so „bedeutungslos" wie das „Nichts" der „Auseinandersetzung" von Sein und Seiendem. Vorsicht ist auch bei einer vermeintlich direkten Rede von den Ursprüngen „der" Differenz angebracht, wenn die „radikale" Differenz nur als Überschuss über das Erscheinen des Anderen hinaus gedacht, nicht aber als solche unmittelbar erfahren werden kann. Wenn es sich so verhält, kann auch nicht als vorentschieden gelten, dass „vulgäre" Differenzen letztlich immer auf die Spuren des Geschehens des Unter-Schieds zwischen Sein und Seiendem zurückführen, wie man vom späten Heidegger her gerne annimmt. (Vgl. M. Heidegger, Identität und Differenz, Pfullingen 9 1990, S. 55 ff.; Beiträge zur Philosophie, Frankfurt/M. 1989, S. 250; Besinnung, Frankfurt/M. 1997, S. 307; Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 25.) - Zum Gedanken eines differentiellen Geschehens, das das Sein „restlos" in sich hineinzieht, vgl. G. Deleuze, Differenz und Wiederholung [1968], München 1992.

Ethische Differenzsensibilität vs. Politische Differenzvergessenheit?

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Sortierbarkeit und Vergleichbarkeit eine nicht im Sein aufgehende Anderheit. Das jedenfalls wurde im Zuge jenes radikalisierten Differenzdenkens behauptet, in dessen Licht selbst das wohlmeinendste Plädoyer für Toleranz angesichts ubiquitärer Differenz als sonderbar differenzvergessen erscheint. Wo die Differenz Anderer bloß als innerweltliches Vorkommnis gilt, kommt demnach deren eigentliche Anderheit gar nicht zur Sprache: sie erscheint als ethisch in-different, insofern der ethisch nicht-in-differente „Sinn" der Anderheit des Anderen gerade einem Jenseits-des-Seins zu verdanken ist. Im folgenden möchte ich die Behauptung rechtfertigen, dass die Rede von einer „Politik der Differenz", die sich den Verdacht der ethischen Differenzvergessenheit zuzieht, einerseits und die philosophische Apologetik „radikaler" Differenz des Anderen andererseits nicht vermittlungslos auseinanderklaffen müssen (wie es den Anschein hat), dass sie sich vielmehr gleichsam im Blick auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt aufeinander beziehen lassen. Als ein solcher Fluchtpunkt zeichnet sich im Spannungsfeld der politischen und der radikal-ethischen Diskussionen der letzten Jahre der Begriff der Differenzsensibilität ab. Wenn ich im folgenden darauf verzichte, vorab einen bestimmten Begriff der Politik oder der Ethik auszuzeichnen, so nicht zuletzt deshalb, weil diese Diskussionen den Spielraum einer Interferenz eröffnet haben, der ein neuartiges Verständnis sowohl des Politischen als auch des Ethischen zu ermöglichen verspricht. Ich möchte zunächst verdeutlichen, wie sich zwischen Ethik und Politik diese Interferenz abzeichnet (6.2), in der ich im Lichte einer Radikalisierung des Differenzbegriffs (6.3) den Begriff der Differenzsensibilität situiere (6.4); und zwar in bezug auf die Gefahr der bereits angedeuteten Trivialisierung einerseits und in bezug auf ein „radikal-ethisches" Differenzdenken andererseits (6.5), das ich sodann auf die konkrete soziale Welt zurückbeziehe, auf die der Begriff einer „Politik der Differenz" zunächst gemünzt war (6.6). Deren Profil wird infolge der angestellten Vorüberlegungen schließlich neu zu bestimmen sein (6.7). Abschließend wird vom Begriff der Differenzsensibilität her die Differenz von Ethik und Politik selber (6.8) als ein Missverhältnis zur Sprache kommen (6.9).

6.2 Differenz - relativ und radikal Worin auch immer die „Differenz" des Anderen und der Anderen liegen mag, sie ist zu achten. Diese Forderung, die alle Diskussionen um multi- oder interkulturelle Verhältnisse, um die unvermutete Karriere des Ethnischen und um das in dieser Lage zu erwartende Schicksal des kosmopolitischen Universalismus der Moderne zu prägen scheint, nimmt bisweilen dogmatische Formen an; und zwar unter der Voraussetzung, dass sich Differenz als Andersheit nicht auf eine ubiquitäre, überbordende, aber eben deshalb womöglich an sich zunächst gleichgültige Verschiedenheit der einzelnen, der Ethnien, der Kulturen reduziert, sondern als das ethisch maßgebliche Faktum par excellence zu gelten hat. Wie auch immer wir unsere Verhältnisse zu Anderen regeln möchten, auf welche Teleologie guten Lebens

Widerstreit und Differenz. Zwischen Ethik und Politik

158

oder Deontologie der Fairness wir uns auch immer berufen wollen - Ethik und Moral müssen demnach der geforderten Achtung gerecht werden, die uns offenbar von der „Differenz" des Anderen und der Anderen abverlangt wird. Suggestiv unterstellt man eine letztgültige Verschiedenheit oder Unterschiedenheit der Menschen und darüber hinaus eine irreduzible Vielfältigkeit der „Kulturen", wobei der Begriff Kultur - nach der zutreffenden Einschätzung Ricceurs - häufig bloß „im ethnographischen Sinne genommen wird und weit entfernt ist von dem aus der Aufklärung stammenden und von Hegel weiterentwickelten Begriff der Erziehung zu Vernunft und Freiheit. Man endet so in einer A p o l o g i e der D i f f e renz um der Differenz willen, die im Grenzfall sämtliche Differenzen indifferent macht [,..]." 6 Ein auf den ersten Blick paradoxer Befund: Kann eine A p o l o g i e der Differenz in Indifferenz und insofern in Differenzvergessenheit Prima facie

umschlagen? 7

wird sich ein entsprechender Verdacht g e w i s s nicht zu Recht auch gegen

Positionen richten müssen, die eine der Achtung der Verschiedenheit Anderer verpflichtete Differenzsensibilität

zum Programm gemacht haben. B e z e u g e n sie nicht die Hospitalität

des öffentlichen philosophischen Diskurses selbst im Verhältnis zu den mannigfaltigen „Andersheiten", die sich nicht diskursiv artikulieren oder an ihrer Artikulation gehindert werden? Demonstriert der Diskurs der Differenz ganz generell nicht sogar die Bereitschaft, unaufhebbarer

Andersheit gerecht werden zu wollen? Ist man nicht erklärtermaßen

willens, selbst die radikale Differenz Anderer zu achten, die uns als Fremdheit begegnet? 8 6 7

8

Vgl. P. Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 346. Die folgenden Seiten werden sich, in Heideggerianischer Perspektive betrachtet, als nicht weniger differenzvergessen erweisen, da sie zur ontologischen Differenz, zur Meisterdifferenz, nicht Stellung beziehen, wohl aber zu einer radikalen ethischen Differenz, die selbst aus dem Sein ausschert. Vgl. M. Heidegger, Identität und Differenz, S. 40. Die Nacht der (ontologischen) Differenzvergessenheit wird ohnehin kein Eingedenken ganz aufhellen können, wenn in der wuchernden Vielfalt der Differenzen, die „es gibt", nirgends von vornherein ausgemacht scheint, auf welche es eigentlich ankommt, welche also - im Hinblick worauf - „einen Unterschied machen". Das Bedenken der Differenzvergessenheit entkommt weder der Vorgängigkeit eines seinerseits differenziellen Geschehens der „Gebung" von Differenzen noch den differenziellen Implikationen, die stets perspektivische Thematisierungen von Differenz im Hinblick daraufhaben, worauf es eigentlich ankommt, wenn wir die jeweilige Differenz - etwa jene ontologische, aber nicht eine ethische - bedenken. Lässt sich der Begriff der Differenz überhaupt ohne Rücksicht darauf zur Sprache bringen, was im perspektivischen Hinblick auf was „differiert"? Bei Habermas ist der Begriff der Differenzsensibilität ausdrücklich einer die Andersheit des Anderen anerkennenden Politik der Einbeziehung verpflichtet. Von Andersheit ist hier, wie schon in früheren Texten, im Sinne „absoluter Verschiedenheit" die Rede. Dieser Begriff des Anderen soll aber den Begriff des Fremden als des Unzugehörigen aufheben: Als Mensch ist der Fremde - wie ich - Anderer, d.h. absolut gleich und absolut verschieden (vgl. J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M. 1976, S. 96; Die postnationale Konstellation, Frankfurt/M. 1998, S. 128). Der Begriff einer absoluten Verschiedenheit oder Differenz bleibt überdies zweifelhaft, wenn er im Grunde komparativ gedacht wird. (Dann kann in der Tat nur etwas von etwas Bestimmtem relativ auf einen Vergleichsgesichtspunkt verschieden sein. Vgl. M. Frank, Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt/M. 1984, S. 550.) Lässt sich aber nicht eine radikale Differenz, die nicht mit komparativer Verschiedenheit zusammenfällt, rechtfertigen, eine

Ethische Differenzsensibilität vs. Politische Differenzvergessenheit?

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Zumal wenn der Verdacht einer gewissen Indifferenzierung im gängigen Gebrauch des Differenzbegriffs selber zu Recht besteht, ist es mit Bekundungen guten Willens nicht getan. Häufig wird zwischen Fremdheit und Andersheit nicht unterschieden und Andersheit auf eine bloß komparative, relative Andersheit so reduziert, dass es den Anschein hat, als lägen miteinander ohne weiteres vergleichbare „Differenzen" zwischen Anderen objektiv vor. Im Begriff der Differenz werden auf diese Weise Fremdheit und komparative Andersheit vielfach unbesehen zusammengenommen. Darüber hinaus wird die Frage, ob die Perspektive des Vergleichs selbst in die zur Sprache gebrachte Differenz verwickelt ist, oder ob sie ihr gegenüber ein unabhängiges Drittes darstellt, oft nicht aufgeworfen. Wenn ich gegenüber dem Anderen dessen „Differenz" wahrnehme oder feststelle, während ich zugleich in sie verwickelt bin, kann ich dann für mich in Anspruch nehmen, sie als die von mir aus und vom Anderen aus sich darstellende gleichermaßen in den Blick zu bekommen? 9 Wäre ich in diesem Fall nicht meinem eigenen Affiziertsein von der Differenz enthoben, wie es der Fall zu sein scheint, wenn ich die relative Andersheit Anderer feststelle, in deren Verhältnis ich nicht verstrickt bin? Besteht hinsichtlich der asymmetrischen Erfahrung, als beteiligte, etwa vom Anderen in Anspruch genommene zweite Person in dessen Andersheit verwickelt zu sein, und der Perspektive eines unbeteiligten Dritten nicht ein nicht zu vernachlässigender Unterschied, der in einer ohne weiteres generalisierten Rede von „Andersheit" nivelliert zu werden droht? Diese genuin sozialphilosophischen Fragen behaupten ihr Recht nur mit Mühe gegen eine metaphysische Tradition, die zum unterschiedslosen Gebrauch des Differenzbegriffs verleitet. Dazu nur einige Hinweise. Indem Hegel die neuplatonische Vision eines Ursprungs historisierte, der sich ihm als sich zunächst in Anderes differenzierende, schließlich aber wiederzugewinnende Identität darstellte, blieb er dem metaphysischen Grundgedanken einer finalen Aufhebung jeglicher Differenz treu. Andersheit muss scheinbar generell unter diesen Begriff der Differenz fallen. Differenz sollte so - als Negation im Sein „am Werk" - verständlich und die Geschichte als der Weg zur endgültigen Identität von Identität und Differenz begreiflich werden. Ausdrücklich gebraucht in diesem Sinne Beierwaltes in seinem Kommentar zur Hegeischen Dialektik Differenz und Andersheit promiscue. So gesehen kann der Andere als „differenter" grundsätzlich „formal" nicht anders in Betracht kommen wie die sächliche Andersheit von Anderem}0 In gewisser Weise gilt

9

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Differenz, welche nicht erst einem Vergleich, sondern einem Widerfahrnis zu verdanken ist, in das wir verwickelt sind, ohne bereits den Standpunkt eines Vergleichs von Verschiedenem einnehmen zu können? (S.u.) In diesem Falle müsste auch der Begriff der Differenzsensibilität neu gedacht werden. Vgl. J. Clifford, „Über ethnographische Allegorie", in: E. Berg, M. Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt/M. 1993, S. 200-239, hier: S. 214. Vgl. W. Beierwaltes, Identität und Differenz, Frankfurt/M. 1980, S. 241 ff. - Um dies zu widerlegen, genügt es nicht, auf die bekannte Thematik der Anerkennung usw. zu verweisen. Den Anderen als Fremden kennt Hegel zweifellos nicht, sofern sich die Fremdheit der begrifflichen Aufhebbarkeit verweigert. Und ob Hegel das Andere wirklich anders als den Anderen zur Sprache

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Widerstreit und Differenz. Zwischen Ethik und Politik

das selbst noch für Adornos Versuch einer Rehabilitierung dessen, was sich weder in einer finalen noch in einer temporären Identität aufheben lässt. Vom Nicht-Identischen ist in der Negativen Dialektik wahlweise hinsichtlich ästhetischer Objekte und hinsichtlich des „Besonderen" jedes einzelnen Menschen die Rede. Scheinbar übergangslos kann die Kritik der metaphysischen Tradition des Identitätsdenkens mit einer Kritik politischen Totalitätsdenkens kurzgeschlossen werden, welches das Nicht-Identische zu „liquidieren" droht. 11 Um ein weiteres Exempel zu nennen: In Ute Guzzonis Rekonstruktion der „Kritischen Theorie der Ontologie" wird die Frage nach dem Verhältnis von Identität und Nicht-Identität weitgehend unter der metaphysischen Prämisse des Gegensatzes von Selbigkeit und Verschiedenheit aufgeworfen; mit der Folge, dass auch die im Sinne Adornos als Nicht-Identität verstandene „Differenz" des Anderen nur als Verschiedenheit zur Sprache kommt. Dabei legt es der Begriff der Nicht-Identität durchgängig nahe, von einer bereits gegebenen Identität auszugehen, um dann zu fragen, was mit ihr nicht identisch ist. 12 Bei Adorno wird freilich Nicht-Identität umgekehrt von der Erfahrung her gedacht, in der sie widerfahrt, bevor sie gedacht werden kann. Die Nicht-Identität des Anderen widerfährt uns durch seinen „Anspruch". Adorno hat einen Erfahrungsanspruch, nicht einen Geltungsanspruch des Nicht-Identischen im Blick. 13 Insofern ein solcher Anspruch in der Erfahrung sich geltend macht, ist von einem „Unrecht" gegen das Nicht-Identische die Rede, das ihm durch die Erfahrung widerfährt. 14 Weil es diesen „Anspruch" des Nicht-Identischen gibt, kann es geschehen, dass wir Anderen Identität „antun". Wir selbst „erleiden" Identität, wenn das eigene Nichtzusammenfallen mit der Identität, die wir der „Identifikation" durch Andere zu verdanken ha-

bringt, erscheint durchaus zweifelhaft; vgl. M. Theunissen, „Die verdrängte InterSubjektivität in Hegels Philosophie des Rechts", in: D. Henrich u. R.-P. Horstmann (Hg.), Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik, Stuttgart 1982, S. 317-381, hier: S. 333. So spricht Adorno von Völkermord als einer „Vernichtung des Nichtidentischen". Vgl. Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1975, S. 355, sowie Minima Moralia, Frankfurt/M. 1978, S. 9 ff. Angeblich verweisen bei Adorno Ausdrücke wie das Andere, das Verschiedene, das oder der Fremde sämtlich „in dieselbe Richtung"; vgl. U. Guzzoni, Identität oder nicht, Freiburg/München 1981, S. 105. Insofern soll in jedem Fall der Bezug auf eine „ausdrücklich zu vollziehende Negation der Identität" gewahrt bleiben, die bereits vorliegen muss (ebd., S. 235, 237, 251). Dass das nicht selbstverständlich ist, zeigt der Vergleich mit G. Deleuze ( D i f f e r e n z und Wiederholung [1968], München 1992), der die Differenz gerade von der Bevormundung durch eine stets vorgegebene, sich das Differente als „Negatives" stets wiederaneignende Identität zu befreien sucht (vgl. S. 11 f., 65). Deleuzes Ansatz mündet allerdings in den nicht repräsentierbaren „UnGrund" bzw. in die Anarchie eines zunächst auf jegliche Identität unbezüglich gedachten Differenz-Geschehens, von dem her Identität generell als „irrtümliches" „Trugbild" entlarvt zu werden scheint, wobei aber das „Maß" des Irrtums selber abhanden kommt (ebd., S. 76 f., 304 f., 329). Vgl. U. Guzzoni, Identität oder nicht, S. 64. Es ist nicht abwegig, diesen Begriff des Unrechts mit dem Begriff des Widerstreits bei Lyotard zu verbinden.

Ethische Differenzsensibilität vs. Politische Differenzvergessenheit?

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ben, nicht wahrgenommen, „vergessen" oder verleugnet wird. 15 Wir machen faktisch die Erfahrung einer solchen Verleugnung, die zum eigenen Nicht-Identischen scheinbar kein Verhältnis mehr hat. Aber spielen sich solche Erfahrungen nur in der „Kommunikation" von „Unterschiedenen" ab? 16 Andere, die sich gerade über ihre bloß empirische „Unterschiedlichkeit" hinaus wechselseitig eingedenk ihrer Nicht-Identität begegnen, realisieren sich im Verhältnis zueinander doch nicht nur als etwa „äußerlich" Verschiedene; und sie „unterscheiden" sich voneinander nicht lediglich „vergleichsweise", d.h. im Sinne einer komparativen Andersheit, sondern im Zeichen einer radikalen, auch in keinem Vergleich aufzuhebenden Anderheit, die sich wiederum von der Andersheit von Dingen unterscheidet. 17 Wohl nur im übertragenen, kryptoethischen Sinne können wir mit Adorno davon sprechen, dass auch die Nicht-Identität von Dingen uns deren Achtung „abverlangt". Ein genuines Verlangen dieser Art liegt aber in der Anderheit des Anderen, der sich uns in jeglichem Bezug zu ihm - gerade auch in seinem „Anspruch" - in gewisser Weise entzieht, so dass immer die Spur einer unaufhebbaren Fremdheit im Spiel bleibt, welche nicht aus einem Vergleich mit Anderem gewonnen werden kann. Der „Anspruch" des Anderen wird immer schon an uns ergangen sein, bevor wir daran denken können, ihn unter einen ihn identifizierenden Vergleichsgesichtspunkt zu bringen. Ein solcher Entzug des Anderen im Bezug zu ihm muss der Fall sein, wenn es denn die Möglichkeit eines „nicht-identifizierenden Erfahrens" soll geben können. Dieses Erfahren ist (wenn es möglich ist) mit einer Anderheit des Anderen konfrontiert, die nicht in seiner empirischen Verschiedenheit von mir aufgeht und als „Verlangen" nach Achtung fur die ins Nicht-Identische und NichtIdentifizierbare ausscherende „Differenz" des Anderen mir zugleich meine Nicht-Indiff-

Ebd., S. 241, 247, 317. Hier wird die Parallele gezogen zwischen der Identität, die „Seiendem" einerseits und dem Anderen andererseits „angetan" wird. Ebd., S. 101, 320. Der Befund des kindlichen Synkretismus zeigt, dass diese Frage keineswegs generell eindeutig zu beantworten ist. Im übrigen müsste man ein Sich-unterscheiden vom Unterschiedenwerden unterscheiden. Beides braucht sich so wenig zu decken wie die „Hinsicht" der Differenz. Schließlich gibt es eine selbsteigene Andersheit, die mir - oder dem Anderen - gar nicht zu Gesicht kommen muss; eigene und fremde Andersheit verdankt sich überdies nicht erst einem Vergleich, der gegenüber dem Eigenen und dem Fremden neutral bleiben könnte, sondern liegt im Eigenen sogar des Selbst. Deshalb spricht Ricceur vom Selbst als einem Anderen, wobei das Als keinen komparativen, sondern einen implikativen Sinn hat. Man mag in diesem Sinne mit Löwith oder Heidegger darauf hinweisen, dass nur ein Mensch dem „Anspruch" des Seins entsprechen und einen Anderen „auf Erwiderung hin" ansprechen kann. (Speziell zu diesem Unterschied und zur Frage, ob jeweils in demselben Sinne von Anspruch und Entsprechung die Rede sein kann, vgl. U. Guzzoni, ,„Anspruch'und ,Entsprechung' und die Frage der Intersubjektivität", in: dies. [Hg.], Nachdenken über Heidegger, Hildesheim 1980, S. 117-135, sowie B. Waidenfels, Antwortregister, Frankfurt/M. 1994, S. 580.) Doch ist jene Unterscheidung so unverfänglich nicht, wie sie daherkommt. Denn die Anderheit des Anderen erscheint nur „eingesenkt" in die Andersheit einer leibhaftigen Existenz. Vgl. J. Derrida, SD, S. 175 ff., 189, w o geradezu „zwei Andersheiten" unterschieden werden, die die Verkörperung des Anderen aber miteinander kontaminiert und in-differenziert.

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Widerstreit und Differenz. Zwischen Ethik und Politik

erenz angesichts dieser Differenz aufgibt. So wäre hier ein zentraler, in gewisser Weise auf Adornos Begriff hin konvergierender Gedanke von Levinas anzuschließen: ich erfahre mich als dazu „bestimmt", diesem Verlangen gerecht zu werden.

6.3 Ansprechbarkeit jenseits der Verschiedenheit Wie auch immer es um diese Konvergenz bestellt sein mag: 18 Adorno und Levinas müssen jedenfalls eine Affizierbarkeit voraussetzen, die sich von jenem Verlangen ansprechen lässt. Von einem Erfahrungsanspruch des Nicht-Identischen oder der Anderheit des Anderen kann ohne eine Ansprechbarkeit dessen, dem der Anspruch widerfährt, nicht die Rede sein. 19 Wie hier argumentiert wird, ist überhaupt nicht zu verstehen, wenn man nicht berücksichtigt, wie Levinas die Ethik als Erste Philosophie von der metaphysisch-ontologischen Tradition abzulösen versucht hat. Der Andere, will Levinas - zweifellos vor dem Hintergrund von Auschwitz 20 - sagen, ist paradoxerweise nur dann vor dem Zugriff selbst der extremsten, vernichtenden Gewalt in gewisser Weise moralisch geschützt, wenn das, was sich an ihm dieser Gewalt widersetzt, nichts „ist" oder jedenfalls nicht im Sein aufgeht. Den Grund dieser Widersetzlichkeit be- und umschreiben wir immerfort in einer inadäquaten ontologischen Sprache. Nicht die faktische, unbestreitbare Vernichtbarkeit anderer Menschen, die mit ihrer Einfügung ins Sein gegeben ist, steht aber in Frage, sondern die Vernichtbarkeit dessen, was sich ihr aus der Existenz des Anderen heraus „moralisch" widersetzt. Levinas spricht von der „moralischen Unmöglichkeit" zu töten, die er auf das dem Anderen ins „Gesicht" geschriebene „Gebot" zurückführt, nicht an seinem Tod schuldig werden zu sollen. 21 Wo anders hat aber diese Widersetzlichkeit ihren Ort als in der entsprechenden Ansprechbarkeit, der sich selbst der leidenschaftsloseste Befehls-

Von einer „ontologischen Nicht-Identität des Seienden überhaupt" und von einer „nicht weniger ontologische[n] zwischen den Menschen" ist zumal beim späten Levinas jedenfalls nirgends die Rede. (Zudem sind Anderheit und Differenz für Levinas weder „Kategorien" noch „Existenziale" [vgl. demgegenüber U. Guzzoni, Identität oder nicht, S. 242 f.]). - Wenn es hier eine Vermittlung geben kann, so nur unter der Voraussetzung, dass die Differenz im Verhältnis zum Anderen nicht auf die Verschiedenheit zweier innerweltlicher Vorkommnisse reduziert wird, denen man gegebenenfalls gewisse besondere („soziale") Eigenschaften zuschreiben muss, um sie von Dingen anderer Art unterscheiden zu können. Weder Adorno noch Levinas denken die „Differenz", die sich von der schieren komparativen Verschiedenheit abhebt, als etwas in diesem Sinne „Positives". Um das Problem dieser Ansprechbarkeit dreht sich die Auseinandersetzung Ricoeurs mit Levinas in den Schlusspassagen von Das Selbst als ein Anderer. Vgl. v. Verf., Geschichte als Antwort und Versprechen, Freiburg, München 1999. Vgl. E. Levinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt/M. 1992, S. 18 ff., sowie Th. W. Adorno, Minima Moralia, Nr. 68, wo man besonders deutlich einen Ansatzpunkt für die angedeutete Konvergenz erkennen kann.

Ethische Differenzsensibilität vs. Politische Differenzvergessenheit?

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täter nicht zu entziehen vermag? Ihm bleibt nur die Möglichkeit, sich über diese Widersetzlichkeit nachträglich hinwegzusetzen; aber er kann sie nicht als vorgängige Infragestellung seiner Mordmacht aus der Welt schaffen. Den Ort dieser Ansprechbarkeit nennt Levinas „Psychismus". Der Psychismus ist nicht etwa das angebliche Objekt der „wissenschaftlichen" Psychologie oder der „Apparat" der „psychischen Instanzen", sondern „der Ort des Anderen in mir". Ein u-topischer Ort, der nicht einer „Region" meines Inneren entspricht, auf den vielmehr lediglich der fremdartige Widerhall jenes Anspruchs hindeutet, der gerade von der jeglicher Gewalt sich widersetzenden Fremdheit des Anderen herrührt. Für Levinas bedeutet diese Fremdheit zweifellos eine „absolute", zwar stets relationale, aber niemals bloß relative Differenz, in der zugleich der ganze ethische „Sinn" der Anderheit liegt: unsere Bestimmung zur verantwortlichen Nicht-In-Differenz seinem Tod und seiner Sterblichkeit gegenüber nämlich. Nicht einmal dem kalten Liquidierer, der sich hinter einer rassistischen Binnenethik verschanzt, wo Recht und Gesetz versagen, soll demnach eine Ausflucht aus dieser Bestimmung als der „Gabe der Verantwortung" für den Anderen erlaubt sein. In dieser Gabe gründet für Levinas die eigentliche (zunächst reziprok, später als strikt asymmetrisch aufgefasste) „Brüderlichkeit" der Menschen, d.h. ihre weder ethnisch noch gar biologisch zu verstehende „Verwandtschaft", welche die Rede von einer menschlichen Gattung begründen soll. „Die Sprache des genus und der species, der Begriff des Menschengeschlechts, werden danach ihre Rechte erhalten. Die Brüderlichkeit ist es [...], die dieses genus begründet." 22 Insofern „wir" „alle" diese Verantwortung (für einander) tragen, sind wir „verwandt" miteinander und füreinander „Andere". 23 Im Sinne der Brüderlichkeit kann jeder andere „Anderer" für uns sein. Dieses Für-einander glaubt Levinas ohne jeden Rekurs auf eine vorgängige Bedingtheit durch eine „Gemeinschaft" oder „Zugehörigkeit" begründen zu können. „Zwischen dem Einen, der ich bin, und dem Anderen, für den ich verantwortlich bin, klafft eine Differenz ohne den Hintergrund einer Gemeinschaft. Die Einheit der Gattung Mensch nämlich gibt es erst später als die Brüderlichkeit,"24

23 24

Ε. Levinas, Die Spur des Anderen, Freiburg, München 1987, S. 288. Ich sehe hier davon ab, dass Levinas dieses „Füreinander" nicht reziprok begründet. E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg, München 1992, S. 360 f. (=JS). - Es sollte deutlich geworden sein, dass Levinas hier nicht auf der Spur des kosmopolitischen Begriffs der Brüderlichkeit denkt, die man quantitativ entschränkt sich vorstellt, um einen von keiner Mitgliedschaft oder Zugehörigkeit bevormundeten, universalen Rechtsstatus der Person zu denken. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass Hegel, nachdem er eine in der ethisch homogenen (antiken) Sittlichkeit nicht aufgehende Gerechtigkeit angesichts jeder individuellen Person beschrieben hatte, doch wieder auf das traditionelle Modell der Polis einschwenkte, deren Begriff eine Gewalt der Unterdrückung eines „Fremdartigen in sich selbst" gerade nicht zu denken erlaubt. Fremd bleibt der Sittlichkeit nicht nur das Recht des Individuums oder eine individualisierte Gerechtigkeit, die nur dem Privaten, dem Genealogischen, dem Familialen angesichts des Individuums vorbehalten bliebe, sondern gerade der Andere als Anderer, der Levinas zufolge auch dann keine ethisch indifferente Gegebenheit sein kann, wenn er

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Widerstreit und Differenz. Zwischen Ethik und Politik

Diese Position markiert im Vergleich zu einer merkwürdig differenzvergessenen Apologie ethnischer Verschiedenheit und Pluralität, auf die ich eingangs flüchtig Bezug genommen habe, einen extremen Gegenpol. Statt die unaufhebbare Differenz, um die es ihr geht, in einer indifferenten Verschiedenheit der Ethnien und Kulturen untergehen zu lassen, radikalisiert sie den Gedanken der Differenz in der Weise, dass jeder Andere als „ganz anders", „fremd" und gerade nicht bloß wie ein Anderer anders zu gelten hat. 25 Am Ende ist diese „angesichts des Anderen" widerfahrende Differenz so wenig auf den Begriff zu bringen wie Adornos Nicht-Identisches. 26 Gleichwohl gelingt es Levinas, die unausgesprochene Gleichmacherei deutlich zu machen, deren sich eine von vornherein auf der Ebene „kollektiver" Differenzen ansetzende Apologie kultureller Pluralität schuldig macht, die dem Anschein nach nur noch Zugehörige („Leute wie wir") und Unzugehörige (andere, „von der falschen Sorte" [Rorty]), kaum mehr aber eine Unzugehörigkeit in der Zugehörigkeit oder gar eine ethnisch überhaupt nicht fassbare nicht-biologische Verwandtschaft kennt, die uns auch den „Unzugehörigen" und in diesem Sinne Fremden anbefehlen könnte. 27 Diese Apologie ethnischer Differenz erweist sich als ethisch differenzvergessen. (Unter „Ethik" verstehe ich an dieser Stelle nicht eine Teleologie des guten Lebens, sondern genau die Philosophie einer nicht-biologischen Verwandtschaft im Sinne der „Brüderlichkeit" oder der „radikalen" Differenz.) Trägt aber umgekehrt eine Ethik radikaler Differenz der konkreten Verschiedenheit der Menschen und Gruppen angemessen Rechnung, durch die diese ihre individuelle und kollektive Identität entlang ihrer wie auch immer in sich widersprüchlichen und heterogenen, sich überlagernden und einander widerstreitenden Zugehörigkeiten definieren? 28

selbst dieser Gerechtigkeit nicht zu Gesicht kommt. Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke Bd. 12 (Hg. E. Moldenhauer, Κ. M. Michel), Frankfurt/M. 1986, S. 278, C. Menke, Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt/M. 1996, S. 1 1 8 - 1 2 9 , 2 1 3 . „Ganz anders" heißt nicht unbedingt „absolut anders", wenn damit nicht nur Irrelativität, sondern geradezu Unbezüglichkeit gemeint ist. Die Anderheit, die Levinas meint, hebt sich stets von „relativer" Andersheit ab und hat so stets relationalen, aber nicht-relativen Charakter. In Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht ist allerdings nicht eindeutig in diesem Sinne von einer „Differenz des Jenseits", von dem her die Anderheit einer „Differenz zu sich" (oder einem inneren Außer-sich) einleuchtet, die Rede (vgl. S. 25, 35, sowie J. Derrida, SD, S. 143, 159, 171). Vgl. A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt/M. 1985, S. 85 ff.; J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 2 1988, S. 56 f. Hier wird jene „absolute Verschiedenheit" zur Quelle einer irreduziblen Differenz in jeglichem Verständigungsgeschehen und, ähnlich wie bei M. Frank (Was ist Neostrukturalismus?, S. 566 ff.), mit dem „Begriff' des Nicht-Identischen kurzgeschlossen. Vgl. R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1992, S. 307 ff. Vgl. P. Werbner, T. Modood (Hg.), Debating Cultural Hybridity, London, N e w Jersey 1997, sowie den Überblick über die aktuelle Diskussion bei A. Ackermann, „Globalität, Hybridität, Multikulturalität - Homogenisierung der Kultur oder Globalisierung der Differenz?", in: Jahrbuch 1998/99 des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, S. 50-82. Wie in diesem Kontext Fragen legitimer Mitgliedschaft im politischen Gemeinwesen sowie Fragen ethnischer und kultureller

Ethische Differenzsensibilität vs. Politische Differenzvergessenheit?

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Oder erweist sich diese Ethik angesichts der dramatischen Konflikte, die sich im Widerstreit der Identitäten entzünden, als ihrerseits politikvergesseril Hat sie einer dezidiert auf diesen Widerstreit gemünzten „Politik der Differenz" etwas zu sagen? Und ist diese ihrerseits auf eine Ethik radikaler Differenz angewiesen? Wie lassen sich eine konkrete politische Differenzsensibilität, die auf den ersten Blick nur ontische und komparative Verschiedenheiten kennt, einerseits und eine Ethik radikaler Differenz andererseits zusammendenken, die, wie sich zeigen wird, in politische Differenzblindheit zu münden droht? In einer ersten Annäherung loten die folgenden Überlegungen das Gewicht dieser Frage im Ausgang von Positionen zum sog. Kommunitarismus aus (die hier nur en passant im Hinblick darauf zu Wort kommen, wie sie „Differenz" zur Sprache bringen), um dann auf das vorerst nur angedeutete Spannungsverhältnis zwischen Ethik und Politik im Lichte eines unverkürzten Differenzbegriffs zurückzukommen

6.4 Imprägnierungen des Rechtsstaats Die spannungsgeladenen, polemogenen Verhältnisse zwischen Zugehörigen und Unzugehörigen interpretiert Michael Walzer zunächst schlicht unter einem territorialen Aspekt. Tatsache sei, dass sich bestimmte Leute „bereits an Ort und Stelle befinden" und bestimmen können, wer „dazugehört", wer als Gast vorübergehend aufgenommen oder als Fremder wenigstens geduldet wird. 29 Diejenigen, die zuerst da waren, bestimmen die Spielregeln, durch deren Befolgung die Zugehörigkeit erst realisiert werden kann. Mehr noch: es gibt in Walzers Perspektive überhaupt keinen von „lokalen" Zugehörigkeiten unabhängigen Ort, wo man sich über die Differenzen zwischen Zugehörigen und Unzugehörigen verständigen könnte. Verständigung findet, wenn sie möglich ist, immer „situiert" statt, d.h. unter historisch, ethnisch „imprägnierten" Bedingungen, die sich ihrerseits nicht neutral zu den Differenzen verhalten können, welche im Prozess der Verständigung gegebenenfalls zur Diskussion stehen. 30 Auf den ersten Blick verabschiedet Walzer damit das „Projekt" der Moderne, in dessen Rahmen selektive und exklusive Zugehörigkeiten keineswegs mit einer ethnische Differenzen überbrückenden Universalität unvereinbar zu sein schienen. 31 Vermag nicht gerade die Identifikation mit der Bürgergesellschaft, die

29 30

31

Differenz aufeinander bezogen werden, zeigt St. Hall, „Kultur, Community, Nation", in: Gulliver. Deutsch-Englische Jahrbücher, Bd. 37, S. 26-42. M. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1998, S. 81. Vgl. D. A. Hollinger, „How wide the Circle of the ,We'? American Intellectuals and the Problem of the Ethnos since World War II", in: The American Historical Review 98 (1993), S. 317-337, hier: S. 323. Vgl. die in diesem Sinne gemeinten Ausführungen bei J. Rüsen, „Einleitung", in: ders., M. Gottlob, A. Mittag (Hg.), Die Vielfalt der Kulturen, Frankfurt/M. 1998, S. 12-36, hier: S. 34. „Menschheit" soll hier als „Integral von Unterschieden" aufgefasst werden. „Eine solche Perspektivenöffnung gibt den Anderen ihre Stimme und ihre Perspektive neben der eigenen, quer zu

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Widerstreit und Differenz. Zwischen Ethik und Politik

ganz im Sinne einer solchen Universalität gleiche Rechte wenigstens für alle die gewährleisten sollte, die dem politischen System angehören, heterogenen Zugehörigkeiten oder „Ligaturen" gerecht zu werden? 32 Verbindet also eine „zivilisierte" Gesellschaft „ungezwungen gemeinsame Bürgerrechte mit Unterschieden der Rasse, Religion oder Kultur"? Ist sie insofern nicht auch nach außen gleichsam nur provisorisch beschränkt? „Sie verwendet den Bürgerstatus nicht, um andere auszuschließen, sondern versteht sich selbst nur als Schritt auf dem Weg zu einer Weltbürgergesellschaft." 33 Repräsentiert dieser Begriff nicht den Traum einer Vereinbarkeit von gleichen Rechten, derer alle teilhaftig sind, insofern sie dieser Gesellschaft angehören, einerseits mit anerkannten, unterschiedlichsten Zugehörigkeiten zu verdankenden Differenzen andererseits? Ganz ähnlich stellt auch Charles Taylor diese Frage, geht dabei aber über die zunächst von ihm eingeführte kosmopolitische Problemstellung hinaus, derzufolge die Menschen absolut gleich sind, insofern ihnen allen die Würde der „Menschheit" zuzusprechen ist, während zugleich jeder von ihnen als absolut verschieden gelten muss. 34 Unter dieser doppelten Voraussetzung wird die Perspektive einer „Politik der Differenz" eröffnet, die sowohl jenem Universalismus als auch der für ethnische Identität entscheidenden Dimension der (Un)Zugehörigkeit, in der die Gefahr radikaler Konflikte liegt, gerecht werden soll. Diese Politik räumt schließlich im Namen von problematischen Rechten auf die Wahrung kollektiver Identität der Frage der Zugehörigkeit Vorrang ein. Gegen diese Konflikte, in denen man als „unzugehörig" eingestufte Andere wie moralisches Freiwild der „ethnischen Säuberung" und Schlimmerem preisgibt, wird von Taylor und anderen eine politische, der Anerkennung ethnischer Differenz verpflichtete Programmatik ins Spiel gebracht. Es fragt, sich indessen, ob diese nicht ihrerseits wiederum in gewisser Weise differenzvergessen konzipiert ist. Eine „Politik der Differenz" darf aus Taylors Sicht nicht abstrakt gegen eine „Politik der Gleichheit" ausgespielt werden, aber sie muss in erster Linie relativen Identitäten gerecht werden, die sich auf der Folie einer gewissen Gemeinsamkeit mit Anderen und vor dem Hintergrund entsprechender Verschiedenheit von anderen Anderen profilieren. Zwischen der Forderung „nach Anerkennung einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit einerseits und der Selbsteinmauerung in ethnozentrischen Maßstäben andererseits", welche die mit zugehörigen Anderen „geteilte" Identität am Ende hypostasiert, sucht Taylor einen dritten Weg: „Es gibt andere Kulturen, und wir müssen mit ihnen zusammenleben - welt-

ihr, denn die Anderen haben ihr Menschheitskonzept genauso gut wie wir (wenn auch nicht dasselbe)." Wird in der Klammer aber nicht eingeräumt, dass die entsprechenden kulturellen Differenzen jenes „Integral" selber affizieren, statt sich nur in ihm aufheben zu lassen? 32

Ligaturen versteht R. Dahrendorf, auf den ich mich an dieser Stelle beziehe, als „tiefe kulturelle Bindungen, die Menschen in die Lage versetzen, ihren Weg durch die Welt der Optionen" zu finden, die das wirtschaftliche Leben bietet; vgl. Der moderne soziale Konflikt, München 1994, S. 41.

33

Ebd., S. 58. Vgl. J. Habermas, Kultur und Kritik, Frankfurt/M. 2 1977, S. 224-230, sowie die Anm. 5-8, oben.

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weit und auch in der Vermischung innerhalb jeder einzelnen Gesellschaft." 35 Interkulturelle Differenzen treten als intrakulturelle Differenzen auf (v.v.), die stets die Identität der Beteiligten tangieren. Auch für Taylor gibt es aber keinen identitäts-indifferenten diskursiven Raum, der „ethnisch neutral" wäre. Nicht einmal die wenigstens provisorische Abtrennbarkeit „substanzieller" Fragen guten Lebens einerseits von „prozeduralen" Fragen fairen Umgangs miteinander andererseits kann als unstrittig gelten. Setzt der Eintritt in den Diskurs diese Abtrennbarkeit voraus, so berührt dies bereits konfligierende Identitäten. Generell drängt sich die Konsequenz auf, dass der hinreichend „differenzempfindliche" Diskurs, in dem keine Identität sich bervormundet sehen müsste, nicht in Sicht ist. Einschließlich der konkreten Spielregeln der Verständigung selber muss ein solcher Diskurs an einem bestimmten Ort in einer mit den bereits gegebenen Bedingungen verträglichen Weise instituiert werden. Und diese Instituierung impliziert eine gewisse Anbindung an die Identität derer, die diesen Ort einräumen. Insofern prägt ein Identitätsbezug jeden institutionellen Ort, an dem diskursive Verständigung über Differenzen stattfinden kann, die konfligierende Zugehörigkeiten tangieren. Die Identität derer, die einen solchen Ort einräumen, verurteilt sie in gewisser Weise zu einer Zentrierung auf Eigenes, die keine noch so radikale Dezentrierung völlig tilgen kann. Diese Zentrierung muss zwar nicht im Sinne einer grundsätzlichen Präferenz des Eigenen hypostasiert werden; aber auch durch einen diskursiven kosmopolitischen Exorzismus ist die Perspektivität nicht zu beseitigen, in der die Differenz der Anderen in den Blick kommt. Das „von wo aus", d.h. der von der eigenen Identität geprägte Ort, von dem dieser Blick ausgeht, bedingt gleichsam einen blinden Fleck in der Wahrnehmung von Differenz. Niemals können wir sie als in sie Verwickelte gleichermaßen „von beiden Seiten" erfassen. Zwischen die von „uns" aus gesehenen Differenzen der „Anderen" und die von ihnen aus sich abzeichnenden Differenzen, die für sie mit „uns" verknüpft sind, schieben sich wiederum subtile Differenzen, die keine Seite restlos als solche auszumachen vermag. Die in der unvermeidlichen Perspektivierung wahrgenommener Differenz selber liegende Differenzblindheit lässt sich nicht beseitigen. Und sie affiziert jedes Bemühen um gesteigerte Differenzsensibilität. Die vielzitierte „Wiederentdeckung des Ethnischen" hält sich mit solchen Überlegungen wenig auf; vielmehr scheint man jenem Traum von einer Vereinbarkeit von gleichen Rechten mit rückhaltlos anerkannter Differenz einander widerstreitender Identitäten zugunsten letzterer radikal widersprechen zu wollen, obgleich die kosmopolitische Perspektive doch ein Recht auf Respekt für alle als durch ihre Identität „Verschiedene" sollte einschließen können. 36 Kann nicht dieses Recht selber identitäts-indifferent eingerichtet werden? Ist es nicht ein Missverständnis, seinen universalen Gehalt, der den Respekt für jede Identität gebietet, selber als bloß partikularen zu verdächtigen, der implizit eine speCh. Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/M. 1997, S. 28, 70. Und man könnte auf das Missverständnis hinweisen (ohne die Hoffnung zu haben, fanatische Gegner damit zu überzeugen), das darin liegt, das Problem der Universalität überhaupt in der Dimension der (Un)Zugehörigkeit zu verorten. S.u.

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zifisch westliche Vorstellung der Trennbarkeit von Identität und Recht auf unzulässige Weise verallgemeinert? Wie steht es um diese Trennbarkeit im Zeichen der spezifisch modernen Idee der Menschheit, die allen gleiche Rechte zubilligt und jeder staatlichen bzw. nationalen Ordnung die Pflicht auferlegt, diesen Rechten Rechnung zu tragen? Ursprünglich hat „niemand an einem Ort zu Erde zu sein mehr Recht [...], als der andere", behauptete Kant. 37 Aber der Besitz des Bodens, „worauf der Erdbewohner leben kann, [kann] immer nur als Besitz von einem Teil eines bestimmten Ganzen, folglich als ein solcher, auf den jeder derselben ursprünglich ein Recht hat, gedacht werden". Deshalb können aber alle Völker ursprünglich doch nur in einer „Gemeinschaft des Bodens, nicht aber der rechtlichen Gemeinschaft des Besitzes (communio) und hiermit des Gebrauchs, oder des Eigentums an demselben" stehen. Was allen aber ungeachtet dessen zusteht, ist das Recht, „sich zum Verkehr untereinander anzubieten" und dabei nicht feindselig behandelt zu werden. Darüber aber, wer „dazugehören" darf und aufgenommen wird, wo andere bereits leben, wird stets, wie Walzer betont, von der politischen Einheit derer aus entschieden, die bereits da sind. Auch das zur Hospitalität oder (wenn wir über Kant hinausgehen) zur Gewährung von Asyl verpflichtende „Recht der Menschen" bloß als Menschen wird stets nur auf der Basis der Zugehörigkeit zu einem „Wir" garantiert, das einen exklusiven rechtlichen Bürgerstatus mit einer ethnischen Pseudo-Verwandtschaft kontaminiert. 38 Recht und Identität finden hier in einer intimen Verknüpfung zusammen, wie auch Habermas zugibt, wo er von einer „ethischen Imprägnierung des Rechtsstaats" 39 spricht. Jede Rechtsordnung ist auch der Ausdruck eines Geflechts konkreter Lebensformen, in denen

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I. Kant, Werkausgabe, Hg. W. Weischedel, Frankfurt/M. 1977, Bd. XI, S. 214 (=WA). Kant spricht von bloß nachträglich „anmaßlich angeerbter Vereinigung" (WA VIII, S. 429). Vgl. S. Benhabib, „Demokratie und Differenz", in: M. Brumlik u. H. Brunkhorst (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, S. 97-116, hier: S. 104 f. - Daraus mag sich im übrigen die Tendenz erklären, nur diejenigen Außenstehenden hereinzulassen, „die als nationale oder ethnische ,Verwandte' angesehen werden". Michael Walzer meint, „in diesem Punkt gleichen Staaten eher Familien als Vereinen, denn es ist ein Charakteristikum von Familien, dass ihre Mitglieder sich moralisch mit Menschen verbunden fühlen, die sie sich nicht ausgesucht haben und die außerhalb des eigenen Haushalts leben". Vgl. M. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1998, S. 78 ff. - Ich hege den Verdacht, dass sowohl Walzer als auch Taylor in dieser Perspektive eine höchst folgenreiche Kontamination von politischer und ethnischer Zugehörigkeit voraussetzen, von der aus es nur ein Schritt zu deren normativer Affirmation ist, wie sie ein Nationalismus beinhaltet, der besagt, ethnische und politische Grenzen der Zugehörigkeit dürften sich nicht überschneiden. (Nach der Definition des Nationalismus von E. Gellner in: Nationalismus und Moderne, Hamburg 1995, S. 8 f.) Eine solche Kontamination in gewisser Weise für unvermeidlich zu halten, bedeutet indessen nicht, dass man sie normativ affirmieren müsste. Hier bezieht sich „ethisch" wiederum auf eine (neo-)aristotelische Teleologie. Ich kann den bereits angesprochenen kardinalen Unterschied zur „Ethik" einer unhintergehbaren Verantwortung, wie sie Levinas im Sinn hat, nicht terminologisch kenntlich machen und vertraue darauf, dass der Kontext der Argumentation die unterschiedliche Bedeutung der Begriffe des Ethischen deutlich werden lässt.

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ethische Positionen, d.h. hier: historisch-kontingente Antworten auf Fragen guten oder nicht-verfehlten Lebens mit moralischen Fragen und juridisch-institutionellen Regelungen des Zusammenlebens immer schon eine unauflösliche Verbindung eingegangen sind. Diese Antworten bedingen und motivieren den Sinn des Rechts für gegebene Lebensformen, die ihrerseits auf einer ethnischen (allerdings in den seltensten Fällen in sich homogenen) Geschichtlichkeit aufruhen, welche die kollektive Identität derjenigen hinterrücks prägt, die den Lebensformen zugehören. Diese Prägung a tergo bringt es mit sich, dass die ethisch-ethnische Imprägnierung des Rechts den Zugehörigen niemals völlig transparent werden kann. Dementsprechend gehen in die rechtlichen Regelungen der Zuwanderung oder der Gewährung von Asyl immer schon Identitätsmomente ein. Und keine Gesellschaft lässt sich bewusst darauf ein, ihre unter Bezug auf eine imaginäre Identität begründete Integration völlig von rechtlicher Integration zu entkoppeln oder gar auf eine identitätsbezogene Integration zugunsten letzterer ganz zu verzichten. Im Zusammenhang mit Fragen der Zuwanderung und der Gewährung von Asyl steht offensichtlich stets auch die Identität derer mit auf dem Spiel, die einander zunächst als Unzugehörige begegnen. Durch die aufzunehmenden Fremden kann die ihrerseits historisch kontingente Zusammensetzung der aufnehmenden Lebensformen hinsichtlich ihrer kollektiven Identität nachhaltig verändert werden. Gefahren liegen hier gleichermaßen in einer Überassimilation, die man den Fremden um den Preis der Aufgabe oder der völligen Subordination ihrer Identität abverlangt, und in einer Überakkomodation an auf Dauer fremd bleibende Fremde, die als Aufgenommene bloße „Fremdkörper" bleiben, ohne mit den aufnehmenden Lebensformen - zum Schaden beider Seiten - Verbindungen einzugehen, welche die ethischen und ethnischen Grenzen zwischen Zugehörigen und Unzugehörigen wenigstens durchlässig machen könnten. Mit dem universalen Gehalt der Rechte, die man Fremden zubilligt, welche um Aufnahme nachsuchen, ist es gewiss unvereinbar, deren ethischethnische Assimilation und damit die Unterwerfung ihrer Identität zu verlangen. In diesem Fall würden die Fremden ja gerade nicht als Fremde aufgenommen; vielmehr würde die Vernichtung ihrer Fremdheit zur Voraussetzung ihrer Aufnahme gemacht. Ebenso verfehlt aber erscheint es, einer nur politisch-rechtlich inklusiven, die Fremden als Andere einbeziehenden, sie aber nicht um den Preis ihrer fremden Identität „einschließenden" Kultur das Wort zu reden, die selber keine Rücksicht darauf nähme, welche Folgen aus einer Aufnahme Fremder entstehen können, deren Identität im Verhältnis zu den aufnehmenden Lebensformen auf Dauer völlig fremd bleibt,40 Die Aufnahme der Fremden kann als wirkliche Aufnahme nur dann gelingen, wenn sie von Anfang an nicht nur auf Rechte Rücksicht nimmt, die allen Menschen ohne Ansehen ihrer Identität zustehen, sondern auch auf die Ermöglichung einer gegenseitigen ethisch-ethnischen Interferenz abzielt, durch die einander zunächst fremde Identitäten sich begegnen können. Nur so, im 40

Unvermeidlich fließt hier eine Äquivokation ein: das Plädoyer für die Ermöglichung einer ethisch-ethnischen Interferenz, die verhindern können sollte, dass die Fremden bloße „Fremdkörper" bleiben, betrifft ihre in ihrer Identität liegende relative Fremdheit (s.o.); die aber niemals die radikale Fremdheit, die für Levinas in der Anderheit des Anderen liegt, „aufheben" kann.

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Durchqueren der gegenseitigen ethisch-ethnischen Fremdheit, auf dem Weg einer lateralen Universalität (Merleau-Ponty), kann das zunächst ohne Rücksicht auf die Identität der Menschen verankerte Recht auf Aufnahme so verwirklicht werden, dass diese nicht in eine separatistische, die ethischen Grundlagen des Rechts auf Aufnahme langfristig unterminierende Unterhöhlung oder subkulturelle Segregierung der aufnehmenden Lebensformen mündet. Wenn mit anderen Worten ein „lateraler", „differenzempfindlicher Universalismus" möglich sein soll, der eine „nicht-nivellierende und nicht beschlagnahmende Einbeziehung des Anderen in seiner Andersheit" gewährleisten soll,41 so muss das Recht, das die Aufnahme der Fremden regeln soll, zweifellos nicht nur auf deren „Menschheit", sondern eben auch auf deren konkrete Identität und auf deren ethnische Unzugehörigkeit Rücksicht nehmen. Nicht etwa im Namen einer dem Recht grundsätzlich vorgeordneten „Wahrung" der eigenen Identität der aufnehmenden Lebensformen, sondern gerade im Namen einer wirklichen Aufnahme der Fremden, die ihren Namen verdient und die Fremden nicht bloß als Fremdkörper in der Ungastlichkeit der Asyle duldet.

6.5 Differenzsensible Politik? Offensichtlich sind es nicht nur Nuancen, was etwa Walzers, Taylors und Habermas' Visionen politischer Differenzsensibilität voneinander unterscheidet. Gleichwohl möchte ich an dieser Stelle nicht ihre besonders kontroverse politische Bewertung ethnischer Differenz in den Vordergrund stellen, sondern auf die eingangs aufgeworfene Frage der ethischen DifferenzVergessenheit zurückkommen. Ist selbst im Zeichen einer geforderten „Differenzempfindlichkeit", welche die politische Handhabung von Rechten auf Zugehörigkeit oder Mitgliedschaft im politischen Gemeinwesen etwa auszeichnen soll, eine solche Vergessenheit festzustellen? Resümieren wir, um einer Antwort auf diese Frage, diesen Vorwurf, näher zu kommen, was der Begriff der „Differenzsensibilität" im allgemeinen besagen soll. Offenbar bringt dieser Begriff eine allgemeine politische Forderung nach Sensibilität für „Differenz" zum Ausdruck, die deshalb begründet erscheint, weil bestimmte Differenzen, auf die es politisch oder auch rechtlich ankommt, nicht offen zutage liegen. Daraus ergibt sich die Bedeutung von Differenzsensibilität als Sensibilität für „Differenzen", die als solche überhaupt erst wahrgenommen, erschlossen und zur Geltung gebracht werden müssen. Erst unter dieser Voraussetzung können sie auch „Anerkennung" finden. Wie kann man „anerkennen", was man entweder überhaupt nicht oder nicht als anerkennungswürdig wahrnimmt? Charles Taylor beispielsweise verlangt unter dem Titel einer „Politik der Differenz" die Wahrnehmung und - rechtlich folgenreiche Anerkennung der „differenten" ethnischen oder kulturellen Identität42 anderer, die nicht in J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt/M. 1996, S. 58. Vgl. auch M. Walzer, Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, Berlin 1992, S. 228 ff. Der Gedanke eines ln-sich-Gespaltenseins bzw. einer inneren, Identität von innen unterhöhlenden

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der Weise politisch und rechtlich gleich behandelt werden sollen, dass sie sich in ihrer abweichenden Identität nicht respektiert sehen können. Taylor behauptet nicht bloß, dass es die ethnische oder kulturelle Differenz etwa der frankophonen Kanadier gibt, sondern dass sie einen politischen Unterschied macht, der rechtlich Berücksichtigung finden müsse. Taylor bringt Differenzen als Differenzen zum Vorschein, die „einen Unterschied machen" - einen bestimmten Unterschied 43 - wobei er um die Strittigkeit dieses Unterschieds natürlich weiß. (Wieder stoßen wir auf die Frage, ob das Recht nicht in ethnischer Hinsicht identitäts-indifferent gestaltet sein muss, um allen gleichermaßen gerecht werden zu können. Oder liegt gerade in einer solchen Indifferenz des Rechts - einmal vorausgesetzt, es könne so etwas geben - eine Ungerechtigkeit jenen gegenüber, die durch ihre Gleichbehandlung benachteiligt werden? 44 ) Ich möchte an dieser Stelle keine rechtsphilosophische Diskussion beginnen, sondern lediglich auf diesen grundsätzlichen Aspekt einer Politik der Differenz aufmerksam machen: Stets bringt sie Differenzen als Differenzen zur Sprache, die einen bestimmten Unterschied machen oder machen sollen. Wenn sie eingestandenermaßen so verfährt und diese Strategie nicht kaschiert, klärt sie gleichzeitig über eine offenbar unvermeidliche „Perspektivierung" der Differenz auf, die sich schon aus dem „Hinblick" des Unterschieds ergibt, wenn etwa gefordert wird, die abweichende ethnische oder kulturelle Identität anderer solle sich in einem Recht auf eigene Sprache, Institutionen und politische Repräsentation niederschlagen. In gewisser Weise gibt es die ethnische oder kulturelle Differenz als derart rechtlich relevante erst durch den - nachträglichen - politischen Akt, der sie zur Sprache und damit zum Vorschein bringt. Die Politisierung der Differenz greift nachträglich entscheidend in ihre strittige oder „polemogene" Bedeutung ein. Jedenfalls

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„Differenz" findet hier kaum Beachtung; vgl. R. Bernet, „The Other in M y s e l f , in: S. Critchley, P. Dews (Hg.), Deconstructive Subjectivities, New York 1996, S. 169-184; B. Liebsch (Hg.), Hermeneutik des Selbst - Im Zeichen des Anderen, Freiburg, München 1999. Die sog. Geschlechterdifferenz ist ein Musterbeispiel dafür, wie „Differenz" als „gegeben" genommen wird, obgleich doch Mann und Frau im Verhältnis zueinander keineswegs einfach verschieden sind; vielmehr unterscheiden sie sich, indem sie auf verschiedene Weise aufeinander Bezug nehmen. Dabei ist weder eine sexuelle Differenz, noch die Geschlechterdifferenz noch auch der Geschlechtsunterschied „an sich", d.h. abgesehen davon bedeutsam, was für den/die eine(n) oder den anderen bzw. für die andere „einen Unterschied macht". Ein völlig identitäts-indifferentes Recht kann es schon deshalb nicht geben, weil es grundsätzlich identitätsbezogen motiviert ist. Seinen Sinn und seine Verständlichkeit als Institution hat es nur im Rahmen eines kollektiven Selbstverständnisses, in das geschichtliche und ethische Orientierungen mit eingehen. In diesem Sinne spricht Habermas von einer „ethischen Imprägnierung des Rechtsstaats" (s. o.). So sehr man das Recht im übrigen auch auf die differenzsensible Anerkennung der Identität Fremder verpflichtet, stets wird es einen Vergleich von unvergleichlichen „Fällen" verlangen. Es kann insofern einer „radikalen" Differenz Anderer nicht gerecht werden. Insoweit macht es sich zwar praktisch unweigerlich einer gewissen ethischen Differenzvergessenheit schuldig, für die keine „positive" rechtliche Regelung in Sicht ist. Aber gerade die Erinnerung an diese Vergessenheit kann verhindern, dass man glaubt, ein gleichmachendes Recht genüge sich selbst.

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liegt die Differenz als so oder so politisch und rechtlich zu würdigende nicht einfach vor. Sie entspricht in Wahrheit nicht einer an sich gegebenen „Verschiedenheit". Sie knüpft an den ethnischen oder kulturellen Prozess eines Sichunterscheidens an, in den die „differenten" Identitäten selber verstrickt sind, und zwar vielfach so, dass sie dieses „sich" vergessen. Das Sichunterscheiden gerinnt dann allzu leicht zur pseudo-objektiven Verschiedenheit, die eine bestimmte Rhetorik als eben das präsentieren kann, was selber schon den „alles entscheidenden Unterschied" ausmacht: dass nämlich die anderen „anders", d.h. Menschen von einer „falschen Sorte" sind. Adornos Forderung nach einer Gesellschaft, in der es möglich sein soll, „ohne Angst anders" zu sein, bleibt unverändert aktuell. Sie lässt sich aber - wenn überhaupt - nur einlösen, wenn auch diese Strategien einer bedrohlichen, am Ende genozidalen Version einer „Politik der Differenz" durchschaut werden. In einer solchen Version schrumpft die „Differenz" der anderen zu einem objektiven Merkmal, das gleichsam das Urteil über sich selbst spricht. In ihrem Anders-sein verurteilen die Anderen sich selbst. Muss man zur Erläuterung an den abgrundtiefen Zynismus eines Völkermords erinnern, der sich als „Nachhilfe" zur Vollstreckung eines vernichtenden Urteils präsentieren konnte, das angeblich die bloße Existenz einer vermeintlichen „Rasse" über diese selbst verhängt hatte? Auch diese, von Kommunitaristen, Neoaristotelikern, Liberalen und Verfechtern eines demokratischen Experimentalismus zweifellos nicht gemeinte Wendung kann man dem Begriff einer „Politik der Differenz" geben. In diesem Fall steht er für rücksichtslose Instrumentalisierung und Reifizierung insbesondere ethnischer Differenzen, die man nicht aus einem Prozess gegenseitigen Sichunterscheidens erst ableitet, sondern bei Bedarf rücksichtslos anderen oktroyiert, die sich in ihrer „Verschiedenheit" am Ende selbst nicht mehr erkennen. Demgegenüber ist die „differenzsensible" „Politik der Differenz" dort, wo sie programmatisch formuliert wird, ganz und gar der Wahrnehmung und Anerkennung der Identität Anderer einschließlich ihres andersartigen Sichunterscheidens von denen verpflichtet, die sie in ihrer Andersheit anerkennen sollen. In diesem Sinne wird wie gesagt eine „Einbeziehung des Anderen in seiner Andersheit verlangt,45 die ebenso sehr auf ein „Recht des Menschen" wie auf die konkrete Identität und auf die ethnische Unzugehörigkeit Fremder Rücksicht zu nehmen verspricht.46 Die Rede von einer „Politik der Differenz" betrachtet man ebenso wie den klärungsbedürftigen Begriff der „Differenzsensibilität" gleichwohl vorläufig besser als einen Problemtitel, bevor dieser Begriff zum bloßen Schlagwort verkommt. Zwar ist vielfach von

J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 58. Ich sehe nicht, dass dabei auch der von Habermas immer wieder schematisch ins Feld geführten Zuordnung von „absoluter Gleichheit" und „absoluter Verschiedenheit" Rechnung getragen wird. Die eingangs eingeführten Unterscheidungen sollten im übrigen verdeutlichen, dass dieser Begriff „absoluter Verschiedenheit" keineswegs dasselbe meint wie jene als Fremdheit anzusprechende radikale Alterität. Diese taucht auch bei S. Benhabib nicht auf; vgl. ihren Aufsatz „Demokratie und Differenz", in: M. Brumlik u. H. Brunkhorst (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, S. 97116.

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der Achtung einer nicht „aufhebbaren", radikalen Differenz des Anderen, die erst den Begriff des Anderen als eines Fremden rechtfertigt, und im gleichen Sinne von einer echten und irreduziblen Pluralität des Sozialen die Rede, doch wird selbst im Zeichen einer geforderten „Differenzempfindlichkeit", welche die politische Handhabung von Rechten auf Zugehörigkeit auszeichnen soll, Differenz allzu oft als ein bloßes ontisches Merkmal oder als eine positive Eigenschaft anderer behandelt. (Das scheint jedenfalls der Fall zu sein, wo im Kontext der erwähnten Positionen von „Verschiedenheiten" die Rede ist, die man mit konfligierenden Zugehörigkeiten und Identitäten verbindet.) Darin liegt eine bedenkliche Trivialisierung des Differenzbegriffs, die mit der v.a. von Levinas betonten, im Widerfahrnis der Fremdheit des Anderen liegenden (weder bloß ontischen noch ontologischen) Nicht-In-Differenz jedenfalls nicht zu vereinbaren ist. Da weder Habermas noch Taylor systematisch zwischen Andersheit als Verschiedenheit und als Fremdheit unterscheidet, droht eine Verkürzung des Differenzbegriffs um die in der radikalen Fremdheit des Anderen liegende ethische Nicht-ln-Dijferenz, die Levinas zur Geltung bringen wollte. Auf das Denken einer radikalen Fremdheit ist aber die Politik der Differenzsensibilität angewiesen, soll nicht das, was den Anderen als Anderen ausmacht, auf bloß kontingente Verschiedenheiten reduziert werden, unter denen gerade die „fremde" Anderheit des Anderen als solche nicht vorkommt. Die Programmatik der Differenzsensibilität rechnet zweifellos mit einer irreduziblen sozialen, politischen und kulturellen Pluralität. Doch erfreut sich dieses Wort wie der Begriff der Differenz einer fragwürdigen Beliebtheit. Fragwürdig erscheint es, weil es sich allem Anschein zum Trotz mit einer Nivellierung des Plurals der Differenzen selbst und darüber hinaus auch der Einzigkeit eines jeden Menschen nicht selten durchaus verträgt. In der numerischen Pluralität eines Kollektivs und selbst einer extensiv verstandenen Menschheit ist J e d e r m a n n " ein „niemand". Aus dieser allgemeinen Anonymität ist der Andere als Anderer nun aber nicht etwa bloß dadurch herausgehoben zu denken, dass man ihn im Einzelfall dem Namen nach kennt. Der Andere unterweist uns ethisch gerade dadurch, behauptet Levinas, dass er sich dem Kennen, der Typologie, dem Genus, der Charakterologie, der Klassifikation und dem Gesetz der Zahl entzieht. Er ist gerade Anderer, d.h. hier: er bleibt „absolut fremd" und unterweist uns ethisch gerade dadurch. „Die Fremdheit des Anderen, das ist seine eigentliche Freiheit", heißt es bei Levinas. 47 Wird die Pluralität nicht radikal gedacht, so muss eine Indifferenzierung der Anderheit jedes Anderen, insofern er bloß als wie alle Anderen verschieden zur Geltung kommt, die Folge sein. Die Differenz des Anderen wäre gewissermaßen eingeebnet. 4 8

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E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, Freiburg, München 1987, S. 100 (=TU). Gilt das nicht fur den im Begriff der Gleichheit gefassten Rechtsstatus der Person („worin Alle als Jede, als Personen gelten", wie Hegel sagt)? Vgl. Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 4 1980, S. 355. Und ist nicht für Kant angesichts der Geltung des moralischen Gesetzes, das ohne Ansehen der Person gilt, Jedermann" ein „niemand"? Gewiss soll vor allem die zweite Formulierung des kategorischen Imperativs die Pluralität und in diesem Sinne die Verschiedenheit der Menschen als Personen berücksichtigen. Das zunächst indifferent gegenüber der Unterscheidung

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Eben dagegen setzt Levinas den Begriff der radikalen Differenz, der Fremdheit des Anderen. Diese ist aber keine diskursive, ohne weiteres zur Sprache und „zur Geltung" zu bringende Realität. Zunächst ist die Fremdheit des Anderen mitsamt der ethischen Bedeutung der Nicht-In-Differenz, die Levinas ihr zuschreibt, kein Gegenstand der Rede über den Anderen, 49 sondern, wie gesagt, Sache eines Erfahrungsanspruchs, der in der Begegnung mit dem Anderen „zur Geltung kommt". Die Fremdheit widerfährt uns „ethisch" in dem Sinne, dass sie uns die „Gabe der Verantwortung" für den Anderen, selbst für den Feind, auch dann als nicht zurückzuweisende (auf)gibt, wenn wir sie nicht „übernehmen" wollen. Diese Gabe und die Infragestellung unserer Freiheit wird unserer nachträglichen Möglichkeit, sie zurückzuweisen, immer schon vorausgegangen sein. Insofern widerfährt uns die Differenz des Anderen im Sinne unseres Bestimmtwerdens durch sie zur Nicht-InDifferenz der Verantwortung für den Anderen stets, bevor wir den Anderen in seiner kontingenten, relativen Verschiedenheit mit anderen Anderen vergleichen können, was bereits eine gewisse Unabhängigkeit unserer Vergleichsperspektive voraussetzt. Wenn wir „Andere" vor uns haben, können streng genommen nur absolut „Unvergleichliche" verglichen werden. Verspricht aber ein solcher, derart paradox zugespitzter Ansatz im Namen der ethischen Bedeutung der Fremdheit des Anderen der zur Diskussion gestellten Differenzvergessenheit einer „Politik der Differenz" aufzuhelfen? Diese Bedeutung ist nicht Levinas' Erfindung. Er glaubt sie vielmehr auf einen Skrupel zurückfuhren zu können, der in der Erfahrung selber nagt, die uns mit dem Anruf des Anderen konfrontiert. Der Andere, besagt dieser Skrupel, „ist nicht anders im Sinne einer relativen Ander[s]heit, wie in einem Vergleich der Arten [...]; die Arten schließen sich gegenseitig aus, aber sie stehen noch in der Gemeinsamkeit einer Gattung; kraft ihrer Definition schließen sie sich aus, aber fordern sich gegenseitig durch diesen Ausschluß im Rahmen der Gemeinsamkeit ihrer Gattung. Die Anderheit des Anderen hängt nicht von irgendeiner Qualität ab, die ihn von mir unterschiede; denn eine Unterscheidung dieser Art würde zwischen uns gerade jene Gemeinsamkeit der Gattung voraussetzen, die die Anderheit schon vernichtet." 50 In der Ander(s)heit des Anderen liegt nicht bloß dessen relative Verschiedenheit oder Fremdheit, sondern auch die ethische, auf den Begriff der Nicht-In-Differenz gebrachte Bedeutung seiner Existenz. Was bedeutet genau „Nicht-In-Differenz"? Levinas betont wie gesagt, dass sich die Differenz im Verhältnis zum Anderen nicht als Differenz zu etwas anderem fassen lässt, die unter einem gemeinsamen Genus, unter einer Gattung Platz fände. Der Andere ist

von Personen formulierte moralische Prinzip soll gerade als solches dem Feld der Pluralität der Personen eingeschrieben werden. Doch mit Ricceur ist zu fragen, ob Kant dafür nicht den Preis zahlt, dass der Begriff der Menschheit die Anderheit jedes Anderen zu eliminieren droht, in der gerade die Wurzel einer wirklichen, nicht aufhebbaren und nicht nur numerischen Pluralität liegt. Vgl. P. Ricceur, Das Selbst als ein Anderer, S. 270. 49

Vgl. D. Mersch, „Vom Anderen reden", in: M. Brocker u. Η. H. Nau (Hg.), Darmstadt 1997, S. 27-45.

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TU, S. 277 f.

Ethnozentrismus,

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nicht bloß ein sichtbarer, vorstellbarer, erinnerbarer... Anderer. 51 Als solcher wäre er noch Gegenstand der Wahrnehmung, des Denkens, der Erinnerung. Der Andere ist Anderer aber gerade dadurch, dass er sich der Kategorisierbarkeit, der (Aus)Sagbarkeit, der Thematisierbarkeit bereits in der Erfahrung entzieht. 52 Was sich dem „Erscheinen" aber entzieht und die „Erfahrung", die wir vom Anderen haben, übersteigt, macht sich als sich uns Entziehendes in der Erfahrung selbst geltend. Dieser Entzug im Bezug auf den Anderen ereignet sich als „ethischer", weil die Differenz zum Anderen zugleich den Sinn der Nicht-In-Differenz der Verantwortung für ihn hat, die sich für Levinas als unhintergehbar erweist, weil sich, wie gezeigt, die „Frage" der Verantwortung angesichts des Anderen immer schon stellt, bevor wir zu ihr Stellung nehmen können. 53 Die „Differenz" betrifft hier nicht mehr ein Verhältnis zu einem innerweltlichen Vorkommnis „Anderer". Das Sichereignen der Öffnung zum Anderen hin hat immer schon stattgefunden, mir zuvor. Zwar ist der Andere auch greifbar, sichtbar, „Physiognomie"; aber seine Anderheit lässt es nicht zu, dass wir j e ganz und gar zu „Zeitgenossen" werden können. 54 Das heißt auch: jeglicher Angriff auf die Anderheit des Anderen kommt unvermeidlich zu spät. In der Anderheit des Anderen liegt unaufhebbare Fremdheit im Sinne radikaler Nichtintegrierbarkeit in der Gegenwart unseres Lebens und Denkens. Eine „unendliche" Differenz bleibt immer im Spiel. Auch das besagt Nicht-In-Differenz: Nicht-Ununterschiedenheit, die unter keinen Umständen auszuräumen ist. Es geht hierbei auch insofern nicht mehr nur um eine Kategorie oder um ein Existential, als die Differenz von Anfang an das Bestimmtsein zur Verantwortung für den Anderen „bedeutet". Die Nicht-InDifferenz, die man formal einfach als eine doppelte Negation verstehen könnte, geht insofern, jenseits der Ontologie, in ethischer Hinsicht, auch über die Aussage hinaus, die Fremdheit des Anderen bleibe unaufhebbar. In seiner Fremdheit ist der Andere gerade aufgrund seiner Differenz nicht auch „gleichgültig". In der Nicht-In-Differenz liegt vielmehr gerade das, was bewirkt, dass er uns auf unhintergehbare Weise „etwas angeht", wie Levinas sagt. Gerade als derjenige, der sich gemäß soziologischer, ethnischer u.a. Kriterien zunächst als unzugehörig darstellt, geht uns auch der als Fremder begegnende Andere unhintergehbar etwas an, weil die Nicht-In-Differenz von Anfang an den „Sinn" der Verantwortung fur den Anderen hat, wie Levinas betont. 55 Nicht-In-Differenz heißt hier: dass uns der Andere anbefohlen ist als einer, angesichts dessen Fremdheit man noch die Verantwortung für ihn trägt. In der Nicht-Indifferenz der Verantwortung für den Anderen

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E. Levinas, Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, S. 185. E. Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg, München 2 1988, S. 36. Vgl. E. Levinas, JS, S. 380. E. Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, S. 234; JS, S. 304. Die Fremdheit, um die es hier allein geht, ist nicht die „innerweltliche" Fremdheit derer, die uns nicht „bekannt" sind (in diesem Sinne ist zweifellos nicht jeder Andere „Fremder"), sondern sie liegt in jener unaufhebbaren Nicht-Gegenwart, an die keine Erinnerung, kein Gedächtnis heranreicht. Diese „anachronische" Fremdheit liegt auch im Verhältnis zu denen, die man zu „kennen" glaubt, gerade insofern sie Andere sind.

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schlägt nicht nur das „schlechte Gewissen", ihn womöglich als Mittel zu behandeln; sie „bedeutet" auch, ihn nicht als nur „vergleichsweise" anders, sondern als „radikal" anders gelten zu lassen. Daher die im „Angesichts-des-Anderen" selbst wurzelnde Weigerung, der Levinas philosophisch Geltung zu verschaffen sucht, den Anderen dem ihn „identifizierenden" Begriff, dem Genus, der Gattung zu subsumieren. Levinas insistiert aber darauf, dass sich die Infragestellung durch den Anderen „in der Sozialität ereignet". 56 Gemeint ist gerade nicht eine etwa dialogisch-interpersonale Sozialität, der jedes im engeren Sinne sozietäre Moment fremd bliebe. 57 Im Gegenteil soll das Gesicht, das mich anschaut, von vornherein „im vollen Licht der Öffentlichkeit" stehen. 58 Levinas möchte mit dieser Aussage auf eine ursprüngliche sozietäre Dimension des Sozialen hinweisen, die nicht etwa dadurch ins Spiel kommt, dass die Existenz Dritter nachträglich zu einer sie zunächst ausschließenden dyadischen Inter-Personalität hinzukommt, sondern dadurch, dass mich in den Augen des Anderen „von Anfang an" zugleich der Dritte ansieht. 59 Angesichts des Anderen sind wir nicht ohne weiteres nur „zu zweit". Umgekehrt gestattet es aber auch eine politisch konstituierte Vielheit von Menschen nicht, deren Singularität einfach zu vergessen. Keine Staats-Geschichte, wie sie Hegel konzipiert hat, kann im Plural der Existenzen die Singularität 60 der Anderen zum Verschwinden bringen. Diese aber hat ihrerseits nicht bloß jenseits oder diesseits einer sozialen Ordnung ihren Ort, wenn im Leben der Anderen, welche die soziologische und historische Beschreibung der Ordnung nur als Dritte kennt, zugleich ein Hinweis auf deren Anderheit mitgegenwärtig ist. Somit stellt sich nun aber die Frage nach einer Vermittelbarkeit der Rede von radikaler, nicht „aufhebbarer" Differenz des Anderen mit dem unendlichen Spiel der konkreten, relativen Differenzen, die das Aussehen der Menschen, ihre „rassistischen" Vorstellungen davon, ihre gespaltenen Zugehörigkeiten und politischen Gegensätze prägen. Der Andere, von dem Levinas so emphatisch spricht, mag niemals in einer transzendenzlosen Erscheinung aufgehen; aber er existiert auch nicht schlechterdings der Welt der relativen Andersheiten enthoben. Nach Levinas muss man zwar von einer radikalen Un-Sichtbarkeit des Anderen sprechen, insofern das, von wo aus der Anspruch seiner Fremdheit ausgeht, nirgends zu „orten" ist.61 Das „wo" bleibt unzugänglich und gerade durch diese seine Unzugänglichkeit maßgeblich. 62 Dieses „wo" liegt auch nicht „hinter" den Augen, deren 56 57 58 55 60

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E. Levinas, TU, S. 282. Vgl. aber TU, S. 367. TU, S. 307. TU, S. 397 f. Dieser Begriff hat hier gerade keinen bloß numerischen Sinn; vgl. B. Waldenfels, „Singularität im Plural", in: Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt/M. 1997. Vgl. Anm. 18 zu Kapitel 2. Insofern bleibt auch die U-Topie des Gesichts des Anderen gebunden an einen Ort des Erscheinens und kann sich zu einer situierten Vernunft, die sich im Spannungsverhältnis von Ethik und Politik sowohl von der Gleichheit als auch von der radikalen Anderheit der Anderen herausfordern lässt, nicht völlig äußerlich verhalten.

Ethische Differenzsensibilität vs. Politische Differenzvergessenheit?

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„Sicht" wir im strengen Sinne auch dann nicht übernehmen können, wenn wir etwas „mit den Augen des Anderen" zu sehen oder zu verstehen suchen. Und doch ist das Gesicht des Anderen im alltäglichen Sinne sicht-bar - man denke nur an die Fotografie. Und man kann „sein Gesicht verlieren" oder „wahren", weil es in gewisser Weise Prozessen der „Sozialisierung" und der „Vergesellschaftung" unterliegt. Insofern müssen wir das „ethische" Gesicht des Anderen seiner Physiognomie, seiner phänomenalen Andersheit eingesenkt begreifen. Es wahrt die Anderheit also keineswegs gänzlich unabhängig von dieser. Man muss deshalb die Rede von einer radikalen Differenz des Anderen und von der Nicht-In-Differenz, die sie ethisch bedeutet, auf die konkrete soziale Welt zurückbeziehen, für die jene „Politik der Differenz" zunächst konzipiert war.

6.6 Ethische Verwandtschaft und „verschiedene" Andere Zunächst verlangte der ethische Kosmopolitismus, den Taylor und Habermas fortschreiben, Fremden ohne Rücksicht auf ihre „Identität" Gastrecht oder Asyl zu gewähren; er unterstellte eine strikte Trennbarkeit seines universalen Gehalts von Fragen der Identität. Deshalb hat er mit zwei Schwierigkeiten zu kämpfen: er unterschätzt die Kontaminierung universaler Rechte mit der Identität derer, die sie stets in Anbindung an ihr politisches Gemeinwesen garantieren müssen; und er wird dadurch, dass er auf identitätsindifferente Menschenrechte abstellt, scheinbar nicht der Differenz Fremder gerecht, die gerade auf ihrem - relativen - Anderssein bestehen und gegebenenfalls als Unzugehörige ihre Identität anerkannt sehen wollen. Infolgedessen fuhrt er zu einer Unterschätzung der in den Verhältnissen zwischen Zugehörigen und Unzugehörigen widerstreitenden Identitäten. Rorty hat Recht, wenn er feststellt, die von Kant inspirierte Werbung für eine „planetarische Gemeinschaft" aller, die Weiße und Schwarze, Muslime und Serben, Homo- und Heterosexuelle usw. gleichermaßen einschließen würde, könne der zweiten Schwierigkeit nicht gerecht werden, wenn sie propagiert: „Was euch verbindet, euer gemeinsames Menschsein, ist wichtiger als all diese trivialen Unterschiede." Nicht nur werden viele einwenden können, angesichts der bloß phänomenalen Familienähnlichkeit der Menschen sei „Gemeinsames" im Sinne „der Zugehörigkeit zu einer sittlichen Gemeinschaft über den Kreis der Familie, des Klans oder des Stammes hinaus" einfach nicht erkennbar. Eine solche Position scheint auch das beschworene „Gemeinsame" (das man im Sinne Kants oder Levinas' besser als nicht-biologische Verwandtschaft und gerade nicht als Zugehörigkeit interpretieren sollte63) gleichsam an der Identität derer vorbei, die sich eigentlich angeDie gängigen Vorstellungen von Gemeinsamkeit und Gemeinschaftlichkeit bedürfen nach dem bisher Gesagten offenbar der Revision. Im Lichte der Ethik von Levinas kann die Fremdheit des Anderen nicht einfach das Gegenteil von Zugehörigkeit (und in diesem Sinne von Gemeinsamkeit oder Gemeinschaftlichkeit) sein. Die Fremdheit, welche selbst noch dem Nächsten und Ver-

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sprachen fühlen sollen, herausstellen zu wollen. Das hält Rorty mit guten Gründen für ein verfehltes Unterfangen. Ist Rorty aber im Recht mit seiner Vermutung, auch die Unterstellung einer nicht-biologischen und nicht-ethnischen, vielmehr ethischen Menschheit 64 als Grund der Menschenrechte sei im Grunde nur eine neue und besonders raffinierte Variante eines sehr alten Tricks: den Ausdruck „Mensch" als „Synonym für ,Mitglied unseres Stammes'" zu setzen? Besagt also auch die Rede von der „Menschheit" letztlich nur, wer für uns „als Mitmensch zählt, als rationales Wesen in dem einzig relevanten Sinne, der ein Synonym für die Mitgliedschaft in unserer sittlichen Gemeinschaft ist"? 65 Wird das nur notdürftig kaschiert von dem Versuch, die Bedingungen potentieller Mitgliedschaft so wenig wie möglich exklusiv erscheinen zu lassen? In dieser Deutung triumphiert das Ethnische über das Ethische, die stets „soziozentrische" oder „ethnozentrische" Zugehörigkeit über die Universalität. Rorty hat für einen nicht-biologischen und nicht-ethnischen Verwandtschaftsbegriff, wie ihn in unterschiedlicher Weise Kant und Levinas begründet haben, gar keinen Sinn. Dessen Schwäche liegt aber gerade nicht in einer uneingestandenen ethnozentrischen Bindung an eine Anthropologie, die konkret sagen würde, wer eigentlich als Mensch „zählt" oder als solcher „nicht in Betracht kommt". 66 Seine Schwäche liegt - auch bei Levinas - vielmehr in der von Rorty gar nicht bemerkten Abtrennung der ethischen Verwandtschaft von der Dimension der (Un)Zugehörigkeit, 67 die so weit geht, dass deren faktisch stets gegebene Verflochtenheit kaum mehr in den Blick kommt. Der Begriff des Anderen steht bei Levinas genauso quer zu dieser Dimension wie bei Kant der Begriff des intelligiblen Wesens. Die Philosophie der „singulären" Anderheit des Anderen lehrt uns, noch im „vertrauten" Anderen, der uns nahesteht, eine irreduzible Fremdheit und insofern in der Zugehörigkeit eine Spur der Unzugehörigkeit zu entdecken. Levinas begründet eine ethische Affizierbarkeit, die sich durch keine Trennung Zugehöriger von Unzugehörigen bevormunden lässt. Dafür ist aber ein Preis zu zahlen: Die ethische Verwandtschaft kann niemals sagen, als wer wir uns im

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trautesten eignet, ist gerade Bedingung der Möglichkeit einer Beziehung im Zeichen des Getrenntseins, das sich niemals völlig wird tilgen lassen; zugleich ist sie aber auch Bedingung der Unmöglichkeit einer restlos inklusiven Gemeinschaft. Lassen sich Gemeinsamkeit und Gemeinschaftlichkeit so umdenken, dass eine irreduzible innere Fremdheit zur Geltung kommt, ohne diese Ideen völlig zu unterminieren? Auch an dieser Stelle notieren wir Desiderate, deren Aufklärung auch der Soziologie nicht gleichgültig sein dürfte. An dieser Stelle ist nicht an den Gegensatz von Ethik und Moral, Teleologie und Deontologie zu denken, sondern an das, was den Anderen „achtungswürdig" macht (Kant), oder was uns eine unhintergehbare Verantwortung fur ihn aufgibt (Levinas). Vgl. R. Rorty, „Menschenrechte, Rationalität und Gefühl", in: St. Shute u. S. Hurley (Hg.), Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt/M. 1996, S. 144-170, hier: S. 156. Kant hat v. a. in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) das, was den Menschen eigentlich zum Menschen macht, gerade nicht „anthropologisch" (als eine „besondere Eigenschaft der menschlichen Natur") begründet. Vgl. I. Kant, WA XI, S. 91, 342, 344. Vgl. E. Dürkheim, Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral, Frankfurt/M. 1991, S. 156.

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Unterschied zu Anderen verstehen sollen (denen man konsequent diese Verwandtschaft absprechen müsste, wollte man sie zum Grund der entscheidenden Differenz machen). Dieser Begriff kann nicht „identitätskonkret" fruchtbar gemacht werden. Die ethische Verwandtschaft kann auch nicht bedeuten, dass alle in eine universale Zugehörigkeit eingeschlossen zu denken sind. Regionale, stets mehr oder weniger beschränkte und exklusive Zugehörigkeiten lassen sich weder aufsummieren noch synthetisieren in einer Zugehörigkeit, die alle Zugehörigkeiten umfassen würde. Wir haben es aber immer mit Zugehörigen oder Unzugehörigen zu tun. Zu Anderen kann man nicht an dieser Dimension der Koexistenz vorbei und unabhängig von ihr ein Verhältnis haben; auch nicht im Zeichen der „Menschheit", ganz gleich, ob wir diese mit Kant und/oder mit Levinas deuten. Man darf Anderen nicht ihre „Menschheit" um den Preis attestieren wollen, dass sie sich in ihrer Identität (und in diesem Sinne in ihrem Verschiedensein von Anderen) nicht respektiert wissen. Eine der ethischen Verwandtschaft der Menschen verpflichtete Differenzsensibilität verlangt deshalb auch nach politischer Differenzsensibilität. 68 Die ethische Verwandtschaft der Menschen kann nur zur Geltung gebracht werden, wenn man sie als die tiefgreifenden Differenzen, welche die Zugehörigen und die Unzugehörigen voneinander trennen, durchquerend denkt, nicht aber, wenn man diese Differenzen ignoriert oder bagatellisiert. Die überzeugendste Weise der Bezeugung des Gedankens der ethischen Verwandtschaft würde darin bestehen, dass man diese Verwandtschaft gerade nicht als lediglich ausgeweitete Zugehörigkeit zum Umkreis der eigenen kulturellen Identität etwa auffasst, sondern sie als Verwandtschaft mit den Fremden als Unzugehörigen zur Geltung bringt. Zwar reduziert sich die ethische Verwandtschaft gewiss nicht auf eine biologische oder ethnische Verwandtschaft. Aber es gibt sie auch nicht abseits von Identität und ethnischer Differenz. Angesichts der tiefgreifenden ethnischen, kulturellen, religiösen und geschichtlichen Gegensätze, welche die Menschen gegeneinander aufbringen, muss sie sich als das bewähren, was selbst verfeindete Gegner trotz allem miteinander „verbindet". Stets begegnet uns ein konkreter, leibhaftiger, verschiedener und auf Achtung seiner Besonderheit bedachter Mensch, kein weltlos-intelligibles Wesen und kein reines Antlitz, dem nicht auch Spuren seiner geschlechtlichen, sozialen oder kulturellen Heterogenität „anzusehen" wären. Gewiss bedeutet jegliche Verleiblichung der Ander(s)heit zugleich die Gefahr, dass man die Differenz des Anderen nur als eine physiognomisch fassbare, am Ende „ras-

In Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht verwendet Levinas selber den Begriff der Sensibilität terminologisch (Kap. III, 1-3). Er wird einerseits ganz und gar von der Nicht-Indifferenz der Verantwortung für den Anderen her gedacht, der Levinas einen leibhaftigen Ort der Anderheit-im-Selben zuschreibt (S. 147 if., 154 ff.). Andererseits aber ist die Sensibilität auf den sozietären Horizont vieler, wenn nicht aller Anderen hin geöffnet. So gesehen ist die Sensibilität einem Widerstreit der ethischen und einer politischen Perspektive überantwortet, die niemals zur Deckung kommen. So kann die Differenzsensibilität nicht allein als fur Differenz „sensibel" erscheinen; sie artikuliert überdies die Sensibilität der ethisch-politischen Differenz, deren Widerstreit sie affiziert (s.u.).

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sisch" klassifizierbare gelten lässt. Und zu beweisen ist nicht, dass der Andere, sei es der uns Nahestehende, sei es der Fremde, niemals in einer transzendenzlosen „Erscheinung" aufgehen kann. Nur eine Kultur, die das praktisch bezeugt, kann uns und diejenigen, die eine ethische Verwandtschaft der Menschen in Abrede stellen, davon überzeugen. Paradoxerweise muss man deshalb die Dimension der ethischen Verwandtschaft, um sie stark zu machen, rückhaltlos dem Spiel der Differenzen aussetzen, das die Identitäten der Menschen gegeneinander ausspielt und suggeriert, nur die ethnische Vergangenheit bestimme, wer unser „Bruder" oder vielmehr unsere „Schwester" ist. Als ganz und gar aus dem Widerfahrnis der Anderheit des Anderen, der jeder andere sein kann, abgeleiteter Begriff fällt die Brüderlichkeit, die Levinas zur Sprache bringt, gewiss nicht mit dem politischen Kampfbegriff zusammen, auf dessen Gefährlichkeit Steven Lukes im Blick auf die zur Zeit beliebte Zuordnung von kollektiver ethnischhistorischer Identität und Zugehörigkeit hinweist, wie sie sich nicht zuletzt auch bei Charles Taylor findet. Lukes fuhrt vor Augen, wie sich eine ethnisch reduzierte Brüderlichkeit auch deuten lässt: „Wir und sie bilden eine Gemeinschaft, die sich vom Rest der Menschheit abhebt, und insbesondere von jenem Teil der Menschheit, die wir und unsere Brüder fiir eine Gefahr halten oder beneiden und mit einem Ressentiment belegt haben. Die Geschichte der Brüderlichkeit während der Französischen Revolution ist sehr aufschlussreich. Es begann mit dem Versprechen universeller Brüderlichkeit; bald schon meinte man damit Patriotismus; und am Ende benutzte man die Idee, um eine kriegerische Einstellung nach außen und die Verfolgung von Feinden im Innern zu rechtfertigen. Der revolutionäre Wahlspruch ,La fraternitö ou la mort' erhielt damit eine neue, unheilvolle Bedeutung, die Gewalt zunächst den Nicht-Brüdern, dann den falschen Brüdern androhte." Bedarf nicht „die Identität eines Kollektivs oder einer Gemeinschaft [...] stets, wie es heißt, eines ,Anderen'"? Verlangt nicht jede Zugehörigkeit explizit oder implizit nach einer „Ausschließungsklausel"? 6 9 Dieser Diagnose ist insofern zuzustimmen, als Zugehörigkeiten und entsprechende Identitäten sich nur im polemogenen Kontrast zu anderen profilieren lassen. Fatale Konsequenzen müsste diese Suggestivfrage aber dann haben, wollte man sie in der Weise beantworten, dass die Dimension der ethischen Verwandtschaft ohne weiteres mit der ethnisch interpretierbaren Dimension von Zugehörigkeit vs. Unzugehörigkeit zusammenfallen müsste. Denn in diesem Fall ginge uns der Andere auch ethisch nur in dem Maße etwas an, wie er uns zugehört. Die ethische Verwandtschaft der Menschen, die Levinas als „Brüderlichkeit" bezeichnet, ginge restlos in der ethnischen Zugehörigkeit auf. Genau dagegen richtet sich der Ansatz einer Politik der „ethischen Differenz". 7 0

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Vgl. St. Lukes, „Fünf Fabeln über Menschenrechte", in: St. Shute u. S. Hurley (Hg.), Die Idee der Menschenrechte, S. 30-52, hier: S. 47 f.

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Vgl. J.-F. Lyotard, „Die Rechte des Anderen", ebd., S. 171-182.

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6.7 Politik und ethische Differenz - Revisionen Diese Politik kann sich (1.) nicht im Respekt vor der andersartigen Identität und Zugehörigkeit Anderer sowie vor deren innerer Heterogenität erschöpfen. (Serben „sind nicht gleich" Serben; jeder hat in unseren Augen das Recht, nicht einfach als einem ethnischen Kollektiv - nach welchen, grundsätzlich zweifelhaften Kriterien auch immer - Zugehöriger indifferent, ohne Ansehen seiner Anderheit, unter eine politische Kategorie subsumiert zu werden.) Diese Politik kann sich (2.) auch nicht mit der Anbahnung einer kommunikativen Interferenz zwischen unterschiedlichen Lebensformen, Ethnien oder Kulturen begnügen, die sie füreinander öffnen möchte. Sie muss über die wuchernden Andersheiten, die sich zwischen den Lebensformen und in ihnen ausbreiten, hinausgehend (3.) der Differenz von Andersheit im Sinne bloßer Verschiedenheit einerseits und im Sinne der Fremdheit andererseits Rechnung tragen; und sie muss über die relative Fremdheit hinausgehend (4.) zur radikalen Differenz des Anderen, jedes Anderen, vordringen, in der, wenn wir Levinas folgen, gerade das liegt, was ihn uns über alle ethnischen Demarkationslinien hinweg als denjenigen anbefiehlt, für den wir angesichts seiner Differenz eine nicht-indifferente Verantwortung tragen. Eine „Politik der Differenz" kann nur im Zeichen radikaler Differenz des Anderen davor bewahrt werden, in ethische Differenzvergessenheit umzuschlagen. Umgekehrt bleibt die Erinnerung an diese Vergessenheit, die uns Levinas einschärft, politisch blind 71 und differenzunempfindlich, wenn sie nicht realisiert, dass die Brüderlichkeit im Sinne ethischer Verwandtschaft nur im Spannungsfeld konfligierender Identitäten wirksam sein kann, durch die sich „Zugehörige" und „Unzugehörige" als einander entgegengesetzt begreifen. Kein „Anderer" tritt j e auf, der als ethisch „Verwandter" nicht auch die Frage der Zugehörigkeit oder der Mitgliedschaft aufwerfen würde. Die „Politik der Differenz" erkennt die Brisanz dieser Frage überall dort, wo man ethnos und demos nur für zwei Seiten ein und derselben politischen Medaille hält und sich mehrere „Ethnien" kaum unter der Gewalt eines Staates „integriert" vorstellen kann. 72 Auf den konkreten Ansatz einer Politik der Differenz, die demgegenüber Fragen der Zugehörigkeit und des Rechtes (ungeachtet ihrer unvermeidlichen faktischen Kontamination) begrifflich auseinander hält, wird die Philosophie radikaler ethischer Differenz um so mehr verwiesen, wie sie zugeben muss, dass der Andere - sei es als „zweite Person", als Du, sei es als Dritter, Unbekannter

Diese Rhetorik sollte nicht zu der Annahme verleiten, eine radikale Ethik könnte dem politischen Denken oder dem Recht angesichts des Anderen zu ungetrübtem Sehen verhelfen. Trotz einer inzwischen verstärkten Auseinandersetzung mit den politischen Implikationen der Philosophie von Levinas ist die Frage weiterhin ungeklärt, wie sich die Behauptung einer radikalen Heterogenität des Ethischen mit einer Inspiration des Politischen im Zeichen des Anderen vereinbaren lässt. Zur analytischen Trennung von ethnos und demos, die aber den Blick auf faktische Kontaminationen nicht verstellen sollte, vgl. R. M. Lepsius, „,Ethnos' oder ,Demos'", in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 247-255, bes. S. 249, 252.

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oder Fremder - stets auch als Zugehöriger oder als Unzugehöriger begegnet. Streng genommen kann es eine Politik im Sinne dieser Ethik überhaupt nicht geben, wenn die Einordnung des Anderen in ggfs. konfligierende, polemogene Formen der (Un)Zugehörigkeit, die seine individuelle und kollektive Identität berühren, nicht mit bedacht wird. Diese Einordnung mag die „Nacktheit des Antlitzes" des Anderen kaschieren; sie verleiht ihr aber auch „Inhalt und Haltung in der Welt", wie Levinas sagt.73 Eine Ethik, die jene Differenzvergessenheit brandmarkt, bedarf, soll sie nicht ihrerseits in politische Differenzblindheit umschlagen, selber des Anhalts im „öffentlichen Erscheinungsraum" des Anderen. So aber, wie man diesen seit der Antike stets ausgehend von der politischen Ordnung der Zugehörigen begrenzt, droht ständig die Gefahr, dass die ethische Verwandtschaft der Menschen, die sich paradoxerweise gerade mit ihrer radikalen Differenz verbindet, in den selektiv-exklusiven Ordnungen der Zugehörigkeit keinen Platz mehr findet. 74 Eine „Politik der Differenz", die der daraus folgenden ethischen Differenzvergessenheit entgegenwirken soll, muss sich von der Trivialisierung der Differenz verabschieden, die in deren Reduktion auf „faktische" Verschiedenheit etwa liegt. Eine Ethik der radikalen Differenz wird jene Politik nur inspirieren können, wenn sie die ethische Verwandtschaft der Menschen, deren Unhintergehbarkeit sie behauptet, rückhaltlos der Politik einschreibt, die man mit der realen oder eingebildeten, vorgefundenen oder propagierten Verschiedenheit der Menschen macht. Diese Verwandtschaft mag keine biologische sein; und sie mag nicht einmal dem „Sein" zu verdanken sein; doch glaube ich nicht, dass sie von „außerhalb des Kontextes der Welt" her einleuchtet, wie Levinas behauptet. 75 Und sie muss in den konkreten sozialen und politischen Verhältnissen der Menschen als diese inspirierend zur Geltung kommen; andernfalls bliebe die Ethik dieser Verwandtschaft ohne politische Perspektive - d.h. selber weit-fremd. Diese Skizze der beschriebenen ethisch-politischen Polarisierung des Differenzbegriffs fuhrt auf mehrere Fragen, deren Auslotung sowohl einer Trivialisierung als auch einer weit-fremden Radikalisierung dieses Begriffs möglicherweise entgegenwirken kann. Macht jene „radikale Differenz" des Anderen einen denkbaren politischen Unterschied? Oder lässt sie sich politisch gar nicht artikulieren?76 Gegenüber einer an sich legitimen Politik der Gleichheit oder der Differenz erinnert Levinas daran, dass paradoxerweise nur radikal Andere, insofern „Unvergleichbare" politisch als Gleiche behandelt werden können. Nur radikal Ungleichen kann politisch Gleichheit zukommen. Wenn die Politik diese „Radikalität" notwendig wenn nicht überhaupt „vergessen", so doch gleichsam „einklam-

E. Levinas, Zwischen uns, Wien, München 1995, S. 203 f. Vgl. dazu im einzelnen v. Verf., „Zwischen aristotelischer und radikaler' Ethik", in: H.-R. Sepp (Hg.), Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München (i.V.). E. Levinas, Zwischen uns, S. 204.

Vor einem allzu „rechtschaffenen" Ton in der Diskussion dieser Frage bewahrt nur eine gegenseitige Infragestellung sowohl einer radikalen Ethik als auch des Begriffs des Politischen; vgl. Th. MacCarthy, Ideale und Illusionen. Dekonstruktion und Rekonstruktion in der kritischen Theorie, Frankfurt/M. 1993, Kap. 4, bes. S. 166 ff.

Ethische Differenzsensibilität vs. Politische Differenzvergessenheit?

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mern" muss, um überhaupt Anderen unter anderen Anderen gerecht werden zu können, statt etwa einen Anderen gegenüber anderen Anderen von vornherein zu privilegieren, lässt sich das Politische dann trotzdem „ im Geiste" jener radikalen Ethik praktizieren? Kann es sich von einer Differenz inspiriert erweisen, der „positiv", im Blick auf komparative Verschiedenheit von Anderen unter Anderen, niemals Rechnung zu tragen ist? Diese Frage lässt sich um so weniger von der Hand weisen, wie anzunehmen ist, dass es auch jene radikale Differenz niemals jenseits konkreter politischer Ordnungen und öffentlicher Erscheinungsräume geben kann. Nur Gleiche, deren politische Gleichheit gerade angesichts ihrer (radikalen) Ander(s)heit anerkannt wird, können im Sinne eben dieser Anerkennung als „Differente" zum Vorschein kommen. So gesehen erfüllt die Anerkennung der Gleichheit von „Anderen" ihren Sinn aber erst dann, wenn man Andere nicht lediglich als komparativ „Verschiedene" gelten lässt, sondern der eigentlichen Radikalität ihrer Anderheit eingedenk bleibt. Fasst man das Verhältnis von Ethik und Politik aber so, dann stellt sich nicht die Frage, wie eine zunächst angesichts der radikalen Differenz Anderer in-differente Gleichheit nachträglich auf eine Anerkennung dieser Differenz verpflichtet zu denken ist und wie umgekehrt diese zunächst a-politisch vorgestellte Differenz im nachhinein vor politischer Welt-Fremdheit zu bewahren ist. Vielmehr zeichnet sich ein Chiasma von Differenz und Gleichheit ab: gerade als radikal Andere sollen die Menschen einander in ihrer Gleichheit achten; gerade als politisch Gleiche sollen sie sich an ihre radikale Differenz erinnern.

6.8 Chiasma und Widerstreit von Ethik und Politik Die sich überkreuzenden Stränge dieses Chiasmas kommen nicht in einem Punkt zur Dekkung. Der Anspruch, Gleichheit „im Zeichen" radikaler Differenz zu praktizieren und diese „im Zeichen" politischer Gleichheit zu verstehen, bedeutet nicht, dass man beidem zugleich gerecht werden könnte. Notgedrungen ver-gleicht eine Politik der Gleichheit, was von sich aus nicht gleich ist. Unweigerlich bringt jene Ethik eine radikalisierte Differenz zur Geltung, die nicht schlechterdings jenseits jeglicher innerweltlichen Differenz, die man vergleichen und gleich machen könnte, „besteht". Die radikale Differenz hebt sich diakritisch - von diesen „vulgären" Differenzen ab, an denen die nicht-indifferente Politik der Gleichheit ansetzen kann. Ebenso - aber gleichsam in umgekehrter Richtung - hebt sich die Gleichheit von einer radikalen Differenz ab, der sie verpflichtet bleibt, wenn die Politik der Gleichheit im Zeichen des Skrupels praktiziert wird, dieser Differenz nicht gerecht zu werden und niemals „positiv" gerecht werden zu können. Wenigstens daran kann uns jene Ethik radikaler Differenz erinnern: dass es einen Unterschied macht, ob uns dieser Skrupel bewegt oder ob wir die Anderheit des Anderen vergleichgültigen, weil wir kein Rezept auszudenken vermögen, mit dem wir ihr Rechnung tragen könnten. Sie widersetzt sich somit einer Politik, die behauptet, es mache keinen Unterschied, was sich im

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Widerstreit und Differenz. Zwischen Ethik und Politik

Rahmen einer Politik der Differenz oder der Gleichheit nicht positiv darstellen lasse. Umgekehrt wird sich die Politik der „Hypostasierung" einer radikalen Differenz widersetzen, wenn man erklärt, allein auf diese komme es an. Worauf es aber ankommt, steht weder allein der Politik noch allein der Ethik zu Gebote. Der Fluchtpunkt der vorangegangenen Überlegungen, die problematische Differenzsensibilität nämlich, die man von beiden Seiten aus fordert und propagiert, markiert genau den Kreuzungspunkt jenes Chiasmas, an dem die radikale Differenz gerade von der politischen Gleichheit her und diese umgekehrt gerade im Zeichen der radikalen Differenz zu verstehen ist. An diesem „Punkt" erweist sich unsere Sensibilität als weder nur ethisch noch nur politisch herausgefordert, vielmehr als dem Ethischen und dem Politischen verpflichtet, in einer Grauzone, einem Zwischen, wo sie gleichsam Aufträge von beiden Seiten empfängt, ohne sie je auf den „gemeinsamen Nenner" eines Dritten bringen zu können, wo der Anspruch des Politischen und der Anspruch des Ethischen völlig zum Ausgleich zu bringen wären. In dieser Zone scheiden und überkreuzen sich die Wege von Ethik und Politik, so aber, dass die eine weder der anderen noch sich selbst je völlig genügen kann. Das mag sie immerhin vor einer fatalen Selbstgerechtigkeit bewahren. So gesehen ist die besagte Differenzsensibilität weit mehr als etwa ein psychologischer Terminus. Sie ist nicht nur der Ort einer Sensibilität für Differenz, sondern auch der Ort der eigentlichen Sensibilität dieser Differenz: Ethik vs. Politik.77 An diesem Ort einerseits dem ethischen Anspruch einer radikalen Differenz des Anderen ausgesetzt zu sein und andererseits der Situierung des Anderen unter anderen Anderen, als Gleichen, Rechnung tragen zu sollen, heißt so gesehen: im Widerstreit zweier inkommensurabler Anforderungen ko-existieren zu müssen, die durch nichts - durch kein objektives Maß, durch keine dem Widerstreit enthobene „Perspektive" und durch keinerlei metabegriffliche Vermittlung zum Ausgleich zu bringen sind. Wir verfügen zwar über politische Begriffe der (distributiven, der sozialen oder moralischen) Gerechtigkeit, die zwischen Zugehörigen oder Mitgliedern eines Gemeinwesens unter Bedingungen der Gleichheit faire Beziehungen garantieren sollen. Aber wir kennen keinen Begriff der Gerechtigkeit etwa, der für sich in Anspruch nehmen könnte, insofern „gerechter" als diese Gerechtigkeit zu sein, als er noch dem Widerstreit gerecht zu werden verspräche, in dem sich die politische Gerechtigkeit angesichts der Verantwortung für den Anderen befindet. Insofern wir als der „Differenzsensibilität" verschriebene Wesen am Ort dieses Widerstreits von Ethik und Politik existieren, sind wir weder nur politisch noch auch ausschließlich ethisch ausgerichtet. Am Punkt jenes Chiasmas treffen sich Ethik und Politik, ohne indessen zusammenzufallen. So ist er weder bloß ethisch noch bloß politisch und nicht durch Ethik und Politik zugleich (durch ihr - unmögliches - Zusammenfallen) markiert. Alles hängt hier davon ab, dass man sich an die Arbeit macht, jene Ansprüche namhaft zu machen. Nehmen wir die Ethik der radikalen Verantwortung Ernst, so ist die Maßgabe der Ansprüche, die aus ihr hervorgehen, der Andere in seiner Sterblichkeit und Verletzbarkeit. Gerade dieser Begriff bedarf der Konkretisierung, soll sich der der ethische Diskurs nicht in einem nicht zuletzt politisch fragwürdigen Pathos der Beschwörung der Anderheit erschöpfen.

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Aus diesem Widerstreit kann man sich nur um den Preis theoretisch herausdefinieren, dass man das Problem der Differenz des Anderen, der jene „Politik der Differenz" und der „Differenzsensibilität" ihren ganzen Sinn verdankt, um das Moment seiner Radikalität, d.h. der Fremdheit verkürzt. Unter dieser Voraussetzung wäre theoretisch gar nicht mehr erkennbar, wie einem (ethischen) Anspruch, der sich einer politischen Reduktion der Differenz widersetzt, indem er ihr widerstreitet, mit Lyotard gesprochen ein „Unrecht" widerfahren kann. Es würde dann genügen, die „Anderen", deren „Differenz" man würdigen möchte, als komparativ, bloß „vergleichsweise" Verschiedene gelten zu lassen. Das Pathos der Differenz erschöpfte sich dann in einer Bilderbuchapologie der Andersheit, in einer Zoologie ethnischer Zugehörigkeiten oder in einem „Artenschutz" fur kulturell oder politisch sich als „anders" Definierende. Selbst diese um jegliche radikale Fremdheit verkürzte „Politik der Differenz" wäre freilich den Widerstreit nicht los, sähe sie sich doch noch immer mit dem „Paradox der Differenz" 78 konfrontiert: trägt sie der Differenz Benachteiligter (etwa ethnischer Minderheiten) bevorzugt Rechnung, um der Benachteiligung entgegenzuwirken, so riskiert sie, dem Prinzip der Gleichheit zuwiderzuhandeln; behandelt sie sie gleich, droht sie die Benachteiligung fortzuschreiben. Das politische Prinzip der Gleichheit und der Anspruch differenter Identitäten auf Anerkennung widerstreiten einander im Lichte dieses Paradoxes auf unaufhebbare Weise, so dass sich vorläufig endgültig kein politisches Gemeinwesen auch nur denken lässt, in dessen institutionalisierte Verfassung nicht Momente der Benachteiligung eingebaut wären, die den konfligierenden lokalen, geschichtlichen, ethnischen, kulturellen Identitäten „Unrecht" widerfahren lassen. Die auffälligste Brisanz politisch-ethischen Widerstreits mag hier liegen: in der allzu leichtfertigen Bereitschaft der Ethnien, ihre Identität exklusiv gegen Andere abzugrenzen; und zwar so, dass ihr WerSein scheinbar keinerlei „Gemeinsamkeit" mit der Existenz Anderer, „Unzugehöriger" mehr erkennen lässt. Die radikalste Brisanz liegt aber in einer Politik, die am Ende nichts anderes mehr als beliebige ethnische und politische Verschiedenheiten, aber keine unaufhebbare Anderheit mehr kennte, der sie noch etwas schuldig wäre. Der naheliegende Einwand, in den gängigen Idiomen lasse sich diese Anderheit und das, was wir ihr angeblich schuldig sind, überhaupt nicht artikulieren - ein Problem, das Levinas, Lyotard und Derrida als die einflussreichsten Denker des Chiasmas von Ethik und Politik nicht verhehlt haben - , könnte allerdings auch so interpretiert werden, dass mit unserem Verständnis des Politischen „etwas nicht stimmt". In diesem Sinne wird denn auch die Forderung laut, die gängigen politischen Idiome mit der Differenzvergessenheit zu konfrontieren, die ihnen zugrunde liegt, wo sie keinerlei Widerstreit zwischen Ethik und Politik erkennen lassen. Zumal die neoaristotelischen Versuche einer Beschlagnahme der Ethik zugunsten einer Ausrichtung des Politischen an einer kollektiven Teleologie des Guten beschreiben nur eine Politik „in der Abwesenheit

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Vgl. M. Minow, Making all the Difference (s.o., Anm. 1).

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des Anderen". 79 Die Ethik nun, die jene Differenzvergessenheit von einer radikalen, nicht aufhebbaren Anderheit des Anderen her kritisiert, sieht sich zwar dem Vorwurf ausgesetzt, sie verlasse auf diese Weise das Feld des Politischen überhaupt; aber sie begegnet diesem Vorwurf mit der Forderung, das Politische anders zu denken, nämlich so, dass es einer unerlassbaren Verantwortung für den Anderen angesichts seiner „radikalen" Differenz „gerecht werden" kann. Wenn es aber einen unaustilgbaren Widerstreit zwischen der Ethik dieser Differenz einerseits und dem Politischen andererseits gibt, so wird die erste Forderung an eine in diesem Verständnis „gerechte" Politik lauten, diesen Widerstreit einzugestehen, das heißt anzuerkennen, dass es eine Gerechtigkeit geben müsste, die „gerechter" wäre als die politische, etwa distributive Gerechtigkeit im engeren Sinne. Diese sich dem Widerstreit von Ethik und Politik stellende Gerechtigkeit erst würde dem Anderen in seiner radikalen Anderheit und den anderen Anderen zugleich gerecht. 80 Aber genau das lässt sich nicht denken. Es gibt kein Drittes, in dem der Widerstreit von Ethik und Politik aufgehoben zu denken wäre. Die Ethik im Zeichen des Anderen mag noch sehr nach unserer Gastlichkeit, d.h. nach unserer Bereitschaft, 81 ihn aufzunehmen, verlangen, und die Politik mag sich noch so sehr der Aufgabe widmen, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen, um sich auf diese Weise ethisch inspiriert zu erweisen: Stets wird die konkrete Realisierung dieser Bedingungen doch gewisse rechtliche Voraussetzungen, Verfahrensregeln und Einschränkungen beinhalten müssen, die Fremden im allgemeinen, aber niemals jedem unvergleichbaren Anderen gerecht werden können. Unvermeidlich wird das Politische der Ethik des Anderen „untreu"; aber es bewahrt auch vor deren Verabsolutierung, die Gefahr läuft, im Zeichen des Anderen alle anderen Anderen zu vergessen. Diese Ethik verlangt „zuviel des Guten" ab. Unter der Devise „Weniger ist besser", könnte man sagen, tritt das Politische als Beschränkung des Ethischen in sein Recht. Derrida spricht gar von einer unumgänglichen Beschränkung einer „ethischen Gewalt", 82 die darin liegen kann, dass man einem Anderen auf Kosten der

80

Eine entsprechende Kritik bringt Levinas gegen alle Vorstellungen von Politik vor, die das ethische Verhältnis zum Anderen ohne Bedenken universalen Regeln unterstellen; vgl. J. Derrida, Adieu. Nachruf auf Emmanuel Levinas, München, Wien 1999, S. 125. Dass sich diese Rekonstruktion des Verhältnisses von Ethik und Politik mit gewissen dekonstruktionistischen Positionen berührt, sei nur am Rande vermerkt. Das Chiasma oder der Widerstreit von Ethik und Politik markiert ebenso Bedingungen ihrer Unmöglichkeit wie ihrer Möglichkeit (s. o.). Letztere hängt gerade davon ab, dass das Ethische seitens des Politischen und dieses seitens des Ethischen eine nicht zu leugnende Beschränkung erfahrt. S. u.

81

In Adieu befasst sich Derrida mit der hier nicht weiter zu verfolgenden Frage, inwieweit die menschliche, ethische „Rezeptivität" selbst bereits als „gastliche" gelten muss, die den Sinn des Ethischen bezeugt. Würde daraus nicht folgen, dass selbst noch die schlimmste Tat, die man dem Anderen antut, im Zeichen dieser auch dem Täter eigenen, von ihm aber verleugneten „Gastlichkeit" zu verstehen sein müsste? (Vgl. ebd., S. 72 f., 115-122.) Das hieße, dass noch der Mord einen vorgängigen „gastlichen" Empfang des Anderen voraussetzte. Ob sich diese Deutung angesichts der einschlägigen, dem widersprechenden geschichtlichen Erfahrung aufrecht erhalten lässt, habe ich an anderer Stelle zu erkunden versucht: GAV, Kap. IV, V.

82

Adieu, S. 52.

Ethische Differenzsensibilität vs. Politische Differenzvergessenheit?

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übrigen gerecht zu werden sucht. Bedeutet der Begriff der Ethik selber, dass uns dies vom Anderen her abverlangt wird, so wohnt ihm von Anfang an wenn nicht Gewalt, so doch eine drohende Gewaltsamkeit inne, der nur das Politische entgegentreten kann, in dem es die radikale Differenz des Anderen als alleinigen Maßstab absetzt und den Vergleich der Unvergleichlichen ins Spiel bringt. Damit widerfährt aber dem Ethischen eine „politische Gewaltsamkeit" bzw., wie Lyotard sagen würde: ein Unrecht. Dieses Wort suggeriert, es könne noch eine quasi-juridische Instanz geben, die das Unrecht, das der Ethik im Zeichen des Anderen durch das Politische und diesem von der Ethik her widerfährt, zum Ausgleich zu bringen vermöchte. Aber gerade die Möglichkeit einer solchen dritten Instanz stellt die Beschreibung des „differenzsensiblen" Verhältnisses von Ethik und Politik als Widerstreit in Frage. Am Ort des Widerstreits von Ethik und Politik situiert, verfügen wir über keinen einheitlichen Maßstab, der ihn aufzuheben vermöchte. Es ist der Ort des Skrupels, dem Anderen niemals politisch und den Anderen niemals ethisch wirklich „gerecht" werden zu können. Die menschenmögliche Gerechtigkeit wird entweder politische Formen annehmen und dann der ethischen Differenzblindheit bezichtigt werden können, oder aber sich ganz und gar der radikalen Anderheit verschreiben und dann vor den anderen Anderen versagen, weil sie uns „zuviel des Guten", ein jedes politische Maß übersteigendes Gutes abverlangt. So gesehen liegt das Gute des Widerstreits von Ethik und Politik gerade darin, beide effektiv daran zu hindern, sich zu verselbständigen - sei es zugunsten einer ethischen Welt- Fremdheit, sei es zugunsten einer politischen Differenzvergessenheit. Als ständige Quelle der Beunruhigung bedeutet der Ort, an dem der Widerstreit von Ethik und Politik zur Austragung kommt, scheinbar etwas Besseres gegenüber allem, was j e bei einer einseitigen Auflösung des Verhältnisses von Ethik und Politik herauskommen könnte. Rückblickend auf Lyotards (implizite) Forderung, „Unrecht soll nicht sein", die wir als „kryptonormativ" bezeichnet haben, können wir auch hier feststellen: es ist scheinbar besser, dass es den Widerstreit von Ethik und Politik gibt, als dass es ihn nicht gäbe. Das heißt: es ist besser, wir erkennen das Unrecht, das dem Ethischen vom Politischen und das diesem von jenem her droht - auch wenn wir nicht sagen können, gemessen an welchem Maß wir hier von einem „Besseren" sprechen. 83 Das Verhältnis von Ethik und Politik wäre keines des Widerstreits, gestattete es einen expliziten Vorgriff auf ein solches Maß. Aber die Existenz dieses Widerstreits bedeutet nicht, dass wir uns mangels eines solchen Maßes mit einer einfachen Alternanz von Ethik und Politik indifferent zufrieden geben könnten. In diesem Falle würde man sich einmal dem Ethischen, dann wieder dem Politischen überlassen und sich achselzuckend oder resigniert mit der Erkenntnis abfinden, dass man konfligierenden ethischen und politischen Ansprüchen ohnehin nicht zugleich gerecht werden kann. Wenn aber das Politische von sich aus auf das „Unrecht" verweist, das es dem Ethischen widerfahren lässt (und umgekehrt), dann ist der Widerstreit von Ethik und Politik kein seinerseits ethisch-

83

Vgl. Kap. 8.

188

Widerstreit und Differenz. Zwischen Ethik und Politik

politisch indifferenter Befund. Für uns, die wir uns am Ort dieses Widerstreits aufhalten, bedeutet er nicht, dass sich der Anspruch des Politischen und der Anspruch des Ethischen egalisieren, neutralisieren oder gegenseitig aufheben; vielmehr bedeutet er, dass das Gefordertsein durch den Anspruch des Politischen von sich aus auf die Herausforderung durch den widerstreitenden Anspruch des Ethischen verweist (und umgekehrt). Der Anspruch des Ethischen ist als in sich durch den widerstreitenden Anspruch des Politischen überfordert zu verstehen. Und der Anspruch des Politischen, der mit der Behandlung Anderer als Gleicher steht und fallt, ist als in sich durch den Anspruch des Ethischen im Zeichen der radikalen Anderheit des Anderen überfordert zu begreifen. Die Verschränkung dieser gegenseitigen Herausforderungen macht auf die Kehrseite jener „Sensibilität" des Verhältnisses von Ethik und Politik aufmerksam. Zwischen der ethisch und politisch geforderten Sensibilität für Differenz, drohender Differenzvergessenheit und politischer Welt-Fremdheit erweist sie sich nicht nur als herausgefordert, sondern als immer schon überfordert, da sie sich dem Widerstreit von Ethik und Politik weder entziehen noch wirklich stellen kann. Die Sensibilität der Differenz von Ethik und Politik liegt so gesehen auch in der „Übersensibilisierung" derer, die sie auszuhalten haben. Die ethisch-politische Differenzsensibilität, die die Sensibilität der Differenz von Ethik und Politik austrägt, beschwört die Gefahr einer Allergie der herausgeforderten Subjekte ebenso herauf wie die Gefahr einer Paralyse durch das Widerstreitende. Was sollen wir tun, wenn ethische und politische Ansprüche uns gleichermaßen bedrängen? Sollen wir uns in eine willkürliche Dezision retten, die mit dem Widerstreit „Schluss macht"? In diesem Falle würde die - unvermeidliche - Gewaltsamkeit, die im Widerstreit von Ethik und Politik begründet liegt, in Gewalttätigkeit umschlagen, die vergleichgültigt, was in der Kollision ethischer und politischer Ansprüche, die uns als solche nicht zur Disposition stehen, von sich aus nicht gleichgültig ist. Die Erinnerung an den zwischen Gewaltsamkeit und Gewalttätigkeit freigegebenen Spielraum ist dagegen wach zu halten. Er zeigt sich uns als dieser Spielraum menschlicher Koexistenz freilich überhaupt nur, wenn diese nicht von vornherein einseitig politisch oder ethisch reduziert verstanden wird. Wenn wir nicht einfach ethisch oder politisch ko-existieren, sondern unumgänglich im Widerstreit von Ethik und Politik leben, und wenn keine praktische Form, die dieses Leben mit und unter Anderen annimmt, diesen Widerstreit im Rückzug auf Bedingungen der Zugehörigkeit oder der Mitgliedschaft einfach eliminieren kann, dann stellen sich „Lebensformen im Widerstreit" von einer neuen Seite dar: Wie auch immer sich Menschen in ihren selektiv-exklusiven Verhältnissen zueinander als Zugehörige oder Mitglieder konkreter Lebensformen verstehen werden, solange wir Lebensformen als praktische Verfasstheit des Lebens mit und unter Anderen84 verstehen, wird der Widerstreit von Ethik und Politik sie unvermeidlich von innen unterwandern und ihnen nicht erst von außen zustoßen. Kein noch so abgeschüttetes kollektives Wir-Bewusstsein kann im Spielraum 84

Dem gemäß wahren „Nächste" die Radikalität ihrer Anderheit nicht weniger als „Fremde". In der Radikalität der Anderheit liegt gerade „etwas", was selbst vom Anspruch des Anderen als des Nächsten etwas irreduzibel Fremdes ausgehen lässt; vgl. J. Derrida, Adieu, S. 92.

Ethische Differenzsensibilität vs. Politische Differenzvergessenheit?

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der eigenen Koexistenz das Chiasma der ethisch-politischen Heraus- und Überforderung völlig zum Verschwinden bringen.

6.9 Zwischen uns Diese Wendung möchte ich abschließend Hannah Arendts Konzepts eines durch keine politische Technik, durch kein poietisches Tun zu bändigenden „Gewebes menschlichen Zusammenlebens" geben, dessen Existenz, wie sie meint, jedem einleuchte, weil es jederzeit das inter-esse der Menschen trage. Dieses Gewebe, dieses „Zwischen" ist für Hannah Arendt das, was die Bezüge bewirkt, „die Menschen miteinander verbinden und zugleich voneinander scheiden". Es ist, als sei die „ungesellige Geselligkeit" (Kant) der Menschen „gleichsam von einem ganz und gar verschiedenen Zwischen durchwachsen und überwuchert, dem Bezugssystem nämlich, das aus den Taten und Worten selbst, aus dem lebendig Handeln und Sprechen entsteht, in dem Menschen sich direkt [...] aneinander richten und sich gegenseitig ansprechen". Dieses Zwischen „ist ungreifbar, da es nicht aus Dinghaftem besteht und sich in keiner Weise verdinglichen oder objektivieren läßt". 85 Der größte, schon bei Piaton, wieder bei Hobbes und noch bei Heidegger zu bemerkende Irrtum der Politischen Philosophie war es, an eine Herstellbarkeit dessen zu glauben, was die Menschen „verbindet". 86 Dieses „Verbindende" kann nicht Gegenstand des (poietischen) Handelns sein. Es wird ständig im Handeln und Sprechen mit „ins Spiel gebracht"; aber es entzieht sich jeder institutionellen oder politischen Regelung. Es fungiert als das Medium, in dem die Menschen sich in bezug aufeinander bewegen, das sie aber nicht durch die Bezugnahme selber herstellen. Beziehungen zu Anderen „aufnehmen" und sie „regeln" kann man nur im Medium einer „Koexistenz", die als nicht-geregelte immer im Spiel sein muss, wo es überhaupt etwas „zu regeln gibt" und nicht alles schon „geregelt" ist. Wo etwa die „pazifizierende" Regelung menschlicher Beziehungen nicht ohne das ungeregelte Zwischen ihrer „Koexistenz" möglich ist, haftet dieser zugleich etwas an-archisch Ereignishaftes an. Das gilt nicht allein für ihr Tun, d.h. für die kairologische Dimension der Praxis, 87 sondern auch für die Regeln selber und für die Bedingungen, unter denen sie sich zueinander verhalten. Im Ereignis des Einander-ansprechens kann sich der Widerstreit im Anspruch des Anderen kundtun, als Gleicher unter anderen Anderen oder als „einziger" zu gelten. Nicht einmal die konsequente Einschränkung des Spielraums menschlicher

85

86

87

Vgl. H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 4 1985, S. 173, sowie Deutung des „Zwischen" bei J.-L. Nancy, „Das gemeinsame Erscheinen", in: J. Vogl (Hg.), meinschaften, Frankfurt/M. 1994, S. 167-207, hier: S. 176, 185, 204. Vita activa, S. 291, 293. Zur entsprechenden Kritik an Heidegger vgl. Ph. Lacoue-Labarthe, Fiktion des Politischen, Stuttgart 1990; K. Harries, „Heidegger as a Political Thinker", in: Murray (Hg.), Heidegger and Modern Philosophy, N e w Haven, London 1978, S. 304-328. Vgl. F. 0 Murchadha, Zeit des Handelns und Möglichkeit der Verwandlung, Würzburg 1999.

die GeDie Μ.

Widerstreit und Differenz. Zwischen Ethik und Politik

190

Koexistenz auf die fragwürdige Vertrautheit von „Bekannten" vermag es auszuschließen, dass inmitten des Erscheinungsraums zwischen ihnen ein aus Zugehörigkeit und Mitgliedschaft ausscherender, fremdartiger Anspruch des Anderen an sie ergeht, der den Widerstreit von Ethik und Politik in seiner ganzen Tragweite aufbrechen lässt. Im Gegensatz zu häufig festzustellenden ethnischen oder kulturalistischen Verengungen der Problematik der Differenzsensibilität und im Gegensatz zu an sich anerkennenswerten Versuchen, sie der politisch-rechtlichen Verfasstheit gesellschaftlicher Koexistenz einzuschreiben, sind wir so gesehen gezwungen, an einer „unverkürzten" Ander(s)heit, d.h. an ihrer als Fremdheit zur Geltung kommenden Radikalität festzuhalten; und zwar auch dann, wenn sie sich als welt-transzendierende und in diesem Sinne als unvermeidlich weit-fremde erweisen sollte. Auch die vermeintlich unüberbietbar differenzsensible Politik der „Einbeziehung des Anderen" muss ihr Ziel verfehlen, wenn sie im Blick auf „normale" gesellschaftliche Verhältnisse und das in ihnen vorherrschende gewöhnliche - um nicht zu sagen vulgäre - Politikverständnis von Anderen lediglich als Verschiedenen zu sprechen wagt. Unter dieser Voraussetzung hat sie von A n f a n g an nur einen normalisierten Begriff von Anderheit, der gängige Münze ist. Wollen wir uns dagegen der in der radikalen Anderheit des Anderen liegenden Fremdheit stellen, so dürfen wir umgekehrt nicht zulassen, dass sich die Diskussion von Lebensformen im Widerstreit des Ethischen und des Politischen unter dem Aspekt der geforderten Differenzsensibilität völlig von den konkreten Erscheinungsräumen und -orten entfernt, an denen uns Andere als Andere begegnen. Auch eine nicht als innerweltliches Vorkommnis zu fassende radikale Anderheit tritt stets nur situiert

auf, um „an Ort und Stelle" den Rahmen des empirisch Gegebenen

zu überschreiten oder zu sprengen. Wer etwa im N a m e n einer radikalen Ethik einen derartigen Rückbezug der „Transzendenz" des Anderen auf ein konkretes, situiertes und temporalisiertes Ereignis der Anderheit nicht denkt, entzieht sich von vornherein der Herausforderung, deren mögliche politische Implikationen in Erwägung zu ziehen. 8 8 Selbst wenn andererseits das Politische nicht einfach geographisch lokalisierbar ist, insofern es sich, wie Hannah Arendt meint, nur „aus dem Miteinanderhandeln und -sprechen ergibt", selbst wenn also der politische Erscheinungsraum „zwischen denen [liegt], die um dieses Miteinander willen zusammenleben, unabhängig davon, wo sie gerade sind", bedarf doch das an sich an keinen „heimatlichen B o d e n " gebundene „Zwischen" der menschlichen Koexistenz einer Situierung, der gemäß sich das Voreinander-erscheinen der Menschen abspielen kann. 8 9 Und zwar auch

Eine Folge davon wäre, dass von Transzendenz des Anderen von vornherein nur „genderblind" die Rede sein könnte. Und begegnet als „Angesicht" des Anderen nicht auch der Henker, der Folterer? Levinas' Philosophie wird von vornherein unzulässig entschärft, wenn emphatisch als „Anderer" nur ein „guter anderer" gelten soll. Gerade eine solche „Selektion" gestattet uns Levinas nicht. Vgl. P. Ricceur, Das Selbst als ein Anderer, S. 407. Zum Zusammenhang von Geschlechtlichkeit und Transzendenz des Anderen vgl. S. Gürtler, Geschlechterverhältnis und Generativität bei Emmanuel Levinas, München (i.V.). 89

Vgl. Vita activa, S. 192.

Ethische Differenzsensibilität vs. Politische Differenzvergessenheit?

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dann noch, wenn der Erscheinungsraum medial auf Distanz gebracht wird. So sehr sich auch die konkreten Bedingungen solcher Situierung nach den Diagnosen de Certeaus, Auges, Sennetts, Caseys und anderer gewandelt haben mögen:90 sie ist die unumgängliche Kehrseite der Transzendenz des Anderen. Wir müssen deshalb im nächsten Schritt auf die wichtigsten Rahmenbedingungen dieser Situierung zu sprechen kommen, durch die sie politisch Gestalt annimmt: die ethnische Zugehörigkeit und die überwiegend rechtlich gefasste Mitgliedschaft im Gemeinwesen. Auch hier werden wir auf die Spur von Phänomenen des Widerstreits stoßen: diesmal nicht zwischen radikaler Ethik des Anderen und Politik, sondern innerhalb des Politischen selbst, innerhalb seiner „Konstitution" als einer Regelung sozialen Zusammenlebens, die mit irreduzibel heterogenen Zugehörigkeiten zu rechnen und sich deren konfligierenden Ansprüchen auf legitime Berücksichtigung zu stellen hat. Diese Heterogenität konfrontiert uns unmittelbar mit dem Verdacht einer strukturellen, dem Politischen selbst innewohnenden Gewaltsamkeit, die sich dem Gedanken einer Aufhebbarkeit des Widerstreits wiederum widersetzt. Die Frage, zu welchem Verhalten uns diese Widersetzlichkeit herausfordert, wird Gegenstand der anschließenden Überlegungen sein.

90

Vgl. das Kap. 2 in Teil I, sowie M. de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988; M. Auge, Orte und Nicht-Orte, Frankfurt/M. 1994.

Kapitel 7 Kulturelle Identität. Zwischen ethnischer Zugehörigkeit und politischer Mitgliedschaft

Die sozial-theoretische und -philosophische Diskussion der letzten Jahre hat die außerordentliche Brisanz unterschiedlicher Zuordnungen zweier Grundbegriffe deutlich gemacht, mit deren Hilfe wir uns Strukturen menschlicher Koexistenz verständlich machen: Zugehörigkeit und Mitgliedschaft. Je nachdem, welche Strukturen menschlicher Koexistenz man ins Auge fasst, wird diese Zuordnung anders ausfallen. Meine folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf das Verhältnis von kultureller bzw. ethnischer Zugehörigkeit und Mitgliedschaft im politischen Gemeinwesen, um eine dem Anschein nach aporetische Problematik herauszustellen, die sich im Brennpunkt der gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die angemessene Zuordnung von Zugehörigkeit und Mitgliedschaft immer deutlicher abzuzeichnen beginnt. Ich möchte diese Problematik vorläufig markieren mit der Frage, ob sich dieses Verhältnis überhaupt als ein nicht in sich gewaltförmiges denken lässt, wenn sich die Mitgliedschaft im demokratischen politischen Gemeinwesen, um ihren praktischen Sinn erfüllen zu können, auf eine kulturelle Zugehörigkeit stützen muss, die prinzipiell im Verdacht steht, Andere, die sich dieser Zugehörigkeit nicht verpflichtet fühlen, auf eine Weise unberücksichtigt zu lassen, zu bevormunden oder gar auszuschließen, die mit deren kulturellem Selbstverständnis konfligiert.

7.1 Das Hobbesianische Erbe Die klassische, von Hobbes begründete Sozialphilosophie war von der methodischen Fiktion ausgegangen, die Menschen seien - „gleichsam wie Pilze - plötzlich aus der Erde hervorgewachsen und erwachsen [...], ohne daß einer dem anderen verpflichtet wäre".1 Dieser Ansatz impliziert gerade keinen grundbegrifflich vorausgesetzten Bezug der Menschen auf eine reale oder ideale Ordnung des Zusammenlebens, wie er etwa im Aristotelischen Begriff des zoon politikon zum Tragen kommt. Während man sich die Menschen zuvor, in der weitgehend ungebrochenen aristotelischen Tradition politischen Denkens, stets von ihrer Zugehörigkeit zu einer solchen Ordnung her gedacht hatte, glaubte Hobbes unter dem Eindruck des Th. Hobbes, Grundzüge der Philosophie, Leipzig 1949, S. 162.

194

Widerstreit und Differenz. Zwischen Ethik und Politik

Bürgerkrieges im England des 17. Jahrhunderts die Gesellschaft als „gleichsam aufgelöst" betrachten zu müssen; er ließ den Menschen nackt, voraussetzungslos und fremd, im Grunde asozial, vor den Anderen treten. Indem er diesen radikalen, scheinbar voraussetzungslosen gedanklichen Ansatz sozialphilosophisch durchexerzierte und konsequent den Menschen als „Element" eines erst zu konstruierenden sozialen Systems zunächst als gänzlich unabhängig von sozialer Koexistenz zu denken versuchte, unterstellte Hobbes, zunächst seien alle Menschen im Sinne der Beziehungslosigkeit einander fremd. Er ließ sie ohne irgendeine ursprüngliche „Sozialität" aufeinander treffen. 2 Hobbes' auf diese Weise nahegelegte Folgerung, nur eine - zwangsweise - staatliche Ordnung könne unter solchen Voraussetzungen eine halbwegs „friedliche Koexistenz" gewährleisten, geriet im 18. Jahrhundert in Konflikt mit „naturgeschichtlichem" Denken, das Formen staatlicher Sozialintegration als Derivate oder Überformungen einer archaischen Sozialität zu verstehen begann. Indem es gleichfalls nicht von einer gegebenen politischen Ordnung des Zusammenlebens der Menschen (polis) ausging, sondern eine genealogische Perspektive wählte, kehrte sich auch das naturgeschichtliche Denken von Aristoteles ab. Im Gegensatz zu Hobbes behielt es aber die Prämisse bei, zunächst nur einander Zugehörige seien - nach Maßgabe einer einfachen Familien- oder Stammesmoral - füreinander eigentlich „Menschen" gewesen; und zwar um den Preis des Ausschlusses anderer, Unzugehöriger. So gesehen erscheinen nicht alle Menschen als füreinander „ontologisch" Fremde, wie bei Hobbes. Als fremd gelten nur die Unzugehörigen, die in den archaischen Kreis einer Gemeinschaft und ihrer „Moral" nicht einbezogen sind. Auf dem Weg zu hochkulturellen Gesellschaftssystemen mediatisiert in dieser Sicht erst im zweiten Schritt eine Staatsmoral verschiedene Familien- und Stammesmoralen und verlangt eine Übertragung der binären Opposition von Zugehörigkeit und Unzugehörigkeit auf das abstraktere politische System und dessen „Umwelt". Im Gegensatz zu Hobbes unterstellt man in dieser Perspektive (a) eine originäre, aber regionale, nicht auf alle Menschen, sondern nur auf den Umkreis der jeweiligen Moral zu beziehende Zugehörigkeit als unhintergehbare Dimension „sozialen" Lebens. Und (b) man nimmt an, dass sich der „Kreis" der Zugehörigen geschichtlich nach und nach erweitert hat. Am Anfang dieser Entwicklung stand demnach die familiale, despotische „Ökonomie"; an ihrem - vorläufigen - Ende steht eine staatliche Sozialintegration, die sich von bloß genealogischer Verwandtschaft als Prinzip der Zugehörigkeit weitestgehend emanzipiert. 3 So entsteht zugleich eine neuartige, nach außen projizierte Unzugehörigkeit derer, 2

Th. Hobbes, Vom Körper, Hamburg 2 1967, S. 77. Zum wissenschaftsgeschichtlichen und politischen Hintergrund vgl. G. Freudenthal, Atom und Individuum im Zeitalter Newtons. Zur Genese der mechanistischen Natur- und Sozialphilosophie, Frankfurt/M. 1982, S. 143; E. Cassirer, Die Philosophie der Außclärung, Tübingen 1973; C. B. MacPherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus [1962], Frankfurt/M. 2 1980, S. 44, 119 f.

3

Als vorläufig wird diese Entwicklung von solchen Autoren betrachtet, die eine universale, weltbürgerliche Zugehörigkeit für möglich halten. Es fragt sich aber, ob nicht eine Zugehörigkeit, die alle Menschen einschließen würde, ihren Widerpart, die Unzugehörigkeit anderer, und damit sich selbst sinnlos machen würde. So argumentiert bspw. R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1992, S. 307.

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Kulturelle Identität. Zwischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft

die den Kriterien der Mitgliedschaft auf der Systemebene nicht entsprechen. Gemäß der Mitgliedschaft zählt man sich aber auch zum gleichen System wie andere, denen man als Angehöriger partikularer Gruppen zugleich nicht zugehört. 4 Das staatliche System integriert nicht bloß einander Zugehörige, sondern gibt in seinem Innern Spielräume heterogener, einander teilweise widerstreitender und zugleich miteinander interferierender Zugehörigkeiten frei. Das Bewusstsein der eigenen Staatsangehörigkeit verlangt in diesem Sinne die Anerkennung relativer innerer Unzugehörigkeit. Relativ fremd sind nicht nur Staatenlose oder alle diejenigen, die einem anderen Staat angehören, sondern auch diejenigen, die sich bei gleicher Staatsangehörigkeit anderen regionalen Zugehörigkeiten verpflichtet wissen. Bis heute ist es allerdings strittig, inwieweit sich die Mitgliedschaft Ordnung von mehr oder weniger erweiterten lokalen Zugehörigkeiten

in einer staatlichen trennen lässt. Muss

nicht die Tatsache, dass die Staatsangehörigen sich ihrer jeweiligen politischen Ordnung „zurechnen", im Sinne einer „nationalen" Zugehörigkeit gedeutet werden, die den Horizont bloß familialer Ökonomien allerdings weit überschreitet? Steht der Begriff der „Nationalität" nicht abgesehen von der bloßen Formalität der Staatsangehörigkeit fur eine Identifikation mit kollektiver Zugehörigkeit zum politischen System? Ist diese vergleichsweise abstrakte, eine Vielzahl regionaler Zugehörigkeiten einschließende nationale Zugehörigkeit nicht am besten vom Vorbild der familialen Ökonomie her zu verstehen? 5 Gewiss ist es von einer archaischen, familialen Ökonomie bis zur nationalen Ordnung unter dem Aspekt der Herrschaft, deren Legitimität sie begründet, ein weiter Weg. Doch ist es 4

5

Vgl. J. Habermas, Kultur und Kritik, Frankfurt/M. 1973, S. 224 f. Im folgenden wird sich allerdings zeigen, dass es sich empfiehlt, die Frage der Mitgliedschaft vom Problem der Zugehörigkeit systematisch zu unterscheiden. Vgl. M. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1998, S. 78 ff., 85, 93. - Die neuere Diskussion um den sog. Kommunitarismus hat demgegenüber gezeigt, welche politischen Konsequenzen zu bedenken sind, wenn etwa ethnos und demos nicht auseinandergehalten werden. Die Frage der Rechte beispielsweise, welche die Staatsangehörigkeit, Probleme der Zuwanderung, der Gewährung von Asyl usw. regeln, erweist sich wie gesagt zwar als unvermeidlich „ethnisch kontaminiert", insofern diese Rechte mehr oder weniger direkt die kulturelle Identität derer berühren, die sie einräumen und zu gewährleisten haben (s. o. Kap. 6). Aber wo diese Rechte Phänomenen wie der Folter, der politischen Verfolgung und der ethnischen Unterdrückung Rechnung tragen, wird doch überdeutlich, dass sie primär einem universalen Gehalt verpflichtet sind, der sich nicht ethnisch reduzieren lässt. Im Einzelfall wird das Recht auf Aufnahme, und d.h. darauf, einem anderen Staat anzugehören, weitestgehend ohne Rücksicht auf eine fremdartige kulturelle Zugehörigkeit dessen gewährt, der Asyl begehrt. Rechtliche Fragen der Mitgliedschaft in einem politischen Gemeinwesen stellen sich hier anders als Fragen der Zugehörigkeit zu einem ethnischen Milieu, obgleich beide Probleme faktisch vielfach miteinander verquickt auftreten. Die durch die Gewährung von Asyl rechtlich ermöglichte Aufnahme des Fremden misslingt, wenn die Hospitalität des Gesetzes nicht durch eine ethnische Gastlichkeit der aufnehmenden Lebensformen unterstützt wird. Und ethnische Grenzen der Gastlichkeit tangieren selbst die Formulierung von Gesetzestexten, die den legitimen, in den Menschenrechten fundierten Ansprüchen „Unzugehöriger" gerecht werden sollen. Trotz dieser tatsächlichen Verquickung von rechtlichen und politischen Fragen mit Problemen ethnischer Differenz und Zugehörigkeit sollten die einen mit den anderen nicht bis zur UnUnterscheidbarkeit begrifflich vermischt werden.

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Widerstreit und Differenz. Zwischen Ethik und Politik

nicht der Sinn einer jeden staatlichen Ordnung, eine - national erweiterte - Zugehörigkeit zu etablieren und auf diesem Wege ein Wir, d.h. eine kollektive Identität zu konstituieren, von der die Unzugehörigen ausgeschlossen bleiben? Kann eine staatliche Ordnung ohne eine gewisse Fundierung in kollektiver nationaler oder wenigstens „verfassungspatriotischer" Identität überhaupt Bestand haben? 6 Lässt sich eine tragfähige staatliche Ordnung überhaupt denken, die sich auf die juridische Dimension der Mitgliedschaft (mit entsprechenden Rechten und Pflichten) beschränkte und die Frage der Identität ganz und gar den vielfältigen regionalen Zugehörigkeiten überließe, die allein uns sagen würden, wer wird sind, oder als wer wir uns verstehen sollen? Ausgehend von der Unterscheidung der Nation als kultureller und genealogischer Abstammungsgemeinschaft einerseits von der Nation als Träger staatlicher Souveränität andererseits nimmt J. Habermas an, dass sich „die republikanische Komponente der Staatsbürgerschaft vollends von der Zugehörigkeit zu einer vorpolitischen, durch Abstammung, geteilte Tradition und gemeinsame Sprache integrierten Gemeinschaft" abgelöst habe. Diese Ablösung wird aber grundsätzlich wieder in Frage gestellt, wenn es stimmt, dass (a) „der rechtlich konstituierte Staatsbürgerstatus angewiesen [bleibt] auf das Entgegenkommen eines konsonanten Hintergrundes von rechtlich nicht erzwingbaren Motiven und Gesinnungen eines am Gemeinwohl orientieren Bürgers"; 7 wenn (b) dieser Hintergrund auf nicht zu entwirrende Weise mit der kulturellen Identität der Betroffenen verflochten ist; und (c) wenn er außerdem jene rechtliche Konstitution selber von Anfang an ethnisch kontaminiert. In der Diskussion dieser Fragen wird denn auch kaum je die These vertreten, das Problem der Staatsangehörigkeit müsse identitäts-indifferent gefasst werden, d.h. die bloße Mitgliedschaft in einer staatlichen Ordnung habe zunächst nichts mit der Identität der Staatsangehörigen zu tun. - Auch Habermas trennt zunächst analytisch die Frage der Mitgliedschaft (im Sinne der Staatsbürgerschaft) von der Frage der Zugehörigkeit nur, um dann doch wieder eine kollektive Zugehörigkeit zu propagieren; eine Zugehörigkeit aber, die sich allein auf eine Identifikation mit der Rechtlichkeit des politischen Gemeinwesens stützen soll. Ob das für „Lebensformen im Widerstreit" genügt, ist freilich die Frage. 8 Tatsächlich spricht

Hegel, der das Vorbild der familialen Ökonomie zurückgewiesen und das Volk weder als vorpolitische Gegebenheit noch als prozeduralen Willen, sondern als sittliche Einheit gedacht hat, hat Recht und kollektive Identität auf eine Weise begrifflich kurzgeschlossen, die heute nicht mehr nachzuvollziehen ist. Vgl. in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Bd. 7 (Hg. E. Moldenhauer, Κ. M. Michel), Frankfurt/M. 1986, § 274, sowie Κ. H. Ilting, „Hegels Auseinandersetzung mit der aristotelischen Politik", in: G. W. F. Hegel, Frühe politische Systeme, (Hg. G. Göhler), Frankfurt/M., Berlin, Wien, 1974, S. 163-195. Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. "1994, S. 641 (=FG). S. u. - Zu der genannten These könnte allerdings die Situation von Staaten verleiten, die - wie beispielsweise die U S A - offenkundig mit einer besonders ausgeprägten ethnisch-kulturellen Heterogenität zurecht kommen müssen. In der anhaltenden Diskussion um das Problem einer „amerikanischen Identität" wird in dieser Heterogenität immer wieder eine Bedrohung gesehen, sofern sie auf einen indifferenten Pluralismus hinauszulaufen scheint, der den Standpunkt nahe legt, die Identität der einen gehe die Identität der anderen im Prinzip nichts an, solange man nicht

Kulturelle Identität. Zwischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft

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vieles für eine enge Beziehung zwischen Mitgliedschaft und Zugehörigkeit. Zum einen waren Kämpfe um die richtigen Definitionen der Mitgliedschaft in der Vergangenheit zweifellos stets identitätsbezogen: Die juridischen Fundamente solcher Definitionen haben sich immer wieder als ethnisch kontaminiert erwiesen. Stets haben sie gewisse Identitäten privilegiert und andere benachteiligt. Zum anderen hat die Mitgliedschaft tatsächlich niemals bloß einen formalen, rechtlichen, sondern stets auch einen eminent praktischen Aspekt: Der praktische Sinn der Mitgliedschaft in einer staatlichen Ordnung, unter deren „Schirmherrschaft" sich heterogene, einander widerstreitende Zugehörigkeiten zu unterschiedlichsten Lebensformen und Identitäten „integriert" finden, ist nur zu erfüllen, wenn die Mitglieder ihre Identität im Sinne einer grundsätzlichen Bejahung dieser „Pluralität" ausrichten. Und diese Bejahung kann als Grundlage des praktischen Umgangs in und mit einander widerstreitenden Lebensformen nicht Sache des Rechts sein. Ohne das Recht als Medium gesellschaftlicher „Integration" gering zu schätzen, muss man doch zögern, ihm eine derart dominante Rolle zuzuschreiben, wie es bei Habermas der Fall ist.9 Die bloße Legalität normen konformen Verhaltens, die das Recht abverlangt, genügt gewiss nicht, um all den Aufgaben gerecht zu werden, die gesellschaftliche Integration, gestützt auf entsprechend motivierte Mitglieder bzw. Zugehörige, soll erfüllen können. Und übernimmt das Recht seine Funktion einer „Ausfallbürgschaft" für den Fall des Versagens nicht-juridischer Integrationsformen nicht grundsätzlich nur nachträglich, d.h. zu spät, wenn der Schaden durch das Versagen dieser Formen bereits eingetreten ist? Muss das Recht, das diesen Schaden nur ausnahmsweise wiedergutmachen und in jedem Fall nur höchst unzureichend kompensieren kann, insofern nicht auf einen ihm gegenüber vorgängigen praktischen Sinn der Mitgliedschaft im politischen Gemeinwesen bauen? 10 Davon scheint gelegentlich auch Habermas auszugehen, wenn er eine „sittliche" Fundierung des Rechts anspricht. Die in der Lebenswelt verwurzelte, eigentümlich subjektlose „demokratische Sittlichkeit", von der das Recht selber zehrt, dem sie ihrerseits aber auch „entgegenkommen" muss, entzieht sich weitgehend rechtlicher Regelung und erweist sich als im ganzen nicht organisierbar. Sie hat insofern einen ausgesprochen anarchischen Charakter."

9 10

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mit dem Gesetz, d.h. mit der rein juridisch gefassten Mitgliedschaft in derselben staatlichen Ordnung in Konflikt kommt. Vgl. W. Sollors, „A Critique of Pure Pluralism", in: S. Bercovitch (Hg.), Reconstructing American Literary History, Cambridge, London 1986, S. 250-279. Zwei verschiedene Aspekte der Indifferenz dieses Pluralismus werden weiter unten unterschieden (s. Teil III). Vgl. FG, S. 50, 662, 667. Zwar greift dieser „Sinn" vielfach dem Recht vor, doch kann er sich als Sinn praktischen Umgangs mit und in Lebensformen im Widerstreit gewiss nicht allein auf juridische Prinzipien stützen. Vgl. FG, S. 641, 434 f., 366.

198

Widerstreit und Differenz. Zwischen Ethik und Politik

7.2 Nationalisierung zwischen Eigen- und Fremdgeschichte Kollisionen zwischen konfligierenden Identitäten sind in modernen Gesellschaften so wenig zu vermeiden wie Interferenzen zwischen den unterschiedlichen Lebensformen, in denen diese Identitäten begründet sind. Insofern verlangt die Erfüllung des praktischen Sinns der Mitgliedschaft in einer politischen Ordnung, die konfligierende Lebensformen und Identitäten zusammenfuhrt, eine Bejahung dieser Vielfalt als Basis des praktischen Umgangs mit Konflikten und Interferenzen. Begründet diese Bejahung so etwas wie eine kollektive, auf die staatliche Ordnung bezogene Identität und insofern kollektive Zugehörigkeit, so kann es sich doch nur um die paradoxe Zugehörigkeit von Menschen handeln, die sich im Lichte ihrer vielfaltigen regionalen, heterogenen Zugehörigkeiten zugleich als relativ Fremde (Unzugehörige) zueinander ins Verhältnis setzen. Davon will freilich die jener These extrem entgegengesetzte Position, der Nationalismus, nichts wissen. Nationalismen trennen Mitgliedschaft und Zugehörigkeit nicht und begnügen sich nicht mit einer vielleicht unvermeidlichen Kontamination, sondern propagieren das essentielle Zusammenfallen beider Dimensionen, so dass es den Anschein hat, als müsse legitime Mitgliedschaft in jedem Fall nur der Ausdruck einer nationalen Zugehörigkeit sein. Gellner definiert in diesem Sinne den Nationalismus als „eine Theorie der politischen Legitimität, der zufolge sich die ethnischen Grenzen nicht mit den politischen überschneiden dürfen".12 Die Brisanz einer solchen Position bedarf in der heutigen Zeit keiner ausführlichen Erläuterung. Gellner zeigt durch einfache Rechenexempel, dass die zu vermutende Zahl von Ethnien grundsätzlich ungleich größer ist als die Zahl von Staaten, welche die Erde äußerstenfalls fassen könnte. Und zur gleichen Zeit können niemals alle Nationalismen befriedigt werden. Zugleich ist die Tatsache mannigfaltiger ethnischer Vermischungen, Diffusionen und Interferenzen unbestreitbar. Daraus folgt, dass eine territorial definierte politische Einheit wie der Nationalstaat nur gewaltsam, d.h. nur dann ethnisch homogen werden kann, wenn sie gegebenenfalls „alle Angehörigen fremder Nationen tötet, vertreibt oder assimiliert".13 Paradoxerweise beginnt die Karriere der modernen Nationalismen gerade zu der Zeit, als die moderne Temporalisierung der Lebensverhältnisse die traditionalen Zugehörigkeiten der arbeitenden Bevölkerungen zunehmend zu fragmentieren, zu befristen oder gar ganz aufzulösen droht.14 Zur gleichen Zeit nimmt die inter-nationale Liquidität der semantischen Gehalte der Kulturen in ungeahntem Ausmaß zu und ruft so wenn nicht zum ersten Mal überhaupt, so doch dramatisch verschärft das Problem des Profils des eigenen Selbstverständnisses vor dem Hintergrund des Fremden auf den Plan. Gerade die inter-nationale Öffnung der kulturellen Grenzen verleitet zur polemischen Grenzziehung, die aber nicht einfach unter Rekurs auf ihrerseits temporalisierte und infolgedessen diffus werdende lokale Identitäten und Zugehörigkeiten begründet werden kann. In diese Lücke stößt der moderne Nationalismus, der eine

13 14

E. Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991, S. 8 f. (=NM). NM, S. 10. NM, S. 42 f.

Kulturelle Identität. Zwischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft

relativ homogene

nationale Zugehörigkeit rhetorisch formiert, die gewisse

199

kulturelle

Versatzstücke der heterogenen, ihrerseits brüchig gewordenen Lebensformen aufgreift, sie aber zugleich in einem höheren Ganzen aufzuheben verspricht. Ironischerweise behauptet die nationalistische Ideologie, „eine alte Volksgesellschaft zu beschützen, während sie doch in Wirklichkeit dazu beiträgt, eine anonyme Massengesellschaft zu schaffen". 15 Tatsächlich lief dieser Prozess auf eine weitgehende Verleugnung der inneren, relativen Unzugehörigkeit derer hinaus, denen man die Würde von Staatsbürgern zuzusprechen gedachte. 16 Im Innern sollte es nur noch Zugehörige geben, die sich demselben Volk zuzurechnen hatten; demselben Volk, dessen „historische" Existenz im Sinne einer ursprünglich mit nichts Fremdem vermischten Eigenheit erst der nationalistischen Rhetorik zu verdanken war. 17 Sie erst erfindet ein genealogisch weit zurückliegendes kollektives Sein, auf dessen Erhaltung und Fortschreibung sie den Staat verpflichtet. In evolutionärer Perspektive ließ sich unter diesen Voraussetzungen ohne weiteres eine „politische Version der Lehre von den natürlichen Arten" bzw. eine „Zoologie der Völker" (H. Arendt) entwickeln, die diese als in sich abgeschlossene, miteinander auf Leben und Tod konkurrierende kollektive Überlebenskörper darstellte. 18 Intern, im Innern des Staates, verschwinden keineswegs alle sozialen Distinktionen und Stratifizierungen der Gesellschaft; aber der Gegensatz zum Fremden, das man im Sinne nationaler Unzugehörigkeit nur noch jenseits

der Grenzen des eigenen politi-

schen Gemeinwesens vermutet, bekommt ein deutliches Übergewicht. Das eigene, nationalstaatliche Sein wird im Sinne einer reinen Eigengeschichte gedeutet, deren Genealogie 15

16

17

18

NM, S. 183, 76 f. Auch B. Anderson betont den Zusammenhang der Formation einer „imaginären" nationalen Einheit, die im Verhältnis zueinander anonyme Zeitgenossen verbinden soll, einerseits mit Temporalisierungsprozessen und sozialer Entwurzelung andererseits; vgl. Die Erfindung der Nation, Frankfurt/M., New York 2 1996, S. 17, 34, 41, 146, 210 f. E. Renan ist die unvermindert aktuelle Überlegung zu verdanken, das an der Konstitution von Nationalität beteiligte Gründungs-Vergessen beseitige in erheblichem Ausmaß das Bewusstsein innerer Verschiedenheit und es schweiße kraft der die Konstitution begleitenden Gewalt die Zugehörigen zusammen. Diesen Zusammenhang hat auch Hannah Arendt im Blick, wenn sie auf das „ursprüngliche Verbrechen" zu sprechen kommt, „auf dem das Gefüge der amerikanischen Gesellschaft beruhte". Wie so oft, so stand auch hier das gegen den „Bruder" verübte Verbrechen am Anfang der (national oder ethnisch limitierten) „Brüderlichkeit": und nichts hält mehr zusammen als das „ständige" Vergessen eines Verbrechens, dessen Erbschaft man antreten muss. Vgl. H. Arendt, Über die Revolution, München, Zürich 4 1994, S. 90; B. Anderson, Die Erfindung der Nation, S. 201,205. Wer das Problem des Nationalismus mit Gellner nur auf den Aspekt der prätendierten Kongruenz von ethnischen und politischen Grenzen bezieht, läuft Gefahr, die nationalistische Vereindeutigung des Ethnischen, die im Innern keine Unzugehörigkeit mehr zu erkennen erlaubt, zu gering zu veranschlagen. Vgl. exemplarisch dazu P. Alter, C.-E. Bärsch, P. Berghoff (Hg.), Die Konstruktion der Nation gegen die Juden, München 1999. „Ohne weiteres" mag eine Übertreibung sein. Schon E. Renan hat bekanntlich auf die Verwechselung von Rasse (im Sinne biologischer Verwandtschaft) und Nation (im Sinne ethnographisch nachzuweisender Verwandtschaft) aufmerksam gemacht und ausdrücklich die Vorstellung zurückgewiesen, die Nation könne eine Art erweiterter „natürlicher" Familie darstellen; vgl. Was ist eine Nation? Und andere politische Schriften, Wien, Bozen 1995, S. 48, 50.

200

Widerstreit und Differenz. Zwischen Ethik und Politik

scheinbar die enge und unverfälschte kulturelle

und Abstammungs-Verwandtschaft

der Zu-

gehörigen beschreibt. 19 Die kulturelle Verwandtschaft und die eigene Abstammung scheinen infolgedessen nur zwei Seiten ein und derselben Medaille zu sein: Die Nation ist, historisch gesehen, eine Art Familie und die geschichtlich-genealogisch begründete Mitgliedschaft in ihr nur ein anderer Ausdruck der quasi naturwüchsigen Zugehörigkeit zu ihr. 20 Aber nur weil diese von sich aus nicht einsichtig ist, bedarf es intensiver rhetorischer Anstrengungen, die bei gleichzeitiger Zurückdrängung realer verwandtschaftlich abgestützter Reproduktionsweisen der Gesellschaft und zunehmender kultureller Drift und Diffusion die Konturen einer kollektiven Identität sich abzeichnen lassen, die nationale Zugehörigkeit und Mitgliedschaft zu zwei Seiten ein und derselben Sache macht. Aber diese Identität ist nichts Ursprüngliches; und sie bringt nicht das Ur-Eigenste eines Volkes zum Vorschein. Sie wird im Gegenteil auf Kosten einer Pluralität lokaler Zugehörigkeiten und Identitäten zur Geltung gebracht. Insofern geschieht im Zeichen des modernen Nationalismus das genaue Gegenteil dessen, was dieser propagiert. „Der Nationalismus steht [...] für die Errichtung einer anonymen, unpersönlichen Gesellschaft aus austauschbaren atomisierten Individuen, die vor allem anderen durch eine [...] gemeinsame Kultur zusammengehalten wird - anstelle der früheren komplexen Struktur lokaler Gruppen, zusammengehalten durch Volkskulturen, die sich lokal

20

„Völkische" und „kulturalistische" Lesarten der Nation liegen hier dicht beieinander. Auch letztere stiftet im nationalen Maßstab angeblich „einen solidarischen Zusammenhang zwischen Personen, die bis dahin [!] Fremde füreinander gewesen sind". Eine entsprechende „kulturelle Integration" fuhrt zu einer „über die angestammten Loyalitäten gegenüber Dorf und Familie, Landschaft und Dynastie hinausgehenden]" kollektiven Identität, die sich bezeichnenderweise durch „präsumtiv gemeinsame Abstammung, Sprache und Geschichte" des eigentümlichen Charakters eines „Volkes" vergewissert. Wird dieser historische Schritt weitgehend affirmiert, wie es bei Habermas der Fall zu sein scheint (der vor allem eine entsprechende postnationale Abstraktionsleistung einer kosmopolitischen Solidarität im Auge hat), dann droht, wie bei Gellner, eine folgenreiche Unterschätzung der weiterhin virulenten inneren Unzugehörigkeit und kultureller Heterogenität hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die Strittigkeit eines nationalen „Wir"Bewusstseins, das auf die Mitgliedschaft im politischen Gemeinwesen abfärbt. Vgl. J. Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt/M. 1998, S. 36, 99 f., 116 f. (=PK). S.o. Anm. 4 und 5. - Mit Recht bemerkt Sollors zur Behauptung einer genealogisch sich legitimierenden Ethnizität: „Ethnicity is not so much an ancient and deep-seated force surviving from the historical past, but rather the modern and modernizing feature of a contrasting strategy [...]. It marks an acquired modern sense of belonging that replaces visible, concrete communities whose kinship symbolism ethnicity may yet mobilize in order to appear more natural." W. Sollors, „Introduction", in: ders. (Hg.), The Invention of Ethnicity, New York, Oxford 1989, S. XI-XX, hier: S. XIV. - Selbst ein so unnachsichtig kosmopolitischer Philosoph wie Husserl, der nicht müde wurde, einer Bekehrung zur universalen Vernunft das Wort zu reden, hat den Begriff des Staates, den er von der Aufgabe der Befriedung des „Zweckwiderstreits (Krieg)" seiner Mitglieder her begriff, sehr weitgehend an den Gedanken einer „natürlichen Abstammungsgemeinschaft" und an den eines „sesshaften Volkes" herangerückt, dem Fremde nur von außen zu begegnen scheinen. Vgl. K. Schuhmann, Husserls Staatsphilosophie, Freiburg, München 1988, S. 76, 90, 118, 134, 161, 179; Husserliana, Den Haag 1950 ff, Bd. XIII, S. 109 f., Bd. XIV, S. 213.

Kulturelle Identität. Zwischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft

201

und nach ihren eigenen Traditionen innerhalb dieser Mikro-Gesellschaften selbst reproduzierten." 21 Die Geschichte pädagogischer Institutionen unterstützt diese Deutung gewiss in wesentlichen Teilen. Unbestreitbar ist die zentrale Bedeutung einer „generalisierten Ausbreitung eines durch das Schulwesen vermittelten und durch Akademien überwachten Idioms, das für die Erfordernisse einigermaßen präziser bürokratischer und technologischer Kommunikationen kodifiziert wird". 22 Kaum bestreiten lässt sich auch, dass die „nationale" Zugehörigkeit eine Zugehörigkeit ganz neuen Typs, nämlich eine Zugehörigkeit von im Verhältnis zueinander weitestgehend anonym bleibenden „Zeitgenossen" darstellt. Aber stimmt es, dass das Auftreten der Moderne nicht nur mit einer „Erosion der vielfältigen kleinen lokalen" Zugehörigkeiten, sondern auch mit deren „Ersetzung durch mobile, anonyme, schriftgestützte, identitätsverleihende Kulturen" einherging? 23 Hat die nationale Zugehörigkeit wirklich alle übrigen, regionalen Zugehörigkeiten aufgezehrt oder in sich aufgehoben? Gellner betrachtet innere „Homogenität, Schriftkunde, Anonymität" als die Schlüsselkennzeichen der nationalisierten Kulturen. Aber sind die nationalisierten Bevölkerungen wirklich „homogen"? Setzen sie sich wirklich aus „atomisierten" Einzelnen zusammen, die untereinander - abgesehen von ihrer national-staatlichen Identität - womöglich nichts verbindet? Und bildet wirklich nur die Identifikation atomisierter Einzelner mit ihrer nationalen Kultur ihre anonyme Zugehörigkeit, ohne dass wenigstens residuale vermittelnde Zugehörigkeiten eine Rolle spielten? 24 Eignen sich „Kulturen" der Art ihres „Verfasstseins" nach überhaupt für jene exklusiven Formierungsprozesse kollektiver Identität, wie es Gellner unterstellt? „Die Ausbildung eines Menschen ist bei weitem seine kostbarste Investition, und im Effekt verleiht sie ihm seine Identität. Der moderne Mensch ist nicht loyal gegenüber einem Monarchen oder einem Land oder einem Glauben, was immer er selbst sagen mag, sondern gegenüber einer Kultur. Der Zustand des Mameluken ist universal geworden. Keine wichtigen Bindungen verknüpfen ihn mit einer Verwandtschaftsgruppe, noch stehen sie zwischen ihm und einer breiten, anonymen Gemeinschaft der Kultur." 25 Mehr noch als diese Annahme erscheint mir Gellners Kulturbegriff als anfechtbar, wie er im Zuge seines Engführung von Staat und Kultur zum Ausdruck kommt. Arbeitet eine solche theoretische Position nicht nationalistischen Prätentionen zu? Verdankt sich nicht gerade dieser Prämisse die zweifelhafte Fügung von Staat und Nation? Wenn Gellner eine Welt be21

E. Gellner, NM, S. 89.

22

Ebd. NM, S. 131, 200 f. Nuancierter argumentiert in diesem Punkt Habermas, der der „kulturalistischen Lesart" der Nation (im Gegensatz zu „völkischen") nicht eine Ersetzung, sondern Überformung von regionalen Zugehörigkeiten durch einen Zusammenhang nationaler „Solidarität" zuschreibt. Jede, auch die heute im Zeichen der europäischen Integration weiterlaufenden Überformungsprozesse, die kulturelle Identität stiften, sollen ausdrücklich „Einheit nur zwischen Heterogenem stiften". Ob gerade das dem klassischen Nationalstaat gelungen ist, wie Habermas an anderer Stelle affirmativ zu unterstellen scheint, kann man freilich bezweifeln. Vgl. J. Habermas, PK, S. 37. PK, S. 59.

23 24

25

Widerstreit und Differenz. Zwischen Ethik und Politik

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schreibt, die „im großen und ganzen - mit geringfügigen Ausnahmen - dem nationalistischen Imperativ gerecht wird: der Übereinstimmung von Kultur und Staatswesen", übernimmt er dann nicht seinerseits eine nationalistische Hypothek? 26 Allzu unbekümmert spricht er von kulturellen Einheiten, die mit politischen (staatlichen) Einheiten scheinbar ohne weiteres zur Deckung kommen können. Aber ist das, was wir Kultur nennen, überhaupt an sich wie ein politisch markiertes, nach außen, gegen andere Kulturen als „Einheit" abgrenzbares Territorium verfasst? Nach außen relativ klar abgrenzbare Kulturen 27 sind in Wahrheit extreme Ausnahmen, die Regel aber „Migrationen und Diffusionen von Kulturerscheinungen", 28 die sich niemals von vornherein eindeutig in „eigene" und „fremde" scheiden lassen. Sie sprechen nicht für die Existenz in sich geschlossener „Kulturwelten", sondern erweisen sich als Spuren einer originären, für die Existenz der Kulturen selber schon konstitutiven Interkulturalität, der keine apriori eindeutige Grenze gezogen ist.29 „Eigene" Kultur zeichnet sich - mehr oder weniger „symbolisch prägnant" 30 - nur im Zuge einer Abgrenzung ab, die indessen nie ganz gelingt. Nur solange die Frage der Abgrenzung virulent bleibt, solange also Eigenes und Fremdes nicht völlig und eindeutig geschieden erscheinen, bleibt das Eigene als solches bedeutsam und nimmt vor den Außen- und Binnenhorizonten des Fremden Gestalt an. Selbst unter Bedingungen hochgradig exklusiver kultureller Abgrenzung „eigener" Kultur bleiben deren Grenzen unvermeidlich permeabel. Eine Kultur mag sich noch so sehr abschotten, zumindest der eigentümlichen Liquidität ihrer semantischen Gehalte wird sie niemals Herr. 31 Kulturelles Wissen kann sich von seiner raumzeitlichen Situierung in kulturellen Lebensformen weitgehend lösen und unter Bedingungen einer Diaspora - sei es bloß geduldet, sei es auf parasitäre Weise oder im Zuge einer Hybridisierung oder Amalgamierung mit Elementen einer Gastkultur - in der Fremde überleben. Es kann mit Elementen fremder Kulturen verschmelzen und in diesen derart aufgehen, dass sich nachträglich nur noch mühsam die Spuren seiner Herkunft entziffern lassen. Gellner sind solche Überlegungen freilich keineswegs fremd. Ausdrücklich zieht er in Erwägung, dass im Zuge dessen, was man heute allzu pauschal als Globalisierung bezeichnet, semantische Inhalte zunächst „kulturell bedingten" Tuns und Denkens „universal werden" könnten, mehr noch, dass „interkulturelle und intersprachliche Unterschiede zu bloß phonetischen Differenzen degenerieren könnten". Durch „nationalistische Schranken" wären 26 27

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30

31

Vgl. PK, S. 178, 164. Vgl. M. Fuchs u. E. Berg, „Phänomenologie der Differenz", in: dies. (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt/M. 1993, S. 11-108, hier: S. 34. A. Bühler, „Über die Verwertbarkeit völkerkundlicher Sammlungen fur kulturhistorische Forschungen", in: C. A. Schmitz (Hg.), Kultur, Frankfurt/M. 1963, S. 32. Vgl. J. Clifford, „Über ethnographische Autorität", in: E. Berg u. M. Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text, S. 109-157, hier: S. 142. Vgl. J. M. Krois, „Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen", in: H.-J. Braun, H. Holzey, E. W. Orth (Hg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1988, S. 15-44, hier: S. 23. Vgl. J. Habermas, Nachmetaphysisches

Denken, Frankfurt/M. 1988, S. 98 ff.

Kulturelle Identität. Zwischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft

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dann „interkulturelle Freundschaft und Internationalismus" nicht mehr zu behindern. 32 Eine solche Vision für (schlechte) Utopie zu halten, bedeutet freilich nicht, zur entgegengesetzten These einer weitgehenden, für immer festzuschreibenden Kongruenz von Staat und Kultur übergehen zu müssen, die den Befund affirmiert, dass der Staat mancherorts „die legitime Kultur fast ebenso sehr [monopolisiert] wie die legitime Gewalt". 33 Loblieder auf multikulturelle Gesellschaften sind allerdings noch kein Argument gegen Gellners Fusion von Staat und Kultur. Und es genügt nicht, einer solchen Fusion nur eine allgemeine kulturelle Heterogenität entgegenzusetzen (die womöglich über einen indifferenten Pluralismus nicht hinauskommt, in dem sich einander widerstreitende Lebensformen bestenfalls mit gegenseitiger Gleichgültigkeit begegnen). Entscheidend ist vielmehr die Frage, wie diese Heterogenität zu denken ist, wenn sie nicht auf einen indifferenten Pluralismus hinauslaufen soll. Fraglich ist darüber hinaus, inwiefern ein nicht-indifferenter kultureller Pluralismus und heterogene kulturelle Zugehörigkeiten, die konfligierende Identitäten begründen, Grundlage einer kollektiven Identität sein können, die angeblich den Sinn des staatlich geordneten Lebens zu tragen vermag. Eine solche Identität kann sich ihrerseits zu jenen Identitäten nicht indifferent verhalten; sie muss sie bejahen, insofern sie nur in deren unaufhebbarem Widerstreit vermitteln kann. - Vorausgesetzt, die „Erfüllung" des Sinns der Mitgliedschaft in einem staatlichen Gemeinwesen erschöpft sich nicht in einer bloß juridisch gefassten Staatsangehörigkeit, sondern bedarf einer gewissen Verankerung in kultureller Zugehörigkeit, wie lässt sich dieser Zusammenhang dann denken, wenn die kulturelle Zugehörigkeit nicht vom Staat monopolisiert werden kann und wenn sie - in grundsätzlich zu bejahender Weise - irreduzibel heterogen verfasst zu verstehen ist? Auf diese Problemstellung wird nach einem Exkurs zum Begriff kultureller Zugehörigkeit noch einmal zurückzukommen sein.

7.3 Zwischen „Wir" und „Man" Mit Recht unterstreicht Gellner die Anonymität kultureller Zugehörigkeit. Wer sich einer bestimmten Kultur zugehörig fühlt, weiß wie gesagt um anonyme andere, denen dieselbe Zugehörigkeit zu unterstellen ist. Im Gegensatz zu interpersonellen Lebensformen, die im Modus teilnehmender Zugehörigkeit einen unmittelbar praktischen Sinn haben, der in konkreter Fürsorge, übernommener Verantwortung oder in loyalem Verhalten zu sichtbarem Ausdruck gelangt und auf diese Weise das „Mitsein" der beteiligten Subjekte durchzieht, reicht kulturelle Zugehörigkeit weit über face-to-face-Beziehungen hinaus und realisiert sich vielfach in vermitteiteren Formen der Teilnahme.34 Auch vermitteiteren For32 33 34

E. Gellner, NM, S. 173 f. NM, S. 203. Zu den Befunden einer Phänomenologie der Anonymität, die den epistemischen Aspekt der Enkulturation im Modus des Wissens ebenso berücksichtigt wie dessen Fundierung in einer Onto-

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men kultureller Zugehörigkeit ist aber eine ontologische Dimension nicht abzusprechen: auch sie erfassen das Sein der Zugehörigen, und nicht nur ihr kulturelles Wissen und Selbstverständnis. In dieser „ontologischen" Hinsicht unterscheidet sich Zugehörigkeit von weitgehend reversibler Mitgliedschaft. 3 5 Aus einer Gruppe, aus einem Verband oder Verein, wo man in der Regel durch eine mündliche oder schriftliche Erklärung, durch einen Akt oder eine Zeremonie Mitglied geworden ist, kann man im Prinzip wieder austreten. Selbst einer Kirche, die Anspruch auf lebenslange Loyalität erhebt, kann man durch eine einfache Willenserklärung die Gefolgschaft aufkündigen. Anders verhält es sich bereits mit der Religiosität, in deren Atmosphäre ein Kind groß geworden ist. Sie durchdringt vielfach im Laufe von Jahren das Sein des Einzelnen, sein Verhalten zur Welt, zu den Anderen und zu sich selbst in derart intimer Weise, dass es ausgeschlossen scheint, diese „ontologische" Prägung wieder rückgängig zu machen - und sei es auch durch einen Akt der Konversion, der gleichsam auf einen Schlag aus einem Selbst einen Anderen machen zu können scheint. Je radikaler und programmatischer eine Selbst-Wahl, die der Vergangenheit den Garaus machen soll, desto listiger sucht diese sich oft ihre Bahn, um die versuchte Selbst-Erfindung durch ein unvermutetes Sichwiederfinden zu konterkarieren. Es mag sein, dass man sich α posteriori eine neue Vergangenheit geben kann, die man gehabt haben möchte (Nietzsche); am eigenen „Gewesensein" als dem ontologischen Gewicht der Zeit, die man durchlebt hat, kann man doch nichts ändern. Mitnichten soll auf diese Weise die eigene Vergangenheit in einem starren, unveränderlichen Sosein einzementiert gedacht werden: Die geschichtliche Bedeutung des Vergangenen steht stets noch dahin - selbst über den Tod hinaus. Und wir kennen Prozesse retrograder Umgestaltung des Vergangenen, durch die es einen neuartigen Sinn annimmt, so dass es gerechtfertigt erscheint, von einer Neu-Vergangenheit zu sprechen. 3 6 Doch solche Prozesse sind als Formen der C/mgestaltung der Bedeutung des Gewesenen zu verstehen, nicht als retrograde Erfindungen, denen kein ontologisches Gewicht als Widerlager diente. Es gilt, gerade die zirkuläre Bewegung zwischen Gewesensein und nachkommender Umdeutung der Vergangenheit, zwischen Sein und Sinn zu verstehen. 37 Wenn die eigene Vergangenheit kein Text ist, den man nach Belieben nachträglich retouchieren kann, dann vor allem deshalb, weil sie uns im ontologischen Modus der Gewesenheit ausmacht. Gewiss sind die Grenzen zwischen Mitgliedschaft und Zugehörigkeit in diesem Sinne fließend. Beide Begriffe markieren hinsichtlich dieses Modus nur einen polaren Gegensatz. Und die Umgangssprache trennt nicht scharf zwischen Mitgliedschaft und Zugehörigkeit. 3 8 Deshalb empfiehlt es

35 36 37 38

logie des Mitseins, vgl. P. Ricceur, Zeit und Erzählung I, München 1988, bes. S. 271 ff., 288 ff., 295 ff. Hierbei kann es sich freilich nicht um einen absoluten Gegensatz handeln; s.u. Vgl. v. Verf., Geschichte im Zeichen des Abschieds, München 1996, Teil I. Vgl. J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, Hamburg 1992, S. 856 ff. Man begreift sich als Anderen im Sinne „zweiter Personen" zugehörig, während man eher formalen, unpersönlichen Organisation bspw. nur angehört, die weitgehend anonyme Verhältnisse zu

Kulturelle Identität. Zwischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft

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sich, den zweiten Begriff terminologisch als Inbegriff der Prägung unseres Seins durch das Leben mit und unter Anderen zu fassen. Eine solche Prägung liegt freilich niemals ohne irgendeine kollektive Repräsentation vor, in der dieses Sein - wie fragmentiert, verzerrt, einseitig oder „ideologisch" deformiert auch immer - thematisch wird. Solche Repräsentationen bringen ontologische Strukturen des Mitseins, Formen sozialen Lebens zur Sprache, welche die mehr oder weniger abstrakte Vorstellung eines abgegrenzten „Wir" implizieren. Ungeachtet aller Versuche, unter Stichworten wie Brüderlichkeit, Verantwortung oder Gerechtigkeit im Sinne der „Menschheit" etwas zu denken, was alle Menschen ohne Rücksicht auf ihre Identität und über alle politischen und ethnischen Demarkationslinien hinweg miteinander „verbindet", gibt es Zugehörigkeit sowie konkretes Mitsein nach Maßgabe von Lebensformen, an denen man teilhat, nur im Plural. Alle Menschen mögen biologisch oder ethisch miteinander verwandt sein; doch gehören sie nicht auch alle einander zu.39 Zwar gehört fast niemand nur einer Lebensform zu; Lebensformen überschneiden sich vielfach. Stets aber impliziert Zugehörigkeit ein selektiv-exklusives Wir, von dem Andere mehr oder weniger strikt ausgeschlossen bleiben - und sei es nur in der Weise der Nichteinbeziehung, der Nichtberücksichtigung oder schlicht des Nichtwahrgenommenwerdens. In kollektiven Repräsentationen spiegelt sich ein Wir-Bezug im Sinne kollektiver Koexistenz, an der niemals alle Menschen teilhaben bzw. teilnehmen. Das Wir profiliert sich vor dem Hintergrund des Nicht-Wir, dessen Umkreis über kolaterale Gemeinschaften bis hin zu anonymen Zeitgenossen reicht, die keiner mehr dem Namen nach kennt. Auch wenn das Wir symbolisch prägnant zur Sprache kommt, bleibt der Hintergrund des NichtWir aber vielfach unthematisch; bei Bedarf tritt zwar ein konkurrierendes, ein feindliches Wir oder der Bezug auf „freundschaftlich koexistierende" Lebensformen aus ihm heraus. Auch hier regieren aber Gesetze der Perspektivierung: Der Hintergrund des Nicht-Wir kann als Hintergrund unterschiedlichster Koexistenz-Beziehungen fungieren; aber er kann niemals selber „Gestalt annehmen". Das Nicht-Wir betrifft zunächst den Außenhorizont des Wir; nimmt dieses aber vermittels symbolischer Prägnanz oder kollektiver Repräsentationen Gestalt an, kommt es gleichwohl niemals rein als es selbst zur Sprache, denn die Lebensform, der in kollektiven Repräsentationen Ausdruck verliehen wird, realisiert sich zunächst praktisch im Modus der Anonymität: man lebt so. Das Subjekt dieses Lebens ist zunächst niemand. Man lebt „mit", so wie man mitspielt in Sprachspielen, deren Regeln man vielfach beherrscht, ohne sie explizit formulieren zu können. Begriffe wie Habitus, hexis, knowing how oder tacit knowledge benennen in verschiedenen Hinsichten das, was man als die unbewusste, informelle Logik der Teilnahme an Lebensformen bezeichnen Anderen implizieren. Hier lässt sich aber keine eindeutige Grenze ziehen. Von Zugehörigkeit spricht man auch im Blick auf anonyme Systeme, um den Aspekt der in der Regel bejahenden Identifikation mit ihnen zum Ausdruck zu bringen. Und umgekehrt gelten gerade Verwandte als „Angehörige". Auch hier kommt wie bereits in Kap. 6 der systematische Unterschied von Zugehörigkeit und sei es biologischer, sei es nicht-biologischer, ethischer Verwandtschaft zum Tragen.

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Widerstreit und Differenz. Zwischen Ethik und Politik

könnte. Der unbewusste oder vorbewusste Modus dieser anonymen Logik, durch die sich praktisch zeigt, wer dazugehört, indem er ihr folgt, kann so wenig unvermittelt zu Bewusstsein gebracht werden wie unser Sein, das uns im Modus der Gewesenheit ausmacht. Auf die gemäß der Regeln dieser Logik praktisch verkörperte Wirklichkeit eines Wir, einer Gruppe, einer Ethnie, die ethnologischer Beobachtung unterzogen werden kann, ist von Repräsentationen aus, die kollektives Selbstverständnis zur Sprache bringen, nur unter Vorbehalten rückzuschließen. 40 Das gilt um so mehr, wie dieses Selbstverständnis in sich umstritten ist, so dass stets eine polemogene Differenz im Spiel ist, die fragen lässt, wer es für oder anstelle anderer zum Ausdruck bringt. Kein einzelner, der das Wir „in Person" zu repräsentieren vorgibt oder sich kollektiver Repräsentationen bedient, derer sich alle ohne Unterschied zu bedienen scheinen, ist das Wir. Ein Wir gibt es nur im Plural. Das ausgesagte Wir wird stets angefochten von der Singularität der es aussagenden Subjekte. Und der Akt des Sagens kommt niemals mit dem Aussagegehalt des Gesagten zur Deckung. 41 Unterscheiden wir also die „operativen" oder fungierenden Aspekte der Zugehörigkeit, 42 die den Modus der praktischen Teilnahme am kulturellen Leben betreffen, vom epistemischen Modus der Repräsentation dieses Lebens. Dem Modus der teilnehmenden Zugehörigkeit sprechen wir mit Ricceur eine ontologische Qualität zu, insofern er dem Bewusstsein vorausliegt, das die Zugehörigen von ihm haben. Gewiss muss der Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit und der praktischen Ausrichtung des eigenen Lebens „als solcher anerkannt, also erfahren und ausgesprochen werden können; doch dieses Anerkennen ist in dem Zusammenhang selbst fundiert, den es zur Sprache bringt. Man muss die ontologische Vorgängigkeit der Zugehörigkeit und die Rolle der symbolischen Vermittlungen - Normen, Bräuche, Riten usw. die für das Anerkennen zeugen, gleich stark betonen. Es folgt daraus, daß weder die Bewusstseinsgrade noch die Modalitäten des Bewußtwerdens für diesen Zusammenhang konstitutiv sind. [...] Die Zugehörigkeit kann mit großer Gefühlsintensität erfahren werden wie beim Patriotismus, dem Klassenbewusstsein oder dem Lokalpatriotismus; sie kann jedoch auch vergessen, vernachlässigt,

Vgl. P. Bourdieus Ausführungen zur symbolischen und praktischen Realität kollektiver Repräsentationen von Verwandtschaft in: Sozialer Sinn, Frankfurt/M. 1993. Vgl. B. Waidenfels, Der Stachel des Fremden, Frankfurt/M. 1990, S. 149. Die hier angelegte Strittigkeit der Repräsentation muss ebenso wie das weiter oben bereits angesprochene Missverhältnis zwischen Sein und Repräsentation als konstitutiv für Lebensformen gelten. Es wäre abwegig, in einer Realität der Koexistenz eine der Strittigkeit entzogene Basis der Repräsentation suchen zu wollen. „Fungierend" stellt hier den Gegensatz zu „thematisch" dar. Selbstverständlich kann auch kulturelles Wissen, das im Sinne „interpretierender Operatoren" in der gelebten Erfahrung selber vorgibt, als was etwas zu erfahren ist, „fungieren". Insofern ist die Rede von einem epistemischen Modus nicht der Rede von einem fungierenden Modus der Zugehörigkeit entgegengesetzt. Von „operativen" Aspekten der Zugehörigkeit ist hier die Rede, um deren praktische Handlungs- oder Verhaltensbedeutsamkeit hervorzuheben, die vielfach, aber nicht grundsätzlich, unthematisch bleibt.

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verheimlicht, j a heftig verleugnet werden, wie es bei denen der Fall ist, die die Gesellschaft als Renegaten oder Verräter betrachtet, oder bei denen, die sich selbst als Dissidenten, Exilierte oder Gesetzlose betrachten. Es kann dann die Aufgabe einer Ideologiekritik sein, ihre heimliche Gefolgschaft aufzudecken; diese Kritik setzt jedoch wiederum die Vorgängigkeit der Zugehörigkeit gegenüber dem Bewusstsein (und der Möglichkeit, sie bewußt zu machen) voraus." 43

7.4 Politik der Identität Die Zugehörigkeit wird durch ein Wir-Sagen, das sich kollektiver Repräsentationen bedient, nicht einfach widergespiegelt; an ihr wird immerfort gearbeitet, um die polemogene innere Spannung auszutragen, die schon dadurch gegeben ist, dass niemand, der „wir" sagt und ein Wir in Anspruch nimmt, mit ihm zusammenfallen kann. Die Brisanz dieser Spannung tritt dann zu Tage, wenn auf dem Spiel steht, als wer man sich verstehen will, d.h. wenn die Identität der - im Horizont kultureller Koexistenz stets mehr oder weniger anonym bleibenden - Zugehörigen berührt ist. Wer wir sind oder als wer wir uns im Lichte unserer Zugehörigkeit zum kulturellen Leben mit anderen verstehen möchten, wollen wir uns nicht von denjenigen vorsagen und vorschreiben lassen, die nicht selten so bedenkenlos fur oder anstelle aller ihnen nicht bekannten Zugehörigen sprechen, dass es den Anschein haben kann, als spreche sich ein kollektives Sein unvermittelt, aber im Namen aller autorisiert, durch ihre Rede aus. Die hiermit angeschnittene Frage der Legitimität des Wir-Sagens verschärft sich weiter in dem Maße, wie es nicht bloß ein solches Sein zum Ausdruck zu bringen beansprucht, sondern auf mehr oder weniger subtile Weise normativen Charakter annimmt - sei es unter Berufung auf Selbstverständlichkeiten, auf den common sense, auf eingespielte Regeln, sei es auf eine „Moral" des Zusammenlebens, auf Überzeugungen oder auf das, was man „glauben muß, um dazuzugehören" (Geertz). 44

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Vgl. P. Ricoeur, Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 295 f. - Zu beachten ist, dass in der deutschen Übersetzung abwechselnd von einer Vorgängigkeit und von einer Vorrangigkeit der Zugehörigkeit im Verhältnis zum Bewusstsein, das sie realisiert, die Rede ist. Gerade die Vorrangigkeit ist aber zu bestreiten. Vgl. C. Geertz, Dichte Beschreibung, Frankfurt/M. 1983, S. 17. In der Tat sind, worauf J. Habermas hinweist, die präreflexiven, fungierenden Momente kulturellen „Hintergrundwissens", ohne die es keine praktische Zugehörigkeit geben kann, auf letztlich unentflechtbare Weise vermischt mit Überzeugungen, die Gegenstand diskursiver Auseinandersetzung werden können. Die Überzeugungen wiederum erscheinen „legiert [...] mit dem Sich-Verlassen auf etwas, dem Angemutet-Sein von etwas, dem Sich-Verstehen auf etwas. Die miteinander verzahnten Hintergrundannahmen, Verlässlichkeiten und Vertrautheiten, Gestimmtheiten und Fertigkeiten" sind aber nicht bloß pra-reflexive Vorformen dessen, worüber man sich diskursiv verständigen kann. Ihr eigentümliches Fungieren kann grundsätzlich nicht völlig im Modus der Thematisierung zur Sprache kommen, insofern jede Thematisierung dessen, was diskursiv „zur Sprache kommt", auf

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Widerstreit und Differenz. Zwischen Ethik und Politik

Hier geht die Repräsentation kollektiver Zugehörigkeit nahtlos in eine Politik der Identität5 über, deren Leitdifferenz zwar der äußere Gegensatz des Eigenen (der Zugehörigen) zum Fremden (der Unzugehörigen) ist, die aber in Wahrheit stets auch Fragen der inneren Unzugehörigkeit und damit der inneren Fremdheit aufwirft, wenn sich eine angemaßte Rhetorik des Wir-Sagens rücksichtslos über jene polemogenen Spannungen hinwegsetzt, die sich in Fragen wie diesen zuspitzen lassen: „Wer ist - angeblich - das Wir?" „Wer darf beanspruchen, es zu repräsentieren?" „In wessen Namen und mit welchem , Recht' glaubt einer für alle und anstelle anderer sprechen zu müssen oder zu dürfen?" 46 Es ist offenkundig, dass diese Legitimitäts-Fragen umso dringlicher werden, je heterogener und anonymer der kulturelle Horizont sich darstellt, in dem vermittels des Wir-Sagens unaufhörlich an der Gestaltung einer unvermeidlich „abstrakten" Zugehörigkeit im Sinne kollektiver Identität gearbeitet wird. 47 Wo der kulturelle Horizont heterogene Lebensformen und deren praktischen Widerstreit einschließt, wirft unvermeidlich jedes WirSagen die Frage auf, ob, inwiefern und mit welchem - juristisch nicht fassbaren - „Recht" manche für oder anstelle anderer glauben (im deskriptiven und/oder normativen Sinne) bestimmen zu können, als wer man sich im Sinne der Zugehörigkeit zum kulturellen Horizont verstehen soll. Ihre deutlichste Zuspitzung erfahren jene Legitimitäts-Fragen dann, wenn sich eine Politik der kulturellen Identität gewisser Strategien wie der Essentialisierung, der genealogischen Ursprungs-Begründung und der Nationalisierung bedient und den für die Zugehörigkeit konstitutiven Gegensatz zu den Unzugehörigen zu Unvereinbarkeiten in einer Weise hochstilisiert, die (a) die Wahrnehmung und Anerkennung innerer Unzugehörigkeit nicht mehr zulässt, (b) die kollektive Zugehörigkeit homogenisiert und territorialisiert, so dass eine scheinbar mit nichts Fremden mehr vermischte ethnische Zugehörigkeit zugleich (c) ein politisches Monopol geltend macht, welches eine Kongruenz ethnischer und politischer, speziell staatlicher Grenzen verlangt. In einem solchen Fall

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das unthematische Fungieren des Hintergrunds angewiesen bleibt, vor dem das Sagbare Gestalt annimmt. Darin liegt eine niemals versiegende Quelle von „hintergründigem" Widerstreit, der sich in kognitiven Widersprüchen nicht auflösen lässt. Vgl. J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, S. 93. Vgl. den Beitrag des Herausgebers in: C. Calhoun (Hg.), Social Theory and the Politics of Identity, Cambridge, Mass., 1994. Vgl. D. A. Hollinger, „How wide the Circle o f the ,We'? American Intellectuals and the Problem of the Ethnos since World War II", in: The American Historical Review 98 (1993), S. 317-337, hier: S. 329, 336; H. Bhabha, The Location of Culture, London, N e w York 1994, S. 68, 131 ff. Die angedeuteten kritischen Überlegungen wären mit Nachdruck gerade auf Autoren zu beziehen, die im Namen kollektiver Identitäten politische Rechte einfordern und dabei die internen Probleme des Wir-Sagens unterschlagen; vgl. exemplarisch Ch. Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/M. 1997, beispielsweise S. 23. Taylor, der sich gegen eine ethnische Differenzblindheit universalistischer Positionen wendet (ebd., S. 33 f.), behandelt seinerseits kulturelle Differenzen im Sinne von (kollektiven) Identitäten, die die Menschen „haben", gelegentlich als etwas scheinbar ontisch Vorhandenes. Vgl. R. Williams, Innovationen. Über den Prozeßcharakter von Literatur und Kunst, Frankfurt/M. 1977, S. 77.

Kulturelle Identität. Zwischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft

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maßt sich eine partikulare Wir-Rhetorik nicht nur die Bestimmung einer Identität an, die fur alle gültig sein soll, die unter dem Dach eines Staates leben; sie reklamiert darüber hinaus diese Identität als die einzig legitime Grundlage der Mitgliedschaft bzw. der Staatsangehörigkeit. Die Frage, die ich im folgenden, wieder anknüpfend an die Überlegungen des ersten Teils, aufwerfen möchte, lautet, inwieweit es möglich ist, diesen Gefahren zu begegnen, wenn man davon ausgeht, dass die Erfüllung des praktischen Sinns der Mitgliedschaft im politischen Gemeinwesen ohne eine Grundlage in der kulturellen Identität derer, die sich ihm zugehörig fühlen, nicht auskommt. Ist es unter dieser Voraussetzung unvermeidlich, dass eine partikulare Identität die innere, relative Unzugehörigkeit anderer bevormundet, die sich gemäß ihrer abweichenden Lebensformen als andere verstehen? Das ist nicht ein Problem von Nationalismen allein. Selbst wenn auf eine absolute Kongruenz von ethnischen und politischen Grenzen verzichtet wird und wenn die Identität einer Mehrheitskultur nicht rigoros territorialisiert wird, stellt sich die Frage, wie in einem Land, das durch eine mehr oder weniger ausgeprägte innere ethnische Heterogenität gekennzeichnet ist, eine kollektive Identität die Grundlage des praktischen Sinns der Mitgliedschaft im politischen Gemeinwesen soll sein können, ohne dieser Heterogenität und dem niemals restlos zu tilgenden Widerstreit der Lebensformen Gewalt anzutun. Ist eben das, was durch eine kulturelle Verankerung in der Identität von „Zugehörigen" den praktischen Sinn der Mitgliedschaft im politischen Gemeinwesen erfüllen helfen soll, zugleich unvermeidlich Quelle der Gewalt, die widerstreitenden, unter dem Dach desselben Staates sich zusammenfindenden Lebensformen und Identitäten widerfährt? Diese Frage hat sich von Anfang an nirgends deutlicher gestellt als in eben dem Land, das sich wie kein anderes nicht auf eine homogenisierbare Zugehörigkeit als Basis einer kulturellen Identität hat stützen können: in den USA. 48

7.5 Amerika im Plural Die zwischenzeitlich immer wieder forcierte Einwanderung hat die Frage nie zur Ruhe kommen lassen, was es eigentlich heißt, ein „Amerikaner" zu sein bzw. der amerikanischen Nation zuzugehören. Lässt sich aus heterogenen Herkunfts-Identitäten eine Art Super-Identität formieren? Kann diese ethnisch neutral bleiben, um nicht im Innern fremd

An dieser Stelle ist es nicht möglich, diese Voraussetzung in bezug auf unterschiedliche Phasen der „Amerikanisierung" zu spezifizieren, wozu die demographische Befundlage an sich zwingt; vgl. S. Steinberg, The Ethnic Myth, N e w York 1981, S. 9 ff.; H. Kallen, Culture and Democracy in the United States, N e w York 1924, S. 115 ff. - Manches spricht dafür, dass sich im Prozess der europäischen Integration in dieser Hinsicht Parallelen ziehen lassen, insofern dieser Prozess im Blick auf europäische Identität das Bewusstsein einer schon national, erst recht aber international nicht zu bändigenden Inhomogenität kultureller Zugehörigkeiten eindringlich vor Augen fuhrt.

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bleibende Identitäten auszuschließen? Kann sie sich in diesem Sinne auf die politische Form des Gemeinwesens beschränken? Die Geschichte der Auseinandersetzung mit diesen Fragen war von Anfang an vom Gegensatz zwischen verfassungspatriotischen und ethnischen Positionen geprägt. Einerseits hatte es den Anschein, „[that] a person did not have to be of any particular national, linguistic, religious, or ethnic background", um Amerikaner zu werden. „All he had to do was to commit himself to the political ideology centered on the abstract ideals of liberty, equality, and republicanism. Thus the universalist ideological character of American nationality meant that it was open to anyone who willed to become an American." 49 Andererseits wurden nicht nur die Indianer und die Schwarzen faktisch von Anfang an nicht in diesem Sinne als zugehörig empfunden. Von Ansätzen zu einem anti-katholischen Nativismus über die mehr oder weniger generelle Zurückweisung der europäischen Vergangenheit bis hin zur ideologiekritischen Entlarvung der kollektiven Repräsentation des melting pot als einer Verschleierung des ethnisch exklusiven Zuschnitts amerikanischer Identität auf den Typus des sog. WASP (White Anglo-Saxon Protestant) reichen die bis heute nicht verstummten Auseinandersetzungen um die Frage, inwieweit amerikanische Identität sich zu Recht oder nicht auf den universalistischen Gehalt der Verfassung und/oder auf eine besondere Ethnizität stützt oder stützen sollte. Keine Stellungnahme in diesem Spannungsfeld konnte ein bereits existierendes, klar abgegrenztes Wir in Anspruch nehmen oder eine unbestrittene amerikanische Identität einfach darstellen. Jeder Versuch einer Propagierung amerikanischer Identität musste im Verlauf der Formation der Nation auf den Versuch einer „Amerikanisierung" hinauslaufen, die die Wirklichkeit schaffen zu helfen versprach, welche die Rede von amerikanischer Identität nur zu „repräsentieren" schien. Auch hier regierte und regiert noch der Plural. Amerikanische Identität gibt es nach wie vor nur als eine Art Verflechtung kontroverser, polemogener Versuche der Amerikanisierung dessen, was sich - allen Nativismen zum Trotz - eben nicht von sich aus eindeutig als „amerikanisch" oder fremd, d.h. nicht zur eigenen Identität gehörig darstellt. In den vielfach gegenläufigen Prozessen der „Europäisierung" kann man ähnliche Beobachtungen machen; und zwar vor allem dort, wo man sich der vermeintlichen Bedrohung durch eine kulturelle Vereinheitlichung Europas entgegengestemmt. Diesseits wie jenseits des Atlantiks begegnet man den gleichen Strategien, die für entscheidend gehaltene Unterschiedenheit der eigenen Identität den nomadischen Migrationen und Diffusionen kultureller Differenzen zu entziehen, die sich okkasionell im an-archischen Spiel der Interkulturalität abzeichnen: Strategien der Naturalisierung und der Essentialisierung, die das Problem der Zugehörigkeit schließlich zur Frage einer unveränderlichen und unveräußerlichen Eigenheit des Soseins hochstilisieren, das man weder von innerer noch von äußerer Fremdheit befleckt sehen will. So werden kulturelle Unterschiede auf letztlich unüberwindbar erscheinende Differenzen festgenagelt, deren „objektives" Vorliegen man be49

Vgl. Ph. Gleason, „American Identity and Americanization", in: St. Thernstrom et al. (Hg.), Harvard Encyclopedia of American Ethnic Groups, Cambridge, London 1981, S. 31-58, hier: S. 32; D. A. Hollinger, „How wide the Circle of the ,We'?'\ S. 317-337.

Kulturelle Identität. Zwischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft

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hauptet. Erst durch die Berücksichtigung der angedeuteten Zirkularität zwischen der ontologischen Dimension der Zugehörigkeit und den Repräsentationen, die an deren Formierung, Umgestaltung und Manipulation arbeiten, sind derart gleichsam geronnene Differenzen als Produkte eines vorgängigen polemischen Differenzierungsgeschehens verständlich zu machen, das nicht ohne die tatkräftige und (un)verantwortliche Mitwirkung einer Politik der Identität und der Differenz abläuft. Selbst die Rhetorik des kulturellen Pluralismus bedient sich jener Strategien. Nicht selten wiederholt sie die „essentialist errors of [...] monocultural predecessors in attempting to trace out a blueprint of clear and distinct and ultimately reified ethnic categories". 50 Die Folge ist, dass intra- und interkulturelle Differenzen nicht mehr als Produkte eines vorgängigen Differenzierungsgeschehens verständlich werden, in dem eben nicht apriori entschieden ist, was als „eigen" und was als „fremd" zu gelten hat bzw. welche Unterschiede - im Hinblick worauf und für wen - in der Formierung oder Definition von Identität einen bzw. den entscheidenden „Unterschied machen". Horace Kallen, auf den man in Amerika die Programmatik des kulturellen Pluralismus zurückfuhrt, war selber nicht weit davon entfernt, ethnische Besonderheit zu naturalisieren. 51 Konfrontiert mit dem Problem, was schwarze im Unterschied zu weißer Hautfarbe eigentlich ausmacht, fragte er sich aber: „What difference does the difference make? We are all alike Americans. And we had to argue out the question of how the differences made differences [...]." 52 Entscheidend schien ihm nicht die Frage zu sein, welche Differenzen es gibt, sondern welche im Sinne der ethnischen Zugehörigkeit als selektiv-exklusiv ausschlaggebend gelten und ob die eventuell rassisch-restriktiv gefasste ethnische Zugehörigkeit die Definition der Grenzen der politisch-rechtlichen Mitgliedschaft kontaminieren darf Eben dagegen setzte man den Gedanken eines „right to be different"; d.h. eines Rechtes, ungeachtet ethnischer Unzugehörigkeit dennoch gleichberechtigtes Mitglied des politischen Gemeinwesens zu sein. 53 Die Frage, inwieweit ein solches Recht, das doch stets auf der Basis der identitätsbezogenen Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen formuliert und garantiert wird, ethnisch neutral sein kann bzw. inwieweit das Recht selber unvermeidlich „ethnisch kontaminiert" ist, beschäftigt die Diskussion um die empirisch angemessene und normativ richtige Zuordnung von ethnos und demos bis heute. So schreibt Habermas: „Die Identität des politischen Gemeinwesens, die auch durch Immigration nicht angetastet werden darf, hängt primär an den in der politischen Kultur verankerten Rechtsprinzipien und nicht an einer besonderen ethnisch-kulturellen Lebensform im gan-

50

Vgl. W. Sollors, „A Critique of Pure Pluralism", S. 277.

51

Vgl. Ph. Gleason, „American Identity and Americanization", S. 44. Vgl. W. Sollors, „A Critique of Pure Pluralism", S. 269. In diesem Sinne hatte Kallen das Projekt einer „verfassungspatriotischen" Demokratie skizziert, die vom „humanistischen" Ethos einer „spiritual hyphenation" inspiriert sein müsse und allein darin eine nicht-ethnische likemindedness begründe; vgl. Culture and Democracy in the United States, S. 64.

52 53

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zen." 54 Daran ist richtig, dass keine einzelne Lebensform mehr die Grundlage kollektiver Identität abgeben kann. Aber genügt eine bloß auf die Rechtlichkeit des politischen Gemeinwesens abstellende Identität für die Lösung der lebenspraktischen Probleme, die die anders- und fremdartigen Unzugehörigkeiten aufwerfen, mit denen sich die gleichberechtigten Mitglieder des politischen Gemeinwesens konfrontiert sehen? Der Gedanke eines wie auch immer in die Gesetzgebung einfließenden Rechtes, anders, verschieden zu sein, geht gewiss über einen indifferenten Pluralismus hinaus, der sich darauf beschränkt, das „Gegebensein" von ethnischen, kulturellen oder politischen Differenzen zu konstatieren und der prima facie keineswegs unvereinbar mit der Annahme zu sein scheint, diese Differenzen seien auf ein je-eigenes, quasi naturwüchsiges „Erbe" unterschiedlicher Ethnien etwa zurückzuführen, nicht aber auf ein ständig vonstatten gehendes interkulturelles Differenzierungsgeschehen, in dem die Differenzen zu neuen Konfigurationen zusammentreten können. Die Behauptung eines Rechtes, anders zu sein (und zu bleiben), nimmt Differenz nicht nur zur Kenntnis, sondern stellt diese selbst dann unter Schutz, wenn sie auf die Aufrechterhaltung einander auf demselben staatlich begrenzten Territorium widerstreitender Identitäten hinauslaufen sollte. - Diesem Recht zufolge darf weder rechtlich-politische Mitgliedschaft in einem politischen Gemeinwesen noch dessen soziale Integration im Sinne kultureller Zugehörigkeit auf Kosten der Identität derer gehen, die unter dem Dach eines Staates leben. Die Betroffenen sollen sich nicht um den Preis ihres Selbstverständnisses, d.h. ihrer „kulturellen" Auffassung davon, als wer sie sich verstehen wollen, einbezogen oder „integriert" sehen müssen. In diesem Sinne wird immer wieder eine „universalistische" Identifikation mit der amerikanischen Verfassung propagiert, wogegen aber argumentiert wird, gerade eine so begründete Identifikation könne niemandem darüber Auskunft geben, „what it means to be an American'" Horace Kallen zitierend schreibt Μ. Walzer: „,the United States [...] has a peculiar anonymity.' It is a name that doesn't even pretend to tell us who lives here." 55 Das „Wer" als Antwort auf die Frage nach der eigenen Identität bleibt durch die Identifikation als „Amerikaner" weitgehend offen. „Someone who is only an American is, so far as our bureaucrats are concerned, ethnically anonymous. He has a right, however, to his anonymity; that is part of what it means to be an American." Amerikaner erscheinen so gesehen paradoxerweise „assimilated to a cultural nonidentity". So macht man aus der Not eine Tugend. Zur amerikanischen Identität, die den Sinn der universalistischen Identifikation mit der Verfassung tragen soll, gehört es Walzer zufolge, dass man die Suche nach einer im nationalen Maßstab ausschlaggebenden „primordialen" Zugehörigkeit endgültig aufgibt und sich mit der rückhaltlos bejahten ethnischen Heterogenität des Landes identifiziert. Wesentlicher Bestandteil der nationalen Identität ist der unauflösliche Widerstreit der ethnischen Identitäten, woraus - wenn wir Gellners Prämissen zugrundelegen - folgen müsste, dass man paradoxerweise das Nichtvorhandensein einer halbwegs eindeutigen na-

54 55

Vgl. J. Habermas, FG, S. 657 ff. Vgl. H. Kallen, Culture and Democracy in the United States, S. 51.

Kulturelle Identität. Zwischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft

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tional-kulturellen Identität als Grundlage amerikanischer Identität betrachten müsste. So gesehen ergäbe sich niemals - wie es das programmatische amerikanische Motto Ε plitribus unum verlangt - eine inhaltlich prägnante kulturelle Identität, es sei denn eben eine Nicht-Identität, die sich zur Nicht-Gewalt gegenüber den mannigfaltigen regionalen Identitäten verpflichtet, die sich auf amerikanischem Boden zusammenfinden. 56 Keiner regionalen Identität oder Zugehörigkeit dürfte im nationalen Horizont das entscheidende Wort darüber zugebilligt werden, was es heißt (auch nur im Sinne der Verfassung) Amerikaner zu sein. Versuche der „Amerikanisierung" dürften, soweit sie auf eine ethnische Partikularisierung hinauszulaufen drohen, nicht ans Ziel kommen. „America is still a radically unfinished society, and for now, at least, it makes sense to say that this unfmishedness is one of its distinctive features. [...] A radical program of Americanization would really be unAmerican." 57 Diese Einschätzung ändert offenbar allerdings nichts daran, dass solche Prozesse der Amerikanisierung ständig stattfinden; Prozesse, die aus einer unübersehbaren hybriden Gemengelage heterogener kultureller Identitäten, deren genuine „Amerikanizität" umstritten bleibt, doch so etwas wie eine positive nationale Identität formen sollen, weil man glaubt, dass nur eine Verankerung in einer partikularen kulturellen Identität, die den Einzelnen sagt, als wer sie sich vor allem moralisch verstehen sollen, die sozial-integrative Leistung motivieren kann, welche Recht und Verfassung aus eigener Kraft niemals zu erbringen vermögen. Eine bloß negativ gefasste amerikanische Identität würde besagen: ,,,Wir' Amerikaner verstehen uns als Amerikaner, insofern unsere jeweilige ethnische Zugehörigkeit und Identität (kontrafaktisch) nicht die Basis der Mitgliedschaft im politischen Gemeinwesen ausmachen soll. ,Wir' tragen insoweit in besonderer, ,unsere' nationale Kultur prägender Weise ,unserer' irreduziblen ethnischen Heterogenität Rechnung." 58 Dazu würde eine rückhaltlose Bejahung des ethnischen Pluralismus gehören, die sich zur ethnisch-kulturellen Heterogenität nicht indifferent verhalten dürfte. Diese Heterogenität bedeutet j a kein bloßes Nebeneinander verschiedener Lebensformen und Zugehörigkeiten, sondern erzwingt deren konfliktträchtige Interferenz.

Vgl. M. Walzer, „What does it mean to be an .American'?", S. 593; J. Higham, „Hanging together: Divergent Unities in American History", in: The Journal of American History 61 (1974), S. 5-28, hier: S. 16; Ph. Gleason, „American Identity and Americanization", S. 38, 46; C. Leggewie, „Ethnizität, Nationalismus und multikulturelle Gesellschaft", in: H. Berding (Hg.), Nationales Bewusstsein und kollektive Identität, Frankfurt/M. 1994, S. 46-65, hier: S. 63 f. M. Walzer, „What does it mean to be an ,American'?", S. 614. Vgl. Η. Kallen, Culture and Democracy in the United States, S. 59 ff. - Mit Blick auf die europäische politische Einigung ließe sich am Ende ohne weiteres eine parallele Formel angeben, was zeigt, dass eine ihrerseits ethnisch indifferente Identifikation mit ethnischem Pluralismus kaum geeignet ist, eine spezielle Identität zu begründen.

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7.6 Der Wille, zusammen zu leben Wird dieser Interferenz aber eine bloß negative Identität gerecht? Unterschätzt man so nicht, in welchem Ausmaß ethnischer Widerstreit und kulturelle Heterogenität den Menschen ständig Integrationsleistungen 59 abverlangen, zu denen sie angesichts der Unvermeidbarkeit solcher Interferenz positiv motiviert sein müssen? Lässt sich die relative Unvereinbarkeit der kulturellen Identitäten und Lebensformen nicht nur durch den ständig zu erneuernden, gemeinsamen Willen kompensieren, zusammen - im Widerstreit - zu leben? 60 Kann in diesem Sinne eine kollektive Identifikation mit der Rechtlichkeit des politischen Gemeinwesens genügen? - Vor allem die von Maclntyre entfachte Diskussion um die ethischen Grundlagen dieses Willens zeigt überdeutlich, dass man ständig Gefahr läuft, ihn ethnisch zu partikularisieren, d.h. ihn etwa durch Tugenden zu erläutern, die keineswegs überall und uneingeschränkt geschätzt werden. Die Ethik dieses Willens zeigt sich mit den ethnischen, in partikularen Lebensformen verwurzelten Vorstellungen davon vermischt, was es heißt, zusammen zu leben. Im nationalen Horizont, in dem sich stets heterogene Lebensformen zusammenfinden, wird die konkrete Deutung dieses Willens deshalb stets strittig sein. Der Wille, zusammen zu leben, stiftet keine unproblematische „Einheit"; er ist, wenn es ihn gibt, selber in die polemogenen Spannungsverhältnisse zwischen den Lebensformen verwickelt und widerstreitet sich selbst. 61 Er zeigt sich zerrissen zwischen (a) der Aufgabe, den praktischen Sinn der Mitgliedschaft im politischen Gemeinwesen angesichts aller Anderen zu garantieren und (a') der Gefahr, diesen Sinn im gleichen Zug ethisch und ethnisch reduziert zur Geltung zu bringen; er sieht sich (b) mit der Notwendigkeit konfrontiert, die Mitgliedschaft auf (konfligierende) Zugehörigkeiten zu beziehen, ohne sie (b') auf eine von ihnen reduzieren zu dürfen, wie es extrem dann geschieht, wenn die Mitgliedschaft nur noch Ausdruck einer quasi-familialen, nationalen

Ich halte am praktischen Sinn der Rede von Integration vorläufig fest, ungeachtet der im vorangegangenen geltend gemachten Überlegungen, die daran zweifeln lassen, ob man den Anderen als Anderen wirklich „einbeziehen" oder einer juridischen oder ethnischen Inklusion unterziehen kann bzw. sollte. Auch der praktische Sinn der Rede von der Einbeziehung des Anderen wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass man die Anderheit letztlich „radikal" denkt. Die Frage ist nur, was die Einbeziehung des Anderen leisten soll, was sie versprechen kann - oder nicht einmal versprechen darf. 60

61

Gewiss nicht, wenn etwa nationale Zugehörigkeit als das „tägliche Plebiszit" im Sinne des Wüllens, zusammen, aber im Widerstreit, zu leben, lediglich auf den Kult jeweils eigener, verehrungswürdiger Vergangenheit sich stützt, die eine exklusive historische Zugehörigkeit bereits voraussetzt; vgl. E. Renan, Was ist eine Nation? Und andere politische Schriften, S. 56 f., sowie P. Ricceur, „Pouvoir et violence", in: M. Abensour (Hg.), Ontologie et politique. Actes du colloque Hannah Arendt, Paris 1989, S. 141-159, hier: S. 148. Insofern würde ich über die oben zitierte Bemerkung von Habermas zur Einheit von Heterogenem unter dem Dach kollektiver Identitäten hinausgehen. Die Rede von einem „Formenwandel der sozialen Integration" im Zeichen eines „wachsenden Pluralismus" muss auch den Momenten des Widerstreits Beachtung schenken, die die „Integration" von innen unterwandern. Vgl. J. Habermas, PK, S. 37, 126.

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Ökonomie zu sein scheint; und er muss (c) die ethnisch-kulturelle Pluralität der Lebensformen und der in ihnen verwurzelten Identitäten der Menschen bejahen, ohne sie (c') einem indifferenten Pluralismus zu überlassen. Der Pluralismus hat zwei Dimensionen: er betrifft gleichsam „horizontal" zum einen das Verhältnis der Lebensformen untereinander; und zum anderen „vertikal" ihr Verhältnis zur staatlichen Ordnung, in der sie auf gleichem Boden koexistieren müssen, ohne dass sie sich darauf beschränken könnten, sich bloß nebeneinander zu dulden. Den konfliktträchtigen Spannungen, die diese Koexistenz in sich birgt, wird keine lokale Sittlichkeit gerecht. Im Gegenteil muss die Mitgliedschaft im gleichen staatlichen Gemeinwesen mit konfligierenden Sittlichkeiten rechnen; sie kann dies aber nicht in ethisch-ethnisch völlig neutraler Weise: Bis in die Formulierung von Gesetzestexten hinein erscheint die juridische Ausbuchstabierung der Mitgliedschaft ethisch, d.h. durch Vorstellungen guten Lebens, und ethnisch (d.h. hier: kulturell) „imprägniert". Demnach ist die instituierte Regelung der Mitgliedschaft ihrerseits in den Widerstreit der Lebensformen verstrickt. Niemals wird sie diesen gleichermaßen Gerechtigkeit widerfahren lassen können. Die Frage ist deshalb, ob sich eine kollektive Identifikation der häufig durch ihre konfligierenden Zugehörigkeiten „auseinanderdividierten" Menschen mit der Mitgliedschaft in ihrem politischen Gemeinwesen denken lässt, das nicht versprechen kann, sich zum Widerstreit der Lebensformen und Identitäten völlig neutral zu verhalten. Lässt sich eine Art der politischen, den Sinn der Mitgliedschaft erst zu praktischem Leben erweckenden Identifikation mit der Ordnung des Gemeinwesens vorstellen, die nicht darauf baut, dass diese Ordnung den Widerstreit der Lebensformen und Identitäten in sich aufheben kann? Lässt sich also ein kollektives Wir denken, das innere, sich zwischen Lebensformen im Widerstreit vielfach abzeichnende Unzugehörigkeiten nicht unzulässig homogenisiert und das Gemeinwesen doch davor bewahrt, angesichts seiner inneren Heterogenität in einem indifferenten Pluralismus zu verharren, der keine motivationalen Grundlagen der Konfliktregelung für den Fall bereitstellt, dass es nicht ausreicht, sich nebeneinander zu dulden? Wie lässt sich ein nicht-indifferenter Pluralismus mit einer kollektiven Identität zusammendenken, die den praktischen Sinn der Mitgliedschaft im politischen Gemeinwesen durch ein Bewusstsein der „Zusammengehörigkeit" unterstützt, ohne die innere ethnisch-kulturelle Heterogenität der Zusammengehörigen zu unterdrücken? Als Fluchtpunkt dieser Fragen zeichnet sich das radikalere, möglicherweise aporetische Problem ab, ob sich das, was man gewöhnlich „soziale Integration" nennt und als eine Art innerer Befriedung des Zusammenlebens auffasst, überhaupt als nicht-gewaltförmig denken lässt. 62 Wenn sich im Spannungsverhältnis von Zugehörigkeit und Mitgliedschaft eine strukturelle Gewaltsamkeit nicht aus der Welt schaffen lässt, dann kann das „Zusammen", nach Übersprungen werden alle diese Fragen jedenfalls, wenn man ohne weiteres einer „relativen Homogenisierung in einer gemeinsamen Kultur", einem so motivierten „sense of belonging" und einem „emotional bindungsfahigen Wir-Bewusstsein" das Wort redet, wie es E.-W. Böckenförde tut, der sich als Alternative nur einen „Rückfall in Tribalismus oder Anarchie" vorstellen kann (Staat, Nation, Europa, Frankfurt/M. 1999, S. 57 f.).

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dem wir im Widerstreit der Lebensformen suchen, nicht das Ende oder die Aufhebung dieser Gewaltsamkeit versprechen. Gerade dann, wenn wir Gewaltsamkeit und Gewalttätigkeit unterscheiden, um die praktischen Spielräume im Blick zu behalten, die uns angesichts eines gewissen Verurteiltseins zur Gewaltsamkeit bleiben, müssen wir deren unvermeidliche, insofern als „tragisch" zu verstehende Umrisse genau zu bestimmen versuchen. Selbst die „modernste", anti-tragische Politik wird so wenig eine Politik ohne Tragik sein können, wie eine überzeugende Philosophie auf den Spuren Hegels deren Aufhebung versprechen kann. Hegel blieb dem antiken Vorbild einer sittlichen Homogenität zu sehr verhaftet, als dass er dieses Versprechen hätte glaubwürdig machen können. 63 Die von ihm selbst in den Grundlinien der Philosophie des Rechts zur Sprache gebrachte „Gewalt der Unterdrückung des Fremdartigen in sich selbst", 64 die schon die Sittlichkeit der Polis dadurch unterminiert hatte, dass sie einer angesichts des Einzelnen geforderten Gerechtigkeit nicht gerecht zu werden vermochte, erscheint uns heute nicht gemildert, sondern im Gegenteil verschärft. Der vermeintlich homogenen Sittlichkeit entzieht sich nicht nur die im Drama der Antigone mit Nachdruck zur Geltung gebrachte Gerechtigkeit angesichts des Einzelnen, die ihren Hort im Raum des Familialen, des Genealogischen, des Verwandtschaftlichen haben mag. Inkongruent mit ihrer Form und irreduzibel heterogen stehen ihr auch ethnische, moralische, juridische und politische Gestaltungen sozialen Lebens gegenüber, die miteinander derart kontaminiert erscheinen, dass sich keine Institutionalisierung denken lässt, die als gleichsam schiedsrichterliche Instanz dem Widerstreit der Lebensformen und der Gewaltsamkeit, die in ihm angelegt ist, entzogen sein könnte. Mehr noch: im Zeichen der Anderheit jedes Einzelnen, die auf die Spur einer radikalen Fremdheit fuhrt, sehen wir uns mit einer gleichsinnigen Radikalisierung des Plurals „singulärer" sozialer Existenzen konfrontiert, die von einem unüberbrückbaren ethisch-politischen Widerstreit auszugehen zwingt. 65 Die Idee der Gerechtigkeit bezieht sich einerseits auf den kosmopolitischen Horizont aller, andererseits kommt sie von jedem als Anderem her zur Geltung und untersagt uns auf diese Weise die Reduktion der Anderheit auf eine nivellierte Pluralität von „Gleichen". So sieht sich eine infolge ihrer unvermeidlichen Situierung beschränkte Vernunft durch diesen Überschuss des Horizonts aller und der Anderheit eines jeden doppelt inspiriert und überfordert. Eine situierte Vernunft, die sich unvermeidlich als ethnisch und „lokal-politisch" kontaminiert erweist, wird niemals allen und niemals jedem als Anderem gerecht werden können. Ihrer Endlichkeit und Disproportion zwischen Konditionen der ethnischen Zugehörigkeit und der politischen Mitgliedschaft, zwischen ethischer und kosmopolitischer Gastlichkeit wird kein Lösungsvorschlag gerecht, der wie Hegel mit einer sittlichen Homogenität, mit einem Super-Guten oder mit einer reinen universalen Vgl. C. Menke, Tragödie im Sittlichen. 1996, S. 20 f., 118 ff., 303 ff. 64

65

Gerechtigkeit

und Freiheit

nach Hegel,

Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Moldenhauer, Κ. M. Michel), Frankfurt/M. 1986, S. 278. Vgl. dazu das vorangegangene Kapitel.

Frankfurt/M.

Werke Bd. 12 (Hg. E.

Kulturelle Identität. Zwischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft

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Rechtlichkeit liebäugelt, woraus am Ende das vielschichtige Widerfahrnis des Widerstreits ebenso verschwunden wäre wie die Tragik, die im Konflikt des Widerstreitenden immer dann liegt, wenn die physische, die ethische oder moralische Existenz der Menschen irreversibel verletzt zu werden droht. Lässt sich demgegenüber nun aber eine im Spielraum zwischen unvermeidlicher Gewaltsamkeit und tätiger GewaltfÖrmigkeit angesiedelte „Moral" des Widerstreits denken, die ihm nicht restlos selber zum Opfer fällt?

Kapitel 8 Moral des Widerstreits - Moral im Widerstreit

8.1 Nicht-substanzielle Überzeugungen Wir sind weit entfernt davon, gesellschaftliches Zusammenleben heute im Sinne einer Lebensform rekonstruieren zu können, der genau eine durchgängig praktizierte, gelebte Sittlichkeit etwa entspräche, wie es Hegel hinsichtlich der Lebensformen nicht nur der griechischen polis, sondern auch „der alten Völker überhaupt" angenommen hat. Hier sollte gelten, „daß das Sittliche als sittliche Natur, als vorhandenes Allgemeines war, ohne daß es die Form der Überzeugung des Individuums in seinem einzelnen Bewußtsein gehabt hätte, sondern die eines unmittelbaren Absoluten". 1 Wenn eine solche gelebte sittlich-politische Einheit je Wirklichkeit und nicht nur ein fragwürdiger Philosophentraum gewesen sein sollte, so ist diese Wirklichkeit jedenfalls mit der Heraufkunft der Neuzeit endgültig zerfallen. Bedurfte es einst - vermeintlich - gar nicht eigens einer Einigkeit oder Einigung verschiedener Überzeugungen, so muss man sich heute, so scheint es, nicht nur jeden Gedanken an eine prästabilierte politische Ordnung, in der, in den Worten Fichtes, „die Überzeugung eines jeden [...] die Überzeugung aller" ist, aus dem Kopf schlagen. 2 Man muss, nach der Einschätzung Rawls', auch jede Hoffnung auf Einigkeit oder Einigung in „substanziellen" Überzeugungen (etwa über die menschliche Natur) aufgeben. Ein modernes politisches und soziales System muss demnach möglichst ohne unverrückbare Überzeugungen auskommen. Wenn sich dieser Anspruch, dem man speziell moderne Rechtsstaatlichkeit unterwirft, nicht völlig einlösen lässt, so soll das, was ein halbwegs rechtlich pazifiziertes politisches System voraussetzen darf, wenigstens doch ein Minimum an Überzeugungen sein. 3 Dieses Minimum soll sich allein auf die unverzichtbaren normativen Grundlagen politischer und sozialer Integration beziehen. Nicht nur die Frage, ob diese Grundlagen selber überhaupt im strengen

G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke Bd. 18 (Hg. E. Moldenhauer, Κ. M. Michel), Frankfurt/M. 1969 ff., S. 469. J. G. Fichte, „Das System der Sittenlehre", in: Fichtes Werke, Hg. I. H. Fichte, Bd. 4, Berlin 1971, S. 253. Die Trennung von Recht und Moral, Legalität und Moralität etwa gehört hierher. Aber auch die Vorstellung eines „minimal" oder „overlapping consensus". Vgl. J. Raz, „Facing Diversity: The Case of Epistemic Abstinence", in: Philosophy and Public Affairs 19, Nr. 1 (1990), S. 3-46.

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Sinne wie verlangt begründungsfähig sind, ist bis heute heftig umstritten. 4 Dabei steht auch in Frage, was überhaupt als „Begründung" gelten kann und „zählt". 5 Eine „definitive", endgültige Begründung kann es so wenig geben wie eine Begründung des Begründens selber, die diese Idee nicht wiederum voraussetzte. Das muss an der Ernsthaftigkeit gewisser, „minimaler" Überzeugungen, die wir „mit Grund" fur unverzichtbar halten, nichts ändern, führt aber, wenn Rorty Recht hat, unweigerlich zu einem ironischen Verhältnis zu den eigenen Überzeugungen und insofern auch zu einem ironischen Selbstverhältnis. Dieses wird bestärkt durch die kritische Aufklärung der historischen Genealogie von Überzeugungen. Jene „minimalen", der Rechtsstaatlichkeit zugrundeliegenden Überzeugungen können (zumal dort, wo sie die Frage der Menschenrechte tangieren) gewiss als Antworten auf historische Unrechtserfahrungen verstanden werden, 6 die „für uns" als wichtige Gründe oder Motive unserer „minimalen" normativen Überzeugungen zählen mögen. Gleichwohl können sie aber in keinem Sinne als absolut oder unanfechtbar gelten. Vielleicht, so spekuliert Rorty mit Orwell, hat es sich nur zufallig so ergeben, „daß Europa anfing, das Gefühl des Wohlwollens und die Vorstellung einer allen gemeinsamen Menschlichkeit hochzuschätzen, und daß es sich möglicherweise ebenso ergeben kann, daß die Welt eines Tages von Menschen regiert wird, denen dieses Gefühl und diese Moralvorstellung abgehen". 7 Mit anderen Worten: es ist vorstellbar, dass jene Antworten, die gewiss viele zum minimalen „Kernbestand" ihrer moralischen Überzeugungen zählen würden, auf einer vorgängigen historisch-kontingenten Formation kollektiver Erfahrung aufruhen, die, im europäischen Kontext, „überzeugend" genug war, um zum entscheidenden Antrieb eines menschenrechtlichen Diskurses zu werden; und es ist vorstellbar, dass diese „Erfahrungsbasis" wieder verblasst. Vielleicht ist das nicht wirklich möglich, sondern nur etwas rein theoretisch Vorstellbares. Rorty hält aber allein deshalb die Berufung auf (kollektive) Erfahrung oder sog. „moralische Intuitionen", die uns verbindlich wenigstens sagen würden, was nicht richtig oder sogar verwerflich ist (wie die mutwillige Zufugung von Schmerz), für eine letztlich nicht überzeugende Angelegenheit. Genauer: eine solche Berufung wird nur diejenigen „überzeugen", die bereits in einem ähnlichen kulturellen Klima bzw. unter ähnlichen sozialisatorischen Bedingungen aufgewachsen sind und die sich deshalb über ihre kontingenterweise ähnlichen „moralischen Intuitionen" verständigen können. 8 Der Hinweis auf historische Kontingenz entwertet freilich diese Intuitionen nicht schon als solche; und er impliziert weder, dass sie beliebig sind, noch dass sie ohne weiteres anfechtbar wären. Darüber hinaus bedeutet die geschichtliche Kontingenz dieser Intuitionen keineswegs, dass sie sich nicht mit anderswo sozialisierten Intuitionen decken oder wenig-

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E. Tugendhat streitet die Begründbarkeit von Normen selber offenbar rundweg ab; vgl. Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, S. 77. Vgl. ebd., S. 113. Vgl. G. Lohmann, S. Gosepath (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt/M. 1999, S. 94. R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1992, S. 299 f. Ebd., S. 299.

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stens überschneiden könnten. 9 (Die geschichtliche Kontingenz selbst für unverzichtbar gehaltener moralischer Überzeugungen zuzugestehen, bedeutet nicht, sich ohne Wenn und Aber einem moralischen Defätismus auszuliefern, dem Rorty immer wieder gefährlich nahe kommt.) Eine andere Frage ist, ob und inwiefern solchen Intuitionen überhaupt ein verbindlicher bzw. (prä-)normativer Charakter zuzusprechen ist. Und wieder eine andere Frage ist, ob für den Fall, dass moralischen Intuitionen an sich jegliche normative (Allgemein-)Verbindlichkeit abzusprechen ist, nur der Weg der rationalen Begründung noch offen bleibt. Genau das scheint Tugendhat in der Tat anzunehmen. Aus moralischen Intuitionen oder Gefühlen folgt aus seiner Sicht gar nichts allgemein Verbindliches. Aber auch die Suche nach begründeten normativen Überzeugungen hat ihre Grenze. Nur wenn man sich zum Moralisch-sein-wollen bereits „entschieden" hat und wenn man sich auf die Frage der Begründung schon eingelassen hat, hat diese Suche eigentlich Sinn. 10 Aber niemand, der sich dazu entschieden hat, an einen lack of moral sense zu glauben und der sich weigert, sich überhaupt auf die Begründungsfrage einzulassen, kann durch den angeblich „unnachsichtigen Zwang" besserer Argumente umgestimmt werden. Sich auf diese Frage einzulassen bedeutet für Tugendhat: sich auf eine Gemeinschaft einzulassen, für die diese Frage von Bedeutung ist. Die meisten Menschen sind im Rahmen einer solchen Gemeinschaft effektiv sozialisiert worden, d.h. sie haben sich ohne ihre vorherige Einwilligung „immer schon" auf deren „Moral" eingelassen, nimmt Tugendhat an und argumentiert, was den Stellenwert der Erziehung anbetrifft, bemerkenswert ähnlich wie Rorty. Aber was ist davon zu halten, wenn es jemandem auf die Zugehörigkeit zu einer solchen Gemeinschaft gar nicht ankommt? Kann man sich nicht immer dazu entschließen, „auszusteigen", d.h. die Zugehörigkeit zu vergleichgültigen und sogar für einen „lack of moral sense [zu] optieren"?11 Worauf sich der Gedanke einer solchen Option stützt, ist allerdings unklar. Ist hier wiederum nur eine rein theoretische Denkmöglichkeit gemeint? Oder ist gemeint, dass man sich von jeglicher moralischen Empfänglichkeit - sei es für die Stimme des Gewissens (die zu hören man nach Kant doch „nicht umhin kann"), sei es für eine „Mitleidenschaft" angesichts dessen, was Anderen widerfährt - befreien könnte? Utopien einer entsprechenden moralischen An-Ästhesie sind tatsächlich konzipiert worden. Aber kann man sich wirklich von jeglicher moralischen Ansprechbarkeit befreien? Wäre nicht jeglicher Versuch in dieser Richtung noch als Verleugnung solcher Ansprechbarkeit - und insofern noch immer als moralisch afFiziert - zu verstehen? Stoßen wir hier nicht an eine Grenze der Möglichkeit, Überzeugungen, die sich in diesem Falle auf Vorstellungen einer gewissen Unhintergehbarkeit moralischer Affizierbarkeit beziehen, in Frage zu stellen? Diese Vorstellungen mögen sich zwar als geschichtlich kontingent erweisen, aber dadurch büßen sie nicht unbedingt auch ihre Hier muss die Philosophie das Gespräch u.a. mit der ethnologischen Forschung aufnehmen. 10

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Vgl. zur Frage der reichlich fiktiv anmutenden „Entscheidung" zur Moral v. Verf., „Verantwortung als Gabe", in: R. Breuninger (Hg.), Philosophie der Subjektivität und das Subjekt der Philosophie, Würzburg 1997, S. 195-223. Vgl. E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M. 1993, S. 85 ff.

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„Kraft" ein; zumal dann nicht, wenn uns keine wirkliche Alternative offen steht, mit der sich noch leben ließe. 12 Gewiss beweist die Auseinandersetzung um jenen moral sense, dass man sich nicht ohne weiteres auf eine moralische Affizierbarkeit berufen kann, die man als einen vor jeglicher Begründung gegebenen „Grund" unverzichtbarer Überzeugungen ausgeben könnte. Weder auf rein diskursivem Wege noch im Rekurs auf prädiskursive Quellen moralischer Affizierbarkeit sind ohne weiteres minimale Überzeugungen auszumachen, auf die man sich unproblematisch einigen könnte. Doch hat ein eigentümlich begründungsfixiertes Philosophieren, das sich allein für die gerechtfertigte Geltung von rationalen normativen Überzeugungen zu interessieren scheint, 13 die Rücksicht auf prädiskursive Quellen normativer Überzeugungen allzu gering veranschlagt. Inwieweit der Primat der Geltungs- und Begründungsfrage infolgedessen zu einer falschen oder einseitigen Einschätzung der Frage verleitet, welche Rolle Überzeugungen und ihre Quellen in moralischer Hinsicht im gesellschaftlichen Zusammenleben spielen, wird sich nur auf der Basis einer Phänomenologie und Hermeneutik der Überzeugung beurteilen lassen, die diese Quellen eruieren müsste. Auch wenn man normative Überzeugungen, die etwa einem rechtsstaatlichen System zugrundeliegen sollen, nur als rational gerechtfertigte akzeptiert sehen möchte, muss man die heterogene Vielzahl prä-normativer, teils nur „fungierender", unausgesprochener und kognitiv vielfach nur schwer artikulierbarer Überzeugungen zur Kenntnis nehmen, die soziales Zusammenleben auf allen Ebenen prägen. Auch Recht und Gesetz, die als formelle Pazifizierung des Zusammenlebens den Ideen der Gleichheit und der Gerechtigkeit verpflichtet sind, beziehen sich in spannungsreicher Weise auf die Spielräume, die diese Überzeugungen freigeben. D.h. natürlich nicht, dass Recht und Gesetz sich bedingungslos nach ihnen richten müssten, wohl aber, dass sie an diesen Überzeugungen anknüpfen müssen, die rückhaltlos dem Widerstreit der Lebensformen ausgesetzt zu sein scheinen. So sehr man auch eine kollektive geschichtliche Identität, ein an-archisches demokratisches Ethos oder eine sekundäre Sittlichkeit beschwört, um ein Wir zu einen, das nicht mehr von inneren Widersprüchen und von einander widerstreitenden Zugehörigkeiten ständig in Frage gestellt wird - nichts kann darüber hinwegtäuschen, dass uns ein solches in sich unstrittiges, auf gemeinsamen Überzeugungen beruhendes Wir nicht „gegeben" ist. Auch der Versuch, Einigkeit oder das, was die Soziologen „soziale Integration" nennen, wenigstens in der Form der Rückbesinnung auf Rechtsprinzipien des Zusammenlebens zu retten, die mit

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Das Gedankenexperiment kann man immerhin anstellen: wie menschliches Zusammenleben zu verstehen wäre, wenn wir jene unhintergehbare moralische Affizierbarkeit generell oder in bezug auf „aussortierte" Andere nicht unterstellen dürften. Die historische Erfahrung zwingt uns sogar zu dieser Überlegung; vgl. v. Verf., Geschichte als Antwort und Versprechen, Freiburg, München 1999. An dieser Stelle ist allerdings zu unterscheiden zwischen einer theoretisch-philosophischen Begründung einer fairen oder idealiter „gewaltfreien" Verständigung über konfligierende Überzeugungen einerseits und einer Rekonstruktion der realen Rolle von Begründungen in entsprechenden Verständigungsprozessen andererseits; vgl. P. Ricceur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 343 (=SaA).

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einer grundsätzlich bejahten Vielzahl von heterogenen Lebensformen, von Vorstellungen guten Zusammenlebens und mit gegensätzlichsten Überzeugungen vereinbar sein sollen, vermag kein solches Wir zu stiften. 14

8.2 Mit „Rücksicht" Muss sich ein solches Wir aber nicht in dem gemeinsam wenn nicht erklärten, so doch praktizierten, nämlich lebenspraktisch zum Ausdruck kommenden Willen konstituieren, im Widerstreit zusammen zu leben? Wenn sich Widerstreit, ganz gleich wo er auftritt, niemals in einem Dritten aufheben lässt und wenn er eine Gewaltsamkeit heraufbeschwört, deren polemogenes Potential jederzeit zu schismogenen Auseinandersetzungen Anlass geben kann, muss sich dann nicht diesem Konfliktpotential ein gemeinsamer Wille entgegenstemmen, ungeachtet des Widerstreits dennoch zusammen leben zu wollen? So wenig Widerstreit aber einfach gegeben sein und in diesem Sinne „existieren" kann (da er der Artikulation bedarf, die ihn als Widerstreit zur Geltung bringt), 15 so wenig geschieht das Leben der Menschen einfach von sich aus „zusammen". Nur zu leicht schrumpft das Zusammen zum indifferenten Nebeneinander oder zum „Miteinander im Modus des Gegeneinander" (s. Kap. 2). In diesem Sinne leben Menschen auch im Krieg und in der gegenseitigen Rücksichtslosigkeit zusammen. Gewöhnlich hat aber der Begriff „Zusammenleben" nicht diesen lediglich formalen Akzent, sondern bedeutet: „mit Rücksicht aufeinander" leben, wobei die Rücksicht gerade dem Anderen als Anderem gelten soll. Nicht nur meiner Auffassung von ihm, sondern gerade seiner abweichenden „Sicht", die wir streng genommen nie selbst „übernehmen" können, soll die Rücksicht gerecht werden. Formell „mit Rücksicht" auf den Anderen erfolgt freilich auch der rein „strategische" Umgang mit ihm, die Instrumentalisierung des Anderen; d.h. ein Verhalten, das moralisch „rücksichtslos" geschehen kann. Der Begriff der Rücksicht ist also ebenso zweideutig wie der des Zusammenlebens: Daraus, dass man als „soziales" Wesen, d.h. formal: als Ko-Existierender zur „Berücksichtigung" Anderer verurteilt ist, da man nicht umhin kann, im Verhältnis zu ihnen zu leben, folgt nicht, wie oder ob man sich „rücksichtsvoll" verhält oder verhalten soll, wie es der moralische Begriff der Rücksicht besagt. „Sozial" - nicht im weiteren, „formalen" Sinne bloßer Ko-Existenz nebeneinander, die auch im Modus eines kriegerischen Gegeneinander stattfinden könnte, sondern im engeren Sinne der moralischen Rücksicht, die sich in der Wahrnehmung und Berücksichtigung Anderer als Anderer zeigt - kann man nur mit Unterstützung eines gemeinsamen Willens leben, der das Zusammenlebenwollen im nicht nur formalen Sinne affirmiert. Das Zusammenleben bedarf einer solchen Affirmation, weil es in seiner von inne-

Vgl. dazu B. Peters, Die Integration moderner Gesellschaften, Frankfurt/M. 1993. Vgl. J. Elster, Logik und Gesellschaft. Widersprüche und mögliche Welten, Frankfurt/M. 1981, S. 113 ff.

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rem Widerstreit unterhöhlten Verfasstheit scheinbar ständig Gefahr läuft, zum bloßen Neben- oder Gegeneinander zu degenerieren. Lässt sich aber ein solcher Wille wirklich denken oder nachweisen? Ist er nicht genau so fiktiv wie der „Gesellschaftsvertrag"? Ist es auch nur denkbar, dass man etwa einwilligt, unter bestimmten Bedingungen (bspw. unter der Bedingung der Gerechtigkeit der politischen Institutionen) zusammen - aber im Widerstreit - leben zu wollen? Als ein außerordentlich disparates und bereits in seinem Namen seinen Widerfahrnischarakter ankündigendes Phänomen muss sich „der" Widerstreit jeglicher pauschalen Einwilligung entziehen. Aber gerade als Widerfahrnis, das Gewalt heraufbeschwört, zwingt er dazu, sich wenigstens nachträglich auf willentliche Grundlagen „sozialen" Zusammenlebens zu besinnen, die zu verhindern versprechen, dass unschlichtbarer Widerstreit in offen ausgetragene Gewalt umschlägt, die sich unter Verweis auf einen Widerstreit rechtfertigt. Dieser Grundlagen ist sich soziales Zusammenleben in seiner Alltäglichkeit nicht bewusst. Gerade dort, wo es verlässliche, institutionell stabilisierte Formen annimmt, ist ein erklärter Wille, zusammen zu leben, vielfach nicht mehr erkennbar. Er manifestiert sich - aber in gleichsam eingeschlafener Form - in der Existenz der Institutionen selber, die dem Willen, zusammen zu leben, auf Dauer das entsprechende Können garantieren sollen. 16 Der „Schlaf dieses gemeinsamen Willens kommt einer Selbstvergessenheit des sozialen Lebens gleich, 17 das sich in dem Maße der Gewalt ausliefert, wie es sich auf verselbständigte Institutionen als Quasi-Automatismen zu verlassen beginnt. Dabei hängt die Dauer bzw. das Überleben der Institutionen doch allein von den Menschen ab, die sie - eingedenk ihres Willens, zusammen zu leben - mit Leben erfüllen. Die Brüchigkeit des sozialen Lebens zeigt sich indessen gerade nicht dort zuerst, wo eingespielte normative Regeln ein institutionelles Gefiige tragen, sondern dort, wo bestenfalls semi-normative Regeln, Standards und Wertmaßstäbe vorherrschen, deren verbindlicher Charakter zweifelhaft erscheint. Im alltäglichen Aneinandervorbei zeigt sich zuerst, wie weitgehend man den Willen, zusammen zu leben, bereits vergessen hat. Zuerst verkümmert infolge der Vergessenheit dieses Willens die Sensibilität, die Ansprechbarkeit für Andere (eine Art Tugend der „sozialen" Wahrnehmung), dann schrumpft aktive Toleranz zur bloßen Duldung; am Ende beruft man sich unduldsam ständig auf das Recht, so als gäbe es außer sanktionierten Rechten und Pflichten nichts, was die Menschen miteinander verbindet. 18 Unter diesen Vorzeichen unterminiert schließlich jede weitere Berufung auf das Recht das Vertrauen in einen gemeinsamen Willen, zusammen

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Vgl. H. Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 1994, Kap. 10, S. 277 ff. - P. Ricoeur, „Preface", in: H. Arendt, Condition de l'homme moderne, Paris 1983, S. 5-32; ders., SaA, S. 266, 289. In seiner Auseinandersetzung mit Hannah Arendt bringt Ricceur ein solches Vergessen, das menschlicher Sozialität ständig zugrunde liege, zur Geltung. Vgl. seinen Aufsatz „Pouvoir et violence", in: M. Abensour (Hg.), Ontologie et politique, Paris 1989, S. 141-159, hier: S. 148. Widerstreit kommt dabei immerhin nebenbei zur Sprache: „[...] le differend au sens de Lyotard, sans quoi il n'y aurait pas de probleme de consentement ä vivre ensemble" (S. 152). Vgl. P. Ricoeur, Das Rätsel der Vergangenheit, Göttingen 1998, S. 133 f. Vgl. B. Peters, Die Integration modemer Gesellschaften, S. 324, 358.

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zu leben, und das Recht droht auf ein Mittel im Kampf des Gegeneinanderlebens reduziert zu werden. Das Recht, so wie es praktiziert wird, ist dann nicht mehr Ausdruck des Willens, in gerechten Institutionen zusammen zu leben, sondern Beweis für dessen Abwesenheit und Ausdruck eines ungezügelten Misstrauens in alle nur „sozial" verfassten, aber nicht juridisch gesicherten Beziehungen. Soziales Zusammenleben aber, das sich allein auf seine rechtliche Regelung zu verlassen hätte, würde unweigerlich die verknöcherte Form einer Art Dienst nach Vorschrift annehmen und müsste schließlich zusammenbrechen. Denn es würde beispielsweise keinerlei Sorge mehr für das beinhalten, was Andere über das hinaus brauchen, was ihnen rechtlich zusteht. Und diejenigen, deren Bedürfnisse an die Verantwortung, an die Für- oder Vorsorge Anderer appellieren, ohne rechtlich zu fassende Gegenleistungen in Aussicht stellen zu können, würden auf katastrophale Weise zu kurz kommen.19 Sensibilität für die Bedürfnisse Anderer, die niemals mit dem Recht kongruent sein werden, kann wiederum nicht Gegenstand des Rechts sein. Man kann sie weder erzwingen noch zur Pflicht machen. Gerade deshalb ließe sich vermutlich im Rahmen einer Ethnologie oder Soziologie der Sensibilität ausgezeichnet deutlich machen, wie es um den Willen, zusammen zu leben, lebenspraktisch steht, d.h. ob und wie man ihn praktiziert oder nicht - sofern er nicht ohnehin völlig in Vergessenheit gefallen ist. Es lassen sich aber auch andere Zugänge zur praktischen Realität dieses Willens vorstellen. In erster Linie wird man in diesem Zusammenhang an traditionelle Begriffe wie Ethos und Sittlichkeit, an den Begriff der Maxime oder des Wertes denken. Ich möchte vorschlagen, von einem Begriff auszugehen, der alle diese Begriffe tangiert und sich unter gewissen Vorbehalten sogar als deren gemeinsamer Nenner verstehen ließe: der Begriff der praktischen Überzeugung. Wenn der Wille, zusammen - im nicht geleugneten Widerstreit - zu leben, eine praktische Realität ist, wird diese sich dann nicht am ehesten in der Form praktizierter Überzeugungen zeigen, die der Wahrnehmung und „Anerkennung" von Widerstreit nicht nur abstrakt, sondern lebenspraktisch die Bezeugung entgegensetzen, dennoch zusammen leben zu wollen? Wie müssen diese Überzeugungen angesichts eines Widerstreits beschaffen sein, der nicht im Vorgriff auf ein vorverständigtes Ethos oder auf eine geistphilosophisch idealisierte Sittlichkeit aufzuheben ist? Und wie sind sie zu verstehen, wenn sie sich in ihrer Funktion, Lebensformen im Widerstreit zu tragen, nicht auf individuell praktizierte Maximen20 oder auf abstrakte Orientierungen an überaus strittigen und „fragmentierten" Werten21 reduzieren lassen? Lässt sich die Gemeinsamkeit praktischer Überzeugungen mit einem Widerstreit zusammendenken, der sich jeglichem Vorverständigtsein widersetzt, an das man unter Berufung auf „Werte" auf wenig überzeugende Weise so oft appelliert? Wie könnte sich eine solche Gemeinsamkeit, der wir nicht zutrauen können, konfliktträchtigen Widerstreit von vornherein zu überbrücken, praktisch als Antwort auf die Herausforde-

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Vgl. A. W. Gouldner, Reziprozität und Autonomie, Frankfurt/M. 1984, Kap. 4. Vgl. R. Bubner, Handlung, Sprache und Vernunft, Frankfurt/M. 1982, S. 190 ff. Vgl. Th. Nagel, Mortal Questions, Cambridge 1970, S. 128-141; Ch. Taylor, Philosophy and the Human Sciences. Philosophical Papers 2, Cambridge 1985, S. 230-247.

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rung durch ihn bewähren? Muss sie als für die willentlich getragene und insofern bejahte Existenz sozialer Lebensformen im Widerstreit konstitutiv gelten? Im folgenden suche ich nach Antworten auf diese Fragen zunächst ausgehend von einigen Vorüberlegungen zum Begriff der Überzeugung und ihrem Identitätsbezug (8.3), die mit Blick auf moralische Regeln und die in ihnen verkörperten Überzeugungen (8.4) sodann zum Problem des praktischen Umgangs mit konfligierenden Überzeugungen führen (8.5), wobei ich mich von der Analyse praktischer Überzeugungen leiten lasse, wie sie Ricceur in Soimeme comme un autre vorgenommen hat. Am Schluss der folgenden Überlegungen steht die Frage nach Maßstäben der Kritik (8.6) und nach einer praktischen Moral des Umgangs mit einander widerstreitenden Überzeugungen - nach einer Moral im Widerstreit (8.7) - in der Perspektive der Tragik praktischer Konflikte (8.8).

8.3 Überzeugungen und Überzeugen Wovon wir überzeugt sind, das macht uns aus, sagt man. Gleichwohl - oder vielmehr gerade deshalb - lassen sich unsere Überzeugungen nicht ohne weiteres namhaft machen. Ungeachtet einer gewissen Rhetorik, die andere auch ungefragt wissen lässt, wovon man „zutiefst überzeugt" ist, wissen wir von den meisten - und womöglich gerade von den „tiefsten" - unserer Überzeugungen nur wenig. Das liegt daran, dass sie vielfach praktisch in unserer Erfahrung operativ wirksam sind, ohne als solche thematisch zu werden. Was wir beispielsweise mit Regelmäßigkeit erfahren, lässt uns erwarten, dass sich die Dinge in Zukunft ähnlich verhalten werden. Das Erfahrene induziert gleichsam das künftig zu Erwartende und stiftet die entsprechende Überzeugung. Die Erwartung nimmt bei hinreichender Bewährung praktisch von selbst die Form einer fungierenden Überzeugung an, die aus ihrem unbewussten Hintergrund meist erst dann hervortritt, wenn die Erwartung enttäuscht wird. Dann sagen wir: „ich war überzeugt", dass es sich anders verhält. Die artikulierte Überzeugung wird als retrospektive Kontrastfolie zur gegenwärtigen Andersheit thematisch, die als Kontingenz in die Erfahrung eingebrochen ist. Die Überzeugung, von deren vorheriger operativer Wirksamkeit wir nachträglich ausgehen, macht die Enttäuschung verständlich. Erst die Enttäuschung bringt aber die Überzeugung als solche ans Licht, während uns die nicht enttäuschte und insofern nicht erschütterte Überzeugung aufgrund ihres praktischen Funktionsmodus als solche gar nicht zu Gesicht kommt. So gesehen gibt es nur erschütterte Überzeugungen. Die Rhetorik der Überzeugung will uns aber vom Gegenteil überzeugen. Wer seine Überzeugung zum Ausdruck bringt, bekräftigt sie im gleichen Zug und signalisiert so, dass sie nicht nur das Gewicht einer womöglich leicht revidierbaren Meinung hat. Der Überzeugte ist überzeugt, das heißt, er hat scheinbar den Prozess der Auseinandersetzung mit anderen Meinungen oder Überzeugungen bereits hinter sich und ist zu einem Ergebnis gelangt, das durch eine weitere Auseinandersetzung zumindest vorläufig endgültig nicht zu erschüttern sein wird; oder er lässt sich auf einen solchen Prozess gar nicht erst ein, weil ihm die Überzeu-

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gung genügt, d.h. weil sie als Überzeugung „überzeugt" und keiner weiteren Abstützung oder Begründung zu bedürfen scheint. Keine Überzeugung aber kann jeglicher Begründung schlechterdings unbedürftig sein. Denn überzeugt sind wir nur von etwas (und als Überzeugung lassen wir nur gelten), was weder an sich logisch evident noch empirisch zwingend bewiesen ist. Zwischen dem Evidenten und dem Bewiesenen erstreckt sich der Spielraum möglicher Überzeugungen, die den Mangel an absoluter Klarheit darüber, wie es sich mit ihrem Gegenstand wirklich verhält, gleichsam mit ihrer subjektiven Bekräftigung kompensieren. Zu sagen, „ich bin überzeugt davon ...", hat nur Sinn, wenn das, was in Frage steht, nicht ohnehin klar (evident oder bewiesen) ist. Für die Fraglichkeit des Inhalts der Überzeugung soll scheinbar der Nachdruck des Überzeugtse/m- entschädigen. Wer also einer Überzeugung Ausdruck verleiht, gibt nicht nur eine Meinung kund, die als Meinung ihre Anfechtbarkeit und Revidierbarkeit erkennen lässt, sondern affirmiert eine Position, einen „Standpunkt". In der Kommunikation der Menschen bezeichnen ihre Überzeugungen den Ort, an dem sie sich befinden; und zwar als jemand, der gerade durch seine Überzeugungen in der Topographie der sozialen Beziehungen „lokalisiert" werden kann. Das mag die Schwerfälligkeit, die Viskosität oder Beharrungskraft vieler Überzeugungen erklären: Sie zu revidieren oder sie auch nur „zur Disposition" zu stellen, könnte bedeuten, nicht mehr als dieser Jemand für Andere erkennbar zu sein, d.h. seine soziale Identität einzubüßen. Das gilt vielleicht nicht für „periphere", nicht mit unserem Wer-Sein direkt verknüpfte Überzeugungen, wohl aber für diejenigen Überzeugungen, die wir mit Nachdruck verteidigen - unsere „tiefsten", womöglich „unerschütterlichen" Überzeugungen.22 Hier kommt eine Dimension der Tiefe bzw. der Verankerung unserer Überzeugungen darin, wer wir sind,23 sowie die Frage ins Spiel, inwieweit sich das Überzeugtsein einem Prozess öffnen kann, in dem man sich von anderem überzeugen oder durch Andere überzeugen lassen müsste.24

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Von nichts „wirklich" überzeugt zu sein, kommt am Ende der Musilschen „Eigenschaftslosigkeit", einer Art Identitätsverlust gleich. Jede bloße Meinung dagegen als „feste" Überzeugung darzustellen, droht das Wer-Sein schließlich in einer unveränderlichen Selbigkeit, in der Neurose eines quasi-dinglichen Charakters erstarren zu lassen. Die Psychologie der Überzeugung bringt an dieser Stelle Kriterien des Normalen und des Pathologischen ins Spiel; sie lässt aber auch zweifeln, ob die präsentierten thematischen Überzeugungen überhaupt den operativen Überzeugungen entsprechen, die die Erfahrung gleichsam a tergo prägen. Damit ist ein ontologischer Aspekt angesprochen - im Gegensatz zum epistemischen Status kognitiv artikulierbarer Überzeugungen, die man in einem sozialen Prozess zur Diskussion stellen, anfechten, prüfen und revidieren kann. Die Frage, wie die ontologische Dimension des Überzeugtseins mit dem epistemischen Status gewisser, für Identität konstitutiver Überzeugungen zusammenhängt, harrt der Aufklärung. Von der tiefsten Überzeugung, als die man das frühzeitig im Wechselspiel der An- und Abwesenheit des Anderen erworbene sogenannte Urvertrauen in sich selbst und in die Welt verstehen könnte, lassen bestenfalls solche Erfahrungen etwas ahnen, die sie nachträglich traumatisch erschüttert haben. Vom Überzeugtsein im Modus des Vertrauens in sich, in Andere und in die Welt, deren konstante Struktur auf diesem Vertrauen aufruht, bringt nur das Trauma ab. Wird das Vertrauen traumatisch erschüttert, bricht in gewisser Weise auch die Erfahrung als Erfahrung zusammen. Sofern sich also dieses Vertrauen als eine Form des Überzeugtseins verstehen lässt,

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Genau das erwarten wir von allen thematisierbaren (im Gegensatz zu den operativen, weitgehend unbewussten) Überzeugungen. Wer von etwas überzeugt ist, kann diese Überzeugung vertreten und Andere zu überzeugen versuchen - unter der Voraussetzung, sich darauf einzulassen, selber überzeugt zu werden. Andere überzeugen und sich von Anderen überzeugen lassen - erscheint das eine aber nicht vielfach vom anderen getrennt? Während im „Meinungsaustausch", in dem man nicht nur eigene Meinungen kundtut, sondern sie auch unter dem Eindruck des Anderen revidiert, ein gegenseitiges Geben und Nehmen herrscht, verkümmert die Gegenseitigkeit der Kommunikation im Fall ein- oder beidseitiger Überzeugungsversuche um so eher zur bloßen Wechselseitigkeit, wie jeweils „letzte", d.h. fundamentale Überzeugungen ins Spiel kommen, die lediglich zur „Überzeugungsiw^ez/" an Anderen dienen - gegebenenfalls mit dem Ziel der Überredung oder der Bekehrung. Das Paradigma einer solchen letzten Überzeugung ist der religiöse oder auch der politische Glaube, von dem man nicht abzubringen ist. Er gibt sich immun gegen Widerlegung; und es lässt sich überhaupt keine Form der Widerlegung im engeren Sinne denken. Man kann ihm demzufolge auch nicht widersprechen, sondern ihm nur in der Weise des Nicht-Glaubens antworten, wenn man ihn nicht teilt. Der religiöse und der politische, quasi-religiöse Glaube schließt einen offenen Prozess gegenseitigen Überzeugens aus; er entspricht einem Überzeugtsein, durch das man sich nicht auf die übliche Weise überzeugen lassen kann und das sich nicht von anderem überzeugen lässt. Das ist der Grenzfall einer Überzeugung (im Sinne von Überzeugtsein) ohne Überzeugung (als Geschehen des Überzeugens und des Sichüberzeugenlassens). 25 Tatsächlich lässt aber jede mit Nachdruck bekräftigte Überzeugung Zweifel daran aufkommen, ob sie sich noch für einen Prozess des Überzeugens öffnen lässt;26 und zwar besonders dann, wenn anzunehmen ist, dass die betreffende Überzeugung konstitutiv fur die Lebensform derer ist, die ihr anhängen. Was speziell religiöse Lebensformen kennzeichnet, ist nach H. Putnam weniger die mit ihnen „einhergehende Äußerung des Glaubens, sondern eine Art und Weise der Lebensführung, der Regelung aller Entscheidungen, und zwar eine Art und Weise, die Worte und Bilder einschließt, aber bei weitem nicht nur aus Worten und Bildern besteht". 27 Das Verstehen der Wor-

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kann und darf es gar nicht in einem weiteren Prozess der Überzeugung „zur Disposition gestellt" werden, der es zerstören könnte. Vgl. R. Bernet, „Das traumatisierte Subjekt", in: M. Fischer, H.D. Gondek u. B. Liebsch (Hg.), Vernunft im Zeichen des Fremden, Frankfurt/M. 2001, S. 225253. Der religiöse Glaube ist so gesehen ein Grenzfall, wo der Versuch der Überzeugung Anderer auf eine Bekehrung oder Konversion hinausläuft. Vgl. L. Wittgenstein, Über Gewißheit, Frankfurt/M. 1971, Nr. 611 f. - Auch der entgegengesetzte Grenzfall lässt sich denken: ein Prozess des Überzeugens, in dem gar keine wirklichen Überzeugungen mehr auf dem Spiel stehen. Vgl. hierzu die Überlegungen M. de Certeaus zur politischen Überzeugung zwischen Glaube und Meinung in: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 315 ff. Charakteristisch ist außerdem, dass man im Einzelfall nicht wissen kann, woran es eigentlich liegt, wenn es nicht aussichtsreich erscheint, Überzeugungen einem Prozess des Überzeugens auszusetzen; vgl. H. Putnam, „Wittgenstein über den religiösen Glauben", in: Für eine Erneuerung der Philosophie, Stuttgart 1997, S. 172-200, hier: S. 189 ff. Vgl. ebd., S. 196.

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te, in denen die religiöse Überzeugung zum Ausdruck kommt, lässt sich in dieser Sicht nicht trennen vom Verstehen der Lebensform, die vom religiösen Glauben im Einzelfall derart durchtränkt sein kann, dass die Gläubigen in einer eigenen „religiösen Welt" zu leben scheinen. Ihre Welt-Erfahrung wird dann nur vor einem „Hintergrund des Einleuchtens" verständlich, der ihnen vorgibt, was sie überzeugt - auf der Grundlage einer fundamentalen Überzeugung, die allem Reden und Tun zugrunde liegt, die aber ihrerseits darin nicht zur Disposition gestellt wird und insofern nicht „überzeugen" kann. An dieser Stelle kommt es nicht auf eine Vertiefung dieses Beispiels, sondern darauf an, diese Zwiespältigkeit des Begriffs der Überzeugung (der das Überzeugtse/'« und das Geschehen der Überzeugung meinen kann) und die Unterscheidung operativer und thematischer Überzeugungen festzuhalten, um die Problematik praktischer Überzeugungen besser zu verstehen, auf die wir im folgenden wieder zurückkommen. - Was Putnam im Anschluss an Wittgenstein vom religiösen Glauben generell sagt, dass er nämlich ein Überzeugtsein impliziere, welches das ganze Leben durchdringe und „regele", trifft in dieser extremen Form wohl nicht einmal für die mönchische Lebensform zu. (Ist die tagtägliche Ordnung, in der sich das Klosterleben einschließlich profanster Verrichtungen normalerweise abspielt, tatsächlich zur Gänze vom Glauben bestimmt?) Der religiöse Glaube kann dessen ungeachtet aber als ein Beispiel dafür gelten, wie eine das praktische Leben und seine Form durchherrschende Überzeugung gleichsam zum Brennpunkt der Frage werden kann, was es bedeutet, einer Lebensform zuzugehören. Ein anderes Beispiel sind Regeln, deren Befolgung - von der Etikette und der Sitte bis hin zu hochabstrakten Regeln, die sich auf die Realisierung des Guten oder des Gerechten beziehen - definiert, was es heißt, einer Lebensform moralisch zuzugehören, und normative Überzeugungen, wie sie etwa in Gerechtigkeitsvorstellungen zum Vorschein kommen.

8.4 Verkörperte Überzeugungen Lebensformen sind vielschichtige und in sich heterogene Gebilde. Der von Wittgenstein ausgehende Ansatz, Lebensformen von den Regeln her zu begreifen, die fur die Zugehörigkeit zu ihnen konstitutiv zu sein scheinen, hat zu einem sehr disparaten Bild geführt: weder der Bewusstseinsgrad, noch der Status noch der Funktionsmodus der Regeln kann als einheitlich gelten. Gerade angesichts dieses disparaten Bildes liegt es nahe, sich auf normative, speziell moralische Regeln zu konzentrieren, die mit der Frage der Zugehörigkeit zu Lebensformen am engsten verknüpft zu sein scheinen, insofern sie praktischen Überzeugungen entsprechen, die besagen, wie man sich der jeweiligen Lebensform -verpflichtet fühlt. Liegt darin vielleicht die gesuchte „Gemeinsamkeit"? Das vermutet jedenfalls A. Maclntyre, indem er moralische Regeln nicht als Ausdruck einer universalen und allgemeinen Moralität, sondern als intrinsisch mit partikularen, zunächst nur in bestimmten Lebensformen geltenden Gütern verknüpft begreift. Für diese Güter, „in bezug auf welche und um deretwillen alle Regeln ge-

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rechtfertigt werden müssen", ist Maclntyre zufolge „die Teilnahme an einer bestimmten Art gesellschaftlichen Lebens" zentral. Diese Teilnahme werde „gelebt in bestimmten gesellschaftlichen Beziehungen, so daß das, woran ich teilhabe, das Gut dieses bestimmten von mir gelebten gesellschaftlichen Lebens ist und ich es als das genieße, was es ist. Es mag wohl sein, daß ich ähnliche Formen gesellschaftlichen Lebens in anderen Gemeinschaften ebenso genießen würde und von ihnen profitiere; doch diese hypothetische Wahrheit ist in keiner Weise der Wichtigkeit der Annahme abträglich, daß ich meine Güter nun einmal hier finde, in diesem bestimmten Volk, in diesen bestimmten Beziehungen. Güter können niemals anders als in dieser partikularistischen Form existieren." 28 Maclntyre knüpft das Band zwischen (moralischen) Regeln und Gütern derart eng, dass sich schließlich eines ohne das andere gar nicht mehr denken lässt. „Meine Rechtfertigung fur die Befolgung dieser moralischen Regeln [finde] ich in meiner bestimmten Gemeinschaft [...]; ohne das Leben dieser Gemeinschaft hätte ich keinen Grund, moralisch zu sein." „Meiner Gemeinschaft beraubt, laufe ich Gefahr, alle wirklichen Maßstäbe des Urteilens zu verlieren. Dieser Auffassung zufolge ist die Loyalität zu dieser Gemeinschaft, zur Hierarchie besonderer Verwandtschaft, zu einer besonderen lokalen und besonderen natürlichen Gemeinschaft, eine Bedingung der Moral." 2 9 Maclntyre leugnet die Anfechtbarkeit einer solchen Position nicht. Er gibt ihr zunächst darin recht, dass moralische Regeln in der Tat nur durch die Zugehörigkeit zu einer lokalen Gemeinschaft gelernt werden, die ihre Identität in bezug auf gewisse Güter definiert. Aber daraus folge nicht, dass man zu unbedingter Unterstützung dieser Gemeinschaft oder dieser Güter verpflichtet sei. Widerspricht die genetisch begründete Zugehörigkeit zur moralischen Realität von Lebensformen überhaupt der Möglichkeit und Notwendigkeit distanzierter Kritik? Maclntyre sieht das Dilemma, dass einerseits die angeführte Position in der Weise, wie sie die Bindungen an eine lokale Gemeinschaft der rationalen Kritik entzieht, „eine permanente Quelle moralischer Gefahr darstellt", während andererseits eine scheinbar von jeglicher Gemeinschaftsbezogenheit gelöste Moral diese „Bindungen zu sehr der Auflösung durch rationale Kritik preisgibt". 3 0 Dieses Dilemma ergibt sich aus „zwei widerstreitende[n] und unvereinbare[n] Auffassungen von Moral", die die wirklichen Verflechtungen von Zugehörigkeit und Kritik eher verdunkeln als erhellen. Die Zugehörigkeit zur moralischnormativen Realität von Lebensformen muss nicht auf bornierte moralische Überzeugungen hinauslaufen, die keinerlei Kritik vertragen; und die Kritik kann moralische Überzeugungen

Vgl. A. Maclntyre, „Ist Patriotismus eine Tugend?", in: A. Honneth (Hg.), Frankfurt/M. 1995, 3. Aufl., S. 84-102, hier: S. 91.

Kommunitarismus,

29

Ebd., S. 92 f. - Ausdrücklich sei angemerkt, dass der Autor hier eine dem „Patriotismus" zugeschriebene Auffassung referiert, die er zunächst einer universalistischen Position entgegenstellt. Keineswegs redet Maclnytre selber einer in jedem Fall unbedingten Zustimmung zur Moral einer lokalen Gemeinschaft das Wort. Doch gewinnt der Leser den Eindruck, dass Maclntyre an einer genetisch begründeten - intrinsischen Verkoppelung von Moral und partikularen Gütern letztlich doch festhalten möchte.

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Ebd., S. 100 f.

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läutern, um sie in wohlerwogene zu überführen, ohne sie dadurch in ihrer für die Zugehörigkeit konstitutiven Funktion zu zerstören. Die Kritik kann auf diese Weise in der Sphäre der Zugehörigkeit zur Geltung kommen; sie kann diese aber nicht als ganze vor sich bringen. Schon durch ihr Anknüpfen an Überzeugungen, die sich in der Befolgung der moralischen Regeln realisieren, nimmt sie unvermeidlich eine situierte Form an, woraus wiederum aber nicht folgt, die Kritik könne nicht wie der utopische Möglichkeitssinn über die konkrete Wirklichkeit der gelebten Lebensform hinaus auf Besseres ausgreifen.31 Selbst die utopische Leidenschaft für das Mögliche muss aber an der wirklichen Verfassung der Lebensformen anknüpfen, um wirksam werden zu können. So gesehen wäre es falsch, Wirklichkeit und Möglichkeit abstrakt einander entgegenzusetzen. Der Möglichkeitssinn zerstört das Wirkliche nicht unbedingt, sondern zielt im günstigen Fall auf dessen Umgestaltung, so wie die „dezentrierte" Kritik nicht die Situierung der Lebensformen aufhebt, sondern sie re-formiert. So gesehen wirkt auch die rationale Argumentation als primärer Modus der distanzierten Kritik in der Zugehörigkeit „nicht nur als bloßer Widersacher von Tradition und Konvention [...], sondern als kritische Instanz innerhalb der Überzeugungen", die sich in der Befolgung der moralischen Regeln, aber nicht nur darin, verkörpern. Der Kritik kann es nicht darum gehen, die Überzeugungen zu eliminieren, um etwas ganz anderes an deren Stelle zu setzen, sondern nur darum, sie wie gesagt in wohlerwogene Überzeugungen zu transformieren.32 „Wohlerwogen" heißt nicht: unanfechtbar, universal, argumentativ letztbegründet, sondern: unter den gegebenen Umständen, im Rahmen des Möglichen gut begründet. Damit kommt zweierlei ins Spiel: das Eingeständnis der Erwägungsbedürftigkeit und -fähigkeit der zur Diskussion stehenden Überzeugungen einerseits, die man der Forderung unterstellt, wohlerwogen zu sein; und das Eingeständnis einer prinzipiellen Begrenztheit jeglicher Erwägung andererseits, deren Grenzen man nicht im gleichen Zug erwägen kann. Am Ende der Erwägung soll die nicht nur im engeren Sinne begründete, sondern auch klug abgewogene und womöglich situationsgerechte Überzeugung stehen, nicht die „schlichte" Überzeugung, die operativ, ohne ausdrücklich als Überzeugung - etwa in der Form der Stellungnahme - zu begegnen, alle Lebensbereiche durchdringt und auf allen Stufenleitern der Praxis wirksam ist: „angefangen von den Praktiken und ihren immanenten Gütern über die Lebenspläne, die Lebensgeschichte, bis hin zu der Vorstellung, die die Menschen einzeln oder gemeinsam von einem erfüllten Leben haben".33 Ricceur spricht so einerseits von den „konkreten Lebensformen innewohnenden Überzeugungen", die praktiziert werden und deren praktizierte Realität genau das ausmacht, was wir in ontologischer Sprache als Situierung bezeichnet haben. Die operativen Überzeugungen bestimmen gewissermaßen den Ort, von dem aus zusammen gelebt wird oder von dem aus 31

Vgl. P. Ricceur, „Ethics and Culture", in: Philosophy Today 17 (1973), no. 2-4, S. 153-165; ders., „Ideology and Utopia as cultural imagination", in: Philosophie Exchange (1976), no. 2, S. 17-28; „L'Imagination dans le discours et dans Taction", in: Savoir, faire, esperer, T.l, Bruxelles 1976, S. 207-228; Lectures ort Ideology and Utopia, New York 1986.

32

Vgl. P. Ricceur, SaA, S. 348. SaA, S. 349.

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das Zusammenleben Form annimmt. Andererseits steht der Begriff der Überzeugung aber auch für all das, was in der kritischen Auseinandersetzung mit und über Lebensformen „auf dem Spiel steht", was also Thema der Auseinandersetzung ist. Charakteristisch für die Strittigkeit von Überzeugungen ist gerade die subtile Verflechtung ihrer operativen, diskursiv niemals völlig zu klärenden Wirksamkeit einerseits mit ihrer Rolle als strittiger Brennpunkt von Lebensformen andererseits. In ihrer Strittigkeit wird deutlich, als wer man sich (nicht) verstehen will und wo die Grenzen von Zugehörigkeit und Mitgliedschaft verlaufen sollen, ungeachtet aller Widersprüche, Uber die man sich nicht verständigen kann, und ungeachtet des Widerstreits, in den sich selbst die rein diskursiven Auseinandersetzungen um die Frage des Vorrangs von Sittlichkeit oder Moralität, Deontologie oder Teleologie, Universalismus oder Kontextualismus usw. verstricken. Überzeugungen fallen also auf die Seite dessen, aufgrund wovon Streit geführt wird (a), oder auf die Seite dessen, worüber er gefuhrt wird (b); wobei die Strittigkeit mit der Schwierigkeit konfrontiert ist, dass operative Überzeugungen nicht ohne weiteres Thema der Auseinandersetzung werden können.34 Jene Zweideutigkeit betrifft prima facie alle moralischen oder ethischen Überzeugungen. Selbst dort, wo sie in denkbar schärfster Form zum Ausdruck kommen, in moralischer Ablehnung und Verurteilung, zeigt sich das, aufgrund wovon geurteilt wird, eigenartig verschränkt mit dem, worüber geurteilt wird. Aufgrund eines vorgängigen (Un)Gerechtigkeitssinns, eines Sinnes für das Gerechte und das Ungerechte, der sich oft genug nur schwer positiv artikulieren lässt, sagen wir: „Was für eine Ungerechtigkeit" und beurteilen Verhältnisse als ungerecht.35 Von der Schwierigkeit, ausgehend von operativen Überzeugungen, wie sie implizit im Sinn für das Ungerechte etwa liegen, einen einheitlichen Begriff der Gerechtigkeit zu skizzieren, zeigt sich dieser Sinn erstaunlich wenig beeindruckt. Er ist Grund des Protests, ja des politischen Zorns, der nur mit Mühe in die Form einer wohlerwogenen Überzeugung überführt werden kann.36 Ähnlich „begründet" die Sensibilität für Gewalt und deren Wahrnehmung die ablehnende und verurteilende Beurteilung gewaltsamer oder gewalttätiger Verhältnisse. Rational im engeren, nämlich argumentativen Sinne begründete Überzeugungen, die „mutwillig" verübte Gewalt gegen Andere verurteilen, sind so gesehen die verspätete Antwort auf Überzeugungen, die bereits in der Sensibilität der Wahrnehmung für Gewaltsamkeit und Gewalttätigkeit keimen. Das lässt sich für alle gewaltförmigen Arten der Macht über Andere behaupten - angefangen bei der Demütigung über den Verrat und das falsche Versprechen bis hin zur Folter.37 Die intuitiven Überzeugungen angesichts der Gewalt in ih-

34

35 36

37

Vgl. A. Maclntyre, „Ist Patriotismus eine Tugend?", S. 89. Streit über divergierende thematische Überzeugungen (b) kann aber durch unterschiedliche operative Überzeugungen (a) sinnlos werden, die latent bleiben, so dass man in gewisser Weise nicht recht weiß, worüber man sich eigentlich auseinandersetzt. Vgl. P. Ricoeur, SaA, S. 241. Vgl. J. Assmann, Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, München 1995, 2. Aufl., S. 84 ff.; J.-L. Nancy, „Das gemeinsame Erscheinen", in: J. Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/M. 1994, S. 167-207, hier: S. 172 f. P. Ricoeur, SaA, S. 267.

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ren verschiedensten Erscheinungsformen lassen deutlich erkennen, was für unmoralisch, für falsch oder ungerecht erachtet wird. Das heißt aber nicht, dass sie sich auch ohne weiteres als positive, in der argumentativen Auseinandersetzung zu bewährende Überzeugungen artikulieren ließen, die besagen sollten, was „moralisch", „richtig" oder „gerecht" ist. Wir sind hier mit einer Dispersion der Normativität von Überzeugungen konfrontiert,38 die auch die entsprechenden Begriffe selber nicht verschont.

Diese Dispersion ist auch nicht dadurch zu unterlaufen, dass man sich auf einen minimalen, aus vermeintlich eindeutig negativen Erfahrungen gespeisten Kern moralischer Überzeugungen etwa stützt. In dieser Hinsicht sind die Untersuchungen Judith Shklars zur Ungerechtigkeit lehrreich. Gewiss kommt keine „soziale" Gesellschaft ohne einen lebendigen Sinn für Ungerechtigkeit aus, der sich in kein noch so perfektioniertes Gesetzessystem einbringen lässt. Dieser Sinn, in dem sich eine Vielzahl „operativer" moralischer Überzeugungen zeigt, hat ganz verschiedene Quellen, Gründe und Anlässe - von der Erfahrung der Verrats und der Enttäuschung, über den Zorn, nicht berücksichtigt (oder nicht einmal wahrgenommen) zu werden, bis hin zum Schmerz angesichts ungerechter Behandlung Anderer. Immer, meint Shklar, ist die wahrgenommene Verletzung von (eigenen und fremden) Ansprüchen im Spiel, wenn der „Sinn fur Ungerechtigkeit" sich zu Wort meldet. (Vgl. J. Shklar, Über Ungerechtigkeit, Frankfurt/M. 1997, S. 110.) Über ihn nicht zu verfügen, das hieße fur Shklar, „kein moralisches Leben zu fuhren". In diesem Sinne gibt es moralisches Leben nur im Zeichen der Sensibilität für Ungerechtigkeit, die, noch bevor man eine normative Überzeugung artikulieren kann, die moralische Wahrnehmung herausfordert. Allerdings ist keineswegs klar, ob dieser Sinn eine konkrete Idee der Gerechtigkeit positiv vorzeichnet und welche Maßstäbe er im Einzelfall impliziert. Handelt es sich überhaupt um ein einheitliches Phänomen? Offenbar gibt es große Unterschiede schon in der Wahrnehmung von Ungerechtigkeit, aber auch in der sprachlichen Artikulation von Ansprüchen, die man in ihr verletzt sieht. (Ebd., S. 137, 141, 112, 133.) - Shklar schreibt der Sozialisation in dieser Hinsicht eine entscheidende Rolle zu: lehrt sie uns nicht die Maßstäbe, an denen sich bereits die Wahrnehmung orientiert? Ist eine „überlegte und vermeidbare Verletzung" von Ansprüchen, die Shklar für den Brennpunkt der Erfahrungen von Ungerechtigkeit hält, überhaupt ohne gewisse Maßstäbe und Kriterien als solche zu erkennen? Selbst innerhalb ein und desselben sozialisatorischen Kontextes bleiben die Kriterien der Ungerechtigkeit häufig ebenso umstritten wie die Frage, wer im Einzelfall befugt ist, sie festzulegen. Da die konkrete Erfahrung von Ungerechtigkeit die Möglichkeiten einer juridischen Artikulation weit überfordert, muss man von einem Versagen der rechtsförmigen Gerechtigkeit vor der Ungerechtigkeit bzw. von einer „Ungerechtigkeit in der Gerechtigkeit" (S. 153 f.) sprechen. - Shklars aporetische Zuspitzung dieser Problematik im Sinne dieser Ungerechtigkeit würde noch verschärft, wenn man die Idee der Gerechtigkeit über die Billigkeit hinaus auf jeden als Anderen beziehen würde, wie es in verschiedener Weise u.a. Levinas, Derrida und auch Ricceur getan haben (was Shklar aber nicht tut). Diese Ungerechtigkeit bleibt auch dann unaufhebbar, wenn man speziell einem demokratischen Staat die Verpflichtung auferlegt, Jeden [!] Ausdruck eines Unrechtsempfindens nicht nur gemäß den tatsächlich bestehenden Regeln fair zu behandeln, sondern auch mit Blick auf bessere Regeln, die potentiell mehr Gleichheit beinhalten" könnten. Für Shklar ist Demokratie genau als das Versprechen definiert, dieser Verpflichtung gerecht werden zu sollen. (Wenn es sich wirklich an jedem Ausdruck eines Unrechtsempfindens messen lassen sollte, müsste es sich freilich um ein übermäßiges, geradezu maßloses Versprechen handeln.) Aber kann ein solches Versprechen vor dem Hintergrund ganz verschiedener, teils „unvereinbarer Werte" (ebd., S. 149) und Maßstäbe der (Un-)Gerechtigkeit als glaubwürdig erscheinen? Aus Gefühlen der Ungerechtigkeit folgt wie

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Nicht nur kennen wir verschiedene normative Dimensionen der Wahrnehmung und der Beurteilung sozialer Verhältnisse. Auch die Dimensionen selber erweisen sich als in sich uneinheitlich. - Um beim Problem der Gerechtigkeit zu bleiben: Schon Aristoteles sieht sich angesichts der unüberschaubaren Vieldeutigkeit des Gerechten und des Ungerechten dazu gezwungen, eine Konzeption auszuwählen, die ihm vertretbar erscheint; eine Konzeption, die genau eine Überzeugung (im Sinne der Achtung vor dem Gesetz und der Gleichheit der Bürger) privilegiert und damit andere, widerstreitende Überzeugungen in den Hintergrund rückt. 39 Schon die Beschränkung der (distributiven) Gerechtigkeit auf diejenigen, die gemäß ihrer Zugehörigkeit zum politischen Gemeinwesen Anspruch auf „das Ihre" haben, ist nicht trivial: Gerechtigkeit für Unzugehörige, für Andere, die als Fremde weder Mitglieder noch Zugehörige sein können, lässt sich so nicht denken. Aber auch innerhalb der Idee der gerechten Verteilung zeichnet sich ein Widerstreit ab: „Bezweckt sie, individuelle und aneinander jeweils desinteressierte Interessen abzugrenzen oder das Band der Kooperation zu verstärken?" 40 Das eine Ziel widerstreitet dem anderen. Darüber hinaus bleibt jede faktische Verteilung „problematisch": „In der Tat gibt es kein allgemeingültiges System der Verteilung, und sämtliche bekannten Systeme drücken zufallsbedingte und widerrufliche Entscheidungen aus, die mit Kämpfen verbunden sind, wie sie die gewalttätige Geschichte der Gesellschaften begleiten." 41 Verteilungen orientieren sich an heterogenen Gütern, deren qualitative Verschiedenheit und heterogene Beurteilung durch die Beteiligten sich selbst durch eine auf den ersten Blick gerechteste Verteilung nicht beseitigen lässt. Der Versuch, der Heterogenität des Gerechten durch eine saubere Aufteilung von „Sphären der Gerechtigkeit" entgegenzukommen, kann weder Konkurrenz zwischen den Sphären noch gegenseitige Übergriffe verhindern, für deren Fall keine unabhängige Schlichtungsinstanz zur Verfugung steht. Kann Walzers Auffassung, dass es eine mehr oder weniger selbständige Sphäre des Handels und der wirtschaftlichen Güter gibt oder geben sollte, die allein durch die Frage bestimmt wird, was unter welchen Bedingungen erworben oder verkauft werden kann, auch nur im entferntesten als unstrittig gelten? 42 Wenn sich andere, nichtökonomische Beurteilungsmaßstäbe in diese Sphäre hineinmischen, wer ist dann befugt, die Grenzen zwischen den verschiedenen Sphären (in Walzers Sinne) aufrecht zu erhalten? Mitnichten gibt es für jedes soziale Gut oder für jede Verteilungssphäre nur einen allgemein akgesagt ohnehin nicht eindeutig, nach welcher Gerechtigkeit sie verlangen und verlangen können im Rahmen gewisser politischer Möglichkeiten, die ihrerseits davor bewahrt werden müssen, von radikalen Ansprüchen überfordert zu werden, die eine ethische und deontologische Gewaltsamkeit heraufbeschwören, wenn sie etwa den ausgemachten Widerstreit von Ethik und Politik einfach unterlaufen. Vieles spricht dafür, dass die politische Gerechtigkeit dem Gerechtigkeitsempfinden auf jeden Fall „Unrecht" tun muss. Das fuhrt uns zu Lyotards Problemen zurück, entbindet aber nicht von der Aufgabe, zu spezifizieren, woin dieses Unrecht jeweils konkret liegt und wie es wenn nicht zu beseitigen, so doch zu mildern wäre. 39 40 41 42

Aristoteles, Nikomachische SaA, S. 303.

Ethik, V, 2, 1129a, 26 f.; vgl. SaA, S. 241 f.

SaA, S. 344. Vgl. M. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit,

Frankfurt/M. 1998.

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zeptierten Maßstab. Vielmehr interferieren die Maßstäbe und sind ebenso umkämpft wie die Prioritäten, die Präferenzen und die Umstände der Verteilung. Und die vermeintliche Zauberformel, die da besagt, unter diesen Bedingungen helfe nichts als die demokratische Institutionalisierung des Konflikts, verführt dazu, die Radikalität der Strittigkeiten zu unterschätzen, die im Konfliktfall zur Austragung kommen. 43 Nicht nur steht ja in Frage, wie die „distributive" Version der Gerechtigkeit im Sinne von Gütern, Maßstäben und Bereichen umzusetzen ist und ob das fiir praktische politische Zwecke genügt. Zur Diskussion steht auch, ob angesichts einer Fülle prä-politischer Überzeugungen, die sich nicht nur auf Ungerechtigkeit, sondern auch auf das Falsche und das Schlechte, ja auf das Böse beziehen, das dem Anderen nicht nur als Zugehörigem oder als Mitglied des politischen Gemeinwesens, sondern als Anderem widerfährt, überhaupt der Idee der Gerechtigkeit der Vorzug gegeben werden soll. Diese Frage führt nicht nur auf die Spur von Momenten des Widerstreits innerhalb der Idee der politischen Gerechtigkeit, sondern auch auf die Spur eines Widerstreits, in dem sich die Orientierung an gerechten gesellschaftlichen Institutionen selber im Verhältnis zur ethischen Herausforderung angesichts des Anderen befindet. Diese Herausforderung geht weit über den Gedanken einer Billigkeit hinaus, die die Gerechtigkeit berichtigt und das Gesetz korrigiert „so weit [letzteres] auf Grund seiner Allgemeinheit mangelhaft ist".44 Denn jener Gerechtigkeitssinn erschöpft sich nicht in einem Sinn für „das Billige im Gerechten", sondern erstreckt sich, folgen wir Levinas, selbst noch auf das, was an der Gerechtigkeit selber „ungerecht" ist, insofern sie den Anderen allemal „gleich macht" und so die singulare Anderheit des Anderen verfehlt. 45 Diesen zweifellos von Levinas inspirierten Vorwurf richtet Ricceur sogar gegen Kants Begriff der Menschheit, der gewiss nicht zu Recht im Verdacht steht, nur auf eine Politik für Mitglieder und Zugehörige zugeschnitten zu sein: Neigt die Idee der Menschheit nicht „da-

43

Selbst wenn man meint, Demokratie bedeute „nicht tiefe Übereinstimmung der Geister, sondern Zerrissenheit des Sinns und erbarmungslosen Antagonismus der Gedanken", unterschätzt man diese Strittigkeit, solange man sie sich juridisch eingehegt denkt. Vgl. M. Gauchet, „Tocqueville, Amerika und wir", in: U. Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt/M. 1990, S. 123-206, hier: S. 141, sowie die Überlegungen R. Forsts hierzu in: Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1996, S. 183. - Für Lyotard schließt die Strittigkeit wie gesagt das „Wesen des Sozialen" selber ein (s. o., Kap. 5). Diese Strittigkeit anzuerkennen und mit C. Lefort anzunehmen, dass gerade ein demokratisches System ohne jegliche Gewissheit in dieser Hinsicht auskommen muss, bedeutet nicht, dass es nicht tatsächlich mit ernsthaften Überzeugungen in dieser Hinsicht konfrontiert wäre. Die Tiefe und Ernsthaftigkeit unserer Überzeugungen hängt mit der Frage ihrer „letztlichen" Begründbarkeit nicht unbedingt zusammen. Aus der von Rawls und anderen angenommenen rationalen Mangelhaftigkeit „substanzieller" Überzeugungen darauf zu schließen, sie würden deshalb für gegebenenfalls verzichtbar gehalten, erscheint mir abwegig. Vgl. C. Lefort, „Die Frage der Demokratie", in: U. Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft, S. 291-297, hier: S. 296.

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P. Ricceur, SaA, S. 317. So wäre mit J. Shklar der „Sinn für Ungerechtigkeit" neu zu interpretieren; s.o. Anm. 38.

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zu, die Ander[s]heit des Anderen abzuschwächen, wenn nicht sogar aufzuheben"? 46 Verfehlt diese Idee insofern nicht eine andere Gerechtigkeit, der bereits unsere „Sensibilität" angesichts des Anderen als Anderen verpflichtet ist? Wenn es so ist, dann macht sich hier erneut ein innerer Widerstreit im Begriff der Gerechtigkeit bemerkbar: die Gerechtigkeit angesichts des Anderen, angesichts seiner Unersetzbarkeit und Singularität, kann nicht mit der politischen Gerechtigkeit, die wir Anderen als Gleichen schulden, auf einen Nenner gebracht werden. Dieser Widerstreit affiziert nicht nur die bewussten Vorstellungen, die wir uns vom Leben mit und unter Anderen machen; er „fungiert" bereits in der Erfahrung. Die Reduktion der Idee der Gerechtigkeit auf einen fairen Ausgleich der politischen Verhältnisse zwischen Gleichen erscheint in dieser Perspektive als eine gewaltsame Verkürzung, die freilich nichts daran ändern kann, dass die Idee der politischen Gerechtigkeit im engeren Sinne auch in sich strittig bleibt, weil die verschiedenen Arten der Gerechtigkeit nicht von sich aus ihre Anwendung auf unterschiedliche Sphären des sozialen Lebens eindeutig vorgeben. Angesichts der Dispersion normativer Überzeugungen, die sich in dieser Strittigkeit zeigt, scheint sich nun nur ein einziges Mittel der Auseinandersetzung anzubieten, das verspricht, den dem Politischen innewohnenden Widerstreit in seinen verschiedenen Erscheinungsformen nicht unmittelbar in Gewalt umschlagen zu lassen: das „dialektische" Gespräch. Ich gehe im folgenden zunächst auf den entsprechenden Deutungsvorschlag Bubners und auf die Rolle des Überzeugungsbegriffs in der Theorie diskursiver Auseinandersetzung bei Habermas ein, um dann auf die Position Ricoeurs zurückzukommen, die den diskurstheoretisch notorisch unterbelichteten Begriff des Widerstreits in einer Wendung gegen Hegelsches Versöhnungsdenken als tragischen Konflikt beschreibt, aus dem es zwar keinen Ausweg gibt, der aber dennoch nicht zur Gewalt verurteilt, sondern praktische Weisheit herausfordert.

8.5 Kritik einer „dialektischen" Rationalität Die Theorie des dialektischen Dialogs präsentiert sich als eine Rekonstruktion „lebensweltlicher Rationalität", d.h. derjenigen Rationalität, die in den „spontanen", nicht eigens theoretisch angeleiteten Versuchen der Menschen, ihre gegensätzlichen Überzeugungen zum Ausgleich zu bringen, praktisch de facto am Werk ist.47 Diese Rekonstruktion soll zeigen, wie Überzeugungen Prozessen der Überzeugung ausgesetzt werden und wie sie aus solchen Pro46

47

Vgl. SaA, S. 321. Ricceur denkt hier aber - im Gegensatz zu Levinas - die Ander(s)heit als Ausnahme unter der Geltung des moralischen Gesetzes. Davon kann so bei Levinas keine Rede sein. Ich sehe hier vom argumentativen Zusammenhang, insbesondere von der Perspektive ab, in der Bubner Hobbes rekonstruiert. Sie besagt, jene Rationalität sei immer schon da, sie müsse im Einzelfall „nur geweckt" werden; vgl. R. Bubner, Dialektik als Topik, Frankfurt/M. 1990, S. 32. Wird damit nicht das Moment der radikalen Kontingenz eben der Momente übersehen, die die nirgends „gegebene" politische Ordnung fundieren? Zu diesen Momenten gehört bei Hobbes nicht nur eine rechenhafte Rationalität, sondern auch die Erfahrung, vom Anderen tödlich bedroht zu sein und das angesichts dieser Erfahrung dennoch Anderen gewährte Vertrauen sowie das „im Vertrauen" gegebene Wort, das Versprechen.

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zessen gewonnen werden. Zwar ist das Augenmerk zunächst ganz auf thematische Überzeugungen gerichtet; doch bei der Frage, was bedingt, dass im Einzelfall ein Argument überzeugt, wird man darauf gestoßen, dass sich das jeweils Überzeugende „nur daran messen [lässt], ob das Vorverständnis [...] getroffen" oder „verfehlt wird".48 Was überzeugt, hängt also davon ab, wovon man schon überzeugt ist bzw. vorgängig überzeugt war. Denn das Überzeugende ist „angewiesen auf einen Horizont des Einleuchtens", der als Horizont niemals im thematischen Gegenstand von Überzeugungsprozessen aufgehen kann.49 Was bedingt, dass uns etwas überzeugt, entzieht sich im gleichen Moment unserer Aufmerksamkeit, wie diese sich auf die Figur dessen richtet, wovon wir jeweils überzeugt sind. Diese Figur figuriert gleichsam als Gestalt der Überzeugung vor dem Hintergrund dessen, was bedingt, dass wir „überzeugt" sind. Bliebe dieser Hintergrund aber prinzipiell der Aufmerksamkeit entzogen, so würde das auf eine Dogmatisierung der Beweggründe und -motive des Überzeugtseins hinauslaufen - eine Konsequenz, die allen denjenigen als unannehmbar erscheint, die fordern, keine Überzeugung dürfe von vornherein dem Prozess der Überzeugung vorenthalten werden. Idealiter müsste aus dieser Sicht der Prozess der Überzeugung (a) so eingerichtet werden können, dass jeder seine Überzeugungen (auch seine „tiefsten" Überzeugungen) der Kritik auszusetzen bereit sein könnte, und (b) so, dass dieser Prozess selber als überzeugungsneutral gelten dürfte.50 Könnten alle Beteiligten darüber hinaus unter gleichen Bedingungen nach ihren Möglichkeiten an diesem Prozess mitwirken (c), so müsste an seinem Ende die bestmögliche, die rationalste Überzeugung stehen (d), zu deren Übernahme man eben deshalb ohne Wenn und Aber motiviert wäre (e). Diese Position kehrt jene Begründung des „Überzeugenden" genau um: Nicht weil etwas vor einem nicht durchgreifend rationalisierbaren Hintergrund des Einleuchtens als „einleuchtend" erscheint, sind wir infolge dessen überzeugt, sondern weil etwas rational überzeugt, leuchtet es ein. Wird auf diese Weise aber nicht ein abstrakter Gegensatz suggeriert, der den wirklichen Zusammenhang von Einleuchten und Überzeugen eher verdunkelt?51 Der Fall, in dem etwas kontraintuitiv überzeugt, ohne - gemessen am Hintergrund des Vorverständnisses - einzuleuchten, muss ebenso als reiner Grenzfall gelten wie der entgegengesetzte Fall, in dem etwas als einleuchtend erscheint, ohne dass wir in der Lage wären, das Einleuchtende überzeugend darzustellen. In der Regel hängt Einleuchtendes und Überzeugendes mehr oder weniger eng zusammen, ohne aber einfach zusammen zu fallen. Das intuitiv Einleuchtende verweist stets auf einen nicht im Ganzen thematisierbaren und insofern auch nicht rationalisierbaren Hintergrund, der wie gesagt im Modus seines unthemati48 49 50

51

Ebd, S. 102. Vgl. ebd., S. 106. Zumindest müsste das hinsichtlich „inhaltlicher" Überzeugungen gelten, wobei aber die Trennbarkeit von rein „formalen", rein auf den Überzeugungsprozess als solchen abstellenden Überzeugungen von „inhaltlichen" Überzeugungen selber strittig ist. Diesen beiden Begriffe werden hier mit Absicht nicht synonym gebraucht, wie es gewöhnlich weitgehend der Fall ist.

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sehen Fungierens in dem Maße verborgen bleibt, wie argumentative Auseinandersetzungen einzelne Überzeugungen herausgreifen, um die Aufmerksamkeit thematisch auf sie zu konzentrieren. Was einen Prozess der Überzeugung durchlaufen hat und in eine wohlerwogene Überzeugung mündet, die andere als solche teilen können, hat gewiss einen surplus an diskursiver Rationalität über das intuitiv Einleuchtende hinaus - um den Preis einer vorübergehenden Abstraktion aber von der Verflochtenheit der in Rede stehenden Überzeugung mit dem Hintergrund der Verständlichkeit des Überzeugenden. Wie eine neue, wohlerwogene Überzeugung in diesen Hintergrund zurückwirkt, wenn sie sich gleichsam in ihm sedimentiert, nachdem sich unsere Aufmerksamkeit von ihr abgewandt hat, kann nur die Zeit zeigen. Und zwar unter der unberechenbaren Bedingung, dass die Überzeugung unthematisch wird, um fortan operativ unser Leben zu bestimmen. Nur im Lebensvollzug selber kann jene Abstraktion wieder rückgängig gemacht werden; nur in ihm wird sich erweisen, wie sich die gewonnene Überzeugung auf andere, mit ihnen verwobene (operative) Überzeugungen auswirkt und wie sie sich von diesen gegebenenfalls modifizieren lässt. Was vor dem Hintergrund dieser Überzeugungen einleuchtet, weist so gesehen einen Überschuss an lebenspraktischer Kontextualität auf, die dem rational Überzeugenden zunächst vielfach fehlt. Einleuchtendes und Überzeugendes steht miteinander in Verbindung, aber so, dass der Überschuss des einen über das andere hinaus sich nicht beseitigen lässt - weder auf die Weise, dass wir nur noch von rationalisierten Überzeugungen bestimmt wären, noch auf die Weise, dass ein unproblematisches Einleuchten das letzte Worte hätte, das der Mühe der Verständigung gar nicht mehr bedürfte. In gewisser Weise setzt Bubner eine apriorische VersXaniigxingsunbediirftigkeit bereits voraus, wenn er von einem „letzten Verständigungshorizont" spricht und ihn mit dem „Fremdheitsvorzeichen des totalen Außenseiters" so konfrontiert, dass bei diesem als „zerstört" gelten muss, was man angeblich „an der eigenen Sprache mühelos hat: das intime Eingeweihtsein in anstandslosen Gebrauch". 52 So gesehen ist der Horizont der Verständigung aber weniger ein Horizont, in den hinein eine nicht vorwegzunehmende, zukünftige Verständigung sich entwickeln kann, sondern vielmehr ein Boden, 53 auf dem man als „Eingeweihter", aber nicht als Fremder, bereits steht, wenn man einen fiir aussichtsreich gehaltenen Verständigungsversuch überhaupt erst unternimmt. Zwar kann sich dieser Boden in der Folge als brüchig erweisen; aber auch fiir diesen Fall ist eine prinzipielle Entschärfung möglicher Konflikte bereits in das Modell der Dialektik eingebaut: Es sieht für den Konfliktfall nämlich nur das Aufbrechen von Widersprüchen vor, die die Verständigung sodann aufzuheben verspricht. Das Modell geht aus vom zugelassenen Auseinandertreten und Relativieren von Positionen im Blick auf ein Drittes, als das die zweien „gemeinsame Sache" fungiert. Im Hinblick auf sie werden gegensätzliche Positionen als solche bewusst, deren Gegensatz das Modell 52

R. Bubner, Dialektik als Topik S. 73, 75.

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An dieser Stelle ist die sachliche Verfänglichkeit des u. a. von Blumenberg und Luhmann im Hinblick auf die Phänomenologie monierten Changierens zwischen der Boden- und der Horizontmetapher augenfällig.

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mit Hegel zum Widerspruch verschärft. Hegel nämlich „macht Ernst mit dem Grundsatz, dass nicht gleichzeitig im selben Sinne zur Geltung kommen kann, was einander ausschließt. Die einheitliche Hinsicht muss verstärkt werden, die eine Koexistenz verunmöglicht. Beide Seiten waren miteinander verträglich, solange im Hin und Her der Reflexion nur der Wechsel der Positionen herrschte. Zwar gilt die einzelne [...] nur relativ auf die andere, aber im Wechsel existieren sie beide nebeneinander. Um voranzukommen, muß dieser Zustand von innen heraus bestritten werden, so daß es plötzlich nicht mehr befriedigt, Alternativen kraft Reflexion zur labilen Koexistenz zu bringen. Für die Bildung eines festeren Zusammenhangs wird eine neue Grundlage erfordert. Die Forderung erwächst aus der Unerträglichkeit des Zustands weiteren Zusammenbestehens der Relate, die als Widerspruch formuliert wird." 54 Das Modell orientiert sich am Vorbild der Annäherung an eine gemeinsame Sache, die idealiter ein überzeugendes Argument zur Geltung zu bringen hätte, welches „gemeinsame Ansprüche" zunächst gegensätzlicher Standpunkte vermittelt und aufhebt. 55 Im festen Blick auf das unangefochtene Ziel „dialektischer Einheitsstiftung im Streit über Sachen" werden im wesentlichen nur vorübergehende, den Prozess der Überzeugung im Kern nicht in Frage stellende Beschränkungen in Betracht gezogen. 56 Man muss Argumente finden und in gewisser Weise erst erfinden,51 nicht etwa eine dialektische Lösungsmethode bloß „anwenden". Dabei steht das Maß des Passenden bzw. des Tauglichen nicht eindeutig fest. Welches Argument etwa in welcher Hinsicht „sticht", ist eine rein pragmatische, kontextbedingte Frage. Dasselbe gilt für die Topik selber: „Sie behält offene Ränder, Zonen der Vernetzung und Überlagerung. Es werden nur Möglichkeiten der Hinsichtnahme, der Differenzierung und gedanklicher Ordnung aufgewiesen, die aller Erfahrung nach meist in Frage kommen [...]."58 Die Auseinandersetzung kann deshalb nicht im engeren Sinne methodische Formen annehmen; sie läuft eher auf eine Art Bastelei hinaus, die sich primär von der Frage leiten lässt, welche Überlegungen weiter führen und welche nicht. Im vorhinein wissen kann man das nicht. Dabei sind „weiche" Kriterien wie die Plausibilität und die Verträglichkeit sowie gewisse, meist nicht explizite Vorstellungen davon mit im Spiel, was als überzeugend gelten kann. 59 Wo etwas nicht im strengen Sinne zu beweisen ist, kann auch nichts einfach von sich

R. Bubner, Dialektik als Topik, S. 45. Hervorhebg. B.L. 55

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Ebd., S. 99. An dieser Möglichkeit wird ebenso wenig gezweifelt wie an der Trennung von Inhalt oder Sache einerseits und Beteiligten andererseits. Der Autor hält die Reduktion, die darin liegt, von bloßen „BegrifFskontroversen" als einem generellen Modell der Befriedung von Gegensätzen auszugehen, offenbar für unproblematisch (S. 78). Reale Bedingungen der Auseinandersetzung bleiben erklärtermaßen ebenso außer Betracht wie die Frage, ob sie wirklich nur vorläufig, also nur bis zur Aufhebung des Streits statthat. Ebd., S. 52, 61 ff. Vgl. R. Barthes, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M. 1988, S. 53 ff. R. Bubner, Dialektik als Topik, S. 60, 79. Eine Theorie, die wie diejenige Bubners eine „lebensweltliche", alltäglich fungierende Rationalität im Blick hat, dürfte sich jedenfalls nicht am striktesten dialektischen Modell der Aufhebung von Widersprüchen (der Lösung von Antinomien) orientieren. Mit Recht verweist Elster in diesem Zusammenhang auf psychologische Theorien wie diejenige Festingers zur „kognitiven

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Widerstreit und Differenz. Zwischen Ethik und Politik

aus überzeugen. Nichts überzeugt schlechterdings. Selbst die „Kraft" des besseren Arguments zehrt von einem Hintergrund des Einleuchtens, der nicht mit dem Argument zugleich argumentativ nachzuvollziehen ist. Das bessere Argument lässt man deshalb als in einer bestimmten Hinsicht vorläufig überzeugend gelten. Dieses pragmatische Gelten-lassen öffnet aber einer Anfechtbarkeit Tür und Tor, die vor dem Überzeugenden so wenig halt macht wie vor den Topoi, die etwa besagen, was sich - nach bisheriger Erfahrung - „verträgt mit dem, was man gesagt hat, und was sich offenbar nicht mehr sagen läßt, wenn Bestimmtes gesagt ist [..,]."60 Es sind durch und durch kontingente und außerordentlich kontextsensible Gründe, die darüber entscheiden, ob die dialektische Auseinandersetzung ihrem Ziel näher kommt oder nicht. Unter anderen Umständen würde dasselbe Argument, das jetzt „sticht", keinen Erfolg haben. Die Frage aber, inwieweit diese Möglichkeit mit einem unter anderen Umständen veränderten „Hintergrund des Einleuchtens" zusammenhängt, können wir wiederum nicht rein argumentativ klären. Dazu müsste die Argumentation ihre eigenen Voraussetzungen zu ihrem Gegenstand machen können. Im äußersten Fall lägen alle operativen Überzeugungen, die etwa normalerweise kontextbedingt mitbestimmen, was als überzeugend gelten kann, ihrerseits in der Form thematischer Überzeugungen vor und die zuvor unthematisch fungierenden Überzeugungen wären womöglich wirkungslos. Dann würde die Auseinandersetzung aber ihre eigenen Grundlagen aufheben, denn es gäbe in diesem Fall nichts mehr, wovon ausgehend sie stattfinden könnte. Der „diskursive Blick" der Auseinandersetzung wäre ein buchstäblich u-topischer view from nowhere. Solange der Prozess der Überzeugung aber einen Ort in der Welt hat und von operativen Gesichtspunkten ausgeht, können diese nicht zugleich auf seiner Gegenstandsseite auftreten.61

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Dissonanz" (Logik und Gesellschaft, S. 136-144) und auf das weite Spektrum „widersprüchlicher" Erfahrungen von kontradiktorischen Überzeugungen über praktische Dissonanzen bis hin zu Reaktionen des Bedauerns. Dass das Modell der Antinomie selbst im engeren Bereich epistemischer Widersprüche nur beschränkt gültig ist, gesteht auch Th. Kesselring zu, der sich, von Piaget und Hegel ausgehend, weitestgehend an diesem Modell orientiert hat (Entwicklung und Widerspruch, Frankfurt/M. 1981, S. 216-222). Die psychologische Forschung hat freilich auch im Rahmen kognitiver Prozesse längst eine Vielfalt von „Prinzipien der Bewegung" (nicht nur ein dialektisches Prinzip im Sinne des antinomischen Widerspruchs) zur Geltung gebracht - von Phänomenen der Ambivalenz und der Ambiguität ganz zu schweigen, die in einer nicht kognitivistisch verkürzten Ontogenese eine zentrale Rolle spielen. Eine Psychologie des Widerstreits steht freilich aus. Als eine Phänomenologie der psychischen und sozialen Erfahrung wird sie Widerfahrnisse wie Krisen, Verzweifelung, Umkehr (des Bewusstseins) und die „ungeheure Macht des Negativen" gewiss nicht mehr auf ein Prinzip dialektischer Bewegung reduzieren können. R. Bubner, Dialektik als Topik, S. 76 f. Dieser Gesichtspunkt bleibt in Peirces Modell der Festlegung von Überzeugungen unbedacht, das sogar auf ein nicht-menschliches Maß setzt, mit dem sich angeblich die Entfernung partiell vorläufig noch nicht rationalisierter Überzeugungen von der Wahrheit einer als prinzipiell erreichbar unterstellten „final [bzw. ultimate] opinion" feststellen lässt. Vgl. K.-O. Apel, Der Denkweg von Charles S. Peirce, Frankfurt/M. 1975, S. 130. - Hier gilt die wissenschaftlich ge-

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Einerseits beschwört dieses Modell einen letzten, vorverständigten Hintergrund argumentativer Auseinandersetzung; andererseits kapriziert es sich auf eine Dialektik, die nur partikulare thematische Überzeugungen zur Kenntnis nimmt, um sie unter dem Dach des Allgemeinen zu befrieden, d.h. um den Streit zu begraben. Die den Streit entscheidende Überlegung „muß die gemeinsame Ansicht aller Beteiligten repräsentieren: deshalb leuchtet [sie] ein und wird als eine Begründung hingenommen, die weiteren Streit zum Schweigen bringt. Es wäre widersinnig, wollte jemand um des puren Protests willen ein Argument bestreiten, das ihm doch einleuchtet. Hier nötigt die Verpflichtung zur logischen Konsistenz der Einlassungen eines jeweiligen Partners, polemische Neigungen zu unterdrücken und eine stimmige Begründung anzuerkennen. Die Argumentation hat Aussicht auf Erfolg, wenn gilt, daß der Streit in der Tat endet, wo etwas Gemeinsames namhaft gemacht wird, das über die ursprüngliche Opposition hinweg die Partner verbindet." 62 Hier ist die Vorentscheidung bereits gefallen, die im Streit befindlichen Positionen nur als partikulare zur Geltung kommen zu lassen: „Das Partikulare steht von Haus aus anderen Partikularitäten gegenüber; daraus erwächst der Streit. Die argumentative Rückführung des Partikularen zielt geradewegs auf etwas Nichtpartikulares, das allgemein zugänglich ist. Die den Streit lösende Verbindung von These und Argument kann von jedermann hergestellt werden, der beteiligt ist. Überwindung der Partikularität setzt also Partizipation am Allgemeinen voraus, die erkennbar aufgewiesen werden muß." 63 Der Streit ist so gesehen nichts als eine Privation des Allgemeinen, das ihm vorgängig bereits entzogen ist. Gespenstisch widersetzt er sich der Vernunft, die darauf hoffen lässt, dass er baldmöglichst wieder begraben werden kann. Am - stets vorläufigen - Ende steht die Überwindung des Gegensatzes von These und Argument, „in der die Beteiligten einander verstehen, weil sie sie selber bleiben" können. Diese Einvernehmlichkeit im Allgemeinen hat „insoweit auch soziale Relevanz, als sie fallweise neue Verständnisgemeinschaften stiftet oder alte Zusammengehörigkeiten wiederherstellt, die in die Krise geraten waren". 64 Verspricht sie also die polemischen Verhältnisse zwischen den Partikularitäten zu befrieden? Wenn ja, wäre dieser Friede dann aber nicht um einen allzu hohen Preis erkauft? Die skizzierte Perspektive der Aufhebung im Allgemeinen nimmt die Frage der Deutung gegensätz-

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wonnene Überzeugung und deren Sicherung im gattungsgeschichtlichen Prozess einer kollektiven Vernunft als Vorbild, die freilich die Pragmatik kontingenter Abbruche von Überzeugungsprozessen ebenso im Dunkeln lässt wie die Kriterien der vorläufigen Bewährung und der Glaubwürdigkeit von Überzeugungen, die einem letzten Standpunkt nicht vorgreifen können. Immerhin kennt Peirce aber als „moralisches Maß" (des Für-wahr-haltens von etwas unter „vorläufigen" Bedingungen) die „Redlichkeit". Vgl. Ch. S. Peirce, Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Frankfurt/M. 1976, S. 149-181, hier: S. 171. R. Bubner, Dialektik als Topik, S. 63. Ebd., S. 64. Hervorhebg. B.L. Zu der hier nicht weiter verfolgten Frage, ob sich aus diesem Ansatz nicht wiederum eine Herrschaft des Allgemeinen in der Form des Staates ergeben muss, wie sie Hegel auf Kosten des Besonderen gedacht hat, vgl. R. Bubner, Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft?, Frankfurt/M. 1996, S. 150 ff., 158. R. Bubner, Dialektik als Topik, S. 65.

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licher Positionen bzw. von Strittigem als Widerspruch gar nicht zur Kenntnis. 65 Ob „Gegensätze" aber von vornherein

so zu verstehen sind, dass sie „sich in einem Dritten wie-

dererkennen" müssten, „das ihren gemeinsamen Anspruch vermittelt", muss als zweifelhaft gelten. 66 Diese Frage, was jeweils überhaupt vorliegt, ob Widerstreit oder Widerspruch, wird unabweisbar, wenn man zugeben muss, dass das Dritte, das die Aufhebung des Gegensätzlichen verspricht, selber in dem Maße der Strittigkeit ausgesetzt ist, wie die Zuordnung von Positionen und Kontexten nicht eindeutig erfolgen kann. 67 Was in welcher Hinsicht und unter welchen Umständen als eine solche, möglicherweise der Schlichtung dienende Instanz in Betracht kommen kann, kann wiederum nur im Prozess der Auseinandersetzung, der Überzeugung geklärt werden und steht nicht unabhängig von ihm fest. Der Dialektiker ist offenbar zwar geneigt, das im Einzelfall zuzugeben: was eine Aufhebung des Streits verspricht, kann sich doch erst im Fortgang der Auseinandersetzung selber zeigen. Manchmal muss man aber „an feste Grundauffassungen appellieren oder so weit zurückgehen, daß Widerstand zwecklos würde" - letztlich bis hin zu dem Punkt, w o man den Anderen vor die Frage stellt, welchen Sinn das Sichauseinandersetzen

selber hat. Womöglich vermag nichts anderes mehr

den Streit zu begraben als die Rückbesinnung auf eine gemeinsame Orientierung am Guten, der man scheinbar überhaupt nicht widersprechen kann. Sie liegt nach Bubners Überzeugung diesem Sinn zugrunde - ähnlich wie das, was „das Sehen des Sichtbaren ermöglicht" und

Ich bleibe hier beim Problem der Rede, ungeachtet des Befundes, dass Widerstreit und Strittigkeit bereits unser prädiskursives Sein affizieren. Vgl. ebd., S. 99. - Die Rolle einer „dritten", schlichtenden Instanz wird mit Blick auf praktische Konflikte auch schon bei S. Hampshire (Morality and Conflict, Oxford 1983, S. 152 f., 164) sowie bei Th. Nagel (Mortal Questions, Cambridge 1979, S. 134 ff.) hinterfragt. Selbst pwH